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German Pages 727 [736] Year 1982
NIETZSCHE-STUDIEN
NIETZSCHE-STUDIEN Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung
Herausgegeben von
Ernst Behler • Mazzino Montinari Wolfgang Müller-Lauter • Heinz Wenzel
Band 10/11 • 1981/1982
W DE G 1982
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Anschriften der
Herausgeber:
Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Mazzino Montinari via Gabriele d'Annunzio 237, 1-50135 Florenz Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstr. 27, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D-1000 Berlin 33
Redaktion Marie-Luise Haase, Ithweg 5, D-1000 Berlin 37
ISSN 0342-1422 I S B N 3 11 008638 7 © Copyright 1981 by Walter de Gruyter & C o . , vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp. — Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin
VORWORT
Der hier vorgelegte Band 10/11 der Nietzsche-Studien erscheint als Sonderband. Er enthält die Vorträge und Diskussionen einer Tagung, die vom 4. bis zum 8. September 1980 auf Schloß Reisensburg bei Günzburg stattgefunden hat. Veranstalter der Tagung war Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter. Die Finanzierung erfolgte durch die Fritz Thyssen Stiftung in Köln. Herausgeber des Bandes sind der Veranstalter und Dr. Volker Gerhardt. Behler
Montinari
Müller-Lauter
Wenzel
IN MEMORIAM
WALTER KAUFMANN 1.7. 1921-4.9. 1980
AUFNAHME UND AUSEINANDERSETZUNG Friedrich Nietzsche im 20. Jahrhundert
Herausgegeben von
Wolfgang Müller-Lauter Volker Gerhardt
VORWORT D E R H E R A U S G E B E R DIESES B A N D E S
Jahrgang 10/11 der Nietzsche-Studien enthält die Vorträge, die bei Gelegenheit der von der Fritz Thyssen Stiftung finanzierten Nietzsche-Tagung auf Schloß Reisensburg bei Ulm vom 4. bis zum 8. September 1980 gehalten wurden, sowie die Diskussionen, die im Anschluß an diese Vorträge geführt worden sind. Als Anhang wurde die erweiterte Fassung eines Beitrags von Peter Köster abgedruckt, den dieser infolge einer unvorhersehbaren Verhinderung nicht vortragen konnte. Der Text von Walter Kaufmann wurde nachträglich in die Abfolge der Vorträge eingefügt. 1 Walter Kaufmann hatte seine Teilnahme zugesagt und für seinen Vortrag das Thema „Masken und Eigentlichkeit" vorgeschlagen. „ I n my lecture I shall compare Nietzsche's ideas briefly with Heidegger and Sartre", hatte er geschrieben. Er war bereits aus den Vereinigten Staaten angereist und hielt sich vor der Reisensburger Zusammenkunft in der Schweiz auf. Eine schwere Erkrankung zwang ihn jedoch, seine Teilnahme kurzfristig abzusagen. Er starb, wie wir später hören mußten, als die Tagung begann. Walter Kaufmann gehört zu den großen Nietzsche-Interpreten dieses Jahrhunderts. Er hat wie kein anderer in Nietzsche den Philosophen, Psychologen und existentiellen Kritiker der Religion unterschieden und zugleich die einigenden Motive herausgearbeitet. Nietzsches Verbindungen zur philosophischen und literarischen Tradition, so z . B . zum griechischen Denken, zu Hegel und zur deutschen Klassik, sind durch Kaufmanns Werk deutlicher und verständlicher geworden. Durch seine eigenen systematischen Beiträge und durch seine temperamentvolle Teilnahme an den Auseinandersetzungen seiner Zeit hat Walter Kaufmann selbst ein Beispiel für die Aktualität Nietzsches in diesem Jahrhundert gegeben. Zur internationalen Geltung der Nietzsche-Forschung hat Kaufmann wesentlich beigetragen. Kein anderer wäre in den Nachkriegsjahren berufener gewesen, Nietzsche von den verhängnisvollen Mißverständnissen zu befreien, als dieser in jungen Jahren vom Nationalsozialismus aus Deutschland vertriebene Gelehrte. Auch dies gehört zur Wirkungsgeschichte Nietzsches im 20. Jahrhundert. In dankbarer Anerkennung seiner großen Verdienste ist dem Verstorbenen dieser Band gewidmet. 1
Die Herausgeber danken Ernst Behler für die Ubersetzung dieses Textes ins Deutsche. — Zu seiner Auswahl s. Behlers Vorbemerkung zu dieser Übersetzung S. 111.
XII
Vorwort der Herausgeber dieses Bandes
Zu den Texten dieses Bandes sind folgende Hinweise zu geben: Einige der Referate werden in erweiterten Fassungen vorgelegt, die entweder den gehaltenen Vorträgen schon zugrunde lagen oder durch spätere Ergänzungen entstanden. Wo die Erweiterung der Druckfassung wesentlich über die Vortragsfassung hinausgeht, ist dies kenntlich gemacht. Die Einwände, Ergänzungen und Anregungen aus der zugehörigen Diskussion sind dadurch in keinem Fall überholt. Die Referate werden in der (durch unterschiedliche Gründe bestimmten) Reihenfolge abgedruckt, in der sie gehalten wurden. Die Diskussionen wurden auf Tonband mitgeschnitten und nach der Tagung abgeschrieben. Die Atmosphäre einer lebhaften Gesprächssituation, in der das Wort von Mimik und Gestik begleitet wird, kann in einem Text nicht zum Ausdruck gelangen. Aber nicht nur deshalb, sondern auch wegen technischer Mängel der Aufzeichnung bedurften die Abschriften einer gründlichen Überarbeitung. Aufgrund eines technischen Defekts mußte in drei Fällen die Debatte nach handschriftlichen Notizen rekonstruiert werden. Die Diskussionstexte in diesem Band stellen somit kein wortgetreues Protokoll des Gesprächsverlaufs dar, entsprechen aber in Form und Inhalt dem Gang der Erörterung. Den jeweiligen Referenten wurde eingeräumt, ihre Voten im Hinblick auf die an sie gerichteten Fragen und Einwände in begrenztem Umfang zu erweitern. Die sachliche Berechtigung hierfür ergab sich schon daraus, daß die in der Regel knappe Diskussionszeit es oft nicht gestattete, auf geäußerte Bemerkungen einzugehen. Die Herausgeber haben sich darauf beschränkt, durch Literaturangaben und Querverweise Verständnishilfen zu geben. Vor der Drucklegung hatten alle Teilnehmer 2 Gelegenheit zur Korrektur ihrer Beiträge. Für das Zustandekommen dieses Bandes haben die Herausgeber vielfältigen Dank abzustatten: Der Fritz Thyssen Stiftung, die nicht nur die Tagung finanziert, sondern durch erhebliche finanzielle Zuschüsse auch die Ausarbeitung einer druckfertigen Fassung der Texte ermöglicht hat; dem Verlag Walter de Gruyter — und dort insbesondere Heinz Wenzel —, der sich aufgeschlossen und großzügig dieses Vorhabens annahm, den Tagungsteilnehmern, die ihre Vorträge und Gesprächsbeiträge pünktlich korrigiert zur Verfügung stellten, — nicht zuletzt aber den Mitarbeitern, die viele Mühen auf sich nahmen. Genannt seien von den letzteren Marie-Luise Haase (Berlin), Monika Klanke (Münster) und Johannes Neininger (Berlin). Berlin und Münster i.W., Mai 1981 Wolfgang Müller-Lauter 2
Volker Gerhardt
Einige Tagungsteilnehmer haben nur an wenigen Gesprächen teilnehmen können. Anwesenheit und Abwesenheit sind im Band nicht eigens vermerkt.
INHALT
Vorwort
V
Vorwort der Herausgeber dieses Bandes WOLFGANG MÜLLER-LAUTER,
Begrüßung der Tagungsteilnehmer . . . .
Die Gesellschaft - ein langer Schatten des toten Gottes. Friedrich Nietzsche und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der décadence
XI 1
HORST BAIER,
Diskussion (Leitung: Wolfgang Müller-Lauter) REINHART MAURER,
Nietzsche und die Kritische Theorie
Diskussion (Leitung: Wolfgang Müller-Lauter) ERNST BEHLER,
Nietzsche in der marxistischen Kritik Osteuropas . . . .
Diskussion (Leitung: Wolfgang Müller-Lauter) W A L T E R KAUFMANN,
Nietzsches Philosophie der Masken
6 23 34
59 80
97 111
Das Willenswesen und der Ubermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen 132
WOLFGANG MÜLLER-LAUTER,
Diskussion (Leitung: Jörg Salaquarda)
178
Macht und Metaphysik. Nietzsches Machtbegriff im Wandel der Interpretation 193
VOLKER GERHARDT,
Diskussion (Leitung: Günter Abel) GERD-GÜNTHER GRAU,
210
Sublimierter oder realisierter Wille zur Macht? 222
Diskussion (Leitung: Friedrich Kaulbach)
254
S C H U B E R T , Nietzsche-Konkretionsformen in der bildenden Kunst 1890-1933. Ein Überblick 278
DIETRICH
Diskussion (Leitung: Wolfgang Müller-Lauter) GÜNTER ROHRMOSER,
Nietzsches Kritik der Moral
Diskussion (Leitung: Wolfgang Müller-Lauter)
318 328 352
Inhaltsverzeichnis
XIV
Nietzsche contra ,Selbsterhaltung'. Steigerung der Macht und Ewige Wiederkehr 367
GÜNTER ABEL,
Diskussion (Leitung: Ernst Behler)
385
Nietzsche und die philosophische Hermeneutik des 2 0 . Jahrhunderts. Mit besonderer Berücksichtigung Diltheys, Heideggers und Gadamers 408
JOHANN FIGL,
Diskussion (Leitung: Ernst Behler) FRIEDRICH KAULBACH,
Nietzsches Interpretation der Natur
Diskussion (Leitung: Gerd-Günther Grau) KURT
RUDOLF
FISCHER,
431 442 465
Nietzsche, Freud und die Humanistische
Psychologie Diskussion (Leitung: Jörg Salaquarda)
482 500
Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für das Verständnis Nietzsches: Nietzsche und der französische Strukturalismus . . . 518 Diskussion (Leitung: Günter Abel) 538
ERIC BLONDEL,
Nietzsches Einfluß auf die Lyrik. Ein Beitrag zur philosophischen Ästhetik 565
BERNHARD TAURECK,
Diskussion (Leitung: Günter Abel)
589
E. M C G I N N , Verwandlungen von Nietzsches Ubermenschen in der Literatur des Mittelmeerraumes: d'Annunzio, Marinetti und Kazantzakis 597
ROBERT
Diskussion (Leitung: Jörg Salaquarda)
609
Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption in der Theologie des 20. Jahrhunderts 615
PETER KÖSTER,
SIGLEN
687
REGISTER
689
Hinweise für den Benutzer
689
Literatur-Register
690
1. Nietzsche
690
2. Zu und über Nietzsche
694
Personen-Register
704
TEILNEHMER DER TAGUNG Dr. Günter ABEL, Stubenrauchstr. 9, D-1000 Berlin 45 Prof. Dr. Hideo AKIYAMA, Setagaya-ku, Umega-oka 2-33-18, 154 Tokyo, Japan Prof. Dr. Emanoil ANCUTA, Strada Abrud 140, Bukarest 2, Rumänien Prof. Dr. Horst BAIER, Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Konstanz, Am Gießberg, D-7750 Konstanz Prof. Dr. Ernst BEHLER, Comparative Literature GN-32, University of Washington, Seattle, Washington 98195, USA Prof. Dr. Eric BLONDEL, Maitre Assistant de Philosophie, Université de Nancy II, 2, rue Verlaine, F-54000 Nancy D D r . Johann FIGL, Institut für Christliche Philosophie, Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien, Schottenring 21, A-1010 Wien Prof. Dr. Kurt Rudolf FISCHER, Department of Philosophy, Millersville State College, Millersville, Pennsylvania 17551, USA (jetzt: Institut für Philosophie, Universität Wien, Universitätsstr. 7/2/2 A-1010 Wien) Dr. Volker GERHARDT, Westfälische Wilhelms-Universität, Philosophisches Seminar, Domplatz 23, D-4400 Münster Prof. Dr. Gerd-Günther GRAU, Arnswalder Str. 32a, D-2000 Hamburg 73 Prof. Dr. Karlfried GRÜNDER, Freie Universität Berlin, Institut für Philosophie, Königin-Luise-Str. 34, D-1000 Berlin 33 Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich KAULBACH, Westfälische Wilhelms-Universität, Philosophisches Seminar, Domplatz 23, D-4400 Münster Prof. Dr. Saburo KIDO, Kawasaki Medicai School, 701-01 Okayama-ken, Kurashikishi, Matsushima 577, Japan Prof. Dr. Peter KÖSTER, Regerstr. 6, D-4800 Bielefeld 1 Prof. Dr. Reinhart MAURER, Ithweg 1, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. Robert E. MCGINN, Stanford University, Values, Technology, and Society Program, Building 370, Stanford, California 94305, USA Prof. Dr. Mazzino MONTINARI, via Gabriele d'Annunzio 237, 1-50135 Florenz Prof. Dr. Wolfgang MÜLLER-LAUTER, Klopstockstr. 27, D-1000 Berlin 37 Dr. Renate RESCHKE, Schmollerstr. 9, DDR-1193 Berlin Prof. Dr. Günter ROHRMOSER, Auf dem Haigst 29 a, D-7000 Stuttgart Dr. Jörg SALAQUARDA, Am Gonsenheimer Spieß 1, D-6500 Mainz
XVI
T e i l n e h m e r der T a g u n g
Prof. Dr. Dietrich SCHUBERT, Kunstgeschichtliches Institut der Universität Heidelberg, Seminarstr. 4, D-6900 Heidelberg Prof. Dr. David SOBREVILLA, Universidad Cayetano Heredia Peru, Conquistadores 824, Lima 27, Peru Dr. Bernhard
TAURECK,
Prof. DDr. Wolfgang Prof. Dr. Heinz
Lettow-Vorbeck-Allee 77 A, D-3000 Hannover 91
TRILLHAAS,
WENZEL,
Tuckermannweg 19, D-3400 Göttingen
Harnackstr. 16, D-1000 Berlin 33
WOLFGANG M Ü L L E R - L A U T E R
BEGRÜSSUNG DER TAGUNGSTEILNEHMER
Sehr geehrte Damen und Herren! In den letzten Jahren mehren sich die Bemühungen, Zeugnisse der Wirkung von Nietzsches Denken zu sammeln und dem heute an ihm Interessierten zu präsentieren. Man mag derartige Unternehmen unter die allgemein feststellbaren historistischen Tendenzen subsumieren; man hat es leicht damit, Parallelen aufzuweisen. Im Falle Nietzsches sorgt jedoch die Brisanz des Gegenstandes dafür, daß man sich nicht nostalgisch im Gewesenen verliert. Auch in der Aufnahme früherer Beschäftigung mit Nietzsche geht es unvermeidlich um die Auseinandersetzung mit ihm. Niemand wird, um ein Beispiel zu nennen, die Textsammlung durchgehen können, die Bruno Hillebrand im Blick auf die deutsche literarische Nietzsche-Rezeption der Zeit von 1873 bis 1963 zusammengestellt hat 1 , ohne in den zeitgenössischen Rezeptionen Momente aktuell gebliebener Probleme zu entdecken. Die Lektüre von Texten vor 1933 wird ohnehin gebrochen durch das Wissen um die — freilich ihrer selbst unsichere — Inanspruchnahme Nietzsches durch den Nationalsozialismus und durch den Faschismus. Man wird, nachdem diese ideologischen Nebel verzogen sind, in mancher der früheren philosophischen wie auch der literarischen Auseinandersetzungen mit und um Nietzsche — und zwar nicht nur in Deutschland und auch nicht nur in Europa —, Fragestellungen wiederfinden, die an Bedeutung nicht verloren haben. Gegenwärtige und künftige Nietzsche-Deutung wird sie nicht beiseite stellen dürfen, in welchem Maße auch jede Zeit ihr eigenes Nietzsche-Verständnis suchen wird. In den Referaten und Diskussionen unserer Zusammenkunft sollen verschiedenartige Aspekte der Wirkung Nietzsches vorgestellt werden. Nicht nur die Philosophen und die Germanisten sind gefragt. Würde doch, um Jörg Salaquarda zu zitieren, „eine umfassend konzipierte Wirkungsgeschichte Nietzsches . . . zu einem guten Teil mit einer Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenfallen" 2 . Die damit angedeutete Weite des Wirkungshorizontes Nietzsches erhält eine besondere Dimension durch die Unabgeschlossenheit und durch die 1 2
Nietzsche und die deutsche Literatur, hrg. v. B. Hillebrand, Bd. 1, 1978. Nietzsche, hrg. v. J. Salaquarda, 1980, 2.
2
Wolfgang Müller-Lauter
Hintergründigkeit von Nietzsches Philosophieren. Dieses bietet sich für mannigfache, zueinander oft in Gegensatz tretende Auslegungen an. Hinzu kommt die Problematik der sachangemessenen Einschätzung des umfangreichen Nachlasses Nietzsches. Die Geschichte des Verhältnisses von NietzscheNachlaß-Ausgaben zu Nietzsche-Interpretationen darzustellen, wäre eine besondere Aufgabe. Jene Problematik stand sicherlich uns allen bei der Vorbereitung auf diese Tagung vor Augen. Hat doch die ,Hauptwerk'-These der Schwester Nietzsches und Peter Gasts die Wirkung Nietzsches in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wesentlich bestimmt. Der Kompilation ,Der Wille zur Macht' schlössen sich Zusammenstellungen weiterer Nachlaß-Aufzeichnungen Nietzsches als ,Werk-Anordnungen' mit Ergänzungsanspruch an (Alfred Baeumler, Friedrich Würzbach). Die — von Sachkennern schon frühzeitig bestrittene — ,Hauptwerk'-These ist schließlich von Karl Schlechta mit nachhaltigem Erfolg zurückgewiesen worden. Freilich ist Schlechta in das den Kompilatoren entgegengesetzte Extrem verfallen. Ihm zufolge erschöpft sich das Wesentliche der Philosophie Nietzsches in dem, was dieser selbst veröffentlicht oder eindeutig zur Veröffentlichung bestimmt hat. Schlechtas restriktive Einschätzung des Nachlasses hat seine Ausgabe von Nietzsches Werken in drei Bänden in einer manche neue Verwirrung stiftenden Weise geleitet, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. 3 Meint man, wie dies noch oft geschieht, man könne mit den von Schlechta publizierten Texten auskommen, so verkürzt man die Möglichkeiten seines eigenen Nietzsche-Verständnisses.4 Erst die Kritische Gesamtausgabe der Werke Nietzsches, von Giorgio Colli und Mazzino Montinari vorgelegt, stellt das Fundament für eine zuverlässig gegründete Nietzsche-Forschung bereit, das durch die Veröffentlichung von 3
4
S. dazu schon E . Heftrich, Nietzsches Philosophie. Identität von Welt und Nichts, 1962, 2 9 1 295. Ferner: M . Montinari, The N e w Critical Edition of Nietzsche's Complete Works, in: The Malahat Review 24, Victoria 1972, 1 2 1 - 1 3 4 : W . Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3, 1974, 4—12. Als Beispiel sei auf J. Habermas' Herausgabe der Erkenntnistheoretischen Schriften Nietzsches (1968) verwiesen. Habermas zieht „alle Stücke aus dem publizierten Nachlaß der 80er J a h r e " heran, „die für Nietzsches erkenntnistheoretische Überlegungen unmittelbar relevant sind" (Vorbemerkung des Herausgebers). E r meint aber alle von Schlechta publizierten Stücke, d. h. nur diejenigen Stücke, welche unter dem Titel Der Wille zur Macht zusammengestellt worden waren. Habermas bringt damit — wie vor ihm Schlechta — diese Textaus wähl zu neuen Ehren, auch wenn er, nach Schlechtas Auflösung der durch die früheren Herausgeber geschaffenen systematischen Auswahl und Anordnung, nun seine themenbezogene Auswahl trifft. Die Orientierung an den Bänden X I I bis X I V der Großoktav-Ausgabe hätte mit der Erweiterung der Textbasis zusätzliche, für Habermas' Sachfragen unentbehrliche Gesichtpunkte liefern können. Die editorischen Mängel dieser Ausgabe sind freilich gravierend; gleichwohl durfte das mit ihr zugängliche Material nicht unberücksichtigt bleiben, - solange die Kritische Gesamtausgahe nicht erschienen war. — Es ließe sich zeigen, daß die Einengung auf die von Schlechta veröffentlichten Aufzeichnungen Nietzsches notwendigerweise auch die Interpretation verengt. Hier sei nur mein Hinweis zu Habermas in: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, a . a . O . , 5 7 f . , Anm. 192, erwähnt.
Begrüßung der Tagungsteilnehmer
3
Nietzsches Briefwechsel noch verbreitert wird. Vor allem liegt endlich der vollständig edierte und chronologisch geordnete Nachlaß vor. 5 Der Nietzsche-Interpretation eröffnen sich damit Möglichkeiten tiefer dringenden Verstehens als bisher. Nicht wenige Vorurteile entfallen. Erst jetzt sichtbar werdende Aspekte bedürfen der Ausarbeitung. Im Hinblick auf die bisherige Wirkungsgeschichte Nietzsches wird man freilich nicht darum herumkommen, auch in Zukunft noch die bisherigen Kompilationen von Nietzsche-Aufzeichnungen zu berücksichtigen. Die in der ersten Jahrhunderthälfte interpretationsgeschichtlich ungenügend zur Geltung gelangten philologischen Gesichtspunkte werden nach dem Erscheinen der Kritischen Gesamtausgabe für die Nietzsche-Deutung unentbehrlich sein. Ich greife Richard Roos' wesentliche Ausführungen auf: ,,L'examen minutieux et méthodique des textes, sans préventions et sans visées annexionnistes", ist gefordert. Der Philologe soll die „mauvaise conscience" des Interpreten sein, wobei jener sich des nicht nur unvermeidlichen, sondern notwendigen „cercle herméneutique" bewußt sein muß. Roos nennt „un certain nombre de regles impératives", welche die künftige Nietzsche-Interpretation leiten soll. 6 J . Figl hat in einer noch unveröffentlichten Arbeit versucht, Kriterien für die Inanspruchnahme der späten Nachlaßtexte Nietzsches zu entwikkeln, die deren jeweilige Besonderheiten in Rechnung stellen.7 Zur Weite der Wirkung Nietzsches gehört ihre Vielfältigkeit. Ich stimme Eugen Biser zu, wenn er ausführt, bei keinem Philosophen könne man „eine auch nur annähernd so bewegte Wirkungsgeschichte" aufweisen wie bei Nietzsche. Nur unter erheblichen Vorbehalten kann ich seiner These folgen, daß in einem so extremen Fall wie dem Nietzsches „kein noch so großer Unsinn behauptet werden kann, der nicht auch eine Spur von Sinn enthielte". 8 Der Eintragung eigenen Sinnes durch Nietzsches Interpreten in dessen Texte sind trotz deren „Offenheit" Grenzen gesetzt. Ihre Überschreitung rächt sich dadurch, daß zentrale (und von ihm immer wieder aufgenommene) Ausführungen Nietzsches, dessen Philosophieren bei allen immanenten Gegensätzen doch durchaus kohärent ist, sich derartigen Interpretationen nicht fügen. Daß
5
Zu dieser Edition s. v. a.: M . Montinari, Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A , Bd. 2, Heft 1 (Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975), 1976, 3 6 - 5 8 ; M . Montinari, Nietzsches Nachlaß und der Wille zur Macht, in: Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 6, 3 8 3 - 4 0 0 .
6
R. Roos, Regles pour une lecture philologique de Nietzsche, in: Nietzsche aujourd'hui?, 1973, 2, 2 8 3 - 3 1 8 .
7
J. Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale hermeneutische Theorie in den Fragmenten des späten Nachlasses, Diss. phil. Wien 1980.
8
E . Biser, Das Desiderat einer Nietzsche-Hermeneutik. Der Gang der Wirkungsgeschichte. Nietzsche-Studien 9, 1980, 1.
4
Wolfgang Müller-Lauter
die Fehldeutungen Nietzsches — wie auch sein Mißbrauch — gleichwohl in die Geschichte seiner Wirkung hineingehören, versteht sich von selbst. Eine auf wenige Tage beschränkte Zusammenkunft kann nur einige Hinsichten der vielfältigen Wirkung Nietzsches zur Geltung bringen. Welche Themen sich im Laufe meiner zweijährigen Vorbereitungsarbeit herauskristallisiert haben, zeigt das Programm. Bis zu seiner schließlichen Zusammenstellung habe ich viele Fragestellungen aufgegriffen und manche wieder fallen lassen müssen, weil die kompetenten Referenten während des Zeitraums der Tagung nicht zur Verfügung standen. Schließlich haben noch mehrere kurzfristige Absagen zu Änderungen des Programms geführt. Denjenigen unter Ihnen, die unter schwierigen Umständen als Referenten eingesprungen' sind, danke ich besonders. Mehrere wichtige Themen, deren Erörterung mir dringlich erscheint, können leider nicht verhandelt werden, weil Referenten wegen Erkrankung oder anderweitiger Verhinderung absagen mußten. Die Ausdehnung unserer Zusammenkunft von anfänglich geplanten vier auf fünf Tage hat bei Ihnen überwiegend Zustimmung gefunden. Mein — aus den Erfahrungen der Berliner Nietzsche-Tagung 1977 erwachsener — Gedanke war, den Teilnehmern, die einander selten oder gar nicht begegnen, mehr Gelegenheit zu persönlichen Kontakten und besonderem Gedankenaustausch anzubieten. Hatte ich selbst doch 1977, auch durch organisatorische Verpflichtungen in Anspruch genommen, kaum die Möglichkeit dazu gefunden. Nun muß ich heute, zu Beginn dieser Tagung, feststellen, daß sich viele der anfänglich vorgesehenen freien Zeiten mit Vorträgen und Diskussionen gefüllt haben. Angesichts der Tatsache, daß während der ersten drei Tage jeweils vier Vorträge mit Diskussionen auf dem Plan stehen, bitte ich die Referenten um Verständnis für diejenigen Kollegen, die eine Pause im Zuhören und Diskutieren einlegen oder sich zu einem Gespräch zurückziehen möchten, wozu ja die schönen und zweckmäßigen Räume von Schloß Reisensburg geradezu verlocken. Der Verlängerung der Tagungsdauer konnte keine Erweiterung des Teilnehmerkreises entsprechen. Es gehört zur guten Tradition der von der Fritz Thyssen Stiftung ursprünglich unter dem Titel Neunzehntes Jahrhundert finanzierten Forschungsunternehmen, einen zahlenmäßig begrenzten Kreis von Sachkennern zusammenzubringen. Mich selber hat diese Begrenzung, die mir für fruchtbare Gespräche unabdingbar erscheint, nur insofern in Verlegenheit gebracht, als ich nach dem von mir durchaus nicht gewünschten Bekanntwerden der Tagung durch Hinweise in philosophischen Zeitschriften eine Vielzahl von Anfragen über die Modalitäten einer möglichen Teilnahme erhielt. In nicht wenigen Fällen habe ich es bedauert, Absagen aussprechen zu müssen. Der Fritz Thyssen Stiftung danke ich dafür, daß sie die finanziellen Mittel für die Durchführung dieser Tagung zur Verfügung gestellt hat. Für sachge-
Begrüßung der Tagungsteilnehmer
5
botene Umdispositionen, die im Verlaufe der Planung nötig wurden, habe ich immer das Verständnis der auf Seiten der Stiftung Verantwortlichen, insbesondere von Herrn Dr. Rudolf Kerscher, gefunden. Herr Prof. Dr. Th. M. Fliedner, als Vorsitzender des hiesigen Internationalen Instituts für wissenschaftliche Zusammenarbeit gewissermaßen Hausherr auf Schloß Reisensburg, hat unserer Tagung einen guten Verlauf gewünscht. Schon jetzt kann ich sagen, daß die Voraussetzungen, die uns hier für unsere Arbeit geboten werden, günstiger nicht sein könnten.
HORST BAIER
DIE GESELLSCHAFT - EIN LANGER SCHATTEN DES T O T E N GOTTES FRIEDRICH NIETZSCHE UND DIE ENTSTEHUNG D E R S O Z I O L O G I E AUS D E M G E I S T D E R D É C A D E N C E I. Nietzsches Verwerfung
der Soziologie als décadence
„Es giebt eine tiefe und vollkommen unbewußte Wirkung der décadence selbst auf die Ideale der Wissenschaft: unsere ganze Sociologie ist der Beweis für diesen Satz. Ihr bleibt vorzuwerfen, daß sie nur das V e r f a l l s G e b i l d e der Societät aus Erfahrung kennt und unvermeidlich die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des sociologischen Unheils nimmt". 1 Dieser Satz Nietzsches aus dem Frühjahr 1888, der zur Aphorismenmasse des manu propria nicht vollendeten Werkes über den ,Willen zur Macht' gehört und etwas variiert in die „Streifzüge eines Unzeitgemäßen" der ,Götzendämmerung' aufgenommen worden ist, 2 benennt den Kern einer Reihe von Thesen, die Nietzsche in der Spätphase seines Philosophierens über Soziologie und Soziologen niederschreibt. Es sind die Gründerväter der Soziologie in den westlichen Ländern, vor allem der „ k l ü g s t e Jesuit, A. Comte, der seine Franzosen auf dem U m w e g der Wissenschaft nach Rom führen wollte", 3 und der Prototyp eines décadent, der Engländer Herbert Spencer, mit seinem ,Ideal des mittleren Menschen', seiner Entwicklungsmoral der Nützlichkeit durch Anpassung, seinem sozialen Wunschbild der „endlichen Versöhnung von ,Egoismus und Altruismus'". 4 Die einheimischen Versuche einer ,Social-
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3
4
Nachlaß 1888, K G W VIII 3, S. 30. Vgl. GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 37 ( K G W VI 3, S. 132f.), und: W M Aph. 53 (SA III, S. 786). G D , Streifzüge eines Unzeitgemässen 4 ( K G W VI 3, S. 107). Uber Comte auch in: J G B 48 ( K G W VI 2, S. 67): „Wie katholisch, wie undeutsch riecht uns Auguste Comte's Sociologie mit ihrer römischen Logik der Instinkte!" In der eingangs zitierten Passage Nietzsches über .Sociologie' auch über Spencer als „décadent", vgl. Anm. 1, gleichsinnig in: G D , vgl. Anm. 2. „Krämer-Philosophie des Herrn Spencer: vollkommene Abwesenheit eines Ideals, außer dem des mittleren Menschen", vgl. SA III, S. 593.
Die Gesellschaft - ein langer Schatten des toten Gottes
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Wissenschaft' bleiben außerhalb seines Interesses: Lorenz von Stein oder Albert Schäffle sind ihm wohl unbekannt, jedenfalls finde ich keine Spuren; bei Wilhelm Heinrich Riehl interessiert ihn nur die Hausmusik; 5 von Karl Marx oder Friedrich Engels scheint er keine Zeile gelesen zu haben, was den Zorn der Marxisten von Mehring, Lukâcs bis heute nährt. 6 Nietzsches Kritik der ,Verfalls-Gebilde der Societät' und ihrer Analytiker, der Soziologen, ist pointierter Teil seiner „Kritik der Modernität", wie die Uberschrift eines in der , Götzendämmerung' folgenden Aphorismus lautet. 7 „Unsre Institutionen taugen nichts mehr: darüber ist man einmüthig", so beginnt er. „Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an u n s . Nachdem uns alle Instinkte abhanden gekommen sind, aus denen Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen überhaupt abhanden, weil w i r nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus war jeder Zeit die Niedergangs-Form der organisirenden Kraft." Diese Schwäche der ,organisirenden Kraft' ist das Kennzeichen der modernen Gesellschaft, es ist das Signum ihrer décadence. Der Niedergang der Institutionen und der für sie nötigen Tugenden drückt sich für Nietzsche in einer doppelten Bewegung aus: im Verfall des Staates durch seine Demokratisierung und im Verlust des ,Pathos der Distanz'. So kennzeichnete Nietzsche im gerade zitierten Aphorismus „die moderne Demokratie [. . .] als V e r f a l l s f o r m d e s S t a a t s " . „Damit es Institutionen giebt", fährt er fort, „muss es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur S o l i d a r i t ä t von GeschlechterKetten vorwärts und rückwärts in infinitum." Ist ein solcher Wille da, so gründen sich und wachsen Imperien. Weder das „deutsche Reich" von 1871 mit seinen demokratischen Halbheiten, noch der „ganze Westen" hat jene Instinkte. Wir finden sie vielleicht nur bei Rußland, der , , e i n z i g e [ n ] Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die Etwas noch versprechen kann". In Deutschland, im Westen überhaupt „lebt [man] für heute, man lebt
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7
In einem ähnlich polemischen Verhältnis steht N. in Fragen der Sociologica zu Mill, darüber vgl. die gründliche Studie von Karl Brose: Nietzsches Verhältnis zu John Stuart Mill, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1 5 2 - 1 7 4 . Nietzsche über Spencers evolutionistische Nützlichkeitsmoral in: G M I 4 u. II 12 ( K G W VI 2, S. 275 u. 332). Über die Beziehung Spencers zu Darwin vgl. J G B 253 ( K G W VI 2, S. 2 0 4 - 2 0 6 ) . U B I, DS 3, 5, 9 (SA I, S. 151, 159, 186). Über das Nicht-Verhältnis Nietzsche — Marx vgl. Literaturhinweise bei Hasso Hofmann: Nietzsche, in: Klassiker des politischen Denkens. II. Band. Hg. von Hans Maier u. a. München 2 1 9 6 9 , S. 3 2 0 - 3 4 3 , dort S. 341, A n m . 92. Uber Nietzsche und Marxismus jetzt gründlich S. F. Oduev: Auf den Spuren Zarathustras. Köln 1977. G D , Streifzüge eines Unzeitgemässen 39 ( K G W VI 3, S. 1 3 4 - 1 3 6 ) . „Kritik der Modernität" ist für die Spätphase ein Schlüsselwort der Gegenwartsanalyse Nietzsches, vgl.: EH, Jenseits von Gut und Böse 2 („Dies Buch (1886) ist in allem Wesentlichen eine .Kritik der Modernität'", SA III, S. 1 1 4 1 ; vgl. K G W VI 3, S. 348).
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Horst Baier
sehr geschwind, — man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man ,Freiheit'. Was aus Institutionen Institutionen m a c h t , wird verachtet, gehasst, abgelehnt: man glaubt sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das Wort ,Autorität' auch nur laut w i r d . " Der Verfall der Autorität im Staat zeigt sich im ,,kleinste[n] Gebilde der Herrschaft": in Ehe und Familie. „Die Ehe als Institution begreift bereits die Bejahung der grössten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich: wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich g u t s a g e n kann bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen Sinn. — Die moderne Ehe v e r l o r ihren Sinn, — folglich schafft man sie ab." 8 Die décadence der Tugenden, unserer Tauglichkeiten also für Institutionen, wird offenbar am Verlust des „Pathos der Distanz", dieser ersten Eigenschaft des Menschen, der im souveränen Staat Europas souverän geblieben ist. Im Aphorismus „ O b wir moralischer geworden sind", der in der ,Götzen-Dämmerung' der eben ausgelegten „Kritik der Modernität" vorhergeht, zeichnet Nietzsche das Gewebe der Moralität demokratischer Gesellschaften nach, in die unsere Vitalitäten und Instinkte hineingeflochten und allmählich zerdehnt worden sind. Diese Textur ist eine Art „impressionisme morale", sagt er, aus Mitleid und Vertraulichkeit, aus Gleichheits- und Schongefühlen, ein sozialer Pointiiiismus, formuliere ich, aus Schopenhauer, Sozialismus und Christlichkeit. „Wir Modernen mit unsrer ängstlichen SelbstFürsorge und Nächstenliebe, mit unsren Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der Wissenschaftlichkeit — sammelnd, ökonomisch, machinal —" sind Zeichen einer „ s c h w a c h e n Zeit". Diese „unsre Tugenden sind bedingt, sind h e r a u s g e f o r d e r t durch unsre Schwäche . . . Die ,Gleichheit', eine gewisse thatsächliche Anähnlichung, die sich in der Theorie von ,gleichen Rechten' nur zum Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang: die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben, Das, was ich P a t h o s d e r D i s t a n z nenne, ist jeder s t a r k e n Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, — die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit . . . Alle unsre politischen Theorien u n d Staats-Verfassungen, das .deutsche Reich' durchaus nicht ausgenommen, sind Folgerungen, Folge-Nothwendigkeiten des Niedergangs." Der Verfall des Staates und seiner herrschaftlichen Organisation durch Demokratisierung hier und die Verwandlung der persönlichen Tugenden in bürgerliche Leistungswerte und Lebensängstlichkeiten dort sind also Folgen eines Prozesses, die die neue westliche Wissenschaft der ,Sociologie' be8
Alle Zitate im A p h . „Kritik der Modernität", s. A n m . 7.
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D i e Gesellschaft — ein langer Schatten des toten Gottes
schreibt, ohne ihre Bedingtheiten in den Blick zu nehmen, ja in den Blick nehmen zu können. Diese .Sociologie' der Franzosen und Engländer kennt eben „nur die V e r f a l l s - G e b i l d e der Societät" und nimmt „vollkommen unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als N o r m des sociologischen Werthurteils [. . .]. Das n i e d e r g e h e n d e Leben, die Abnahme aller organisirenden, das heisst trennenden, Klüfte aufreissenden, unter- und überordnenden Kraft formulirt sich in der Sociologie von heute zum Ideal. . . " 9 Die Soziologie ist die Wissenschaft der décadence aus décadence. 10
II. Der Nihilismus — die Logik der sozialen
décadence
Die für die Soziologie verborgene Geschichte der Gesellschaft als Verfallsgeschichte des Staates und der Tugend des , souveränen Menschen' 11 ist von Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse", vor allem im Fünften Hauptstück ,Zur Naturgeschichte der Moral', und vollends in der ,Genealogie der Moral' erzählt. Es ist die Historie der Moral aus der Rache der kleinen Leute, die — vom christlichen Priester geführt — nicht nur im versprochenen Himmelreich oder wenigstens in der Hölle die Gleichheit der Unsterblichkeit mit ihren Herren genießen wollen, sondern das Reich Gottes schon auf Erden schmecken möchten. Ich erspare mir hier eine Analyse dieser Texte im Detail und wähle statt dessen ein für unsere Zwecke handliches Résumé aus dem , Antichrist' von 1888/89:
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Alle Zitate aus dem Aph. 37 „ O b wir moralischer geworden s i n d " , G D , Streifzüge eines Unzeitgemässen ( K G W V I 3, S. 1 3 0 - 1 3 3 ) .
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D i e Literatur über Nietzsches Verhältnis zur Soziologie seines Jahrhunderts ist erstaunlich schmal. Ertragreich allein: Friedrich J o n a s : Geschichte der Soziologie, 4 Bände. Reinbek bei H a m b u r g 1968, bes. B d . I I : Sozialismus, Positivismus, Historismus, S. 159—166. Helmut S c h o e c k : D i e Soziologie und die Gesellschaften. Freiburg/München 214.
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1 9 6 4 , S. 207—
Hans B a r t h : Wahrheit und Ideologie. Erlenbach-Zürich u. Stuttgart 2 1 9 6 1 , S. 2 0 3 - 2 7 1 , bes. S. 254 ff. Karl L ö w i t h : Von Hegel zu Nietzsche. D e r revolutionäre Bruch im D e n k e n des ^ . J a h r hunderts. Marx und Kierkegaard. Stuttgart 4 1 9 5 8 . Aus der Fülle der Dissertationen über Nietzsche zum T h e m a Soziologie gebe ich nur an: Slata Genia R u d e n s k y - B r i n : Kollektivistisches in der Philosophie Nietzsches. Basel 1948 (eine sehr zuverlässige, wenn auch mehr sammelnde Studie aus der Schule Karl Joels), und M o n i k a F u n k e : Ideologiekritik und ihre Ideologie bei Nietzsche. Stuttgart 1974 (über Soziologie speziell S. 6 3 f f . , insgesamt eine an Primärtexten wie an Sekundärliteratur äußerst aufwendige Arbeit, die sich im gegenwärtigen Zeitgeist freilich mehr um das Ideologische bei Nietzsche als Exponent des dekadenten deutschen Bildungsbürgertums bemüht, als um seine Ideologieund Sozialkritik der Dekadenz). 11
U b e r den Souveränen' und .starken Menschen' vgl. W M , die Aphorismusgruppen „ K r i t i k des ,guten M e n s c h e n ' " , 351 ff., insbes. Aph. 3 5 8 , und „ D a s Individuum", 7 6 6 f f . , insbes. „ U b e r den klassischen T y p u s des s o u v e r ä n e n M e n s c h e n " , A p h . 770.
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„Wenn man das Schwergewicht des Lebens n i c h t ins Leben, sondern ins Jenseits' verlegt — ins N i c h t s —, so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen. Die große Lüge von der Personal-Unsterblichkeit zerstört jede Vernunft, jede Natur im Instinkte — alles, was wohltätig, was lebenfördernd, was zukunftverbürgend in den Instinkten ist, erregt nunmehr Mißtrauen. [. . .] Und doch verdankt das Christentum d i e s e r erbarmungswürdigen Schmeichelei vor der Personal-Eitelkeit seinen S i e g — gerade alles Mißratene, Aufständisch-Gesinnte, Schlechtweggekommene, den ganzen Auswurf und Abhub der Menschheit hat es damit zu sich überredet. [. . .] Das Gift der Lehre , gl ei c h e Rechte für alle' — das Christentum hat es am grundsätzlichsten ausgesät; das Christentum hat jedem Ehrfurchts- und Distanz-Gefühl zwischen Mensch und Mensch, das heißt der V o r a u s s e t z u n g zu jeder Erhöhung, zu jedem Wachstum der Kultur einen Todkrieg aus den heimlichsten Winkejn schlechter Instinkte gemacht — es hat aus dem r e s s e n t i m e n t der Massen sich seine H a u p t w a f f e geschmiedet gegen u n s , gegen alles Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden, gegen unser Glück auf Erden. [. . .] — U n d unterschätzen wir das Verhängnis nicht, das vom Christentum aus sich bis in die Politik eingeschlichen hat! Niemand hat heute mehr den Mut zu Sonderrechten, zu Herrschaftsrechten, zu einem Ehrfurchtsgefühl vor sich und seinesgleichen — zu einem P a t h o s d e r D i s t a n z . . . [. . .] Der Aristokratismus der Gesinnung wurde durch die Seelen-Gleichheits-Lüge am unterirdischsten untergraben; und wenn der Glaube an das ,Vorrecht der Meisten' Revolutionen macht und m a c h e n w i r d — das Christentum ist es, man zweifle nicht daran, c h r i s t l i c h e Werturteile sind es, welche jede Revolution bloß in Blut und Verbrechen übersetzt!" 1 2 Die Genealogie der Moral aus der Rachsucht, der Malstrom des Ressentiments in der Geschichte ist die Geschichte der politischen Theologie des Christentums. 1 3 Sie mündet für Nietzsche im bekannten Selbstzerstörungsprozeß christlicher Jenseitsgewißheiten in den Nihilismus der Moderne, in den „Misarchismus" der Demokratie, so wie sie Nietzsche versteht. 1 4 Denn die 12 13
A C 43 (SA II, S. 1 2 0 5 - 1 2 0 6 ; vgl. K G W VI 3, S. 2 1 5 - 2 1 6 ) . Das Theorem des Ressentiments ist seit Max Scheler (Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (zuerst 1912/1915), heute in: V o m Umsturz der Werte (Gesammelte Werke, Bd. 3), Bern 1955, S. 33—147) Dauerthema der Soziologie geblieben. Von neueren Arbeiten aus marxistischer Sicht die Münstersche Dissertation von Wolfgang Conrad: Ressentiment in der Klassengesellschaft. Göttingen 1974; aus unverkennbar christlicher Betroffenheit, jedoch mit bemühter Objektivität Amandus Altmann: Friedrich Nietzsche. Das Ressentiment und seine Uberwindung — verdeutlicht am Beispiel christlicher Moral. Bonn 1977. Im Mittelpunkt der auch f ü r die Soziologie erstrangigen Nietzsche-Analyse steht das ,Ressentiment' bei Gilles Deleuze: Nietzsche et la philosophie. Paris 1962 (jetzt deutsch: Nietzsche und die Philosophie. München 1976). Die methodische Stellung der genealogischen Moralanalyse' Nietzsches reflektiert Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Von der Subversion des Wissens. München 1974, S. 83 — 109 (französisch zuerst in: Hommage ä Jean Hyppolite. Paris 1971).
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„Die demokratische Idiosynkrasie gegen alles, was herrscht und herrschen will, der moderne M i s a r c h i s m u s (um ein schlechtes W o r t für eine schlechte Sache zu bilden) hat sich allmäh-
D i e G e s e l l s c h a f t — ein langer Schatten des toten G o t t e s
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geglaubte Legitimität der staatlichen Herrschaft aus der Gnade Gottes löst sich auf mit dem Sterben Gottes im Glauben der Menschen. Im Aphorismus „Religion und Regierung" aus dem Abschnitt „Ein Blick auf den Staat" im Ersten Band von „Menschliches, Allzumenschliches", also schon gegen 1878, hält er fest: „ D e r G l a u b e an eine göttliche O r d n u n g der p o l i t i s c h e n D i n g e , an ein M y s t e r i u m in d e r E x i s t e n z d e s S t a a t e s ist r e l i g i ö s e n U r s p r u n g s : s c h w i n d e t die R e l i gion, so w i r d der Staat unvermeidlich seinen alten Isisschleier verlieren u n d k e i n e E h r f u r c h t m e h r e r w e c k e n . D i e S o u v e r ä n i t ä t d e s V o l k e s , in d e r
Nähe
gesehen, dient d a z u , auch den letzten Z a u b e r u n d A b e r g l a u b e n auf d e m G e b i e t e d i e s e r E m p f i n d u n g e n z u v e r s c h e u c h e n ; d i e m o d e r n e D e m o k r a t i e ist d i e historische F o r m v o m V e r f a l l d e s
Staates."15
Die Destruktion des Christentums und ihre Folgen für den Legitimitätsglauben und für den Staat zerstört im gleichen Zuge die überlieferte Sozialstruktur der bisherigen Gesellschaft. Denn für Nietzsche entsteht Gesellschaft nicht, wie für die liberalen und konservativen, später auch sozialistischen Theoretiker der ersten Hälfte seines Jahrhunderts, als Konter-Realität zum Staat 1 6 , sondern ist als sein gegliederter Unterbau' sein Erzeugnis. In der Abhandlung über den griechischen Staat' aus den ,Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern', „vergnügten Sinnes niedergeschrieben in den Weihnachtstagen 1872" und Cosima Wagner gewidmet, führt Nietzsche den Gedanken einer „Configuration der Gesellschaft" als Funktion des Staates mit dem Zweck der Schöpfung von ,Cultur' auf dem Boden der Sklaverei näher aus: „Was nämlich kann uns der Staat bedeuten, wenn nicht das Mittel, mit dem [. . .] [der] Gesellschaftsprozeß in Fluß zu bringen und in seiner ungehemmten Fortdauer zu verbürgen ist. Mag der Trieb zur Geselligkeit in den einzelnen Menschen auch noch so stark sein, erst die eiserne Klammer des Staates zwängt die größeren Massen so aneinander, daß jetzt jene chemische Scheidung der Gesellschaft, mit ihrem neuen pyramidalen Aufbau, vor sich gehen m u ß . " Wir sehen, fährt er fort, „mit welcher mitleidlosen Starrheit die Natur, um zur Gesellschaft zu kommen, sich das grausame Werkzeug des Staates schmiedet." 1 7 lieh dermaßen ins G e i s t i g e , G e i s t i g s t e u m g e s e t z t u n d verkleidet, daß er heute Schritt f ü r Schritt bereits in die strengsten, anscheinend objektivsten W i s s e n s c h a f t e n eindringt [. . .] [es folgt eine A t t a c k e gegen H e r b e r t Spencers U t i l i t a r i s m u s u n d seinen „ a d m i n i s t r a t i v e n N i h i l i s m u s " ] , s o G M II 12 ( S A II, S. 8 1 9 f . ; K G W V I 2, S. 331). 15 16
17
M A I 472 ( S A I, S. 6 8 2 ; vgl. K G W IV 2, S. 316). Vgl. hierzu die Studien M a n f r e d Riedels, heute z u s a m m e n g e f a ß t im H a n d b u c h a r t i k e l „ G e s e l l schaft, G e m e i n s c h a f t " , in: Geschichtliche G r u n d b e g r i f f e . H i s t o r i s c h e s L e x i k o n z u r politischsozialen S p r a c h e in D e u t s c h l a n d . B d . II. Stuttgart 1975, S. 8 0 1 - 8 6 2 . D e r griechische Staat, K G W III 2, S. 2 5 8 - 2 7 1 , dort S. 263, W i d m u n g an C o s i m a W a g n e r S. 246. Weiteres über das „ U r b i l d des S t a a t e s " u n d seine p y r a m i d e n f ö r m i g e soziale Schichtung S. 269.
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Das Konzept einer Gesellschaft als klassen- oder kastenförmig gegliederter Unterbau des Staates begegnet uns bei Nietzsche durchgehend bis in seine Spätphilosophie; in den 80er Jahren freilich eher gewendet als ideales Gegenbild zum ,sozialen Mischmasch' seiner Gegenwartsgesellschaft. 1 8 Aber diese Entstrukturierung der Sozietät ist eben die Folge des Verfalls des Staates, wie dieser die Folge der ,Aufklärung' über das Christentum ist. „Deshalb ist die f r a n z ö s i s c h e R e v o l u t i o n die Tochter und Fortsetzerin des C h r i s t e n t h u m s " , 1 9 sie hat die Feindschaft des christlichen Priesters gegen die kriegerischen Kasten, gegen die ,vornehmen Stände' zu deren Vernichtung radikalisiert: „ E n d l i c h : d e r s o c i a l e M i s c h m a s c h , Folge der Revolution, der Herstellung gleicher R e c h t e , des A b e r g l a u b e n s an ,gleiche M e n s c h e n ' . D a b e i m i s c h e n sich die T r ä g e r d e r N i e d e r g a n g s - I n s t i n k t e (des r e s s e n t i m e n t , der U n z u friedenheit, des Z e r s t ö r e r - T r i e b s , des A n a r c h i s m u s u n d N i h i l i s m u s ) , eingerechnet der S k l a v e n - I n s t i n k t e , der F e i g h e i t s - , Schlauheits- u n d C a n a i l l e n I n s t i n k t e der l a n g e u n t e n gehaltenen Schichten in alles B l u t aller S t ä n d e hinein: z w e i , drei G e s c h l e c h t e r d a r a u f ist die R a s s e nicht m e h r z u e r k e n n e n — A l l e s ist v e r p ö b e l t . " 2 0
Es ist der „letzte grosse Sklaven-Aufstand [. . .], welcher mit der französischen Revolution begonnen h a t " 2 1 und welcher in der RessentimentGesellschaft des verlangten gleichen Glücks und der gleichen Furchtsamkeit endet. Eine handeltreibende und arbeitende Gesellschaft will nur noch, „daß dem Leben alle G e f ä h r l i c h k e i t genommen werde", schreibt Nietzsche in der „Morgenröte" im Aphorismus .Moralische Mode einer handeltreibenden Gesellschaft': Ein „socialer Trieb der Furchtsamkeit" läßt alle Handlungen „auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen." Und vorher: „ S o wird eine Gesellschaft, in welcher fortwährend hart gearbeitet wird, mehr Sicherheit haben: und die Sicherheit betet man jetzt als oberste Gottheit a n . " 2 2 Es ist die vielberedete ,Herdentier-Moral', „das allgemeine grüne WeideGlück der Heerde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für Jedermann" 2 3 , die im Malstrom des Ressentiments, im praktizierten Nihilismus des Mitleidens 24 übriggeblieben ist und sich zum letzten Imperativ der Gesellschaft zusammengeschnürt hat: die Furcht vor der Vernichtung, vor dem Nichts zu bannen. Für die .Naturgeschichte der Moral' 18 19 20 21 22 23 24
Vgl. die späteren Ausführungen über den künftigen Staat und seine soziale Herrschaft. Nachlaß 1888, K G W VIII 3, S. 188. Nachlaß 1888, K G W VIII 3, S. 159 (vgl. SA III, S. 708). J G B 46 ( K G W VI 2, S. 65; SA II, S. 611). M 174 u. 173 ( K G W V 1, S. 154; SA I, S. 1130). J G B 44 ( K G W VI 2, S. 57; SA II, S. 606). „Mitleiden ist die P r a x i s des Nihilismus", A C 7 ( K G W VI 3, S. 171; SA II, S. 1168).
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und ihren modernen Auslauf heißt das, am Ende noch die Moral abzuschaffen. Wozu noch Leiden und Strafen erdulden, wenn die Unterwerfung unter politische wie geistliche Herrschaft nicht mehr den Lohn von Sicherheit aus dem Jenseits einbringt? „Mit dieser Frage", so Nietzsche, im schon zitierten Abschnitt über die ,Naturgeschichte der Moral', „zieht die Heerden-Moral, die Moral der Furchtsamkeit ihre letzte Consequenz. Gesetzt, man könnte überhaupt die Gefahr, den Grund zum Fürchten abschaffen, so hätte man diese Moral mit abgeschafft: sie wäre nicht mehr nöthig". 2 5 Die Moral der kleinen Leute wie die Tugenden der stärkeren Menschen verlieren und vernutzen sich in den neuen Gemeinschaften von den aufkommenden , Vaterländern' bis zu den aufsprießenden geselligen Vereinen, zumal der Deutschen und der Schweizer. „ D a s langsame Hervortreten und Emporkommen der mittleren und niederen Stände [. . .], welches schon vor der Französischen Revolution reichlich präludiert und ohne Revolution ebenfalls seinen Weg vorwärts gemacht hätte, — im ganzen also das Ubergewicht der Herde über alle Hirten [. . . ] " bringt neben anderen sozialen Eigenschaften „das Wohlgefallen im großen Beieinander, wie es alle Herdentiere haben — ,Gemeinsinn', ,Vaterland', alles, wo das Individuum nicht in Betracht k o m m t " . 2 6 Später hat man von ,Gemeinschaftserlebnis' gesprochen, durch das sich Führer und Geführte in der Anschmiegsamkeit jugendbewegter und anderer ,bewegter' Horden angeglichen haben. Es ist die ,Reaktion der zum höchsten Gefühl der Macht gekommenen kleinen Leute': „ H i e r ist das Herdenglück, das Gemeinschafts-Gefühl im großen und kleinen, das lebendige Eins-Gefühl als S u m m e d e s L e b e n s g e f ü h l s empfunden." „Gemeinschaft macht [ . . . ] — gemein", sagt Nietzsche an anderer Stelle. 2 7 Dieser „ H e e r d e n i n s t i n k t " , steht im Nachlaß vom Frühjahr 1888, „eine jetzt souverän gewordene Macht — ist etwas Grundverschiedenes vom Instinkt einer a r i s t o k r a t i s c h e n S o c i e t ä t : und es kommt auf den Werth der E i n heiten an, was die Summe zu bedeuten hat . . . Unsere ganze Sociologie kennt gar keinen anderen Instinkt als den der Heerde, d. h. der s u m m i r t e n N u l l e n . . . wo jede Null ,gleiche Rechte' hat, wo es tugendhaft ist, Null zu
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J G B 201 ( K G W VI 2, S. 125; SA II, S. 658f.). D a s Zitat lautet weiter: „Wer das Gewissen des heutigen Europäers prüft, wird aus tausend moralischen Falten und Verstecken immer den gleichen Imperativ herauszuziehen haben, den Imperativ der HeerdenFurchtsamkeit: ,wir wollen, dass es irgendwann einmal N i c h t s m e h r z u f ü r c h t e n g i e b t ! ' Irgendwann einmal - der Wille und Weg d o r t h i n heisst heute in Europa überall der .Fortschritt'."
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Nachlaß der Achtzigerjahre SA III, S. 742f. (Aph. „Reaktion der kleinen L e u t e " ) u. S. 847. Uber den Gemeinschaftsbegriff Nietzsches und seine ambivalenten Folgen Helmuth Pleßner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Bonn 1924, vor allem Kap. „Zwischen Herrenmoral und Gemeinschaftsmoral", S. 26ff. J G B 284 ( K G W VI 2, S. 242; SA II, S. 749).
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sein." 2 8 Begreifen müssen wir aber, schreibt Nietzsche in den gleichen Nachlaßtexten, „die Zusammengehörigkeit aller Corruptions-Formen [. . .]; und dabei nicht die christliche Corruption zu vergessen". Und weiter: „Hier darf es keinen V e r t r a g geben: hier muß man ausmerzen, vernichten, Krieg führen — man muß das christlich-nihilistische Werthmaß überall noch hinaus ziehen und es unter jeder Maske bekämpfen . . . Aus der jetzigen S o c i o l o g i e zum Beispiel [. . , ] " 2 9
III. Gesellschaft: ein Mittel des Staates zum
Herrschaftszweck
Die Soziologie, so wie sie Nietzsche bekämpfen will, ist die Wissenschaft der décadence aus der ihr verborgenen décadence. Und „die Logik der décadence" ist der Nihilismus. 3 0 In einem von den Editoren Colli und Montinari kollationierten und rekonstruierten Fragment Nietzsches vom Juni 1887 über den europäischen Nihilismus' ist die Zerstörung der Moral als dem ,,große[n] G e g e n m i t t e l gegen den praktischen und theoretischen N i h i l i s m u s " gleichsam als Prozeßlogik durchgezogen. Uns interessiert hier nur seine Diagnose der Vernutzung der Metaphysik im Souterrain der Verwertungsgesellschaft, das Schicksal der ,Werte' also: „ D i e Moral behütete die S c h l e c h t w e g g e k o m m e n e n vor Nihilismus, indem sie J e d e m einen unendlichen Werth, einen metaphysischen Werth beimaß und in eine Ordnung einreihte, die mit der der weltlichen Macht und Rangordnung nicht stimmt: sie lehrte Ergebung, Demuth usw. G e s e t z t , d a ß d e r G l a u b e an d i e s e M o r a l z u G r u n d e g e h t , so würden die Schlechtweggekommenen ihren Trost nicht mehr haben — und z u G r u n d e gehen."31
Dieses ,Zu-Grunde-Gehen' präsentiert sich für Nietzsche als ein ,Sichzu-Grunde-richten', als eine zwangshafte Selbstzerstörung. Das Medium dieses „ W i l l e n s z u r Z e r s t ö r u n g " ist die Gesellschaft; die Fäden, mit denen die vielen einzelnen zusammengezwirnt sind und mit deren Zug sie sich auf das „Finale ins Nichts", so noch im obigen Text, zudrängen, sind die Werte der Nützlichkeit und Verträglichkeit im Handeln ums Uberleben. Schon in der ,Morgenröte' von 1881 hat er diesen „Grundgedanken einer Cultur der Handeltreibenden", die ökonomisierung der Welt im Geist der Bourgeoisie, überraschend präzise erfaßt: 28 29 30 31
Nachlaß 1888, K G W VIII 3, S. 30. Nachlaß 1888, K G W VIII 3, S. 12 (SA III, S. 793 f.). Nachlaß 1888, KGW VIII 3, S. 57 im Aphorismenentwurf „Zum Begriff .Décadence' - " . „Der europäische Nihilismus", KGW VIII 1, S. 2 1 5 - 2 2 1 , Zitate S. 215, 219 u. 217. Über die Konstitution des Textes vgl. S. 11 mit Anm. 15.
Die Gesellschaft — ein langer Schatten des toten Gottes
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„Man sieht jetzt mehrfach die Cultur einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das H a n d e l t r e i b e n ebenso sehr die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die älteren Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende versteht Alles zu taxiren, ohne es zu machen, und zwar zu taxiren n a c h d e m B e d ü r f n i s s e d e r C o n s u m e n t e n , nicht nach seinem eigenen persönlichsten Bedürfnisse; [. . .] Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinctiv und immerwährend an: auf Alles, und so auch auf die Hervorbringungen der Künste und Wissenschaften, der Denker, Gelehrten, Künstler, Staatsmänner, der Völker und Parteien, der ganzen Zeitalter: er fragt bei Allem, was geschaffen wird, nach Angebot und Nachfrage, u m f ü r s i c h d e n W e r t h e i n e r S a c h e f e s t z u setzen."32
Die Entwertung der alten Moral zu Lebensregeln wirtschaftlicher Tauschfähigkeit, welche die arbeitenden und tauschenden Individuen in der angeglichenen sozialen Sicherheit der bürgerlichen Gesellschaft versinken läßt, ist aber unter dem klinischen Blick Nietzsches ein Doppelphänomen . D i e „ Machinalisierung der Menschheit" 3 3 treibt auch das Bedürfnis hervor, dem Alltag in romantischer Erinnerung an ,moralische Zeiten' einen handlichen Sinn, benennbare Werte zu geben. Im Aphorismus über den .socialen Mischmasch' sagt Nietzsche lakonisch: „Die Heraufkunft des Pöbels bedeutet noch einmal die Heraufkunft der a l t e n W e r t h e " . 3 4 Und an anderer Stelle des Nachlasses der späten 80er Jahre: „ D i e K l e i n e - L e u t e - M o r a l i t ä t als Maß der Dinge: das ist die ekelhafteste Entartung, welche die Kultur bisher aufzuweisen hat. U n d d i e s e A r t I d e a l als ,Gott' hängenbleibend über der Menschheit!!" 3 5 Nun aber namenlos, ein wechselbares Schibboleth für das kleine Glück und die große Sicherheit zum gefahrlosen Leben. Ein Heer von Intellektuellen: Gelehrte und Schriftsteller und Künstler, voran natürlich die Verwalter der alten Werte, die Theologen und Philosophen, beschäftigen sich künftig mit solchen Produktionen von Sinn; wir kommen in die große Zeit,materialer Wertethiken'. Es sind die braven Werke von Metaphysikern, „die die W ü r d e des M e n s c h e n festhalten wollen, mit ihrem Glauben, daß die moralischen Werte kardinale Werte sind. Wer Gott fahren ließ, hält um so strenger am Glauben an die Moral f e s t . " 3 6 Es ist die These Martin Heideggers und mit ihm Carl Schmitts, der in seiner neu aufgelegten und ironisch gerade von Theologen begleiteten Schrift „ D i e Tyrannei der Werte" ersten zitiert mit dem Satz: „ D e r Wert und das Werthafte wird zum positivistischen Ersatz für das Metaphysische", und selbst die Folgerung 32 33 34 35 36
M 175, K G W V 1, S. 155f. (SA Vgl. Anm. 41. Nachlaß 1888, K G W VIII 3, S. Nachlaß der Achtzigerjahre, SA Nachlaß der Achtzigerjahre, SA Zeit".
I, S. 1131). 159 (SA III, S. 709). III, S. 568. III, S. 880 im Aph. „Das allgemeinste Zeichen der modernen
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zieht: „ D i e Wertphilosophie ist eine Reaktion auf die (von Nietzsche ausgelöste) Nihilismus-Krise des 19. Jahrhunderts". 3 7 Es ist der ,Angriffspunkt', an dem auch eine soziologische Ideologiekritik im Sinne Nietzsches anzusetzen hätte. 3 8 Das große Thema von Nietzsches letzter Philosophie geht aber über eine solche Ideologiekritik, eine solche literarische Jagd nach den ,Falschmünzern der historischen Werte' 3 9 weit hinaus. Es ist das Thema der „Umwerthung der bisherigen Werthe selbst", wie er es im ,Ecce homo' als Steigerung und Umwendung seiner Kritik der décadence ankündigt. „ D i e Erkenntniss, das Jasagen zur Realität ist für den Starken eine ebensolche Nothwendigkeit als für den Schwachen, unter der Inspiration der Schwäche, die Feigheit und F l u c h t vor der Realität — das ,Ideal' . . . Es steht ihnen nicht frei, zu erkennen: die décadents haben die Lüge n ö t h i g , sie ist eine ihrer Erhaltungs-Bedingung e n . " 4 0 Aber es ist nicht nur der Mut zur Erkenntnis, ein individueller „Uberschuß an Kraft", wie er im gerade zitierten Text des ,Ecce homo' von sich verlangt, sondern eine ,Gegenbewegung des Lebens' selbst, die in der Maschinerie der bürgerlichen und proletarischen Wirtschaftswelt ausgelöst wird und das Thema der Gesellschaft und ihrer Wissenschaft, der Soziologie, neu stellt. In einem großen Aphorismus vom Herbst 1887, der bisher zum Schlußteil des vom Nietzsche-Archiv kompilierten ,Willen zur Macht' gehörte, zeichnet er die Züge einer solchen Kehre des Fortschritts' vor: „ D i e N o t h w e n d i g k e i t zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester in einander verschlungenen ,Maschinerie' der Interessen und Leistungen e i n e G e g e n b e w e g u n g g e h ö r t . Ich bezeichne dieselbe als A u s s c h e i d u n g e i n e s L u x u s - Ü b e r s c h u s s e s d e r M e n s c h h e i t : in ihr soll eine s t ä r k e r e Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre
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Carl Schmitt, Eberhard Jüngel, Sepp Schelz: Tyrannei der Werte, H a m b u r g 1979, Zitate S. 31 u. 21. Der Text von Schmitt ursprünglich in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Stuttgart u. a. 1962, S. 37—62. D a z u Martin Heidegger: Nietzsches Wort ,Gott ist tot', in: Holzwege. Frankfurt am Main, 3 1957, S. 1 9 3 - 2 4 7 . Vgl. Monika Funke: Ideologiekritik und ihre Ideologie bei Nietzsche. Stuttgart 1974, eine verdienstvolle Dissertation, die freilich das Anathema Nietzsches gegen die sinnproduzierenden Intellektuellen noch nicht mit Schärfe auf die ideologiekritische Soziologie selbst bezieht. Dazu auch Helmuth Pleßner: Die verspätete Nation. Uber die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart 3 1959, dort bes. Kap. 10 über den „verallgemeinerten Ideologieverdacht und das Problem der Lebensführung auf dem Boden des Nihilismus", S. 116ff. U n d natürlich ist auf Hans Barth nochmals hinzuweisen: Wahrheit und Ideologie. ErlenbachZürich u. Stuttgart 2 1961, S. 203 ff. „ I n der Welt der historischen Werte h e r r s c h t die Falschmünzerei", N W , SA II, S. 1057, vgl. auch: J G B 269 ( K G W VI 3, S. 432 u. VI 2, S. 234). Vgl. E H , K G W VI 3, S. 2 5 3 f f . , Zitate S. 348 u. 309 (SA II, S. 1141 u. 1109f.).
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Die Gesellschaft — ein langer Schatten des toten Gottes
Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. [. . .] Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirthschafts-Gesammtverwaltung der Erde, dann k a n n die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner ,angepaßten* Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssigwerden aller dominirenden und commandirenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren M i n i m a l - K r ä f t e , M i n i m a l - W e r t h e darstellen. Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine spezialisirtere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung - der Erzeugung des s y n t h e t i s c h e n , des s u m m i r e n d e n , des r e c h t f e r t i g e n d e n Menschen, für den jene Machinalisirung der Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine h ö h e r e F o r m z u s e i n sich erfinden kann . . . E r braucht ebensosehr die G e g n e r s c h a f t der Menge, der .Nivellirten', das Distanz-Gefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere F o r m des A r i s t o k r a t i s m ist die der Zukunft. - Moralisch geredet, stellt jene Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein maximum in der A u s b e u t u n g d e s M e n s c h e n dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung S i n n h a t . " 4 1 D i e ,sociale C o n f i g u r a t i o n ' — ich erinnere an diese F o r m e l N i e t z s c h e s in seiner A b h a n d l u n g über den g r i e c h i s c h e n Staat' v o n 1 8 7 2 —, die uns hier in der spätesten Z e i t w i e d e r begegnet, ist die V o r s t e l l u n g , daß sich auf d e m Boden
einer p r o d u z i e r e n d e n
und konsumierenden
Wirtschaftsgesellschaft,
aber nun i m Z e i c h e n der D e m o k r a t i e u n d des F a b r i k w e s e n s z u r Egalität u n d Funktionalität
,dressiert',
der U b e r b a u
einer h e r r s c h e n d e n
Schicht,
einer
A r i s t o k r a t i e der , h ö h e r e n M e n s c h e n ' e r h e b t . A b e r w a s b e i m jugendlichen V e r ehrer C o s i m a W a g n e r s n o c h als „ G e h e i m l e h r e v o m Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n Staat u n d G e n i u s " — es ist damals n o c h der platonische P h i l o s o p h e n k ö n i g , der sich des Staats u n d der Gesellschaft als Mittel der , C u l t u r ' bedient — m i t T i e f sinn verrätselt w u r d e 4 2 , d e c k t sich nun auf als R e t t u n g im niedergehenden L e b e n des Industrialismus d u r c h die „ f r e i g e w o r d e n e n G e i s t e r " . 4 3
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Nachlaß Herbst 1887, K G W VIII 2, S. 128f. (SA III, S. 6 2 8 f . ; vgl. W M Aph. 866). Der griechische Staat, K G W III 2, bes. S. 2 7 0 f. - Über Nietzsches Verhältnis zu Piaton kenne ich keine verläßliche, vor allem keine an seinen ,Philologica' quellenkritisch gearbeitete Literatur. Michel Guérin: Nietzsche. Socrate héroïque, Paris: Bernard Grasset 1975, berührt nur knapp die konkrete politische Philosophie Piatons. Darüber, freilich ohne Bezug zu Nietzsche, sehr scharfsinnig Reinhart Maurer: Piatons ,Staat' und die Demokratie, Berlin 1970 (über den „hierarchisch gegliederten Bildungsstaat der Politeia", S. 1 0 4 - 110; über „Das politische Kunstwerk", S. 2 8 0 - 2 9 0 ; über Einflüsse auf totalitäre Ideologien, 302 ff.). Vorzüglich zur Abwehr der Schmähungen Karl R. Poppers und zur Versachlichung der Wirkungsauslegung von Plato bis Nietzsche und Sorel Hans Joachim Krämer: Das Problem der Philosophenherrschaft bei Piaton, in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966), S. 254—270. „ E i n solcher f r e i g e w o r d n e r Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, [ . . . ] — er v e r n e i n t n i c h t m e h r " , G D , Streifzüge eines Unzeitgemässen 4 9 ( K G W VI 3, S. 146).
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Horst Baier
Die strukturgleiche Argumentation überrascht zuerst und überzeugt dann von der Kontinuität des Nietzscheschen Begriffs der Gesellschaft. Zwei Aphorismen aus der Spätzeit bestätigen meine Deutung. In Jenseits von Gut und Böse' schreibt er von „einer guten und gesunden Aristokratie": „Ihr Grundglaube muss eben sein, dass die Gesellschaft n i c h t um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermag." 4 4 Und im Nachlaß aus dem Herbst 1887 tönt der Zusammenhang von Staat und Gesellschaft in der Kehre der „Geschichte des europäischen N i h i l i s m u s " noch stärker an: „Das Problem des Lebens: als W i l l e z u r M a c h t . (Zeitweiliges Uberwiegen der socialen Werthgefühle begreiflich und nützlich: es handelt sich um die Herstellung eines U n t e r b a u s , auf dem endlich eine s t ä r k e r e Gattung möglich wird.) Maaßstab der Stärke: unter den u m g e k e h r t e n Werthschätzungen leben können und sie ewig wieder wollen. Staat und Gesellschaft als Unterbau: weltwirtschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Z ü c h t u n g . " 4 5
Die Gesellschaft ist das Mittel des Staates zum Herrschaftszweck, der Staat wiederum eine Aufgabe wie der Auslöser der Heranzüchtung von Eliten. 46 „Denn die D r e s s i e r b a r k e i t der Menschen ist in diesem demokratischen Europa sehr groß geworden; Menschen welche leicht lernen, leicht sich fügen, sind die Regel: das Herdentier, sogar höchst intelligent, ist präpariert. Wer befehlen kann, findet die, welche gehorchen m ü s s e n . " 4 7 Aber „dieselben Gründe, welche die Verkleinerung" und, ergänzen wir jetzt, die Disziplinierung und Funktionalisierung „der Menschen hervorbringen, treiben die Stärkeren und Seltneren bis hinauf zur Größe." 4 8 Diese Schaukelbewegung vom sinkenden und steigenden Leben als triadische Struktur von Gesellschaft, Staat und höherem Menschen im Fluß des Lebensprozesses kennzeichnet Nietzsches eigene positive Gegen-Soziologie. Ich zitiere aus einem von Colli und Montinari rekonstruierten größeren Text, von dem Teile in Jenseits von Gut und Böse' eingegangen sind:
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JGB 258 (KGW VI 2, S. 216f.). Nachlaß Herbst 1887, K G W VIII 2, beide Zitate S. 3. Zum Thema ,Staat und Gesellschaft' bei Nietzsche die knappe, aber sehr sichere Studie von Raymond Polin: Nietzsche und der Staat oder Die Politik eines Einsamen, in: Nietzsche. Werke und Wirkungen. Hg. von Hans Steffen. Göttingen 1974, S. 27—44. Dazu die schon zitierten Arbeiten von Hasso Hofmann, vgl. Anm. 6, und Slata Genia Rudensky-Brin, vgl. Anm. 10, dort bes. S. 112ff. Immer noch belehrend Nicolai von Bubnoff: Friedrich Nietzsches Kulturphilosophie und Umwertungslehre. Leipzig 1924, bes. S. 93 ff. u. 158 ff. Nachlaß der Achtzigerjahre, SA III, S. 434. Nachlaß der Achtzigerjahre, SA III, S. 844 (Hervorhebung des ganzen Satzes nicht wiedergegeben).
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Die Gesellschaft - ein langer Schatten des toten Gottes
„Ich glaube endlich daß bisher jede Erhöhung des Typus Mensch das Werk einer aristokratischen Gesellschaft war, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubte und die Sklaverei nöthig hatte: ja daß ohne das P a t h o s d e r D i s t a n z , wie es aus dem eingefleischten Unterschiede der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge, und ihrer ebenso beständigen Übung im Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, auch jenes andre geheimnißvollere Pathos gar nicht entstehen kann, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz die ,Selbst-Uberwindung des Menschen', um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. Eine Frage kommt mir immer wieder, eine versucherische und schlimme Frage vielleicht: sei sie denen in's Ohr gesagt, welche ein Recht auf solche fragwürdigen Fragen haben, den stärksten Seelen von heute, welche sich selbst auch am besten in der Gewalt haben: wäre es nicht an der Zeit, je mehr der Typus ,Heerdenthier' jetzt in Europa entwickelt wird, mit einer grundsätzlichen künstlichen und bewußten Z ü c h t u n g des entgegengesetzten Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen? Und wäre es für die demokratische Bewegung nicht selber erst eine Art Ziel, Erlösung und Rechtfertigung, wenn Jemand käme, der sich ihrer b e d i e n t e —, dadurch daß endlich sich zu ihrer neuen und sublimen Ausgestaltung der Sklaverei — als welche sich einmal die Vollendung der europäischen Demokratie darstellen wird, — jene höhere Art herrschaftlicher und cäsarischer Geister hinzufände, welche diese neue Sklaverei nun auch — n ö t h i g hat? Zu neuen, bisher unmöglichen, zu i h r e n Fernsichten? Zu i h r e n Aufgaben?" 4 9 Ein neuer A d e l entsteht also, s o experimentiert N i e t z s c h e in G e d a n k e n , der das B e f e h l s - G e h o r s a m v e r h ä l t n i s
des Staates im ,Pathos
der
sozialen
D i s t a n z ' virtuos und souverän h a n d h a b t , u m die sozialen K l a s s e n in ihren A r b e i t s - u n d Freizeitleistungen z u lenken u n d ihnen die T u g e n d e n eines nützlichen L e b e n s v o r z u s c h r e i b e n . Sie bedienen sich der „ o r g a n i s i e r t e n U n m o r a l i t ä t " des S t a a t e s , 5 0 u m der Gesellschaft als der v o n ihnen geschaffenen ,organisierten Moralität' Sinn und Wert zu setzen. E s sind Artisten der M a c h t , denen die m o d e r n e D e m o k r a t i e und Ö k o n o m i e das Sujet ihrer K u n s t , ihrer ,großen Politik' zuspielt: „ E s wird von nun an günstige Vorbedingungen für umfänglichere Herrschafts-Gebilde geben, deren Gleichen es noch nicht gegeben hat. Und dies ist noch nicht das Wichtigste; es ist die Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden möglich gemacht, welche sich die Aufgabe setzten, eine Herren-Rasse heraufzuzüchten, die zukünftigen ,Herren der Erde'; — eine neue, ungeheure, auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung aufgebaute Aristo49
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Nachlaß Herbst 1885 - H e r b s t 1886, K G W VIII 1, S. 71f. Vgl. auch: J G B 257 ( K G W VI 2, S. 215f.). Vgl. Nachlaß der Achtzigerjahre, SA III, S. 635. Weitere Notizen über .Gesellschaft und Staat' sind zu finden in: WM Aph. 7 1 6 - 7 9 3 .
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Horst Baier kratie, in der dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und KünstlerTyrannen Dauer über Jahrtausende gegeben wird: — eine höhere A r t Menschen, welche sich, Dank ihrem Ubergewicht von Wollen, Wissen, Reichthum und Einfluß, des demokratischen Europas bedienten als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die H a n d zu bekommen, um am ,Menschen' selbst als Künstler zu gestalten." 5 1
IV. Nietzsches Gegen-Soziologie: Studium der Herrschafts- und Kulturverhältnisse Ein Zweckverhältnis von Gesellschaft, Staat und neuer Aristokratie zu schaffen: das wäre die Aufgabe der Politik als Kunst, getragen vom Leben und seinen unerschöpflichen Ressourcen. Nietzsche nennt dieses Verhältnis ,Cultur', was freilich keine spannungsfreie Beziehung einschließt.
Auch
begrifflich wie werkgeschichtlich nimmt er verschiedene Anläufe zur Bestimmung von Kultur. Neigt er in der hohen Zeit seiner
Gefolgschaft
Richard Wagners, also in den frühen 70er Jahren, dazu, „ C u l t u r " auszurufen als „Herrschaft der Kunst über das L e b e n " 5 2 , wobei sich diese Herrschaft nicht nur ästhetisch, sondern durchaus politisch und sozial versteht; 5 3 so begreift er Kultur in späteren Perioden als „antipolitisch", als Kontrast zum Staat, als Manifestation der décadence. 5 4 In seiner letzten Zeit kehrt er wieder zum Ideal des griechischen Staates', genauer der Platonischen JioXiTeia, mit seiner gesellschaftlichen Hierarchie und Arbeitsteilung zurück, das Machtmittel höchster Kulturschöpfungen durch die .geistigsten Menschen', durch die Künstler- und Philosophenkönige. Jedoch sind, in diesem Sprachgebrauch, „die a u f l ö s e n d e n und n o t w e n d i g z u r d é c a d e n c e t r e i b e n d e n
Mittel
der Zivilisation nicht mit der K u l t u r zu verwechseln. 5 5 Im ,Antichrist' von 1888/89 finden wir die Bestätigung für einen solchen Kulturbegriff als Zweckverhältnis der Triade Gesellschaft, Staat und neuer Adel: Die geistigsten Menschen, als die S t ä r k s t e n , finden ihr Glück, worin Andre ihren Untergang finden würden: im Labyrinth, in der H ä r t e gegen sich und Andre, im Versuch; ihre Lust ist die Selbstbezwingung: der Asketismus wird bei ihnen N a t u r , Bedürfniss, Instinkt. Die schwere Aufgabe gilt 51 52
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Nachlaß Herbst 1 8 8 5 - H e r b s t 1886, K G W VIII 1, S. 85f. Vgl. Gedanken zu einer Festschrift über „die Möglichkeit einer deutschen Cultur" (Anfang 1873), GA X , S. 2 3 9 - 2 5 6 , Zitat S. 245: „Cultur: Herrschaft der Kunst über das Leben". Vgl. dazu Maria Bindschedler: Nietzsche und die poetische Lüge. Basel 1954, bes. 2. Teil „Kunst und Macht", S. 51 ff. Für das große Thema „Der Wille zur Macht als Kunst" natürlich grundlegend Martin Heidegger: Nietzsche. 2 Bde., Pfullingen 1961, dort das so genannte Kap. in Bd. I, S. 1 1 - 2 5 4 . Vgl. G D Kap. Was den Deutschen abgeht 4: „Alle grossen Zeiten der Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst a n t i p o l i t i s c h " , K G W VI 3, S. 100. Nachlaß der Achtzigerjahre, SA III, S. 810.
Die Gesellschaft — ein langer Schatten des toten Gottes
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ihnen als Vorrecht, mit Lasten zu spielen, die Andre erdrücken, eine E r h o l u n g . . . Erkenntniss — eine Form des Asketismus. — Sie sind die ehrwürdigste Art Mensch: das schliesst nicht aus, dass sie die heiterste, die liebenswürdigste sind. Sie herrschen nicht, weil sie wollen, sondern weil sie s i n d , es steht ihnen nicht frei, die Zweiten zu sein. — Die Z w e i t e n : das sind die Wächter des Rechts, die Pfleger der Ordnung und der Sicherheit, das sind die vornehmen Krieger, das ist der K ö n i g vor Allem als die höchste Formel von Krieger, Richter und Aufrechterhalter des Gesetzes. Die Zweiten sind die Exekutive der Geistigsten, das Nächste, was zu ihnen gehört, das, was ihnen alles G r o b e in der Arbeit des Herrschens abnimmt — ihr Gefolge, ihre rechte Hand, ihre beste Schülerschaft. — In dem Allem, nochmals gesagt, ist Nichts von Willkür, Nichts .gemacht'; was a n d e r s ist, ist gemacht, — die Natur ist dann zu Schanden gemacht . . . Die Ordnung der Kasten, die R a n g o r d n u n g , formulirt nur das oberste Gesetz des Lebens selbst, die Abscheidung der drei Typen ist nöthig zur Erhaltung der Gesellschaft, zur Ermöglichung höherer und höchster Typen, — die U n g l e i c h h e i t der Rechte ist erst die Bedingung dafür, dass es überhaupt Rechte giebt. — Ein Recht ist ein Vorrecht. In seiner Art Sein hat Jeder auch sein Vorrecht. Unterschätzen wir die Vorrechte der M i t t e l m ä s s i g e n nicht. Das Leben nach der H ö h e zu wird immer härter, — die Kälte nimmt zu, die Verantwortlichkeit nimmt zu. Eine hohe Cultur ist eine Pyramide: sie kann nur auf einem breiten Boden stehn, sie hat zuallererst eine stark und gesund consolidirte Mittelmässigkeit zur Voraussetzung. Das Handwerk, der Handel, der Ackerbau, die W i s s e n s c h a f t , der grösste Theil der Kunst, der ganze Inbegriff der Berufsthätigkeit mit Einem Wort, verträgt sich durchaus nur mit einem Mittelmaass im Können und Begehren: dergleichen wäre deplacirt unter Ausnahmen, der dazu gehörige Instinkt widerspräche sowohl dem Aristokratismus als dem Anarchismus. Dass man ein öffentlicher Nutzen ist, ein Rad, eine Funktion, dazu giebt es eine Naturbestimmung: nicht die Gesellschaft, die Art G l ü c k , deren die Allermeisten bloss fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen. Für den Mittelmässigen ist mittelmässig sein ein Glück; die Meisterschaft in Einem, die Spezialität ein natürlicher Instinkt. Es würde eines tieferen Geistes vollkommen unwürdig sein, in der Mittelmässigkeit an sich schon einen Einwand zu sehn. Sie ist selbst die e r s t e Nothwendigkeit dafür, dass es Ausnahmen geben darf: eine hohe Cultur ist durch sie bedingt."56 Vielleicht ist ein solches Verständnis von , Cultur' nur ein PhilologenIdeal, in jedem Fall ist es aber der Kern von Nietzsches Gegen-Soziologie und von Nietzsches erstrebter Gegen-Wirklichkeit zur modernen, zur industriellen Gesellschaft, die ihm bis zuletzt „ d i e gemeinste D a s e i n s f o r m [war], die es bisher gegeben h a t . " S 7 Wir verstehen jetzt sicher besser, was Nietzsche statt Soziologie und statt der Gesellschaft will. Mit seinen Worten aus den Fragmenten z u m ,Willen zur Macht': „ A n Stelle der ,Sociologie' eine L e h r e v o n
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A C 57, K G W VI 3, S. 241 f. (die Hervorhebungen von mir). F W 40, K G W V 2, S. 81.
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Horst Baier
d e n H e r r s c h a f t s g e b i l d e n " und „an Stelle der Gesellschaft' der C u l t u r Complex".58 Aber das sind für Nietzsche Versprechungen, für uns Notizen geblieben. Inmitten der décadence, wie sie der Philosoph von Sils-Maria und Nizza verstanden hat, inmitten einer Welt aus Stahl, Beton, Elektronik und Majoritäten sind ,neue Menschen', die ,erlösenden und rechtfertigenden Eliten' nicht in Sicht. 5 9 Statt dessen regieren Funktionärskader und verbrauchte alte Männer, jedenfalls nicht Abbilder des strahlenden, schöpferischen Lebens. Und unsere Geister sind gefangen in Ersatz-Metaphysiken und werden geleitet durch Ersatz-Werte, ruhelos im raschen modischen Wechsel. „ G o t t ist t o t " , sagt Nietzsche in seiner ,Fröhlichen Wissenschaft', „ U n d wir — wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!" 6 0 Er wirft einen langen Schatten auf die Gesellschaft. Oder ist — im Sinne Nietzsches — ,die Gesellschaft' nicht selbst der lange Schatten des toten Gottes?
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59 60
Nachlaß Herbst 1887, KGW VIII 2, S. 6 u. 136. Das letzte Fragment heißt vollständig: „an Stelle der Gesellschaft' der C u l t u r - c o m p l e x als mein Vorzugs-Interesse (gleichsam als Ganzes, bezüglich in seinen Theilen)". Im Nachlaß Sommer 1886 —Herbst 1887 findet sich auch der Satz: „Theorie der Herrschaftsgebilde statt: Sociologie", KGW VIII 1, S. 212. Im kompilierten „Willen zur Macht" waren übrigens beide getrennt notierten Sätze in einem Aphorismus zusammengezogen, vgl. dort Aph. 462. Vgl. z. B. GM II 24 (KGW VI 2, S. 352; SA II, S. 836). FW 108, vgl. auch 109, zit. nach KGW V 2, S. 145.
Diskussion Ich danke Herrn Baier für diese eindrucksvolle OuverMüller-Lauter: türe zu unserer Tagung. Das Interessante, ja Aufregende an dem Vortrag ist, daß er gezeigt hat, wie Nietzsche Soziologie versteht, nämlich als ein sich selbst nicht verstehendes Verhältnis zur Gesellschaft. Damit ist für die Frage nach Nietzsches Beziehung zur Soziologie ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die vielfältigen Einflüsse Nietzsches auf die nachfolgenden Soziologengeneration oder die schwer aufweisbaren Zusammenhänge zwischen den Gesellschaftslehren des 19. Jahrhunderts und Nietzsche sind dann jeweils andere Kapitel. Hier aber wird eine systematische Perspektive sichtbar: Inwiefern benötigt gerade der soziologische Begriff von Gesellschaft eben auch jene Distanz zu ihr, eine Distanz die Nietzsche praktiziert und begründet? Hier liegen Verbindungen zu dem vor, was heute unter dem Titel der „Anti-Soziologie" oder einer „transzendentalen Theorie der Gesellschaft" begriffen wird. Für solche Verbindungen spricht auch, daß Nietzsches „Pathos der Distanz" zwar einerseits von allem Gesellschaftlichen Abstand gewinnen läßt, andererseits aber eng mit bestimmten gesellschaftlichen Strukturvorstellungen verknüpft ist. Denken Sie an den Begriff der „Pyramide" oder der „ H e r d e " oder überhaupt an die Bedeutung der Hierarchie für Nietzsches Denken. Der Vortrag macht darauf aufmerksam, daß in solchen Gedanken in jedem Fall mehr steckt als eine Wiederherstellung platonischer Hierarchiemodelle. Nietzsche reagiert auf eine neuartige geschichtliche Situation und entwickelt gerade in seiner kritischen Auseinandersetzung mit ihr gedankliche Möglichkeiten, die, wenn ich Herrn Baier richtig verstanden habe, eine Neubegründung der Soziologie einleiten könnten. Wenn das so stimmt, dann haben wir durch den Vortrag eine ganz neue Seite an Nietzsche entdecken können. Behler: In der Vorbemerkung zu ihrem Vortrag 1 , Herr Baier, haben sie erwähnt, daß es schwierig sei, die wirklichen Impulse, die Nietzsche der deutschen wie auch der französischen Soziologie gegeben habe, verläßlich nachzuweisen. Nietzsches großer Einfluß bleibe gewissermaßen im Untergrund. 1
In der hier nicht a b g e d r u c k t e n V o r b e m e r k u n g hatte der A u t o r seine B e s c h r ä n k u n g auf die systematischen A s p e k t e im Verhältnis N i e t z s c h e s z u r S o z i o l o g i e b e g r ü n d e t . D a b e i war v o n der elementaren u n d weitverzweigten W i r k u n g N i e t z s c h e s auf die deutsche S o z i o l o g i e nach der J a h r h u n d e r t w e n d e die R e d e , eine W i r k u n g , die allerdings außerordentlich s c h w e r zu rekonstruieren sei. Vgl. d a z u auch die f o l g e n d e D i s k u s s i o n s b e m e r k u n g des A u t o r s .
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H o r s t Baier
Ich frage mich nun, ob nicht gerade diese verdeckte, vielleicht sogar vertuschte Wirkung exemplarisch für das Thema unserer Tagung „Aufnahme und Auseinandersetzung" ist. In der Ausmerzung von Nietzsches Spuren, im Ubergehen oder Herunterspielen des tatsächlichen Einflusses seiner Gedanken kann sich m. E. auch die kritische Abwehr gewisser Extreme in Nietzsches Denken spiegeln. Man wollte vielleicht vermeiden, mit Nietzsche identifiziert zu werden, und hat deshalb nicht gesagt, wie viel man von ihm gelernt hat. Auf diese Vermutung bringt mich die Lektüre von Ferdinand Tönnies' Schrift über den „Nietzsche-Kultus", auf die ich kürzlich durch einen Aufsatz Franz Mehrings aufmerksam geworden bin. 2 Bei Tönnies ist es ja nicht nur die persönliche Enttäuschung über ein Zusammentreffen mit Nietzsche in Sils-Maria, sondern auch der wirkliche Schock und Schauder vor bestimmten Äußerungen insbesondere des späten Nietzsche gewesen, der ihn von Nietzsche abrücken ließ. Machte Nietzsches negative Einstellung zu den sozialen Tatbeständen, gegenüber elementaren gesellschaftlichen Bedingungen und Institutionen, es den Soziologen nicht besonders schwer, sich auf ihn zu berufen? Nietzsches Verherrlichung alles Großen, Frohen, Hochherzigen ist mit einer Abwertung der Einrichtung der modernen Gesellschaft verbunden, führt ja, wie wir wissen, zur Wiederaufnahme des Kastenprinzips, zum Gedanken elitärer Züchtung, zu den provokativen Forderungen nach einem neuen Adel und nach Artisten der Macht. Wer mit solchen Ideen nicht in Verbindung gebracht werden will, verzichtet vorsichtshalber ganz auf die Erwähnung Nietzsches. Motive dieser Art, so denke ich, könnten bewirkt haben, daß die Rezeption im Untergrund verlief. Gründer: Kontra, Herr Behler! Zwei Gründe führen mich dazu, die von Ihnen sicherlich richtig beobachtete Erscheinung genau umgekehrt zu interpretieren. Der erste Grund ist allgemein-menschlich: Die Leute wollen original sein. Deshalb sagen sie nicht, was sie von einem anderen haben. Freilich gibt es hier auch das Phänomen, daß der einzelne selbst nicht durchschaut, in welcher Tradition sein Denken steht. Den zweiten Grund sehe ich in der gemeinsamen Opposition der Soziologen gegen den bourgeois. Darin sind sie mit Nietzsche verbunden, ebenso wie in der kritischen Reserve gegen Demokratisierung und Liberalisierung allein aus ökonomischen Motiven. Auch wenn die Argumente nicht ganz kompatibel sind, hätte man Nietzsche als Zeugen durchaus nennen können. Die Opposition gegen den bourgeois verbindet die Soziologie um und nach der Jahrhundertwende übrigens nicht nur mit Nietzsche, sondern auch 2
Franz Mehring, (Uber Nietzsche), in: Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, 5 6 9 - 5 7 6 ; wieder in: Gesammelte Schriften, Bd. 13 (Berlin (Ost) 1961), 1 7 3 - 1 8 3 . - Vgl. ferner: F. Tönnies, Der Nietzsche-Kultus, Eine Kritik, Leipzig 1897.
Diskussion
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mit Marx. Dieser Zusammenhang würde nun mich interessieren: Was läßt sich über Nietzsches Verbindung zu Marx und Engels sagen? Ich bin gar nicht so sicher, ob die Debatte über dieses Verhältnis schon ausgestanden ist, selbst wenn sich keine literarischen Nachweise finden sollten. Ich denke insbesondere an Nietzsches Beziehung zu Richard Wagner, der nicht allein 1848 Anhänger Bakunins war, sondern der auch danach von den revolutionären Ideen gezehrt hat. Nietzsche wußte das. Er hat die theoretischen Schriften Wagners gelesen und er kannte vor allem den „Ring der Nibelungen", der ja wohl das mächtigste Kapitalismus-Symbol des 19. Jahrhunderts darstellt. Eine andere Verbindung ergibt sich gewiß über Nietzsches Kenntnis der geistigen Strömungen in Frankreich. Wie käme er sonst in den späten Jahren dazu, den Kommunismus mit einem „Schafstall" zu vergleichen, in den man ihn nicht hineinbekommen könne? Nietzsches Aristokratismus ist eine bewußte Reaktion auf den Kommunismus. Dies ist vielleicht auch ein Aspekt des „Pathos der Distanz".
Baier: Um Nietzsches Einfluß auf die Soziologie zu untersuchen, kann man zum einen danach fragen, wie er selbst die Frage nach der Gesellschaft stellt und was sich davon im Problembestand der Soziologie wiederfindet. Dieses eher systematische Verfahren habe ich in meinem Vortrag gewählt. Ich halte dieses Vorgehen nicht nur für praktikabel, sondern für unerläßlich, wenn man Nietzsches theoriegeschichtlicher Stellung gerecht werden will. Zum anderen kann man, und das ist gewiß nicht weniger bedeutsam für die Themafrage, den Spuren Nietzsches bei den Gründervätern der Soziologie nachgehen. Das ist eine große philologisch-kritische Aufgabe, die bestimmt sehr lohnend ist. Man bekommt eine Vorstellung davon, wenn man z. B. Georg Simmeis Philosophie des Geldes im Hinblick auf Einflüsse Nietzsches und seiner Lehre des Willens zur Macht liest. Aber insgesamt steht uns diese Aufgabe noch bevor. Da die Soziologie gegenwärtig in einer Phase der Selbsthistorisierung steht, wird diese Frage gewiß gesteigerte Aufmerksamkeit erfahren. Wie schwierig die Aufarbeitung im einzelnen sein wird, läßt sich z. B. an Tönnies sehen, der nach seinem Verdikt gegen Nietzsche, diesen nur noch im Spiegel Schopenhauers reflektieren kann, ohne aber Nietzsches Namen zu erwähnen. Nachdem nun auch Schopenhauer dem Zitattabu verfällt, kommt es zu einer doppelten Abschattung. Aber die verschwiegene Rezeption Schopenhauers in stillschweigender Abbildung Nietzsches findet immer noch statt und wird konstitutiv für die so fundamentale Gegenüberstellung von „Gemeinschaft" und „Gesellschaft", wie ich anderswo noch im Detail zeigen werde. Gründer:
Das ist Rezeption!
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Horst Baier
Baier: In der Tat, so können Rezeptionen verlaufen. Auch bei Max Weber liegt der Einfluß nicht offen zutage. Erst in den letzten Jahren, nachdem sich lange Zeit auch für intime Kenner des Weberschen Werkes keine Anhaltspunkte hatten finden lassen, wird Nietzsche als Quelle erkannt. 3 Das gilt insbesondere für Webers Charisma-Lehre, die von Nietzsches Wahrnehmung des politischen Cäsarismus unmittelbar bestimmt ist. Von ganz anderer Provenienz ist die Wechselwirkung zwischen Dilthey und Nietzsche, m. W. der einzige Fall gegenseitiger Beeinflussung, der für die Philosophie, hier aber auch für die Soziologie bedeutsam ist. Nietzsche hat Dilthey aufgenommen . . . Müller-Lauter:
Dilthey hat Nietzsche aufgenommen.
Baier: Ja, das vor allen Dingen. Aber ich möchte ja gerade darauf aufmerksam machen, daß auch Nietzsche Dilthey gelesen hat. Das ist von Kamerbeek schon in den 50-er Jahren sehr sorgfältig nachgewiesen worden. 4 Freilich läßt sich eine tiefergehende Wirkung auf Nietzsche nicht feststellen. Aber in umgekehrter Richtung wird man sehr wohl von einer Einflußnahme sprechen können. Denn Diltheys Affekt gegen die Soziologie ist ganz stark von Nietzsches Verachtung der westlichen Soziologen tingiert. Die Soziologen interessiert das weniger, weil Dilthey eben einer anderen Disziplin zugehört. Vergegenwärtigt man sich aber die geschichtsphilosophische, weltanschauungsanalytische und methodologische Leistung Diltheys, dann betrifft seine Abwehrhaltung gegenüber der Soziologie durchaus auch das Fach selbst. Welche verschlungenen Wege die Rezeption auch hier nehmen kann, mag daran erhellen, daß ein bedeutender Schüler Diltheys, nämlich Hans Freyer, gerade mit der Aufnahme des Nietzsche'schen Voluntarismus und Etatismus in der Soziologie eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat. Derartige Detailnachweise sind aber — wie gesagt — nur ein Gleis der Rezeptionsforschung. Auf dem anderen, mehr systematischen muß man die vielleicht gar nicht über Lektüre der Primärtexte vermittelte Wirkung gedanklicher Konstellationen verfolgen, die sich auf Nietzsche zurückführen lassen. Eine solche Gedankenfigur sehe ich in Nietzsches Verständnis der Soziologie, so wie ich es im Vortrag zu skizzieren versucht habe. Nietzsche entwirft einen
3
Wolfgang Mommsen, Universalgeschichtliches und politisches Denken, zuerst 1965, jetzt vom selben A u t o r zu: Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt am Main 1974, S. 9 7 - 1 4 3 u. 2 5 0 - 2 6 5 , bes. S. 108f., 129ff., 2 5 4 f f . , 260ff. Vorher schon Engine Fleischmann, De Weber ä Nietzsche, in: Europäisches Archiv für Soziologie 5 (1964), S. 1 9 0 - 2 3 8 .
4
J . Kamerbeek: Dilthey versus Nietzsche, in: Studia Philosophica. Basel, Bd. 10 (1950), S. 5 2 - 8 4 .
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gedanklichen Topos „Soziologie", in dessen Bann die deutsche Soziologie steht, ganz gleichgültig wie sie sich im einzelnen zu Nietzsche verhält. Und meine These ist nun, daß eben darin die Sonderrolle der deutschen Soziologie begründet liegt. Simmel, Max Weber, Scheler, Freyer und Mannheim haben drei Attitüden gemeinsam, die typisch sind für die Sonderrolle der deutschen Soziologie, eine Sonderrolle übrigens, der die deutsche Soziologie bis heute ihre Reputation als klassische Gründungsleistung verdankt. Dieser Topos der Soziologie enthält mindestens drei Elemente: erstens den thematischen Vorrang des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. In Max Webers Herrschaftstheorie ist diese Beziehung zentral, was sich weder von Marx noch von der Nationalökonomie herleiten läßt, auch nicht vom Neukantianismus, sondern primär von Nietzsche. Dann, zweitens, ist das Kultursyndrom zu nennen. Alle diese Soziologen bezeichnen sich — zumindest in bestimmten Phasen ihrer Entwicklung — als Kultursoziologen oder Kulturphilosophen. Auch hier steht Nietzsche Pate. Unter dem Titel der Kultur aber nimmt der Soziologe in einem gewissen Sinn stets Abschied von der Soziologie. Das war einzelnen Vertretern auch bewußt. Wir wissen, daß Max Weber keineswegs bloß als Soziologe verstanden werden wollte, sondern auch als Kulturwissenschaftler mit der Behauptung einer autonomen Kultursphäre. Entsprechendes gilt für Karl Mannheim und, das braucht man gar nicht eigens zu betonen, auch für Simmel oder Scheler. Das dritte Element weist am deutlichsten auf Nietzsche zurück: Es ist das einer Auß>ebung der Soziologie gerade durch den immer wiederholten Versuch, sie entweder mit Philosophenoder Künstlerattitude kontemplativ zu verlassen oder sie aktivistisch in eine Nachgesellschaft — etwa im Sinn des ,Volksstaates' Hans Freyers — zu verändern. Das Modell dazu sehe ich in Nietzsches Analyse der Gesellschaft als ,Kulturkomplex' oder als ,Herrschaftsgebilde'. Darin liegt eine Gegenaufgabe zur üblichen Soziologie, wie sie in den englisch- und französischsprachigen Ländern begründet und betrieben worden ist. Es ist eine typisch deutsche Wendung, die mittels der Soziologie den Zwangszusammenhang einer autarken Gesellschaft aufheben möchte in Richtung Kultur oder Staat oder beides — und damit die Soziologie selbst aufhebt. Dahinter steht die Frage, inwieweit durch gesellschaftliche Erkenntnis das Individuum vor der Gesellschaft geschützt werden kann und inwieweit der Soziologe diesen Schutz gewähren kann. Insofern ist die klassische deutsche Soziologie in der Wirkung Nietzsches immer auch eine Anti-Soziologie — zum Beispiel im jüngsten Sinne Helmut Schelskys. Taureck: Die Frage von Herrn Behler und die Antworten von Herrn Gründer und Herrn Baier machen deutlich, wie komplex der Vorgang einer Rezeption bei genauerer Betrachtung erscheint. Man sieht auch, wie stark
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Horst Baier
Aneignung und Bewertung auseinandergehen können und daß die höchste Form der Bewertung mit einem Minimum sichtbarer Aneignung verbunden sein kann. Im Nationalsozialismus erlebt man einen ganz anderen Fall allerhöchster parteiamtlicher Bewertung bei einem Minimum an tatsächlicher philosophischer Auseinandersetzung mit Nietzsche. Die Bewertung steht hier umgekehrt proportional zur wirklichen Aneignung. Man konnte Nietzsche nur loben, weil man ihn nicht gründlich las. In diesem Zusammenhang habe ich nun eine Frage, die das erwähnte „Kultursyndrom" der deutschen Soziologie betrifft: Auch in Hitlers Mein Kampf wird der Staat als bloßes Mittel für die Entwicklung der Kultur und die Erhaltung der Volksgemeinschaft bezeichnet. Das ist natürlich gegen Hegels Satz, demzufolge der Staat Zweck und nur Zweck sei, gerichtet. Aber gibt es hier auch Verbindungen zur Soziologie der damaligen Zeit, und sehen Sie, Herr Baier, eine Verbindungslinie zu Nietzsche? Abel: Ich möchte gern einen Aspekt des Vortrags ansprechen, der die innere Verbindung zwischen Nietzsches Auffassung und Kritik der Soziologie und seiner philosophischen' Grundlehre selbst betrifft. Die Logik der Herrschaftsgebilde haben Sie, Herr Baier, zu recht gegen eine Auffassung des Lebens als Anpassung und damit gegen die Position etwa Herbert Spencers abgegrenzt. Im Abschnitt 11,12 der Genealogie der Moral kann man sehr schön sehen, wie sich Nietzsche durch eine Kritik u. a. an Spencer die Voraussetzungen für seine dann gerade auch in Sachen Soziologie zentrale Auffassung der Herrschaftsgebilde und deren Logik — und damit für die Einsicht in die Grundverfassung des Lebens selber — verschafft. In diesem Abschnitt findet sich die wichtige Unterscheidung zwischen ursprünglich-aktiven und reaktiven Kräften, und es ist vom „prinzipiellen Vorrang" der spontanen, angreifenden, gestaltenden Kräfte die Rede. Diese Kräfte sind es, die auch das „Pathos der Distanz" schaffen. Bevor Nietzsche jedoch in solcher Weise überhaupt von Herrschaftsgebilden sprechen kann, müssen u. a. zwei grundsätzliche Sperren bereits beseitigt sein: Es darf keine Universalgeschichte mehr geben, und die Geschichte darf nicht mehr teleologisch verfaßt sein. Es ist nun sehr interessant zu sehen, daß diese beiden von Nietzsche formulierten Bedingungen bei Max Weber, wie auch Mommsen betont, an zentraler Stelle auftauchen und ihrerseits zur Voraussetzung der Konzeption des Charisma werden. Hinsichtlich der Frage nach Aufnahme und Auseinandersetzung mit Nietzsche ist dabei bedeutsam, wie stark die so fortwirkenden Momente seines Denkens in seiner philosophischen Grundlehre verankert sind. Die Logik der Herrschaftsgebilde betrifft ja bei weitem nicht nur die Bestimmung der Soziologie, sondern stellt für Nietzsche die Grundverfassung allen Lebens und aller Geschichte, dessen Willen-zur-Macht-Charakter, dar. Also kann gesagt werden: Es sind durchaus die für Nietzsche wesentlichen Einsichten, die hier
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von der Weberschen Soziologie — und ganz anders als im Nationalsozialismus — aufgenommen und weiterentwickelt werden. Salaquarda: Ihr Referat, Herr Baier, hat mir einige ganz neue Eindrücke vermittelt. Ich könnte mir denken, daß man nun ältere Interpretationen korrigieren muß. Zunächst eine Ergänzung: Die von Ihnen im Zusammenhang mit den Aphorismen 174 und 175 der Morgenröte angesprochene Parallele zur marxistischen Gesellschaftsanalyse läßt sich bei Nietzsche schon sehr früh ziehen. Das ökonomisch-politische Vokabular, in dem er in der Morgenröte vom Handeltreibenden spricht, der „versteht alles zu taxieren, ohne es zu machen, und zwar zu taxieren nach dem Bedürfnisse der Konsumenten", findet sich z. B. auch schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, wo er, in bewußter Anspielung auf die „Hilfszeitwörter des Egoismus", von der arbeitsteiligen Leistung des produzierenden Gelehrten in der „wissenschaftlichen Fabrik" spricht. 5 Neu zu bedenken ist nach Ihren Ausführungen Nietzsches Stellung zum Staat. Walter Kaufmann hat Nietzsches Ablehnung des Staates herausgearbeitet. Die Haltung findet sich vom Anfang bis zum Schluß des bewußten Schaffens, beginnend etwa bei den Unzeitgemäßen Betrachtungen bis zu den Aphorismen der Götzendämmerung. Der Staat erscheint als ein in der Regel für die Ziele der Kultur untaugliches Mittel. Dem widersprechen nun solche Texte, wie sie im Vortrag herangezogen wurden. Da erscheint nun die Gesellschaft als ein Mittel des Staates zum Herrschaftszweck, und der Staat hat die Aufgabe der Heranzüchtung von Eliten. 6 Herr Baier hat sogar von einem „Zweckverhältnis von Gesellschaft, Staat und neuer Aristokratie" gesprochen 7 . Meine Frage ist nun: Wie lassen sich beide Stellungen gegenüber dem Staat, die es in der Tat beide bei Nietzsche gibt, miteinander vermitteln? Wie verhält sich das von Ihnen entwickelte Staatsverständnis z. B. zu der immer wieder geäußerten Idee des Rückzugs der Besten in eine klösterliche Gemeinschaft, in der sowohl die Individualität der Einzelnen wie auch die große Kultur gewahrt bleiben? Es ist natürlich nicht zu leugnen, daß Nietzsche im Zuge seiner gedanklichen Entwicklung immer mehr die Notwendigkeit der Herrschaft und des Befehls betont und damit auch die Unabdingbarkeit des Gehorsams. Darin liegt freilich sowohl der Gedanke der Sinnproduktion durch die Befehlenden wie auch der der Organisation. Hier sehe ich auch Möglichkeiten einer Vermittlung, aber das interpretatorische Problem, vor das uns die Ausführungen von Herrn Baier stellen, ist damit noch nicht gelöst. Immerhin böte sich mit 5
6 7
Vgl. Morgenröte 175 (KGW V 1, 155) und Unzeitgemäße Betrachtungen II, 7 (K.GW III 1, 296 f.). Vgl. oben S. 18. Vgl. oben S. 19.
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Horst Baier
dem Rekurs auf die Notwendigkeit von Herrschaft und Befehl bei der SelbstUberwindung und Selbststeigerung des Menschen die Möglichkeit, auch bei Nietzsche den Staat als ein Mittel anzusehen. Gerhardt: Ich möchte die interessante und überzeugende These von Nietzsches Anti-Soziologie noch durch einen Hinweis auf den Reichtum genuin soziologischer Einsichten bei Nietzsche stützen. Es ist keineswegs so, daß Nietzsche etwas flieht, das er nicht kennt. Damit meine ich nicht primär die in jener Zeit bereits unvermeidliche literarische Berührung mit soziologischen Themen, die Nietzsche nicht allein über die großen Namen Comtes und Spencers, sondern auch durch die Lektüre Careys und Littres vertraut waren. 8 Viel wichtiger erscheinen mir Nietzsches Einsichten in die gesellschaftliche Vermittlung der Verhaltensweisen und Fähigkeiten des Menschen. Nietzsche wußte und anerkannte, daß der Mensch ein „soziales Tier" ist; er hat immer wieder die Rolle von Mitteilung und Konvention bei der Genese der Sprache hervorgehoben. Alle Moral, die verlogene alte wie auch die mögliche neue, ist eine Folge des Zusammenlebens. Das Recht geht nicht einfach aus der „Macht", was immer das „an sich" auch sei, hervor, sondern es beruht auf wechselseitiger Anerkennung und gegenseitiger Wertschätzung. Die Bedeutung der Gerechtigkeit oder der Primat der Organisation des Willens zur Macht sind nur im Medium gesellschaftlichen Handelns zu verstehen, und sie werden von Nietzsche auch so verstanden. Ich würde nun glauben, daß die Fülle an soziologischen und sozialpsychologischen Erkenntnissen dem von Nietzsche repräsentierten Konzept einer Anti-Soziologie nicht widerspricht, sondern es erst eigentlich interessant macht. Sein Wille zur Individualität und sein Anspruch, die Gesellschaft kontemplativ oder künstlerisch produktiv oder schlechthin durch die große Tat zu verlassen, erscheinen vor diesem Hintergrund nicht als reaktionärer Rückfall hinter den Erkenntnisstand des 19. Jahrhunderts. Auch hier will Nietzsche über eine erreichte Position hinaus. Auch die Anti-Soziologie ließe sich als Versuch einer Selbst-Uberwindung interpretieren. Schließlich läge darin eine weitere Entsprechung zu den nachfolgenden Soziologen, denn deren Gedanke einer Anti-Soziologie entsteht ja nicht außerhalb, sondern gerade innerhalb der Soziologie. 9 Müller-Lauter: Ich hatte erwartet, daß Herrn Baiers Vortrag provozierender wirken würde, als dies der Fall zu sein scheint. Denn Nietzsches Lehre von den Herrschaftsgebilden steht doch in eindeutigem Gegensatz zum all8
9
Henry Charles Carey, Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre und Sozialwissenschaften, dt. v. K. Adler, 2. Auflage Wien 1870; E. Littre, Conservation revolution et positivisme, Paris 1852. Vgl. V. Gerhardt, Transzendentale Theorie der Gesellschaft: Philosophische Anmerkung zu einem soziologischen Programm, in: Zeitschrift für Soziologie, 8, 1979, 129—144.
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gemeinen Bewußtsein in unserer Zeit. Wo heute einer von sozialer Gleichheit als Niedergangserscheinung spricht, hat er doch alle Welt (ob im Osten oder Westen oder auch im Nord-Süd-Dialog) gegen sich. Nichts ist uns doch derzeit ferner, als die Überzeugung von der Notwendigkeit .aristokratischer Sozietäten', die Nietzsches Zukunftsvision speist. Nirgends auf der Welt bildet sich doch jene lange Leiter der Rangordnung, die Nietzsches Erwartung ausgemacht hat. Die entgegengesetzte Entwicklung findet statt: der Verlust des ,Pathos der Distanz' in den sozialen Gebilden, daraus folgend der ,soziale Mischmasch', weiterhin die Selbsterhaltung der Schwachen, von der Baier — Nietzsche konsequent interpretierend — ausgeführt hat, daß sie entgegen dem Anschein auf Selbstzerstörung hinauslaufe. Baier hat damit geschlossen, daß er gesagt hat, die neuen Eliten im Sinne Nietzsches seien nicht in Sicht. Verknüpfen Sie selber, Herr Baier, damit die Prognose weiteren Niedergangs? Schubert: Mir scheint in dem ganzen Komplex noch besonders der KulturBegriff überlegungsbedürftig zu sein, und zwar nach vielerlei Hinsicht: Kultur als herrschende nach 1871; Nietzsches Entwurf einer „höheren Cultur"; unser eigener Kultur-Begriff und die heute herrschende Kultur, die in ihrer Dürrheit wohl von Nietzsche prophezeit wurde. Noch ungeklärt scheint mir in Herrn Baiers Referat Nietzsches Einschätzung von Bismarck. Sie erwähnen ihn in der Mitte des Referats in einem Zug mit Napoleon. Aber der späte Nietzsche hat Bismarck, Wilhelm II. und Stoecker radikal verworfen. In seiner Dialektik Cäsar-Prometheus ist Bismarck ein Cäsar-Typus, kein Prometheus. Die Spitze seiner „Pyramide" — so Nietzsches Gesellschaftsbild — bildet derliöhere Mensch, d. i. aber der Schaffende, eben nicht Cäsar oder der „Stockmeister" der Macht sondern Philosophen, Künstler. Was war das Z i e l von Nietzsches Denken? — doch soweit ich sehe, eine Kultur höherer Art. Wenn ,Cultur' über der Herde und dem Staat steht, Kultur für Nietzsche den Gegenwert zum Staat schlechthin bildet, was ist sie dann? Was ist ihm höhere Kultur? Das aktive Werk des schöpferischen Einzelnen? Die Einheit in allen Lebensäußerungen eines Volkes (wie er früh in einer Unzeitgemäßen sagte)? — Volk aber nicht als Herde verstanden, sondern als ,Werk' von Schaffenden. Damit gewinnt Kultur im umfassenden Sinne ein höchstes Interesse für die angeschnittenen Fragen nach Volk, Gesellschaft, Staat oder Herrschaft. Baier: Danke für die Chance zum Schlußwort, Dank auch für die so differenzierten und wohldokumentierten Bemerkungen zu meinen Thesen über Nietzsches Verhältnis zur Soziologie und Gesellschaft seiner Epoche. Ich kann der Zeit halber auf Einzelheiten nicht mehr eingehen; das bedürfte gründlicherer Erörterungen und noch genauerer Erforschungen. Im Sinne des
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Horst Baier
wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich angelegten Tagungsthemas „Nietzsche im 20. Jahrhundert" will ich meinen Standpunkt auf drei Punkte zusammenziehen: E r s t e n s : N i e t z s c h e und die S o z i o l o g e n . Es ist für mich offensichtlich, wie stark dieser Ekstatiker der Einsamkeit den neuartigen Typus wissenschaftlicher Analytiker der Gesellschaft beeinflußt hat. Zumal die ,Gründerväter' der deutschen Soziologie — Tönnies, Simmel, Max Weber — sind seine Kinder in ihrem Distanzpathos, vielleicht sogar Ressentiment gegenüber der modernen Gesellschaft wie mit ihrem scharfen Blick und Zugriff, daß diese Gesellschaft das Erzeugnis eines bis heute fortlaufenden Verfallsprozesses der christlichen Erlösungsreligion ist. Die Soziologen sind nicht nur Epigonen — man denke an die Melancholie des Epigonalen bei Weber und Simmel, Tönnies behielt sich in norddeutscher Hartköpfigkeit und Langlebigkeit eher einen gewissen Optimismus —, sondern auch décadents: nicht nur ihre Antworten sind ihnen von den Größeren vor ihnen vorgegeben, sondern ihre Fragen sind zudem in verkehrten Verhältnissen verkehrt gestellt. Nietzsche ist dafür Zuchtmeister. Z w e i t e n s : N i e t z s c h e und die S o z i o l o g i e . Die großen Themen der Soziologie, zumal der deutschen, sind ihr von Marx und Nietzsche gestellt. Natürlich steht hinter diesen wiederum die Tradition von Kant, Fichte und Hegel oder von Leibniz, Spinoza und Schopenhauer — die Soziologie ein Nachkomme also der philosophia perennis bis heute. Diese herausfordernde Ahnenschaft wird für den Historiker meines Faches verdeckt durch den akademischen Mittelkurs eines Tönnies, Simmel oder Weber zwischen den historischen Schulen der Nationalökonomie und der Jurisprudenz, zwischen einem epigonalen Neukantianismus und einer Sozialpolitik angesichts der ,sozialen Frage' — mit dem strategischen Ziel einer möglichst reibungslosen Etablierung ihres Faches. Lesen wir ihre Texte aber genauer, nehmen wir uns ihre Aussagen gründlicher vor, so wird die Ausstrahlung dieses Doppelgestirns von Marx und Nietzsche sofort sichtbar: Die Religionssoziologie Max Webers ist eben nicht allein eine Antwort auf den historischen Materialismus, sondern auch der faszinierende Nachweis der Verwandlung von Erlösungsreligionen, gewiß der christlichen, in Wirtschaftsethik, Herrschaftsgewalt und Kulturschöpfung. Die Philosophie des Geldes Georg Simmeis ist nicht nur die Rekonstruktion der Kapitalwirtschaft mit Marxschen Kategorien, sondern auch der Aufschein eines Willens zur Macht im Lebensprozeß, der in den Verästelungen und Bewegungen der Geld- und Tauschwirtschaft so wirkungsvoll die Fäden zieht. Daß wir Soziologen die Zöglinge von Marx sind, wissen wir; daß wir auch die Nietzsches seit je gewesen sind, müssen wir wohl wieder lernen. D r i t t e n s : N i e t z s c h e und unsere G e s e l l s c h a f t . Obwohl wir unter dem öffentlichen Lärm der Alternativbewegungen stehen, gibt es eine tief-
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sitzende Scheu unter den Soziologen und auch Sozialphilosophen, wahrhaft Alternativen zu den Sozialformen von Staat, Gesellschaft und Individuum zu entwerfen und womöglich vorzuleben. Hier sitzt ein Tabu, ein Dämon des Zeitgeistes: wir erwarten oder befürchten nur eine Lösung, den Sozialismus, und diesen nur in der recht abgegriffenen Wahl zwischen Staats- und Anarchobzw. libertären Sozialismus. Das gilt auch für die Erkenntnisprogramme der Soziologie; sie sind entweder intellektuelle Instrumente für die Religionen der Vergemeinschaftung oder argumentative Abwehr mit Affirmation des Pluralismus als status quo. Wer sich dem entzieht, hat Fluchtwege in das Privatgel ehrtentum oder in die Kulturverherrlichung oder ins agonale Machtpathos. Aber wir wissen seit Nietzsche, daß dies öffentliche oder private Ubergänge in die Katastrophen des Nihilismus sind. Der Sozialismus oder der Liberalismus oder der Privatismus sind nicht Lösungen der europäischen Krise, sondern ihre Erscheinungen. Und auch die haben ihre Zeit und ihre Revolutionen schon hinter sich. Lernen wir also nicht nur mit Marx unsere Gesellschaft als Kapitalismus zu buchstabieren, sondern auch mit Nietzsche als ,Kultur- und Herrschaftsphänomen' im Zeichen des Nihilismus. Vielleicht kommen wir dann selbst auch wieder auf den Weg — über ihn hinaus.
REINHART MAURER
NIETZSCHE UND D I E KRITISCHE T H E O R I E 1 Im Blick auf Nietzsche wird die Kritische Theorie zu einer kritischen Theorie unter mindestens zweien.
2u 1 Hier soll kein historisch-philologischer Nachweis der Einflüsse Nietzsches auf die „Kritische Theorie" der „Frankfurter Schule", also auf die Autoren Horkheimer, Adorno, Herbert Marcuse, Habermas, ferner Benjamin und auch Alfred Schmidt geführt werden. Daß diese Einflüsse bestehen, liegt auf der Hand. Bisher ist ihnen vor allem Pütz nachgegangen1. Weitere Untersuchung wäre sicher eine lohnende Aufgabe. Dagegen möchte ich versuchen, eine Uberblicksperspektive einzunehmen, von der aus die kritische Theorie Nietzsches und die kritische Theorie der Frankfurter Schule in Grundzügen der Gemeinsamkeit und Verschiedenheit hervortreten. Man könnte von einem Vergleich der beiden kritischen Ansätze sprechen, wenn das Mißverständnis auszuschließen ist, daß da zwei separate Gegebenheiten mit Namen „Kritik" existierten, die man unhistorisch nebeneinander halten könnte. Was in diesem Zusammenhang „Kritik" heißt, ergibt sich vielmehr erst durch den Vergleich, bei dem überdies zu berücksichtigen ist, daß 1. die Theorie Nietzsches die zeitlich frühere ist, daß 2. ihre Art von Kritik die Kritik der sogenannten Kritischen Theorie wesentlich mit geprägt hat und daß 3. das Bewußtsein dieser Tatsache ein Bestandteil der Kritischen Theorie ist. Der Ausdruck „kritische Theorie" wird hier also nicht als ein monopoles Etikett verstanden, sondern als ein philosophischer, problemhaltiger Begriff, dessen historisch-systematischer Inhalt in der zwischen Nietzsche und der Frankfurter Schule spielenden dialektischen Beziehung teils vorgegeben ist, teils von da aus weiter entwickelt werden kann. Ein weiter treibender Impuls 1
P. Pütz: Nietzsche im Lichte der Kritischen Theorie, in: Nietzsche-Studien 3, 1974, 1 7 5 - 1 9 1 .
Nietzsche und die Kritische Theorie
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ergibt sich aus Überlegungen darüber, was wohl Nietzsche zur Kritischen Theorie gesagt haben würde; denn diese hat zwar einiges über ihn gesagt, aber das Umgekehrte war ja nun nicht möglich.
2 Die Kritische Theorie führt aufklärerische Kritik, vor allem im Anschluß an Marx, bis zur Dialektik der Aufklärung
weiter. Sie ist ein von Nietzsche-
Perspektiven durchkreuzter Neomarxismus.
Zu 2 Wirkungsgeschichte ist fast immer eine sehr verwickelte Angelegenheit. Hier sei ihre Komplexität auf einige Hauptlinien reduziert. Unter dieser Voraussetzung darf man sagen, daß sowohl die kritische Theorie Nietzsches als auch die der Frankfurter Schule der Tradition aufklärerischer Kritik an der älteren, „metaphysisch" geprägten europäischen Tradition verpflichtet ist. Aufklärerische Kritik nimmt die Frankfurter Schule vor allem in ihrer Marxschen Form auf. Indem jedoch zugleich Nietzsches kritischer Ansatz samt seiner Metakritik der Aufklärung einbezogen wird, wird die kritische Theorie der Frankfurter Schule zur „Dialektik der Aufklärung", wie der programmatische Titel eines frühen, richtungweisenden Werkes dieser Schule heißt 2 . 2
Nachfolgend abgekürzt DA. Siglenverzeichnis: DA M. Horkheimer und T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947. E T. W. Adorno: Eingriffe, Frankfurt a. M. 1963. EI J . Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfun a. M. 1973 ('1968). EK H. Marcuse: Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Stuttgart 1957 (später unter dem Titel „Triebstruktur und Gesellschaft"). eM H. Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied/Berlin 1967. GsM H. Marcuse: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied/Berlin 1964. H/L J . Habermas/N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a. M. 1971. KiV M. Horkheimer: Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende, ed. A. Schmidt, Frankfurt a. M. 1967 ('1947). N Friedrich Nietzsche: Erkenntnistheoretische Schriften, ed. J. Habermas, Frankfurt a. M. 1968. ND T . W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1970 (H966). PpP J . Habermas: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a. M. 1971. RT H. Marcuse, B. Moore, R. P. Wolff: Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt a. M. 1967 (M965). TWS J. Habermas: Technik und Wissenschaft als .Ideologie', Frankfurt a. M. 1968.
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Reinhart Maurer
Ihr Marxismus ist ein mit Selbstkritik durchsetzter und in Bewegung geratener, darum ja auch dem orthodoxen Marxismus so verdächtig. Man darf dennoch von „Neomarxismus" sprechen, weil das Bekenntnis zu Marx im Vordergrund steht. Der Einfluß Nietzsches dagegen ist zwar allgegenwärtig — gehört er doch zum geistigen Klima, in dem die erste Generation der Frankfurter Schule aufgewachsen ist —, tritt aber nur gelegentlich offen zutage und ist ir der Art, wie er in direkter Bezugnahme offenbar wird, oft weniger typisch als in seiner latenten Wirksamkeit. Freilich wird man nicht so weit gehen dürfen, zu behaupten, daß die Kritische Theorie allein durch Nietzsche-Rezeption zur Dialektik der Aufklärung geworden sei. Bei der Frankfurter Schule gibt es sowohl eigenständige Weiterbildungen dieser Dialektik (vor allem in dem Punkte einer als technischökonomische Naturbeherrschung angewandten Aufklärung 3 ), wie andere Anknüpfungspunkte (zum Beispiel bei de Sade 4 ), wie vor allem den Einfluß Hegels in dieser Hinsicht, der teilweise schon aus Marx einen Dialektiker der Aufklärung machte. Denn prinzipiell entwickelt bereits Hegel, vor allem in der „Phänomenologie des Geistes", eine Dialektik der Aufklärung. Bei Nietzsche erfährt sie jedoch eine beträchtliche Verschärfung. Er wendet den subjektivistischen Relativismus und Perspektivismus der Aufklärung auch gegen das aufklärerische Subjekt selbst gemäß einer frühen Notiz (Nachlaß aus dem Jahr 1876): „Das Bild des Freigeistes ist unvollendet im vorigen Jahrhundert geblieben: sie negirten zu wenig und behielten s i c h übrig" 5 . Mit dem Begriff „freier Geist", der im Untertitel von „Menschliches, Allzumenschliches" auftritt, knüpft Nietzsche 1. an die alte, Voltairesche Aufklärung an, führt 2. deren Tendenz verschärfend fort in Richtung eines „gefährlichen", immoralischen „Jenseits von Gut und Böse" und wendet sie 3. gegen eine von ihm behauptete moderne Verflachung aufklärerischen freien Geistes: gegen „diese fälschlich genannten ,freien Geister' — als beredte und schreibfingrige Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner ,modernen Ideen'", gegen ihr Eintreten für das „allgemeine grüne Weide-Glück der Herde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für Jedermann" 6 . In dieser von Nietzsche entwickelten Form hat die Dialektik der Aufklärung die Kritische Theorie offenbar stärker beeinflußt als in ihrer älteren, Hegeischen, gemäßigten Ausprägung 7 . Dieser Einfluß wurde jedoch erst dann 3
4 5 6 7
Dazu R. Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung. Gesellschaft und Soziologie in Amerika, München 1963. Vgl. D A , S. 100 ff. KSA 8, S. 295. JGB, N r . 44. Dieses Problem berührt H . Röttges: Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung, Berlin/ New York 1972, ohne es wirklich anzupacken.
Nietzsche und die Kritische Theorie
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voll wirksam, als der Boden dafür nach dem überwiegend marxistischen Anfang durch neue Erfahrungen bereitet wurde, welche die Autoren der Frankfurter Schule seit etwa 1935 machen mußten. An den modernen totalitären Entwicklungen zum Stalinismus, Faschismus, aber auch in der amerikanischen Gesellschaft schien ihnen eine totalitär gewordene Aufklärung mitschuldig zu sein.
3 Aufklärerische Kritik ist wesentlich Ideologiekritik, freilich mit praktischen Voraussetzungen und Folgen. Indem die Kritische Theorie diese mit reflektiert, enthält sie Ansätze zu einer Aufklärung der Aufklärung. Kritik wendet sich damit, wie bei Nietzsche, auch gegen sich selbst sowie gegen die gesellschaftlichen Folgen angewandter Aufklärung. Die so resultierende Dialektik ist prinzipieller Natur, stellt Aufklärung tiefgreifend in Frage.
Zu 3 Nach der alteuropäischen, im Prinzip metaphysischen Tradition gibt es Wahrheit als ein entweder von Natur oder von Geschichte oder von Gott Vorgegebenes. An dieser Wahrheit kann der Mensch durch theoretische Erkenntnis und praktische Orientierung teilhaben. Sie ist ein vorgefundenes Ansichsein von allgemeiner, auch moralisch-politisch normativer Bedeutung, eine vorgegebene Einheit von Sein und Sollen, die durch menschliche Leidenschaften, Begierden, Bedürfnisse, Interessen zwar verstellt, aber nicht ungültig gemacht werden kann. Die neuzeitliche Aufklärung hat diese Vorgegebenheit in Frage gestellt, hält aber — zumindest für die Wissenschaften, mit denen sie verbündet ist — am Begriff der Wahrheit fest (wobei ihre Wahrheit freilich rein theoretisch auf Faktenerkenntnis ohne praktisch-normative Folgen — mit Ausnahme von faktenbezogener Normenkritik — beschränkt werden kann). Dazu Nietzsche: „Es ist immer noch ein metaphysischer Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, — auch wir Erkennenden von Heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen unser Feuer noch von jenem Brande, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener ChristenGlaube, der auch der Glaube Plato's war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist" 8 .
8
G M , 3. Abh., Nr. 24.
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Unter Berufung auf eine solche vorgegebene, theoretischer und praktischer Vernunft zugängliche Wahrheit lassen sich in praktischer Hinsicht Handlungen, Institutionen, gesellschaftliche Verhältnisse, Moral, Ansprüche ethisch-politischer Herrschaft und moralischer Selbstbeherrschung rechtfertigen. Eben das aber macht sie verdächtig. Aufklärung ist ihrem brisantesten, ideologiekritischen Anspruch nach Aufklärung über das, was hinter diesen Rechtfertigungen und Legitimationen stehen soll, nämlich kein entweder besonderer oder aber für alle oder die meisten im Prinzip gleicher Zugang zu einer allgemeinverbindlichen Wahrheit, sondern partikulares Interesse an Selbsterhaltung und Selbsterweiterung: „Wille zur Macht", wie Nietzsche sagt. Die Berufung auf eine vorgegebene, allgemeinverbindliche Wahrheit wird unter Hinweis auf die wahrhaft die Wirklichkeit bestimmenden Kräfte beiseite geschoben. Diese Kräfte soll in der außermenschlichen Natur wie in der menschlichen Natur und Geschichte die moderne Wissenschaft erkennen. Für die wirklichen Antriebe des Menschen könnte aber auch eine mehr intuitive Psychologie zuständig sein, eine Möglichkeit, der Nietzsche zuneigt. Wie dem an Piaton gebildeten Nietzsche auffiel, steckt nun aber in diesem ideologiekritischen Ansatz eine metaphysische Voraussetzung in Form der Annahme, daß man jene die Wirklichkeit bestimmenden Kräfte, zumindest die im menschlichen Bereich wirkenden, wahrhaft erkennen könne, um von dieser gesicherten Basis aus kritisieren zu können. Konsequente Ideologiekritik9 müßte dagegen ehrlicherweise zusammen mit dem sie ausübenden Subjekt auch diese Basis in Frage stellen und endete dann statt bei einer zugleich theoretischen und praktischen Vernunft bei einem sowohl theoretischen als auch praktischen Relativismus und Nihilismus. Dem ließe sich in praktischer Hinsicht nur ein irrationaler Lebenswille entgegenstellen, der versuchen kann, einer an sich sinnlosen Wirklichkeit je partikularen Sinn für eine mehr oder weniger kurze Zeit aufzuzwingen. Zu dieser Wirklichkeit gehört dann aber auch die ewige Wiederkunft des Scheiterns dieser Bemühungen, und es bedürfte in der Tat einer Art von Ubermenschlichkeit, um so hoffnungslos bezüglich der Zukunft leben zu können. Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft ist wohl zu deuten als der an die vorchristliche Antike anknüpfende Gegenentwurf zu den endgeschichtlich ausgerichteten Hoffnungen, welche die Utopie des wissenschaftlich-technischen Humanismus und Sozialismus, dieses Säkularisat jüdischchristlicher Eschatologie, tragen. 10 9
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Dazu R. Maurer: Das antiplatonische Experiment Nietzsches. Zum Problem einer konsequenten Ideologiekritik, in: Nietzsche-Studien 8, 1979, 104—126; zum Problem metaphysischer Vorgegebenheit mit praktisch-normativer Bedeutung ders.: Piatons ,Staat' und die D e m o kratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik, Berlin 1970. Vgl. K. Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 3 1 9 7 8 ( ' 1 9 3 5 ) ; ders.: Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1960.
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Eine in bezug auf sich selbst nicht konsequente Ideologiekritik könnte nämlich auf diesen Ausweg verfallen. Sie nimmt in Aufnahme der alten Sophistik den Menschen als Maß aller Dinge, — was Nietzsche ausdrücklich ablehnt 11 , handelte es sich doch nur um eine anthropozentrische Abart von Metaphysik. Sie geht so davon aus, daß zumindest der Bereich menschlicher, gesellschaftlicher und geschichtlicher Praxis, das also, was der Mensch selbst gestaltet, angemessen erkannt werden könnte. Dort seien eben Selbsterhaltung und Selbsterweiterung die bestimmenden Kräfte. Das wollen alle. Die modernen Wissenschaften erschließen ihnen die dazu erforderlichen Möglichkeiten technischer Naturbeherrschung. Es kommt dann nur noch darauf an, daß alle ihr gemeinsames Interesse als solches erkennen, die potentiell vorhandenen Mittel in seinem Dienst solidarisch einsetzen und die Beute gerecht, das heißt möglichst gleichmäßig verteilen. Das ist (etwas ironisch formuliert) die Position von Habermas, diesem Ende der Kritischen Theorie. Mit ihm endet sie im juste milieu einer — wie er selbst in seinem Vortrag „Wozu noch Philosophie" sagt — „komfortablen Verschweizerung Europas", wo „jene Konfliktspannungen, die einmal intellektuell produktiv gewesen" sind, aufgehört haben zu existieren, so daß „das Philosophieren in unserem Lande zugleich uninteressanter und ungefährlicher werden wird" 1 2 . Von Nietzsches Philosophie müßte solche Perspektive Abstand nehmen, und darüber hinaus erhebt sich in der Tat die Frage: wozu noch Philosophie? Bei Habermas besteht die Tendenz, ihre Aufgaben auf die „universalpragmatische"13 Analyse des praktischen Diskurses zu beschränken, in dem prinzipiell alle mit allen darüber beraten sollen, „wie wir leben möchten, wenn wir im Hinblick auf erreichbare Potentiale herausfänden, wie wir leben könnten" 1 4 . Eine falsche Einrichtung der Gesellschaft ist daran schuld, daß zur Zeit Wissenschaft und Technik großenteils nicht die Potentiale zur Realisierung der per Diskurs zu ermittelnden allgemeinen Interessen bereitstellen, sondern statt dessen Potentiale zur gegenseitigen militärischen Vernichtung und zur Ruinierung menschlicher Umwelt. An sich brauchten wir nach Habermas nicht, wie etwa Marcuse (auch E. Bloch) gelegentlich meint, eine andere Wissenschaft und Technik 15 . Eine andere kann es gar nicht geben, da die gegenwärtige, auf Naturbeherrschung ausgerichtete Wissenschaft und Technik nicht zu einem historisch relativierbaren Weltentwurf einer bestimmten Geschichtsepoche gehört, sondern mit anthropologisch tiefsitzenden
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Z. B. FW, Nr. 346; JGB, Nr. 3. PpP, S. 21 f. Vgl. z. B. H / L , S. lOlff. TWS, S. 100. TWS, S. 54 ff.
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Konstanten zusammenhängt: eben mit dem gesamtgattungsgeschichtlichen Interesse an Uberleben und Gutleben 16 . Nietzsche hat daher nach Habermas gegenüber der alten Metaphysik wie dem neuen Positivismus recht, wenn er den immanenten Zusammenhang von Erkenntnis und praktischem Interesse herausstellt. Darum ist Nietzsches Erkenntnistheorie für Habermas interessant und darum hat er eine unter diesem Aspekt zusammengestellte Nietzsche-Auswahl herausgegeben 17 . Aber Nietzsche hat nach Habermas unrecht, wenn er mit seiner Beziehung der Erkenntnis aufs Interesse einen ideologiekritischen Angriff auf alle theoretische und praktische Wahrheit einschließlich der Wahrheit der Ideologiekritik verbindet. Nicht zu relativieren ist nach Habermas die wirkliche Allgemeinheit jener Grundinteressen der Menschheit, der Habermasens Konsensustheorie der Wahrheit entsprechen soll, sowie die Wahrheit der modernen Wissenschaften, die jenen Grundinteressen durch Ermöglichung technischer Naturbeherrschung dienen. Von der Basis dieser Wahrheit aus kann man Ideologiekritik und sonstige Kritik betreiben. Die von den Wissenschaften entdeckten, technisch brauchbaren Naturgesetze mögen, gemessen an einem metaphysischontologischen Wahrheitsbegriff „Fiktionen" sein, wie Nietzsche sagt. Aber sie haben nach Habermas den „Status von gattungsgeschichtlich ,bewährten' Fiktionen". Sie „treffen etwas" „an der im transzendentalen Rahmen möglicher technischer Verfügung objektivierten Wirklichkeit" 18 . Der Witz an der ursprünglichen Kritischen Theorie, deren Zentrum in der seit dem Werk dieses Titels entwickelten Dialektik der Aufklärung liegt, ist nun aber, daß sie — so wenig wie Nietzsche selbst 19 — bezweifelt, die Fiktionen (so wie sie sich gattungsgeschichtlich bewährt haben und weiter bewähren) träfen etwas. N u r treffen sie nach Adorno, Horkheimer, Benjamin, Marcuse das Falsche, indem die durch sie bestimmte wissenschaftlich-technisch-ökonomische Naturbeherrschung verkümmernd auf den Menschen, der doch eigentlich das souveräne Subjekt dieser Herrschaft sein soll, zurückschlägt.
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Zum Aspekt Naturbeherrschung im Zusammenhang mit Habermas und der sonstigen Frankfurter Schule vgl. R. Maurer: Jürgen Habermas' Aufhebung der Philosophie, Philosophische Rundschau, Beiheft 8, Tübingen 1977; ders.: Revolution und .Kehre'. Studien zum Problem gesellschaftlicher Naturbeherrschung, Frankfurt a. M. 1975. N ; EI, S. 353 ff.; vgl. A. Schmidt: Nietzsches Erkenntnistheorie (1963/1973), in: Nietzsche, Wege der Forschung, Bd. 521, ed. J. Salaquarda, Darmstadt 1980, S. 124ff. N , S. 257. „Die Wissenschaft setzt also den Prozeß nur f o r t , der das Wesen der Gattung c o n s t i t u i r t hat, den Glauben an gewisse Dinge endemisch zu machen und den Nichtglaubenden auszuscheiden und absterben zu lassen. Die erreichte Ä h n l i c h k e i t der Empfindung [. . .] ist eine Existenzbedingung der Gattung geworden, aber mit der Wahrheit hat es nichts zu thun" — KSA 9, S. 501.
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Die Richtung dieser Kritik liegt also auf der Linie der Nietzscheschen Niedergangs- und Nihilismus-These, die Habermas unter Hinweis auf die teilweise bereits verwirklichte Utopie einer zugleich freiheitlichen und sozialistischen, naturbeherrschenden und diskursierenden Gesellschaft ablehnt. Auch die ursprüngliche Kritische Theorie lehnt sie letztlich oder auch erstlich ab. Dazu ist sie aber nur darum in der Lage, weil sie entgegen der konstatierten Falschheit des Ganzen in einer „paradoxen Hoffnung auf die Rettung des Hoffnungslosen" 2 0 festhält an der Vorstellung einer durch Aufklärung ermöglichten Revolution, die zur Realisierung der Utopie einer endgeschichtlich befriedigten und weitgehend leidfreien Menschheit führt. Für die Gegenwart diagnostiziert die ursprüngliche Kritische Theorie, daß die Aufklärung in ein Stadium der Selbstnegation und Selbstdestruktion getreten ist. Wie in Nietzsches Diagnose der Zeittendenzen endete dabei Negation der Negation, ideologiekritische Auflösung auch noch der Ideologiekritik und ihres Subjekts, in Relativismus und Nihilismus, — wenn nicht jene utopische Hoffnung wäre. Denn nicht soll die Dialektik der Aufklärung wie bei Hegel durch Selbstnegation ihrer ersten, kritisch nach außen gerichteten Negation zu einer neuen Position zugleich vor und zurück führen. Dagegen stellt Adorno ausdrücklich das Programm einer „negativen Dialektik", der es mit der Negation ernst sei: „Die Negation der Negation macht diese nicht rückgängig, sondern erweist, daß sie nicht negativ genug war . . . Das Negierte ist negativ, bis es verging" 21 . Negative Dialektik gibt sich nicht, wie es dort weiter heißt, zur Sanktion des Seienden her, sondern befürwortet radikales Abschaffen im Dienste des Zwecks, „der allein Gesellschaft zur Gesellschaft macht" und der verlangt, „daß sie so eingerichtet werde, wie die Produktionsverhältnisse hüben und drüben unerbittlich es verhindern, und wie es den Produktivkräften nach hier und heute unmittelbar möglich wäre" 2 2 . Die Dialektik der Aufklärung ist prinzipieller Natur, weil nach Adorno, Horkheimer, Marcuse Aufklärung und ihre wissenschaftlich-technisch-sozialen Folgen die Realisierung jenes Zwecks in eben dem Maße verhindern, wie sie ihn befördern könnten. Das Buch mit dem Titel „Dialektik der Aufklärung" stellt sich die Aufgabe, zu erkennen, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt" 2 3 , warum sich die „ökonomischen Errungenschaften in ihr 20
H . Gumnior und R. Ringguth: Horkheimer, Reinbek 1973, S. 131:,,. . . die verzweifelte, weil paradoxe Hoffnung auf die Rettung des Hoffnungslosen, die Adorno 1935 schon im Brief an Horkheimer als Grundintention Kritischer Theorie reflektiert hatte". Vgl. auch das BenjaminZitat am Schluß von Marcuses Buch „Der eindimensionale Mensch", eM, S. 268. 21 N D , S. 160. " N D , S. 201. 23 DA, S. 5.
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Gegenteil" verkehren 2 4 , warum „im Dienst der Gegenwart Aufklärung sich zum totalen Betrug der Massen" umwandelt 2 5 . Weiter ist in diesem Zusammenhang von einer „Selbstzerstörung der Aufklärung" 2 6 die Rede sowie davon, daß Aufklärung „totalitär" geworden sei 2 7 . Sie sei die „radikal gewordene mythische A n g s t " . Ihr letztes Produkt sei die „reine Immanenz des Positivismus . . . als ein gleichsam universales T a b u " , das aus Angst um die technisch zu sichernde Selbsterhaltung alles trifft, was außerhalb des Bereichs einer auf Naturbeherrschung fixierten Selbsterhaltungsrationalität liegt 2 8 . Damit ist bereits angesprochen, in welcher Richtung Horkheimer/ Adorno die Ursache für die Selbstzerstörung der Aufklärung suchen, eine Selbstzerstörung, die ihr Unternehmen einer philosophisch reflektierten Dialektik der Aufklärung in der Endabsicht keineswegs fördern will, sondern die es in der Hoffnung auf eine (utopische) Rettung der Aufklärung bewußt macht. Die Ursache ist nach diesen Autoren die angstgespeiste Fixierung auf totale Verfügung über Natur. Dadurch wird die Gesellschaft statt zu einer Gesellschaft des Menschen zu einem gigantischen Naturbeherrschungsapparat, der durch die von ihm geleistete Verwaltung von Sachen menschliche Natur wie eine Sache mit verwaltet. Laut der Vorrede zur „Dialektik der Aufklärung" soll an „Kant, Sade, Nietzsche, den unerbittlichen Vollendern der Aufklärung" gezeigt werden, „wie die Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt zuletzt gerade in der Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen gipfelt" 2 9 . Die instrumentelle Vernunft technischer Naturbeherrschung macht vor dem Menschen, ihrem vermeintlichen Subjekt, nicht halt, sondern, wie es in Horkheimers „Kritik der instrumentellen Vernunft" heißt: „ D i e Unterjochung der Natur wird in Unterjochung des Menschen zurückschlagen und umgekehrt, solange der Mensch seine eigene Vernunft und den grundlegenden Prozeß nicht versteht, durch den er den Antagonismus [von Mensch und Natur, R. M.] geschaffen hat und aufrechterhält, der sich anschickt, ihn zu vernichten" 3 0 . Die philosophische Dialektik der Aufklärung soll der Weg zu solchem Verständnis sein.
4 Die Kritische Theorie ist ein an der gegenwärtigen Gesellschaft und damit an der positiven Grundlage ihrer Kritik verzweifelnde Philosophie der Übergesellschaft. 24 25 26 27
DA, DA, DA, DA,
S. S. S. S.
9. 57. 7. 16.
28 29 30
DA, S. 27. DA, S. 10. KiV, S. 165
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Zu 4 Habermas hat also meines Erachtens die ursprüngliche Kritische Theorie soweit verlassen, daß man im Kontrast zu seiner Theorie den ursprünglichen Ansatz der Kritischen Theorie herausarbeiten kann. Bei Habermas ist die Dialektik der Aufklärung nicht mehr prinzipieller Art, sondern dämpft nur einen im übrigen erneuten Optimismus und Utopismus des gesellschaftlichen Fortschritts auf technologischer Basis. Er ist wieder eingeschwenkt auf die Generallinie des technischen Humanismus 31 . Die tiefgreifende Verunsicherung der Zeit um den Zweiten Weltkrieg, welche die ursprüngliche Kritische Theorie geprägt hatte, hat er hinter sich gelassen und bezieht Position auf halbem Wege zwischen dem (idealisierten) Liberalismus der westlichen und dem (noch stärker idealisierten) Sozialismus der östlichen Siegermächte. Sein Glaube an die sich selbst auf der Basis technischer Naturbeherrschung konstituierende Weltgesellschaft der angeblich Freien und Gleichen ist nur angekratzt, nicht gebrochen wie in der ursprünglichen Kritischen Theorie, die in dieser Hinsicht Nietzsches Skepsis übernahm. Typisch auch für Horkheimer und Adorno ist das, was Marcuse am Ende seines „Eindimensionalen Menschen" schreibt: „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ" 32 . Ähnlich „kontrafaktisch" (um einen Habermasschen Lieblingsausdruck zu gebrauchen) heißt es in Marcuses Schrift über den Sowjetmarxismus bezüglich der Gegenwart: „eine solche Welt kann für das, was realistisch und nicht realistisch ist, keine Maßstäbe liefern" 33 ; „die Vernunft betrifft nur die Zukunft der klassenlosen Gesellschaft als einer sozialen Organisation, die an der freien Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und Anlagen orientiert ist" 3 4 . Auch als eine, was die gegenwärtige gesellschaftliche Wirklichkeit in Ost und West angeht, negative Theorie bleibt die Kritische Theorie jedoch Theorie 31
Zum Begriff „technischer Humanismus" vgl. R. Maurer: ökologische Ethik?, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 1981, 82. Was hier im Sinne von Anthropozentrik „Humanismus" heißt, orientiert sich an M. Heideggers „Brief über den ,Humanismus'" (u. a. Frankfurt a. M. 1949), kaum an älteren Humanismusbegriffen, zum Beispiel dem der deutschen Klassik. Heidegger präzisierend kann man sagen: Das Humanum dieses Humanismus ist das, was die Menschen mit den Tieren gemeinsam haben, nämlich Bedürfnisnatur, jedoch verbunden mit Rationalität als subjektiver Schlauheit und intersubjektiver Technologie. Es ist eine Bedürfnisnatur, deren Wille zur Macht vermittelt durch technische Beherschung außermenschlicher Natur und sozialtechnische, gesellschaftliche Organisation menschlicher Natur seine Befriedigung sucht.
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eM, S. 268. GsM, S. 21. GsM, S. 24.
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der Gesellschaft und bleibt auch ihrem stark marxistisch bestimmten Anfang im 1923 gegründeten Frankfurter „Institut für Sozialforschung" in wesentlichen Grundzügen treu. Das erhellt ebenso sehr aus der Begrifflichkeit der gerade angeführten Marcuse-Stellen wie aus Formulierungen des späten Adorno. Am weitesten entfernt sich der späte Horkheimer von diesen Anfängen. Während er einerseits bis in sein Alter an der Grundüberzeugung des historischen Materialismus festhält, „daß sich in den Ideen eines Zeitalters die Zustände, Beziehungen und Prozesse der ökonomischen Basis spiegeln und also etwa in den Ideen der bürgerlichen Gesellschaft wie auch in deren Weisensozialer Kommunikation das zur Allmacht erhobene Tauschprinzip, der Warenfetischismus umschlägt in die Instrumentalisierung der Ideen wie in die Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen" 35 , verwandelt sich ihm andererseits „Theorie der Gesellschaft in theologia occulta, in Geschichtsphilosophie des unglücklichen Bewußtseins" 36 . Bei Adorno jedoch heißt es noch 1963 recht undialektisch: „Gesellschaft ist die wahre Determinante und ihre Einrichtung das Potential von Freiheit zugleich" 37 . Gesellschaft bleibt der Inbegriff der objektiven Grundschicht menschlicher Praxis, und deren Basis wiederum sind für den Neomarxismus wie für den Marxismus die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. Durch eine entsprechende „Einrichtung" dieser materiellen Grundlage kann Gesellschaft als das System maximaler Entfaltung und Befriedigung menschlicher Bedürfnisse in verwalteter Gleichheit organisiert werden, wobei freilich nach dem späten Horkheimer die Freiheit weitgehend auf der Strecke bleibt. Der Unterschied zwischen 1. dem Neomarxismus und 2. dem alten Marxismus besteht nun aber darin, daß der zweite glaubt, einen konkreten Weg zu der künftigen Gesellschaft weitgehender Leidfreiheit und Freiheit der Bedürfnisbefriedigung angeben zu können, während für den ersten die Brücke zur besseren Zukunft eine vag utopische Hoffnung ist. Und was für den Neomarxismus das Schlimmste ist: gerade die in Ost und West konkret eingeschlagenen Wege zur Einrichtung der künftigen Gesellschaft, die in einer Kombination von technischer Beherrschung außermenschlicher Natur und sozialtechnischer Beherrschung menschlicher Natur angewandte Aufklärung, haben die Verwirklichung der Utopie in nebelhafte Ferne gerückt. Daß jedoch eine derartig negative Bewertung gegenwärtiger Gesellschaft möglich wird, ist wohl kaum ohne die kritischen Perspektiven Nietzsches denkbar. O b es sich hierbei um eine direkte Übernahme oder eine parallele Neuentwicklung handelt, ist von sekundärer Bedeutung. 35 36 37
Gumnior/Ringguth (op. cit., Anm. 20), S. 119. Ebd., S. 100. E, S. 119; vgl. Anm. 22.
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Die „befreiende Atmosphäre von Nietzsches Denken" - so formuliert Marcuse einmal 38 — trägt entscheidend dazu bei, daß die Kritische Theorie ausbricht, nämlich aus dem trotz aller tödlichen Differenzen in Technokratie und Bürokratie konvergierenden west-östlichen Einheitvormarsch zur Utopie des technischen Humanismus. Angesichts der Faktizität dieses Vormarsches zerbricht der Kritischen Theorie die Uberzeugung, es gäbe zutreffend erkannte Allgemeininteressen der Menschheit, die gegenwärtig bereits zum Zuge kämen, so daß man von ihrer gegenwärtig tendenziellen Wirklichkeit her kritisieren könnte. Die „neuen Kräfte der Gesellschaft", von denen Marx einmal schrieb, daß sie „nur neue Menschen brauchten, um gutes Werk zu verrichten" 39 , bleiben bis auf weiteres bloßes Potential von Freiheit. Der „neue Mensch" ist — so Marcuse im Sinne auch der sonstigen Kritischen Theorie — zunächst einmal der „eindimensionale Mensch", und dieser ähnelt sehr dem „letzten Menschen", den Nietzsche in „Zarathustras Vorrede" so sarkastisch skizziert. Die bürokratisch kanalisierte Bedürfnisbefriedigung in den fortgeschrittensten Ausprägungen des gegenwärtigen Kapitalismus und Sozialismus verwendet nach der Kritischen Theorie ein an sich bereitstehendes Freiheitspotential zur Unfreiheit. Dagegen stellt die Kritische Theorie sozusagen das Ideal einer „Ubergesellschaft". Mit dieser Parallelprägung zu Nietzsches „Ubermenschen" soll dreierlei gesagt sein: 1. Die Ubergesellschaft ist jenseits der gegenwärtigen Wirklichkeit. Sie liegt nicht in der Verlängerung gegenwärtig bereits wirksamer Tendenzen. Sie ist Utopie im originären Sinn dieses Wortes. 2. Die Ubergesellschaft soll dasjenige leisten, was die gegenwärtige Gesellschaft auf der Basis technisch-ökonomischer Naturbeherrschung nur pervertiert oder gar nicht leistet, nämlich die perfekte Befriedigung menschlicher Bedürfnisnatur bei gleichzeitiger Respektierung des Eigenrechts außermenschlicher Natur. Sie soll ein perfektes System menschlicher Bedürfnisbefriedigung sein, soll den „Vorstellungen von vollendeter Erfüllung und uneingeschränktem Genuß" 4 0 entsprechen und soll gleichzeitig diese Befriedigung individueller Freiheit, Autonomie und Verantwortung anheimstellen. 38
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eM, S. 228. 1937 schreibt Horkheimer über Nietzsche: „Die Unabhängigkeit, die in seiner Philosophie zum Ausdruck kommt, die Freiheit von den versklavenden ideologischen Mächten ist die Wurzel seines Denkens", — Bemerkungen zu Jaspers' „Nietzsche", in: Zeitschr. f. Sozialforschung 6, 1937 (Nachdruck München 1970), 407-414, hier S. 414. K. Marx: Rede bei der Feier des vierjährigen Bestehens des „People's Paper" (1856), Karl Marx als Denker, Mensch und Revolutionär, ed. D . Rjazanow, Berlin 1928, S. 42, siehe auch MEW 12, S. 4. KiV, S. 146.
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3. Die Ubergesellschaft heißt auch deshalb so, weil sie fast eine Gesellschaft von Ubermenschen wäre. Sie soll das, was nach Nietzsches aristokratischem Individualismus nur für Einzelne in der leidenden Entfremdung von der Mehrzahl möglich ist, für alle oder die meisten möglich machen. Sie ist der Versuch, die in entscheidenden Aspekten verschiedenen Zielvorstellungen von Marx und Nietzsche zu verbinden. So unterstellt Horkheimer Nietzsche, er habe „trotz allem gewußt, daß es viele ,Ubermenschen' geben wird oder gar keine" 4 1 . Dagegen schreibt Nietzsche: „man soll den solitären Typus n i c h t abschätzen nach dem heerdenhaften, und den heerdenhaften n i c h t nach dem solitären. Aus der Höhe betrachtet: sind beide nothwendig; insgleichen ist ihr Antagonism nothwendig, — und nichts ist mehr zu verbannen, als jene ,Wünschbarkeit', es möchte sich etwas D r i t t e s aus Beiden entwickeln (,Tugend' als Hermaphroditismus). Das ist so wenig ,wünschbar', als die Annäherung und Aussöhnung der Geschlechter. Das T y p i s c h e f o r t e n t w i c k e l n die K l u f t immer t i e f e r aufreißen . . , " 4 2 . Horkheimers utopistisches Integrationsdenken verkennt offenbar den Grundansatz von Nietzsches Wirklichkeitsinterpretation, der dem herakliteischen Prinzip des fruchtbaren Gegensatzes verpflichtet ist 43 . (Nietzsche seinerseits vernachlässigt darüber das Prinzip der vermittelnden Abstufung, das verhindert, daß die Gegensätze zu groß und damit nicht mehr förderlich, sondern nur noch destruktiv werden.)
Die Kritische Theorie enthält einen Widerspruch, eine Aporie, die sie nur durch die Flucht nach vorn in eine jenseits aller gegenwärtigen Wirklichkeit liegende Utopie lösen kann. Ihre Ubereinstimmung mit der kritischen Theorie Nietzsches ist ebenso stark wie die Diskrepanz zwischen beiden. Ihr Versuch, Marx und Nietzsche in der Utopie einer Übergesellscbaft von Übermenschen zu verbinden, scheitert, von Nietzsche aus geurteilt, als eine Vereinigung von Unvereinbarem. Zu 5 Nunmehr kann gesagt werden, was die anfangs aufgestellte Behauptung (These 2) bedeutet, die Kritische Theorie sei ein von Nietzsche-Perspektiven 41
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O p . cit. in A n m . 38, S. 409. Auch der Kontext, in dem dieser Satz steht, ist sehr typisch und lesenswert! KSA 12, S. 492. Vgl. W . Müller-Lauter: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New Y o r k 1971.
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durchkreuzter Neomarxismus. Weil sie eine Form von Marxismus ist, setzt ihre Kritik (anders als die von Nietzsche) nicht bei praxisbestimmenden Bewußtseinsformationen (Moral, Religion) an, sondern bei politisch-ökonomischen Strukturen von Gesellschaft. Praktische Erfüllung fände neomarxistische Kritik in einer andersartigen Einrichtung der Gesellschaft. Während jedoch der Marxismus das Subjekt bezeichnen kann, das die Revolution in die Hand nehmen soll, nämlich das Proletariat unter Führung einer avantgardistischen Machtelite (Partei), ist dem Neomarxismus dieses Subjekt abhanden gekommen. Der Marxismus ist durch diesen Verlust an Konkretheit einerseits zu einem Opium der Intellektuellen geworden: zu einer halb politischen, halb ästhetischen Ideologie, an der sie sich chiliastisch berauschen, andererseits jedoch zu einer auf die Realität bezogenen Kritik am alten Marxismus und an seinen praktischen Folgen. Gerade die modernen technisch-ökonomischen Errungenschaften und die formaldemokratische Teilhabe an ihnen haben nach dieser Kritik die Massen in den fortschrittlichsten Ländern soweit korrumpiert, daß sie zu einer Verwirklichung der Utopie: einer wirklich freien Selbstbestimmung über ihre Bedürfnisse und die dazu nötigen technischen Mittel weniger denn je fähig sind. Die Bedürfnisse fungieren, von individueller Autonomie abgelöst, als massenmedial manipulierte Antriebskräfte der zu einer eigengesetzlich expandierenden Naturbeherrschungsmaschine gewordenen Gesellschaft. Was in diesem Zusammenhang nach dem Urteil der Kritischen Theorie aus dem aufklärerischen und revolutionären Ideal der Gleichheit und Herrschaftsfreiheit wird, liest sich wie eine (anscheinend durch Max Weber vermittelte44) Ubersetzung Nietzsches in die Sprache der Soziologie und politischen Ökonomie. In der „Dialektik der Aufklärung" heißt es: Die Menschen würden in der modernen Gesellschaft auf „Selbsterhaltung durch Anpassung festgelegt . . . was anders wäre, wird gleichgemacht . . . zur realen Konformität gezwungen . . . Die Einheit des manipulierten Kollektivs besteht in der Negation jedes Einzelnen . . . Die Horde, deren Namen zweifelsohne in der Organisation der Hitlerjugend vorkommt, ist kein Rückfall in die alte Barbarei, sondern der Triumph der repressiven Egalität, die Entfaltung der Gleichheit des Rechts zum Unrecht durch die Gleichen" 45 . Der Schluß dieses Zitats könnte die Paraphrase einer Nietzsche-Stelle in „Jenseits von Gut und Böse" sein 46 . Be-
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Vgl. W . M o m m s e n : Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt a. M . 1974; sowie H . Baier: D i e Gesellschaft - ein langer Schatten des toten Gottes. Friedrich Nietzsche und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der decadence, in diesem Band, S. 6 ff. D A , S. 23 f. „ H e u t e . . ., w o die .Gleichheit der Rechte' allzu leicht sich in die Gleichheit im Unrechte umwandeln k ö n n t e : ich will sagen in gemeinsame Bekriegung alles Seltenen, Fremden, Bevorrechtigten . . . " , J G B , N r . 2 1 2 .
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stimmte Erscheinungen des modernen Totalitarismus werden also als Folgen totalitär gewordener Aufklärung gedeutet, wobei Nietzsche anders als bei seiner ebenso oberflächlichen wie verbreiteten Interpretation nicht als Unterstützer, sondern als Entlarver dieses Totalitarismus verstanden wird. Uberhaupt wird Nietzsches Kritik des modernen Kollektivismus, des menschlichen „Herdentiers", wie er sagt, weitgehend übernommen und in dem Zusammenhang auch seine Kritik von Demokratismus und Sozialismus als Formen der Unfreiheit. So beginnt gleich das erste Kapitel von Marcuses „Eindimensionalem Menschen" mit dem provokanten Satz: „Eine komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit herrscht in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation . . ." 4 7 . Auch Marcuses These von der „repressiven Toleranz" als „Tyrannei der Mehrheit, gegen welche die wirklichen Liberalen aufbegehrten" 4 8 (sie unterstellte einem Grundwert der Aufklärung sein Gegenteil und verschreckte damit viele), dürfte von Nietzsche inspiriert sein. Und wenn er schreibt: „. . . werden die Organisatoren und Verwalter selbst immer abhängiger von der Maschinerie, die sie organisieren und handhaben. Und diese wechselseitige Abhängigkeit ist nicht mehr das dialektische Verhältnis von Herr und Knecht, das im Kampf um wechselseitige Anerkennung durchbrochen worden ist, sondern eher ein circulus vitiosus, der beide einschließt, den Herrn und den Knecht" 4 9 , so kann man das durchaus als aktuellen Kommentar zu Nietzsches „Kein Hirt und Eine Heerde!" 5 0 lesen. Durch solchermaßen radikale Kritik entsteht ein Bruch in der Interpretation der allgemeinen Interessen, von deren Erkenntnis aus man Ideologiekritik und Kritik gesellschaftlicher Praxis betreiben könnte. Die Kritische Theorie setzt sich sowohl von den Haupttrends des derzeitigen Liberalismus wie Sozialismus ab, indem sie sich Nietzsche annähert. Obwohl sie aber die gegenwärtige Gesellschaft ablehnt, hält sie dennoch im wesentlichen (vor allem mit Ausnahme des späten Horkheimer) an der vom Marxismus, aber auch vom westlichen Pragmatismus vertretenen Auffassung fest: durch eine entsprechende Einrichtung der Gesellschaft, durch einen entsprechenden Ausbau ihrer Produktivkräfte, durch Revolution ihrer Produktionsverhältnisse und ihrer Verteilung der produzierten Güter könne eine perfekte Bedürfnisbefriedigung für alle bei gleichzeitiger autonomer Selbstbestimmung aller erzielt werden. Zusätzlich verbindet sie dieses im Grunde uralte Ideal einer Harmonie zwischen Individuum und Gesellschaft mit der Vorstellung einer neuen Harmonie von Mensch und Natur. N u r daß sie nicht
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eM, S. 21. RT, S. 94. eM, S. 53. Za, Vorrede, N r . 5.
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anzugeben weiß, wie man konkret vom gegenwärtigen Zustand zu dieser idealen Zukunft gelangen könnte, und dieses Nichtwissen offen eingesteht. Eben diese allgemeine Zielvorstellung jedoch, gleich ob sie zür gegenwartstranszendenten Utopie ihre Zuflucht nimmt oder mit der Meinung verbunden ist, sie sei bereits auf dem rechten Weg der Verwirklichung, bewirkt nach Nietzsche, daß Autonomie nicht beim Individuum liegt, sondern beim Kollektiv. Die „autonome Heerde" 5 1 ist nach ihm das notwendige Ergebnis. Ihre Freiheit besteht in jenem gesicherten, aber stumpfsinnigen und die Menschheit ihrer größten Möglichkeiten beraubenden Weideglück des „letzten Menschen": „Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in's Irrenhaus [. . .]. ,Wir haben das Glück erfunden' — sagen die letzten Menschen und blinzeln" 52 . Wenn die anders Fühlenden, also auch die Anhänger einer kritischen Theorie nach Art der Frankfurter Schule, wirklich freiwillig ins Irrenhaus gingen, wäre das in der Tat ein konstruktiver Beitrag zur Herstellung allgemeiner Interessen. Solange sie das aber nicht tun, stehen ihre Auffassungen, wenn nicht gerade vom „Ubermenschen", so doch von individueller Freiheit und Verantwortung, der Einrichtung einer nach Maßgabe der jetzigen endgeschichtlich befriedigten Gesellschaft im Wege.
6 Nietzsches kritische Theorie ist kritischer als die Kritische Theorie, indem sie die unsere gegenwärtige Gesellschaft bestimmende Zielvorstellung einer endgeschichtlich befriedigten Gesellschaft in Frage stellt. Damit gerät zugleich die vermeintliche Objektivität gesellschaftlichen Seins und der ihr entsprechende theoretisch-praktische Materialismus ins Wanken, zu dem sich die sonst so Kritische Theorie mit Marx bekennt.
Zu 6 Wie dargestellt, nämlich als Theorie der Übergesellschaft, ist nun aber die Kritische Theorie in entscheidender Hinsicht nicht kritisch, sondern entspricht — auf eine freilich besonders utopische und extreme Weise — dem utopisch-eschatologischen Grundzug gegenwärtiger, praxisbestimmender Gesellschaftsideologie. Ihr trendopportunistisches Umkippen bei Habermas ist 51 52
J G B , Nr. 202. Za, Vorrede, Nr. 5.
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daher nicht zufällig. Die teilweise begeisterte Aufnahme, die sie besonders bei jungen, zeitgemäß „linken" Intellektuellen gefunden hat, bestätigt dieses Urteil ebenso wie die Ablehnung, auf die sie oder vielmehr der Rumor, den sie verursacht hat, beim gesellschaftlichen Establishment gestoßen ist. Sie stellte etwas in Aussicht (wenn sie auch nicht angeben konnte, wie man es erreichen kann), das weit über das bisher durch Aufklärung, technologischen Fortschritt und politisch-ökonomische Revolution Erreichte hinausging. So machte sie mündige Münder wässrig und fand ihren Beifall. Diejenigen aber, die — mindestens ebenso mündig — stolz auf das Erreichte sind und seine Bewahrung und seinen Ausbau für allein realistisch und vernünftig halten, die sogenannten Konservativen (Beispiel: Hermann Lübbe 5 3 ), bekamen durch sie einen Schock, und zwar nicht deshalb, weil die Kritische Theorie prinzipiell etwas anderes wollte als sie, sondern weil sie auf extreme Weise dasselbe wollte oder aber viel mehr von demselben. Ihre Radikalität schien das real Mögliche zu bedrohen, den Spatz in der Hand. In der Fixierung auf diese Gefahr übersah man die prinzipielle Ubereinstimmung einerseits in bezug auf das Zielbild technischer Humanismus und andererseits die teilweise Ubereinstimmung mit ursprünglicher konservativer Kritik an den negativen Folgen technischen und sozialtechnischen Fortschritts. Doch das zweite mußte ohnehin im Hintergrund bleiben. Der Konservatismus ist ja nun zu großen Teilen technokratisch geworden und ist bereit, die Zerstörung der Natur um der Systemerhaltung willen „in Kauf zu nehmen", wie die einschlägige Redewendung lautet. Der Realist weiß, daß er nicht alles haben kann. Und wenn die zerstörte Natur schließlich auch das menschliche Leben samt dem System zerstören sollte, so hat man doch immerhin zuvor die Früchte ihrer Vernutzung genossen. Außerdem, meint man, wird es so schlimm schon nicht kommen. Bisher hat die Findigkeit der Menschen noch immer neue Lebensräume erschlossen, wenn die alten ruiniert waren. Einem solchen „Realismus" gegenüber könnte die Kritische Theorie recht behalten. Das Urteil wird die Geschichte sprechen. Von Nietzsche her kommt jedoch ein anderer, wie mir scheint, realistischerer Realismus ins Spiel, der sowohl die sogenannte konservative Position, die — wie die altmarxistische — an weiteren Fortschritt in die bisherige Richtung glaubt, wie Positionen von der Art der Kritischen Theorie, welche eine „Umkehrung des Trends" erhoffen 5 4 , als Ausdruck eines bestimmten Lebens- und Machtwillens versteht. Alle diese Positionen konvergieren, von Nietzsche aus gesehen, in der Utopie des technischen Humanismus und Sozialismus, das heißt in der Zielvorstellung von möglichst perfekter Bedürfnisbefriedigung für „alle" und weitgehender 53 54
D a z u sei generell auf die Schriften dieses Autors seit 1968 verwiesen. R T , S. 110; 112.
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Abschaffung von Leid durch gesellschaftliche Organisation wissenschaftlichtechnischer Naturbeherrschung. In dem Streben nach einer solchen Übergesellschaft kommt nach Nietzsche der Lebenswille einer durchschnittlich-mittelmäßigen Menschlichkeit zur Vorherrschaft. Die Kritische Theorie hat zwar Nietzsches Kritik an den gegenwärtigen Auswirkungen dieser welthistorischen Zielutopie zu integrieren versucht, hat die gängige Utopie der endgeschichtlich befriedigten Gesellschaft 55 durch seine Gegenutopie des „Ubermenschen" zu korrigieren versucht, so daß das Erreichen des Ziels nur durch jene besonders utopische Umkehrung des Trends möglich wäre, aber prinzipiell glaubt sie mit Marx weiter an die Gesellschaft und ihre (wenn auch besonders utopisch gewordenen) Zukunftsperspektiven sowie daran, daß die objektiven, gesellschaftlichen Tendenzen bis auf weiteres56 durch eine materialistische Theorie zu erfassen seien. Nach Nietzsche dagegen ist diese vermeintliche Objektivität und Materialität die Setzung eines bestimmten Lebens- und Machtwillens, den er, am systematischsten in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral", historischgenetisch zu relativieren versucht. Diese ganzen wissenschaftlich feststellbaren und wissenschaftlich-technisch durchzuführenden Notwendigkeiten der Gesellschaft, an ihrer Basis die von Marx behauptete zwangsläufige Expansion der großen Maschinerie 57 , sind demnach nur notwendig auf Grund einer moralischen Absolutsetzung der durchschnittlichen Massenbedürfnisse. Dieser gesellschaftlichen Objektivität liegt die Subjektivität demokratisch-sozialistischer Säkularisation jüdisch-christlicher Gleichheits- und Mitleidsmoral zugrunde. Sie ist nach Nietzsche das integrierende Moment des zur Zeit herrschenden Kollektivsubjekts, das er „Herde" nennt. Eine wirkliche Umkehrung des Trends wäre nur möglich aus der Erkenntnis dieser Subjektivität sowie aus der Einsicht in die Möglichkeit und Wirklichkeit anderer Moralen, zumal einer aristokratischen Moral individueller Selbstbeherrschung58, die andersartige Subjektivität ins Spiel bringt oder vielmehr deren zur Zeit ideologisch und praktisch unterdrückten Entfaltungswillen stärkt. Denn mit im 55
56
57 58
Dazu im Anschluß an Hegel A . Kojeve: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, ed. I. Fetscher, Frankfurt a. M . 1975 (Originalausgabe Paris 1947). Nach A . Schmidts Verständnis der Kritischen Theorie wäre freilich mit der endgeschichtlichen Realisierung der Utopie der Materialismus als theoretische und praktische Einstellung aufgehoben. Der bis dahin bestehende Vorrang des ö k o n o m i s c h e n wäre gebrochen. „ D a ß das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt, ist für das kritische Denken kein weltanschauliches Bekenntnis, sondern die Diagnose eines aufzuhebenden Zustands." (Max Horkheimer: Kritische Theorie. Eine Dokumentation, ed. A . Schmidt, Frankfurt a. M . 1968, Nachwort des Herausgebers, Bd. II, S. 3 5 8 . ) K. Marx: Das Kapital, 1. Buch, 13. Kapitel „Maschinerie und große Industrie". Vgl. G . - G . Graus Auseinandersetzung mit W . Kaufmann in diesem Bande, S. 222ff. Für den Platonisch gebildeten Nietzsche war die Verbindung aristokratischen Machtwillens mit Selbstbeherrschung naheliegend.
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Spiel ist er ohnehin. Faktisch leben wir nach Nietzsche in einem moralischen Pluralismus. 59 Der Monopolanspruch der von Nietzsche so genannten „Herdentier-Moral" ist nur Ideologie. Dieses „ n u r " ist freilich leichtsinnig. Laut Nietzsche ist Ideologie, das heißt die interessenbestimmte Interpretation von Wirklichkeit, höchst wirklichkeitsmächtig. Wirklichkeit ist überhaupt nur in jeweils ideologischen Perspektiven da. Es kommt darauf an, kritisch und selbstkritisch die Vielheit möglicher Perspektiven zur Geltung zu bringen. Gegen diese Forderung verstößt die ideologisch zur Zeit herrschende Utopie des technischen Humanismus, der endgeschichtlich befriedigten Gesellschaft, zu der die Ubergesellschaftsutopie der Kritischen Theorie die Brücken nicht ganz abbricht. Mit seinem säkularisiert eschatologischen Monopolanspruch rechtfertigt dieser Humanismus die Gleichschaltung aller im Dienste gesellschaftlicher Naturbeherrschung, welche die Verwirklichung der Utopie herbeiführen soll. Da es aber durchaus (noch) verschiedene Lebenswillen gibt, die sich auch kollektiv, staatlich, imperial verschieden organisieren, kommt es zu der von der Kritischen Theorie diagnostizierten Vereinnahmung aller in übermächtige, sich gegenseitig bedrohende Gesellschaftapparate. Demgegenüber eine wirklich durchgreifend kritische Perspektive einzunehmen, gelingt der Kritischen Theorie nicht, da sie trotz all ihrer kritischen Distanz zur gegenwärtigen Wirklichkeit weiter an den absoluten Vorrang des allgemeinen, allerdings von seiner gegenwärtigen Äußerungsform ideal abstrahierten Interesses an Selbsterhaltung, darüber hinausgehende Bedürfnisbefriedigung und Abschaffung von Leid glaubt. Diese Massenbedürfnisse samt ihrer ideologischen Selbstinterpretation sind die eigentlichen Kräfte der Gesellschaft. Natürlich gibt es diese Bedürfnisse, und sie sind als existierende berechtigt. Beides bezweifelt Nietzsche nicht. Doch um den Bann ihrer monopolen Absolutsetzung und der absoluten Instrumentalisierung von allem in ihrem Namen zu durchbrechen, bedürfte es einer größeren Distanz, als die Kritische Theorie zu ihnen einnimmt. Hier helfen eher Nietzsches Überlegungen zur Herrschaft der Logik oder vielmehr Logik der Herrschaft, zum Beispiel: „Das Begierden-Erdreich, aus dem die Logik herausgewachsen ist: Heerden-Instinkt im Hintergrunde, die Annahme der gleichen Fälle setzt die .gleiche Seele' voraus. Zum Zweck der Verständigung und Herrschaft" 6 0 , sowie seine Überlegungen zum Zusammenhang Wissenschaft — Normalmenschlichkeit — Masseninstinkt — Demokratie — Sozialismus 61 . 59
60 61
Vgl. R. Maurer: Wird Nietzsche wieder aktuell?, in: Philosophie der intellektuellen Redlichkeit, Festschrift für G . - G . Grau, Stuttgart 1981/82. KSA 12, S. 308. Eine unvollständige Zusammenstellung bei R. Maurer: Revolution und .Kehre', op. cit. Anm. 16, S. 172 f.
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Und was die Abschaffung von Leid durch gesellschaftliche Naturbeherrschung angeht, so ist sie nach Nietzsche weder möglich, noch wünschenswert. Natürlich kann man auf diese Weise manche Formen von Leid vermindern oder verlagern. Doch von Abschaffung kann keine Rede sein. Das medizinisch durchgeführte Mitleid ermöglicht es, von Natur schwaches, kränkelndes, leidendes Leben zu erhalten. Und die Erhaltung wirkt als negative Züchtung. Leiden nimmt auf diesem Weg nicht ab, sondern zu. Nietzsches Überlegungen über „unsre moderne zärtliche Moralität in Europa" 6 2 sind nicht von der Hand zu weisen. Im Blick auf ihre künftigen Folgen schreibt er: „Was würde sich dann auf Erden teurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften fordern — die Vermenschlichung, die .Verbesserung', die wachsende ,Zivilisierung' des Menschen. Nichts wäre kostspieliger als [altruistische, R. M.] Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital". Was aber das bedeutet, vermag derjenige zu ermessen, der moderne Kliniken aus eigener Erfahrung kennt. Dort nimmt das Leiden, selbst wenn es medizinisch geheilt wird, nur eine andere Form an. Ist man bereit, es in dieser Form zu bejahen? Mit Nietzsche wäre auch das vielleicht möglich. Denn prinzipiell ist nach ihm die Abschaffung von Leid deshalb nicht wünschenswert, weil es zur optimalen Ausbildung des Individuums oder vielmehr (individualistisch gesprochen) zur Ausbildung optimaler Individuen notwendig ist. Um in dieser Hinsicht oder bei anderen menschlichen Grundeinstellungen eine Umkehrung des Trends zu bewirken, wäre jedoch zunächst einmal nötig, sie nicht primär von einer andersartigen Einrichtung der Gesellschaft zu erwarten. — Wovon sonst?
7 Nietzsches kritische Theorie läuft auf eine Gegenkonzeption zu der unsere Wirklichkeit bestimmenden Zielvorstellung der Ubergesellschaft hinaus, der die kritische Theorie der Frankfurter Schule trotz aller Differenzen verbunden bleibt. 63
Zu 7 Offenbar erwartet Nietzsche eine von den (utopischen) Perspektiven der Kritischen Theorie verschiedene Umkehrung des Trends, der großen Ent62 63
KSA 12, S. 180f. Diese These wurde nach der Reisensburger Diskussion zur Klärung des Begriffes „Übergesellschaft" angefügt. Sie verdankt sich den Anregungen dieser Diskussion.
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wicklungstendenzen der Menschheitsgeschichte, von einer Änderung menschlicher Grundeinstellungen. Seine Philosophie versteht sich als vorbereitendes Denken für die Heraufkunft einer neuen Art von Aristokratie 64 nach dem Durchgang durch Demokratie und Sozialismus. Dazu bedürfte es andersartiger Grundeinstellungen zur menschlichen und außermenschlichen Natur sowie zur Theorie und Praxis von Lebenszielen, und zwar sowohl bei der Mehrheit, damit von ihr her die neue Aristokratie möglich wird, aber auch und vor allem bei einer ausschlaggebenden Minderheit, von welcher Inhalt und Sinn einer Aristokratie abhängen. Dieses dürfte die konkrete Bedeutung seiner bisweilen recht metaphorischen Rede vom „Ubermenschen" sein. Zarathustras Pathos in dieser Hinsicht darf man wohl durch entsprechende Bemerkungen aus dem übrigen Werk, vor allem dem späteren, konkretisieren. Das Programm einer „Umwertung aller Werte", das im Zentrum von Nietzsches späterer Philosophie steht, zielt auf einen solchen welthistorischen Umschwung. Damit entwickelt Nietzsche auf seine freilich unsystematische Weise einen bewußten und beabsichtigten Gegenentwurf zu seinerzeit und deutlicher noch derzeit herrschenden Tendenzen. Die welthistorische Zielkonzeption Übermensch steht gegen die Konzeption Übergesellschaft. Das ist ein Gegensatz, den ein zur Zeit vorkommender Links-Nietzscheanismus wegharmonisieren möchte. Hiermit wird jedoch der Ausdruck „Ubergesellschaft" im Anschluß an These 6 etwas anders gebraucht als in den Thesen 4 und 5. In ihnen geht es speziell um die Kritische Theorie, und daher ist das „Uber" im Sinne von „jenseits" zu verstehen, nämlich jenseits der Gegenwart: in einer ganz andersartigen Zukunft. Was Nietzsche über die modernen Skeptiker mit „rückläufigen Schleichwegen" sagt („Das Wesentliche an ihnen ist n i c h t , dass sie ,zurück' wollen: sondern: dass sie — weg wollen." 6 5 ), das könnte er, entsprechend variiert, über die Autoren der Kritischen Theorie sagen: Das Wesentliche an ihnen ist nicht, wo sie hin wollen, sondern daß sie weg wollen. Denn in dem Nach-vorne-weg-Wollen ist er sich mit ihnen einig, während die Zukunftsutopie, zu der sie hin wollen, nämlich die XJbergesellschaft, ihm inhaltlich sicher noch zu stark auf der Linie dessen läge, was auch die geläufige Gesellschaftsideologie will. Die Ubergesellschaft, von der die Kritische Theorie träumt, soll nur das in Reinheit sein, was in der gegenwärtig wirklichen Gesellschaft und den Tendenzen zu ihrer Perfektion nach Ansicht der Kritischen Theorie pervertiert herrschend ist.
64 65
Dazu op. cit., Anm. 59. J G B , Nr. 10.
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Diese Tendenzen zur Perfektion des Vorhandenen ohne Umkehrung des Trends bestimmen die zweite mögliche Bedeutung von „über" in der Fügung „Ubergesellschaft". Sie zielen auf eine Perfektion der Gesellschaft als eines Systems der Bedürfnisse, deren Befriedigung durch technische und sozialtechnische Beherrschung außermenschlicher und menschlicher Natur erreicht werden soll. Vor allem darin, daß der Zukunftshorizont der gegenwärtigen Gesellschaft auf diese Weise geschlossen ist, liegt nach der Kritischen Theorie ihre Perversion, gegen die sie ankämpft. Und darin stimmt sie mit Nietzsche überein. Dagegen wären wahrscheinlich diesem ihre — zugegebenermaßen besonders utopischen — Vorstellungen von Ubergesellschaft doch noch zu stark mit den Tendenzen zu einer Perfektion gegenwärtiger Gesellschaft verwandt. „System der Bedürfnisse", so nannte Hegel die „bürgerliche Gesellschaft" 6 6 und beschrieb sie als eine zugleich förderliche und gefährliche Macht, die von der andersartigen Macht des Staates zu kontrollieren sei. Die Ubergesellschaft als Perfektion der bürgerlichen wäre dann im totalitär demokratischen oder sozialistischen Zusammenfall von Gesellschaft und Staat die universale technische und sozialtechnische Verwaltung von Menschen und Dingen zum Zwecke der Befriedigung der durchschnittlichen Massenbedürfnisse. Erst in ihr ist verwirklicht, was Hegel bereits als Gefahr der bürgerlichen Gesellschaft heraufziehen sah, als er schrieb, sie sei die „ungeheure Macht, die den Menschen an sich reißt, von ihm fordert, daß er für sie arbeite und daß er alles durch sie sei und vermittels ihrer tue" 6 7 . Etwa zur gleichen Zeit beschrieb Tocqueville die Gefahr einer solchen Ubergesellschaft nach einer Reise durch die USA 68 . Dieser Gefahr würde nach ihm die Demokratie dann erliegen, wenn in ihr die Tendenz zur Gleichheit über die Tendenz zur Freiheit siegt. Eben darauf aber wirkt nach Nietzsche die „Herdentiermoral" hin. Und nach der Kritischen Theorie ist dieser Sieg durch die weitere Expansion technischer Beherrschung menschlicher und außermenschlicher Natur in greifbare Nähe gerückt. Im technischen Humanismus westlicher wie östlicher Technok r a t e wird eine bei allen prinzipiell gleiche Bedürfnisnatur zugrundegelegt, was die Gleichschaltung aller in einem total gewordenen Reich der Notwendigkeit zur Folge hat. Als primär wichtig gilt die Bereitstellung einer immer wachsenden Menge von Gütern für die Befriedigung der durchschnittlichen Massenbedürfnisse. Dazu bemerken Horkheimer/Adorno: „So bliebe das Verhältnis der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit bloß quantitativ,
66 67
68
G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 182ff. Ebd. § 238, Zusatz. Vgl. J. Ritter: Hegel und die französische Revolution, Frankfurt a. M. 1972 ('1957), S. 70f. A. de Tocqueville: Uber die Demokratie in Amerika, letzte deutsche Ausgabe: München 1976.
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mechanisch, und Natur als ganz fremd gesetzt . . . würde totalitär und absorbierte die Freiheit samt dem Sozialismus" 6 9 . „Sozialismus" ist der geläufige Name für die Bewegung, deren Ziel die Einrichtung der Ubergesellschaft ist. Den Anhängern dieser Bewegung erscheint sie natürlich nicht in den düsteren Farben wie ihren partiellen Kritikern Hegel und Tocqueville und ihrem radikalen Kritiker Nietzsche. Die ersteren stehen in der Tradition einer noch nicht dialektisch und zweideutig gewordenen Aufklärung, die es prinzipiell für möglich hält, ein Reich der Gleichheit und Freiheit für alle auf der Basis wissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung zu errichten, wobei Freiheit zunehmend als Selbstbestimmung menschlicher Bedürfnisnatur verstanden wird. Nietzsches Dialektik der Aufklärung endet bei einer Verurteilung des Sozialismus 70 und bei der Lehre vom Ubermenschen und einer neuen Aristokratie als Gegenkonzeption zur Ubergesellschaft. Die Frankfurter Schule übernahm weitgehend die kritischen Perspektiven Nietzsches bezüglich der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer Tendenzen zur Ubergesellschaft als Perfektion der jetzigen. Sie polemisierte massiv gegen die gleichschaltende Vereinnahmung aller durch die totalitäre Bürokratie der „verwalteten Welt". Doch hielt sie sich, wie der Konjunktiv in dem obigen Zitat zeigt, die Option für einen utopischen Sozialismus offen. Damit entsteht jener in sich widersprüchliche Begriff von Ubergesellschaft, den die Thesen 4 und 5 erörtern. Er will alles zugleich: die Befriedigung der Massenbedürfnisse, Versöhnung mit Natur und individuelle Autonomie: eine Ubergesellschaft von Ubermenschen. Als solche wird Ubergesellschaft extrem utopisch, wirklichkeitstranszendent. Der Zugang zu ihr changiert zwischen Politik und „theologia occulta" 7 1 oder — so besonders bei Adorno, Benjamin und teilweise auch Marcuse — zwischen Politik und Ästhetik, als wenn es eine ästhetische Lösung politischer und ökonomischer Probleme gäbe (was im Prinzip schon Schillers Einwand war 7 2 ). Der Begriff Ubergesellschaft, so wie er hier gebraucht wird, hat also drei Bedeutungen: 1. Die positiv bewertete künftige Perfektion gegenwärtiger Gesellschaft als eines endgeschichtlichen Befriedigungssystems der durchschnittlichen Massenbedürfnisse.
69 70
71 72
D A , S. 56. Z. B. KSA 11, S. 586: „ D e r Socialismus — als die zu Ende gedachte T y r a n n e i der Geringsten und Dümmsten [. . . ] " . s. o., Anm. 35 und 36. Vgl. E K , insbes. S. 175ff. Auf die Komplexität des Zusammenhangs Politik — Psychologie — Ästhetik kann hier nicht eingegangen werden, ebensowenig auf den Zusammenhang zwischen Nietzsches ästhetischer Theorie und den ähnlichen Theorien der Frankfurter Schule.
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2. Die negativ bewertete künftige Perfektion gegenwärtiger Gesellschaft als totale Gleichschaltung aller Menschen in einem erdumfassenden Apparat technischer und sozialtechnischer (bürokratischer) Beherrschung außermenschlicher und menschlicher Natur: Nietzsches „Herde" des „letzten Menschen", Horkheimer/Adornos „verwaltete Welt", die endgültige Fixierung von Marcuses „eindimensionalem Menschen". 3. Die besonders utopische Vorstellung einer Gemeinschaft autonomer Individuen, die bei perfekter, gesellschaftlich garantierter Bedürfnisbefriedigung und weitgehender Abschaffung von Leid in freier Harmonie mit ihrer eigenen sowie der außermenschlichen Natur leben: Die Sozialutopie der Frankfurter Schule, die Nietzsches, Marxens, Max Webers, Freuds und anderer Kritik an den gegenwärtigen Tendenzen zur Ubergesellschaft in einen idealen Begriff von Sozialismus zu integrieren versucht. Dieser wird jedoch als solcher nicht expliziert, sondern ist nur das zur okkulten Theologie einerseits, zur ästhetischen Theorie andererseits verschwimmende Fundament der Kritik. Die im dritten Begriff der Ubergesellschaft angestrebte Synthese von Marx und Nietzsche, an deren Schwierigkeit offenbar schon andere gescheitert sind 73 , ist nach Nietzsche unmöglich. O b sie tatsächlich unmöglich ist, muß dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall ist Nietzsches kritische Theorie geeignet, eine prinzipielle Skepsis gegenüber der gegenwärtigen Gesellschaft und ihren Tendenzen zur Ubergesellschaft zu nähren. O b seine Ansätze zu einer Alternativkonzeption (über Ansätze ist er sicher nicht hinausgekommen) als solche realistisch sind oder wenigstens als Korrektur gegenwärtig herrschender Tendenzen, wird die weitere Entwicklung zeigen. Unklar bleibt bei Nietzsche vor allem die Seite der politisch-ökonomischen Organisation der von ihm propagierten neuen Aristokratie. Wo der Marxismus konkret wird, bleiben sowohl Nietzsche wie die Kritische Theorie vage. Doch hat Nietzsches kritische Theorie durch die Autoren der Frankfurter Schule in einer bestimmten Richtung eine zeitgemäß variierte Entfaltung und Konkretisierung erfahren: Sie haben die fundamentale Bedeutung wissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung für alle Bereiche menschlicher Praxis in den Vordergrund gerückt. Nach der von ihnen entwickelten Dialektik der Aufklärung dürfte klar sein, daß eine in der bisherigen Richtung weiterlaufende Expansion dieser Kräfte, also eine Ubergesellschaft als perfekter Naturbeherrschungsapparat, nicht nur „die Freiheit samt dem Sozialismus" absorbieren würde 7 4 , sondern auch jede Verwirklichungschance 73
74
Dazu sehr aufschlußreich die Biographie Jack Londons, etwa in der Darstellung T. Aycks: Jack London, Reinbek 1976, vgl. insbes. S. 109f. S. o., Anm. 69.
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für Nietzsches Ubermenschen und neue Aristokratie. Dabei bleibt jedoch die Frage offen, welche Änderung menschlicher Grundeinstellungen eher in der Lage sein könnte, jenes eigengesetzlich expandierenden Expansionsprozesses Herr zu werden: eher die Ausrichtung auf Nietzsches Übermenschen oder aber auf die neomarxistische Übergesellschaft? Der Neomarxismus der Frankfurter Schule hat versucht, den alten Marxismus durch Übernahme einiger Nietzsche-Perspektiven den anstehenden Problemen angemessener zu machen, — und wurde dadurch in sich widersprüchlich. Umgekehrt könnte man versuchen, den von Nietzsche angedeuteten Lösungsvorschlag durch Übernahme einiger Züge des Marxismus und Neomarxismus zu verbessern. Zu den Merkmalen, die Nietzsche für die von ihm propagierte neue, künftige Aristokratie fordert, müßten dann mindestens zwei weitere kommen: 1. auch Fähigkeiten zur technokratischen Meisterung der politisch-ökonomischen Organisationsprobleme einer künftigen Gesellschaft; 2. eine Unterordnung dieser Fähigkeiten unter Gesichtspunkte eines harmonischen Verhältnisses der Menschen zu ihrer eigenen sowie zur außermenschlichen Natur: sinnliche und ökologische Vorbildlichkeit des „Ubermenschen", der neuen Aristokratie.
Diskussion Taureck: Sind Sie der Ansicht, Herr Maurer, daß Nietzsches späte Vorstellung eines philosophischen Herrschers von dem Philosophenkönig Piatons wesentlich abweicht? Ich sehe hier eine erhebliche Abweichung. Der Herrscher in Piatons Sinn ist dadurch ausgezeichnet, daß er noch etwas Höheres als Herrschaft kennt. Für die Philosophenkönige gibt es noch ein besseres Leben als das Herrschen, heißt es in der Politeia. 1 Für die meisten dagegen ist die Macht im Staat das Höchste. Nietzsche kommt über die Meinung der Vielen eigentlich nicht hinaus, denn er kann ein über der Macht stehendes Gut nicht anerkennen, solange er den Willen zur Macht als das eigentlich Bestimmende behauptet. Damit aber, so denke ich, gewinnt er keinen Stand außerhalb einer Ideologie. Dann habe ich noch eine Frage zu einem ganz anderen Aspekt Ihres Vortrags: Jene „Dialektik der Aufklärung" —, wird sie nicht äußerlich an Nietzsche herangetragen? So jedenfalls scheint es in dem Buch von Röttges geschehen. 2 Der Vorgang einer Umkehrung von Idealen der Aufklärung ist ja bereits in Hegels Phänomenologie des Geistes beschrieben. Von dort scheinen ihn auch Horkheimer und Adorno aufzunehmen. Nietzsche spielt in der Tradition einer dialektischen Auffassung eines Umschlagens der Aufklärung aber doch keine Rolle. Er spricht erstens nicht von Dialektik und zweitens hat er eine ganz andere Haltung zu den Ideen der Aufklärung. Sie sind für ihn von vornherein nichtig. 3 Maurer: Mir scheint, daß Nietzsches Differenz zu Piaton noch grundsätzlicher ist, als Sie annehmen, Herr Taureck: Nach Nietzsche gibt es keinen Stand außerhalb einer Ideologie. Darum gibt es nach ihm ja auch keine Moral, keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen, die nach der jeweils zugrundeliegenden partikularen Perspektive verschieden und veränderlich ist. Dasselbe gilt für die Erkenntnis und ihre Wahrheit. Auch sie ist stets von einem bestimmten Machtwillen aus perspektivistisch. Die höchste Möglichkeit ist nach Nietzsche nicht ein Stand außerhalb einer Ideologie, sondern die Anerkennung der vielen möglichen und 1 2 3
Vgl. Piaton, Politeia 521 a/b. Heinz Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung. Berlin/New Y o r k 1972. Genauer hierzu: B. Taureck, Nietzsches Erhellung der Aufklärung. In: Wiener JB f. Philosophie XIII, 1980.
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wirklichen Perspektiven und der auf ihrer Basis konstruierten Ideologien: Gerechtigkeit als der Sinn für „viele Für und Wider", als „Begreifen jenseits des Gut- und Böseschätzens"4. Nietzsche hat durchaus die Gefahr gesehen, daß das Fehlen eines „idealistischen" oder „metaphysischen" Standpunktes über den Gegensätzen und Widersprüchen zu einem prinzipiellen Relativismus und Nihilismus führt. In der Gefahr stehen wir. Nietzsche selber ist ihr geradezu erlegen. Das von ihm postulierte Ja-Sagen zu dieser Sinnlosigkeit oder trotz ihr, war ihm existentiell nur im Wahnsinn möglich. Und nach seiner Theorie darf man auch nicht mehr erwarten als den „hohen Zufall" von „großen Augenblicken grandiosen Zusammenklangs"5, wenn die coincidentia oppositorum in einem Standpunkt über den Machtwillen nicht mehr metaphysisch-theologisch garantiert ist. Nach Nietzsche war es eine platonisch-christliche Scheingarantie. Der Titel des Buches von Röttges scheint mir irreführend zu sein. Es handelt kaum von Nietzsche und der Dialektik der Aufklärung, so wie die „Frankfurter Schule" diese verstand. Daß dieses Problem aber nicht äußerlich an Nietzsche herangetragen zu werden braucht, sondern ein fruchtbarer Interpretationsgesichtspunkt für seine Philosophie ist, weil es in ihr steckt, glaube ich aufgezeigt zu haben. Wenn man freilich meint, die Dialektik der Aufklärung sei eine (von außen herangetragene) „Verkehrung von Idealen der Aufklärung" und weiter meint, die Ideen der Aufklärung seien für Nietzsche von vornherein nichtig, dann kann man in der Tat bei ihm keine Dialektik der Aufklärung ausmachen. Gründer: Man kann heute voraussetzen, daß die literarische und philosophische Verbindung zwischen Nietzsche und der Kritischen Theorie nicht mehr in Zweifel steht. Daß die führenden Köpfe der Frankfurter Schule Nietzsche gelesen haben, ist selbstverständlich und offenkundig. Nietzsche gehörte in den zwanziger und dreißiger Jahren zum intellektuellen Klima. Erst nach dem Nazismus und nach Lukäcs' Nietzsche-Buch ist die Verbindung zum wirklichen Problem geworden. Eine interessante Differenz zwischen Nietzsche und der Kritischen Theorie scheint mir darin zu liegen, daß Nietzsche das Archaische gegenüber dem Klassischen betont, die Dialektik der Aufklärung dagegen alles Archaische mit dem Schrecklichen gleichsetzt. Das Archaisieren erscheint ihr als eine geschichtliche Regression. Wo Nietzsche die Kraft des Neuen vermuten würde, sehen Horkheimer und Adorno nur Verfall.
4
KGW VII 2, 180.
5
ebenda.
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Bei einem Vergleich Nietzsche—Adorno muß man auch auf Ähnlichkeiten in der literarischen Form achten. Insbesondere die Minima Moralia weisen viele Entsprechungen zu den Aphorismen aus Nietzsches mittlerer Periode auf. Behler: Ich habe eine Frage, Herr Maurer, in bezug auf die von Ihnen mit Recht betonte Bedeutung Nietzsches für die Kritik des technisch begründeten Sozialismus und Humanismus. Nun sind viele Nietzscheinterpreten bekanntlich der Meinung, daß Nietzsche mit der Idee des Ubermenschen ebenfalls utopisch denkt oder jedenfalls zu utopischem Denken neigt. Einige Kritiker haben sogar die Auffassung vertreten, daß sich hier eventuell „Anknüpfungspunkte" für das Thema Marx und Nietzsche ergeben könnten. Ich möchte Sie deshalb gern fragen, wie Sie diese Verhältnisse sehen und wie Sie die Unterschiede zwischen diesen beiden Denkweisen spezifizieren würden. Da sowohl Marx als auch Nietzsche mit ihren Konzeptionen des neuen Menschen und des Ubermenschen häufig als Fortsetzer der humanistischen Tradition der deutschen Klassik und des Idealismus (Lessing, Schiller, etc.) angesehen werden, wäre ich Ihnen dankbar, wenn sie auch diesen humanistischen Aspekt im utopischen Denken bei Ihrer Antwort berücksichtigen würden. Maurer: Zunächst einmal scheint bei Nietzsche, anders als bei den Autoren der Frankfurter Schule, technische Naturbeherrschung ein bloßes Mittel zu sein, das je nach dem Zweck, dem es dient, positiv oder negativ zu bewerten ist: positiv, wenn es dem „Ubermenschen", negativ, wenn es dem „letzten Menschen" dient. Als Mittel der Vermehrung von Macht kann die Technik kaum von einer solchen Philosophie kritisiert werden, nach der expansive Machtwillen die Grunddynamik der Wirklichkeit ausmachen. Jedoch verstärkt sich gerade beim späten Nietzsche die Tendenz, moderne Wissenschaftlichkeit eng verbunden mit moderner Technizität nicht als neutrales Mittel beliebiger Machtwillen zu verstehen, sondern sie dem „kranken" Machtwillen des letzten Menschen zuzuordnen. Nicht zuletzt moderne Wissenschaft und Technik haben es ermöglicht, daß die vielen Schwachen gegen die höheren Möglichkeiten des Menschen sich im Namen einer (nach unten nivellierenden) Gleichheit erfolgreich zusammenschließen konnten. Resultat: ein christlich-demokratisch-sozialistisch-wissenschaftlich-technisches Machtkartell, eben die moderne Gesellschaft, die welthistorisch zunächst einmal gesiegt hat. Gerade dadurch besteht laut Nietzsche die Gefahr eines Niedergangs der Menschheit in planetarischem Maßstab. Nietzsche tendiert also ähnlich wie die interessantesten Strömungen des Marxismus dazu, die moderne Wissenschaft und Technik auf einen bestimmten gesellschaftlichen Entwurf hin zu relativieren. So wie jene Strömungen des
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Marxismus, vor allem des Neomarxismus (z. B. H. Marcuse, E. Bloch), von einer „bürgerlichen" Wissenschaft und Technik sprechen, die im wahren Sozialismus ihre negativen Seiten verlieren würde, so könnte Nietzsche von einer christlich-demokratisch-sozialistischen Wissenschaft und Technik sprechen. Nur daß eben aus Nietzsches Perspektive sowohl der reale wie der wahre Sozialismus nur übergesellschaftliche Verlängerungen der bürgerlichen Gesellschaft sind. In Sachen technischer Naturbeherrschung ist das gerade vom Neomarxismus (im Anschluß an Heidegger) herausgearbeitet worden, ohne daß damit jedoch die neomarxistische Zielvorstellung (Utopie) einer Übergesellschaft eine wirkliche Alternative zu derjenigen bürgerlichen und realsozialistischen Ubergesellschaft darstellt, die sich aus einer Perfektion der gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen Gesellschaft oder Zivilisation ergeben würde. In dieser Hinsicht entwickelt Nietzsches aristokratischer Individualismus Ansätze einer wirklich alternativen Utopie, d. h. eines welthistorischen Zielbildes. Wenn ich von der Utopie des technischen Humanismus spreche, so ist damit eine Position gemeint, die den Menschen primär als Bedürfnisnatur auffaßt, die durch Perfektion technischer Naturbeherrschung endgeschichtlich zu befriedigen ist. Es ist also die gegenwärtig herrschende Utopie einer Ubergesellschaft als Perfektion längst wirksam gewordener Tendenzen. Dagegen suchen — teils übereinstimmend, teils verschieden — Nietzsche und die Kritische Theorie nach Alternativen, wobei Nietzsche grundsätzlicher, kritischer ansetzt. Sicher bestehen auch Verbindungen zwischen dem technischen Humanismus und der humanistischen Tradition der deutschen Klassik und des Idealismus, die wiederum noch ältere Wurzeln hat. Aber in entscheidender Hinsicht ist jener ältere, „idealistische", zumindest in Resten metaphysische Humanismus vom technischen Humanismus verschieden. Er begreift den Menschen nicht allein oder primär als Bedürfnisnatur, die sich durch technische Unterwerfung aller sonstigen Natur endgeschichtlich vollenden könne. Er ist insofern noch vortechnisch, als technische Naturbeherrschung für ihn noch nicht das ausschlaggebende Medium menschlicher Vollendung, eines gesamtgesellschaftlich-eschatologischen Heils bedeutet. Glaubte er doch großenteils noch an individuelle Vervollkommnung durch geistig-moralische Anstrengung. Müller-Lauter: Der Hinweis von Herrn Gründer darauf, daß Nietzsche zum geistigen Klima der Zeit gehört habe, als sich die Frankfurter Schule bildete, ist wichtig. Man kann von daher die relative Selbstverständlichkeit', mit der Nietzsche von Horkheimer und Adorno aufgenommen wurde, verstehen und wird — mit Gründer — auch die Rezeption von Formalem durch Adorno noch von jenem Klimatischen her deuten können. Freilich kann der Hinweis
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auf dieses Allgemeine für die differenzierenden Fragen nicht genügen. Was wurde von Nietzsche aufgenommen? Was blieb unberücksichtigt? Wurde Nietzsche von den Repräsentanten der Kritischen Theorie wirklich , eingeholt' oder sind diese hinter jenem zurückgefallen? Herr Maurer bejaht das letztere. Was er in der Erläuterung seiner Thesen vorgetragen hat, hat mich weitgehend überzeugt. Daß in einem Kurzreferat nicht alle Aspekte eines so komplexen Zusammenhanges zur Sprache kommen konnten, versteht sich von selbst. So beschäftigt mich seine Gegenüberstellung der Begriffe des Ubermenschen und der Ubergesellschaft. Auch ich finde in beiden Bestimmungen Momente des Utopischen — als charakteristische Erscheinungen eines Philosophierens ,nach dem Tode Gottes'. Geht man ins Detail, so wird man natürlich mancherlei Unterschiede finden. Die Schwierigkeiten beginnen ja schon damit, daß Nietzsche durchaus nicht eindeutig vom Ubermenschen spricht. Maurer: Sicher ist Nietzsches Rede vom „Ubermenschen" nicht eindeutig. Doch scheinen mir eindeutig zweierlei Absichten hinter diesem Reizwort zu stehen: 1. die Suche nach einer radikalen Alternative zu gegenwärtig vorherrschenden Vorstellungen von dem, was der Mensch ist und sein könnte oder sollte, eben die Suche nach einer Alternative zur Gesellschaft und Ubergesellschaft; 2. eine gewisse Anknüpfung an historisch gewordene aristokratische Ideale. Nietzsches Bemerkungen über eine neue Aristokratie sind vage genug. Dennoch scheint mir auch hier eindeutig festzustehen, daß sie von alten, historisch bekannten Aristokratien recht verschieden sein würde. Die Leiderfahrungen und die daraus erwachsene Klugheit der vereinigten Schwachen, die nach christlicher Vorbereitung in Demokratie und Sozialismus zumindest ideologisch zur welthistorischen Herrschaft gelangt sind, müßten in die neue Aristokratie als konstitutive Momente eingehen. (Diese Ideologie [Altruismus als Solidarität der Schwachen, Gleichheits-Mitleids-Moral, Humanitarismus] kann übrigens die faktische Herrschaft von gar nicht aristokratischen Oligarchien verschleiern oder heuchlerisch rechtfertigen.) Desgleichen gehört zu Nietzsches neuer Aristokratie die pluralistische Gerechtigkeit, die moderner Kompliziertheit entspricht6. Die metaphorische Rede vom „intellektuellen Klima" in den zwanziger und dreißiger Jahren, zu dem Nietzsche gehörte, ist sicher zutreffend. Doch gilt es, diese Metapher mit philosophischer Problematik zu erfüllen. Der Komplex Dialektik der Aufklärung dürfte besonders geeignet sein, das zwischen Nietzsche und der Kritischen Theorie liegende Spannungsfeld philosophisch zu erschließen. 6
Vgl. z . B . J G B 186, 215, 260.
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Abel: Im Zusammenhang dessen, was Herr Maurer unter den Punkten drei und vier ausgeführt hat, und zu Herrn Gründers Bemerkung, daß Nietzsche einfach zum Klima der Kritischen Theorie gehört, und daß auch Habermas in der von ihm mit einem Nachwort versehenen Anthologie 7 diesem Umstand Ausdruck gegeben habe, möchte ich auf die innere Grenzlinie zwischen Anknüpfung und Herausforderung im Verhältnis Kritische Theorie und Nietzsche hinweisen. Verdeutlichen kann man dies am Beispiel Habermas. In Sachen , Kritik' sind dabei zunächst zwei Aspekte zu nennen, die in einer gewissen Nähe zu Nietzsche gesehen werden können. Zum einen (a) entsteht für das als Ideologiekritik aufgefaßte Prinzip ,Kritik' von dem Augenblick an eine folgenreiche Schwierigkeit, wo diese nicht einfach mehr im Sinne der alten Ideologiekritik, d. h. als Kritik der Wirklichkeit am Maßstabe ihrer eigenen Ansprüche, geführt werden kann, sondern sich gegen ein technokratisches' Bewußtsein stellen muß, welches auf sog. Sach- und Systemzwänge zurückgreift und sich so auf eine Weise zu legitimieren sucht, welche die Differenz von ,Praxis' und ,Technik' selbst verschwinden läßt. Habermas hat diesen Punkt und die mit ihm verbundene Wirkungslosigkeit des alten Konzeptes der Ideologiekritik deutlich gesehen. Erfordert ist von daher eine tiefergehende Anstrengung, eine Rückbindung nämlich an diejenigen Fundamentalinteressen, die an den Bedingungen der Reproduktion des Lebens selbst haften. Dies sind für Habermas die drei Interessen an technischer Verfügung, an intersubjektiver Verständigung und an Emanzipation. Entscheidend ist nun, daß hier der ,Selbst-Reflexion' die grundlegendste Bedeutung zukommt. Ich erinnere an die Kernformulierung von Habermas: „In der Kraft der Selbstreflexion sind Erkenntnis und Interesse eins". 8 Zum anderen (b) aber ist damit immer noch die (etwa auch von Adorno gesehene) Gefahr gegeben, daß die in Kritik übergegangene Philosophie jetzt bloß noch eine leere Selbstreflexion sein könnte. Zur Abwehr dieser Gefahr ist Habermas in seinem Kritikbegriff einen entscheidenden Schritt über die Frankfurter Schule hinausgegangen. Habermas glaubt, daß sich der philosophische Gedanke, im Vollzuge der .Kritik', eine neue Dimension, diejenige nämlich einer ,Wissenschaftsphilosophie', erschlossen hat. Für diese ist u. a. die Rückbindung des technischen Verfügungswissens an die Verständigungspraxis miteinander kommunizierender Menschen charakteristisch. Wichtig scheint mir nun zu sein, daß die Herausforderung Nietzsche genau dort in aller Schärfe auf den Plan tritt, wo das Dilemma der Ideologiekritik durch einen Rekurs auf Selbstreflexion und Wissenschaftsphilosophie überwunden zu sein scheint. Daß Nietzsche auf der jetzt erreichten Ebene er7 8
Friedrich Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, Frankfurt/M. 1968. Technik und Wissenschaft als Ideologie'. Frankfurt 1973, 164.
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neut unbequem zu werden vermag, läßt sich an der Stellung Habermas' zu Nietzsche ablesen. Auf der einen Seite soll Nietzsche heute „nichts Ansteckendes" mehr haben. Auf der anderen Seite aber zeigt Nietzsches Ideologiekritik eine Radikalität, von deren Maßstäben und Konsequenzen immer noch etwas Bestürzendes ausgeht. Hinweisen möchte ich hier lediglich auf zwei zentrale Punkte. Erstens auf die Frage nach der Bedeutung der Reflexion, zweitens auf den problematischen Zusammenhang zwischen dem Perspektivismus und einem veränderten Begriff des Transzendentalen. Die mit Nietzsche verbundene Herausforderung besteht darin, daß, wie Habermas kritisch verstanden wissen möchte, Nietzsche sich zwar als Meister der Reflexion erweist, sich gleichwohl aber der (für Habermas' eigenes Anliegen so wichtigen) Kraft der Reflexion nicht überläßt. Dies ist die Pointe der Stellung Habermas' zu Nietzsche. Doch ist gegenüber Habermas zu betonen, daß Nietzsche für seine Haltung gute Gründe vorzubringen hat. Es ist ja nicht so, daß, wie Habermas behauptet, Nietzsche die Reflexion nicht wahrhaben darf. Vielmehr vermag er nach Maßgabe und am ,Leitfaden des Leibes', der für Nietzsche als die „große Vernunft" gilt, die innere Grenze der Reflexion selbst in den Blick zu bringen und so den mit der Selbstreflexion verbundenen Lockungen und Gefahren selbstbespiegelnder Uberschätzung und Uberbürdung nicht zu erliegen. Das Bohrende von Nietzsches Denken läßt sich hier etwa in die Frage der Fröhlichen Wissenschaft bringen: ,,,Wozu' überhaupt Bewußtsein, wenn es in der Hauptsache ,überflüssig' ist?" 9 Was den zweiten Aspekt, d. h. das Verhältnis von Perspektivismus und Transzendentalem, betrifft, so ist bei Nietzsche die weder bloß subjektivistische noch bloß naturalistische Perspektiven- und Interpretationslehre an die Stelle der transzendentalen Apparatur Kantischer Prägung, mithin an die Stelle der in Kantischer Sicht als apriorisch gültigen Bedingungen möglicher Objektivität der Erkenntnis getreten. Die Herausforderung besteht hier, wie Habermas selbst gesehen hat, darin, daß im Gefolge von Nietzsches Ansicht, es gäbe keinen ,Text', sondern nur Interpretationen', nicht nur die mögliche Objektivität von Erkenntnis, sondern überhaupt die Möglichkeit einer Unterscheidung von ,Natur' und ,Schein', und von daher auch die Vereinbarkeit von schematisierender ,Wissenschaft' und ,Reflexion', in Frage gestellt wird. Damit aber läßt sich von Nietzsche her gerade dasjenige in Frage stellen, was aus dem Dilemma der Kritischen Theorie (Kritik nämlich nicht mehr im Sinne der alten Ideologiekritik führen zu können, Kritik aber nach wie vor als oberstes Prinzip, in das die Philosophie ,als* Philosophie übergegangen ist, anzusetzen und dabei gleichwohl nicht in bloß leerer Selbstreflexion enden zu müssen) herausführen soll. Wenn Nietzsche also, und hier wie an vielen anderen Punk9
Vgl. F W 354.
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ten kann die Kritische Theorie an ihn anknüpfen, alle ,reine Theoria' als ,Schein' dechiffriert, der seinerseits bereits genealogischer Ausdruck einer in sich selbst verkehrten Lebenspraxis ist, so bedeutet dies eben noch keineswegs, daß Nietzsches Denken nicht auch für die Kritische Theorie und für Habermas etwa in Sachen Kritik, Wissenschaft und Reflexion erneut zur Herausforderung zu werden vermag. Es scheint mir wichtig, diese innere Grenze von Aneignung und Herausforderung deutlich zu markieren. Dies ist von systematischem Interesse und noch zu unterscheiden sowohl von der Frage nach dem historischen Bezug als auch nach dem Selbstverständnis der Kritischen Theorie in ihrem Verhältnis zu Nietzsche. Maurer: Ich danke für Herrn Abels Unterstützung meiner These, daß Nietzsches kritische Theorie in wesentlicher Hinsicht kritischer ist als „die" Kritische Theorie, auch als Habermas, wenn man ihn dazu zählt. Gerhardt: Die dreißiger Jahre haben für die europäische Intelligenz gewiß eine geistig-moralische Erschütterung gebracht. Man war durch hellsichtige Prognosen und deutliche Vorzeichen gewarnt, die Krise der geistigen Situation der Zeit war durch Jaspers und andere schon Ende der zwanziger Jahre diagnostiziert. Aber die weltweite ökonomische Krise, die keineswegs bloß auf Deutschland beschränkte Gefährdung der Liberalität, die Etablierung der faschistischen Diktaturen auf der einen und der stalinistischen Tyrannei auf der anderen Seite sowie die Verfolgung der Juden haben in der Mitte der dreißiger Jahre die Hinfälligkeit sowohl der bürgerlichen Ideale wie auch der sozialistischen Ziele existentiell erfahren lassen. Das Jahr 1935 hat deshalb gewiß die Bedeutung eines Wendepunktes. Es mag sein, daß diese Erfahrungen auch die Lektüre Nietzsches stimuliert haben, vielleicht sogar auch bei einigen Marxisten. Ich habe dafür bisher allerdings wenig Anhaltspunkte gefunden. Deshalb möchte ich Ihrer These, Herr Maurer, von der „Durchkreuzung" des Neomarxismus durch Perspektiven Nietzsches gerade in jener Zeit widersprechen. Ich meine, weder die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno noch Adornos Minima Moralia, die ja wohl die ersten Folgen der intensiveren Auseinandersetzung mit Nietzsche zeitigen müßten, lassen einen wesentlichen Einfluß Nietzsches erkennen. Die Kritische Theorie hat — im Vergleich zu den programmatischen Schriften Horkheimers aus den zwanziger Jahren — ihren aufklärerischen Optimismus verloren. Geblieben ist ein zur „Versöhnung" spiritualisierter Utopieentwurf und die unnachsichtige Resistenz gegen „Anpassung" aller Art, selbst noch gegen die an das Leben. Sucht man nach Begründungen, dann stößt man einerseits auf die nunmehr bis hin zu Freud verlängerte aufklärerische Uberlieferung, auf Bruchstücke der politischen Ökonomie und, was noch am meisten für diese Arbeiten spricht,
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auf Erfahrungen, für die hier einmal die Namen Auschwitz, Moskau und New York stehen mögen; sie indizieren die Unentrinnbarkeit aus der Totalität der industriell gewordenen Herrschaft des Tauschprinzips. Diese Erfahrungen spiegelt Adorno im Medium einer an moderner Literatur (Proust) und Musik (Schoenberg, Webern) sensibilisierten Subjektivität. Später kommt vor allem der Einfluß Becketts hinzu. Nietzsche aber ist keine Instanz. Zwar wird er öfter erwähnt, aber man hat doch den starken Eindruck, daß Horkheimer und Adorno Nietzsche gar nicht ernsthaft an sich herankommen lassen. In den Minima Moralia sagt Adorno deutlich, wenn auch im Gewand eines ironischen Zitats, welcher Nietzsche ihm lieber ist: nicht der „unergründliche, unerschöpfbare Denker und Psycholog, der große Menschen-Späher und Lebens-Werter", sondern der „glänzende Dichter und sprachgewaltige Meister des Stils". 10 In den Augen Adornos ist Nietzsche ein scharfsinniger und brillanter Kritiker, im übrigen aber ein fehlgeleiteter und durch die Geschichte belasteter Autor. Man denkt im „intellektuellen Klima" Nietzsches, übernimmt aber nichts von seiner philosophischen Substanz. So ist es, meiner Ansicht nach, bis in Adornos Spätwerk geblieben. Welche für Nietzsches Denken wesentliche Erkenntnis fände sich an entscheidender Stelle der Schriften Adornos wieder? Die immer variierte Absage an Macht und Herrschaft bringt ihn in diametralen Gegensatz zur Lehre vom Willen zur Macht; seine Insistenz auf Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit zeigt keine Spur des Gedankens der ewigen Wiederkunft; seine Suche nach dem Wahrheitsgehalt des Kunstwerks scheint von Nietzsches Wahrheitskritik unberührt; seine metaphysische Koketterie mit der Verzweiflung hat vom amor fati nichts angenommen; das Beharren auf der utopischen Idee der Versöhnung kann ich ebenfalls nur als Gegenposition zu Nietzsches These über den notwendigen Zusammenhang von Lust und Leid verstehen. Oder — um etwas ganz anderes zu nennen: Auch Nietzsche spricht von einem „Bruch mit allem Bestehenden", aber der folgt keiner „Dialektik". Das zähle ich nicht auf, um Adorno gegenüber Nietzsche ins Unrecht zu setzen oder um ihm den Vorwurf zu machen, er habe zu wenig von Nietzsche gelernt. Ich will nur illustrieren, in welchen wesentlichen Punkten er von Nietzsche gewiß nichts übernommen hat. Sie haben nun, Herr Maurer, auf eine mögliche Parallele hingewiesen: auf die Entsprechung von „Ubermensch" und „Ubergesellschaft". Das ist eine interessante Pointe, durch die eine wesentliche thematische Akzentverschiebung zwischen Nietzsche und der Frankfurter Schule deutlich wird. Aber ist die Parallelisierung auch philosophisch ernst gemeint? Ich sehe nämlich keine begriffliche Entsprechung. Nietzsche will über den Menschen hinaus. Will 10
T . W . A d o r n o , Minima Moralia, A p h . 133 (Frankfurt 1951).
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denn die kritische Theorie in analoger Weise über die Gesellschaft hinaus? In ihrer „revolutionären" Programmatik per se nicht; hier bleibt sie entschieden den gesellschaftlichen Bedingungen verpflichtet. Allenfalls der Ort-Nirgendwo der „Versöhnung" wäre jenseits der Trennung von Natur und Gesellschaft. Aber wäre er „Uber-Gesellschaft" im Sinne eines „Uber-die-Gesellschaft-hinaus", zu dem die Gesellschaft nur „Brücke" wäre — so wie der Mensch nur Brücke zum Übermenschen ist? Man muß doch im Auge behalten, daß Nietzsche den strikten Gegentypus eines Utopisten repräsentiert. Der Übermensch ist kein utopischer Begriff, sondern er dient zur Destruktion des Vertrauens auf die bloße Faktizität des menschlichen Geschlechts und skizziert nur die Methode eines Ubertritts in einen Zustand, der den Namen Zukunft verdient. Das Moment der Methode ist deshalb zu betonen, weil die Bedeutung des künftigen Zustands allein in der Konsequenz liegt, die man jetzt, im Augenblick, aus ihm zieht. Der Begriff des Übermenschen symbolisiert die Frage nach dem Sinn des Menschen — nicht des Menschen der Gegenwart, sondern des Menschen überhaupt. Ist eine analoge Frage: „Wozu Gesellschaft?" in der Kritischen Theorie überhaupt denkbar? Abschließend möchte ich nur eine Einschränkung ins Bewußtsein heben, die im Vortrag legitimerweise gemacht worden ist: Die Darstellung bezieht sich nur auf die gesellschaftstheoretischen Aspekte der Kritischen Theorie und folgt damit wohl auch dem Selbstverständnis dieser Theorie. Man muß aber, um den Vergleich nicht einseitig werden zu lassen, betonen, daß sich keiner der Vertreter der Kritischen Theorie aus dieser Sicht vollständig präsentiert. Horkheimer, Marcuse, Adorno und, wenn ich den noch hinzusetzen darf, Benjamin sind immer auch Theoretiker der Geschichte, der Kultur, der Kunst der Wissenschaft usw. Adorno löst sich in der Nachfolge Kierkegaards und Benjamins und mit im Spätwerk immer deutlicher werdenden Rückgriffen auf Kant und Hegel am weitesten von der Sozialphilosophie, so sehr das Grundmotiv der Befreiung ihn auch immer auf die Gesellschaft zurückführt. Er nähert sich damit auch immer deutlicher den Themen Nietzsches. Insbesondere in der These von der Vergänglichkeit des Kunstwerks zeigt sich eine andere Stellung zu Augenblick und Tod; Adorno scheint mir hier Einsichten Nietzsches wirklich nahe zu kommen. Um also die Verbindungslinien zwischen Nietzsche und der Kritischen Theorie im einzelnen zu ermitteln, müßte man sowohl die jeweiligen Theoretiker gesondert betrachten wie auch den ganzen Radius ihres Denkens ausmessen. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis Nietzsche—Adorno. Das Werk beider Philosophen stammt aus einem künstlerischen Impuls, der aber nur in der Theorie adäquaten Ausdruck findet. Beide treiben den Prozeß der Kritik bis an die Grenze des überhaupt noch Sagbaren. Und beider Denken bewegt sich in einer unausgeglichenen Spannung zwischen Ästhetik und Metaphysik. Erst wenn man diese einmalige
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theoriegeschichtliche Konstellation herausgearbeitet hat, wird man sehen, welcher Gegensatz hier im Gemeinsamen herrscht. Maurer: Nicht erst das Jahr 1935 hat die Autoren der Frankfurter Schule zur Nietzsche-Lektüre stimuliert. Außerdem gehörte Nietzsche in der Tat — worauf Herr Gründer hingewiesen hat — zum „geistigen Klima der Zeit", in dem sie aufgewachsen sind. Aber das Jahr 1935 scheint Problemerfahrungen eröffnet zu haben, die jene Autoren dahin brachten, Nietzsches Problematik besser zu begreifen, — gleich ob sie darüber reflektierten, oder nicht. Mir scheint, daß Sie, Herr Gerhardt, über einigen Nebenproblemen das Hauptproblem gar nicht in den Blick bekommen: daß nämlich Nietzsche, wie die Frankfurter Schule (und diese offenbar in Kenntnis Nietzsches), wesentliche Erscheinungen ihrer Zeit, die auch noch die unsere ist, als Selbstzerstörung der Aufklärung begreifen. Was in diesem Zusammenhang „Dialektik" heißt, darüber kann man streiten. Ich meine damit die philosophische Reflexion dieser Selbstzerstörung durch immanente Gegensätze und Widersprüche. Nietzsche reflektiert sie vor allem erkenntnistheoretisch und moralphilosophisch als konsequente Ideologiekritik, die auch noch ihre eigene wissenschaftliche und moralische Basis angreift, von der aus sie kritisieren könnte. Die Frankfurter Schule reflektiert sie vor allem gesellschaftsphilosophisch, indem sie die Selbstzerstörung der in technisch-ökonomischer Naturbeherrschung angewandten Aufklärung behauptet und analysiert. Insofern ist die philosophische Substanz dieser beiden kritischen Theorien teilweise identisch. Ich habe gerade nicht behauptet, die Kritische Theorie wolle prinzipiell über „die Gesellschaft" hinaus. Zwar will sie über alle gegenwärtige Gesellschaft hinaus, aber auch die neomarxistische Utopie der Ubergesellschaft bleibt den marxistisch-materialistischen Vorstellungen von Gesellschaft verhaftet. Wieso ausgerechnet Nietzsches stark metaphorischer Begriff des Ubermenschen die „Methode" des Ubertritts zur Zukunft bezeichnen soll, ist mir unerfindlich. Nietzsches Ubermensch ist eine weltgeschichtliche Zielprojektion, die man durchaus mit seinen Bemerkungen über eine neue Aristokratie oder vielmehr über die Wichtigkeit einer aristokratischen Moral im pluralistischen Konzert der Moralen in Zusammenhang bringen darf. Er ist der bewußte Gegenentwurf zum christlich-demokratisch-sozialistischen „letzten Menschen" und „Herdentier". Insofern dieses „Ideal" oder Zielbild die moderne Gesellschaft bestimmt, ist Nietzsches Utopie antigesellschaftlich. In der Tat bin ich der Ansicht, daß die Gesellschaftsphilosophie im Zentrum der Kritischen Theorie steht. Doch sehe ich durchaus die Zusammenhänge mit Geschichts-, Kultur-, Kunst-, Wissenschafts-Philosophie. Was die Ästhetik (Kunstphilosophie) betrifft, so ist bei ihr die Gefahr, daß sie benutzt
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werden kann, um einigen konkreten Problemen davonzulaufen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn künstlerische Kreativität für die Lösung politischer, moralischer und anderer im weitesten Sinne gesellschaftlichen Probleme gehalten wird. Man sollte mit Hegel wissen, daß Kunst, zusammen mit Religion und Philosophie die Tendenz hat, die endliche Wirklichkeit, in der wir leben, zu transzendieren. Sie baut immer auch an einer anderen Welt, die keine künftig reale zu sein braucht. Darum rechnet er sie zum absoluten Geist, der vom objektiven und subjektiven verschieden ist, obwohl er mit ihnen zusammenhängt. Der jüngere Nietzsche hat sich in diesem Punkt von Richard Wagner benebeln lassen, was er später durchschaut hat. Bei einigen Autoren der Frankfurter Schule gibt es Anzeichen eines ähnlichen Eskapismus. Besonders schlimm, wenn man aus dem ästhetischen Nietzsche und aus der ästhetischen Seite der Kritischen Theorie eine vag „linke" ästhetische Ersatzreligion zusammenbraut, sie für politisch hält, und damit den bitteren Problemen, die der mittlere und späte Nietzsche aufwirft, zu entgehen glaubt. Ich will nicht sagen, daß Sie das tun, Herr Gerhardt. Aber eine gewisse Neigung in diese Richtung scheint mir erkennbar. Gerhardt: Sie haben mich nicht verstanden, Herr Maurer. Ich habe Ihre „Durchkreuzungsthese" mit einigen Fragezeichen versehen, an der philosophischen Fundierung der Parallele von „Ubermensch" und „Ubergesellschaft" gezweifelt und im übrigen darauf hingewiesen, daß man bei einem umfänglicheren Vergleich zwischen Nietzsche und der Kritischen Theorie die Ästhetik nicht vergessen darf. Bei alledem habe ich durchblicken lassen, daß ich bei Nietzsche ein größeres philosophisches Problembewußtsein vermute als bei Adorno. Eine Neigung zur „linken ästhetischen Ersatzreligion" vermag ich in diesen Einwänden und Ergänzungen nicht zu erkennen. Sachlich wichtig ist mir an Ihrer Antwort die Erläuterung zum Begriff des Ubermenschen. Sie sehen darin Nietzsches „welthistorische Zielprojektion", ich dagegen eher eine Absage an teleologische Geschichtskonzeptionen. Die grundsätzliche Opposition Nietzsches gegen das utopische Denken setzt ihn, so glaube ich, in einen fundamentalen Gegensatz zur Kritischen Theorie. Mein Eindruck ist, daß die Theoretiker der Frankfurter Schule diesen Gegensatz stets empfunden haben. Maurer: Am Ende habe ich Sie besser verstanden als Sie sich selbst, Herr Gerhardt. Die Grundtendenz Ihres ersten Votums bestimmt auch Ihr zweites. Zwar sind Sie kein Vertreter jener links-ästhetischen Ersatzreligion, für deren Zwecke Nietzsche heute gelegentlich mißbraucht wird. Doch haben Sie mit dieser Art Nietzsche-Verständnis gemeinsam, daß Sie Nietzsches Suche nach solchen Handlungszielen, die wirkliche Alternativen darstellen zu den heute
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herrschenden, ignorieren oder weginterpretieren. Ich verkenne nicht, daß Nietzsches Theorie eine starke ästhetische Komponente hat und daß es interessant wäre, deren Beziehung zu der ebenso starken ästhetischen Komponente der Kritischen Theorie darzustellen. Ich räume ein, daß ich mich demgegenüber auf den gesellschaftsphilosophischen Aspekt dieser Beziehung konzentriert habe. Gerade diese Akzentsetzung geschah jedoch bereits, um jenen Tendenzen zu einer einseitigen Ästhetisierung Nietzsches entgegenzuwirken und ihn als den praktischen Philosophen ernst zu nehmen, als den er sich ja wohl auch oder gar primär verstand. Die Ästhetisierung Nietzsches gehört zur Immunisierungsstrategie der Ubergesellschaft. Damit vor allem kann die Gesellschaftsideologie das praktisch Provokante und Anstößige seiner Philosophie entschärfen. Als praktischer Philosoph entwickelte Nietzsche übrigens keine gesamtteleologische Geschichtstheorie. Das habe ich nie behauptet. Doch ging es ihm gegen nihilistische Ziellosigkeit manifest um Handlungsziele für die nächste oder vielmehr übernächste Zukunft, wenn auch nicht um endgeschichtlichabsolute Zielutopien. Seine Utopien (im Sinne von weltgeschichtlichen Zielprojektionen), seine Rede vor allem vom „Ubermenschen" und von „neuer Aristokratie" sucht auch in diesem Punkt nach Alternativen zur chiliastischabsoluten Utopie, die nach ihm zur herrschenden Weltanschauung moderner Massenbewegungen gehört. Insofern steht sein „Ubermensch" gegen die „Ubergesellschaft". Nur wenn man den Namen „Utopie" auf jene endgeschichtlich-absoluten Zielbilder beschränken wollte, wäre es zutreffend zu sagen, Nietzsche habe keine Utopien oder Ansätze zu solchen entwickelt. Gegen die absolute Utopie, die ihm mit dem Anspruch der Moral (statt einer unter anderen) zusammenhängt, setzt er korrigierende, mittelfristige, durch die Skepsis der „ewigen Wiederkehr des Gleichen" und der notwendigen Perspektivik allen Lebens relativierte Ziele, die aber gerade als solche nicht schwächer, sondern stärker sein sollen als jene Fanatismen der endgeschichtlich befriedigten Gesellschaft, der menschheitsumfassenden großen „Herde". Salaquarda: In einer früheren Arbeit zum Thema haben Sie, Herr Maurer, von einer „Primärsphäre" gesprochen, auf die jede Ideologiekritik rekurrieren müsse. Auch in Monika Funkes Arbeit über Ideologiekritik und ihre Ideologie bei Nietzsche spielt dieses Problem eine Rolle, und ich bin in meinem Vortrag über Mythos bei Nietzsche darauf eingegangen. In den hier vorgetragenen Thesen ist das Problem eingeklammert — jedenfalls so weit es Nietzsche betrifft. Sie bescheinigen Nietzsche in These 6, er sei „kritischer" als die Frankfurter Schule, insofern er deren „Primärsphäre" (d. h. die „Ubergesellschaft", von der her sie argumentiert) in Frage stelle. Wie steht es aber mit Nietzsche selbst? Bleibt es bei der früher vorgetragenen Kritik?
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In Erläuterung von These 3 haben Sie, Herr Maurer, darauf hingewiesen, daß die „kritische Theorie", wie vor ihr Nietzsche, auf das eigentliche Problem der Aufklärung gestoßen sei: daß sich irrtümliche Voraussetzungen gattungsgeschichtlich bewährt haben und deswegen jetzt nicht beseitigt werden können, selbst wenn man ihre Irrtümlichkeit einsieht. Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn Magnus mit seiner Deutung der Wiederkunftslehre recht hat, dann spielt diese eine bedeutende Rolle im hier berührten Zusammenhang. Nietzsche hätte sie entworfen, um die „Wahrheit des Werdens" mit Hilfe des einverleibten Irrtums von der Ewigkeit zu befestigen, d. h. er habe mit ihr eine Konsequenz gezogen aus seiner „Aufklärung über die Aufklärung". Maurer: Insofern Nietzsche Dialektiker der Aufklärung und — bis zur Selbstzerstörung der Ideologiekritik — radikaler Ideologiekritiker ist, müßte er auch seine Lehre vom Übermenschen und andere positive Aspekte seiner praktischen Philosophie (z. B. die „große Vernunft des Leibes") als mögliche Basisideologien, von denen aus kritisiert werden könnte, destruieren. Doch scheint er mir eben in praktischer Hinsicht kein konsequenter Ideologiekritiker zu sein. Da besteht ein Bruch zwischen seiner theoretischen und seiner praktischen Philosophie, — es sei denn, der Ubermensch stehe ebensosehr im relativistischen Nihilismus wie er sich zugleich über die Widersprüchlichkeit des perspektivischen Schätzens erhebt. Wenn die „großen Augenblicke grandiosen Zusammenklangs" doch mehr sind als bloßer, gelegentlicher Zufall, dann ist der „weiseste Mensch . . . der reichste an Widersprüchen" und wird doch nicht von den Widersprüchen zerrissen; hält sie aus, ohne selber ideologischer Parteilichkeit einerseits oder totalem Skeptizismus andererseits zu verfallen. 11 Wenn das die wesentliche Bestimmung des Ubermenschen sein sollte: Wie findet er diese Mitte — außer durch „Zufall" und jeweils nur für kurze Zeit? Montinari: Das Wort Aufklärung hat bei Nietzsche von 1877/78 an eine durchaus positive Bedeutung. 1 2 Die Einschätzung der Aufklärung kommt noch deutlicher im Aphorismus 197 der Morgenröte zum Ausdruck. Er stellt hier bei den Deutschen einen Hang gegen die Aufklärung fest: die deutsche Philosophie ist in eine vorwissenschaftliche Art des Philosophierens zurückgefallen, angefangen mit Kant, welcher seinen Zweck darin sah, „dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine Grenzen wies". Historiker und Romantiker wandten sich der Volksseele, Volkssage, 11 12
Vgl. A C 54 und 55, sowie W. Müller-Lauter: Nietzsche, Berlin/New York 1971, 116ff. Vgl. dazu MA 26.
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dem Mittelalter, dem Orient zu. Auch die deutschen Naturforscher — schreibt Nietzsche weiter — revoltierten gegen Newton und Voltaire. Aus der Pietät gegen alles noch Bestehende wurde eine Pietät gegen Alles, was bestanden hatte, ein Cultus des Gefühls anstelle des Cultus der Vernunft behauptete sich, bis die Gefahr entstand, „die Erkenntnis unter das Gefühl hinabzudrücken". Diese Gefahr ist jedoch vorbei, meint Nietzsche. Warum? Weil die Historie „als reaktionäre Macht nach der Revolution aufgetreten" und als „Widerwille gegen die Vernunft" eine ungewollte Wirkung hervorgebracht hat 1 3 . Und im zitierten Aphorismus der Morgenröte: „die Historie [. . .] die neue erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntnis [. . .] haben eine andere Natur angenommen und fliegen mit den breitesten Flügeln an ihren alten Beschwörern vorüber und hinweg, als neue und stärkere Genien eben jener Aufklärung, wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen", und zwar, schließt Nietzsche ab, unbekümmert darum, daß es eine „große Revolution" und eine „große Reaktion" gegeben hat und gibt. Das Paar Revolution-Reaktion steht da als ein Negativum, das aus zwei Seiten, zwei sich ergänzenden Momenten (eben: Revolution und Reaktion) besteht. Die Revolution wurde — nach Nietzsche — als Folge der Aufklärung mißverstanden, und in diesem Mißverständis besteht die Reaktion. Maurer: Ich habe nie daran gezweifelt, daß Nietzsche — am direktesten in seiner mittleren Schaffensperiode — an die Aufklärung anknüpft und sie in gewisser Weise weiterführen will. Die gewisse Weise seiner Weiterführung ist jedoch wesentlich eine Überspitzung, eine Aufklärung der Aufklärung mit Tendenzen zur Selbstzersetzung des aufklärerischen Subjekts, sowie eine Aufklärung ihrer zum Teil gar nicht aufklärerischen, sondern neodogmatischen Folgen und somit ihres Verfalls in der Richtung der von ihm attackierten „modernen Ideen" (der Gleichheit und des ideologischen Altruismus des „Herdentiers"). „Dialektik der Aufklärung" ist nicht identisch mit deren Negation, sondern bedeutet: Entfaltung ihrer immanenten Widersprüche im Blick auf das, was tatsächlich aus ihr geworden ist. Ein wesentlicher Impuls dieser Dialektik kann daraus entstehen, daß eine Interpretation der ursprünglichen Intentionen der Aufklärung gegen ihre Folgen geltend gemacht wird. Das scheint mir sowohl bei Nietzsche wie bei der Kritischen Theorie der Fall zu sein. Die Frage, ob die in ihrem Selbstverständnis sich auf die Aufklärung berufenden politisch-sozialen Revolutionen tatsächlich im Sinne der Aufklärung verlaufen sind, ist sicher ein Ansatzpunkt dieser Dialektik von Anfang und weiterer Entwicklung. 13
So im Nachlaß K G W V 1, 4[86] und 6[428],
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Daß Nietzsche prinzipiell beansprucht, die Aufklärung Sinne weiterzuführen: im Sinne der „wahrhaft großen Flut", Gegensätze von Vernunft und Gefühl, Revolution und „Wellenspiele" sind (so in dem zitierten Aphorismus N r . röte), leuchtet mir ein.
in einem tieferen gegen welche die Reaktion bloße 197 der Morgen-
Schubert: A u s zeitlichen Gründen sind die Voraussetzungen für meine Marginalien verändert, aber dennoch eine allgemeine Bemerkung und eine spezielle: In Anbetracht dessen, daß in Nietzsches Philosophieren der schöpferische Einzelne, der künstlerische Kultur schafft, und seine W e r k e höchste Paradigmen darstellen, scheint mir bei den heutigen Versuchen der Analyse der Nietzsche-Auseinandersetzung ein deutliches Defizit im Gefühl für alles Künstlerische, alles Schöpferische und ,Ästhetische' (in N . s umfassenden Sinne — contra Kant) zu bestehen. — Bei Adorno und Marcuse war dies übrigens nicht der Fall. Ich erinnere an Marcuses Utopie, daß in der idealen Gesellschaft die , Kunst' zuende gehe, da sie mit der Befreiung des Einzelnen in die soziale Aktivität eingehe. Die spezielle Bemerkung betrifft die Frage eines Nietzsche-Klimas in den 30er Jahren, im Denken der Demokraten und der Linken, vor den Schriften von G. Lukäcs: meines Erachtens gab es mehr als ein Klima, nämlich einen Strang der Rezeption, den ich im Gegensatz zum nationalistischen mir angewöhnt habe den emanzipatorischen zu nennen: das ist (neben Horkheimer, auf den Herr Baier hinwies) einerseits Benjamin (schon von Herrn Gerhardt erwähnt) und andererseits besonders Heinrich M a n n , der ja 1939 — also vor Kaufmann — Nietzsche aus der Klammer des Faschismus befreit hat, und zwar in einem französisch und deutsch erschienenen Aufsatz in der von Thomas M a n n herausgegebenen Emigranten-Zeitschrift „ M a ß und W e r t " und in einem Buch, das 1939 in Paris erschien: Lespages immortelles de Nietzsche, in dem Heinrich Mann ausgewählte Nietzsche-Texte mit seinem Essay veröffentlichte. Im übrigen ergänzend zu Benjamin: jüngst erschien der Aufsatz von Pfotenhauer. 1 4 Maurer: Wenn die Rede von „höchsten Paradigmen", welche künstlerische W e r k e darstellen, in Verbindung zu politischen Begriffen w i e demokratisch, links, emanzipatorisch, nationalistisch gebracht wird, dann kann der philosophisch Gebildete an das 5. und 6. Buch von Piatons Politeia denken. Dort spricht Sokrates vom Paradigma (Musterbild) des besten Staates, ver14
Benjamin und Nietzsche, in: Benjamin im Kontext, im Syndicat-Verlag Frankf/M. 1978.
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gleicht es mit dem Bild, das ein Künstler malt, und sagt, daß das Paradigma nicht völlig realisierbar sei, ein prinzipiell transzendentes (göttliches) Moment einschließe. Wenn ein künstlerisches, höchstes Paradigma nicht auf die unersteigbare Höhe prinzipieller Transzendenz verweisen soll, sondern in Verbindung zu politischen Utopien: antizipierter, entworfener, angestrebter tatsächlicher Zukunft, gebracht wird, dann müßte man genau wissen, was daran realisierbar ist und was nicht. Sonst entsteht die ästhetisch vernebelte Vorstellung futurisch-idealer gesellschaftlicher Zustände, welche gegenwärtige Möglichkeiten ruiniert und gegenwärtigen Interessenkampf ideologisch verschleiert. Zumindest vom späteren Nietzsche aus bekommt man Unterstützung zur Kritik solcher trüben Verwechslung von Wunsch und Wirklichkeit. Ansonsten ist künstlerische Kreativität für Nietzsche natürlich eine legitime und besonders humane Auslassung menschlichen, schöpferischen Machtwillens. Sobrevilla: Ich möchte zwei Fragen stellen. Erstens scheint es mir nicht sinnvoll, Nietzsches Philosophie eine „kritische Theorie" zu nennen. Denn dieser Ausdruck von Max Horkheimer, „Kritische Theorie", hat einen Sinn als Bezeichung für die Frankfurter Schule, welche sich im Gegensatz einer „traditionellen Theorie" verstand. Und man muß dazu noch bemerken, daß die Kritische Theorie, die Frankfurter Schule, eine Theorie „der Gesellschaft" sein wollte. Nietzsches Philosophie hat sich zwar im Gegensatz zur traditionellen Philosophie verstanden, aber nicht im Sinne des Schemas der Frankfurter Schule; vor allem ist sie primär keine Theorie „der Gesellschaft". Wozu also sie mit der heute im Mode gekommenen Formel „kritische Theorie" bezeichnen? Zweitens: Sie wollten zeigen, Herr Maurer, daß der Versuch der Frankfurter Schule, Marx mit Nietzsche zu versöhnen, gescheitert ist. Falls dieser Versuch von Horkheimer und Adorno tatsächlich unternommen wurde, haben Sie sicher recht, ihn als mißlungen zu betrachten. Aber die Thesen und die Erläuterungen gehen erheblich weiter und behaupten stellenweise, daß eine Versöhnung zwischen Marx und Nietzsche prinzipiell unmöglich sei, daß sie „eine Vereinigung von Unvereinbaren" darstelle. Meinen Sie in der Tat, daß eine Verbindung zwischen Marx und Nietzsche undurchführbar und illegitim sei, und zwar grundsätzlich? Maurer: Eine der wichtigsten Aufgaben der Philosophie scheint mir darin zu bestehen, modische Formeln zu hinterfragen, Begriffswörter wie „Kritik" und „Theorie" nicht als Etiketts zu akzeptieren, sondern begrifflich ernst zu nehmen, historisch-systematisch zu analysieren und in Bewegung zu bringen. Wenn ich sage: Im Blick auf Nietzsche sei die Kritische Theorie eine kritische Theorie unter mindestens zweien, so möchte ich damit auch zu einer Fort-
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führung philosophischer Aufklärung im Sinne einer Aufklärung der Aufklärung und ihrer Folgen beitragen. Eine der raffiniertesten Stillegungen der Aufklärung oder gar deren Umbiegung zu einer neuen Dogmatik dürfte dann vorliegen, wenn eine bestimmte Form aufklärerischer Kritik, etwa eine marxistisch-neomarxistisch bei der „Gesellschaft" ansetzende, Monopolansprüche auf Kritik erhebt, indem sie behauptet, sie sei nicht eine Möglichkeit von Kritik, sondern die Kritik. Hier kann Nietzsche befreiend wirken! Sicher kann man Marx und Nietzsche versöhnen, indem man aus beiden Theorien einiges herausnimmt, was zusammenpaßt, und das übrige fortläßt. Indem sich Marxens utopische Perspektiven mehr aufs Politisch-Ökonomische beziehen, Nietzsches Zielperspektiven mehr aufs Ethisch-Politische, könnte die Dimensionen ihrer Philosophien sich sogar ergänzen. Aber Alternativen sind zunächst nicht zu versöhnen, solange nicht ganz neue Gesichtspunkte ins Spiel kommen, dafür sehe ich zur Zeit wenig Anzeichen. Wir stehen in Spannungen, bei denen Marx und Nietzsche in wichtigen Hinsichten entgegengesetzte Pole sind. Ein marxistischer Nietzscheanismus (offenbar ein nicht nur italienischer Traum) wäre ein hölzernes Eisen. Selbst bei H . H . Holz 1 5 , auf den ich hiermit anspiele, kommt es genau besehen nicht vor. Seine Ausführungen enden bei marxistischer Nietzschekritik. Freilich zeigen sie soviel Verständnis für Nietzsche, daß man daraus auch eine nietzschesche Marxkritik machen könnte. Das schließt nicht aus, daß es verwandte Züge zum Beispiel in Marxens und Nietzsches Kritik des Kapitalismus gibt. Aber wie verschieden die Voraussetzungen und Zielperspektiven dieser Kritik sind, müßte jedem spätestens dann klar werden, wenn er bei Nietzsche liest: „Hätten die Fabrikanten die Vornehmheit des Adels, so gäbe es keinen Socialismus . . .". 1 6 Taureck: Sie haben in der Diskussion die Frage gestellt, was Nietzsche wohl zu der Ideologiekritik im Zusammenhang mit der „Dialektik der Aufklärung" gesagt hätte. Ich würde in knapper Form so antworten, Herr Maurer: „Wie die Ideologiekritik endlich zur Fabel wurde" 1. Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Alle Erkenntnisse sind nur Setzungen. Damit erster Schritt: Aufklärung. 2. Um die Gesetztheit der ewigen Wahrheiten auszusagen, benötigt man ein Fundament. Damit zweiter Schritt: Dialektik der Aufklärung.
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H . H . Holz, Die bürgerliche Rebellion. Bürgerliche Protestbewegungen in der Philosophie, Darmstadt/Neuwied 1976. Vgl. Kommentar KSA 14, 243, Vorstufe eines Aphorismus der FW.
Diskussion
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3. Was aber, sagt mir, ist „Dialektik" anderes als jenes Erkennen ohne alle Wahrnehmungen nur mittels des Wortes und Gedankens 17 . Dritter Schritt: Reine Dialektik. 4. Die Morgenröte: Dialektik ist Logik, Logik aber Freiheit von Aisthesis. Letzter Schritt: Die Sonne geht auf: Incipit Aisthesis, incipit Leib. Maurer: Das wäre ein schöner Sonnenaufgang, ich gebe zu, daß sich Nietzsche an seiner Vorstellung oft genug erbaut. Und vielleicht ist er auch mehr als eine Wunschvorstellung. Doch nach Nietzsche selbst müßte man zur „großen Vernunft des Leibes" und auch zum heutigen Ideal einer „neuen Sinnlichkeit" skeptisch das zitieren, was er über die Stoiker bemerkt: „,Gemäß der Natur' wollt ihr leben? O ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte! . . . dies ist eine alte ewige Geschichte: was sich damals mit den Stoikern begab, begibt sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an sich selbst zu glauben. Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde . . . " 1 8 Das gilt auch für eine Philosophie der Aisthesis. Die Frage ist freilich, ob es auch für die Aisthesis selbst gilt — „wozu ein Prinzip aus dem machen, was ihr selber seid und sein müßt?" Doch: Wovon man nicht philosophisch, begrifflich, prinzipiell reden kann, davon müßte man philosophisch schweigen (variierter Wittgenstein). Kido: Sie behaupten, Herr Maurer, daß die Kritische Theorie ein von einer Nietzsche-Rezeption durchkreuzter Neomarxismus ist. Aber ich bin dazu ein bißchen anderer Meinung. Die Kritische Theorie, die sich neomarxistisch nennt, ist nicht von der kritischen Nietzsche-Rezeption durchkreuzt, sondern sucht vielmehr den orthodoxen Marxismus aufzuheben. Herr Maurer, Sie benützen den Begriff Neomarxismus im negativen Sinn, so glaube ich. Dagegen möchte ich ihn aber in einem positiven Sinne benützen. Wenn der Marxismus in den sozialistischen Staaten als orthodoxer (69605 60^05 = right opinion) gilt, kann der Neomarximus als heterodoxer (gtepog öo|og = other opinion) gelten. Aber, wie bekannt, ist jener dogmatisch, und sein Brennpunkt ist nur die wirtschaftliche Entwicklung. In ihm herrscht eine verhärtete Technokratie. Sie kann die Moderne in Nietzsches Sinn nicht überwinden, da das Ganze der Moderne ein physiologischer Selbst-Widerspruch ist. Das Ganze der Moderne ist krank und ihr Wesen ist der Nihilismus. In diesem Sinne kann auch der sogenannte Marxismus das Ganze des Modernen und damit den Nihilismus nicht überwinden. Die Aufhebung dieses physiologischen Selbst-Widerspruchs der Moderne ist für die heutige Philosophie eine 17 18
Vgl. Piaton, Politeia 532 a. Vgl. J G B 9.
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Aufgabe und sie war auch eine Absicht Nietzsches; darin besteht die Aktualität seiner Philosophie, so möchte ich meinen. Indem die Kritische Theorie kritisch die Philosophie Nietzsches aufnimmt, schreibt sie den sogenannten Marxismus um, so glaube ich. Marxismus muß ebenso unaufhörlich umgeschrieben werden, wie die Historie. Die Kritische Theorie als eine heterodoxe hat also noch jetzt Geltung. Sie behaupten, Herr Maurer, daß die Kritische Theorie eine an der gegenwärtigen Gesellschaft und damit an der positiven Grundlage ihrer Kritik verzweifelnde Philosophie der „Ubergesellschaft" ist. Ist es unzulässig, an die Stelle des Adjektives „verzweifelnde" das „kritisierende" zu bringen? Wenn die Kritische Theorie im Zusammenhang mit der Marx-Rezeption im buchstäblichen Sinne an der gegenwärtigen Gesellschaft und damit an der positiven Grundlage ihrer Kritik verzweifelt ist, könnte sie sich m . E . dem Dogmatismus eines welthistorischen Totalwissens, in dessen Namen alle Mittel gerechtfertigt sind, und dem „apokalyptischen" Zugriff der Partei nicht entziehen. Sie behaupten ferner, daß der Versuch der Kritischen Theorie, Marx und Nietzsche in der Utopie einer „Ubergesellschaft" von „Ubermenschen" zu verbinden, von Nietzsche aus geurteilt, scheitert. In der Tat liegen die Utopie Nietzsches und die Utopie Marx' in ganz unterschiedlichen Dimensionen. Wie bekannt, übt Nietzsche Kritik an den gegenwärtigen Zuständen und vor allem am gegenwärtig herrschenden Menschentypus. Andererseits übt Marx Kritik zwar an gegenwärtigen Zuständen, aber vor allem an der ökonomisch-gesellschaftlichen Basis. U n d auch die Utopie Nietzsches enthält viel Gegensätzlichkeiten und klingt uns nur pessimistisch und schicksalhaft in den Ohren. Die Utopie von Marx wird dagegen positiv-optimistisch und widerspruchslos dargestellt. Aber bei Hegel können wir lernen, daß die Gegensätzlichkeiten oder Widersprüche nicht immer die Wahrheit verletzten. Der Versuch der Kritischen Theorie, vor allem Max Horkheimers, Marx und Nietzsche zu verbinden, scheitert m. E. nicht, sondern verändert sich im Verlauf seiner Zeit. Zwischen der Besprechung Horkheimers über Jaspers Nietzsche (1937) und dem Interview in „ L ' e s p r e s s o " (1969) gibt es eine klare Veränderung. In dem Interview sagt er, daß Nietzsche möglicherweise der größere Denker gewesen sei als Marx. Aber es bedeutet kein Scheitern seines Versuches, sondern spricht nur für seine Wahrhaftigkeit. Ich sehe hier auch keinen Bruch in der Kritischen Theorie. Ihre These, Herr Maurer: „Nietzsches kritische Theorie ist kritischer als die Kritische Theorie" ist für mich hochinteressant und sehr anregend. Sie erinnert mich an Horkheimers Satz: „Nietzsche ist möglicherweise der größere Denker gewesen als M a r x . " Nietzsche ist die Eule der Minerva, die erst bei Einbruch der Nacht ihren Flug beginnt, und die Ananke, die hinter dem Verdämmern der Götter wiederkehrt!?
Diskussion
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Maurer: Wenn Sie sagen, Herr Kido, die Kritische Theorie versuche, den orthodoxen Marxismus aufzuheben, dann bin ich damit einverstanden. Doch „Aufheben" ist ein vieldeutiges Wort. Es kann nach Hegel unter anderem den Ubergang oder vielmehr Umschlag zum Gegensatz bedeuten. Und eben das scheint mir bei der Aufhebung des orthodoxen Marxismus durch die Kritische Theorie in wesentlicher Hinsicht der Fall zu sein. So wird der Marxismus in Richtung Nietzsche aufgehoben, das heißt in Richtung seines Gegensatzes. Insofern wird er durchkreuzt. Es leuchtet mir ein, wenn Herr Kido sagt, daß die Utopien von Marx und Nietzsche in verschiedenen Dimensionen liegen. Nietzsche geht es mehr um den Menschentypus, Marx um die ökonomisch-gesellschaftliche Struktur, eine Dimension, die von Nietzsche vernachlässigt wird. So gesehen, könnten sich die beiden Theorien ergänzen. Dennoch sind sie gegensätzlich, weil der Menschentypus, der Nietzsche unter Titeln wie Ubermensch und neuer Aristokratie vorschwebt, von dem Menschentypus (der technokratisch verwalteten Ameise) ganz verschieden ist, welchen die marxistische Utopie ökonomischgesellschaftlicher Strukturen, dort wo sie politisch wirksam geworden ist, hervorgebracht hat. Nun kann man den „wahren" Marx von diesem realen Sozialismus absetzen und kann das teilweise aus Marxschen Schriften belegen. In dieser Richtung liegen auch die Verbindungen zwischen Marxens und Nietzsches Gesellschaftskritik. Aber aus Marxens Theorie kann man auch die Züge ablesen, die sie tauglich gemacht haben, zur integrierenden Ideologie des sowjetischen Imperialismus zu werden. Wie Nietzsche über diesen geurteilt hätte, kann man aus seinen Urteilen über das deutsche Reich seiner Zeit extrapolieren.
ERNST BEHLER
NIETZSCHE IN DER MARXISTISCHEN KRITIK OSTEUROPAS*
Die gegenwärtigen Stellungnahmen zu Nietzsche in der marxistischen Kritik Osteuropas sind für das Thema „Nietzsche im zwanzigsten Jahrhundert" zweifellos von Wichtigkeit und auch von Interesse für ein der heutigen Situation und den gegenwärtigen Erfahrungen entsprechendes Nietzschebild. Freilich werden die Erwartungen, die sich mit dieser Erörterung verbinden, schon bald gedämpft, da die hier zutagetretende Nietzschekritik in einer unwiderruflichen Ablehnung aufzugehen scheint, die sich mit folgenden Strichen umreißen läßt. Grundlegend für alle Äußerungen über Nietzsche in der osteuropäischen Welt ist die marxistische Periodisierung der Geistesgeschichte nach Wandlungen im sogenannten Klassenkampf. Nietzsche erscheint dabei als ein historischer „Knotenpunkt" in dem von Marx verstandenen Sinne. Im Bereich der Philosophie ist er nach dieser Sehweise sogar der hervorragendste Repräsentant für jenen großen Wendepunkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts, der als Ubergang vom liberalen Konkurrenzkapitalismus in das monopolistische Stadium der Kapitalkonzentration und des Imperialismus bezeichnet wird. Nietzsche hat nach der von mir zu charakterisierenden Denkweise den sich hier vollziehenden Wandlungsprozeß verspürt und wurde „ z u m Verkünder der neuen Moral und Philosophie des Imperialismus." 1 Seine Philosophie des Willens zur Macht war „die erste ideologische Reflexion" auf diesen Prozeß. 2 Von besonderer Bedeutung für diese weltgeschichtliche Position Nietzsches wird dabei noch die Tatsache angesehen, daß er Zeit-
* Der hier veröffentlichte Text wurde als 30-minutiges Kurzreferat vorgetragen und zu diesem Zweck gekürzt. Dabei wurde der Abschnitt über die Geschichte der marxistischen Nietzschekritik nur in einer ganz kurzen Zusammenfassung behandelt. 1 Hans-Martin Gerlach, Spätbürgerliche Philosophie und Konservatismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 24 (1976), 603—617, 613. Im folgenden „Gerlach, Spätbürgerliche Philosophie." 2 S. F. Oduev, Auf den Spuren Zarathustras. Der Einfluß Nietzsches auf die bürgerliche deutsche Philosophie. Erweiterte deutsche Ausgabe der russischen Originalausgabe von 1971 mit einem Vorwort von Hans-Martin Gerlach und Günther Rieske. Berlin 1977, S. 8 ( H . - M . Gerlach). Im folgenden „ O d u e v , Zarathustra."
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genösse der Pariser Kommune von 1871, also eines entscheidenden Ereignisses in der Geschichte der Arbeiterbewegung war, auf das Nietzsche auch nachweislich reagierte. 3 Natürlich hat sich Nietzsche in der hier beschriebenen Sehweise nicht als politischer Agitator, sondern als Philosoph betätigt. Genauer gesprochen wird seine philosophische Funktion darin erblickt, daß er den Subjektivismus, Irrationalismus, Pessimismus und Nihilismus des 19. Jahrhunderts zu einem bislang noch nicht dagewesenen Radikalismus steigerte. Sein Subjektivismus äußerte sich nicht mehr wie bei Kant im „guten Willen", sondern im „Willen zur Macht", der sich von der traditionellen Wertskala gut und böse frei weiß. 4 Sein Nihilismus der Stärke, den er als extreme Form des Pessimismus entwickelte, kündigte ideologisch den Ubergang zu „Reaktion und Gewalt auf der ganzen Linie" an. 5 Mit scharfem Instinkt soll Nietzsche auch herausgespürt haben, daß an der Gesellschaft, in der er lebte, der Wurm nagte und diese „von einer verborgenen Krankheit" angefressen ist, was abstrakt gesprochen und in Nietzsches Ausdrucksweise bedeutet, daß die in dieser Gesellschaft gepflegten Ideale „entwertet" sind. 6 Nietzsche diagnostizierte diesen Zustand mit den Ideen der Sinnlosigkeit, der Dekadenz und des Nihilismus, in denen sich die allgemeine „Orientierungslosigkeit" seiner Zeit bekundet. Eine „ U n tergangsstimmung" kommt herauf, in welcher der Begriff des gesellschaftlichen Fortschritts keinen Platz mehr hat. 7 Ein Gefühl der Dekadenz stellt sich ein, in dem, wie schon Plechanow sagte, die größten historischen Bewegungen der Menschheit als philiströse Unternehmen erscheinen. 8 Der Sinn des Lebens symbolisiert sich im Bilde der Sanduhr, die immer wieder umgedreht wird, womit sich die Auffassung verbindet: „Wenn die Zeit unendlich ist [. . .], dann hat die Welt schon eine Unendlichkeit hinter sich gebracht, also auch unendlich viele Möglichkeiten gehabt, eine vollkommene Gesellschaft zu schaffen. D a es diese aber bisher nicht gegeben hat und gibt, kann man sie auch in der Zukunft nicht erwarten." 9 Aus dieser von ihm festgestellten Krise seiner Gesellschaft erhob sich dann für Nietzsche unmittelbar das „Problem von
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Heinz Malorny, Friedrich Nietzsche gegen den klassischen bürgerlichen Humanismus. In: Philosophie und Humanismus. Beiträge zum Menschenbild der deutschen Klassik. Weimar 1978, S. 227—228. Im folgenden „ M a l o r n y , H u m a n i s m u s . " Gerlach, Spätbürgerliche Philosophie, S. 614. Frank Rupprecht, Der Pessimismus und die Krise der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie. Nachbetrachtungen zum 16. Weltkongreß für Philosophie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 27 (1979), S. 950. Im folgenden „Rupprecht, Pessimismus." O d u e v , Zarathustra, S. 15—16. Philosophisches Wörterbuch. 8. berichtigte Aufl. Berlin 1972, S. 885. Literatura i estetika. Bd. 2. 1958, S. 475. Siehe Anmerkung 34. Rupprecht, Pessimismus, S. 943, 947.
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Gewalt, Macht und Herrschaftssicherung für eine kleine Elite von Herrenmenschen." 1 0 Die von Nietzsche verspürten und in Worte gefaßten Stimmungen erklären nach seinen osteuropäischen Kritikern auch die Attraktion, deren er sich in der bürgerlichen Welt erfreut. Die Anziehungskraft, die von ihm ausgeht, beschränkt sich nach dieser Meinung keineswegs auf seine eigene Epoche, sondern reicht bis in unsere Tage hinein und äußert sich in immer neuen Nietzschewellen bis hin zu der „jetzigen Nietzschewelle, die über uns hereinschwappt". 1 1 Ein wichtiger Grund für den Anreiz, den Nietzsche in bürgerlichen Kreisen genießt, wird in der Ausdrucksform seines Denkens erblickt, das sich wissenschaftlicher Darstellung versagt und eine eigentümliche „Abstraktion im M y t h o s " vollzieht. Für die Darstellung ethischer und sozialer Probleme haben Mythen freilich eine „sehr dehnbare Form", was es ihnen erlaubt, sich an veränderte Situationen immer wieder neu anzupassen. Dieser Umstand wird als erleichternde Ursache dafür angesehen, daß die von Nietzsche entwickelten Positionen „eine gewisse Zeitlosigkeit" annahmen und der Autor zu einer Art „Seher" erhoben wurde. So haben sich immer wieder neue Generationen Nietzsche zugewandt und ihn aus ihrer Problemlage „auf neue Weise" zu lesen vermocht. 1 2 Der gemeinsame Grundzug dieser Nietzschezuwendungen ist aber, daß sie allesamt aus „Krisensituationen" erfolgten, wobei sich der „pessimistische Grundzug der bürgerlichen Philosophie in einer breiten Skala von Auffassungen" äußerte. 1 3 Am Anfang ihrer Epoche und während ihrer aufsteigenden Phase war die Bourgeoisie nach der Sehweise marxistischer Kritiker durchaus „Träger eines historischen und revolutionären Optimismus". Diese Haltung mußte die Bourgeoisie aber aufgeben, als sie, wie es heißt, zur herrschenden Klasse wurde und dann „in erster Linie an der Erhaltung des Bestehenden gegen die aufkommende revolutionäre Klassenbewegung des Proletariats interessiert w a r " . 1 4 Aus der sich mit dieser Haltung natürlicherweise verbindenden „Orientierungslosigkeit", der „zunehmenden Unsicherheit" und aus Befürchtungen vom „drohenden Untergang der Menschheit" 1 5 wird die angebliche Allianz der Bourgeoisie mit Nietzsche hergeleitet. Ohne die wahren, d. h. die ökonomischen Ursachen für den „fortschreitenden Niedergang der bürger10
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Heinz Malorny, Tendenzen der Nietzsche-Rezeption in der BRD. In: Deutsche Zeitschrift f ü r Philosophie 27 (1979), S. 1 4 9 3 - 1 5 0 0 , 1494. Im folgenden „Malorny, Tendenzen." Jan K n o p f , Kritik der Erkenntniskritik. Zur Klarstellung einiger Irrtümer: Nietzsche in der bundesdeutschen Germanistik. In: Literaturmagazin 12. Nietzsche Sonderband. Hamburg 1980, S. 373. Malorny, Tendenzen, S. 1494: „nun noch einmal, nur mit größerem Tempo." Oduev, Zarathustra, S. 1 7 - 1 8 . Rupprecht, Pessimismus, S. 9 4 1 . Rupprecht, Pessimismus, S. 942. Rupprecht, Pessimismus, S. 940.
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liehen Kultur und den Verfall der bürgerlichen Sittlichkeit" sehen zu können, überließ man sich Nietzsche als einem „geistigen Anführer". 1 6 Nun sei der Verfall der bürgerlichen Welt seit dem Ende des zweiten Weltkrieges aber unerbittlich weitergegangen. Heute sind es, wie es heißt, „Arbeitslosigkeit, der neokolonialistische Kampf um Rohstoffquellen, die imperialistische Hochrüstung, die Umweltschädigung, das Bildungsdefizit", worin das Versagen der Bourgeoisie zum Ausdruck kommt. 1 7 Und in dieser Situation werde Nietzsche für die „Interpretation unseres Zeitalters als eines Zeitalters der Krise" wiederum von Bedeutung. Seine negative Bewertung der Kultur beziehe sich jetzt aber nicht mehr auf die dekadente Krisenstimmung ä la Thomas Mann zu Beginn dieses Jahrhunderts, sondern auf die Wirtschaftskrisen der siebziger Jahre und unserer Tage, auf die „Wendung vom Optimismus der technokratischen Lösbarkeit der Menschheitsprobleme durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt zum Pessimismus der Technikdämonie, des Zukunftsschocks, des Nullpunktwachstums und der Katastrophenprognosen". 1 8 Ein entscheidendes Merkmal für diese Sicht Nietzsches ist die für die marxistische Kritik grundlegende Widerspiegelungstheorie, d. h. in diesem Falle die Auffassung Nietzsches als Indikator, als Symptom für grundlegende gesellschaftliche Wandlungsprozesse, der — wie Thomas Mann es formulierte — „als sensibelstes Ausdrucks- und Registrierinstrument", als „zitternde Nadel" Phänomene wie den „heraufsteigenden Imperialismus" und die „faschistische Epoche des Abendlandes" ankündigte. 1 9 Natürlich hatte Nietzsche nach dieser Auffassung „nicht die geringste Ahnung" von den wirklichen Ursachen des Geschehens und stellte ökonomische und gesellschaftliche Konflikte naiverweise als das „Aufeinanderprallen von ideellen, ästhetischen und religiösen Prinzipien" dar, und dies sogar nur „in der Form allgemeiner, in Mythen ausgedrückter Abstraktheit". 2 0 Indem er aber die sogenannte Krise des Kapitalismus „mit krankhafter Unmittelbarkeit als persönliche Tragödie" auffaßte, wirkt sein Denken wie „die markanteste Erscheinungsform dieser sich permanent vertiefenden Krise des bürgerlichen Geistes", ja wie das „Gewissen, das kranke Gewissen dieser Übergangsphase". 2 1 Er soll jenes „philosophische Feingefühl" besessen haben, das es ihm ermöglichte, „aus dem Strom der Lebenserscheinungen jene Seinsphänomene herauszuschälen, die zu seiner Zeit nur als Tendenzen vorhanden waren, sich aber nach vielen Jahren als allgemeine Symptome des Krisenzustandes 16 17 18 19 20 21
Oduev, Zarathustra, S. 21. Rupprecht, Pessimismus, S. 945. Malorny, Tendenzen, S. 1497. Thomas Mann, Gesammelte Werke. Bd. 10, S. 6 6 3 - 6 6 4 . Oduev, Zarathustra, S. 16. Oduev, Zarathustra, S. 18, 427.
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geltend machten". 2 2 Als besonders wichtig für diese Funktion wird wiederum Nietzsches „literarische Manier zu schreiben" angesehen. 2 3 Der Wille zur Macht zum Beispiel erscheint hiernach wie „eine mythisierende Karikatur des Klassenkampfes". 2 4 Im wesentlichen kommt es der heutigen marxistischen Nietzschekritik in Osteuropa aber darauf an, „den tiefen Bruch sichtbar zu machen, den Nietzsche gegenüber dem Menschenbild der klassischen bürgerlichen Philosophie vollzieht". 2 5 Dieser Bruch zeige sich schon darin, so wird argumentiert, daß Nietzsche von einem „rationalen Herangehen" an philosophische Probleme in „offenen Irrationalismus" umschlage. Entscheidender äußere sich dieser Bruch mit den „großen Traditionen der Aufstiegsphase des Bürgert u m s " aber in der „Umwertung der Werte", in der Nietzsche weiter gegangen sei als jeder andere Zeitgenosse und „in der letzten Periode seines Wirkens nahezu die gesamte vorangegangene Philosophie" ablehnte, 2 6 ja mit dem „gesamten progressiven Erbe der Vergangenheit von Demokrit und Piaton bis hin zu Hegel und Feuerbach" gebrochen habe. 2 7 Die Philosophen des aufstrebenden Bürgertums seien mit einem „humanistischen Anspruch" aufgetreten und waren vom „Pathos der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen" getragen. Im Gegensatz dazu „verteidigte Nietzsche unverhüllt die Interessen einer kleinen Minderheit, ihre Privilegien, ihren unumschränkten Herrschaftsanspruch, ihr vorgebliches Recht auf Ausbeutung, Unterdrückung und Versklavung der breiten Masse der Menschen". 2 8 Uber die humanistische Tradition der deutschen Philosophie habe sich Nietzsche sogar wiederholt auf zynische Weise lustig gemacht. 2 9 Bei dieser Kritik Nietzsches von der Humanismusproblematik aus wird Wert darauf gelegt, daß diese Tendenz bereits in seinen ersten Schriften zum Ausdruck kommt und ebenfalls sein Antikebild prägt, das mit der Hervorhebung des Dionysischen und Rauschhaften ausdrücklich gegen die Antikeauffassung des „klassischen bürgerlichen Humanismus" gerichtet sei und mit der Verspottung des Sokrates grundlegende Bestrebungen Nietzsches zum Ausdruck bringe, nämlich: „ D i e Abwertung des Intellekts, der Wissenschaft, der Vernunft, die Vorrangstellung des irrational gefaßten Lebens vor dem Geist, vor der Theorie, die Verherrlichung von Instinkt, Trieb, Rausch, Orgiasmus und die tragische Haltung, den sogenannten ,Pessimismus der Stärke' gegenüber dem Leiden und 22 23 24 25 26 27 28 29
Oduev, Zarathustra, S. 17. Oduev, Zarathustra, S. 21. Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 8, Zweiter Halbband, Berlin 1975, S. 732. Malorny, Humanismus, S. 221. Malorny, Humanismus, S. 222—223. Oduev, Zarathustra, S. 428. Malorny, Humanismus, S. 223—224. Malorny, Humanismus, S. 228.
Nietzsche in der marxistischen Kritik Osteuropas
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der Vernichtung, den Nietzsche später als ,amor fati', als Liebe zum Schicksal bezeichnete". Außerdem verfolge Nietzsche mit der Hervorhebung der Sklaverei in der Antike gar nicht den Zweck, das humanistisch verschönte Antikebild von Winckelmann und Goethe zu korrigieren, sondern um seinen Lesern den Satz einzuhämmern: „Das Sklaventum ist die Grundlage jeder höheren Kultur". 3 0 In diesem Zusammenhang wird mit Nachdruck auf Themen wie Rangordnung, Kastentrennung zwischen Herrenmenschen und Volksmassen, Unterdrückung und Ausbeutung in Nietzsches Werk verwiesen, denen Nietzsche eine „kosmologische oder biologische Begründung" gegeben habe, indem er die „angebliche Unaufhebbarkeit" dieser Phänome nachzuweisen suchte. 31 Als besonders drastisches Beispiel für diese Einstellung wird der Aphorismus 259 aus Jenseits von Gut und Böse angeführt, in dem Nietzsche die Ausbeutung als „Ur-Faktum aller Geschichte" ausgibt und über sie sagt: „Die Ausbeutung gehört nicht einer verderbten oder unvollkommenen und primitiven Gesellschaft an: sie gehört ins Wesen des Lebendigen." Wie sich denken läßt, ist der Raubtieraphorismus aus der Genealogie der Moral eine andere häufig zitierte Stelle, die Nietzsches Haltung veranschaulichen soll, wobei der Akzent aber nicht nur auf der berüchtigten „blonden Bestie", sondern ebenso stark auf der Kastenabtrennung der kleinen Zahl von Herrenmenschen liegt, die sich den anderen Klassen gegenüber „nicht viel besser als losgelassene Raubtiere" verhalten. Damit ist der offensichtlich wichtigste Punkt in der heutigen marxistischen Nietzschekritik Osteuropas berührt, nämlich die These, daß Nietzsches Werk ein Versuch sei, „eine Philosophie für die künftigen Herren der Erde zu begründen". 3 2 Für diese Kritiker Nietzsches ist die Auseinandersetzung um die Philosophien der Vergangenheit ein wichtiger Aspekt dessen, was sie als „ideologischen Klassenkampf" bezeichnen. Die Philosophie Nietzsches ist deshalb für sie von großer Aktualität und erfordert, wie es heißt, „die volle Aufmerksamkeit der marxistisch-leninistischen Philosophen''. 3 3 Das hier umrissene Nietzschebild ist für alle kommunistischen Länder Osteuropas maßgebend, obwohl es natürlich nicht immer und überall so detailliert verkündet wird und sich hier und da auch mit größerer oder geringerer Schärfe äußert. Die große sowjetische Enzyklopädie beschäftigt sich bei vielen Gelegenheiten mit Nietzsche und stellt unmißverständlich heraus, daß 30
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Malorny, Humanismus, S. 231—232. Zum sozialistischen Verständnis des Humanismus siehe M. Petrosjan, Socializm i gumanizm, in: Pravda 19. 12. 1966 und Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie. Bd. 2. Freiburg 1968, Sp. 12931306 („Humanismus"). Malorny, Humanismus, S. 224. Malorny, Humanismus, S. 223. Malorny, Tendenzen, S. 1500.
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marxistische Philosophen seit Franz Mehring und G. W . Plechanow die Philosophie Nietzsches scharf und konsistent kritisiert hätten. 3 4 In Polen hat der Kampf gegen Nietzsche in den Auseinandersetzungen mit dem Irrationalismus des 19. Jahrhunderts seine Tradition, 3 5 während in der Nietzschedarstellung der tschechischen Enzyklopädie der Nachdruck auf Nietzsches Verachtung der Massen und Herdenmenschen liegt. 3 6 Dies ist auch der Fall in der ungarischen Enzyklopädie, die noch besonders scharf den sogenannten Amoralismus Nietzsches unterstreicht. 37 In Bulgarien geht die marxistische Auseinandersetzung mit Nietzsche in die schriftstellerischen Anfänge des Philosophiehistorikers Sawa Ganowski zurück, der gegenüber sogenannten irrationalistischen Denkern wie Nietzsche und Oswald Spengler den wissenschaftlich-philosophischen Charakter des historischen Materialismus im Sinne einer Philosophie vom Fortschritt der Menschheit zur Geltung zu bringen suchte. 3 8 In Ostdeutschland 39 stoßen wir auf die neben der Sowjetunion 40 intensivste und auch kenntnisreichste Auseinandersetzung mit Nietzsche. Die Aufgaben dieser Auseinandersetzung sind mit den Worten umrissen: „eine wirklich den Kern treffende Kritik seiner Philosophie, die Aufdeckung ihrer gesellschaftlichen und klassenmäßigen Grundlagen und die Abrechnung mit ihren verhängnisvollen Nachwirkungen in der deutschen Geschichte". 4 1 Bei dem dort feststellbaren Bemühen um eine möglichst sachlich gehaltene Debatte 34
N e w Y o r k - L o n d o n 1978. B d . 18, S. 2 0 4 - 2 0 5 (Translation o f the third edition).
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Polska mysl filozoficzna i spoleczna, Warschau 1975, S. 68, 75, 89, 156, 2 2 6 , 2 3 8 , 4 4 0 . Z u r Nietzschekritik von Leon Chwistek ( 1 8 8 4 - 1 9 4 4 ) vgl. Z. A . J o r d a n , Philosophy and Ideology. T h e Development of Philosophy and Marxism-Leninism in Poland Since the Second W o r l d War, D o r d r e c h t / H o l l a n d 1963, S. 33. Ferner H . Gillner, F . Nietzsche, Warschau 1965. Prag 1966. Budapest 1961, B d . 5, S. 1 9 4 - 1 9 5 . D i e ungarische Nietzschekritik fand natürlich ihren massivsten Ausdruck in den Stellungnahmen von G e o r g Lukäcs, auf die weiter unten eingegangen wird. Die Beschäftigung mit dem W e r k von Georg Lukäcs wird heute von der „ B u d a pester Schule" der Neuen Linken in Ungarn geleistet. Siehe hierzu den Sammelband Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukäcs, Frankfurt a. M . 1977. Vgl. Boris Z e n k o w , Akademik Sawa G a n o w s k i , Sofia 1977 und Petko Gantschew, Ein bedeutender bulgarischer marxistischer Philosoph. I n : Deutsche Zeitschrift für Philosophie 26 (1978), S. 806—809. Die rumänische Veröffentlichung von Victor Ernest Masek, D e la Apollo la Faust, Bukarest 1978 war mir zur Zeit der Konferenz noch nicht zugänglich. Siehe neben der bereits zitierten Literatur noch B . Kaufhold, Z u r Nietzsche-Rezeption in der westdeutschen Philosophie der Nachkriegszeit. I n : Beiträge zur Kritik der gegenwärtigen bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Hrsg. von R . Schulz, Berlin 1958 und Wolfgang Heise, Aufbruch in die Illusion. Zur Kritik der bürgerlichen Philosophie in Deutschland, Berlin 1964.
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D i e Auseinandersetzung geht hier bis in das vorrevolutionäre Rußland zurück, z. B . E . N . Trubetskoi, Filosofia Nitssche, Moskau 1904 und D . Galevi, F . Nitssche, St. Petersburg 1911. Zur neueren Literatur über Nietzsche siehe das Literaturverzeichnis in O d u e v , Zarathustra, S. 4 3 7 - 4 4 9 , der V . F . A s m u s , A . Bernadiner, A . S. B o g o m o l o v , P. P. G a j d e n k o , M . V . Jakovlev, A . W . Lunatscharski, N . W . Motroschilowa, T . I. Oiserman und G . W . Plechanow aufführt.
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Malorny, Tendenzen, S. 1494.
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fällt auf, daß die von bebendem Haß getragene Stimme von Georg Lukäcs in der heutigen Nietzschediskussion dieser Länder fast völlig verstummt ist und dessen Name sogar aus den Bibliographien der Nietzscheliteratur zu verschwinden beginnt. Wie der rumänische Autor Alexandri Boboc in einem Vortrag über Probleme des Dialogs mit nicht-marxistischen Philosophien sagte, soll die marxistische Kritik anderer Philosophen „die globalen, nicht-nuancierten Einschätzungen vermeiden". 42 Sobald sich freilich Bestrebungen zeigen, „den Nietzscheanismus an den Marxismus anzunähern" oder „den Marxismus für das Eindringen Nietzschescher Ideen zu öffnen", 4 3 werden diese als „revisionistisch" zurückgewiesen. Derartige Versuche, etwa von der Entfremdungsproblematik aus, der Emanzipationstheorie, oder von der Utopie der harmonisch entwickelten Persönlichkeit her Anknüpfungspunkte zwischen den Philosophien von Marx und Nietzsche herzustellen, hat es nicht nur im Westen, sondern auch schon verschiedentlich in den Staaten Osteuropas gegeben. 44 Das bekannteste Unternehmen dieser Art wurde vor der Zagreber Praxisgruppe veranstaltet, die im November 1968 in Belgrad ein Symposion Marx und Nietzsche abhielt, dessen Ziel es war, Nietzsche von der „Diamat-Interpretation" zu reinigen und ihn authentisch als „echten Apologeten der menschlichen Freiheit" zu zeigen. 45 Dies war insbesondere die Position von Danko Grlic, der bereits 1966 Nietzsche als einen Denker bezeichnet hatte, der seine titanische Kraft darauf richtete, die Werte einer heuchlerischen Kultur im Namen der Ankunft des „neuen Menschen" zu zerschlagen.46 Auf der Grundlage Nietzsches arbeitete Grlic die unüberbrückbare Antinomie zwischen individueller Schöpferkraft und kollektiver Aktion heraus, derzufolge sich die beiden Bereiche nicht nur gegenseitig ausschließen, sondern die kollektive Aktion der individuellen Schöpferkraft sogar hinderlich ist. 47 In seinem Buch Wer ist Nietzsche von 1969 suchte Grlic zu zeigen, daß Marx und Nietzsche in der prophetischen Weltsicht und in der Idee des authentischen Menschen einen gemeinsamen Ausgangspunkt gehabt hätten. Der Brückenschlag wird mit Hilfe der Entfremdungskategorie ä la Feuerbach vollzogen und der Ubermensch danach als ein Wesen bezeichnet, „das dem Menschen aus den jenseitigen Entfrem42
Alexandru B o b o c und Nicolae Gogoneata, Probleme des Dialogs in der heutigen Philosophie. In: Revue R o u m . Sei. Sociales-Philosophie et Logique 21 (1977), S. 1—6.
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Oduev, Zarathustra, S. 23. Oduev, Zarathustra, S. 10 ( H . - M . Gerlach); M a l o m y , Tendenzen, S. 1494. P. Basta, Marksioti i Nice. In: Gledesta 11 (1969), S. 1 5 5 6 - 1 5 5 7 . Siehe hierzu neben Grlics Rezension des Nietzschebuchs von Eugen Fink: Praxis 1 (1965), S. 134—135 und seinem Bericht über das Nietzsche-Kolloquium von Royaumont: Praxis 1 (1965), S. 141 — 144 vor allem den Aufsatz L'Antiestheticisme de Friedrich Nietzsche: Praxis 3 (1966), S. 3 3 8 - 3 4 2 . Kreaciji i akeija. In: Praxis (1967).
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düngen den wahren Menschen zurückgeben wird, damit der Mensch endlich seine wahre und wirkliche Kraft erkenne." 4 8 Nietzsche fügt sich hier nahtlos in die Tradition des europäischen Humanismus ein, und mit einer ausdrücklich gegen die schablonenhafte Nietzsche-Verdammung von Georg Lukäcs gerichteten Wendung sieht der Autor das Verhältnis zu Nietzsche in eine neue Phase oder „neue Orientierung" getreten, die er als „schöpferischen Marxism u s " bezeichnet. Natürlich werden derartige Bestrebungen von der Position des MarxismusLeninismus aus nicht toleriert. Dennoch ist das auf dieser Basis etablierte Nietzschebild nicht völlig negativ. Die Anerkennung, daß Nietzsches Philosophie „Elemente einer echten Illusionszerstörung" enthalte, beruht offensichtlich auf der Bedeutung, die der Philosoph für Autoren wie G . B. Shaw und Heinrich und Thomas Mann besaß, die seine Doktrin als „antikapitalistische Kulturkritik" mißverstanden haben sollen. 4 9 Verschiedentlich stellt sich auf Grund dieser Züge sogar der Eindruck ein, Nietzsche sei gar kein konservativer Denker, sondern falle über die „Plattheit des bürgerlichen Lebens und die ihm zugrunde liegenden Vorurteile" her, er beklage den „Verlust der Menschenwürde" und verurteile den „Objektivismus" und die „ K l u f t zwischen Erkenntnis und den Erfordernissen des praktischen Handelns". 5 0 Auch ein solches Entgegenkommen wird innerhalb der marxistischen Kritik nicht akzeptiert. 5 1 Doch herrscht kein Zweifel daran, daß der „Ästhet Nietzsche" vor der „geistigen Plattheit der liberalen Gründerjahre" einen Ekel verspürte 5 2 und daß er „Publizisten des beginnenden Imperialismus" vom Schlage eines Dühring, Lagarde, Langbehn und Chamberlain „durch geistige Schärfe sowie in der philosophischen Fundierung" überlegen war. 5 3 Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Einschätzung von Nietzsches Verhältnis zum Faschismus, das für Lukäcs bekanntlich ungebrochen und direkt gewesen war. Es kann heute nicht mehr die Rede davon sein, daß Nietzsche in der osteuropäischen Kritik mit dem Faschismus identifiziert wird. Das liegt nicht nur an dem zugestandenen „Unterschied im geistigen Niveau zwischen ihm und einem Rosenberg", sondern vor allem an inhaltlichen Gegensätzen, die folgendermaßen bestimmt werden: „ E r war kein Rassist im eigentlichen Sinne, er war, von den Anfängen abgesehen, auch kein Nationalist, vielmehr ein scharfer Kritiker der ,Deutschen'. Es kann auch kein 48
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Danko Grlic, Ko je Nice, Belgrad 1969, S. 131. Siehe die Rezension von Fuad Muhic in Praxis 6 (1970), S. 272 - 273. Geschichte der deutschen Literatur VIII, 2, S. 732. Die Position von J. S. Kon, Filosofskij idealizen, Moskau 1959. Zitiert nach Oduev, Zarathustra, S. 24. Oduev, Zarathustra, S. 2 2 - 2 3 , 24. Gerlach, Spätbürgerliche Philosophie, S. 614. Geschichte der deutschen Literatur VIII, 2, S. 731-732.
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Zweifel daran bestehen, daß er, hätte er sie erlebt, in den Hitler, Goebbels, Göring nicht die .neuen Herren der Erde', die ,Ubermenschen' erblickt hätte, die er erwartete und für die er schrieb". 5 4 Natürlich soll damit nicht Nietzsches „Wegbereiterrolle für die faschistische Ideologie" abgewiesen sein, die nach wie vor ein wichtiges Forschungsthema bleibt. 5 5 Daß Peter Heller auf unserer Westberliner Nietzsche-Tagung von 1977 Nietzsche als „Protofaschisten" bezeichnete, 5 6 wird auch in Ost-Berlin als „allerdings unhaltbar" angesehen; unsere anschließende Debatte wird jedoch dafür kritisiert, daß sie mit diesem Begriff „zugleich auch das Problem einer geistigen Wegbereiterschaft Nietzsches für den Faschismus beiseite schob". 5 7 Auch die Arbeit der Nietzsche-Studien findet in diesem Zusammenhang ihre Würdigung. Während das ehemalige Weimarer Nietzsche-Archiv „eindeutig konservativ-reaktionär und später faschistisch orientiert war", soll im Kreis der Mitarbeiter der Nietzsche-Studien „eine bürgerlich-liberale Haltung" dominieren, die freilich die „Ablehnung der marxistisch-leninistischen Nietzsche-Interpretation" einschließt. Dabei werden wir, wohl mit Recht, dafür kritisiert, daß wir die marxistische Nietzschekritik meist nur auf der Grundlage der überholten Position von Georg Lukäcs kennen. In unserer Behandlung der Philosophie Nietzsches sei dann das Bestreben unverkennbar, diese „zu entschärfen, zu verharmlosen, um sie für bürgerlich-liberale und revisionistische Positionen annehmbar zu machen". 5 8 Einige Bemerkungen über Nietzsche in der großen sowjetischen Enzyklopädie verdienen noch hervorgehoben zu werden, weil sie ein differenziertes Bild von seinem Verhältnis zur Klassik, zur Romantik und zum Ubermenschen zum Ausdruck bringen. Nietzsche gewinnt hier eine Art mythischer Statur, wenn über ihn gesagt wird, daß seine „anarchistische Kritik der modernen bürgerlichen Realität und Kultur" in einer „universellen Verzweiflung am Leben" zum Ausdruck komme. 5 9 Er habe gegen den „positivistischen Zugang im Studium der alten griechischen Kultur und Philosophie" reagiert und „symbolische Konzeptionen" entwickelt, mit denen er die russischen Symbolisten V. Ivanov, A. Belyj und V. Brjusov beeinflußte. 6 0 Auch die von Nietzsche geleistete Hilfe bei der Uberwindung des „oberflächlichen Determinismus der kulturhistorischen Schule" und der Entwick54
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Malorny, Humanismus, S. 222. Daß Nietzsche über dem Niveau dieser Leute gestanden habe, wurde bereits in einem Aufsatz von Hans Günther „ D e r Fall Nietzsche" von 1935 betont, der in der Zeitschrift Unter dem Banner des Marxismus in Moskau erschien: 11 (1935). Malorny, Tendenzen, S. 1495. Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 2 7 - 5 8 . Malorny, Tendenzen, S. 1499. Malorny, Tendenzen, S. 1499-1500. Art.: Nietzsche, F. Art.: Greece, ancient; Nietzsche, F.
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lung von „Klassifikationen der Literatur auf der Grundlage von tief wurzelnden psychologischen und intellektuellen Unterscheidungen" finden dort Anerkennung. Hier wird auf Nietzsches Polarität von künstlerischen Typen Bezug genommen, wie er sie im Ausgang von den klassischen Göttern Apollo und Dionysos entwickelte. 61 Von Schiller, Schelling und der deutschen Romantik dazu angeregt verfolgte Nietzsche die Idee einer Typologie der Kultur und sah das Ideal in einer Balance zwischen den polaren Prinzipien, womit sich eine utopische Geschichtsphilosophie verband, welche das Vorbild im vorsokratischen Griechenland suchte. Mit seinem Mythos des Ubermenschen präsentierte Nietzsche den „ K u l t der starken Persönlichkeit, die auf individualistische Weise die bürgerliche Welt überwindet, jenseits aller moralischen Normen operiert und außergewöhnlich grausam ist. Aber dieser Kult des Ubermenschen verbindet sich mit der romantischen Idee des ,Menschen der Zukunft', der die gegenwärtige Welt mit ihren Sünden und ihrer Falschheit hinter sich gelassen h a t . " 6 2 U m auch die Bewertung der künstlerischen Eigenschaften Nietzsches einzuschließen, sei auf folgende Äußerung über die Dionysosdithyramben verwiesen, nach der diese „in bisher kaum gekannter Weise das Pathos der Rede mit suggestiver Metaphysik und der Pointiertheit antithetischer Redefiguren" vereinen, wobei eine „besondere Art der Verbindung von emotionaler Bildlichkeit und antithetischer Gedanklichkeit" zu Stande komme. 6 3 An einer anderen Stelle wird von Nietzsches dichterischem Talent gesagt, es verweise auf den „Zusammenhang von Ästhetizismus, sensibilisierter Innerlichkeit des Décadent und proimperialistischer Ideologie mit ihren antidemokratischen und antisozialistischen Affekten". Nietzsche repräsentiere damit eine „ f ü r den Modernismus, der am Jahrhundertende seinen folgenreichen Anfang nahm, charakteristische Tendenz". 6 4 Der russische Kritiker Oduev nennt Nietzsche einmal „dieses äußerst komplizierte, man kann sagen einmalige philosophiehistorische Phänomen"; 6 5 doch fügt er hinzu, daß die „philosophisch-soziologische Analyse eines Werkes" sich nicht auf „ästhetische Begeisterung" reduzieren lasse und man sich „über diese erheben, sie ausklammern" müsse, um zu einer „klassenmäßig-sozialen Analyse" zu gelangen. 6 6 U m dem gegenwärtigen Nietzschebild in Osteuropa ein schärferes Profil zu geben, erscheint es zweckmäßig, hier kurz die Geschichte der marxistischen Nietzschekritik zu skizzieren, wie sich diese seit Franz Mehrings ersten 61 62 63 64 65 66
Art. : Literary Theory and Criticism. Art.: Nietzsche, F. Geschichte der deutschen Literatur VIII, 2, S. 9 2 2 - 9 2 3 . Geschichte der deutschen Literatur VIII, 2, S. 924. Oduev, Zarathustra, S. 2 3 - 2 4 . Oduev, Zarathustra, S. 26.
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Äußerungen von 1891 zu Nietzsche entwickelt hat. Dabei können aus der bislang noch nicht ausgeführten Geschichte der sozialistischen Nietzscherezeption 6 7 selbstverständlich nur einige Hauptpunkte angedeutet werden. Mehring genießt den Ruf, die historisch-materialistische Methode in die Literaturkritik eingeführt und als erster eine Analyse der Philosophie Nietzsches auf marxistischer Grundlage vorgenommen zu haben. 6 8 Sein literarkritisches Vorgehen, wie er dies vor allem in dem Buch Die Lessing-Legende von 1893 zum Ausdruck brachte, hat Friedrich Engels kurz nach dem Erscheinen dieses Werkes zu dem berühmten Brief vom 14. Juli 1893 an Mehring veranlaßt, in dem er vor einer „ordinären undialektischen Vorstellung von Ursache und Wirkung" im Sinne des ökonomischen Determinismus warnte und sagte: „Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen". 6 9 Engels bezieht sich dabei auf Mehrings Uberzeugung, daß „die Produktionsweise des materiellen Lebens den künstlerischen Lebensprozeß" bedingt, 7 0 die Lukäcs dann während der Kriegsjahre zu vehementen Angriffen auf Mehring zum Anlaß nahm. 7 1 Die Mehring-Renaissance in Ostdeutschland nach dem zweiten Weltkrieg hat unter anderem dazu geführt, daß Mehring die wichtigste Quelle für die heutige Nietzsche-
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Siehe J o s t Hermand, Paroxysmen eines Neinsagers ? Z u m Nietzsche-Bild von Hans H e i n z H o l z . In: Karl Marx und Friedrich Nietzsche. A c h t Beiträge. Hrsg. von Reinhold G r i m m und J o s t Hermand, Frankfurt a. M . 1978, S. 1 3 8 - 1 4 0 . In dem Schlußkapitel: Zur Philosophie und Poesie des Kapitalismus aus dem Buch von 1891: Kapital und Presse. Ein Nachspiel zum Fall Lindau. I n : Franz Mehring, Gesammelte Schriften, B d . 13, Berlin 1961, S. 159—166. Siehe auch sein W e r k Die Lessing-Legende von 1893, das aus Aufsätzen entstand, die 1891 — 1892 in der Neuen Zeit erschienen waren. Jedoch verfaßte G e o r g Adler ebenfalls bereits im J a h r e 1891 eine sozialistische N i e t z s c h e - K r i t i k : G e o r g Adler, Nietzsche. D e r Sozialphilosoph der Aristokratie. In: N o r d und Süd 56 (1891), S. 2 2 4 - 2 4 0 . M E W B d . 39, S. 96. Ähnlich hatte sich Engels bereits in einem Brief vom 21. September 1890 geäußert: „ D a ß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr z u k o m m t , haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. W i r hatten den Gegnern gegenüber das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen und da war nicht immer Zeit, O r t und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten M o m e n t e zu ihrem Recht k o m m e n zu lassen": M E W X X X V I I , S. 4 6 5 . Siehe hierzu K . Kosik, D i e Dialektik des Konkreten, Frankfurt a. M . 1967, S. 116: „ W e r von der Ö k o n o m i e ausgeht als von etwas Gegebenem und nicht weiter Ableitbaren, der tiefsten Grundursache von allem und der einzigen Realität, die kein Fragen mehr duldet, der verwandelt die Ö k o n o m i e in ihr Ergebnis, in eine Sache, einen autonomen Geschichtsfaktor, und betreibt damit eine Fetischierung der Ökonomie." Franz Mehring, Gesammelte Schriften, B d . 11, S. 167. G e o r g Lukäcs, Franz Mehring (1846—1919). Zuerst in: F . Mehring, Legenda of Lessing. Academia, Moskau—Leningrad 1934, S. 7 - 8 3 . J e t z t in: G e o r g Lukäcs Werke, B d . 10, N e u wied 1969, S. 341—432. Siehe hierzu Hans K o c h , Franz Mehrings Beitrag zur marxistischen Literaturtheorie, Berlin 1959, der Lukäcs grundlegende Irrtümer nachweist.
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kritik in Osteuropa geworden ist. Während Nietzsche von Lukäcs als Philosoph der Faschismus gebrandmarkt wurde, hatte Mehring ihn als „Philosophen des Großkapitels" dargestellt, was nun wieder der entscheidende Gesichtspunkt in der heutigen marxistischen Nietzschekritik geworden ist. Genauer betrachtet hat die von Mehring entwickelte Sehweise Nietzsches in dem Buch des Feuerbachschülers Julius Duboc Jenseits vom Wirklichen von 1896 eine Parallele. Vom Feuerbachschen Standpunkte, d. h. von der „anthropologischen Basis" aus entwirft Duboc darin eine historische Skizze „von den drei Philosophen der deutschen Bourgeoisie", d.h. von Schopenhauer, Eduard von Hartmann und Nietzsche, und beschreibt den inneren Zusammenhang ihrer Systeme als eine sich steigernde und zuspitzende Entwicklung. 7 2 Ähnlich sieht Mehring drei sich hochtreibende Phasen des Bürgertums durch diese Philosophen repräsentiert. 73 Der „weltflüchtige Pessimismus" Schopenhauers, der erst spät in Deutschland rezipiert wurde, entspricht der Zeit nach dem Scheitern der Revolution und drückte aus, „daß die Menschen überhaupt nach unabänderlichen Naturgesetzen in der denkbar elendesten Welt leben müßten". 7 4 Dies ist die Zeit einer „katzenjammerlichen Stimmung", in der Schopenhauer, wie Mehring sagt, der „Philosoph des rentenbeziehenden Spießbürgertums" wurde. 7 5 Eduard von Hartmann repräsentiert danach die „gänzliche Preisgabe des bürgerlichen Klassenbewußtseins" und führt einen „Juchhe-Pessimismus" herbei, der „tröstend hinzufügte, daß es dem Pessimisten durchaus unverwehrt sei, die guten Dinge dieser Welt mitzunehmen, wenn er es nur mit , stiller Hoheit der Resignation* und ,erhabener Trauer' t ä t e . " 7 6 Nietzsche vertritt in dieser Sicht vom Fortgang der Zeiten die Philosophie des „ausbeuterischen Kapitalismus", 7 7 die politisch in der Beseitigung des deutschen Kleinstaatwesens, der Uberwindung des nationalen Gedankens und der Entwicklung auf das „Zeitalter der Kartelle und der Trusts" hin ihre Entsprechung finden soll. Nun entstehe eine „neue über Europa regierende Kaste," die in London, Rom, Madrid und Moskau „wesensgleich" sei und deren „deutscher Philosoph" Friedrich Nietzsche wurde. 7 8 Ohne diese Zusammenhänge selbst zu verstehen, hätte Nietzsche sich „mit künstlerischen und literarischen Reminiszenzen" die „Übermen-
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Julius Duboc, Nietzsches Ubermenschlichkeit. In: Julius Duboc, Jenseits vom Wirklichen, Dresden 1896, S. 110—144. Ein erweiterter Neudruck erschien mit dem Titel: Julius Duboc, Anti-Nietzsche, Dresden 1897.
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Gesammelte Schriften, Bd. 13, Gesammelte Schriften, Bd. 13, Gesammelte Schriften, Bd. 13, Gesammelte Schriften, Bd. 13, Gesammelte Schriften, Bd. 13, Lessing-Legende: Gesammelte Lessing-Legende: Gesammelte
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S. 167. S. 152. S. 173, 159. S. 174. S. 159—160. Diese Formulierung findet sich auch in Mehrings Schriften, Bd. 9, S. 50. Schriften, Bd. 9, S. 3 6 3 - 3 6 4 .
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sehen", die „freien, sehr freien Geister" und „guten Europäer" ausgemalt und diesen deshalb jene „Prunknamen" gegeben, weil er mit dem „Instinkt des Dekadenten" wohl empfand, „daß es sehr schäbige Figuren des Verfalls zu vergolden" galt. 79 Im wesentlichen ist es Nietzsche nach Mehring darauf angekommen, die „Klassenmoral des Kapitalismus" auf ihrer zeitgemäßen Stufe zu begründen und die Schranken zu überkommen, welche „kleinbürgerliche Ehrbarkeit" und „großbürgerliche Respektabilität" noch auferlegten. 80 Zu diesem Zweck habe er ein eigenes Buch verfaßt, um den Nachweis zu führen, „daß die , Herrenmoral' des kapitalistischen , Ubermenschen' den Unterschied von gut und böse nicht kenne". 8 1 Mehring nennt diese Art von Ubermenschen auch „Börsenjobber" und „Reptile", wobei er an Leute wie Rothschild, Krupp und Stumm denkt. 82 Nietzsche selbst sei es nicht um die „Völker" oder um Menschen zu tun gewesen, welche „Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht, Fleiß, Mäßigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht" als ihre Eigenschaften ansehen, sondern um jene, „zu denen der ausbeuterische Charakter' gehöre wie die organischen Formen zum Leben". 8 3 Jedoch war Nietzsche für Mehring „nicht nur der Herold, sondern auch das Opfer des Großkapitals". Denn als ein „fein und reich angelegter Geist" habe er „mit Abscheu und Grausen" das vom Kapitalismus erzeugte „grenzenlose Elend" empfunden, freilich nicht „in dem Elend von heute die Hoffnung auf morgen zu entdecken vermocht. 84 In den von Georg Lukäcs während der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre verfaßten Schriften über Nietzsche 85 wird dessen Philosophie rückhaltlos als eine brutale Moral entfesselter Instinkte charakterisiert, die „so konkret wie möglich den Hitlerfaschismus vorweggenommen" habe. 8 6 Lukäcs vertritt die Ansicht, daß „Hitler und Himmler, Goebbels und Göring" zu ihren Taten in Nietzsche „einen geistig-moralischen Verbündeten" gefunden hätten und bezeichnet Versuche zu einer humanistischen Interpretation Nietzsches als „Ausdruck des bisher erreichten tiefsten Niveaus in der Geschichtsklitterung des amerikanischen Imperialismus". 87 In einer bislang nicht dagewesenen Schwarz-Weiß-Malerei gliederte Lukacs die moderne Geistesgeschichte in 79 80 81 82 83 84 85
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Gesammelte Schriften, Bd. 13, S. 181. Gesammelte Schriften, Bd. 13, S. 166. Gesammelte Schriften, Bd. 13, S. 172. Gesammelte Schriften, Bd. 13, S. 169, 170, 171. Lessing-Legende: Gesammelte Schriften, Bd. 9, S. 3 6 3 - 3 6 4 . Ebd. Georg Lukäcs, Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik. Zuerst in: Literaturnaja Gazeta, Moskau 16. Januar 1934. Dann in: Internationale Literatur (1935). - Georg Lukäcs, Der deutsche Faschismus und Nietzsche. In: Internationale Literatur 13 (1943). — Georg Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1952. Georg Lukäcs Werke, Bd. 9, S. 310, 300. Werke, Bd. 9, S. 301, 279, 680.
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zwei oppositionelle intellektuelle Strömungen auf, von denen die eine rational und konstruktiv, die andere irrational und zerstörerisch sei und in Nietzsche kulminiere. In dieser marxistischen Geschichte der Philosophie „auf dem Wege zu Hitler" wird Nietzsche in apokalyptischer Sehweise als das inkarnierte Böse, das Tier aus dem Abgrund gezeichnet, das mit satanischem Glanz aphoristisches Feuerwerk und leuchtende Mythen von sich gibt. Novalis, Schlegel, die gesamte deutsche Romantik und idealistische Philosophie, mit Ausnahme von Hegel und Marx, werden als Vorläufer in den Sumpf des Faschismus abgestempelt. 8 8 In einer intellektuellen Preisgabe seiner selbst spricht der Verfasser der Zerstörung der Vernunft vom frühen Lukäcs als dem „Autor der Theorie des Romans", als handele es sich dabei um eine andere Person. Er sagt von der Literatur- und Kunstgeschichte, sie sei „ein großer Massenfriedhof, wo viele künstlerisch Begabte in verdienter Vergessenheit ruhen" und charakterisiert geistige Erscheinungen mit Begriffen wie „parasitische Intelligenz" oder Etiketten wie normal und pervers, gesund und verwesend. Diese von Lukäcs entwickelte „Nietzschekritik" wird heute in Osteuropa ignoriert und übergangen als Standpunkt der Kriegsjahre und des Stalinismus. Seitdem ist das Buch des russischen Philosophen S. F. Oduev Tropami Zaratustry (Auf den Spuren Zarathustras) von 1971 die umfangreichste Veröffentlichung zu Nietzsche. Dies Werk erschien 1977 auch in einer ostdeutschen Adaptation und markiert die gegenwärtige Phase in der Beschäftigung mit Nietzsche, in der im Anschluß an Mehring unnachgiebig die führende Rolle dieses Philosophen für die Grundlegung der Moral des „imperialistischen Monopolkapitalismus" und der „Herren der E r d e " unterstrichen wird. Neben dieser grundlegenden These verfolgt Oduev in den längsten Teilen seines Buches auf ungemein pedantische und langwierige Weise die Aufgabe, „Nachwirkungen" Nietzsches in der deutschen Philosophie bei Dilthey, Simmel, Scheler, Spengler, Klages, Jünger, Baeumler, Rosenberg, Weber, Löwith, Fink, Jaspers, Heidegger und Bollnow aufzuweisen. Die heutige Nietzschekritik in Ostdeutschland ist noch besonders dadurch charakterisiert, daß sie im Anschluß an die sogenannte humanistische Tradition der deutschen Philosophie den angeblichen Antihumanismus Nietzsches scharf anprangert. Das läßt sich am deutlichsten mit folgendem Zitat von Heinz Malorny veranschaulichen. Nietzsches Ablehnung des klassischen bürgerlichen Humanismus und seines Menschenbildes ist total, sie betrifft buchstäblich alle Grundelemente desselben: die Hochschätzung des Menschen und seiner Würde, seiner Arbeit und seiner Werke, die Achtung des Menschen als Selbstwert und Selbstzweck, die Achtung der Menschenrechte und Menschenpflichten, die Idee 88
Siehe hierzu meinen Aufsatz: History in Cliche's: O n Georg Lukäcs's Criticism of Nietzsche. In: Vistas and Vectors: Essays Honoring the Memory of Helmut Rehder. Hrsg. von Lee B. Jennings und Georg Schulz-Behrend, Austin/Texas 1979, S. 180—192.
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des F r i e d e n s z w i s c h e n den V ö l k e r n . N i e t z s c h e v e r w i r f t d e n F o r t s c h r i t t s g e d a n k e n u n d den E r k e n n t n i s o p t i m i s m u s , die o p t i m i s t i s c h e Sicht der S c h ö p f e r k r a f t des M e n s c h e n , die m e n s c h l i c h e F ä h i g k e i t , die Welt z u erk e n n e n u n d z u m B e s s e r e n z u v e r ä n d e r n , u n d die d a r a u s e n t s p r i n g e n d e H o c h a c h t u n g v o n V e r s t a n d , V e r n u n f t u n d W i s s e n s c h a f t . E r w e n d e t sich g e g e n die Ü b e r z e u g u n g v o n der B i l d u n g s - u n d E r z i e h u n g s f ä h i g k e i t , v o n der Perfektibilität des M e n s c h e n , gegen d a s B i l d u n g s i d e a l der allseitigen, harm o n i s c h e n E n t w i c k l u n g der P e r s ö n l i c h k e i t . Schließlich b e k ä m p f t er a u c h die mit alledem z u s a m m e n h ä n g e n d e n F o r d e r u n g e n nach V e r m e n s c h l i c h u n g der gesellschaftlichen B e z i e h u n g e n , nach G ü t e , Gerechtigkeit, Toleranz, M i t l e i d , M e n s c h e n l i e b e u n d B r ü d e r l i c h k e i t der M e n s c h e n i m V e r k e h r untere i n a n d e r , nach Z ü g e l u n g u n d S u b l i m i e r u n g der T r i e b e u n d A f f e k t e . " 8 9
Natürlich kann es hier nicht allein darauf ankommen, diese Reaktionen auf Nietzsche einfach als Beitrag zu dem T h e m a „ N i e t z s c h e und das zwanzigste J a h r h u n d e r t " zu registrieren. Zweifellos wird sich bei einer kritischen Prüfung der hier vorgebrachten Argumente ein großer Teil von ihnen als grundlos und unhaltbar herausstellen. D a s gilt vor allem für jene, die Nietzsche ins Uberdimensionale vergrößern und mit denen seine überspanntesten Selbsteinschätzungen — als „ D y n a m i t " und auf eigens für ihn eingerichteten Lehrstühlen interpretierter Philosoph — wahr zu werden drohen. O d u e v s These: „ D i e M y s t i k Nietzsches liefert ein theoretisches Modell für die indirekte Apologetik der kapitalistischen Weltordnung und der imperialistischen V e r s k l a v u n g " 9 0 sowie das ganze Gerede v o m „ M o n o p o l k a p i t a l i s m u s " kann meiner Ansicht nach übergangen werden, weil es auf einer undialektischen und einseitigen Interpretation beruht, mit der höchst komplexe und auf vielen Ebenen anwendbare Begriffe einfach ins ö k o n o m i s c h e und Soziologische abgedrängt werden. E b e n s o simplistisch erscheint mir die germanozentrische Orientierung dieser Ideologiekritik, die freilich für die marxistische Denkweise, ja schon für Hegel charakteristisch ist. Sie äußert sich in dem Glauben, daß die Entwicklung des westlichen Denkens im 19. Jahrhundert von Marx und Nietzsche repräsentiert werde und danach von ein paar deutschen „ N i e t z s c h e a n i s c h e n " Philosophen abgelesen werden könne, von denen viele heute schon gar nicht mehr repräsentativ sind und deren N a m e n außerhalb der philosophischen Seminare k a u m jemand kennt. Mit dieser U b e r schätzung Nietzsches verbindet sich der Eindruck, er sei „ i m bürgerlichen Deutschland einer der populärsten Denker g e b l i e b e n , " 9 1 ja die westliche Welt würde von immer neuen Nietzschewellen durchbebt und hier w ü r d e in den „Mittelschichten" nach Feierabend der Zarathustra gelesen. V o n der wirklichen Bedeutung Nietzsches in der heutigen westlichen Kritik, von seiner 89 90 91
Malorny, Humanismus, S. 232. Oduev, Zarathustra, S. 429. Oduev, Zarathustra, S. 19.
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Rolle für die Psychologie, die Soziologie, die literarische und philosophische Hermeneutik, die Linguistik und Sprachphilosophie, den Strukturalismus und die Ideologiekritik wird damit nur abgelenkt. Ein altmodisches Nietzschebild etabliert sich, demzufolge er in der sogenannten bürgerlichen Welt der „große Frager" war und dort das Ansehen genießt, „die Grundprobleme zu .erraten', an denen die Armee der theoretischen Waffenträger der Bourgeoisie bis heute arbeitet." 92 Schwieriger dürfte die Auseinandersetzung mit den Argumenten gegen Nietzsches Amoralismus sein, die sich auf seine von Thomas Mann so benannte „schöne Ruchlosigkeit" beziehen, 93 d. h. Nietzsches „Paroxysmen" 9 4 über die „Schwachen und Mißratenen", die „zugrunde gehen" sollen, über den Kranken als „Parasit der Gesellschaft", die „klinische" Perspektive gegenüber dem Leben, oder den Satz aus Zarathustra: „Was fällt, das soll man auch noch stoßen." Nietzsches Äußerungen über die Frauen und die gegen den Humanismusgedanken gerichteten Wendungen gehören ebenfalls in diesen Zusammenhang. Man kann diese Ideen nicht damit umgehen, daß man sie Nietzsches „genialem Eigensinn" zuschreibt oder aus seiner „Versucherrolle" herleitet. Natürlich läßt sich einwenden, daß Nietzsches Auseinandersetzung mit Sokrates und der humanistischen Tradition aus einer ehrlichen Herausforderung, einer agonalen Haltung entspringt, die letztlich einer kritischen Reinigung dieser Ideen dient; daß er mutig gegen den Konformismus von Theorie und Praxis auftritt; daß er ein experimentierendes, perspektivistisches Denken repräsentiert, mit dem er verborgene Sehnsüchte von Zeitgenossen formulierte; daß sein Werk eine Vielzahl von Stimmen zum Ausdruck bringt, die sich gegenseitig aufheben, bzw. ergänzen; daß sein unendliches Spiel von Masken und Gesten eine Totaldialektik bekundet, in der zum Beispiel sein Kampf gegen das Christentum ebenso aus seiner eigenen Christlichkeit erfolgt, wie sein Wüten gegen die Kranken und Schwachen aus einer gegen sich selbst gerichteten Grausamkeit. Und man könnte weiterhin argumentieren, daß es letztlich Begriffe wie „Selbstüberwindung" und „intellektuelle Redlichkeit" sind, die den Aussagen Nietzsches ihr richtiges Profil geben. Bei vielen Aussagen Nietzsches bleibt aber trotz dieser Interpretationen ein unbefriedigtes Gefühl zurück. Angesichts der tiefen moralischen Entrüstung in der osteuropäischen Nietzschekritik empfiehlt es sich, für diese Interpretationsversuche einen kritischen Geist zu bewahren. Wenn die sich dort vollziehende Nietzscherezeption produktive Rückwirkungen auf unser Nietzschebild haben kann, dann meiner Ansicht nach hauptsächlich in der Betonung der fragwürdigen Aspekte dieses komplexen Philosophen. 92 93 94
Oduev, Zarathustra, S. 18. Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 663-664. Jost Hermand, Paroxysmen eines Neinsagers?, S. 136.
Diskussion Fischer: Worin unterscheidet sich die von Ihnen dargestellte Nietzschekritik in Osteuropa von derjenigen, die Georg Lukäcs vorgebracht hat? Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie, Herr Behler, dies einmal zusammenfassend herausarbeiten könnten. Behler: Die Unterschiede sind meiner Ansicht nach beträchtlich und viel bedeutender als die Gemeinsamkeiten, wenngleich die grundsätzliche Beurteilung Nietzsches in der osteuropäischen Welt und vor allem in Ostdeutschland auch heute noch in einer unbeugsamen Ablehung seiner philosophischen Positionen aufgeht. Die wichtigsten Unterschiede der gegenwärtigen Nietzschekritik zu der von Lukäcs vorgebrachten lassen sich in drei Hauptpunkten zusammenfassen. Erstens wird Nietzsche nicht mehr mit dem Hitlerfaschismus gleichgesetzt, wie das Lukäcs in Bausch und Bogen getan hatte. Die Abhebung Nietzsches vom Hitlerfaschismus stützt sich dabei nicht nur auf akzidentelle Gegebenheiten wie besseren ästhetischen Geschmack und große philosophische Feinfühligkeit auf Seiten Nietzsches, sondern auf Wesensunterschiede, insofern die vom Faschismus begangenen Verbrechen in Nietzsches Werken keine Grundlage haben. — Zweitens, Nietzsche wird nicht mehr als Exponent des Faschismus, sondern des Imperialismus und der imperialistischen Moral angesehen, womit sich die Argumentation vom Politischen ins ökonomische und Moralische verschiebt, was eo ipso eine gewisse Entschärfung mit sich bringt. Bei aller Ablehnung, die sich damit verbindet, wird Nietzsche aber keineswegs „rechts liegengelassen", wie das so heißt, sondern als Gegenstand ernsthafter Auseinandersetzung aufgefaßt. Dabei könnte durchaus etwas Positives ins Rollen kommen, wie wir das bei der marxistischen Auseinandersetzung mit der Romantik ja schon erlebt haben. — Drittens hat sich auch der Ton der Auseinandersetzung ganz beträchtlich geändert und ist von dem vulgären Stil von Lukäcs zu einer sachlich gehaltenen Debatte fortgeschritten. Das bezieht sich vor allem auf Ostdeutschland. Das Buch von Oduev ist geschwätzig und auf atemberaubende Weise langweilig. Der Wandel läßt sich allgemein als eine Rückkehr, sozusagen über Lukäcs hinweg, zu der von Franz Mehring entwickelten Position bestimmen. Da Mehring und der Feuerbachschüler Duboc stark von der „anthropologischen Basis" aus operieren, tritt der „humanistische" Aspekt in der Auseinandersetzung mit Nietzsche in den Vordergrund. Insgesamt scheint sich hier eine beträchtliche Verände-
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rung in der geistigen Landschaft abzuzeichnen, die freilich geringfügig ist, wenn man sie in größere Zusammenhänge stellt, da sich in der grundsätzlichen Tendenz, nämlich der Verdammung Nietzsches, nichts geändert hat. Reschke: Ich stimme der Grundaussage der Ausführungen zu, soweit sie als „Momentaufnahme", als Beschreibung des Ist-Zustandes der gegenwärtig sich abzeichnenden marxistischen Nietzsche-Rezeption zu verstehen ist. Und dies sowohl hinsichtlich der Herausarbeitung der im Vordergrund stehenden gegensätzlichen Klassenperspektive (Nietzsche als hervorragender Protagonist der modernen bürgerlichen Philosophie) als auch hinsichtlich der besonderen theoretischen Indikatoren, die eine solche Grundposition der anhaltenden Abwehr historisch wie aktuell bestimmen und, die ein im ganzen einseitiges und verzeichnendes Nietzsche-Bild festschreiben. Doch scheint mir das Spektrum der marxistischen Kritik — zumindest in der D D R — differenzierter zu sein. Vor allem in den Nuancen, die von der Kulturtheorie, der Ästhetik und der Literaturwissenschaft profiliert werden und die insgesamt ein Nietzsche-Verständnis umreißen, das in zunehmendem Maße die bedeutendste Philosophie nach/neben der Marx'schen Theorie historisch-materialistisch kritisch zu würdigen beginnt, d.h. auch nach deren produktiven Impulsen fragt. Dazu in aller Kürze drei Aspekte: Erstens: Daß die marxistische Literaturwissenschaft sich von der Sache her seit langem differenzierter mit dem Problem Nietzsche befaßt, ist bekannt und liegt am besonderen Gegenstand: die Beschäftigung mit der deutschen Literatur der Jahrhundertwende und des beginnenden 20. Jahrhunderts, etwa mit Thomas und Heinrich Mann, mit dem Expressionismus und der sozialistischen Literatur würde sich ohne den Blick auf den offensichtlichen Einfluß der Philosophie Nietzsches ihr Interessenfeld unzulässig einschränken. Als Novum hierbei ist die Tendenz der direkten Auseinandersetzung mit dem „Dichter/Lyriker" Nietzsche 1 zu werten, die sich nicht mehr nur in der pauschalen Anerkennung seiner Sprachbrillianz erschöpft, sondern das Werk selbst vorstellt2 und es in die Tradition großer deutscher Lyrik stellt. Zweitens: Die Diskussion um das kulturelle und künstlerisch-literarische Erbe, die Frage nach den konkreten historischen und sozialen Bedingungen, unter denen man sich ihm zuwendet, hat auch die Entwicklung des marxistischen Denkens selbst in das Blickfeld der Theorie gerückt. Nicht nur, daß im Falle der Nietzsche-Rezeption der 1
Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 8 / 2 (Von 1830 bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts), hrsg. von einem Autorenkollektiv unter Ltg. von Kurt Böttcher, Paul G . Krohn und Peter Wruck, Berlin ( D D R ) 1975; unter dem Titel „Vitalismus und Dekadenz in der Lyrik Friedrich Nietzsches" wird Nietzsche erstmals in seiner Bedeutung als Lyriker ein gesondertes Kapitel gewidmet.
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Deutsches Lesebuch. Von Luther bis Liebknecht, hrsg. von Stefan Hermlin, Leipzig 1978.
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ausschließliche Einfluß der Lukäcs'schen „Verdammung" aus der Sicht antifaschistischer Opposition bzw. klassizistischer Traditionswahl einer historisch relativierenden Auseinandersetzung zu weichen beginnt, sondern vor allem ist eine Hinwendung zu einem wesentlich größeren Panorama der Aneignung Nietzsche'schen Gedankengutes innerhalb der deutschen Arbeiterklasse und bei ihrer ideologischen Avantgarde notwendig geworden: neben Franz Mehring und Georg Lukäcs stehen Bertolt Brecht und Johannes R. Becher oder Anna Seghers, Hans Günther und Lu Märten und — mit Einschränkungen — Ernst Bloch und Walter Benjamin, deren differenzierte Beziehung zum bürgerlichen, genauer: spätbürgerlichen Erbe — auch und gerade in der Konfrontation mit dessen faschistischer Inanspruchnahme — marxistische Positionen weitergetrieben hat. Und es ist zu verweisen auf eine bislang nicht berücksichtigte oder unterschätzte Wirkung Nietzsches in der organisierten — gewerkschaftlichen oder sozialdemokratischen — Arbeiterschaft am Jahrhundertbeginn, die sich zwischen Faszination und Ablehnung bewegte und zugleich Momente einer „selbstbewußten" Verarbeitung seiner Philosophie ausbildete, die aktuell von Belang sind und an denen einsichtig wird, warum und an welchen Stellen der historisch-soziale Gegenspieler Proletariat von der Philosophie Nietzsches profitieren könnte, nicht nur als Kontrastfolie, sondern von der Sache her. Die Dokumentengrundlage stellt die empirische Soziologie, in erster Linie Adolf Levensteins Untersuchungen über die Lebensbedingungen und Kulturgewohnheiten der Arbeiter im modernen Großbetrieb, über ihre Freizeitlektüre 3 und ihre Weltanschauung. Seine ausführliche Korrespondenz mit befragten Arbeitern über ihr Nietzsche-Verständnis gibt einen Einblick in eine Seite der Rezeption, die auch dem bürgerlichen Forschungsstand nicht uninteressant sein dürfte. Drittens: Der vor allem kulturkritische Aspekt der Philosophie Nietzsches — der nach marxistischer Interpretation produktive Zusammenhang von radikaler Kritik, humanistischer Utopie und regressiver Gesellschaftsperspektive — gewinnt für das Selbstverständnis der sozialistischen Gesellschaft, für das Bewußtsein ihres historischen Gewordenseins und ihres Zusammenhanges mit der gesamten bisherigen Kulturgeschichte und für das Begreifen der epochenspezifischen Widersprüche des 20. Jahrhunderts an Bedeutung. Dies zeigt zum Beispiel das kürzlich erscheinene Buch von Masek, De la Apollo la Faust.* Es ist bedauer3
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Adolf Levenstein, Die Arbeiterfrage. Mit besonderer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Seite des modernen Großbetriebes und der psycho-physischen Einwirkungen auf die Arbeiter, München 1912 und ders., Friedrich Nietzsche im Urteil der Arbeiterklasse, Leipzig 1914. Victor Ernest Masek, Herausgeber der rumänischen Anthologie „ D e la A p o l l o la Faust", Bukarest 1978, die ausgewählte Passagen aus der „Geburt der Tragödie" enthält, hebt z . B . in seiner Einleitung „Friedrich Nietzsche und die Behauptung des Menschlichen durch die Kunst" den humanistischen Grundcharakter der Nietzsche'schen Philosophie polemisch hervor:
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lieh, daß der rumänische Kollege, Emanoil Ancuta, noch nicht anwesend ist, der uns sicher mehr darüber berichten könnte. Auch in der D D R zeigen sich positive Ansätze, die über das hinausgehen, was in Ihrem Referat zum Ausdruck kam, wie zum Beispiel in der Behandlung Nietzsches in den betreffenden Teilen der in der D D R erarbeiteten Geschichte der deutschen Literatur. So hat es seit Mehring innerhalb der marxistischen Kritik immer wieder Stimmen gegeben, die sich positiv über Nietzsche geäußert haben. Nietzsches Kulturprogrammtik kann in diesem Zusammenhang — zumindest partiell — lesbar werden als Utopie nichtentfremdeter Zustände, als theoretischer Versuch der Selbstbehauptung menschlicher Subjektivität, als Antizipation einer wieder anzueignenden Sinnlichkeit und Sozialität: eine Lesart, die möglicherweise die emanzipatorischen Elemente des Nietzsche'schen Denkmodells einbringen kann in die notwendigen Überlegungen über zukünftige Kulturentwicklung, ohne dabei die vorhandenen philosophisch-weltanschaulichen Divergenzen zu nivellieren. Derartige Vorstellungen nehmen im Prozeß der aktuellen marxistischen Nietzsche-Rezeption Gestalt an und konturieren die sachkritische Auseinandersetzung. Ohne solche Nuancen zu überschätzen, sind sie doch Ausdruck der „kleinen Schritte", Folgen der Vernachlässigung der permanenten Auseinandersetzung abzutragen. Behler: Ich bin mir darüber im klaren, daß es innerhalb des osteuropäischen Marxismus immer wieder Versuche zu einer positiven Würdigung Nietzsches und sogar zu einer Annäherung von Nietzsche und Marx gegeben hat. Ich habe das in meinem Vortrag selbst erwähnt und auf Danko Grlic verwiesen. Wie solche Versuche aber heute noch auslaufen, zeigt der Fall Grlic selbst am deutlichsten. Für den Hinweis auf Masek bin ich dankbar, da ich dies Buch noch nicht kenne. 5 Es ist aber charakteristisch, daß es sich dabei, wie
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„Eines dieser Vorurteile, das erdrückendste und gleichzeitig das unbegründetste — ist jenes über Nietzsches .zynischen Antihumanismus'", ein Vorurteil, das das Ergebnis von Manipulationen und einem oberflächlichen Verständnis sei (Zitat der deutschen Übersetzung nach: Neue Literatur. Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der SR Rumänien, Heft 8/1978, S. 119/120). Siehe Anmerkung 38 zu meinem Vortrag. Uber den Inhalt des Sammelbandes läßt sich folgendes nachtragen: Er beschäftigt sich mit dem Verhältnis von vier deutschen Autoren zur klassischen Antike: Winckelmann, Lessing, Nietzsche und Rohde, und bringt ausführliche Ubersetzungen aus ihren diesbezüglichen Werken, die jeweils mit umfassenden Einleitungen versehen sind. Der Zweck ist, nicht nur einen „Dialog zwischen Zivilisationen", sondern auch einen „Dialog zwischen Generationen" zu zeigen. Das Nietzsche-Kapitel steht unter dem Thema der Bejahung des Menschlichen durch die Kunst und bezieht sich hauptsächlich auf die ästhetische Seite in Nietzsche. Seine Geburt der Tragödie wird als die revolutionärste Wendung in der Interpretation der Kunst und des Hellenischen Geistes aufgefaßt (S. 171). Der Autor wendet sich auch scharf gegen die Interpretation Nietzsches als Vorläufer des Faschismus und bezeichnet dies als die verkehrteste Nietzschedeutung. Nietzsche könne aus der marxistischen Perspektive am besten beurteilt werden, und der Marxismus und Nietzscheanismus seien nicht unversöhnbar (S. 163). So sei der Ubermensch nicht der kapitalistische Industriemensch (dies
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bei Grlic, wieder um einen Versuch handelt, der außerhalb Deutschlands unternommen wurde, wo das Verständnis von Marx offener ist als in den reduktionistischen und systematisierten Interpretationen Ostdeutschlands. Meine jungen Kollegen an amerikanischen Universitäten haben durchaus keine Bedenken, Vorlesungen oder Seminarübungen abzuhalten mit Titeln wie „Marx, Nietzsche, and the Problem of Human Alienation" oder „Marx and Nietzsche. The Assault on Christian-Bourgeois Morality". Ähnlich freizügig ist in Ländern außerhalb Deutschlands die Sehweise des Verhältnisses von Marx zu den Romantikern, die zum Beispiel dadurch miteinander verbunden sind, daß der mechanistische und statische Weltbegriff des achtzehnten Jahrhunderts bei ihnen durch eine aktive, dynamische Wechselbeziehung zwischen Welt und Mensch überwunden wurde. In der Romantik und vor allem in Feuerbach liegen meiner Ansicht nach die fruchtbarsten Ansatzpunkte für eine produktive Debatte über die Zusammenhänge von Marx und Nietzsche — eine Debatte, die meiner Ansicht nach zu den bedeutendsten philosophischen Aufgaben unserer Zeit gehört. Ich habe selbst einmal an einem solchen Workshop teilgenommen. 6 Der Moskauer Literaturkritiker A. S. Dmitriev hat 1977 in den Weimarer Beiträgen einen bahnbrechenden Aufsatz über die Bedeutung der deutschen Romantik für das sozialistische „Kulturerbe" verfaßt, in dem er sich auch positiv über Schopenhauer und Nietzsche als Fortsetzer der Jenaer Romantik geäußert hat. 7 Wenn man den heutigen Stand der Romantikforschung in Ostdeutschland (vor allem Claus Träger) mit dem in der Nachkriegszeit (Lukäcs, H. Mayer) vergleicht, dann besteht durchaus Berechtigung zu der Annahme, daß auch die Beschäftigung mit Nietzsche eine neue Richtung nehmen kann. Im Moment gehört er aber noch nicht zu dem Erbe, das man beerben möchte, sondern auf das man bislang noch verzichtet, was freilich nicht heißt, daß es ignoriert wird. — Ihrer Bemerkung über positive Ansätze der Nietzschekritik im achten Band der ostdeutschen Geschichte der deutschen Literatur stimme ich zu, obwohl sich auch da einige ganz hübsche polemische Dinge finden. In meinem Vortrag habe ich einen Abschnitt darüber, den ich aus Zeitmangel nicht vorgelesen habe. Es handelt sich dabei um eine gewisse Bewunderung für die künstlerischen und ästhetischen Qualitäten Nietzsches, was ebenfalls auf Mehring zurückgeht, der dafür einen sehr aussei die Herde), sondern ein ethischer Begriff (S. 162—63). D a es sich hierbei um ständige Selbstüberwindung handele, gäbe es auch kein konkretes Beispiel für ihn. Der Grundtenor dieser Nietzscheinterpretation besteht darin, daß der Philosoph eine „metahumanistische" und nicht eine antihumanistische Botschaft vermittle. (Ich danke meiner Kollegin Raimonda Modiano für ihre Auskünfte über dieses Buch). 6
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Mit einem Beitrag Nietzsche, Marx und die deutsche Frühromantik. In: Karl Marx und Friedrich Nietzsche. Acht Beiträge. H r s g . von Reinhold Grimm und Jost Hermand, Madison/ Wisconsin 1978, S. 3 8 - 6 2 . WB 2 (1977), S. 109.
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geprägten Sinn besaß. In dieser Würdigung der dichterischen und künstlerischen Qualitäten Nietzsches sind die ostdeutschen Kritiker meinen Beobachtungen nach großzügiger als zum Beispiel Jost Hermand in der westdeutschen Reclam-Ausgabe der Gedichte Nietzsches. Für den Hinweis auf die Wirkung Nietzsches in der organisierten Arbeiterschaft am Jahrhundertbeginn sowie für Ihre anderen ergänzenden Bemerkungen bin ich Ihnen dankbar. Sie liegen zum Teil außerhalb der von mir zu behandelnden Thematik, nämlich der gegenwärtigen Nietzschekritik in Osteuropa, enthalten aber wichtiges Material für die — noch zu schreibende — Geschichte der sozialistischen Nietzscherezeption, die vielgestaltiger und reichhaltiger verlaufen ist, als gewöhnlich angenommen wird. Montinari: Ich möchte vorschlagen, bei der Abgrenzung zwischen marxistischer und bürgerlicher Nietzsche-Rezeption die historische Entwicklung stärker zu berücksichtigen. Um Beispiele zu nennen, könnte man auf das differenzierte Verhältnis Franz Mehrings zu Nietzsche verweisen. So stark auch Mehrings Entrüstung über den Amoralismus Nietzsches war, so hat er doch dessen kritischen Intellekt und das psychologische Gespür anerkannt; auch zwischen dem frühen und dem späten Nietzsche wußte er zu unterscheiden. Hier liegen bereits Ansätze für eine positive Rezeption Nietzsches durch den Marxismus, die es aber beinahe zur selben Zeit auch in anderen Ländern und danach immer wieder gegeben hat. Die sowjetische Rezeption Nietzsches ist vielfach nicht nur durch Lukäcs sondern auch durch die frühere Auseinandersetzung mit Nietzsche in der deutschen Sozialdemokratie bedingt. In dieser frühen Rezeption wären außer Franz Mehring auch noch Paul Ernst und sozialistische Intellektuelle wie Kurt Eisner oder Erich Mühsam zu erwähnen. Übrigens wirft Lukäcs sogar Mehring vor, daß er einmal behauptet habe, Nietzsche sei für junge Intellektuelle aus der bürgerlichen Klasse eine Art Vorbereitung zum Sozialist-Werden. In der frühen sowjetischen Rezeption seien noch, als zu Nietzsche weitgehend positiv eingestellt, Maksim Gor'kij und Anatolij Lunacarskij genannt. Bei Lukäcs selbst wäre auch innerhalb des Werkes zu differenzieren. Auch dessen Stellung gegenüber Nietzsche ist komplex und manchen Wandlungen unterworfen. Ich beziehe mich dabei auf die vormarxistische Phase von Lukäcs, wie sie in Die Seele und die Formen zum Ausdruck kommt, dann aber besonders auf die Abfolge seiner direkten Arbeiten über Nietzsche: den Aufsatz Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik von 1934, d.h. noch vor dem Krieg; den Aufsatz Der deutsche Faschismus und Nietzsche von 1943, also während des Krieges; und das Buch Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler von 1955, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In diesen Arbeiten kommt eine Intensivierung in der
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Gleichsetzung Nietzsches mit dem Faschismus zum Ausdruck, die durch die Zeitereignisse bedingt war. — Drittens möchte ich eine Spezifizierung der marxistischen Widerspiegelungslehre vorschlagen, die hier nicht bloß in dem gewöhnlichen literarischen Sinne verstanden werden darf. Behler: O b w o h l mein Gegenstand die gegenwärtige Nietzschekritik ist, enthält mein Vortrag, wie ich während der Darstellung gesagt habe, auch eine Skizze, eine sehr global gehaltene Übersicht über die Hauptphasen in der marxistischen Nietzschekritik, die ich aber aus Zeitgründen ausgelassen habe. Darin kommen wohl alle Punkte genügend zum Ausdruck, die Sie zu spezifizieren empfohlen haben, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir durch Ihre Bemerkungen Gelegenhèit geben, fìun darauf zurückzukommen. Daß Mehring einen sehr ausgebildeten Sinn für Nietische besaß, den er als einen „fein urid reich angelegten Geist" bezeichnete, steht in meinem Vortrag drin. Ich weise darin auch auf den sozialistischen Nietzschekritiker Julius Duboc hin, der zur gleichen Zeit wie Mehring vofi der Feuèrbachschen Position her den sogenannten Antihumanismus Nietzsches anprangerte und bei dem die Ansätze zu einem produktiven und positiven Nietzscheverständnis vielleicht noch ausgeprägter sind als bei Mehring. Die spätere Errichtung einer unüberbrückbaren Front zwischen Marx und Nietzsche ist eine Vergröberung und findet in der zeitgenössischen sozialistischen Beschäftigung mit Nietzsche keine Stüt2e. Leider ist der histórisfcHte Uberblick in meinem Vortrag nur „germanozentrisch" orientiert, und ich bin mir darüber im klaren, daß die Ergebnisse viel reichhaltiger ausfällen würdöft; wenn iftan die frühe sozialistische Nietzschere2éption auch außerhalb Deutschlands, z.B.. in Polen oder in Rußland einbeziehet! würde. — Über die literarkritische Ènt^icklung von Lukäcs bin ich mir irrt klaren, sie geht j'à noch Wèlter in die Phase von der „Eigenart des Ästhetischen",' die rftoglichefweise als elfte Rückkehr zu seiner romantischen Position gedeutet werden kamn. In meiner Darstellung seiner Nietzschekritik habe ich mich aber nur an die mittlere PhaSè gehalten und diese auch nur sehr global dargestellt, weil ich früher schon einmal ausführlicher darüber geschrieben habe. 8 Den von Ihnen erwähnten höchst interessanten und bemerkenswerten Gesichtspunkt einer Entwicklungsgeschichte des Nietzschebildes von Lukäcs während der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre habe ich noch nicht berücksichtigt. Meine Einstellung gegenüber dem Lukäcs der mittleren Phase ist absolut negativ. U m aber in diese Haltung ein Element des Verständnisses hineinzubringen, bin ich bereit, einen Ausspruch von Werner Krauss zu akzeptieren, der 1965 diese Position von Lukäcs als „Standpunkt jener vor uns liegenden Jahre" bezeichnete und darüber meinte: „Vielleicht konnte nur ein 8
Siehe die Anmerkung 88 zu meinem Vortrag.
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grob antithetisches Verfahren, eine Schwarz-Weiß-Malerei, dem Bedürfnis der ersten Stunden gerecht werden." 9 Zur Widerspiegelungstheorie: Es war für mich erstaunlich, wie häufig der Begriff der „Widerspiegelung" in der von mir studierten Literatur zu Nietzsche verwandt wurde. Natürlich handelt es sich dabei nicht um die literarkritische Kategorie der Widerspiegelung von typischen Charakteren unter typischen Umständen in literarischen Werken, z.B. in Balzacs Romanen, wie sie Engels mit seiner bekannten Formel in dem Brief an M. Harkness vom April 1888 verwandte10 und die dann ein Zentralbegriff der marxistischen Literarkritik geworden ist. Wenn Nietzsche den Ubergang vom Konkurrenzkapitalismus zum monopolistischen Imperialismus reflektieren soll, dann ist natürlich ein viel gewaltigerer Spiegelungsprozeß im philosophischen, ökonomischen und politischen Bereich angenommen, als er sich bei den Balzacschen Charakteren bekundet. Auf die frühe sowjetische Rezeption Nietzsches und auf Autoren wie Maksim Gor'kij und Anatolij Lunacarskij kann ich vielleicht später noch zurückkommen. Ich möchte jetzt erst gern auf andere Wortmeldungen eingehen. Baier: Mich verwundert, was vorhin über die Behandlung Nietzsches in der Literaturwissenschaft der DDR gesagt wurde. In der heutigen HeineForschung ist man dort, wenn nicht führend, so doch tonangebend, und es ist verwunderlich, daß man nichts Vergleichbares über Nietzsche vorweisen kann. Mein zweiter Punkt betrifft das Verhältnis Nietzsches zur russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, besonders zu Dostoevskij und Tolstoj: in der Moral- und Religionskritik teils Antipoden, teils Sympathisanten. Meine eigentliche Frage, Herr Behler, bezieht sich aber auf das, worüber wir uns heute nachmittag bereits unterhalten haben, nämlich den Einfluß Nietzsches auf das vorrevolutionäre politische Rußland, vor allem auf linksliberale Sozialdemokraten und Marxisten, Aleksandr Bogdanov zum Beispiel, die später zum Kommunismus überwechselten und Nietzsche dann in den Marxismus sozusagen herübernahmen. Immerhin könnten über die Organisationslehre Bogdanovs mittelbare Einflüsse Nietzsches auf Theorie und Praxis der Parteiherrschaft Lenins erfolgt sein — gewiß ein Tabu für die bolschewikische Orthodoxie bis heute. Übrigens ist dem ein heute vergessener Sozialphilosoph der Leipziger Schule nachgegangen, zuerst in einem nie ausgelieferten Lenin-Buch von 1933/34, das nach dem Krieg in sehr veränderter Fassung nochmals ausgedruckt wurde. 11 Es ist Hugo Fischer mit seiner ihn lebenslang 9
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Werner Krauss, Französische Aufklärung und deutsche Romantik. In: Perspektiven und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung und andere Aufsätze, Neuwied 1965, 1 0 M E W Bd. 37, S. 43 f. S. 2 8 2 - 2 8 3 . H. Fischer, Wer soll Herr der Erde sein? Stuttgart 1962; vgl. von ihm auch: Nietzsche Apostata oder die Philosophie des Ärgernisses, Erfurt 1931.
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beschäftigenden Frage, ob Marx oder Nietzsche der Philosophenherrscher des ,Weltstaates' sein wird. Behler: Bei der vorhin erwähnten Behandlung Nietzsches in der ostdeutschen Geschichte der deutschen Literatur kann von einer tiefgehenden literarkritischen Beschäftigung mit Nietzsche nicht die Rede sein; es handelt sich um summarische, skizzenhafte Ausführungen, wie sie für derartige Handbücher üblich sind. Monographische Spezialarbeiten über Nietzsche sind mir aus Ostdeutschland nicht bekannt. Textkritisch befindet sich die Beschäftigung mit Nietzsche in Osteuropa auf dem Stand vor dem Zweiten Weltkrieg, insofern immer noch die alten Ausgaben benutzt werden und Der Wille zur Macht zum Beispiel als ein selbständiges Werk angesehen wird. Etwas der in Ostdeutschland sehr fortgeschrittenen Heineforschung Vergleichbares hat man also in der Beschäftigung mit Nietzsche nicht aufzuweisen. — Nietzsche und die russische Literatur ist sicherlich ein fruchtbares Ergänzungsthema zu dem von mir behandelten Gegenstand. Ich wies in meinem Vortrag nur ganz kurz auf den Einfluß Nietzsches auf die russischen Symbolisten Ivanov, Belyj und Brjusov hin, bin mir aber darüber im klaren, daß Themen wie Nietzsches extremer Individualismus, sein unendliches Reflektieren, die Dekadenz und der Heroismus in der russischen Literatur ihren Niederschlag gefunden haben und von dort aus möglicherweise auch sein philosophisches Bild mitbestimmen konnten. Das würde jedoch eine eigene Untersuchung erfordern. 12 — In meiner Darstellung habe ich mich bewußt an die letzten Jahre gehalten, weil das Thema ja sonst uferlos wäre. Ich bin aber davon überzeugt, daß wenn man das Thema Nietzsche und der Sozialismus oder Nietzsche und der Marxismus auf breiter komparatistischer Grundlage, d.h. nicht nur auf der engen Basis der deutschen Quellen incl. Lukâcs, behandeln würde, man zu recht erstaunlichen Ergebnissen über ihre Zusammenhänge käme. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis in unsere Tage hat es doch immer wieder junge revolutionäre Denker gegeben, die von Marx und Nietzsche gleichzeitig angezogen wurden, und das liegt in der Natur der Sache, weil es sich um zwei herausfordernde Philosophen mit vielen gemeinsamen Berührungspunkten handelt. Die scharfe Trennungslinie zwischen Marx und Nietzsche wurde aus Furchtsamkeit von graubärtigen Dogmatikern gezogen. Ich hatte als Beispiel Danko Grlic angeführt und bin Ihnen für den Hinweis auf Aleksandr Bogdanov dankbar. 13 Freilich bin ich kein Fachmann in dieser Phase der russischen Geistesgeschichte, 12
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Viele Hinweise dazu finden sich in dem Werk von Ettore lo Gotto, Histoire de la littérature russe, Paris 1965. Zu Bogdanov und Nietzsche vgl. z . B . Dietrich Grille, Lenins Rivale. Bogdanov und seine Philosophie, Köln 1966 und K. M. Jensen, Beyond Marx and Mach. Aleksandr Bogdanov's Philosophy of Living Experience, Dordrecht/Holland-London 1978.
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aber ich weiß doch, daß die Wirkungsgeschichte Nietzsches in Rußland bereits 1890 einsetzte und dann außerordentlich lebhaft war. Er wurde auch schon um die Jahrhundertwende vollständig ins Russische übersetzt. Viele Intellektuelle, die sich Marx zugewandt hatten, gerieten damals unter den Bann Nietzsches, und es war in dieser Atmosphäre Rußlands zu Beginn unseres Jahrhunderts, wo das Thema „Nietzscheanischer Marxismus" zuerst auftrat. Bogdanov ist einer der Vertreter dieser Entwicklung. 14 Diese Phase der Nietzsche-Rezeption sollte unbedingt erforscht werden, um der hartnäckigen Auffassung entgegenzutreten, daß es keine Verbindungslinien zwischen Marx und Nietzsche geben könne. Taureck: Meine Frage betrifft die in der marxistischen Nietzschedebatte Osteuropas prominente Humanismusproblematik. Der Humanismus als „Lebensform des Bürgertums" leuchtet mir ein, aber nicht, wieso in Staaten, die selbst durch inhumane Lebensformen gekennzeichnet sind, derart auf den Humanismus gepocht werden kann. Dann noch eine generelle Frage — vielleicht auch nur eine Bemerkung, auf die in diesem Rahmen eine Antwort gar nicht möglich ist: Sie sagten, man vermisse bei Nietzsche Worte wie: „Würde", „Frieden", „Fortschritt", „Toleranz" usw. Wie sollten wir dies anders verstehen denn als ein Eingeständnis des Mangels einer realen Entsprechung dieser Begriffe im Ostblock? Behler: Der Humanismus, der in dieser Debatte als Basis für die Philosophie der progressiven Bourgeoisie angesehen wird, bezieht sich offenbar auf den Humanismus des sogenannten Goetheschen Zeitalters, der im Unterschied zum Renaissancehumanismus auch als zweiter Humanismus bezeichnet wird. Da generell das Merkmal des Humanismus die Idee einer Wiedergeburt aus der klassischen Antike ist, ging es dieser auch als Neuhumanismus bezeichneten Bewegung aus dem späten achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhundert ebenfalls um die Erneuerung der menschlichen Kultur aus der klassischen Antike. Dieser Regenerationsprozeß wurde aber im Unterschied zu anderen humanistischen Strömungen entscheidend durch Anschauungen über die harmonische Ausbildung aller menschlichen Kräfte bestimmt. Hier liegt der Ansatzpunkt zum sogenannten Humanismus von Karl Marx, nämlich 14
Eine aufschlußreiche Arbeit über diese frühe Phase der russischen und marxistischen Nietzscherezeption ist der Aufsatz von George L. Kline, „Nietzschean M a r x i s m " in Russia. In: D e m y thologizing Marxism. A Series of Studies on Marxism. Hrsg. von Frederick J. Adelmann S. J . , Boston—Den H a a g 1969, S. 166—183. Siehe ebenfalls George L . Kline, Some Critical C o m ments on Marx's Philosophy. In: Marx and the Western World. H r s g . von Lobkowicz, University of Notre D a m e Press 1967, S. 420—422. In dieser zuletztgenannten Studie werden Marx und Nietzsche vom Gesichtspunkt des Post-Hegelianismus, bzw. des Anti-Hegelianismus miteinander in Beziehung gebracht.
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zu dessen Ziel der voll und rund ausgebildeten menschlichen Persönlichkeit. Ein zweiter Beziehungspunkt liegt in der Idee der Entfremdung, da bereits für Wilhelm von Humboldt und Schiller durch diese volle Entwicklung der menschlichen Kräfte — bei diesen Denkern freilich auf idealistischer Grundlage — die menschliche Selbst-Entfremdung überwunden wird. Der dritte und vielleicht wichtigste Verbindungspunkt zwischen diesem Neuhumanismus der deutschen Philosophie und Marx besteht in der Geschichtsphilosophie, die bei den deutschen Denkern aus dem Zeitalter Goethes, ja bereits bei Lessing als ein unendlicher Progreß nach der Idee der unendlichen Perfektibilität konzipiert war. Anregungen dazu kamen von Kant, Schiller, aber auch aus Frankreich von Condorcet, Constant und Madame de Staël. Insgesamt handelt es sich hierbei um eine Gruppe solch heterogener Gestalten wie Lessing, Winckelmann, Herder, Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt, Hölderlin und Friedrich und August Wilhelm Schlegel. Natürlich hat Nietzsche gelegentlich diese Phase der „deutschen Bildung" verulkt. Aber in jedem wichtigen Werk über die Geschichte des Humanismusgedankens wird er als hervorragende Gestalt der humanistischen Bewegung gewürdigt, da die Grundgedanken des Humanismus ja konstitutiv für seine Philosophie sind. Wenn Marx andererseits und meiner Ansicht nach mit Recht in die humanistische Strömung Deutschlands einbezogen wird, gerät er wiederum in eine interessante Beziehung zu Nietzsche. Im Grunde handelt es sich auch hier um die Uberwindung der von Lukäcs errichteten Zerrbilder, die alles verwirrt haben. — Zu der Frage, wie es sich mit „Würde", „Frieden", „Fortschritt", „Toleranz" usw. im Ostblock verhält, möchte ich mich hier nicht äußern, da dies außerhalb meines Themas liegt. Zweifellos ist dies eine Frage, die sich aus der von mir referierten Nietzschekritik unmittelbar erhebt. Müller-Lauter: Daß in Sachen Nietzsche in Osteuropa einiges in Bewegung geraten ist, läßt sich durchaus auch ,von außen' erkennen. Ob Frau Reschkes Optimismus recht behält, daß eine offenere Auseinandersetzung mit Nietzsche Raum gewinnen wird, oder ob eine Stagnation eintreten, gar der Rückgang zu früheren dogmatischen Positionen sich vollziehen wird, bleibt abzuwarten. Wir alle würden sicher eine sachgegründetere Aufnahme der Philosophie Nietzsches in Osteuropa begrüßen, als sie bisher erfolgt ist. Geduld wird man freilich auch im günstigsten Fall haben müssen, das habe ich jedenfalls aus Frau Reschkes Diskussionsbeitrag herausgehört. Vielleicht liegt die Differenz zwischen Herrn Behler und Frau Reschkes Bewertung in der Erwartung „großer Schritte" auf seiner Seite und im Hinweis auf „kleine Schritte" auf ihrer Seite. Die Bedeutung der „kleinen Schritte" ist von außen sehr schwer einzuschätzen. Das Buch von Oduev mag für die Diskussion um Nietzsche in Osteuropa eine Funktion der Auflockerung im eben ange-
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deuteten Sinne haben. Auch ich stimme Herrn Baier darin zu, daß Oduevs Ausführungen zu Dilthey, Simmel, Scheler und anderen Beachtung verdienen. Aber sie stehen doch sämtlich im Dienste des „Klassenkampfes", unter dem Vorzeichen einer reduktionistischen Ideologie, die Nietzsche und den „Nietzscheanismus" auf ihre spezifische Weise „erklärt", in Wahrheit aber „konstruiert". Auf die dabei verwendeten Mittel kann ich hier nur soweit eingehen, wie sie am Anfang des Vortrags von Herrn Behler als allgemein charakteristisch für die osteuropäische Nietzsche-Auffassung genannt wurden. Nietzsche selber wird in ,,-ismen" eingepackt. Der „Nietzscheanismus" (nach Oduev ein realer und gefährlicher Gegner, den die marxistischen Philosophen bekämpfen müssen) ist ein weiteres Vernebelungs- und Schlagwort, in dessen Bannkreis man hineinziehen kann, wer immer sich mit Nietzsche in ernstzunehmender Weise beschäftigt und sich auch nur partiell auf ihn beruft. Daß die ,,-ismen", ohne saubere Abgrenzungen, zu leeren Hülsen werden, ist die Voraussetzung für ihren ideologischen Mißbrauch. Daß auch in der westlichen Welt z.B. das Wort „Humanismus" eine so vielfältige Verwendung findet, daß es als beliebig einsetzbare Floskel insbesondere im politischen Bereich dienen kann, zeigt nur, daß Vernebelung durch Begriffsverwischung zu den Weisen, vielleicht zu den Bedingungen gehört, Massen gesellschaftlich zu integrieren und zu mobilisieren. Aus diesem Grunde fühle ich mich auch nicht wohl, wenn Frau Reschke — und anschließend auch Herr Montinari — von der „bürgerlichen" Nietzsche-Aufnahme sprachen. Ich höre da eine fixierende Eingrenzung heraus, durch die Interpretationsversuche als von vornherein gesellschaftlich bedingt abgestempelt werden. Bestenfalls kann man ihnen Wohlwollen entgegenbringen, insofern sie auf ihre eigene Uberwindung hin tendieren, man ist aber über sie grundsätzlich schon hinaus. Behler: Auch ich fühle mich natürlich unwohl, wenn bedeutende philosophische Auseinandersetzungen im Stil von „Ismen" geführt werden. Um aber gerecht zu sein, müssen wir zugestehen, daß dieser Stil der Auseinandersetzung nicht erst von Nietzsches osteuropäischen Interpreten eingeführt wurde, sondern Nietzsche sich selbst ganz schön auf diese Weise aufführen konnte. Seine Auseinandersetzung mit intellektuellen Gegnern vollzieht sich meistens in der Form von nivellierenden und reduktionistischen Klischees wie Pessimismus, Nihilismus, Rationalismus, Décadence usw., um härtere Ausdrücke wie „Rachitiker" oder „Begriffskrüppel" zu vermeiden, und manchmal meint man, ihm hätte der Schaum vor dem Mund gestanden. Er war eben ein sehr vielfältiger Mensch, und ich verstehe schon, daß viele seiner einseitigen Thesen eine ebensolche Antwort herrufen konnten. Daß aber in einem solchen Hin und Her die Nietzscheauslegung nicht aufgehen kann, habe ich gleichzeitig durch meinen Vortrag zu zeigen versucht.
Diskussion
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Gründer: Ich möchte an die Frage von Herrn Baier über den Einfluß Nietzsches auf das vorrevolutionäre Rußland, vor allem auf linksliberale Sozialdemokraten und Marxisten zurückkommen, die später zum Kommunismus überwechselten und Nietzsche in den Marxismus einführten. Herr Baier nannte Bogdanov. Ich denke auch an Namen wie Lunacarskij und Bazarov. Behler: Volskij ließe sich ebenfalls nennen. Ich bin nicht präpariert, um hierüber jetzt aus dem Stand nähere Auskunft geben zu können und über das hinauszugehen, was ich in Beantwortung der Frage von Herrn Baier gesagt habe. Zunächst möchte ich wiederholen, daß ich die Erforschung dieser frühen sozialistischen und marxistischen Nietzscherezeptionen vor der Dogmatisierung und Scholastifizierung des Marxismus als eine der wichtigsten Forschungsaufgaben für das Thema Nietzsche und Marx ansehe, wenn sie auf breiter komparatistischer Grundlage durchgeführt wird, und daß das Thema Nietzsche und Marx, meiner Meinung nach, eines der wichtigsten unserer Zeit ist. Uber die Themen, die bei der Beschäftigung dieser frühen russischen Marxisten mit Nietzsche in den Vordergrund traten, kann ich hier aus der Erinnerung nur vage Vermutungen anstellen. Die Entfremdungsproblematik, die Idee des neuen Menschen, die individuelle Kreativität des Menschen, also Themen, die später ganz ähnlich bei Danko Grlic in den Vordergrund traten, haben diese frühe russische Form des Nietzscheanischen Marxismus bestimmt. Aber darüber hinaus muß ich hier jetzt „passen" und die Ausführung dieses interessanten Themas der künftigen Forschung überlassen. 15
Nachwort Behler: Im Verlauf des Vortrages, vor allem aber während der Diskussion wurde wiederholt das Thema von möglichen Verbindungslinien zwischen den philosophischen Positionen von Friedrich Nietzsche und Karl Marx aufgeworfen, und es wurden auch Versuche einer tatsächlichen Verbindung von Marx und Nietzsche (Grlic, Lunacarskij u. a.) besprochen. Dabei wurde festgestellt, daß diese Versuche von der Entfremdungsproblematik, der Emanzipationstheorie, der Idee der voll entwickelten menschlichen Persönlichkeit und dem Bedürfnis nach individuellem Schöpfertum des Menschen ausgehen und bis in die Anfänge der sozialistischen Auseinandersetzung mit Nietzsche zurückreichen. Im Unterschied zu dieser Aufgeschlossenheit ist die Haltung der heutigen Marxistisch-Leninistischen Philosophie gegenüber Nietzsche, wie dies vor allem in den Stellungnahmen aus Ostdeutschland und in dem 15
Zu dem bedeutenden Einfluß Nietzsches auf Lunacarskij vgl. Dora Angres, Die Beziehungen Lunacarskijs zur deutschen Literatur (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur Bd. 43), Berlin 1970, bes. S. 16-19.
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Ernst Behler
Buch von Oduev zum Ausdruck kommt, in der Sache unerbittlich ablehnend, wenn auch im Ton verbindlich. Im Hinblick auf den großen Wandel, der sich in den vergangenen Jahren in der ostdeutschen Romantikforschung vollzogen hat, wurde die Erwartung ausgedrückt, daß sich ein ähnlicher Vorgang auch in bezug auf Nietzsche vollziehen könnte. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß nach Abschluß der Zweiten Internationalen Nietzsche Tagung in der Reihe Teksty der Polnischen Akademie der Literaturwissenschaft ein Sonderheft Nieco o Nietzschem 51, 3 (1980) mit einer außerordentlich positiven Neubewertung Nietzsches veröffentlicht wurde. Neben Spezialthemen der Nietzscheforschung behandelt dieses Heft auch die Nietzscherezeptionen von Heidegger, Thomas Mann und Deleuze, die spanische Aufnahme Nietzsches und die neue Nietzscheausgabe von Colli und Montinari. Unter den Echos auf Nietzsche ragen die frühesten polnischen Stimmen zu Nietzsche hervor, die bis in die Zeit kurz nach der Jahrhundertwende zurückgehen. 16
16
Ich verdanke diesen wichtigen Hinweis meiner Kollegin Bogdana Carpenter.
WALTER KAUFMANN NIETZSCHES PHILOSOPHIE DER
MASKEN*
N i e t z s c h e hat seine G e d a n k e n ü b e r M a s k e n nie ausführlich an einer bes o n d e r e n Stelle seines W e r k e s entwickelt. D a s zweieinhalb B ä n d e starke R e gister der M u s a r i o n A u s g a b e v e r z e i c h n e t n u r vier H i n w e i s e auf M a s k e n , w ä h r e n d K a r l Schlechtas 5 0 0 Seiten umfassendes R e g i s t e r z u den W e r k e n sechs Stellen n e n n t . J e d o c h w i r d das T h e m a der M a s k e in N i e t z s c h e s e r s t e m W e r k , d e r Geburt
der
Tragödie
in den A p h o r i s m e n 9 , 10 u n d 12 e i n g e f ü h r t 1 und
findet dann eine reichhaltige E n t w i c k l u n g in d e r Fröhlichen allem aber in Jenseits
von
Gut und
Böse.3
Wissenschaft,2
vor
Viele d e r p o s t h u m veröffentlichten
N o t i z e n sind ebenfalls v o n R e l e v a n z , 4 a b e r die A b s c h n i t t e in den v o n N i e t z s c h e selbst veröffentlichten W e r k e n sind reichhaltiger. E s w ä r e natürlich stumpfsinnig, w e n n m a n die E r f o r s c h u n g dieses T h e m a s auf jene P a s s a g e n b e s c h r ä n k e n wollte, in denen das W o r t „ M a s k e " v o r k o m m t .
* Walter Kaufmann hatte für die Reisensburger Tagung einen Vortrag unter dem Titel Masken und Eigentlichkeit angekündigt, dessen Manuskript sich nicht in seinem Nachlaß fand. In dem zur Zeit seines Todes erschienenen zweiten Band seines Werkes Discovering the Mind (New York 1980) hat Walter Kaufmann sich jedoch zu diesem Thema geäußert. Daher habe ich es im Einverständnis mit Mrs. Walter Kaufmann und Herrn Wolfgang Müller-Lauter übernommen, die Abschnitte 26 bis 29 dieses Bandes aus dem Englischen ins Deutsche zu übertragen. Diese Abschnitte entstammen dem dritten Teil dieses Bandes, der Nietzsche gewidmet ist, und behandeln „Nietzsche's Fifth and Final Contribution" zu dem „Discovering the Mind", nämlich „his philosophy of masks". Die von der McGraw-Hill Book Company autorisierte Übersetzung folgt wortgetreu dem Original und wurde nur dort modifiziert, wo sich Kaufmann mit besonderen Punkten seiner englischen Nietzsche-Ubersetzung befaßte oder sich auf den Kontext des ganzen Werkes bezog. Man kann mit gutem Grund annehmen, daß er den hier übersetzten Text zur Basis seines Vortrages auf der Reisensburg gemacht hätte. Und so war es mir eine ehrenvolle, wenngleich traurige Aufgabe, dabei mitzuhelfen, den verstorbenen Kollegen und Freund wenigstens in dem Band über unsere Tagung gegenwärtig zu 'la'5en' 1
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Siehe ebenfalls meine Anmerkung zum fünften Aphorismus in meiner kommentierten Englischen Ubersetzung (New York 1967) sowie das fünfte Kapitel der Unzeitgemäßen Betrachtung über die Geschichte. Aphorismus 77, 80, 352, 361 und 365. Vorwort und Aphorismen 4, 5, 25, 30, 40, 47, 204, 221, 225, 230, 270, 278 und 289. In WM allein die Nummern 68, 78, 132, 289, 377, 434, 944, 962, 985, 988. Ebenfalls Werke (Musarionausgabe), Bd. XVI, S. 305.
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Rolle und Rollenspielen sind ebenfalls von Wichtigkeit5 wie auch die zahlreichen Bemerkungen Nietzsches über den Schauspieler, das In-Szene-Setzen und das Schauspielerische.6 Ernst Behler hat zu verstehen gegeben, daß Nietzsche den Begriff „Ironie" vielleicht deshalb vermieden hat, weil er weithin mit romantischer Subjektivität in Zusammenhang gebracht wurde, und stattdessen den klassischen Begriff dissimulano verwandte, der, wie Behler sagt, von Nietzsche als „Maske" übersetzt wurde. Tatsächlich spricht Nietzsche oft von „Verstellung", und diese Äußerungen gehören ebenfalls zu seiner Philosophie der Masken. Der vielleicht interessanteste Punkt in Behlers Argumentation ist, daß Cicero den Griechischen Begriff der Ironie ins Lateinische einführte und ihn mit dissimulatio übersetzte. 7 Von hier aus könnte man versuchen, Nietzsches Philosophie der Masken mit der Geschichte der Ironie in Zusammenhang zu bringen. Es ist jedoch viel fruchtbarer, dieses Thema als Beitrag zur Entdeckung des Geistes 8 zu betrachten, denn es ist viel subtiler als die existenzialistischen Gegenüberstellungen von Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit, die seit dem ersten Weltkrieg Mode geworden sind. Heideggers ziemlich Manichäistische Auffassung solcher Begriffspaare wird ausführlicher an einer anderen Stelle behandelt. 9 Hier kann dieser Punkt kurz von Sartres Situations X (1975) verdeutlicht werden. In dem langen Interview mit Michel Contat wird von Sartre die weitverbreitete Meinung, daß Masken böse seien, klar und beredt ausgesprochen: Ich glaube, die Beziehungen zwischen Menschen werden dadurch verdorben, daß jeder vor dem anderen etwas verborgen hält . . . Ich glaube, Offenheit sollte immer die Geheimhalterei ersetzen [S. 11]. D i e Existenz eines Menschen muß seinem N a c h b a r n völlig sichtbar sein und dessen Existenz auf entsprechende Weise, ehe eine echte gesellschaftliche G e meinschaft zustande kommen kann [S. 13]. 1 0 5
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FW Aph. 68, 71, 356, 361. Siehe ebenfalls den sechsten Abschnitt aus der Einleitung zu meiner kommentierten englischen Ubersetzung (New York 1974). FW Aph. 36, 99, 236, 301, 356, 361, 366, 368, 377; J G B Aph. 7, 9, 97, 205; WA Aph. 8, 9, 11, 12 und 1 des Nachworts. Das Musarion-Register verzeichnet viele zusätzliche Stellen in den anderen Büchern und im Nachlaß, aber keine über „Hanswurst", was ebenfalls von Interesse ist: Siehe G D II, Aph. 5 und Ecce homo II, Aph. 4 und IV, Aph. 1. — Ein anderer in Betracht kommender Begriff ist „Vordergrund". Siehe, z.B., Werke XIV, S. 308; „daß ein Mensch mit Hintergründen Vordergründe nötig habe, sei es für Andere, sei es für sich selber: denn die Vordergründe sind einem nötig, um von sich selber sich zu erholen, und um es Anderen möglich zu machen, mit uns zu leben." Ernst Behler, Nietzsches Auffassung der Ironie, in: Nietzsche-Studien 4 (1975), S. 4—5. Bedeutende Aussagen über „Verstellung" finden sich in MA I Aph. 293; M Aph. 248; G D IX, Aph. 14 und WM Aph. 544. Discovering the Mind ist der Gesamttitel des Werkes von Walter Kaufmann, dem dieser Beitrag entstammt. (Anm. des Ubersetzers.) Im vierten Kapitel des zweiten Bandes von Discovering the Mind, das den Titel trägt: "Heidegger's Dogmatic Anthropology". Jean Paul Sartre, Situations X, Paris 1975.
Nietzsches Philosophie der Masken
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Michel Contat fragte: „Entstammt das Schreiben nicht der Geheimhalterei und innerem Widerstreit? In einer harmonischen Gesellschaft gäbe es vielleicht keine Grund mehr, daß das Schreiben existierte." Sartre antwortete. Gewiß entstammt das Schreiben der Geheimhalterei. Aber . . . es versucht entweder dies Geheimhalten zu verbergen und zu lügen (dann ist es ohne Interesse), oder . . . es bewegt sich auf jene Durchsichtigkeit hin, die ich anstrebe [S. 1 3 - 1 4 ] ,
Ein wenig später fügte Sartre noch hinzu: „Der Schriftsteller muß diese Totalität darstellen, indem er sie völlig demaskiert" (S. 16). Manchmal klingt Nietzsche, als würde er Sartre anworten. Aber wir brauchen seine Philosophie der Masken keineswegs in derart polemischen Begriffen zu sehen. Es genügt, sich bewußt zu sein, wie weit verbreitet die Ansicht ist, daß Ehrlichkeit einfachhin in Offenheit besteht und daß Masken der Inbegriff der Unaufrichtigkeit und folglich böse sind. Auch hier war Nietzsche seiner Zeit weit voraus — aber ebenfalls unserer Zeit. Wiederum fällt auf, daß Gedanken, mit denen er sich so zentral und nachdrücklich beschäftigt hat, weithin nicht zur Kenntnis genommen wurden, und zwar nicht allein von Herstellern der Register zu seinen Werken. Die meisten Gelehrten schreiben über das, was andere geschrieben haben, und trotz der Uberfülle von einschlägigem Material hat noch niemand eine gehaltvolle Abhandlung über Nietzsches Philosophie der Masken verfaßt. 11 I. Der erste und vielleicht wichtigste Punkt besteht darin, daß Nietzsche, der zu der Idee der Maske durch seine Beschäftigung mit der griechischen Tragödie kam, Masken nicht notwendigerweise als unaufrichtig und böse ansah. Der Beginn des zehnten Abschnitts aus Die Geburt der Tragödie ist von besonderem Interesse, obgleich ich mir nicht im klaren darüber bin, ob alles, was Nietzsche hier sagt, richtig ist. Es ist eine unanfechtbare Überlieferung, daß die griechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte und daß der längere Zeit einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, daß niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tragische Held zu sein, sondern daß alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne, Prometheus, ö d i p u s usw., nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind.
Joseph Campbell, der so etwas wie ein Jungianer ist, hat dieses Thema in The Hero with a Thousand Faces (1949) und in den vier Bänden von The Masks of God (1959-67) entwickelt. 11
Zu denen, die in ihren Büchern über Nietzsche den Masken einige Aufmerksamkeit gegeben haben, gehören Bertram (1918), Jaspers (1936) und Morgan (1941). W . D. Williams "Nietzsche's Masks" (1978) ist unbrauchbar.
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Ein anderes Thema, das im zwanzigsten Jahrhundert sehr modisch wurde, ist das Rollenspielen. Die International Encyclopedia of the Social Sciences enthält spezielle Artikel über „Psychological Aspects" und „Sociological Aspects" (Bd. 13, 1968), und beide verfolgen die Anfänge der Rollentheorie bis hin in den Beginn der zwanziger Jahre. Im Amphorismus 356 der Fröhlichen Wissenschaft hatte Nietzsche aber bereits 1887 mit ziemlicher Genauigkeit erklärt, wie die „Lebensfürsorge" beinahe „allen männlichen Europäern" eine „bestimmte Rolle" aufzwingt, nämlich „ihren sogenannten Beruf", daß die meisten Menschen nicht einmal ihre eigene Rolle wählen und wie fast alle „sich in einem vorgerückten Alter mit ihrer Rolle" verwechseln. Schließlich „ist aus der Rolle wirklich Charakter geworden, aus der Kunst Natur." Nietzsche nahm keineswegs an, daß das, was er in einem Teil der Welt entdeckt hatte, überall gültig wäre. Er stellte historische und geographische Vergleichungen an, die auch das Mittelalter einschlössen, und machte kritische Bemerkungen wie Jener Athener-Glaube, der in der Epoche des Perikles zuerst bemerkbar wird, jener Amerikaner-Glaube von heute, der immer mehr auch EuropäerGlaube werden will: wo der einzelne überzeugt ist, ungefähr alles zu können, ungefährdeter Rolle gewachsen zu sein, wo jeder mit sich versucht, improvisiert, neu versucht, mit Lust versucht, wo alle Natur aufhört und Kunst wird . . . Die Griechen, erst in diesen Rollen-Glauben — einen Artisten-Glauben, wenn man will — eingetreten, machten, wie bekannt, Schritt für Schritt eine wunderliche und nicht in jedem Betracht nachahmenswerte Verwandlung durch: sie wurden wirkliche Schauspieler.
Nietzsche ging weiter und sagte, „wir modernen Menschen sind schon ganz auf dem gleichen Wege" und daß „die interessantesten und tollsten Zeitalter der Geschichte" jedesmal dann herauskommen, wenn „die ,Schauspieler', alle Arten Schauspieler, die eigentlichen Herren sind." Als Folge davon wird jedoch „eine andere Gattung Mensch immer tiefer benachteiligt" und sogar „endlich unmöglich gemacht", nämlich die „großen .Baumeister'": „jetzt erlahmte die bauende Kraft; der Mut, auf lange Fernen hin Pläne zu machen, wird entmutigt." Gegen Ende dieses Aphorismus entwickelt Nietzsche den Gedanken: Wir alle sind kein Material mehr für eine Gesellschaft: das ist eine Wahrheit, die an der Zeit ist! Es dünkt mich gleichgültig, daß einstweilen noch die kurzsichtigste, vielleicht ehrlichste, jedenfalls lärmendste Art Mensch, die es heute gibt, unsere Herrn Sozialisten, ungefähr das Gegenteil glaubt, hofft, träumt, vor allem schreit und schreibt."
Einer der grundlegendsten Unterschiede zwischen Nietzsches Philosophie der Masken und Heideggers Ausführungen über Uneigentlichkeit sowie Sartres Darlegungen über Rollenspielen besteht darin, daß Nietzsche, wie
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Goethe, in Vorstellungen der Entwicklung denkt und einen historischen Gesichtspunkt hat, während Heidegger und Sartre unter dem Einfluß Kants versuchen, zeitlose Strukturen zu entdecken und dabei einfach Epochen und Gegenden außer Acht lassen, die andere Modelle nahelegen. Obgleich einige ihrer Leser vielleicht annehmen, daß ihr scholastischer Denkstil eine Garantie für wissenschaftliche Gründlichkeit bietet, ist ihre Denkmethode, die Einwände und Alternativen ignoriert, im wesentlichen dogmatisch. Nietzsches Werke dagegen vibrieren mit einem Spürsinn für mögliche Einwände und Alternativen. Er selbst drückte dies vorzüglich im zweiten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches (Erster Band) aus, dem er den Titel gab „Erbfehler der Philosophen", wobei Erbfehler nach Erbsünde geprägt ist. A l l e Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, daß sie v o m gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben ans Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlich schwebt ihnen ,der Mensch' als eine aetema ventas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maß der Dinge v o r . Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber im G r u n d e nicht mehr, als ein Zeugnis über den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraumes. Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die aller jüngste Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als die feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie wollen nicht lernen, daß der Mensch geworden ist, daß auch das Erkenntnisvermögen geworden ist . . .
In einer späten Notiz sagt Nietzsche auf ganz ähnliche Weise: W a s uns ebenso v o n Kant wie von Plato und Leibniz trennt: W i r glauben an das W e r d e n allein auch im Geistigen, — w i r sind historisch durch und durch. Dies ist der große Umschwung. Lamarck und Hegel — : D a r w i n ist nur eine Nachwirkung.12
Heidegger und selbst Sartre sind in dieser Hinsicht noch Kantianisch, während Nietzsche, wie Hegel, das Goethesche Erbe absorbiert hat. In bezug auf das Todesthema ist Heidegger ein typischer Fall. Es ist ihm nie eingefallen, einmal zu fragen, ob die Haltung gegenüber dem Tod, die er als allgemeingültig annahm, etwa durch die christliche Lehre beeinflußt war. In einem der besseren Abschnitte von L'Etre et le néant, der Sektion „Arten der Selbsttäuschung" („mauvaise foi"), versucht Sartre auf ziemlich ausführliche Weise zu zeigen, daß ein Kellner in einem Café in Wirklichkeit „spielt, Kellner in einem Café zu sein", und daß der „Café-Kellner nicht direkt und in demselben Sinne ein Café-Kellner sein kann, wie dies Tintenfaß ein Tintenfaß oder dies Glas ein Glas ist." Dieser Tatbestand ist gut erfaßt, aber Sartre stellt ihn dar, als wäre er ungemein subtil und sogar geradewegs paradox. In Wirklicheit 12
Werke (Musarionausgabe), Bd. 16, 9. Siehe auch Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 357.
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hat er aber überhaupt nichts Paradoxes an sich, und Nietzsche nimmt ihn in seinen Beobachtungen über Rollenspielen als selbstverständlich und setzt gerade bei diesem Punkt an. Uber ein halbes Jahrhundert bevor Sartre dies niederschrieb, zog Nietzsche in Betracht, daß es interessante Unterschiede zwischen Europäern und Amerikanern gibt. Um bei Sartres Beispiel zu bleiben: viele Amerikaner machen nie den Fehler, den Sartre mit so viel Umstand korrigieren möchte. Weil sie selbst schon einmal in ihrem Leben als Kellner gearbeitet haben, oder weil sie Kinder haben, die als Kellner arbeiten (um zum Beispiel ihre Universitätsausbildung zu finanzieren), oder weil sie im Moment Kellner sind, aber schon in anderen Berufen gearbeitet haben und keineswegs die Erwartung hegen, den Rest ihres beruflichen Lebens in Lokalen zu verbringen, brauchen sie nicht die Unterweisung, daß ein Kellner nicht in demselben Sinne ein Kellner ist, wie er 178 cm groß ist. Der Aphorismus 361 aus Die fröhliche Wissenschaft trägt den Titel „Vom Probleme des Schauspielers" und legt unter anderem nahe, daß der Druck historischer Umstände Juden wie auch Frauen gezwungen habe, vollendete Schauspieler oder Schauspielerinnen zu werden. Die meisten Bemerkungen Nietzsches über Frauen gereichen ihm wenig zur Ehre und sind offenkundig aus zweiter Hand, nämlich von Schopenhauer, Chamfort und La Rochefoucauld hergeleitet, obgleich er niemals der lächerlichen Bosheit von Schopenhauers Essay „Uber die Weiber" nahe gekommen ist. Nietzsches direkte Kenntnis von Frauen war außerordentlich beschränkt. Es mag angebracht sein, einen Augenblick vom Thema abzuweichen, um diese Andeutung zu begründen. Dabei geht es nicht darum, mildernde Umstände geltend zu machen, sondern darauf zu bestehen, wenn ein gewöhnlich brillianter Mensch törichte Bemerkungen über das andere Geschlecht macht, daß diese Bemerkungen offenbar in irgendeinen biographischen Kontext gestellt werden müssen. Nietzsche war fünf Jahre alt, als er seinen Vater verlor und wuchs in einem Haushalt auf, der aus seiner Mutter, seines Vaters Mutter — beide waren Witwen von protestantischen Pastoren — zwei unverheirateten Tanten und einer Schwester bestand, deren Spitzname Lama war. Als die letztere die Leiterin des Nietzsche-Archivs geworden war und eifrig Legenden über ihren Bruder verbreitete, die einige Menschen auch heute noch glauben, erklärte sie ihren Spitznamen: Als sie Kinder waren, besaßen sie ein Buch, in dem dies Tier mit Begriffen beschrieben ist, die genau auf sie paßten. Die sinnlose Beschreibung, die sie ihrem berüchtigten Gedächtnis entnahm, findet sich nicht in dem Buch, das im Archiv aufbewahrt wird, in welchem es heißt, es sei für das Lama charakteristisch, daß es als Verteidigungsmittel seinen Speichel und halb verdautes Futter auf seine Gegner spritzt. 13 13
Siehe Walter Kaufmann, Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist. 4. Aufl., Princeton/ New Jersey 1974.
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Nachdem Nietzsche sein Elternhaus verlassen hatte, unterhielt er nie eine enge Beziehung zu einer Frau, obgleich er tief von Cosima Wagner (1837— 1930) beeindruckt war, der unehelichen Tochter Franz Liszts, die Richard Wagner (1813 — 1883) mehrere Kinder gebar, als sie noch mit Hans von Bülow verheiratet war. Sie heiratete Wagner im Jahre 1870. 1882 hatte Nietzsche eine kurze, aber intensive Freundschaft mit Lou Salomé, die damals einundzwanzig Jahre alt war. Sehr viel später wurde sie Rilkes große Liebe und noch später Freuds Freundin. Im Jahre 1882 hatten Lou Salomé und Nietzsche einen gemeinsamen Freund, Paul Rèe, und als Rèe tot war, verbreitete Lou die Geschichte, daß beide Männer ihr die Ehe angetragen hätten und daß Nietzsche Rèe gebeten hätte, dies für ihn zu tun. Tatsächlich hatte sie darauf gewartet, daß Nietzsche diesen Antrag machen würde, aber er tat dies nie. Und sie heiratete daraufhin einen Orientalisten, der nur zwei Jahre jünger als Nietzsche war, Sehschwierigkeiten hatte und ein Zarathustra-Spezialist war: Fred Charles Andreas (1846—1930). Er nannte sich Charles, aber sie nannte ihn Fred und in ihren schriftlichen Äußerungen meistens „ F . " . Aber sie blieb noch lange Zeit nach ihrer Heirat eine Jungfrau und hatte später viele Liebhaber. All dies ist in meinem Nietzsche-Buch breiter ausgeführt.14 Als Nietzsche ihr 1882 begegnete, war er Ende Dreißig, und sein Frauenbild hatte sich offensichtlich viel früher ausgebildet. Die Frage ist sicherlich nicht ungerechtfertigt, ob Nietzsches Bemerkungen über die Frauen nicht einen gewissen Bruch in seiner Philosophie zum Ausdruck bringen. Ich bin nicht davon überzeugt, und die Annahme ist sicherlich nicht fair, daß diese Bemerkungen sein Denken diskreditieren sollen, wogegen Kants und Schopenhauers Ansichten über Frauen zusammen mit denen anderer Philosophen ignoriert werden können. In der Tat, was Nietzsche im Aphorismus 361 aus Die fröhliche Wissenschaft über die Frauen sagt, ist gar nicht so töricht; und was er über sie in den Aphorismen 68 und 71 sagt, gibt ihm großes Ansehen und sollte von Feministinnen in Betracht gezogen werden, welche die Tendenz haben, ihn herabzusetzen. Im Aphorismus 68 wird ein Weiser informiert, daß ein Jüngling „durch die Weiber verdorben wird". Die Männer sind es, [sagte der weise Mann,] welche die Weiber verderben; und alles, was die Weiber fehlen, soll an den Männern gebüßt und gebessert werden, — denn der Mann macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet sich nach diesem Bilde.
Der Aphorismus 71 zeigt im einzelnen, wie Männer Frauen Unrecht getan haben und daß die „Erziehung der vornehmen Frauen" nichts weniger als „ungeheuer" ist: „Alle Welt ist darüber einverstanden, sie in eroticis so un14
Siehe die vorige Anmerkung.
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wissend wie möglich zu erziehen und ihnen eine tiefe Scham vor dergleichen und die äußerste Ungeduld und Flucht beim Andeuten dieser Dinge in die Seele zu geben." Aber dann werden sie „mit einem grausigen Blitzschlag in die Wirklichkeit und das Wissen geschleudert", — „mit der Ehe — und zwar durch den, welchen sie am meisten lieben und hochhalten: Liebe und Scham im Widerspruch ertappen, ja Entzücken, Preisgebung, Pflicht, Mitleid und Schrecken über die unerwartete Nachbarschaft von Gott und Tier und was sonst alles noch! in einem empfinden müssen. — Da hat man in der Tat sich einen Seelen-Knoten geknüpft, der seinesgleichen sucht." Nietzsche glaubte, daß dies Frauen dazu führen würde, die Augen vor sich selber zu verschließen. „Die jungen Frauen bemühen sich sehr darum, oberflächlich und gedankenlos zu erscheinen; die feinsten unter ihnen erheucheln eine Art Frechheit." Auch bei seinen Erörterungen über Frauen ist sich Nietzsche in seinen besten Augenblicken bewußt, wie der Druck historischer Umstände Menschen verschiedene Arten von Rollen aufzwingt, mit denen diese auf besondere Situationen antworten, die von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit verschieden sind. Und er spricht häufig von Rollen und Masken, ohne dabei im geringsten tadelsüchtig zu sein. Aber selbst in seinen wohlwollendsten Beobachtungen dieser Art ist seine Haltung gegenüber Frauen paternalistisch. Der Weise sagt, daß man den Frauen gegenüber nicht mildherzig genug sein kann, und als ihm jemand entgegenruft: „Du bist zu mildherzig gegen die Weiber . . . du kennst sie nicht!", antwortet er: „Man muß die Männer besser erziehen." 15 Und der Aphorismus 71 endet: „Kurz, man kann nicht mild genug gegen die Frauen sein." II. Wie kann Nietzsche seine wertfreie Einstellung zu Masken und Rollenspielen mit seinem Preis des „intellektualen Gewissens" in Einklang bringen? Dies ist der Titel des zweiten Aphorismus aus Die fröhliche Wissenschaft, in dem er bemängelt: „die allermeisten finden es nicht verächtlich, dies oder jenes zu glauben und darnach zu leben, ohne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider bewußt geworden zu sein . . . " In diesem Werk und in seinen anderen Schriften finden sich viele Stellen, in denen dieses Thema entwickelt wird: „Was ist mir aber Gutherzigkeit, Feinheit und Genie, wenn der Mensch dieser Tugenden schlaffe Gefühle im Glauben und Urteilen bei sich duldet, wenn das Verlangen nach Gewißheit ihm nicht als die innerste Begierde und tiefste Not gilt — als das, was die höheren Menschen von den niederen scheidet!" Eigentlich ist „Verlangen nach Gewißheit" nicht der beste Ausdruck für das, was Nietzsche meint, wie der Kontext, der Anfang von Aphorismus 54 15
Aph. 68.
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aus Der Antichrist16 und der Aphorismus 347 aus Die fröhliche Wissenschaft zeigen. Der Aphorismus 347 trägt den Titel „Die Gläubigen und ihr Bedürfnis nach Glauben", und Nietzsche entwickelt hier das Argument, daß das Bedürfnis nach einem Glauben Zeichen von Schwäche ist und richtet seine Kritik ebenfalls auf „jenes ungestüme Verlangen nach Gewißheit, welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet." Was Nietzsche im Aphorismus 2 aus Die fröhliche Wissenschaft angreift, ist die angenehme Selbstgewißheit jener, die es unterlassen, Einwände zu berücksichtigen, und was seiner Ansicht nach die „höheren Menschen" unterscheidet, ist eigentlich das Bedürfnis nach intellektueller Reinlichkeit. Man soll sich Rechenschaft darüber geben, was für oder gegen seinen Glauben spricht und zu leben und „nicht fragen, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden hassen . . . das ist es, was ich als verächtlich empfinde . . . " Aber selbst hier schließt Nietzsche den Aphorismus mit der Bemerkung ab, daß es „Narrheit" wäre, anzunehmen, wie er es hier tut, „jeder Mensch habe diese Empfindung, als Mensch. Es ist meine Art von Ungerechtigkeit". Der Grund für Nietzsches Indignation bestand einfach darin, daß sein ständiges In-Frage-Stellen beträchtlichen Schmerz mit sich brachte und er deshalb fühlte, — gleichsam wie ein Entdecker, der ständig seekrank wird, aber dennoch immer wieder auf neue Erkundungsreisen geht — daß jene, die solche Widerstandskraft nicht haben, verächtlich sind. Aber dann wurde ihm sofort klar, daß er zu anspruchsvoll war. Aber die Frage bleibt bestehen, wie intellektuelle Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit, auf die Nietzsche solch großen Wert legt, 17 mit seiner Philosophie der Masken in Einklang gebracht werden kann. Der Aphorismus 77 aus Die fröhliche Wissenschaft, der unter dem Titel „Das Tier mit gutem Gewissen" steht, gibt, wenigstens teilweise, eine Antwort. „Das Gemeine in alledem, was im Süden Europas gefällt . . . (zum Beispiel Rossini und Bellini) . . . bleibt mir nicht verborgen, aber es beleidigt mich nicht, ebensowenig als die Gemeinheit, der man bei einer Wanderung durch Pompeji und im Grunde selbst beim Lesen jedes antiken Buches begegnet: woher kommt dies? Ist es, daß hier die Scham fehlt und daß alles Gemeine so sicher und seiner gewiß auftritt wie irgend etwas Edles . . .? ,Das Tier hat sein Recht wie der Mensch' . . . und du, mein lieber Mitmensch, bist auch dies Tier noch, trotz alledem'!" Aber was hat dies mit den Masken zu tun? Einige Zeilen später lesen wir: 16
17
Walter Kaufmann bespricht diesen Aphorismus in Discovering the Mind, Bd. 2, S. 126—127 (Anm. des Ubersetzers). Relevante Aphorismen, die in diesem Vortrag nicht einbezogen wurden, finden sich u. a. in MA I Aph. 109; M Aph. 84 und 511; FW Aph. 99, 107, 110, 114, 159, 319, 329, 335, 3 5 6 - 59, 366, 368, 373 - 74; JGB Aph. 26, 31, 34, 227 und 230.
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Volkstümlich ist und bleibt die Maske! So mag denn all dies Maskenhafte . . . dahinlaufen! . . . Gar das antike Leben! Was versteht man von dem, wenn man die Lust an der Maske, das gute Gewissen alles Maskenhaften nicht versteht! Hier ist das Bad und die Erholung des antiken Geistes — und vielleicht war dies Bad den seltenen und erhabenen Naturen der alten Welt noch nötiger als den gemeinen.
Das Thema, das in dem letzten halben Satz anklang, muß noch weiter ausgeführt werden, da es das dritte große Problem in Nietzsches Philosophie der Masken aufwirft. Aber Nietzsches wesentlicher Punkt in diesem Aphorismus vor der letzten Wendung bestand darin, daß im Gebrauch der Maske nichts Falsches liegt, solange man weiß, was man tut und man sich daran erfreut — und die Zuhörer es ebenfalls wissen und sich daran erfreuen. Dies geht klar aus dem Abschluß dieses Aphorismus hervor: Dagegen beleidigt mich eine gemeine Wendung . . . in deutscher Musik, unsäglich. Hier ist Scham dabei, der Künstler ist vor sich selber hinabgestiegen . . . wir schämen uns mit ihm.
Auf noch gewichtigere Weise wird dies Verständnis durch den Aphorismus 361 und den letzten Aphorismus der Einleitung zu Die fröhliche Wissenschaft bestätigt, den Nietzsche mit kleinen Änderungen als Abschluß seines letzten Werkes, Nietzsche contra Wagner, nachdruckte. Das ganze Werk ist ungemein schön, und der Epilog gehört zu den liebenswürdigsten Dingen, die Nietzsche je geschrieben hat. Er endet: Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, Falte, der Haut stehenzubleiben, den Schein anzubieten . . . Diese Griechen waren oberflächlich — ans Tiefe. Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes . . . Sind wir nicht eben darin — Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum — Künstler?"
III. An dieser Stelle können wir nicht länger das dritte große Problem unerwähnt lassen, das durch Nietzsches Philosophie der Masken aufgeworfen ist. Wie haben wir seine Aussage zu verstehen „Alles, was tief ist, liebt die Maske"? Wenn dieser Anfangssatz des Aphorismus 40 aus Jenseits von Gut und Böse für sich allein stände, könnte man versucht sein, ihn außer acht zu lassen, aber dieses Motiv klingt in Jenseits von Gut und Böse und in anderen Spätwerken immer wieder an, und auf den beiden letzten Seiten sind wir in der Tat schon zweimal darauf gestoßen. Nietzsche sagt unmißverständlich, daß er selbst Masken liebt und mit seinen Lesern Spiele treibt. Obwohl er dies aber mit Nachdruck und wiederholt sagt, haben die meisten seiner Interpreten dies Thema ignoriert. Mit einer Uberfülle von Material konfrontiert, werde ich mich auf sieben Aphorismen aus Jenseits von Gut und Böse konzentrieren. Die beiden ersten behandeln Vorbereitendes, die anderen fünf die Hauptsache.
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Aphorismus 4 beginnt mit einem Satz, der bei vielen Lesern Anstoß erregt hat: „Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil." Anstatt schockiert zu sein, könnte man an Goethes Ausspruch denken, daß eine falsche Hypothese besser als gar keine sei, oder an Stellen aus Gide 1 8 und an Francis Bacons Aphorismus 20 aus dem zweiten Buch seines Novum Organon (1620) „ . . . Wahrheit entsteht eher aus Irrtum als aus Verworrenheit . . Aber wenn Nietzsche etwas derartiges gemeint hätte, wäre seine Formulierung in dieser Form unannehmbar. Denn der Anspruch, daß ein Urteil falsch ist, ist ein Einwand, wenn auch nicht notwendigerweise ein vernichtender Einwand. Wahrheit wird nicht aus Irrtum entstehen, solange der Irrtum nicht erkannt und berichtigt ist. Nietzsche erklärt im folgenden, was er meint: wahrscheinlich sind einige grundlegend falsche Urteile für uns unerläßlich — zum Beispiel Kants sogenannte synthetische Urteile a priori (wie, daß jedes Ereignis eine Ursache hat) - und er ist „geneigt zu behaupten" daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbstGleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl dei Mensch nicht leben könnte, — daß Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichdeisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre.
Diese Gedanken waren vier Jahre früher ausführlicher im dritten Buch von Die fröhliche Wissenschaft, besonders in den Aphorismen 110—112 und 121 entwickelt worden. In einer Erörterung von Nietzsches Erkenntnistheorie würden sie detailliertere Ausführung und Analyse erfordern, aber im gegenwärtigen Kontext dieses Aphorismus und des folgenden sollen sie nur als Hintergrund für das Folgende eingeführt werden. Wir beschäftigen uns hier nicht mit jenen, welche die Welt für sich maskieren, sondern mit denen, die sich selbst vor der Welt maskieren. Weit davon entfernt also, diese Feststellung, daß es Fiktionen gibt, welche die Menschheit zum Uberleben braucht, als generellen Entschuldigungsgrund für Täuschung und Unehrlichkeit zu verwenden, geht Nietzsche im fünften Aphorismus dazu über, eine Anzahl von Philosophen zu kritisieren, bei denen es „nicht redlich genug zugeht: während sie allesamt einen großen und tugendhaften Lärm machen, sobald das Problem der Wahrhaftigkeit auch nur von ferne angerührt wird." Die Masken, hinter denen sie sich verstecken, sind, so könnten wir sagen, kein Beweis für Tiefe. Sie stellen sich sämtlich, als ob sie ihre eigentlichen Meinungen durch die Selbstentwicklung einer kalten, reinen, göttlich unbekümmerten Dialektik 18
Walter Kaufmann bezieht sich hier auf Ausführungen im zweiten Band von Discovering the Mind, S. 113-115 (Anm. des Übersetzers).
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Walter Kaufmann entdeckt und erreicht hätten . . . während im Grunde ein vorweggenommener Satz, ein Einfall, eine .Eingebung', zumeist ein abstrakt gemachter und durchgesiebter Herzenswunsch von ihnen mit hinterher gesuchten Gründen verteidigt wird — sie sind . . . zumeist . . . verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurteile, die sie .Wahrheiten' taufen - und sehr ferne von der Tapferkeit des Gewissens, das sich dies, eben dies eingesteht, sehr ferne von dem guten Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen gibt, sei es um einen Feind oder Freund zu warnen, sei es aus Ubermut und um ihrer selbst zu spotten.
Als Beispiele führt Nietzsche Kants kategorischen Imperativ an und den „Hokuspokus von mathematischer Form, mit der Spinoza seine Philosophie . . . wie in Erz panzerte und maskierte um damit von vornherein den Mut des Angreifenden einzuschüchtern . . ." Ich glaube, diese beiden Beispiele sind gut gewählt, und das Bild von Erz und Maske ist außerordentlich treffend. Die abschließende Stellungnahme zu Spinoza läßt an Nietzsche selbst denken: „wieviel eigne Schüchternheit und Angreifbarkeit verrät diese Maskerade eines einsiedlerischen Kranken." Wir geraten in die Überlegung, worin Nietzsches eigene Masken davon wohl verschieden sind. Der Aphorismus 30 wendet sich dieser Frage zu: „Unsere höchsten Einsichten müssen — und sollen — wie Torheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubterweise denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind." Hier spricht Nietzsche deutlich von seinen eigenen Gedanken, und der Unterschied des „Exoterischen und Esoterischen", auf den er sich dann bezieht, ist von äußerstem Interesse für seine eigene Philosophie. Es wäre der Überlegung wert, ob er mit Absicht Begriffe verwandte, deren exoterische Bedeutung nicht kongeniale Menschen abstießen, selbst wenn er dies ausdrücklich ableugnete. Der Untertitel der Götzendämmerung liefert ein besonders deutliches Beispiel: „Wie man mit dem Hammer philosophiert." Viele, die kein Gefühl für Nietzsche haben, nehmen immer noch an, daß er einen Vorschlaghammer meint oder sich hier wenigstens auf das Zerschmettern von Dingen bezieht. Aber in dem kurzen Vorwort, das weniger als zwei Seiten lang ist, erklärt Nietzsche deutlich, was er wirklich meint: Hier einmal mit dem Hammer Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort jenen berühmten hohlen Ton hören, der von geblähten Eingeweiden redet — welches Entzücken für einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat — für mich alten Psychologen . . . ewige Götzen, an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird.
Neben der Umwertung aller Werte finden wir in Nietzsche eine Umwertung der Worte, wobei seine Methode in den meisten Fällen dieselbe ist. Er prägt Schlagworte, die in ihrer exoterischen Bedeutung brutal klingen, sagt
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dann aber klar, daß das, was er wirklich meint, etwas ganz anderes ist, nämlich etwas, das Feingespür, Witz und Intelligenz erfordert. Der „Wille zur Macht" und „jenseits von Gut und Böse" bieten uns schlagende Beispiele, ebenso wie das „gefährlich leben", 1 9 die „Umwertung aller Werte" und der „Ubermensch". Warum, so möchte man fragen, ist diese Ambiguität erforderlich, diese Aufspaltung in eine exoterische Bedeutung, die er nicht als seine eigene anerkennt, aber dennoch von vielen Lesern und noch mehr Nicht-Lesern für bare Münze genommen wird, und eine esoterische Bedeutung, die offenkundig intendiert ist, aber, wie Nietzsche gewahr werden mußte, von vielen Lesern und Nicht-Lesern verfehlt wurde. Er selbst bestand wiederholt darauf, daß er auf eine Weise schrieb, die oberflächliche Leser dazu führen mußte, ihn mißzuverstehen. Aber warum tat er das? Er beharrte darauf, daß er, wie er es im Vorwort zu Die Morgenröte ausdrückte, „rück- und vorsichtig" gelesen werden müßte, mit Rücksicht und Vorsicht, wobei aber die beiden Präfixe ebenfalls nahelegen, daß er mit Hinblick auf das, was vorher und nachher kommt, gelesen werden muß, was sich nicht allein auf dieselbe Seite oder dasselbe Buch, sondern auch auf seine anderen Bücher bezieht. Gegen Ende der Vorrede Zur Genealogie der Moral drückte Nietzsche dies folgendermaßen aus: Wenn diese Schrift irgend jemandem unverständlich ist und schlecht zu O h r e n geht, so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht notwendig an mir. Sie ist deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, daß man zuerst meine früheren Schriften gelesen und einige M ü h e dabei nicht gespart hat: diese sind in der Tat nicht leicht zugänglich.
Dennoch forderte Nietzsche in einem besonderen Sinne bestimmte Mißverständnisse heraus. Warum? Seine eigenen Bemerkungen zu diesem Problem sind wenigstens in einem gewissen Maße Zurechtlegung. Die Bilder und Vorstellungen, die er umwertet, entstammen jenem inneren Schattenreich, in dem das, was der Philosoph und das Menschenwesen längst überwunden hatten, sein zeitloses und fleischloses Dasein fortdauert. U n d in den Assoziationen, die sich durch diese Vorstellungen entzündeten, bemerken wir gegen Nietzsches eigenen unzweideutigen Wunsch das G i f t der Schlange, die der Denker besiegt hatte. Er hatte den K o p f der Schlange zermalmt, aber die Schlange hatte seine Ferse verletzt. 2 0
Ich gebe damit zu verstehen, daß die Bilder und Vorstellungen nicht mit Absicht gewählt wurden, sondern aus Nietzsches Unbewußtem hervorquol19
20
Siehe FW Aph. 283 und zur Interpretation den Schlußabschnitt von "Nietzsche and Rilke" in Walter Kaufmann, From Shakespeare to Existentialism, Princeton University Press 1980. Kaufmann, From Shakespeare, „Philosophy versus Poetry", Abschnitt 5.
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len. In seiner Besprechung des Zarathustra diesen Punkt selbst hervor:
in Ecce homo (3), hebt Nietzsche
daß plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, etwas sichtbar, hörbar wird . . . Man hört, man sucht nicht . . . ich habe nie eine Wahl gehabt . . . Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste . . .
Als Philosoph, Psychologe und auch Dichter konzentrierte Nietzsche seine kritischen Fähigkeiten sicherlich auf das, was er in diesem Abschnitt Inspiration nannte. Ich beanspruche nur zu sagen, daß die Bilder und Metaphern, deren exoterischer Bedeutung er für sich keine Gültigkeit einräumte, in ihm unwillkürlich entstanden. Offensichtlich ist dies alles von eminenter Bedeutung für ein Verständnis Nietzsches, oder, wenn man will, für die Entdeckung seines Geistes. Trägt dies aber auch zur Entdeckung des Geistes im allgemeinen bei, oder handelt es sich bei Nietzsche um einen einzigartigen Fall? Im Aphorismus 40 aus Jenseits von Gut und Böse, der in jeder Hinsicht der zentrale Aphorismus der sieben hier von uns in Betracht gezogenen ist, bietet Nietzsche einige verblüffende Verallgemeinerungen an, die nahelegen, daß sein eigener Fall keineswegs einzigartig war. Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Haß auf Bild und Gleichnis. Sollte nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung sein, in der die Scham eines Gottes daherginge?
Dies ist der Anfang des Aphorismus, welcher endet: und gesetzt, er will es nicht, so werden ihm eines Tages die Augen darüber aufgehn, daß es trotzdem dort eine Maske von ihm gibt — und daß es gut so ist. Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er gibt.
Die erste Reaktion ist beinahe unvermeidlich die, daß dieses Unsinn ist, daß Nietzsches Fall ungewöhnlich ist und daß diese Abschnitte vielleicht ausdrücken, daß ihm die Trauben etwas zu hoch gehangen haben. Ein Schriftsteller, der sich mißverstanden findet, beteuert, dies sei gut und lediglich eine Folge seiner Tiefe. Aber jede derartige Reaktion illustriert nur von neuem, daß einige von Nietzsches besten Einsichten „wie Torheiten klingen", wenn sie oberflächlich gelesen werden. In der Tat, diese Abschnitte sind tief. Um dies zu zeigen, ist es vielleicht am besten, vor dem Versuch einer Erklärung, einige Beispiele zu geben. Vielleicht ist die treffendste Veranschaulichung Hamlet, der ständig Masken aufsetzt, und dabei weit über das hinaus-
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geht, was zur Erfüllung seiner Intention, nämlich den Tod des Vaters zu rächen, erforderlich ist. Er empfindet deutlich Freude und Erholung, wenn er mit anderen spielt und sieht, wie sie ihn mißverstehen. Shakespeare selbst ist nicht weniger typisch für dieses Phänomen. In einem gewissen Sinne sind alle seine Stücke Masken, in denen er seine eigenen Ansichten so sorgfältig verbirgt, daß Interpreten bis heute keine Ubereinstimmung über sie gefunden haben. Die Folge seiner 154 Sonette ist nicht weniger rätselhaft. Wenn aber je ein Schriftsteller die Fähigkeit hatte, seine Gefühle gegenüber Personen oder Ereignissen genau darzustellen, dann war es Shakespeare. Goethe stellt keinen ebenbürtigen Fall dieser Art dar, wenn wir sein Werk als Ganzes betrachten. Jedoch sagte er in einem Gespräch: Dreißig Jahre haben sie sich nun fast mit den Besenstielen des Blocksbergs und den Katzengesprächen in der Hexenküche, die im Faust vorkommen, herumgeplagt, und es hat mit der Interpretation dieses dramatisch-humoristischen Unsinns nie so recht fortgewollt. Wahrlich, man sollte sich in seiner Jugend öfter den Spaß machen und ihnen solche Brocken wie den Brocken hinwerfen. 2 1
Goethe bezog sich hier auf den Ersten Teil des Faust. Als er den Zweiten Teil beendet hatte, der in Wirklichkeit viel mehr Abschnitte enthält, die Interpreten ziemliche Schwierigkeiten bereitet haben, versiegelte er das Manuskript mit Anweisungen für die Veröffentlichung nach seinem Tode und zog es vor, das begierig erwartete Ende nicht einmal Freunden mitzuteilen oder es mit ihnen zu erörtern. Offenbar schrieb er nicht in erster Linie, um seinen Lesern etwas mitzuteilen. Franz Kafka stellt ein solch handgreifliches Beispiel dar, daß dieser Punkt nicht weiter ausgeführt werden muß. Sophokles wird gewöhnlich nicht in diesem Licht gesehen, aber ich glaube, daß auch er Nietzsches Verallgemeinerungen bestätigt. In zwei langen Kapiteln meines Buches Tragedy and Philosophy habe ich im einzelnen zu zeigen versucht, wie „Sophokles viel gelobt und wenig verstanden worden ist. Der Fall ist typisch. Endlose Mißverständnisse sind der Preis der Unsterblichkeit." 22 Sophokles ruft in der Tat Nietzsches Andeutung ins Gedächtnis zurück: „Sollte nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung sein . . . ?" Ich denke an den Gemeinplatz, daß Sophokles im Unterschied zu Aischylos und Eurípides auf konventionelle Weise fromm gewesen sein soll, wie auch an die unglaubliche Vorstellung von Generationen von Kritikern, daß sein letztes Schauspiel, ödipus auf Kolonos, außerordentlich heiter und gelassen sei. 21
Goethe, Gedenkausgabe, Gespräche, Bd. 2, S. 822.
22
Ende des Abschnittes 41.
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Anstatt weitere Beispiele anzuführen, etwa auch aus dem Bereich anderer Künste, möchte ich nun eine kurze Erklärung versuchen. In einem gewissen Maße sind Nietzsches scheinbar paradoxe Aussagen wirklich und definitionsmäßig wahr. „Tief" bedeutet nicht leicht zugänglich und gewöhnlich auch unerschöpflich. Ein Schriftsteller, der seine ganze Bedeutung einem ersten Zusehen preisgibt, ist definitionsmäßig nicht tief. Daraus folgt natürlich nicht, daß Dunkelheit und Schwierigkeit Beweis von Tiefe sei. Was tief ist, muß ebenfalls erhellend sein, und Unerschöpflichkeit bedeutet, daß viele verschiedenartige, wenngleich, nicht alle, Lesungen des Textes nicht nur den Text erhellen, sondern ebenfalls die menschliche Situation als solche. Da Schwierigkeit von Tiefe untrennbar ist, und die meisten Leser einschließlich derjenigen, die ihre Interpretationen publizieren, schlecht für die Handhabung schwieriger Texte vorbereitet sind und durchweg keine direkte Kenntnis der Erfahrungen besitzen, mit denen der Autor sich beschäftigte, sind endlose Mißverständnisse der Preis der Unsterblichkeit. Zwei weitere Überlegungen bestätigen Nietzsches Behauptungen. Tiefe Schriftsteller werden nicht durch eine überwältigende Begierde zum Schreiben gedrängt, ein paar Behauptungen mitzuteilen, sondern durch das Bedürfnis, sich mit einigen schwierigen Erfahrungen auseinanderzusetzen, die Gefühle sowohl wie Gedanken umschließen. Sie beschäftigen sich in erster Linie mit sich selbst und nicht mit anderen. Man könnte einwenden, daß Sophokles und Shakespeare für die Bühne schrieben, Sophokles beim jährlichen Wettstreit immer den ersten oder zweiten Platz einnahm und Shakespeare der kommerzielle Erfolg seiner Stücke nicht gleichgültig war. Aber Shakespeare gab sich noch nicht einmal die Mühe, für den Drucker genaue Texte seiner Schauspiele auszuarbeiten. E r kümmerte sich kaum um ihre Veröffentlichung und steckte dennoch in sie viel mehr, als irgendein Theaterbesucher aus einer oder zwei Aufführungen möglicherweise aufnehmen konnte — in der Tat viel mehr, als jemand nach wiederholtem Lesen und Sehen eines Schauspieles entnehmen kann. Die Tiefe der Stücke rührt daher, daß Shakespeare in sie viel mehr hineinsteckte, als für den kommerziellen Erfolg erforderlich war. Auf ähnliche Weise konnte kein Atheniensischer Theaterbesucher möglicherweise ein volles Verständnis der Meisterwerke des Aischylos, Sophokles oder Euripides erlangen, nachdem er eine Tragödie einmal oder möglicherweise zweimal gesehen hatte. Man braucht nur an einige der großen choralen Oden zu denken, wie sie gesungen wurden, und sich selbst fragen, wie viel davon man selbst wohl möglicherweise verstehen würde. Darüber hinaus waren die meisten tiefen Schriftsteller von ihrer Gesellschaft gründlich entfremdet und versuchten deshalb, ihren eigenen Maßstäben und nicht denen anderer gerecht zu werden. Sie versuchten sich selbst zu genügen. Diese Bemerkung steht nicht im Einklang mit der gängigen Vor-
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Stellung, daß die Entfremdung ein ausgeprägt modernes und bedauerliches Phänomen ist. Aber diese Vorstellung ist unhaltbar. 23 Daß Euripides und Kafka, Kierkegaard und Nietzsche von Grund auf von ihrer Gesellschaft entfremdet waren, ist augenfällig, aber Sophokles und Shakespeare waren dies auch. Wären sie es nicht gewesen und hätte es ihnen genügt, ihre Zeitgenossen zu befriedigen, dann hätte für sie kein Grund bestanden, so viel in ihre Werke hineinzustecken, das Zeitgenossen überhaupt nicht erfassen konnten. Das gilt ebenfalls für Dante, Goethe und, um Nietzsches Ausdruck zu verwenden, „jeden tiefen Geist". Und was uns hilft, tiefe Geister zu verstehen, ist ein Beitrag zur Entdeckung des Geistes. Es gibt natürlich nicht zwei Arten von Leuten, die tiefen und die nicht tiefen, sondern die Menschheit ist ein Kontinuum, und diese Beobachtungen erhellen die menschliche Situation im allgemeinen. Man hat die Wahl, einfach den Maßstäben der anderen zu entsprechen, ihnen zu gefallen und auf unmittelbare Billigung zu hoffen, oder zu versuchen, sich mit seinen eigenen ausgeprägten Erfahrungen, Gefühlen und Gedanken auseinanderzusetzen, ohne sich dabei mit Klischees zu begnügen oder der gängigen Ubereinstimmung der Gruppe, in der man sich zufälligerweise befindet. Mit anderen Worten, man hat die Wahl zwischen zwei Arten von Masken. Mit der ersten verbirgt man nicht allein vor den anderen, sondern auch vor sich selbst, was in unseren Erfahrungen und in uns einzig ist. Die zweite wächst von selbst „dank der . . . flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens." Die meisten denken bei Masken nur an die erste, die in Wirklichkeit Selbstverstümmelung involviert. Obwohl Richard Wagner im Aphorismus 270 nicht erwähnt ist, gefiel dieser Aphorismus Nietzsche so gut, daß er ihn in Nietzsche contra Wagner, in dem Kapitel „Der Psycholog nimmt das Wort" wieder abdruckte. Ich werde nach der späteren Version zitieren, die kleinere stilistische Änderungen enthält. Der geistige Ekel und Hochmut jedes Menschen, der tief gelitten hat — es bestimmt beinahe die Rangordnung, wie tief einer leiden kann —, seine schaudernde Gewißheit, von der er ganz durchtränkt und gefärbt ist, vermöge seines Leidens mehr zu wissen . . . dieser geistige schweigende Hochmut . . . des ,Eingeweihten', des beinahe Geopferten findet alle Arten von Verkleidung nötig, um sich vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen und überhaupt vor allem, was nicht seinesgleichen im Schmerz ist, zu schützen . . . Eine der feinsten Verkleidungs-Formen ist der Epikureismus und eine gewisse fürderhin zur Schau getragne Tapferkeit des Geschmacks, welche das Leiden leichtfertig nimmt und sich gegen alles
23
Siehe Walser Kaufmann, Without Guilt and Justice, N e w Y o r k 1973, Kap. 6: " T h e Need for Alienation".
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Traurige und Tiefe zur Wehr setzt. Es gibt,heitere Menschen', welche sich der Heiterkeit bedienen, weil sie um ihretwillen mißverstanden werden — sie wollen mißverstanden sein. Es gibt .wissenschaftliche Geister', welche sich der Wissenschaft bedienen, weil dieselbe einen heiteren Anschein gibt und weil Wissenschaftlichkeit darauf schließen läßt, daß der Mensch oberflächlich ist — sie wollen zu einem falschen Schlüsse verführen . . . Es gibt freie freche Geister, welche verbergen und verleugnen möchten, daß sie im Grunde zerbrochne unheilbare Herzen sind — es ist der Fall Hamlets: und dann kann die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen sein. 24 In Jenseits von Gut und Böse hat dieser Aphorismus noch einen Satz als Abschluß: „Woraus sich ergibt, daß es zur feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht ,vor der Maske' zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben." In der späteren Version wurde dieser Schluß fortgelassen. Während Nietzsche sicher den Respekt vor der Maske im persönlichen Verkehr befürwortet hatte, nehme ich an, daß er nicht den Wunsch hegte, der Psychologie Grenzen zu setzen. D e r Aphorismus 289 fängt an: „ M a n hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch etwas von dem Widerhall der Ö d e an. „ E s ist aber die zweite Hälfte dieses Aphorismus, die hier am wichtigsten ist: Der Einsiedler glaubt nicht daran, daß jemals ein Philosoph — gesetzt, daß ein Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war — seine eigentlichen und letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt? — ja, er wird zweifeln ob ein Philosoph .letzte und eigentliche' Meinungen überhaupt haben könne . . . Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.
Offensichtlich läßt sich dies nicht auf alle Philosophieprofessoren anwenden, wenn man berücksichtigt, daß die meisten von ihnen sich in Universitäten bewegen und keineswegs Einsiedler sind. Weniger deutlich ist, auf wie viele Philosophen neben Nietzsche dies zutrifft. U n d in welchem Ausmaß trifft dies auf Nietzsche zu? Wir haben gesehen, daß viele seiner Worte tatsächlich Masken sind. Ist aber jedes Wort eine Maske? K a u m . U n d schreibt man wirklich Bücher um zu verdecken, was man in sich hat (sicherlich eine Feststellung, die wenigstens teilweise durch ein Wortspiel inspiriert wurde: „ u m zu verbergen, was man bei sich birgt")?
24
Vgl. oben im Abschnitt II die Bemerkung über junge Frauen, die gegen des vorletzten A b schnitts zitiert ist.
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Der hier zitierte Abschnitt hat auch einen Selbstbezug. Indem er fühlt, daß er sich zu sehr exponiert hat, setzt der Einsiedlerphilosoph die Maske des Possenspielers auf, der lediglich spielt und keine letzten und wirklichen Gesichtspunkte hat. Dies ist eine von Nietzsches personae, eine seiner Masken und Rollen, wobei er jetzt aus diesem Fenster blickt und dann aus jenem und alles in Frage stellt. Dies soll aber nicht besagen, daß er diese Rolle nicht oft spielte. Natürlich hatte er Meinungen und drückte diese gelegentlich lebhaft und mit Nachdruck aus, aber er sah es als seine Ehrenpflicht an, seine Meinungen als vorläufig und nicht „endgültig" aufzufassen. Sie können alle in Frage gestellt werden, und der Zweck, die Bücher zu schreiben, die er hervorbrachte, war insgesamt nicht, uns zu überreden, seine Meinungen zu akzeptieren, sondern eher — im Geiste Gotthold Ephraim Lessings — uns aufzuwecken, uns aufzuschütteln und uns dahin zu führen, daß wir für uns selbst denken. „Der Zweck"? Nein, natürlich nicht. Nietzsche schrieb Bücher, wie man Gedichte schrieb, oder wie Rembrandt Selbstportraits malte, ohne sich besonders darum zu bekümmern, wie andere möglicherweise reagieren würden. Was Nietzsche in einigen der von uns erörterten Masken-Stellen sagt, bezieht sich mehr auf große Künstler und Dichter als auf die vielen unkünstlerischen und unpoetischen Philosophen. Es paßt aber auch auf viele Menschen, die keine ausgebildeten Künstler, Dichter oder Philosophen sind. Es betrifft alle Arten des eigenständigen Ausdrucks seiner selbst. Aphorismus 290 ist viel kürzer als Aphorismus 289 und kann hier vollständig gebracht werden: Jeder tiefe Denker fürchtet mehr das Verstanden-werden als das Mißverstanden-werden. A m letzteren leidet vielleicht seine Eitelkeit; am ersteren aber sein Herz, sein Mitgefühl, welches immer spricht: ,ach, warum wollt ihr es auch so schwer haben wie ich?'
Jeder tiefe Denker? Kaum. Und was Nietzsche selbst anbetrifft, handelt es sich hier um eine Argumentationsweise, die der der zu hoch hängenden Trauben sehr nahe kommt. Aber selbst wenn dies eine andere Maske ist, bleibt es beachtenswert, wie sehr sie sich von dem gewöhnlichen NietzscheBild unterscheidet. Ist dies seine endgültige Meinung? Natürlich nicht. Aber ebensowenig sollten seine Leser die verschiedenen anderen Masken als seine letzten Meinungen auffassen, am wenigsten aber die exoterischen Bedeutungen von „wie man mit dem Hammer philosophiert" und der „HerrenMoral", dem „jenseits von Gut und Böse" und dem „Willen zur Macht". Weit entfernt davon, roh zu sein, war Nietzsche, womöglich, im Ubermaße feinsinnig.
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Ich will keineswegs unterstellen, daß sich Nietzsches Philosophie in ein Spiel mit Spiegeln auflöst. Selbst der zuletzt angeführte Aphorismus, den ich nicht als eine gültige Verallgemeinerung akzeptieren kann, weist auf einen bedeutenden Tatbestand über Masken hin. Menschen tragen oft Masken und fürchten sich davor, verstanden zu werden, weil sie andere beschützen wollen. 25 Der flache Moralismus, der Masken mit Uneigentlichkeit in Zusammenhang bringt, geht über derartige Subtilitäten hinweg. Und Leser, die einfach fragen, ob eine Formulierung standhält oder durch ein Gegenbeispiel widerlegt werden kann, sind geneigt, viele von Nietzsches Einsichten zu verfehlen. Er war ein Philosoph und sollte als Philosoph gelesen werden. Aber er war nicht nur ein Philosoph und sollte nicht nur als Philosoph gelesen werden. Er muß auch als Psychologe und Dichter gelesen werden, und seine Bücher sind Kunstwerke. Wie keiner war er sich der Spannung zwischen der philosophischen und der künstlerischen Neigung bewußt. Aber selbst in seinem ersten Buch, Die Geburt der Tragödie, erhob er im Aphorismus 14 die Frage, ob denn „die Geburt eines künstlerischen Sokrates' überhaupt etwas in sich Widerspruchsvolles sei". Er war ein künstlerischer Sokrates, und in meinem Kommentar zu der Genealogie der Moral habe ich zu zeigen versucht, wie dieses Thema in der langen Ausführung über die asketischen Ideale aufgegriffen ist und zum Schluß zu demselben Resultat gebracht wird wie im Aphorismus 25. Während seines schöpferischen Lebens sah Nietzsche das Streben nach Erkenntnis in der Philosophie und in den Wissenschaften aus der Perspektive der Kunst und blickte auf die Kunst aus der Perspektive der Wissenschaft, wie er selbst in dem hervorragenden „Versuch einer Selbstkritik" zu verstehen gab, den er als Vorwort zur zweiten Ausgabe der Geburt der Tragödie von 1886 benutzte. Aber wir könnten ebenfalls sagen, daß er auf die Kunst und die Wissenschaft, einschließlich der Psychologie und der Philosophie, als Psychologe blickte — aber als ein Psychologe, der zugleich ein großer Künstler war. Ich habe versucht, eine sehr wohlwollende Darstellung von Nietzsches Philosophie der Masken zu geben und habe seinen Anspruch verteidigt: „Alles, was tief ist, liebt die Maske." Freilich ist das Bild der Maske mit ihrem inhärenten Dualismus von Erscheinung und Wirklichkeit sicherlich fragwürdig. Vielleicht — wie Nietzsche selbst in einigen seiner späten Äußerungen nahelegt — gibt es nur Erscheinungen und keine letzte Wirklichkeit hinter ihnen. Vielleicht gibt es nur den Fluß und nichts wirklich Festes. Und vielleicht gibt es nicht einmal ein Selbst. Vielleicht haben die Individuen kein 25
Vgl. das letzte Zitat in Anmerkung 6.
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Wesen und keine Natur, und wenn sie es hätten, dann könnte man sagen, es sei ihre Aufgabe, dies zu überwinden. Vielleicht sind alle festen Positionen nur Masken und nicht endgültig. Nietzsches Tiefe rührt zum Teil daher, daß er diese Fragen aufgeworfen hat. 2 6
26
Der nun folgende Abschnitt aus dem Nietzsche gewidmeten Teil dieses Buches greift den allgemeineren Faden von Walter Kaufmanns Nietzschedarstellung im Zusammenhang von Discovering the Mind wieder auf, wozu die Philosophie der Masken ja den „fünften und letzten Beitrag" Nietzsches gebildet hatte. (Anm. des Ubersetzers).
WOLFGANG MÜLLER-LAUTER
DAS WILLENSWESEN UND DER ÜBERMENSCH EIN BEITRAG ZU HEIDEGGERS NIETZSCHE-INTERPRETATIONEN Vorbemerkung
Wer sich eingehend mit Heideggers Nietzsche-Interpretationen beschäftigt, wird jenen Eindruck von „ambivalence" gewinnen, den R. L. Howey so beschreibt: „There are aspects of his interpretation that are highly stimulating and lead to new insights regarding the nature of Nietzsche's metaphysical enterprise. However, all too often, Nietzsche gets buried under Heidegger's attempt to demonstrate his thesis." 1 Der zweite Gesichtspunkt wird in der kritischen Betrachtung schließlich überwiegen. So führt J. Granier, auf seine Weise jene „ambivalence" bedenkend, aus: „Ces thèses . . ., philosophiquement très stimulantes, . . . nous semblent plus propres à nous renseigner sur la pensée de Heidegger que sur celle de Nietzsche." Der nächste Schritt liegt nahe: „D'un point de vue strictement nietzschéen, l'interprétation heideggerienne est, à notre avis, irrecevable."2 Heidegger selbst hat seine Hörer und Leser nicht im unklaren darüber gelassen, daß sich seine Erläuterungen von Nietzsches Philosophie „mit ihrer Absicht und nach ihrer Tragweite im Bezirk der einen Erfahrung" halten, „aus der ,Sein und Zeit' gedacht ist" (Hw 195, II 260). 3 Solche Erläuterungen seien 1 2 3
Heidegger and Jaspers on Nietzsche, Den Haag 1973, 181. Le problème de la vérité dans la philosophie de Nietzsche, Paris 1966, 624 f. Siglen der zitierten Schriften Heideggers: PZ ( = Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, Vorlesung SS 1925, Ges.-Ausg. 20, 1979); SuZ ( = Sein und Zeit, 7 1953); K ( = Kant und das Problem der Metaphysik, 2 1951); WiM ( = Was ist Metaphysik?, 6 1951); SU ( = Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, 1934); Hö ( = Hölderlins Hymnen ,Germanien' und ,Der Rhein', Vorlesung WS 1934/35, Ges.Ausg. 39, 1980); W W ( = Vom Wesen der Wahrheit, 1943); Her ( = Heraklit, Vorlesungen 1943, 1944, Ges.-Ausg. 55, 1979); P—H ( = Piatons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den ,Humanismus', 2 1954);
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notwendig durch die Beigabe von Eigenem bestimmt. Diese Beigabe könne „als ein Hineindeuten" in die herangezogenen Texte empfunden und „als Willkür bemängelt" werden (Hw 197, II 262f.). Heidegger hat in anderem Zusammenhang den häufig gegen seine Auslegungen erhobenen Vorwurf der Gewaltsamkeit als gut belegbar bezeichnet, zugleich freilich die Besonderheit des Gesprächs zwischen Denkenden hervorgehoben, welches „unter anderen Gesetzen" stehe als die Methoden der philologischen und der philosophiehistorischen Forschung. Verfehlendes und Fehlendes seien bei jenen Zwiegesprächen drohender und häufiger (K, Vorwort 2. Aufl., vgl. 183). Deren hermeneutischer Problematik kann hier nicht ausdrücklich nachgegangen werden4. Wohl aber wird sie in dem besonderen Falle von HeidegEM EHD Hw WD VA SF SG ID US G I II T W SD Sch
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( = Einführung in die Metaphysik, 1953); ( = Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, 2 1951); ( = Holzwege, 2 1952); ( = Was heißt Denken?, 1954); ( = Vorträge und Aufsätze, 1954); ( = Zur Seinsfrage, 1956); ( = Der Satz vom Grund, 1957); ( = Identität und Differenz, 1957); ( = Unterwegs zur Sprache, 1959); ( = Gelassenheit, 1959); ( = Nietzsche, Erster Band, 1961); ( = Nietzsche, Zweiter Band, 1961); ( = Die Technik und die Kehre, 1962); ( = Wegmarken, 1967); ( = Zur Sache den Denkens, 1969); ( = Schellings Abhandlung Uber das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), hrsg. v. H. Feick, 1971); VS ( = Vier Seminare, 1977). Für Nietzsche-Texte wird neben der K G W auch GA (einchließlich WM mit nachgestellter Aphorismusnummer) herangezogen, weil letztere Edition Heideggers Nietzsche-Lektüre zugrunde lag. Die im folgenden in kleinerer Type gesetzten Ausführungen wurden auf der Reisensburg nicht vorgetragen. Sie könnte nur dann zulänglich erörtert werden, wenn von Heideggers frühem Verständnis von Hermeneutik ausgegangen würde (s. schon PZ insbes. 2 8 5 - 2 9 4 , 3 5 5 - 3 6 0 ) . Noch in „Aus einem Gespräch von der Sprache" (1953/54) greift Heidegger auf seine Ausführungen in PZ und SuZ zurück, um nun freilich „das Hermeneutische" aus dem Wesen der Sprache zu denken (US 9 5 - 1 0 2 , 1 2 0 - 1 2 8 , 1 3 6 - 1 3 8 , 150-155). - Ich habe an anderer Stelle Heideggers Weg von der Ausarbeitung der Geschichtlichkeit des Daseins in SuZ zu den unter seinsgeschichtlichem Vorzeichen stehenden Zwiegesprächen mit großen Denkern der Tradition in seiner sachgegründeten Notwendigkeit darzustellen versucht (Vf., Konsequenzen des Historismus in der Philosophie der Gegenwart, in: ZThK 59, 1962, 226—255, insbes. 234ff.). Insofern die wesentlichen Gespräche zukünftig-offen sind, „an kein Ende" gelangen, was kein Mangel sein soll (VA 256), ist jeder ,Gesprächsstand' von den noch offenen Möglichkeiten immer schon überholt. Heidegger überwindet den historischen Relativismus, indem er alles Gesagte und g e s p r o chene' einschließlich des von ihm selbst im denkenden Gespräch Gesagten als Vorläufiges im Verhältnis zum Ungesagten auffaßt. Heideggers soeben veröffentlichte Vorlesung Hö (1935/36) gibt 144 ff. einen Einblick in sein Verständnis des geschichtlich Großen als des immer erneut
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gers „Aus-einander-setzung mit der Sache Nietzsches" (I 10) zutage treten. Die dabei erörterte ,Sache Nietzsches' ist von anderer Art, als Nietzsche selbst .seine Sache' verstand. Es sei Heidegger nicht darum zu tun, „dem Selbstverständnis Nietzsches nachzugehen", bemerkt O . Pöggeler pointiert. Vielmehr frage Heidegger danach, wie Nietzsches Denken von der abendländischen Philosophie bestimmt werde und diese seinerseits bestimme 5 . Solches Fragen soll, Heidegger zufolge, das von Nietzsche Gedachte „so verwinden, daß das Ungedachte in seinem Gedachten auf seine anfängliche Wahrheit zurückverlegt wird", was die „Schärfe des Streitgespräches", das Heidegger mit Nietzsche führt, steigert ( W D 2 3 f . ) . Dieses Ungedachte aber ist das, was Heidegger als das von ihm selbst zu Denkende erfährt. Von diesem her stellt er Nietzsche als denjenigen Philosophen vor, in dem die abendländische Metaphysik sich vollendet, d. h. in dem sie in ihr Äußerstes gelangt. Solches Vorstellen wird an ausgewählten Texten Nietzsches vollzogen. Dabei verschmelzen häufig das auslegende und das ausgelegte Denken dergestalt, daß die eingangs genannte Ambivalenz erst ausdrücklich sichtbar gemacht werden m u ß . 6 Heidegger selbst weist bei Gelegenheit einer Nietzsche-Interpretation darauf hin, daß in seinem Text „Darstellung und Auslegung ineinandergearbeitet seien, so daß nicht überall und sogleich deutlich wird, was den Worten Nietzsches entnommen und was dazugetan ist" (II 2 6 2 f . , H w 197) 7 . Zutreffend hat K. Löwith ausgeführt, daß die „Intensität" von Heideggers Seinsdenken „um so ungreifbarer" werde, „je mehr es sich in Interpretationen bewegt, in denen Heidegger seinen eigenen Gedanken nur indirekt, am Denken anderer, auslegt, wobei sein Denken unvermerkt in das des anderen übergeht" 8 . Es versteht sich, daß ein ,weiches' (d. h. der Interpretier-
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„anders" zu Denkenden. [N. B. Liest man die umfangreichen Nietzsche-Biographien alter wie jüngster Art, so findet man — wenn auch auf verschiedene Weise — Heideggers Wort bestätigt: „Das Kleine will ja nur sich selbst, d. h. eben klein sein, und sein Geheimnis ist . . . ein Trick und die verdrießliche Verschlagenheit, alles, was nicht seinesgleichen ist, zu verkleinern und zu verdächtigen und es so sich gleichzumachen" (a.a. O., 146)]. — Daß ich in der genannten Darstellung mit Heideggers Überwindung des historischen Relativismus zugleich konkrete Geschichte überhaupt negiert fand (heute würde ich in dieser Hinsicht vorsichtiger urteilen), ist gelegentlich dazu benutzt worden, Heideggers Geschichtsdenken allzu leichtfertig abzutun (so z. B. von J. Moltmann in seiner „Theologie der Hoffnung", 18 1977, 234—237). Der Denkweg Martin Heideggers, 1963, 109. „The ambivalence which characterizes Heidegger's reading of Nietzsche" hat D. F. Krell auf interessante Weise zu vertiefen gesucht (Nietzsche and the task of thinking, Ann Arbor: Diss. 1971, bes. 317ff.). S. dazu auch Krells Ausführung unter dem Titel „Heidegger Nietzsche Hegel", Nietzsche-Studien 5, 1976, 258, Anm. 14. Am geringfügigsten sind Heideggers ,Zutaten' in seinen frühen Nietzsche-Vorlesungen der Jahre 1936 und 1937. Das Bemühen um ein Eindringen in Nietzsches Eigentümliches ist hier dominierend. Die Textbasis ist (im Vergleich mit Heideggers späteren Aus-einander-setzungen) relativ breit, die Interpretationen sind behutsamer als später. Heideggers Auslegung des Ungesagten in Nietzsches Wort ,Gott ist tot', in: Die neue Rundschau 64, 1953; später abgedruckt in: Heidegger. Denker in dürftiger Zeit, 2 1960, 72—105,
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barkeit in besonderem Maße geöffnetes) Denken wie das Nietzsches sich für ein solches Verfahren in besonderem Maße anbietet. Hinzu kommt, daß Heideggers eigener Denkweg (ungeachtet früherer Bezugnahmen) von 1929/30 an in wesentlichen Hinsichten durch eine zunächst nur in Andeutungen zum Vorschein kommende Nietzsche-Rezeption bestimmt worden ist9. Deshalb kann es dem Leser von Heideggers Nietzsche-Interpretationen einmal so ergehen, daß er Heideggers Gedanken „im Gewände von Nietzsche" entdeckt, und ein andermal so, daß ihm Heidegger „zu einem verspäteten Jünger Nietzsches" wird 10 . Die beeindruckende Selbst-Auslegung Heideggers durch NietzscheTexte ist nach Löwith (dem ich hierin zustimme) sowohl durch subtile Eindringlichkeit wie durch robuste Gewaltsamkeiten gekennzeichnet, durch welche „in jeweils verschiedenem Ausmaß" der interpretierte Text getroffen und verfehlt wird. 11
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hier: 72. — Daß die Beigabe von Eigenem „unvermerkt" geschehe, hatte Heidegger selbst schon hervorgehoben (Hw 197; II 262). „Von der Grunderfahrung, daß Gott ,tot' sei, wurde Heidegger nach seinem eigenen Bericht in den Jahren unmittelbar nach der Publikation von ,Sein und Zeit' getroffen", schreibt O . Pöggeler in: Philosophie und Politik bei Heidegger, 1972, 106; vgl. 25. Er weist darauf hin (a. a. O . , 106), daß Heidegger von dieser Erfahrung 1933 zum ersten Male öffentlich gesprochen habe, und zwar in seiner Rektoratsrede (SU 12). S. dazu schon Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, a. a. O . , 104 f. — Im Rückblick aus dem Jahre 1972 auf die Zeit von 1910 bis 1914 nennt Heidegger „die zweite um das Doppelte vermehrte Ausgabe von Nietzsches ,Willen zur M a c h t ' " an erster Stelle, wenn er die wichtigsten der ihn seinerzeit beschäftigenden Schriften aufführt. Es folgen die „Werke Kierkegaards und Dostojewskis" (Gesamtausgabe Bd. 1, Frühe Schriften, 56).
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Löwith, Heideggers Auslegung, a . a . O . , 121, 119. - Man kann an die Stelle solchen Perspektivenwechsels ein einheitliches Gebilde zu setzen suchen, das dann gar „une philosophie nouvelle" darstellen kann, „qui n'est ni celle de Nietzsche, ni celle de Heidegger", wie dies durch F. Assaad-Mikhail geschieht (Heidegger interprete de Nietzsche, in: Revue de Metaphysique et de Moral 73, 1968, 16; s. a. 18ff.).
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Löwith, Heideggers Auslegung, a . a . O . , 115. Vgl. Löwith, Heideggers Vorlesungen über Nietzsche, in: Merkur 16, 1962; 76. Löwith hat, im Unterschied sowohl zu pauschalen Verwerfungen wie auch zu kritiklosen Ubernahmen von Heideggers Auslegungen, sehr wohl zu differenzieren gewußt. So schreibt er über die in Hw veröffentlichten Interpretationen Heideggers: „Die Abhandlung über Hegels Begriff der Erfahrung vergewaltigt Hegels Gedanken so wenig, daß sie eher ein mitgehendes Kommentieren als ein deutendes Interpretieren ist. Die Abhandlung über ein Gedicht von Rilke (,Wozu Dichter?') ist — von einzelnen Vergewaltigungen (Hw 266, 288) abgesehen — ein Meisterwerk der subtilen Ausdeutung, die nur insofern über das von Rilke Gesagte hinausgeht, als sie es überdichtet und weiterdenkt. Die Abhandlung über Anaximander ist eine Auslegung, die nicht nur weit über den auszulegenden Spruch hinaus, sondern an ihm vorbei und über ihn hinweg geht, insofern sie ein Nichtgesagtes in einer Weise auslegt, worin sich der auszulegende Spruch nicht mehr wiedererkennen läßt. Die Abhandlung über Nietzsches Wort ,Gott ist tot' ist ebensosehr auf ausgewählte Nietzsche-Texte eingehend, wie gewaltsam über Nietzsches eigene Gedanken hinweggehend" (Heideggers Auslegung, a. a. O . , 115f.). — Heidegger selbst würde Löwiths Unterscheidungen bestenfalls als formal sinnvoll ansehen, im übrigen aber darauf hinweisen können, daß ihnen ihrerseits ein Vorverständnis zugrunde liegt, welches sich dem in den interpretierten Texten Ungesagten verschließt, das Heidegger in ihnen zutage fördert. Man muß sich vor Augen halten, daß es Heidegger schon 1925 darum gegangen ist, die vielbeklagte Subjektivität des interpretierenden
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Angesichts dieses komplizierten Sachverhalts bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, Heideggers Aus-einander-setzung mit Nietzsche zu thematisieren 12 . Man kann z . B . den Spieß umkehren und Heideggers Frage nach dem
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Historikers hinsichtlich ihrer Modifikationen (in eigentliches und uneigentliches Verstehen) positiv herauszuarbeiten (PZ 357f.). „Nur faktische eigentliche Geschichtlichkeit vermag als entschlossenes Schicksal die dagewesene Geschichte so zu erschließen, daß in der Wiederholung die ,Kraft' des Möglichen in die faktische Existenz hereinschlägt", heißt es dann SuZ 395. Dagewesene Geschichte, z. B. in Gestalt von Texten, gibt es immer nur in Interpretationen (was an Nietzsche denken läßt). Heidegger führt diesen Gedanken konsequent durch: „Wenn sich die besondere Konkretion der Auslegung im Sinne der exakten Textinterpretation gern auf das beruft, was ,dasteht', so ist das, was zunächst .dasteht', nichts anderes als die selbstverständliche, undiskutierte Vormeinung des Auslegers, die notwendig in jedem Auslegungsansatz liegt" (SuZ 150). Das auch für Heideggers späteres Auslegungsverständnis Entscheidende steckt in dem Wort ,zunächst', insofern in ihm die Modifizierbarkeit des Vorverständnisses angezeigt ist. Man kann das Eigentümliche seines Umgangs mit (hier: Nietzsche-) Texten deutlich machen, indem man ihn von dem R. Bultmanns, seines mehrjährigen Weggefährten, abhebt. Auf den ersten Blick überwiegt die Gemeinsamkeit. Wie Heidegger hält es Bultmann für widersinnig, „die Subjektivität zum Schweigen" zu bringen. Vielmehr gilt auch nach ihm, daß echtes Verstehen „die äußerste Lebendigkeit des verstehenden Subjekts" voraussetzt. So gelangt er zu dem Resultat, das dem Heideggers zu entsprechen scheint: „Die subjektivste' Interpretation ist . . . die .objektivste', d. h. allein der durch die Frage nach der eigenen Existenz Bewegte vermag den Anspruch des Textes zu hören". Bultmann bezieht sich dabei freilich unverständlicherweise nicht auf Heideggers Ausführungen selbst, sondern nur auf F. Kaufmanns knappes und unzulängliches Referat Heideggers (in: Geschichtsphilosophie der Gegenwart, 1931, 109—117). Genauer besehen zeigen sich wesentliche Unterschiede. Heidegger könnte nicht wie Bultmann sagen, daß der Interpret „in der Befragung des Textes sich selbst durch den Text befragen zu lassen, seinen Anspruch zu hören" hat (was etwas ganz anderes ist als das vom späteren Heidegger intendierte Zwiegespräch zwischen Philosophen), gar zur Eindeutigkeit oder Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis gelangen kann, (dazu: Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: ZThK 49, 1950, 63ff.) Entgegen solcher Gewichtung des Eigenen von Texten modifiziert sich nach Heidegger das Textverständnis allein von den subjektiven, präziser: den daseinsmäßigen Gegebenheiten her. Nach der sog. .Kehre' verstärkt sich die .Einseitigkeit' der Modifikabilität noch. Das Sein selbst spricht sich dem Menschen auf geschickhafte Weise zu, welche jeweils das Verständnis von ,Welt' einschließlich des Uberlieferten zu verstehen nötigt. Das Eigene früherer Texte, gar ihr Zeitgenössisches, ist das Uneigentliche hinsichtlich des in ihnen Ungesagten, auf das es Heidegger schließlich allein ankommt. Löwith gesteht Heidegger noch zu viel Textbezogenheit zu, wenn er aus Heideggers Rede vom Sichanvertrauen der verborgenen inneren Leidenschaft von Kants Kritik der reinen Vernunft (K 183) auch einen Zwang heraushört, „der von dem zu interpretierenden Text ausgeht", also doppelseitigen Zwang findet (Heideggers Auslegung, a. a. O . , 115). Jenes Anvertrauen geschieht ausdrücklich unter der treibenden und leitenden Kraft von Heideggers eigener „vorausleuchtenden Idee" (K 183), fügt also primär das, dem es sich sekundär .anvertraut'. Dem Interpretationsverständnis Heideggers zufolge gilt, daß schon jede Darstellung der Philosophie Nietzsches „notwendig bis in die hintersten Winkel Auslegung" und diese wiederum unvermeidlich „Stellungnahme", u. U. „durch den Ansatz bereits eine unausgesprochene Ablehnung und Widerlegung" ist (WD 23). Willkürlicher Deutung stehen nicht die Texte Nietzsches entgegen, welche immer nur vorinterpretiert gelesen werden, sondern das in ihnen Verborgene, das allein der seinsgeschichtlich Erhellte in oder hinter ihnen findet. E. Heftrich hat wesentliche Möglichkeiten am Anfang seines Aufsatzes „Nietzsche im Denken Heideggers" (in: Durchblicke, 1976, 331 f.) knapp und präzis beschrieben. Zu recht weist er auf Probleme hin, die sich jedem Unternehmen dieser Art stellen. Wenn er jedoch sowohl eine philosophische Kritik an Heideggers Nietzsche-Deutung wie auch die Ausarbeitung von Hei-
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Sein aus der Optik Nietzsches in den Blick nehmen 13 . Weiter kann man versuchen, von einem anderen (möglicherweise besser und breiter belegbaren) Nietzsche-Verständnis her Heideggers Deutung in Frage zu stellen. Heidegger hat solchen Bemühungen gegenüber auf seine eigene Fragestellung gepocht, auf die sich einzulassen vorgängig nötig sei, um in angemessener Weise aufzunehmen, was er über Nietzsche gesagt habe 14 . Nun hat aber die Veröffentlichung seiner Nietzsche-Vorlesungen im Jahre 1961 zur Folge gehabt, daß man in ihnen vielerorts die authentische Darstellung Nietzsches sah, ungeachtet der Besonderheit ihrer seinsgeschichtlichen Einbindung15. Oft sprach
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deggers Nietzsche-Rezeption daran scheitern läßt, daß derzeit kein übergeordneter Standpunkt zu finden sei, von dem her beide, Heidegger und Nietzsche, in ein angemessenes Verhältnis zu bringen wären, kein .dritter Ort', „von dem aus die eine Landschaft zu übersehen ist, in der Nietzsche wie Heidegger hausen", so läßt sich ebenso formal einwenden, daß jede denkbare Uberordnung zu ihrer eigenen Rechtfertigung eines neuen (vierten etc.) Ortes bedürfte, d. h. ad infinitum führen würde. Der Sache nach hat Heidegger durchaus eingeräumt, daß er Nietzsche anders verstand als dieser sich selbst. Freilich hat er immer vorausgesetzt, daß „dieses Andere . . . das Selbe" treffen müsse, „dem der erläuterte Text nachdenkt" (Hw 197). Demgemäß wird man im Rahmen immanenter Kritik, also ohne einen dritten Standpunkt beziehen zu müssen, z. B. nachfragen können, ob und in welchem Maße Heidegger Nietzsches Philosophie in das von ihm verstandene Selbe einzubringen vermag. Dabei könnten sich die von Heidegger herangezogenen Texte Nietzsches (oder auch die Kontexte) als derart sperrig erweisen, daß sie sich seiner Deutung nicht fügen. So verhält es sich in der Tat. Gleichwohl erfährt die „Ortsbestimmung Nietzsches innerhalb Heideggers Werk", um die allein es Heftrich geht (a. a. O . , 332), keine Veränderung. In Heftrichs formalisierender Analyse ist Nietzsche „der letzte ,Name' der Geschichte des Seins als Metaphysik", und er bleibt bloßer Name (a. a. O . , 348 f.). Daß eine solche Stellenbeschreibung, ungeachtet ihrer Richtigkeit, Heideggers Inanspruchnahme Nietzsches nicht gerecht wird, soll sich im folgenden zeigen. Diese Umkehrung wird von Löwith (in seiner Rezension der Vorlesungen Heideggers über Nietzsche, a. a. O . , 83) so weit getrieben, daß „die .Seinsgeschichte', an der Heidegger Nietzsches Denken bemißt, . . . - von Nietzsche her gesehen - immer noch [als] eine .Hinterwelt' oder Meta-physik" erscheint, „für die der .Hahnenschrei des Positivismus' (Götzendämmerung: Wie die .wahre Welt' endlich zur Fabel wurde) unerhört blieb und der ,bon sens' noch nicht zurückgekehrt ist". — W. Kaufmann hat Heideggers Darstellung Nietzsches als Metaphysikers von seinem durch eine Freud-Rezeption mitbestimmten Nietzsche-Verständnis her als „Form des Widerstandes gegen Nietzsches Psychologie" interpretiert (Nietzsche als der erste große Psychologe, Nietzsche-Studien 7. 1978, 269). Ähnlich wie Löwith argumentiert Kaufmann, wenn er sagt, „daß Heidegger, wenn man historisch denkt, selbst noch in einer vornietzscheschen Position stecken geblieben" sei (a. a. O . , 286). Beide Interpreten verkennen jedoch die Besonderheit von Heideggers Frage nach dem Sein, welche sich wesentlich von der überlieferten Metaphysik unterscheidet. In einem Brief an H. Wenzel schreibt Heidegger am 10. 7. 1973: „Die Kritik (sc. an Heideggers Nietzsche-Deutung) mag vieles in meinen Auslegungen als unrichtig und .gewaltsam' feststellen; solange keine grundsätzliche und zugleich positive Auseinandersetzung mit meinen Schriften zur Bestimmung der Metaphysik vorliegt, von wo aus meine Darstellung Nietzsches geleitet wird, bewegt sich die .Kritik' auf einer unzureichenden Ebene. Für den Historiker sind vermutlich die Aussagen des Aristoteles über Piaton und die vorplatonischen Denker durchgängig falsch und gewaltsam." (Aus dem Archiv des Verlages Walter de Gruyter. Briefe Urkunden Dokumente. Berlin 1980, 101 f.) P. Köster hat 1973 ausgeführt (Die Problematik wissenschaftlicher Nietzsche-Interpretation, Nietzsche-Studien 2, 31 f.): „Man wird sagen dürfen, daß die philosophische Auseinanderset-
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und spricht man von Nietzsches Metaphysik unter Berufung auf Heidegger, auch ohne dessen Metaphysik-Verständnis zu übernehmen oder auch nur ernsthaft zu diskutieren. Trotz der Rückläufigkeit der Bedeutung Heideggers für die Nietzsche-Diskussion halte ich es für notwendig, Nietzsches Philosophieren von den „Beigaben" Heideggers zu sondern, deren Anspruch sich nicht selten nur durch unvollständiges Heranziehen von Nietzsche-Passagen bei Textinterpretationen behaupten kann. Im Unterschied zu meinen früheren Äußerungen über Heideggers Nietzsche-Deutung wird es mir im folgenden aber nicht primär um Nietzsche, sondern primär um Heidegger gehen. Unter der im Titel genannten Eingrenzung sollen maßgebliche Voraussetzungen, Entfaltungen und Wandlungen in Heideggers Nietzsche-Auslegungen zur Darstellung gelangen. Heidegger hat mit der Veröffentlichung seiner durch Abhandlungen ergänzten Vorlesungen über Nietzsche „zugleich einen Blick auf den Denkweg verschaffen" wollen, den er von 1930 bis 1947 gegangen ist (I 10). Es ist kaum beachtet worden, daß seine zuvor schon veröffentlichte, der Sache nach aber spätere Nietzsche-Deutung aus den Jahren 1951 — 1953 anders akzentuiert ist als die früheren Auslegungen 16 . Im folgenden soll dem Weg von Heideggers Aus-einander-setzung mit Nietzsche anhand der von ihm veröffentlichten Texte von 1935 bis 1953 nachgegangen werden. Um der Konzentration auf das im Titel genannte Thema willen ist es notwendig, erstens Heideggers Verständnis von Seinsgeschichte, in das er Nietzsche hineinnimmt und das desungeachtet unter dem Einfluß von Nietzsche erwachsen ist, undiskutiert vorauszusetzen (damit muß auch Heideggers Erörterung von Nietzsches Verständnis des Nihilismus beiseite bleiben); zweitens kann nur gelegentlich (und dann meist nur in Einschüben oder Anmerkungen) auf das Gewaltsame und Verfehlende von Heideggers NietzscheInterpretationen eingegangen werden; drittens muß darauf verzichtet werden, die politischen Implikationen besonders herauszuarbeiten, die in diesen Interpretationen enthalten sind (und zwar sowohl im Hinblick auf den Wandel von
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zung mit dem Denken Nietzsches in Deutschland nunmehr seit über einem Jahrzehnt im Schatten eines .Monuments' steht, nämlich der im Jahre 1961 erschienenen Ausgabe von Heideggers Nietzsche-Vorlesungen und -Abhandlungen. Sie bieten eine in der Genauigkeit der philosophischen Textinterpretation und der Tiefe gedanklicher Durchdringung bisher unerreichte Aufschlüsselung von Nietzsches Philosophie." Im Unterschied zu anderen Interpreten sieht Köster freilich auch, „daß Heideggers imponierendes, aber doch in mancher Hinsicht angreifbares Werk bei aller Auslegungsintensität Nietzsches Philosophie nicht selten auch dadurch verdeckt, daß unübersehbar immer wieder Heideggers Verständnis von Seinsgeschichte und der aus ihm erwachsene Wille zur Destruktion der Metaphysik in den Vordergrund treten." In dem 1966 geführten ,Spiegel'-Gespräch, das 1976, nach dem Tode Heideggers veröffentlicht wurde (Der Spiegel, Nr. 23), hat Heidegger davon gesprochen, daß von seinen Veröffentlichungen gerade W D am wenigsten gelesen worden sei (214). Dies findet seine Bestätigung darin, daß man sich hinsichtlich Heideggers Nietzsche-Verständnis fast ausschließlich an den beiden Nietzsche-Bänden orientiert hat, ohne seiner neuen Auslegung Nietzsches im 1. Teil von W D Aufmerksamkeit zu schenken.
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Heideggers politischer Einstellung als auch im Hinblick auf die Frage nach seiner .Politischen Philosophie' 17 ); und viertens müssen mögliche andere (literarische) Einflüsse unberücksichtigt bleiben, z. B. der Hölderlins für den Wandel von Heideggers Verständnis vom Ubermenschen 18 . Lediglich die Fra17
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Zum Faktischen von Heideggers kurzzeitigem nationalsozialistischen Engagement hat er selbst in dem genannten .Spiegel'-Gespräch Auskunft gegeben. Im gleichen Jahr veröffentlichte F. Fédier in Critique (234, Nov. 1966, p. 883—904) seinen Artikel Trois attaques contre Heidegger, in welchem er diesen gegen die in der Tat einseitig-,propagandistischen' Dokumentationen G. Schneebergers, gegen die bornierte Darstellung P. Hühnerfelds und gegen die ideologiekritische Einordnung seiner Sprache in den ,Faschismus' durch Th. W. Adorno in Schutz nahm. Man wird B. Allemann recht geben müssen, daß die grundsätzlichen Aspekte dieser Heidegger-Diskussion durch Fédier in Frankreich deutlicher herausgestellt worden sind, als dies bis dahin in Deutschland geschehen ist (Martin Heidegger und die Politik, in: Merkur 21, 10, 962 f.). — Es ist zu hoffen, daß in Zukunft die in Heideggers Denk weg aufzeigbaren politischen Implikationen mehr Beachtung finden als Mitteilungen oder auch nur Gerüchte über sein persönliches Verhalten.— Zu der einer Weiterführung bedürftigen Diskussion um die politische Relevanz von Heideggers Denken kann hier nur auf die eindringliche Untersuchung A. Schwans, Politische Philosophie im Denken Heideggers, 1965, sowie auf die schon zitierte Veröffentlichung O. Pöggelers, Philosophie und Politik bei Heidegger, 1972, hingewiesen werden. Auf die zwischen den beiden Interpreten entstandene Kontroverse (Pöggeler, a. a. O . , 121 ff.; Schwan, Martin Heidegger und Praktische Philosophie, Philos. Jb., 81, 1974) ist hier nicht einzugehen. — W. Franzens Untersuchung über die Entwicklung der Philosophie Heideggers unter dem Titel Von der Existenzialontologie zur Seinsgeschichte, 1972, hat die Bezugnahmen Heideggers zur Zeitgeschichte, auch zu seinen nationalsozialistischen Gegnern, vielfältig und häufig behutsam abwägend herausgestellt. Franzens Arbeit hat für die Frage nach Heideggers Politischer Philosophie Bedeutung; Heideggers Seinsdenken begegnet sie freilich oft mit Simplifizierungen. S. dazu Pöggeler, Philosophie und Politik, a. a. O . , 25f., 106ff. - Das „Zwischen" (den Göttern und den Menschen), das Heidegger in EHD 43 f. herausgestellt und durch seine Erläuterungen des „Halbgottes" genauer zu bestimmen versucht hat (EHD z. B. 92, 98f., 107, 109f.), könnte nach der jetzt erfolgten Veröffentlichung von Hö in der Bedeutung für sein Verständnis von Nietzsches Ubermenschen noch weitergehend befragt werden. Immerhin spielt Heidegger in Hö häufig auf Nietzsche an (28, 95, 133, 166, 210, 286, 293 f.). Dabei finden sich im Ausgang von Hölderlin Hinweise auf Nietzsches Verständnis des Todes Gottes, auf Heraklit, auf das Dionysische u. a. m. Für die hier behandelte Thematik verdient besondere Beachtung, daß Heidegger Hölderlins Halbgötter zugleich als Übermenschen und als Untergötter vorführt (Hö 166f.). Daß Heidegger hierbei Nietzsche nicht nennt (und auch sonst, soweit bisher bekannt, diesen Bezug Hölderlin-Nietzsche nicht ausgearbeitet hat, obwohl er so nahe liegt), dürfte mehrere Gründe haben. Zwei seien genannt: Einmal hätte 1934/35 die unter dem Zeichen nationalsozialistischer Inanspruchnahme sowohl Hölderlins als auch Nietzsches herrschende öffentliche Meinung jene Mißverständnisse und Vergröberungen nur gefördert, gegen die sich Heidegger zur Wehr setzen mußte. Zum zweiten steht Heideggers Vorlesung Hö in einem kritischen Verhältnis zu Nietzsche, der deutlich als der Geringere gegenüber Hölderlin erscheint (z. B. Hö 294). Es ist nicht nur die zeitgenössische „Mißdeutung", sondern auch die in Nietzsches Werk liegende „Denkweise", in der dessen Unzulängliches liegen soll. „Nietzsches eigene Kraft und Kunst der kritischen Zergliederung von Kulturerscheinungen" leistete den zeitgenössischen Auswertungen „Vorschub" und bestätigte diese „scheinbar". (Hö 28) — Eine Vermutung sei hier ausgesprochen: Die in den Jahren der Nietzsche-Vorlesungen (1936/37ff.) von Heidegger vorgelegte Deutung des Ubermenschen als des Technokraten erfolgt in Abhebung von dem, was er in der Aufnahme von Hölderlins Dichtung erfahren hatte. Seine (selber zeitgenössischen Tendenzen verpflichtete) Orientierung an der Kompilation ,Der Wille zur Macht' bestätigte zunächst die
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gen danach, was Nietzsches Philosophie für Heidegger bedeutet (bzw. wer Nietzsche — oder später auch wer Nietzsches Zarathustra — für ihn ist) und wie (unter welchen seine Interpretationen vorgängig leitenden Hinsichten) Heidegger zu ,seinem' Nietzsche gelangt, sollen im folgenden behandelt werden. I. Zu Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht notiert Heidegger 1941: „Das gegenwärtige Zeitalter hat nicht Nietzsches Lehre übernommen, sondern umgekehrt: Nietzsche hat vorgesagt und damit vorgezeigt die Wahrheit, in die die neuzeitliche Geschichte vor-rückt, weil sie bereits aus ihr herkommt." (Sch 217) Im Ausgang von diesem Satz Heideggers kann das Eigentümliche seiner Nietzsche-Interpretationen herausgestellt werden. Ich erläutere ihn unter Einbeziehung anderer Ausführungen Heideggers. Vier Gesichtspunkte sind von Bedeutung. Erstens. Das „gegenwärtige Zeitalter" zeigt sich so, wie Nietzsche es „vorgesagt" hat. Man könnte meinen, Handeln und Denken in dieser Gegenwart (z. B. unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, aber auch anderwärts und auch später) seien in bestimmter Weise erst durch die Übernahme von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht möglich geworden. Das ist aber ein Irrtum. Nietzsche hat nur „vorgezeigt", was kommen wird. Deshalb wird für Heidegger „das Durchdenken der Metaphysik Nietzsches . . . zur Besinnung auf die Lage und den Ort des jetzigen Menschen, dessen Geschick hinsichtlich seiner Wahrheit noch wenig erfahren ist" (Hw 194). „Jeder Heutige" denke im „Licht und Schatten" Nietzsches (SF 43), mag er dessen gewahr werden oder nicht (Her 107). Zweitens. Nietzsches Vor-sage der Wahrheit neuzeitlicher Geschichte macht nicht nur den metaphysischen „Geschichtsgrund" der Gegenwart, sondern auch den des „künftigen Zeitalters sichtbar" (I 479). Dementsprechend versucht eine Nietzsche-Erläuterung „dorthin zu weisen, von wo aus vielleicht eines Tages die Frage nach dem Wesen des Nihilismus gestellt werden kann" (Hw 193). „Wer Nietzsche sein wird": darauf „vor allem" (I 473) richtet sich Heideggers Fragen bis zu seinen späten Äußerungen. Nietzsches Denken „geht Europa, geht die ganze Erde an, nicht nur heute noch, sondern (sc. eigentlich?) erst morgen" (VA 106f.). Die Zukunft der Metaphysik liegt Heidegger zufolge nicht in einer Metaphysik nach Nietzsche, sondern in Nietzsches Zukunft. Drittens. Die Wahrheit, die Nietzsche vorzeigt, kommt aus der neuzeitlichen Geschichte her. In der ErörWesensferne von Nietzsches Ubermenschen zu Hölderlins Halbgott. Die neue Lektüre von Nietzsches Za, die sich in Hw und später in W D sowie VA niederschlug, führte Heidegger zu einem veränderten Verständnis des Ubermenschen, das zwar dem aus der Hölderlin-Aufnahme Gewonnenen näher rückte, ohne jedoch mit ihm zusammenkommen zu können.
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terung dieser Wahrheit nimmt Heidegger die Philosophien von Descartes bis Hegel in den Blick und versteht Nietzsche aus der Kontinuität metaphysischen Denkens. Allein als der solcherart aus der Geschichte der Metaphysik Herkommende ist Nietzsche der auf das Künftige Weisende. Viertens. Die Ausspannung zwischen Herkunft und Zukunft, welche Nietzsches Philosophie in Heideggers Deutung erfährt, läßt den ,historischen Nietzsche' in seiner Zeiteingebundenheit und hinsichtlich des von ihm Aufgenommenen und von ihm Verarbeiteten gänzlich zurücktreten. Ohnehin darf sein Denken — so wenig wie das anderer Denker von Rang — als persönliche Leistung, als Auszeichnung oder gar als sein Besitz angesehen werden (I 473ff., II 258, H w 193), wenn sein „Denkersein . . . in der fast unmenschlichen Treue zur verborgensten Geschichte des Abendlandes" ,benötigt' wird (1492): Es ist „der Wille zu Macht selbst, der Grundcharakter des Seienden als solchen, und nicht ein ,Herr Nietzsche'", der den „Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen" setzt (II 290); jenem höchsten Subjekt der vollendeten Subjektivität — und „nicht einer .Überheblichkeit' des ,Herrn Nietzsche'" — entspringt auch der Gedanke des Ubermenschen (II 304; man vgl. mit Heideggers häufigem Gebrauch der Rede vom „Herrn Nietzsche" denjenigen von Nietzsche selbst in FW Vorrede 2). Heidegger sieht sich mit der genannten Ausspannung von Nietzsches Denken vor eine doppelte Aufgabe gestellt: Zum einen muß er darlegen, daß die frühere Geschichte der Metaphysik auf Nietzsche zuläuft (wie wenig dieser selbst auch seine Vor-läufer als solche erkannt haben mag); zum anderen muß er zeigen, daß sich in Nietzsches Philosophie schon diejenige metaphysische Wahrheit findet, die in die Gegenwart vorgerückt ist und in die Zukunft weiterrückt. U m dieser Aufgabe gerecht werden zu können, muß Heidegger den Aussagen Nietzsches über das in ihnen offenkundig Gemeinte hinaus Relevanz zusprechen. Vor allem müssen die Grundbestimmungen von Nietzsches Philosophie eine Ausweitung ihrer Bedeutung erfahren, die es gestattet, sie sowohl in die metaphysische Tradition einzubinden als auch dem Verständnis der vorrückenden Neuzeit dienstbar zu machen. Zu dieser Ausweitung gehört der Anspruch der Vertiefung ihres Sinnes, welcher aus dem von Nietzsche Gesagten sein Ungesagtes heraushört und zur Sprache bringt.
II. An Nietzsches „Grundwort" (Hw 215) Wille zur Macht, in welchem Heidegger dem „Grundcharakter alles Seienden" (I 12 u. ö.), d. h. des Seienden im Ganzen (Hw 218 u. ö.) und damit den des „Seienden als eines solchen" (II 264 u. ö.) ausgedrückt findet, sucht sich sein Verfahren selber
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grundlegend zu bewähren. Mit dieser Charakterisierung hat Heidegger den Willen zur Macht schon im Sinne traditionellen Metaphysik-Verständnisses vor-bestimmt. Die Vor-bestimmung leitet die Ausarbeitung auf eine Wesenseinheit des in Nietzsches W o r t Genannten hin. Der Ausarbeitung gilt es in ihren bedeutsamsten Schritten zu folgen. Befehl und Machtsteigerung
sind die beiden Bestimmungen Nietzsches,
von denen her Heideggers Auslegung des Willens zur Macht erfolgt. Bei beiden geht es ihm darum, ihr In-sich-bleiben
im Einen ihrer Selbigkeit
heraus-
zustellen. Machtsteigerung ist demzufolge Se/^siübermächtigung der Macht (II 103). Der hierin zutage tretenden Bewegung der „Macht zur M a c h t " , von der Heidegger 1940 im Sinne von „Ermächtigung zur Ubermächtigung" redet (II 266), entspricht das Bei-sich-bleiben
des Befehlens,
das darin zutage treten soll,
daß der Befehlende im Befehlen dem einheitlichen „Vollzug" eines „Verfügens" als Befehlender Selbstüberwindung.
gehorcht.
Befehlen ist und bleibt demnach wesentlich
(II 265, H w 216, vgl. I 608ff., 651). Der darin beschrie-
bene Vorgang wird von Heidegger 1940 „als Wille zum Willen begriffen", wobei im ersten Willensbegriff das Befehlen und im zweiten das Verfügen über die Wirkungsmöglichkeiten gemeint ist. Das dabei von Heidegger herausgestellte Willenswesen
gehört mit dem zuvor genannten Machtwese.n
„in die
Einheit eines Wesens" zusammen. (II 2 6 6 f . ) Es verdient Aufmerksamkeit, daß Heideggers erster Zugang zu dem genannten Befehlscharakter wesentlich von dem her bestimmt wird, was die existenziale Analytik von Sein und Zeit leitet. „Wollen ist" nach der frühen Nietzsche-Deutung „sich unter den eigenen Befehl Stellen, die Entschlossenheit des Sichbefehlens, die in sich schon Ausführung ist" (I 50). Der Wille erschließt sich selbst in der Weise des „eröffnenden Offenhaltens". Solches Erschließen macht die (wahrhafte) Entschlossenheit aus (I 63). Im Hinblick auf das Bei-sich-bleiben des Befehlens ist von Belang, daß Heidegger in seinem frühen Hauptwerk die ontische Auszeichnung des (menschlichen) Daseins darin findet, „daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht" (SuZ 12). Die Ausarbeitung des Seinsverständnisses des Daseins als Erschlossenheit führt schließlich zur Herausstellung der Entschlossenheit als der ursprünglichsten, weil eigentlichen Wahrheit dieses Seienden (SuZ 297), welche sich in dessen Ganzseinkönnen bewährt (SuZ 301 ff.). Um Ganzheit als erschlossener und zugleich geschlossener Einheit ist es Heidegger auf den verschiedenen Ebenen seiner existenzialen Analytik zu tun (s. z. B. SuZ 180f.). Ihre .Immanenz' besiegelt die Entschlossenheit dadurch, daß sie „das eigentliche Sein zum Tode in sich {birgt) als die mögliche existenzielle Modalität ihrer eigenen Eigentlichkeit" (SuZ 305). Das sich in seiner Jemeinigkeit eigentlich verstehende Dasein hat seinen eigenen Tod lediglich als äußerste und unüberholbare Möglichkeit vor sich, nicht aber als ein seine Immanenz transzendierendes wirkliches Ereignis.19 Wenn Heidegger vor 1953 (s. EM, Vorbemerkung) im Rückgriff auf seine Ausführungen zur Entschlossenheit in SuZ ausführt, daß diese damals schon als „Ent-bor19
S. dazu Vf., Möglichkeit und Wirklichkeit bei Martin Heidegger, 1960, Zweiter Abschnitt, 17-53.
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genheit des menschlichen Daseins für die Lichtung des Seins" gedacht worden sei (EM 16), so bedarf dies — an dieser Stelle vor allem im Hinblick auf seine Aufnahme von Nietzsches Philosophie — einiger Hinweise und Differenzierungen. Heideggers Ausführung versteht sich als Korrektur der Vorlesung E M von 1935, in der Wollen als Entschlossenheit gedeutet wird: „Wer will, wer sein ganzes Dasein in einen Willen legt, der ist entschlossen." ( E M 16) Heidegger könnte sich mit einem gewissen Recht darauf berufen, daß in SuZ Bestimmungen wie Wollen („Velleität") und „Handeln" für die Entschlossenheits-Analyse irrelevant bleiben oder doch nur in abgeleitetem Sinne Bedeutung erhalten (SuZ 300f.). Aber seine 1953 von ihm veröffentlichte Ausführung, daß schon in SuZ „alles Wollen im Lassen gründen soll", ist m. E . gleichwohl späte Selbstuminterpretation. In noch größerem Maße gilt das für seinen in gleichem Zusammenhang gegebenen Hinweis auf den Vortrag W W von 1930. (EM 16) Zwar ist in W W 14 ff. das Seinlassen als Bestimmung des Wesens der Freiheit herausgestellt worden, doch handelt es sich dabei nach Heideggers Angaben ( W W 4) um die Druckfassung (von 1943) eines „mehrfach überprüften" Textes eines Vortrages, „der unter dem gleichen Titel seit 1930 öfter gehalten wurde". Das ist insofern von Bedeutung, als W . Schulz Auszüge aus einem Stenogramm des Vortrags von 1930 mitgeteilt hat, in denen u. a. davon die Rede ist, das Seiende müsse in die Entborgenheit gezwungen werden. Der Stenogramm-Text fügt sich der Deutung von Schulz vorzüglich, daß Heideggers Ausarbeitung des Selbstverständnisses des Daseins vor der sog. Kehre „die Selbstbehauptung in der Ohnmacht und Endlichkeit des Daseins" sei, „auf die am Ende die Metaphysik selbst hintreibt". 2 0 Schulz läßt hierbei den (im einzelnen freilich nicht immer leicht aufweisbaren) Nietzsche-Einfluß auf Heidegger beiseite. Dieser tritt jedoch von 1930 an immer deutlicher hervor und findet eine vergröbernde Ausprägung in den Jahren 1933 — 1935, also vor Heideggers Nietzsche-Vorlesungen. Ich lasse mich auf jene ,Vorphase' hier nur soweit ein, als in ihr Heideggers Verständnis von Entschlossenheit und ,Willenswesen' eine Verbindung eingehen, die in den späteren dreißiger Jahren wieder aufgelöst wird. Mit dieser Auflösung beginnt das Unternehmen von Heideggers metaphysikgeschichtlicher Einordnung Nietzsches und die Distanzierung von jenem Willenswesen, an dem er sein eigenes Denken zuvor orientiert hatte. In seiner Rektoratsrede hat Heidegger 1933 „ G e i s t " als „ursprünglich gestimmte, wissende Entschlossenheit zum Wesen des Seins" bestimmt (SU 13), welche freilich, „ausgeliefert der Übermacht des Schicksals", um ihr letztliches Versagen weiß (SU 9 f . ) . Weiter heißt es damals: „Aus der Entschlossenheit der deutschen Studentenschaft, dem deutschen Schicksal in seiner äußersten N o t standzuhalten, kommt ein Wille zum Wesen der Universität. Dieser Wille ist ein wahrer Wille, sofern die deutsche Studentenschaft durch das neue Studentenrecht sich selbst unter das Gesetz ihres Wesens stellt und damit dieses Wesen allererst umgrenzt." (SU 1 5 f . ; zum entschlossenen Sichfügen s. a. SU 11) Auch wenn Heidegger sich in dieser Rede nicht ausdrücklich auf Nietzsche bezogen hätte (SU 12), so verweist auf diesen schon der häufige Gebrauch der Wendung ,Wille zu . . .'. (Am deutlichsten in dem Satz: „Wissenschaft und deutsches Schicksal müssen zumal im Wesenswillen zur Macht k o m m e n . " SU 7) Entschlossenheit als willensmäßiges sich unter den eigenen (eigentlichen) Befehl Stellen findet sich 1933 nicht nur als das kennzeichnende Wort für die zitierte Wesens20
W . Schulz, U b e r den philosophiegeschichtlichen O r t Martin Heideggers, Philos. Rundschau 1, 1953/54, 8 9 f . , vgl. 9 2 f .
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Selbstgesetzgebung der Studentenschaft. Entschlossenheit wird von Heidegger als „Wille zur Selbstverantwortung" in Anspruch genommen, welcher die Wahl-Entscheidung für den „ F ü h r e r " bestimmen soll (s. G . Schneeberger, Nachlese zu Heidegger, 1962, N r . 1 3 2 ; vgl. 129, 128). Wie eingangs bemerkt, geht es mir hier nicht um Heideggers verunglücktes politisches Engagement von 1933. A u c h nach dessen Scheitern hält er, wie E M 16 zeigt, an der positiven Bestimmung des Wollens als bei sich bleibender Entschlossenheit f e s t . 2 1 W e n n Heidegger in seinen Ausführungen zum Befehlscharakter des Willens bei Nietzsche von 1939 an den Begriff der Entschlossenheit nicht mehr gebraucht, so hält er ihn damit frei für einen Gebrauch im Sinne jenes Stmlassens, in dem alles Wollen erst gegründet sein kann ( E M 16, Zusatz in der Ausgabe von 1953) und welches als das reine Innewerden der Gelassenheit in der ihm eigenen „Verhaltenheit" der „ E m p f ä n g n i s " dem Wollen abgesagt hat ( G 61, s . o . S. 1 7 6 f . ) .
In „die unzertrennliche Einfachheit" des Willens zur Macht (II 266) gehören nach Heideggers Interpretation die in sich selbst einfachen Willens- und Machtwesen zusammen. „Wille für sich gibt es so wenig wie Macht für sich." (II 267, vgl. Hw 214f.) Es ist ihm zuzustimmen, wenn er im Durchgehen von Nietzsches Aussagen zum Willen bzw. zum Willen zur Macht Bestimmungen wie Begehren, Affekt, Leidenschaft zurückstellt (I 52ff.) und sich — statt an ihnen — an Nietzsches häufigster Kennzeichnung des Wollens als Befehlen orientiert. Erst sein Bemühen, das Befehlen als Bei-sich-bleiben zu verstehen, geht an Nietzsches Gedanken vorbei. Dabei ist zunächst einzuräumen, daß Heidegger die ,Einfachheit' des Befehlens als in sich ebenso „gefügt" oder „gegliedert" auffaßt wie die Entschlossenheit in Sein und Zeit, von der sein Verständnis des Befehlscharakters des Wollens bei Nietzsche seinen Ausgang nahm. Die Einheit des Einfachen besteht für Heidegger nicht in bloßer Identität. Andererseits ist der im Vollzug des Verfügens von ihm gedachte Selbstbezug des Willenswesens die für sein Verständnis des Befehlens entscheidende Bestimmung. Dieser Selbstbezug kommt schon in der Interpretation des Willenswesens als des Willens zum Willen zum Ausdruck, welcher Begriff, anfänglich ein (wenngleich wesentliches) Moment von Heideggers Auslegung des Willens zur Macht Nietzsches (I 46), — wie noch darzulegen sein wird — aus solcher Eingebundenheit gelöst wird, um das frühere wie das gegenwärtige wie das künftige ,Wesen' der Metaphysik zu bestimmen. Zur Selbstbezogenheit des Befehlens gehört nach Heidegger durchaus sein Gegliedertsein in eine Vielheit von Befehlenden und Gehorchenden. N i c h t selten stellt Heidegger diese Gliederung lediglich als einen Anweisungszusammenhang von ,oben' nach ,unten' dar. So führt er aus: „Wollen ist Herr-seinwollen. Der so verstandene Wille ist auch noch im Willen des Dienenden. Z w a r nicht insofern, als der Diener danach streben könnte, aus der Rolle des Knechtes herauszu21
Zur Bedeutung des Begriffs Entschlossenheit im Horizont von Heideggers politischem Denken s. A. Schwan, Politische Philosophie im Denken Heideggers, 1965, v. a. Kapitel III - V, 53 ff.
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kommen, um selbst ein Herr zu werden. Vielmehr will der Knecht als Knecht, der Dienende als Dienender immer noch etwas unter sich haben, dem er bei seinem Dienst befiehlt und dessen er sich bedient. So ist er als Knecht noch ein Herr. Auch das Knechtsein ist ein Herr-sein-wollen." (Hw 216) Eine solche Simplifikation des Verhältnisses Herrschaft—Knechtschaft scheint nicht nur von Nietzsches differenzierenden Äußerungen keine Kenntnis genommen zu haben, sondern auch nicht von Hegels Phänomenologie des Geistes, über die Heidegger aber schon im WS 1930/31 eine Vorlesung gehalten hatte (s. Heidegger, G A 32). In seiner Darstellung von Herrschaft im Sinne Nietzsches von 1940 hat er auch noch Hegels Gedanken (im Unterschied zur späteren Fassung in H w , die zum großen Teile wörtlich mit jener übereinstimmt) Rechnung getragen. Damals heißt es noch: „Und sofern der Diener als ein solcher dem Herrn sich unentbehrlich macht und den Herrn so an sich zwingt und auf sich (den Knecht) anweist, herrscht der Knecht über den H e r r n . " (II 265) Daß gerade im späteren (1950 publizierten) Text diese Ausführung nicht aufgenommen worden ist, dürfte seinen Grund darin haben, daß Heidegger den Hegeischen Gedanken als mit Nietzsches Verständnis von Herrschaft in zunehmendem Maße — und zwar zu Unrecht 2 2 — für unvereinbar gehalten hat. (Wie verfehlt es sein kann, Heideggers Denken allein oder primär unter vordergründige politische Gesichtspunkte zu bringen, zeigt dieses Beispiel. Man hätte — im Hinblick auf den Heidegger oft unterstellten Opportunismus — das Umgekehrte erwarten müssen: daß Heidegger auf den aus der Knechtschaft erwachsenden Herrschaftscharakter erst nach dem Kriege eingegangen wäre und zuvor jeden Hinweis darauf vermieden hätte. Ähnliches läßt sich im Rückblick auf SU sagen. Dort heißt es, „alle Führung" müsse „der Gefolgschaft die Eigenkraft zugestehen. Jedes Folgen aber trägt in sich den Widerstand. Dieser Wesensgegensatz im Führen und Folgen darf weder verwischt noch gar ausgelöscht werden" (21). D a s Gegliederte des ,Befehlswesens', wie H e i d e g g e r es aus N i e t z s c h e T e x t e n herausinterpretiert, findet seinen eigentlichen , G r u n d ' im G e d a n k e n der Selbstüberwindung
(II 2 6 5 , H w 2 1 6 ) . In der Herausstellung dieses G e -
dankens s t i m m t der schärfste Kritiker von Heideggers
Nietzsche-Deutung,
W . K a u f m a n n , in seinem N i e t z s c h e - B u c h 2 3 mit H e i d e g g e r überein: aller V e r schiedenheit im besonderen ungeachtet, auf die hier nicht eingegangen werden kann. H e i d e g g e r führt aus: „ N u r dem, der nicht sich selbst gehorchen kann, m u ß (eigens n o c h ) befohlen w e r d e n . " (II 2 6 5 , H w 2 1 6 ) D a m i t wird der Selbstbezug
des Befehlens gegenüber dem (sekundär gedachten) B e z u g zu d e m , wel-
c h e m befohlen wird, hervorgehoben. Die Behauptung der Einheit des Bei-sich-bleibens des Befehls steht im Widerspruch zu dem, worum es Nietzsche ging. Ich beschränke mich hier darauf, den Text heranzuziehen, von dem auch Heideggers erste Analyse des Willens im Sinne Nietzsches ausgeht (I 48—53). Er findet in J G B 19 den Hinweis darauf, daß für diesen Wollen „vor allem etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist", dar22
23
Daß Nietzsche nicht nur die Abhängigkeit der Befehlenden von den Gehorchenden, sondern auch deren möglichen Wechsel häufig herausgearbeitet hat, habe ich ausgeführt in: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, Nietzsche-Studien 3, 1974, 60, und vor allem in: Der Organismus als innerer Kampf, Nietzsche-Studien 7, 1978, 216 ff. Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist, Princeton 4 1974.
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stellt. Dazu führt er aus, daß Nietzsche sich hier vor allem gegen Schopenhauer wende, womit er freilich nur das Negative und Vordergründige der Aussagen Nietzsches trifft. Wenn Heidegger des weiteren der von Nietzsche in J G B 19 genannten Vielfachheit von Wollen, Befehlen etc. dadurch entsprechen zu können meint, daß er Affekt, Leidenschaft und Gefühl als ,Besonderungen' des Einfachen aufführt (I 53—66), so verfehlt er Nietzsches Problem. Das Komplizierte des Wollens liegt diesem zufolge gerade nicht im Sich-selbst-gehorchen in der Vielfachheit emotionaler Brechungen. Es besteht vielmehr vor allem darin, daß „ein Mensch, der will", „einem Etwas in sich" (und nicht ,sich selbst') befiehlt, „das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht". Willensfreiheit ist dabei das Vielfache eines Lustzustands, in dem Befehlende und Ausführende, Widerstandüberwindende und dienstbare „Unterwillen" als Eins nur gesetzt werden, ohne Eins zu sein. Dem Komplizierten, von dem Nietzsche spricht, wird man nur gerecht, wenn man das Vielfache, von dem Nietzsche spricht, als die Grundlage für jedes Einfache (hier: des Wortes ,Wille') versteht. Schließlich geht Nietzsche in dem herangezogenen Text (wie in vielen Ausführungen seines Spätwerks) so weit, daß er sich gegen „die Gewohnheit" wendet, die (ohnehin vereinfachende') „Zweiheit" von Befehlenden und Gehorchenden in uns „vermöge des synthetischen Begriffs ,ich' hinwegzusetzen, hinwegzutäuschen". 2 4 Daß Heidegger diese Ausführung unberücksichtigt läßt, wenn er sich auf Nietzsches Text bezieht, ist schwer verständlich. Jedenfalls macht er es sich zu leicht, wenn er Nietzsches Rekurs auf ,uns' als ,Leib', der dazu führt, alles „Befehlen und Gehorchen auf der Grundlage [. . .] eines Gesellschaftsbaues vieler ,Seelen'" zu interpretieren (JGB 19), auf die „Anleihen" zurückführt, die Nietzsche „bei der Physiologie und Psychologie . . . zu seinem Schaden weithin" genommen hat. Führt Heidegger 1936/37 noch aus, daß Nietzsche dabei das „Leibzuständliche" metaphysisch unzulänglich begriffen hat (I 55), so findet er 1939, daß „Nietzsches Denken so wenig in der Gefahr des Biologismus" stehe, „daß er eher umgekehrt dazu neigt, auch das im eigentlichen und strengen Sinne Biologische — das Pflanzliche und das Tierische — nichtbiologisch . . . zu deuten" (I 615), vom .Menschlichen' her, das sich schließlich als das vorgängig Metaphysische enthüllt. Das Nietzsches spätere Philosophie immer entschiedener bestimmende Modell der Organisation von Seiendem überhaupt, das als solches durchaus einer metaphysikgeschichtlich orientierten Befragung bedürftig ist, bekommt er überhaupt nicht in den Blick. Wie H e i d e g g e r N i e t z s c h e s Vielfaches in b e z u g auf Befehlen u n d G e h o r chen in die Einfachheit des bei sich bleibenden Befehlens z u r ü c k n i m m t , so bringt er auch das M a c h t w o l l e n in das E i n f a c h e einer Selbstentfaltung des Willenswesens, das sich in N i e t z s c h e s P h i l o s o p h i e gerade als dieses entbergen und zugleich verbergen soll. I n d e m er den Willen zur M a c h t als Prinzip
deutet
(z. B . H w 214), stellt er jenen metaphysikgeschichtlichen Z u s a m m e n h a n g her, von d e m andeutend s c h o n die R e d e w a r . N i e t z s c h e s L e h r e v o m Willen z u r M a c h t dient ihm als V e r s t e h e n s h o r i z o n t f ü r das abendländische D e n k e n überhaupt. In seiner B e s c h r e i b u n g des sich entfaltenden Willenswesens im abend24
Zum fiktiven Charakter der ,Einheits'-Vorstellungen wie ,Ich', .Subjekt', ,Individuum', s. Vf., Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, 1971, 17 ff. — Nietzsches Verständnis des Menschen als zeitweiliger Einigung einer Vielheit von Machtwillen schließt Selbst-Überwindung so wenig aus, daß es diese aus dem .Machtwesen' heraus vielmehr fordert.
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ländischen Denken ist Nietzsche für Heidegger zwar der Philosoph, der die Metaphysik ,vollendet', zugleich aber ein Philosoph, der sich dessen nicht bewußt wird (nicht bewußt werden konnte),
was sein Denken bestimmt.
Entgegen seinen ausdrücklichen Intentionen wird Nietzsche in das Schema aristotelischer Teleologie gestellt. In Heideggers Ausführungen erscheint Nietzsches Wille zur Macht als ,Ziel' eines Weges, der seinen Ausgang bei Piaton und Aristoteles nimmt. In den Nietzsche-Vorlesungen erhält letzterer besondere Bedeutung für Heideggers Nietzsche-Verständnis. Zwar behauptet Heidegger nicht, daß sich „Nietzsches Lehre vom Sein unmittelbar mit Hilfe der Aristotelischen Lehre auslegen" lasse. Aber „obgleich Nietzsche den verborgenen und lebendigen Zusammenhang seines Machtbegriffes als eines Seinsbegriffes mit Aristoteles' Lehre" nicht kenne und dieser Zusammenhang auch „scheinbar sehr lose und unbestimmt" bleibe, dürfe gesagt werden, daß die Lehre des Aristoteles zu Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht „mehr Beziehung" habe „als zu irgendeiner Kategorien- und Modalitätenlehre der Schulphilosophie". So entspreche Nietzsches Verständnis von Kraft als gesammeltes „Imstandesein zu . . . " dem Begriff der öt>va|iig, das „Mächtigsein im Sinne des Herrschaftsvollzugs" dem Begriff der Evegyeia und schließlich die Bestimmung des Ober-sich-hinaus-wollens, das ein „Zu-sich-selbstkommen" sei, ein „sich in der geschlossenen Einfachheit des Wesens Finden und Behaupten", dem Begriff der IvTeXexeia. (I 76ff.; vgl. zum Begriff der iveQYEia II 237f.) An anderer Stelle habe ich mich gegen diese Ausdeutung von Nietzsches Philosophie gewandt, der es gerade um die Ausmerzung teleologischer Prinzipien geht. 2 5 — Heidegger selbst ist 1944 auf die Fragwürdigkeit seiner Ausdeutung des Willenswesens als „Sich-Wollen" gestoßen. Noch der Wille zum Willen dränge, ungeachtet der im Anschluß an Aristoteles herausgestellten Charaktere des Willens zur Macht als Zu-sichselbst-kommens und sich in seiner Geschlossenheit und Einfachheit Findens, „zur Hervortreibung des Gegenwilligen". Seine Frage: „Woher das ,Gegen'?" nimmt die Gegensätze nur als „die gewollten Vorwände, in deren Schutz das Selbe gewollt ist" (Her 386). Soweit Heidegger Nietzsche auslegt, hat er die konstitutive Bedeutung des Gegensatzcharakters des Willens zur Macht nie in den Blick bekommen. Soweit Heidegger Ausführungen Nietzsches als Vehikel für sein Verständnis des technischen Zeitalters einseitig und oft willkürlich gebraucht, kann solchem Gebrauch nachgegangen werden: auch dort, wo er zum Mißbrauch wird. — Hier verfolge ich Heideggers Gedankengang unter Zugrundelegung von dessen Voraussetzungen weiter. Der Heidegger zufolge wesenhaft in sich bleibende Wille zur Macht muß des näheren auf die ihm eigene ,Bewegung' der Selbstübermächtigung (bzw. der „Ermächtigung in die Überhöhung seiner selbst", 1 6 5 1 , vgl. 655) hin in den Blick genommen werden. Diese Bewegung ist durch das Erreichen und Ü b e r steigen von Machtstufen
gekennzeichnet. „ M a c h t m a c h t e t " zwar „nur, indem
sie H e r r wird über die je erreichte Machtstufe". Aber sie ist dabei „ständig unterwegs ,zu' ihr selbst, nicht nur zu einer nächsten Machtstufe, sondern zur Bemächtigung ihres reinen W e s e n s " (II 266), „einzig deshalb, um sich ihrer
25
A. a. O . , 31 ff.
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selbst in der Unbedingtheit ihres Wesens zu bemächtigen" (Hw 217). Heißt es 1940 noch, „der Wille" könne „nur im Wesen der Macht Wille sein", „deshalb" brauche er das Machtwesen „notwendig" als „Ziel" (II 267), so ist Heidegger 1943 deutlich geworden, daß das Bei-sich-sein vor aller Bewegtheit auf ein Ziel hin, bei dem der Wille immer schon ist, angemessener durch den (ja anfangs in eingeschränktem Sinne gebrauchten) Titel Wille zum Willen zum Ausdruck gelangt. So sagt er nun: „Was der Wille will, erstrebt er nicht erst als etwas, was er noch nicht hat. Was der Wille will, hat er schon. Denn der Wille will seinen Willen. Sein Wille ist sein Gewolltes. Der Wille will sich selbst." (Hw 216) Auch diese Auslegung des metaphysischen Willenswesens versteht sich noch als Nietzsche-Erläuterung, selbst wenn „das Wort Macht" im Titel Wille zur Macht nun nur noch „die Weise" nennt, „wie der Wille sich selbst will" (Hw 217), und nicht mehr das Ziel des Willenswesens. Im 1943 veröffentlichten Nachwort zu Was ist Metaphysik? spricht Heidegger vom „Grundzug derjenigen (sc. neuzeitlichen) Wahrheit . . ., der gemäß alles Seiende durch den Willen zum Willen gezeichnet ist, als dessen Vorform der ,Wille zur Macht' das Erscheinen begonnen hat" (WiM 39). Der Wille zum Willen ist damit aus dem Eingebundensein in den Willen zur Macht herausgelöst worden, dessen Innerstes er mit der Macht zur Macht bildete. (II 382) Nun ist es umgekehrt der Wille zur Macht, der eine besondere Ausgestaltung des Willens zum Willen darstellt. Im Rilke-Vortrag von 1946 heißt es dann sogar, im Willen zur Macht verberge sich der Wille zum Willen, als welcher der Wille west (Hw 258; vgl. Her 385). Die innere Geschlossenheit des Willenswesens bleibt bei alledem gewahrt.
III. Es ist davon auszugehen, daß Heideggers erste Nietzsche-Vorlesung schon das bei Nietzsche gefundene Verständnis von Wille und Macht für die abendländische Philosophie als ganze in Anspruch nimmt. Oben ist darauf hingewiesen worden, in welch fragwürdiger Weise Heidegger Aristoteles und Nietzsche zusammenspannt. 1936 wird der Willensbegriff Nietzsches in eine noch relativ unverbindlich erscheinende Beziehung zur metaphysischen Tradition gebracht. Es geht Heidegger dabei um „die Ahnenschaft Nietzsches", keineswegs um „Abhängigkeit" (I 45). Von letzerer kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil Nietzsche nichts oder nur wenig von der Rolle wußte, welche die Bestimmung des Willens in der Philosophie des deutschen Idealismus spielte, die letztlich auf die (nicht nur für sie, sondern „für das gesamte abendländische Denken maßgebend" gewordene und „heute noch" geläufige) Auffassung des Willens als oqe^iç bei Aristoteles zurückweist. Nietzsche steht
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mit der „abendländischen Uberlieferung in Einklang": 1939 geht Heidegger mit dieser These nicht nur auf Piaton 2 6 und Aristoteles, sondern auch auf die mittelalterlichen Theologen und auf Kant zurück (I 66 ff.). Schon damals zieht er diese Linie zu Schelling und Hegel aus, wovon noch zu sprechen sein wird. Zugleich wendet er sich gegen die Behauptung einer wesentlichen Bedeutung von Schopenhauers Willensmetaphysik für Nietzsches Philosophieren; mag 26
Heideggers Ausführungen zu Nietzsches ,Umkehrung des Piatonismus' sind durchaus nicht gleichbleibend; sie erfahren in seinen Nietzsche-Interpretationen Wandlungen, die oft nur in Akzentverschiebungen sichtbar werden. Die wechselnden Einstellungen, die Heidegger in diesem Zusammenhang einnimmt,. können nur aus dem mancherlei Modifikationen durchlaufenden Verständnis der Geschichte der Metaphysik heraus zureichend verstanden werden. An dieser Stelle seien nur einige Hinweise gegeben: In Piatons Lehre von der Wahrheit wird Nietzsche (entgegen seiner Selbsteinschätzung) als „der zügelloseste Platoniker innerhalb der Geschichte der abendländischen Metaphysik" bezeichnet; der von ihm verfochtene Wertgedanke sei „der späteste und zugleich schwächlichste Nachkömmling des dyaööv" (P-H 37). In den frühen Nietzsche-Vorlesungen stellt Heidegger heraus, daß sich in Nietzsches Denken „die bisherige Uberlieferung des abendländischen Denkens nach einer entscheidenden Hinsicht sammelt und vollendet" (I 13), welche Vollendung meint „die uneingeschränkte Entfaltung aller seit langem aufbehaltenen Wesensmächte zu dem, was sie im ganzen fordern" (I 479). 1936/37 versucht er, die „Umdrehung des Piatonismus" als „das Herausdrehen aus ihm zu einer Verwandlung des Menschen" zu bedenken (I 240—242). Wesentlich bleibt aber für Heidegger, daß Nietzsches Umkehrung des Piatonismus, „dergemäß das Sinnliche zur wahren Welt und das Ubersinnliche zur unwahren wird, . . . durchaus innerhalb der Metaphysik" verharrt (VA 79). Später heißt es, Nietzsches „Absetzung des Übersinnlichen" beseitige „auch das bloß Sinnliche und damit den Unterschied beider". Umkehrung des Piatonismus wird damit zur „Verkehrung" der Metaphysik „in ihr Unwesen", die „im Sinnlosen" endet. (Hw 193) Es ist die Frage, ob die als Verkehrung gedachte Umkehrung (Beseitigung) nicht die Auflösung der Metaphysik anzeigt anstatt der von Heidegger behaupteten „endgültige(n) Verstrickung" in diese. Solche Verstrickung soll darin bestehen, daß in ihr das nur scheinbar beseitigte Übersinnliche in Wahrheit „als der Wille zur Macht losgelassen und betrieben wird" (VA 79). Die damit vollzogene Erhebung des Willens zur Macht zum metaphysischen Prinzip wird in Heideggers Deutung noch in Hw rigoros ausgebaut. Als „bloße Gegenbewegung" gegen den Piatonismus bleibe Nietzsches Gegenbewegung gegen die Metaphysik „wie alles Anti- im Wesen dessen verhaftet, wogegen sie angeht", sie sei „als die bloße Umstülpung dieser die ausweglose Verstrickung in die Metaphysik" (Hw 200; vgl. 214), „die Vollendung der Ausweglosigkeit" (P-H 85). — In Heideggers diesbezüglichen Ausführungen, bleibt die Spannung unaufgehoben, die zwischen der Behauptung einer Verstrickung Nietzsches in die Metaphysik als deren Verkehrung in ihr Unwesen und dem ganz anderen Gedanken der Sammlung des Uberlieferten (s. a. SD 63) in dessen Philosophie von Heidegger herausgestellt wird. Durchgängig findet sich Heideggers Gedanke, daß „trotz aller Umkehrungen und Umwertungen der Metaphysik" auch Nietzsche „in der ungebrochenen Bahn ihrer Uberlieferungen" bleibe (Hw 221). — In den frühen fünfziger Jahren hat Heidegger die positiven Aspekte seines Verständnisses von Nietzsche als des letzten Metaphysikers herausgestellt, worauf oben (ohne Bezugnahme auf die Piatonismus-Diskussion) noch einzugehen sein wird. So geht es ihm dann um „eine Zwiesprache, deren eigener Weg einen Ubergang vorbereitet", wobei „Nietzsches Denken im ganzen noch auf die eine Seite zu stehen kommt, von der weg sich der Übergang auf die andere Seite bewegt" (WD 21). In Worten Zarathustras findet Heidegger 1951 jedenfalls (im Unterschied zu früheren Ausführungen), daß sie „geschichtlich bis in die Mitte der Metaphysik Piatons zurückreichen und damit den Kern des abendländischen Denkens treffen" (WD 29), — womit gewiß mehr gesagt werden soll, als daß Nietzsche der zügelloseste Platoniker gewesen sei.
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jene den „Anstoß" zu dieser gegeben haben, so sei sie doch für Nietzsche später zum „Stein des Anstoßes" geworden. (I 44ff., 69, 74ff.) Die Gründe für die ,Ankettung' Nietzsches an die idealistische Philosophie, welcher der Schopenhauer-Einfluß geopfert wird, sind allein aus jener Ausspannung des Denkens Nietzsches verstehbar, die Heidegger vollziehen muß, wenn er Nietzsche als Vollender der neuzeitlichen Metaphysik deuten will. [Relativ spät, in einer Vorlesung von 1944, wird Schopenhauer einmal in die Kette der großen Metaphysiker der Neuzeit aufgenommen. Er gilt dabei als derjenige, der in der „Verneinung des Lebens" das Willenswesen umkehrt und dessen nochmalige Umkehrung durch Nietzsche „erzwingt" (Her 384f.; s. dagegen noch 151).] Die damit geforderte Ausweitung von Nietzsches Willens-Verständnis auf die neuzeitliche Metaphysik (von der allein im folgenden zu sprechen sein wird) nimmt im Fortgang der Nietzsche-Vorlesungen Heideggers (aber nicht nur in ihnen) immer eindeutigere Gestalt an. Im einzelnen wäre zu zeigen, daß der Wille nach Heidegger „das neuzeitliche Wesen des Seins des Seienden" ausmacht (II 452, 471; Hw 277). Dessen Charakter als Subjektivität wird von Descartes an herrschend. Leibniz' Bestimmung des Subjekts durch die vis als perceptio und appetitus (I 45, vgl. 66) bringt das Willenswesen eigens zutage; mit ihm ereignet sich der volle Beginn der neuzeitlichen Metaphysik, worin schon die Vorbereitung von deren Vollendung mitschwingt: in Leibniz' Denken wird der „Grund der Vollendungsgeschichte" gelegt (II 435, SG (v. a:) 65, 159, 170, 205). Im einzelnen wäre auch darzulegen, wie Heidegger das Wesen des Willens als praktische Vernunft bei Kant (II 468ff.; VA 89), als Wille der Tat bei Fichte (Her 384) oder als Wille der Liebe bei Schelling ausdeutet. In letzterem wie in Hegels Willen des Wissens „verbirgt sich noch das Sein als der Wille zur Macht" (P-H 114). Besondere Beachtung verdient Heideggers Auffassung der metaphysikgeschichtlichen ,Beziehung' Hegel—Nietzsche. Wir müssen ihr zufolge davon ausgehen, daß in der späteren Neuzeit zunächst das Vorstellen führend bleibt, der Wille scheinbar nur in dessen Dienst steht, während in Wahrheit alles Vorstellen in sich schon Wollen ist. Heidegger führt aus, daß das strebende Vorstellen, das als absolute Vernunft zugleich Wille ist, in Hegels Philosophie zur Unbedingtheit seiner Selbstgesetzgebung gelangt. Die Entfaltung zu solcher Unbedingtheit ist die Voraussetzung zur Umkehrung: In Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht „erlangt der Wille erst die unbedingte Herrschaft im Wesen der Subjektivität. Der Wille ist nicht mehr nur die Selbstgesetzgebung für die vorstellende und erst als vorstellende auch handelnde Vernunft. Der Wille ist jetzt die reine Selbstgesetzgebung seiner selbst: Der Befehl zu seinem Wesen, d. h. zum Befehlen, das reine Machten der Macht." (II 2 9 8 - 3 0 1 ) Diese Hinweise müssen genügen, um zu zeigen, in welchem Maße Heidegger
151
Das Willenswesen und der Ubermensch
die G e s c h i c h t e der neuzeitlichen M e t a p h y s i k auf N i e t z s c h e h i n d e n k t , ja sie auf ihn hinlenkt. D a ß er dabei von Nietzsche
her auf die f r ü h e r e P h i l o s o p h i e z u -
r ü c k d e n k t , m a c h t einmal m e h r den V o r r a n g deutlich, den er diesem innerhalb der G e s c h i c h t e der N e u z e i t e i n r ä u m t . A n d e r e r s e i t s aber fließen mit der Hinführung
der T r a d i t i o n zu
Nietzsche
in H e i d e g g e r s N i e t z s c h e - I n t e r p r e t a t i o n e n E l e m e n t e eben jener T r a d i t i o n ein. D a m i t aber k o m m e n w i r z u einer w e i t e r e n H i n s i c h t , in der sich H e i d e g g e r s .Schritt z u r ü c k ' 2 7 v o m Willen zur Macht
z u m Willen zum
Willen a u s w i r k t . E r
gestattet — er f o r d e r t s o g a r —, v o n der v o r a n g e g a n g e n e n M e t a p h y s i k h e r k o m m e n d , w e s e n t l i c h e M o d i f i k a t i o n e n der B e d e u t u n g dessen, w a s N i e t z s c h e geschrieben hat. Dies k ö n n t e z.B.
an H e i d e g g e r s Stellungnahme z u N i e t z -
sches D e s c a r t e s - K r i t i k verdeutlicht w e r d e n . 2 8 V o r allem aber scheint die als das ,Verhältnis' v o n H e g e l z u N i e t z s c h e dargestellte unbedingte
Umkehrung
eine A b l ö s u n g des V o r r a n g s der V e r n u n f t d u r c h den V o r r a n g der Tierheit (Leiblichkeit) z u besagen ( I I 3 0 0 ) . D o c h diese E n t g e g e n s t e l l u n g spielt bei H e i degger n u r an der O b e r f l ä c h e . Sie k a n n nach H e i d e g g e r s
Voraussetzungen
a u c h n u r o b e r f l ä c h l i c h ' sein, weil andernfalls die als Kontinuität
27
28
v o n ihm ge-
Als „Schritt zurück" hat Heidegger gelegentlich sein interpretierendes Vorgehen im Unterschied zu Hegels vermittelndem Begreifen herausgestellt. (ID 45) Auch hinsichtlich Nietzsches fordert Heidegger in den fünfziger Jahren ein „Hinausfragen über Nietzsches Denken", das keine „Fortsetzung desselben" sein soll. „Das ,Zurück' soll in ein Gewesen" weisen, „dessen Anfang immer noch auf ein Andenken wartet, um ein Beginn zu werden, den die Frühe aufgehen läßt." (VA 107) Wesentlich ist, daß der ,Schritt zurück' im Sinne Heideggers „nicht einen vereinzelten Denkschritt" meint, „sondern die Art der Bewegung des Denkens und einen langen Weg" (ID 46), welcher einer „Vorbereitung" bedarf (ID 47) und gleichwohl hinsichtlich seines „Wohin" allein im „Vollzug des Schrittes" zutage treten kann (ID 48). — Daß der Rückgang vom Willen zur Macht in den Willen zum Willen in die Bewegung des Schrittes zurück gehört, bedarf keiner weiteren Ausführung. Ich beschränke mich hier auf wenige Hinweise Heideggers, in denen zum Ausdruck kommt, daß Nietzsches „Ansetzung" des Grundcharakters des Seienden im Ganzen als Wille zur Macht nur „auf dem Boden der metaphysischen Grundstellung des Descartes" möglich geworden sei. Wenn Nietzsche Descartes' Suche nach einem fundamenwm inconcussum als Willen zur Wahrheit und diesen Willen als ein Nichtbetrogenwerdenwollen, ein Nichtbetrügenwollen und ein Festwerdenwollen auffaßt (GA XIV, S. 327; Nachlaß August—September 1885, KGW VII 3, 354), so interpretiert er zwar Descartes vom Willen zur Macht her, aber doch so, daß er diesen selbst nicht zureichend versteht: er verrechnet Descartes' Stellung psychologisch (II 180, 183). Nietzsche unterschob letztlich dem Descartes sein eigenes metaphysisches Prinzip, nicht erkennend, daß dieses selber erst aus der geschichtlichen Entfaltung der cartesischen Metaphysik erwachsen konnte (II 189). Heidegger geht so weit auszuführen, daß kein anderer neuzeitlicher Denker „so unausweichlich unter dem Gesetz . . . der Metaphysik des Descartes steht" wie Nietzsche (II 149; vgl. 173f., 187). Daß Heideggers Auslegung von Descartes ihrerseits Nietzsches Descartes-Interpretation verpflichtet ist, insofern sein Verständnis des Willenswesens seiner Nietzsche-Aufnahme entspringt (die den Willen zur Macht freilich nicht „psychologisch", sondern „metaphysisch" versteht), ist wenigstens festzuhalten. — Angesichts von Heideggers Nietzsche-Aufnahme und Nietzsche-Kritik ist es verständlich, wenn er von „Nietzsches Stellungnahme zu Descartes" sagt, sie sei „ein Gemisch von Fehlauslegungen und wesentlicher Einsicht" (II 175).
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dachte Umkehrung als radikaler Bruch erscheinen müßte, von dem her N i e t z sche weniger als Vollender des Gewesenen denn als .Anfänger' eines N e u e n erschiene. Deshalb schon darf Heidegger zufolge der Geist bei Nietzsche so wenig als „Widersacher der Seele, d. h. des Lebens" angesehen werden, wie Heidegger in Anspielung auf L. Klages' Deutung — und zugleich gegen jede „Kennzeichnung" von Nietzsches Denken als „Lebensphilosophie" — sagt (I 581), daß er vielmehr in der Wille-zur-Macht-Lehre gleichermaßen wie das Vitale in Anspruch genommen wird. „,Vitales' (,Lebendiges') und .Geistiges' sind als Seiendes durch das Sein im Sinne des Willens zur Macht bestimmt." Genauer besehen hält Heidegger solches gleichermaßen' schon in den Vorlesungen von 1940 nicht durch: das ,Geistige' erhält das Ubergewicht. Zwar heißt es damals noch, der Wille zur Macht bringe „die Vernunft im Sinne des Vorstellens unter sich, indem er dieses als das rechnende Denken (Wertesetzen) in seinen Dienst nimmt" (II 300). Aber Heidegger spricht von solcher Unterordnung des Vorstellens nur, wenn er aus dem Gegensatz zur Unbedingtheit der Metaphysik Hegels heraus argumentiert. Daß er dabei den Gedanken der unbedingten Umkehrung überzieht, zeigt sich darin, daß er an anderer Stelle dem zum Wertesetzen gewandelten Vorstellen eine geradezu konstitutive Bedeutung für den Willen zur Macht bei Nietzsche zuspricht. So schreibt er: „Das Wertdenken gehört wesenhaft zum Selbstsein des Willens zur Macht, zu der Art, wie er subiectum (auf sich Gestelltes, allem Zugrundeliegendes) ist." Auch hier stellt Heidegger Nietzsches , Grundwort' wieder unter die Bestimmung des bloßen Selbstbezugs: „Im Rechnen mit Werten und im Schätzen nach Wertverhältnissen rechnet der Wille zur Macht mit sich selbst." (II 272) Wenn Heidegger schließlich schreibt, zum Willen zur Macht gehöre „die unbedingte Herrschaft der rechnenden Vernunft" (VA 81), so denkt er Wille, Vernunft und Unbedingtheit in einem Maße zusammen, das die Kontinuität der metaphysikgeschichtlichen Willensentfaltung vom deutschen Idealismus zu Nietzsche stärker hervortreten läßt als die unbedingte Umkehrung. Das Wesen der Vernunft hat sich zwar zur Berechnung gewandelt. Damit hat sich auch „der Einsturz des Vorrangs der vorstellenden Vernunft" vollzogen (II 302). Aber das Rechnen des Willens mit sich selbst, wie Heidegger es bei Nietzsche aufzuweisen sucht, steht seiner Interpretation der Hegeischen Vernunftmetaphysik gleichwohl näher als z. B. der Irrationalismus der Schopenhauerschen Willensmetaphysik. Im Grunde soll das Werte vor-stellende Rechnen das Wesen des Willens zur Macht bestimmen, das sich damit zugleich als Wille zum Willen enthüllen soll. Nun kann Heidegger durchaus Nietzsche-Texte anführen, in denen Wertsetzung auch als Berechnung erscheint (1579f., 586, II 101 f., Hw210). Von größerer Bedeutung ist aber, daß er dieses Wort zum leitenden Begriff für eine Reihe von Bestimmungen erhebt, die teils Nietzsches Genealogie von Wahrheit und Erkenntnis zutreffend charakterisieren, teils über Nietzsches Ausführungen hinausgehen. So schreibt er in der Auslegung einer Passage eines Nachlaß-Fragments 29 (WM 515), daß das, „was Nietzsche mehr beiläufig ,Berech29
Da es in dieser Abhandlung um Heideggers Nietzsche-Aufnahme und damit um ein bedeutsames Stück ,Wirkungsgeschichte' geht, werde ich im folgenden wie oben, Heidegger folgend, die Nachlaß-Kompilation W M nach GA heranziehen. Nachdem die von M.-L. Haase und J. Salaquarda erstellte Konkordanz in Nietzsche-Studien 9, 446—490 veröffentlicht worden ist, beschränke ich mich im folgenden darauf, lediglich die KGW-Stellen der anderen von Heidegger benutzten Nachlaßbände der GA nachzuweisen. - Übrigens wird Heideggers von
Das Willenswesen und der Ubermensch
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nung' nennt, die Festmachung des (sc. chaotisch) Andrängenden und Wechselnden zu Dingen" übernehme, „mit denen gerechnet werden, auf die der Mensch als dieselben immer wieder zurückkommen, die er als dieselben in diesen und jenen Gebrauch . . . nehmen kann". Auch die Verständigung mit den Menschen beruhe in einem festmachenden „Rechnenkönnen" auf diese. (I 579f.) Die sich in all dem ausdrückenden Erhaltungsbedingungen des Lebendigen bringt Heidegger auf den Begriff der Bestandsicherung, den er sehr häufig, auch in seinen späten Schriften, verwendet. Dieser dient die Wahrheit als notwendiger Wert der Machterhaltung (Hw 221). Nun ist aber die Beschränkung des Lebens auf bloße Erhaltung „schon Niedergang" (Hw 211): „Der Wille zur Macht muß zumal setzen: Bedingungen der Machterhaltung und der Machtsteigerung." (Hw 219; s. dazu II 103f., 267) Die Kunst - in einem weiten metaphysischen Sinn genommen — reizt den Willen zur Macht auf und stachelt ihn „zum Ubersichhinauswollen" an. Deshalb ist sie gegenüber der Wahrheit der höhere Wert. Allerdings gilt: „Einer ruft in je anderer Weise den anderen. Beide Werte bestimmen in ihrem Wertverhältnis das einheitliche Wesen des in sich Werte-setzenden Willens zur Macht." (Hw 222f.) Auch die Kunst .stellt fest', wenn sie auch „höhere Möglichkeiten des Lebens aufscheinen" läßt (I 621). Deshalb gehört sie ebenfalls, und mit ihr die Machtsteigerung, in den Horizont der machtenden Berechnung. Metaphysikgeschichtlich wesentlich ist nach Heidegger die Ausprägung des Wesens der Vernunft als Berechnung. Insofern diese sich in Nietzsches Philosophie vollziehen soll, nimmt Heidegger sie in sein Verständnis der t e c h nischen Entwicklung' des 20. Jahrhunderts hinein. N u n fügt sich die Vielzahl der Aussagen Nietzsches zum Willen zur Macht einer solchen Auslegung nicht. Hinsichtlich des sich nicht Fügenden schreibt Heidegger später in windung
der Metaphysik,
Über-
Nietzsches Metaphysik bringe nur „die vorletzte
Stufe der Willensentfaltung der Seiendheit des Seienden als Wille zum Willen zum Vorschein". „Das Ausbleiben der letzten Stufe" wird hier nicht nur auf die lebensphilosophische Nietzsche-Interpretation
zurückgeführt wie noch
1940. Es handelt sich diesem Text zufolge um ein wesentliches Zurückbleiben von Nietzsche selbst, das „in der Vorherrschaft der ,Psychologie', im Machtund Kraft-Begriff, im Lebens-Enthusiasmus" dieses Philosophen gründen soll. „Darum fehlt diesem Denken die Strenge und Sorgfalt des Begriffes und die Ruhe der geschichtlichen Besinnung." (VA 81) Angesichts der Konstatierung derartiger Unzulänglichkeiten durch Heidegger, die insbesondere in den vierziger Jahren erfolgt 30 , legt sich die Meinung nahe, die Willensentfaltung könnte durch eine andere (spätere) Metaphysik als die Nietzsches in ihre äußerste Durchsichtigkeit gelangen. Doch gibt Heidegger einer solchen Vermutung
30
Beginn seiner Nietzsche-Vorlesungen an kritische Einstellung zur Kompilation ,Der Wille zur Macht' immer entschiedener (s. dazu Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggs a. a. O . , 108). Besonders scharf hat Heidegger sich 1953 geäußert, er sagt dann von dieser, man habe sie „aus dem Nachlaß Nietzsches zusammengestoppelt" (VA 120). Sie tritt in den Jahren 1942—44 besonders schroff hervor. — Wie Dilthey denke auch Nietzsche „aus dem Erleben", weshalb er nicht zögere, „das Wort .Sein' durch .Leben' zu interpretieren" (Her 90f., vgl. 104f.).
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keinen R a u m . In eben dem T e x t s t ü c k , in welchem vom Ausbleiben der letzten Stufe bei N i e t z s c h e die R e d e ist, heißt es, daß die aus dem Willen zum Willen hervorgehende, „vermutlich lange dauernde O r d n u n g der E r d e . . . der Philosophie nicht m e h r " bedarf, „weil sie ihr schon zugrunde l i e g t " , und zwar in Nietzsches D e n k e n als der vollendeten Metaphysik. ( V A 83) D i e Spannung zwischen den beiden Ausführungen Heideggers liegt auf der H a n d . D e r einen zufolge war N i e t z s c h e g r u n d s ä t z l i c h ' die Möglichkeit eröffnet, die letzte Stufe der Willensentfaltung zu erreichen; die Hinweise auf die besonderen (aus seinsgeschichtlicher Sicht zufälligen) U m s t ä n d e , die dies verhinderten, machen das deutlich. N a c h der anderen Ausführung ist in Nietzsches Philosophie schon das metaphysisch Äußerste, von keiner späteren Metaphysik Ü b e r h o l b a r e , z u m V o r schein gebracht worden. D i e genannte Spannung stellt aber keinen Heideggers Interpretation immanenten Widerspruch dar. Sie ergibt sich aus seiner Unterscheidung zwischen dem, was ein D e n k e r unter den U m s t ä n d e n seiner Zeit sagt, dabei sich selbst vielleicht sogar mißverstehend, und dem, was ihm geschickhaft zu-gesagt wurde, o h n e daß er selbst es auch schon angemessen .sagen' k o n n t e . N u r der historische N i e t z s c h e ,bleibt z u r ü c k ' , so läßt sich im Sinne Heideggers ausführen. D a s Ungesagte des von N i e t z s c h e Gesagten aber weist vor. „Selbst wenn N i e t z s c h e nicht einmal m e h r dem N a m e n nach bekannt ist, wird das herrschen, was sein D e n k e n denken m u ß t e . " (I 4 7 9 ) 3 1 Explizite M e t a physik k o n n t e , kann und wird nicht über das in der Lehre v o m Willen zur M a c h t schon Enthaltene hinauskommen. D e r Abschnitt in Überwindung der Metaphysik, der von Nietzsches metaphysischem Zurückbleiben handelt, schließt mit den Sätzen: „ D a s W e s e n des Willens zur M a c h t läßt sich erst aus dem Willen z u m Willen begreifen. Dieser jedoch ist erst erfahrbar, wenn die Metaphysik bereits in den U b e r g a n g eingegangen i s t . " ( V A 82) Metaphysik, selbst in ihrer letzten Gestalt, kann den Willen zum Willen als ihn selbst (und damit sich selbst) nicht m e h r denken. „ E r s t aus dem D e n k e n , das in die Wahrheit des Seins v o r d e n k t " , kann der Wille z u m Willen als dieser „erkannt w e r d e n " , heißt es 1944 ( H e r 385). Heideggers Denken holt demzufolge Nietzsches
Philosophie dort ab, wo deren eigene (ihr selbst unkenntliche) Möglichkeiten enden, auf sie muß es, seinem eigenen Anspruch nach, wesentlich bezogen bleiben.32
IV. Heideggers , Schritt zurück' vom Willen zur Macht zum Willen
zum
Willen ist insofern ein Schritt nach vom, als der Wille zum Willen eine besondere Stufe in der Entfaltung des Willenswesens ausmachen soll. Da dieser aber keine eigene Metaphysik mehr zugrunde liegt bzw. zugrunde liegen
kann,
31
Insofern der volle Beginn der Spätphase abendländischer Metaphysik mit Leibniz eintritt (s. o. S. 150), kann Heidegger 1955/56 ausführen, daß die letzte Epoche des Seinsgeschicks als Metaphysik uns auch dann „noch beschickt, wenn wir selbst von den Denkern dieser Epoche, von Leibniz, Kant, Fichte, Hegel, Schelling, nur noch die Namen kennen und von ihrer innersten Verwandtschaft und Sternenfreundschaft nichts mehr erfahren." (SG 150)
32
„Es gehört zum Wesen des Willens zur Macht, das Wirkliche, das er be-mächtigt, nicht in der Wirklichkeit erscheinen zu lassen, als welche er selber west" (SF 11). — In einer interessanten Notiz zu Sch (zwischen 1941 und 1943 niedergeschrieben) führt Heidegger, aus daß im Unterschied zu Hegels und Schellings Willens-Denken in Systemen dem Willen zur Macht kein
Das Willenswesen und der Übermensch
155
sieht sich Heidegger veranlaßt, die Grundbestimmungen der Metaphysik des Willens zur Macht auf jene letzte Stufe hin auszuweiten, was freilich in anderer Hinsicht mit erheblichen Einengungen und mit gewaltsamen Abwandlungen des von Nietzsche Ausgesagten bezahlt werden muß. Jedenfalls bildet die genannte Bemühung den wesentlichen Aspekt von Heideggers NietzscheInterpretationen. Heidegger leitet Ausführungen Nietzsches auf das technische Denken, in dem sich der Wille zum Willen manifestiert, hin, und er kommt von diesem her auf Nietzsches Philosophie zurück. Die rechnende Vernunft hat, Heidegger zufolge, mit Nietzsches Denken die Herrschaft der vorstellenden Vernunft abgelöst. Diese konnte sich noch in Hegels Philosophie der unbedingten Subjektivität „als das Absolute jener Wahrheit wissen, die das Christentum über das Seiende lehrt": Das Schaffen des Schöpfers ist hier „metaphysisch im Sinne des herstellenden Vorstellens begriffen". Erst der Tod dieses Gottes vollendet die unbedingte Subjektivität, insofern ihr nun in ihrer Ausprägung als des Willens zur Macht „die unbeschränkte Vollmacht der ausschließlichen Entfaltung ihres eigenen Wesens" zugesprochen wird. Dazu bedarf der Wille zur Macht des Menschen, weil allein der Mensch als „ Werte setzender Wille inmitten des Seienden als eines solchen im Ganzen ist". (II 302f., Hw 231 f.) Der Mensch wird damit in einer Weise in Anspruch genommen, der das bisherige Menschenwesen nicht genügen kann. Zwar war der Mensch, wie alles Seiende, nach Nietzsche immer schon vom Willen zur Macht bestimmt, ohne dies eigens zu erfahren. Aber nun soll er den Willen zur Macht „in sein eigenes Wollen" aufnehmen und sich „im Sinne des Willens zur Macht" selbst wollen (Hw 234) 3 3 . Die Aufnahme
33
System zukommen könne (wie auch Kierkegaard „kein System des .Daseins'" entwickeln wollte). Nietzsche .will' kein System, weil er sich im System aller möglichen Systeme als Weisen der Bestandsicherung in der Unbedingtheit des Willens zur Macht weiß. Das Verfügenkönnen über Art und Einschaltung, über Dauernlassen und Rücknahme dieser .Systeme', die dabei nur .Bedingungen' des Willens zur Macht selbst sind, ist die dem Willen zur Macht gemäße Systematik." Zu ihr gehöre auch, so schließt Heideggers Aufzeichnung, „nicht hervorzutreten, sondern so zu tun, als sei sie nicht". (Sch 225) Nur beiläufig kann hier angemerkt werden, daß Heidegger Nietzsches Willen zur Macht zum einen als das metaphysisch Grundlegende versteht, zum anderen als das von diesem faktisch unterscheidbare Besondere, dem er nahezu ausschließlich hinsichtlich der Möglichkeiten des Menschseins nachgeht, wobei der Ubermensch aus dem Wesen des Willens zur Macht „gewillt" ist (Hw 232). Er unterstellt damit Nietzsche jene metaphysische Verdoppelung, gegen welche dieser sich in seiner Metaphysikkritik (aber auch in seiner Logik- und in seiner Sprachkritik) unzweideutig gewandt hat. Heidegger führt z. B. aus, das neue Menschentum im Sinne Nietzsches wolle das Sein des Seienden im Sinne des Willens zur Macht, „weil es selbst von diesem Sein gewollt, d. h. als Menschentum sich selbst unbedingt überlassen wird" (II 304). Konsequenterweise hat Heidegger 1944/46 Nietzsches Metaphysik ebenso wie frühere Metaphysiken als Ontotogie und als Theologie gedeutet, deren Zusammengehörigkeit als Onto-Theologie er mit dem Namen Transzendenz ausdrückt. Transzendenz bedeutet dabei zum einen das Transzendentale z . B . im Sinne der Konstitution der Gegenständlichkeit des Gegenstandes, zum anderen „aber zugleich das Transzendente, das im Sinne des ersten existie-
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des Willens zur Macht in das eigene Wollen des Menschen erfordert jene Steigerung des Menschseins, die Nietzsche mit dem Namen des Übermenschen verbindet. Insofern Heidegger diese Steigerung aus der Geschichte der Metaphysik denkt, kann er 1940 sagen: „ D i e vollendete Subjektivität des Willens zur Macht ist der metaphysische Ursprung der Wesensnotwendigkeit des, Ubermenschen'." (II 302) Im Gegensatz zu anders gerichteten zeitgenössischen Tendenzen — z. B. zu A. Baeumlers Auffassung des Übermenschen als des Repräsentanten eines heroischen Germanismus — hat Heidegger in seinen Nietzsche-Vorlesungen den Ubermenschen als Technokraten gedeutet, dessen künftige Herrschaft zwar als metaphysikgeschichtlich notwendig, zugleich aber, mit der Willensmetaphysik überhaupt, als seinsgeschichtlich ,überwindbar' angesehen wird. Heidegger hat seine Deutung 1943 in Ansätzen und von 1951 an in bedeutsamer Hinsicht modifiziert. renden Grundes des Seienden als des Existierenden dieses übersteigt und, es überragend, mit der ganzen Fülle des Essentiellen durchragt" (II 347ff.). — Im übrigen ist Nietzsche für Heidegger von früh an nicht Atheist im landläufigen Verständnis des Wortes, sondern — so schon 1933 - „der leidenschaftliche den Gott suchende letzte deutsche Philosoph" (SU 12). Daß „jeder A-theismus sich mehr mit Gott abgeben muß als der Theismus", gilt in besonderem Maße für Nietzsche (II 78). Nietzsches Wort vom Tode Gottes steht für Heidegger ohnehin unter dem Vorbehalt, „daß die Namen Gott und christlicher Gott . . . zur Bezeichnung der übersinnlichen Welt überhaupt gebraucht werden" (Hw 199, vgl. 203f., s. des weiteren 235ff.). Aber noch 1944 findet er „im ,Antichrist' Nietzsches, nur eben in der Form der abhängigen Gegenbewegung", christliche Auslegung der Metaphysik (Her 331). Wenn Heidegger ausführt, „die Entfaltung der unbedingten Herrschaft der Metaphysik steht erst an ihrem Beginn" (VA 77; vgl. W D 23), „die Vollendung der Neuzeit" habe eine „vermutlich lange Geschichte" (II 261; vgl. VA 71), so hebt er damit seine Behauptung nicht auf, in Nietzsches Philosophie habe sich die Metaphysik schon vollendet. Die Vollendung ist hinsichtlich ihrer Verwirklichung noch unvollkommen. (II 201) Aber zu ihrer Vervollkommnung bedarf die Vollendung der Metaphysik keiner über Nietzsches Denken hinausgehenden Philosophie mehr (vgl. VA 83). Heidegger stellt durchaus nicht in Frage, daß auch nach Nietzsche bisherige metaphysische Grundpositionen weiterbestehen können. Aber dies ist für das eigentliche Geschehen genauso bedeutungslos wie die scheinbare „Auferstehung" der Metaphysik „in abgewandelten Formen". Die Tradition liefert die „Bausteine" auch für das nur angeblich Neue. So findet Heidegger in der „anthropologische(n) Denkweise" den „Ubergang der Metaphysik in ihre letzte Gestalt: die ,Weltanschauung'" (II 201 f.). Hierzu gehören für ihn auch .Existenzphilosophie' und ,Existenzialismus' (II 479, P-H 72f.). Auch Schriftsteller, die von Nietzsche ausgehen," um über ihn hinauszugelangen, wie Oswald Spengler und Ernst Jünger, bleiben Heidegger zufolge hinter dem von jenem Gedachten zurück, mögen sie diesem auch auf zeitgemäße Weise Ausdruck verleihen (vgl. I 21, WD 11, 14, SF). Und andererseits ist der „Konzern der kommenden Philosophie", den Heidegger 1951 in der Koppelung von Logistik, Psychoanalyse und Soziologie sich bilden sieht (WD 10), seinem antimetaphysischen Anscheins zum Trotz, eine Ausformung des metaphysischen Willenswesens (s. dazu auch II 487, US 116). 1964 führt Heidegger dann aus, es bedürfe „keiner Prophetie, um zu erkennen, daß die sich einrichtenden Wissenschaften alsbald von einer neuen Grundwissenschaft bestimmt und gesteuert werden, die Kybernetik heißt". Darin zeige sich nur, daß das Wesen der Technik „die Erscheinungen des Weltganzen und die Stellung des Menschen in diesem entschiedener prägt und lenkt". (SD 64)
Das Willenswesen und der Ubermensch
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Ich beginne mit einer Darstellung von Heideggers früherem Verständnis des Ubermenschen. Nach dem ,Tod Gottes' wird der Ubermensch die Erdherrschaft übernehmen34, wozu er in „einer langen Kette der höchsten Selbstüberwindungen" erst „reif" gemacht werden muß (Hw 234). Dabei betont Heidegger entschieden (und dies bringt er 1940 wie auch 1943 und schließlich noch 1952 zum Ausdruck, s. II 307, Hw 234, WD 25), daß die Vorstellungen der Willkür, Gewalttätigkeit und Maßlosigkeit von der Bestimmung des Ubermenschen ferngehalten werden müssen. Statt des mit diesen Vorstellungen verbundenen Diffusen soll die von Heidegger aus Nietzsches Nachlaß herausgelesene Forderung auf Fest-stellung des künftigen Menschen zum Typus zur Geltung gebracht werden (II 308) 3S . Die Bedingungen der Erdherrschaft des Ubermenschen sind, so entnimmt Heidegger Nietzsches Texten, „eine vollständige ,Machinalisierung' der Dinge" 3 6 und „die Züchtung des Menschen" (II 308f.). In beidem schlägt das Fest-stellen als Prägung und als Berechnung vom Willen zur Macht (über den selber fest-gestellten und daher seinerseits fest-stellenden neuen Menschentypus) auf das von diesem Herzustellende 34
35
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Heideggers Deutung des Ubermenschen in den Jahren der Nietzsche-Vorlesungen knüpft an sein Verständnis der Umkehrung im Wesen der Subjektivität an, die sich mit dem metaphysikgeschichtlichen ,Ubergang' von Hegel zu Nietzsche vollziehen soll. Das dazu schon Ausgeführte (s. o. S. 150, 152) erfährt seine Bestätigung durch Heideggers Bemühung, diese Umkehrung an der traditionellen Bestimmung des Menschen als animal rationale herauszuarbeiten. Mit Nietzsche erhält die animalitas die Vorherrschaft über die von Heidegger als Vorstellen gefaßte rationalitas, welche bei Hegel in ihre Unbedingtheit gelangt war. Die animalitas entfaltet sich mit wesensgeschichtlicher Notwendigkeit zur „brutalitas der bestialitas", führt Heidegger 1940 aus. Unter Bezugnahme auf Nietzsches Wort von der blonden Bestie heißt es: „Am Ende der Metaphysik steht der Satz: Homo est brutum bestiale". (II 200f.) Aber schon im Jahr zuvor hatte Heidegger diese brutalitas in die letzte metaphysische rationalitas hineingenommen, indem er den Ubermenschen als „die äußerste rationalitas in der Ermächtigung der animalitas" beschrieb (II 25). In einem späteren Text ist von der unlöslichen Koppelung von Untermenschentum und Ubermenschentum die Rede, wobei „das ,Unten' derTierheit und das ,Uber' der ratio" zugeordnet wird. Dem Ubermenschentum entspricht demzufolge die „Ubersteigerung des Intellekts in die unbedingte Verrechnung von allem", welche „gerade das Tierische in jeder seiner Formen durch und durch der Rechnung und Planung" unterwirft. (VA 91 ff.) Vor-bilder hierfür seien, wie Heidegger im Hinweis auf WM 796 ausführt, das preußische Offizierskorps und der Jesuitenorden (II 146, 315f., Hw 22). Es läßt sich nicht sagen, ob Heidegger besonders mit Hinweis auf letzteren gegen Baeumlers oben genannte These polemisieren wollte. — Nietzsche nennt in WM 796 neben jenen Organisationen auch den Leib ein Kunstwerk ohne Künstler. Daß Heidegger der Besonderheit nicht Rechnung trägt, unter der Nietzsche den Begriff ,Organisation' verwendet, wurde oben schon angedeutet (s. S. 146). Heidegger geht dabei vom Aph. 218 von Der Wanderer und sein Schatten aus, in welchem Nietzsche vom allgemeinen „Nutzen der Centralisation" spricht, welche „aus Vielen eine Maschine" macht (KGW IV 3,291). Heidegger läßt die von Nietzsche anschließend (im Aph. 220 der genannten Schrift) beschriebene „Reaction gegen die Maschinen-Cultur" unberücksichtigt, von welcher Nietzsche schreibt, sie entfessele zwar „eine Unmasse Kraft überhaupt, die sonst schlafen läge", aber sie gebe gerade „nicht den Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden". Sie mache „thätig und einförmig" (welchen Zusammenhang Heidegger in seiner Ausarbeitung des Willens zum Willen wiederum aufnimmt).
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durch. D i e k r a f t s p e i c h e r n d e Machinalisierung ermöglicht die Weiterentwicklung der Wissenschaften. „ A l s die betriebsmäßige u n d lenkbare E r f o r s c h u n g alles Seienden stellen sie dieses fest u n d bedingen durch ihre Fest-stellungen die B e s t a n d s i c h e r u n g des Willens z u r M a c h t . " (II 309, vgl. W i M 39) D e r M e n s c h w i r d dabei „ z u einem Instrument des M a c h e n s , Herstellens, E r w i r k e n s " (II 4 7 9 ) 3 7 . D e m e n t s p r e c h e n d ist die Z ü c h t u n g des M e n s c h e n „ d i e A u f s p e i c h e r u n g und R e i n i g u n g der K r ä f t e in die Eindeutigkeit des streng beherrschbaren , A u t o m a t i s m u s ' allen H a n d e l n s " . Solche Eindeutigkeit weist — wie die genannte „ F e s t i g k e i t " — auf die ursprüngliche „ E i n f a c h h e i t " z u r ü c k , in der der Wille z u r M a c h t „ e i n z i g sich selbst aus der einzigen H ö h e dieses einen Willens w i l l " (II 309). Im Hinblick auf den Gedanken der vollständigen Machinalisierung der Dinge und des menschlichen Tuns kann sich Heidegger auf zahlreiche Texte (insbesondere der Spätphilosophie) Nietzsches berufen. In einem Exkurs gehe ich im folgenden auf drei Aspekte ein, ohne deren Berücksichtigung weder Nietzsches Ausführungen als kohärent erscheinen können, noch auch Heideggers Inanspruchnahme jener Texte angemessen gewürdigt werden kann. 1. Nietzsches affirmative Verwendung von Begriffen des naturwissenschaftlich-technischen Denkens, insbesondere seine großenteils positive Bezugnahme auf das Maschinenwesen, steht in Spannung zu der von ihm immer wieder vorgetragenen fundamentalen Kritik am mechanistischen Denken. Dessen Wesen besteht nach seiner Deutung in Imaginationen, die den Vorurteilen unserer Sinne und unserer Psychologie entspringen. Jenes Denken fingiert zum Zwecke der Berechnung Einheiten von ,Dingen' und ,Atomen', faßt Bewegung unter den ebenso fiktiven Begriffen von .Ursache' und ,Wirkung'. Weil dies alles nur ,phänomenal' — und zwar im Sinne von Täuschung — ist, gibt es ,in Wahrheit' auch keine Naturgesetze. Indem Nietzsche durch solche Phänomenalität hindurchdringt, trifft er auf Quanten von Willen zur Macht, die auf andere Machtquanten übergreifen. Was in naturwissenschaftlicher Sicht .Notwendigkeit' genannt wird, ist de facto durch nichts anderes konstituiert als durch die uneingeschränkte Machtausübung der Willensquanten im Verhältnis zueinander (vgl. z. B. WM 634, 635). — Während also nach Heidegger der Wille zur Macht aus der „ H ö h e " seines metaphysischen Wesens eine machinalisierte und durch Automatismen regulierte Welt einrichtet', unterläuft Nietzsches eindringliches Philosophieren Bestimmungen dieser Art gerade durch die Ausdeutung des Weltgeschehens im Sinne von Kämpfen quantitativ unterscheidbarer Willen zur Macht. 2. Zugleich muß aber gesehen werden, daß Nietzsche es „wunderbar" findet, „daß für unsere Bedürfnisse (Maschinen Brücken usw.) die Annahmen der Mechanik ausreichen" ( G A X I I , Aph. 64; Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, K G W V 2, 429), 37
Wenn Heidegger im Ausgang von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht von „ M a c h e n " und „ M a c h e n s c h a f t " spricht, so erweckt er den Eindruck eines nicht nur sachlichen, sondern schon sprachlichen Zusammenhangs zwischen letzterer und ersterem. Davon kann ernsthaft natürlich nicht die Rede sein. Gleichwohl gewinnen manche seiner Ausführungen ihre besondere Suggestivität dadurch, daß der Begriff „ M a c h e n s c h a f t " terminologisch im Zusammenhang mit der Darstellung des äußersten Unwesens des Seins verwendet wird (z. B. II 487), oder daß ausgeführt wird, das Wesen der Technik sei „keine nur menschliche Machenschaft" ( W D 155).
Das Willenswesen und der Ubermensch
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obwohl die wissenschaftlich-mechanistische Weltinterpretation mit ihrem Absehen allein auf das Zähl- und Berechenbare „eine der dümmsten" ist ( F W 373; K G W V 2, 3 0 6 f f . ) . Das nur scheinbar Wunderbare erklärt sich ihm aus der Grobheit unserer Bedürfnisse (vgl. J G B 14). Für sie genügt — auch in praxi — eine schematisierende und abkürzende Beschreibung von Geschehen, die freilich nicht dessen Erklärung darstellen kann, weil sie bei den „ o b e r f l ä c h l i c h s t e n Erscheinungen" stehen bleiben muß. In diesem Sinne ist Wissenschaft „der Versuch, für alle Erscheinungen eine gemeinsame Zeichensprache zu schaffen, zum Zwecke der leichtern Berechenbarkeit und folglich Beherrschbarkeit der N a t u r " . ( G A X I I I , Aph. 210, 214; K G W V I I 2, 207, V I I I 1, 194) Für diesen Zweck erweist sich die zeitgenössische Naturwissenschaft und Technik ihrer grundlegenden Verfehltheit des Weltauslegens ungeachtet als vorzüglich geeignet. D e r von Nietzsche bejahte Zweck läßt sich nur dadurch erreichen, daß der Mensch, eine komplexe Einheit von Machtwillen, sich selbst täuscht. (Die Notwendigkeit der Selbstt ä u s c h u n g des .Subjekts' im Sinne Nietzsches habe ich hinsichtlich der verschiedenen ,Ebenen', auf denen sie erfolgt, in meinen bisherigen Publikationen zu Nietzsche wiederholt herausgestellt.) Für den hier zu erörternden Zusammenhang ist es wichtig, daß Nietzsche in der Sprache der Mechanik „eine Bewältigung der Vielheit durch eine Kunst des Ausdrucks" findet, welche zwar kein „Verstehen", wohl aber „Verständigung" erlaubt ( G A X I I I , Aph. 214; Nachlaß Sommer 1886 - Herbst 1887, K G W V I I I 1, 194). Nicht zuletzt um sich vorläufig verständlich zu machen, hat Nietzsche sich der (im Grundsatz von ihm zurückgewiesenen) mechanistischen Begrifflichkeit bedient. E r konnte dies mit um so mehr Recht tun, als ihm die Fundiertheit der mechanistischen Weltauslegung im Willen-zur-Macht-Geschehen, wie er es philosophisch herausgearbeitet hatte, unbezweifelbar erschien. Wenn die „Strahlung von Machtwillen" nicht „aus der mechanischen Ordnung weggedacht werden kann, ohne sie selbst wegzudenken" ( W M 634; K G W V I I I 3, 50), so muß die Annahme erlaubt sein, daß deren Anhänger schließlich den bloßen Zeichencharakter ihrer Denkweise erkennen (vgl. G A X I I I Aph. 213; Nachlaß Herbst 1 8 8 5 - H e r b s t 1886, K G W V I I I 1, 86) und hinter diesen zurückgehend zur Wirklichkeit des Kampf- und Spannungsverhältnisses zwischen den Machtwillen-Quanten gelangen. Weil „die Methode der mechanischen Weltbetrachtung . . . einstweilen bei weitem die redlichste" für Nietzsche ist (Nachlaß Frühjahr 1884, K G W V I I 2, 128), kann er darauf hoffen, daß sie nicht vor ihren ,Gründen' zurückschreckt, die ihr zunächst Ab-gründe sein müssen. 3. Festzuhalten bleibt: W o Nietzsche sich der Begrifflichkeit des naturwissenschaftlich-technischen Denkens bedient, wird man von uneigentlicher Ausdrucksweise sprechen müssen, welche letztlich der Zurücknahme in ein ursprünglicheres Verstehen bedarf. D a nun aber die vom künftigen Menschen geforderte Einrichtung der Weltherrschaft (nach dem ,Tode Gottes') die ständige Verwendung und schließliche Einprägung von Fiktionen des technischen Denkens verlangt, muß Heideggers Deutung des Ubermenschen bei Nietzsche ein relatives Recht zugesprochen werden, auch wenn sie sich Nietzsches ab-gründigem Denken verschließt. Für den Zweck der Beherrschbarkeit von Mensch und Welt erscheint dem späten Nietzsche die Ausstattung des Menschen „mit Maschinen-Tugenden" im größtmöglichen Maße als angebracht. Da der Mensch weder eine Maschine ist noch eine solche werden kann, kommt es darauf an, ihn solchen ,Tugenden' weitgehend anzunähern. Dies soll auf dem Wege der züchtenden Auswahl und der Umprägung seiner Zustände und Affekte geschehen: Der Mensch „muß die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar arbeitet, als die höchstwertigen empfinden lernen". Als Folge solcher zur Regelmäßigkeit ausgebildeten
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Bedürfnisse jener ,Affekte' wird dann ein „Machinalismus von Leistungen" entstehen. ( W M 888, 889) Eine derartige Züchtung des Menschen im Dienste der Erdverwaltung bedarf eines „ Künstler-Wille(ns) höchsten Ranges", der „die Gewalt in den Händen hat und seinen schaffenden Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann, in Gestalt von Gesetzgebungen, Religionen und Sitten". D e r Typus Mensch, in dem dieser Künstler-Wille sich realisiert, soll sich den Typus „ H e r d e n t i e r " , wie er sich z. B . in der demokratischen Gesellschaft ausprägt, gestaltend unterordnen. So könnte eine „ H e r r e n - R a s s e " sich des demokratischen Europas bedienen als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die Hand zu b e k o m m e n " . Jenes fände in einer „neuen und sublimen Sklaverei" sogar „eine A r t Ziel, Erlösung und Rechtfertigung". ( W M 954, 957, 9 6 0 ) 3 8 38
Man muß diese drei Aspekte zusammennehmen (und vielleicht weitere noch hinzufügen), um die mathematisch-naturwissenschaftlichen Begründungsversuche der Wiederkunftslehre durch Nietzsche würdigen zu können. In meinem Buch von 1971 (Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie) habe ich diese Form von ,Theoriebildung' als unvereinbar mit Nietzsches eigenen Grundeinsichten dargestellt. Insofern dieser in der Radikalität seines Wille-zur-Macht-Perspektivismus zu einem ,neuen' Wahrheitsverständnis durchgedrungen sei, habe er zugleich das, was bisher als Wahrheit galt, destruiert. Wo er sich der Argumentationshilfen wissenschaftlichen Denkens bediene, verfalle er selbst der ,alten Wahrheit', die er doch schon überwunden hatte (a. a . O . , 186). O . Becker hielt ich vor, daß er Nietzsches Wissenschaftskritik nicht berücksichtige, wenn er die Wiederkunftslehre als theoretisch beweisbar herausarbeite ( a . a . O . , 168, 180). Meine Kritik berücksichtigte aber nur den ersten Aspekt des oben Ausgeführten. Insofern blieb sie ebenso abstrakt (im Hegeischen Sinne des Wortes) wie die kritisierte Position, auch wenn sie m . E . von Nietzsches ,höchstem Gesichtspunkt' her argumentierte. Ich erkannte damals noch nicht, in welchem Maße Nietzsches Verhältnis zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis seiner Zeit ambivalent gewesen ist. Meine frühere , Einengung' von K. Schlechtas Bemerkungen zur Bedeutung der naturwissenschaftlichen Denkweise für Nietzsche kann ich heute nicht mehr auf dessen sog. aufklärerische Phase beschränken (so a. a. O . , 172). Meine späteren Überlegungen zum Problem der Interpretation bei Nietzsche (in: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, a . a . O . , 4 1 - 6 0 ) führten zur Vertiefung der Einsicht, daß Nietzsche sich der zeitgenössischen Naturwissenschaft insofern nicht entgegensetzt, als er (z.B. nach J G B 22) bei ganz andersartiger Interpretation doch „das Gleiche von dieser Welt" behauptete: „dass sie einen ,nothwendigen' und .berechenbaren' Verlauf habe". Mit den Anführungszeichen markiert Nietzsche nicht nur die Differenz zu ,den Physikern', sondern zugleich auch die Gemeinsamkeit mit ihren Theorien. Mit letzterer sind wir bei dem zweiten Aspekt: Das Abkürzungsverfahren der mechanistischen (wie auch anderer physikalischer) Theorien verfälscht nicht nur die Wirklichkeit (erster Aspekt), sie macht sie durch ihre Verkürzungen' auch leichter berechenbar. In gewisser Hinsicht ist das Verkürzte zugleich das Abgekürzte der Wirklichkeit von Machtkämpfen. Deshalb gibt Nietzsche den naturwissenschaftlichen Denkweisen insofern recht, als sie, bei aller Verfälschung und Verkürzung auf der Oberfläche spielend, dem Ausdruck verleihen, was im Sinne von Nietzsches .neuer Wahrheit' Wahrheit ist. Unter diesem Aspekt ist es nicht nur (wie ich 1971 u.a. vermutet habe) exoterisches Reden, das auf den Zeitgeist Rücksicht nimmt, wenn Nietzsche die Wiederkunftslehre naturwissenschaftlich begründet ( a . a . O . , 166). Dieses ,Reden' hat auch nicht nur „prohibitiven Charakter", wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe ( a . a . O . , 186). Nietzsche bewegt sich hinsichtlich seiner Äußerungen über Naturwissenschaften auf einer Bandbreite, die von deren Zurückweisung hinsichtlich der Fundamente bis zu deren Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit für das künftige Menschsein reicht. Im Hinblick auf letztere kann er dann die Machinalisierung auch des Menschen als Möglichkeit in den Blick nehmen, freilich unter der Herrschaft von Übermenschen, welche die Einprägung maschineller Verhaltensweisen für die Mittelmäßigen und Unteren fordert. — Daß Nietzsches Beweisversuche eine Weise der ,Verständlichmachung' der Wiederkunftslehre darstellen könnten, welche den Rückgang zu deren
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Heidegger kann sich in der Tat auf Nietzsche berufen, wenn er den Übermenschen „schlechthin als den Herrn der unbedingten Machtvollstreckung mit den vollständig erschlossenen Machtmitteln dieser E r d e " auffaßt, für den, als den Repräsentanten des reinen Ubermächtigens des Willens zur Macht, „jedes besondere inhaltliche Ziel, jede Bestimmtheit dieser Art unwesentlich und immer nur gelegentliches Mittel bleibt" (II 125f.). Zur Unbedingtheit des Sich-selbst-wollens gehört dann, daß im Übermenschen ist — wie Heidegger Nietzsche zitiert — „eine eigene Gerichtsbarkeit, welche keine Instanz über sich hat". Der Ubermensch als der Herr der Erde hat nichts über sich, aber alles unter sich. Deshalb kennt er nach Heideggers Ausführung „nicht das unfruchtbare Abseits der bloßen Ausnahme". Allerdings lesen wir in dem Nietzsche-Text, auf den Heidegger sich hierbei bezieht, weiter (was er ausläßt): „Kann er nicht führen,
so geht er allein". ( W M 962, II 312)
Erst Anfang der fünfziger Jahre hat Heidegger ein O h r für diese Töne bei Nietzsche, wie wir noch hören werden. Zuvor ist er in mehreren Anläufen darum bemüht, Nietzsches Ubermenschen als künftigen Vollstrecker des Willens zum Willen herauszustellen. Daß Nietzsche in seinen Gedankenexperimenten den höheren Typus Mensch, für welchen, „wie man weiß, das W o r t , U b e r m e n s c h ' " nur sein „Begriff", sein „Gleichnis" ist ( W M 866), auf verschiedenartige, ja auf gegensätzliche Weise skizziert hat, bleibt unberücksichtigt. Indem Heidegger das „Nichtbestimmtsein" von Nietzsches Ubermenschen konstatiert und hieraus „gerade die Eindeutigkeit dessen" ableitet, „der als Gesetzgeber erst die Bedingungen der Herrschaft über die Erde setzt" (II 311 f.), welche in dem „dem Willen zur Macht entsprechende(n) Wesen aller machinalen Einrichtung der Dinge und rassischen Züchtung des Menschen" liegen (II 309), beschränkt er sich auf einen — in gewisser Weise freilich grundlegenden — Aspekt von Nietzsches Lehre. Grund-legend ist dieses Verständnis des künftigen Menschen insofern, als Nietzsche von dessen Erdherrschaft als technisch-ökonomischer Organisierung und „Ausbeutung" ausgeht. Doch wenn Heidegger den Übermenschen in solchen Funktionen fest-stellt, um das sich selbst genügende Willenswesen zur Geltung zu bringen, so läßt er Nietzsches weiterdrängende Überlegungen außer acht. Nach Nietzsche gehört „zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester ineinander verschlungenen .Maschinerie' der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung", und zwar mit Notwendigkeit. Diese soll sich „als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses der Menschheit" manifestieren, als „höherer Typus" mit anderen Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen, als es diejenigen sind, die der „Gesamt-Maschinerie" angehören. Die „Machinalisierung des Menschen" wird hierbei so wenig als genügsame Aufgabe des Übermenschen angesehen, daß sie vielmehr „als ein Untergestell" die Erfindung höherer Formen des Menschseins ermöglicht. Dafür soll eine „umgekehrte(n) Bewegung" die „Daseins-Vorausbedingung" schaffen. (WM eigentlichem Verstehen eröffnet, läßt sich auch im Hinblick auf seine Andeutungen plausibel machen, die jener Lehre eine lange Geschichte (und damit die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretationen) vorhersagen (s. dazu Vf., Nietzsche, a . a . O . , 143, 153ff.).
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866) Nietzsche denkt also, wenn er vom Übermenschen spricht, durchaus nicht nur an „eine Herren-Rasse, deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren: sondern [an] eine Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Kultur, Manier bis ins Geistigste; [an] eine bejahende Rasse, welche sich jeden großen Luxus gönnen darf", ja: an „ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen". (WM 898, vgl. WM 433) Immer unterscheidet Nietzsche den höheren Typus vom Typus des homo faber, dessen Fest-stellung zwar zu seinen Daseins-Voraussetzungen gehört, über die er sich aber erhebt: sei es als der Barbar des 20. Jahrhunderts, als das prachtvolle Untier, das Nietzsche beschwört (WM 868, 933; vgl. WM 921, 922), sei es als der synthetische, summierende und rechtfertigende Mensch (WM 866; vgl. WM 881, 966, 996), sei es als solitärer Typus (WM 886), sei es als sublimer Mensch, den das Mannigfache des ihm durch viele Geschlechter Angezüchteten „zart und zerbrechlich" macht (WM 996).
V. Die technokratischen Züge des Ubermenschen werden von Heidegger im seinsgeschichtlichen Bedenken des Willens zum Willen Anfang der vierziger Jahre noch schärfer gezeichnet. Dabei vollzieht sich ein Wandel. Erschien der Ubermensch in seiner Entsprechung zum Willen zur Macht als der von diesem ermächtigte und ent-schränkte H e r r der Erde, dessen „Verhältnis zum Seienden", wie es noch 1940 heißt, „das meisternde Vor-gehen in die Welteroberung und Weltherrschaft" ist und der als Subjekt
„dem Seienden das
M a ß " gibt (II 171), so läßt nach einer Ausführung aus dem Jahre 1942 (VA 91—97) „der Verbrauch des Seienden für das Machen der Technik, zu der auch die Kultur g e h ö r t " , in welchem der Wille zum Willen sein Wesen hat, nur noch sogenannte „ F ü h r e r n a t u r e n " als „von diesem V o r g a n g "
angestellte
„Steuerungsorgane" zu. Sie gelten Heidegger nun nur noch als „die ersten Angestellten innerhalb des Geschäftsganges der bedingungslosen Vernutzung des Seienden" und nicht mehr, wie noch 1940, als die „hervorragenden Einzelnen", welche die großen Welt-Aufgaben übernehmen und leisten müssen (II 171). Verbrauch und Vernutzung erscheinen nun als „der einzige Ausweg . . ., auf dem der auf sich selbst erpichte Mensch noch die Subjektivität in das Ubermenschentum retten k a n n " . , , , H e r r ' des , E l e m e n t a r e n ' " ( V A 92) ist er nur noch scheinbar, nämlich in ,Gänsefüßchen'. „ M a n m e i n t " , so notiert Heidegger in jenem Kriegsjahr, „die Führer hätten von sich aus, in der blinden Raserei einer selbstischen Eigensucht, alles sich angemaßt . . .
In Wahrheit
sind sie die notwendige Folge dessen, daß das Seiende in die Weise der Irrnis übergegangen i s t " . D e r Wille zum Willen, „das ,Subjekt' von allem", bedarf allerdings solcher ,Führer' als der „maßgebenden Rüstungsarbeiter, die alle Sektoren der Sicherung und Vernutzung des Seienden übersehen". (VA 9 3 f . )
Das Willenswesen und der Ubermensch
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Wenn Heidegger in diesem Zusammenhang von der „bedingungslosen Ermächtigung des Ubermenschentums" sagt, ihr entspreche „die völlige Befreiung des Untermenschentums", so muß diese Entsprechung von seinen Ausführungen über die Bestimmung des Menschen als animal rationale in den Nietzsche-Vorlesungen her weitergedacht werden (VA 94). Keineswegs darf die Rede von der bedingungslosen Ermächtigung so verstanden werden, als habe der .Übermensch' unter der Subjektivität des sich als er selbst enthüllenden Willens zum Willen ,mehr Macht' als unter dessen „Vorstufe". Das Gegenteil ist der Fall. „,Führernaturen' sind diejenigen, die sich auf Grund ihrer Instinktsicherheit" von dem „Vorgang" des Willens zum Willen „anstellen lassen" (VA 96). Dem Übermenschentum gehört nach Heideggers Ausführungen von 1942 der „Instinkt" zu, den Heidegger als „Übersteigerung des Intellekts in die unbedingte Verrechnung von allem" charakterisiert. Ihm ,entspricht' das von der animalitas her verstandene Ubermenschentum in seiner durch die rationalitas der Technik bestimmten Spätform einer „Befreiung", die allein als Freigabe des Tierischen „in jeder seiner Formen durch und durch der Rechnung und Planung unterworfen wird". Heidegger nennt als zeitgenössische Erscheinungen die „Gesundheitsführung" und die „Züchtung". „Der Schrifttumsführung im Sektor ,Kultur' entspricht in nackter Konsequenz die künstliche Schwängerungsführung". Heidegger notiert aus besonderem Anlaß schon seinerzeit, „daß auf Grund der heutigen chemischen Forschung eines Tages Fabriken zur künstlichen Zeugung von Menschenmaterial errichtet werden" könnten (VA 94f.). Wenn von der Fragwürdigkeit der Ausziehung von Nietzsches Willen zur Macht zu Heideggers Verständnis des Willens zum Willen die Rede sein muß, so ist desungeachtet dem Ernst der in Heideggers späteren Veröffentlichungen herausgestellten Ausarbeitung des 'Wesens der Technik im Atomzeitalter Rechnung zu tragen. Mag die Hinüberziehung von Nietzsches zeitgebundenen Aussagen ins 20. Jahrhundert diesen nicht mehr in seinem Eigenen angemessen gelten lassen, so verdient doch Heideggers Bedenken des Wesens der Technik Beachtung. Heidegger leistet seinen wesentlichen Beitrag dazu gerade dort, wo er sich von den Texten der überlieferten ,Metaphysik' insbesondere (aber nicht nur) Nietzsches löst. Ich widerstehe der Versuchung, ausführlich auf die Diskussion einzugehen, ob Heidegger die „Gleichförmigkeit" in die gegenwärtige politische Wirklichkeit eintrage, während es doch darauf ankomme, die faktische Pluralität von Tendenzen festzustellen, ob er gar — im Hinblick auf die Überwindung des Willenswesens — gewaltsamen politischen Bewegungen einen relativen Vorrang eingeräumt und diese damit mehr oder weniger ungewollt gefördert habe (Schwan), oder ob demgegenüber gilt, daß Heideggers Äußerungen über seinen Einblick in das Faktische den aus diesem resultierenden Untaten gerade keine philosophische Zustimmung erteilt haben (Pöggeler). Ob Schwans Eintreten für Theorie und Praxis freiheitlich-sozialer Demokratie aus personalistischem Ansatz heraus nicht doch im Grunde von Heideggers Voraussicht überholt wird, daß die trostlose „Raserei der entfesselten Technik" .westliche' Demokratien und .östliche' Diktatur und noch anderes mehr zusammenlaufen lassen werde, ist eine Frage. Die andere (hier nur zu nennende) ist, ob Heideggers Prognose der Herrschaft des Willenswesens als Technologie dem entspricht, was sich zeigt. Finden wir nicht, wie Pöggeler ausführt, statt technologischer Verabsolutierung „vielmehr das Zusammenspiel zwischen spezialisierten Technologien und einem irrationalistischen Dezisionismus"? (Philosophie und Politik, a. a. O . , 126) Was sich in den vergangenen Jahrzehnten und derzeit — vielerorts in der Welt — immer deutlicher gezeigt hat und zeigt, gibt Pöggeler recht. Andererseits kann solcher Irrationalismus durchaus mit der
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Herrschaft der Technik zusammengehen. So besteht für Heidegger, wie oben ausgeführt wurde (und was Pöggeler nicht berücksichtigt), kein Widerspruch zwischen der Freigabe der animalitas, die sich als Dezisionismus darstellen kann, und dem totalen Anspruch der rationalitas. Auch kann man fragen, ob das Gegenwärtige ein Zwischenstadium ist, das durch die Einförmigkeit totaler Planung schließlich überholt werden und alles irrationale Aufbegehren beseitigen wird. — Heidegger hat die Zukunft der Menschheit mit seinen „Vielleichts", die nach Schwan zur „Vagheit und Unklarheit" seines späten Denkens gehören (Zur Problematik, a. a. O . 170, 155), in einer Unbestimmtheit gelassen, die so wenig Handlungsanweisungen bietet, wie sie einem Quietismus das Wort redet.
Wohl am massivsten hat Heidegger in seinen Heraklit-Vorlesungen in den Sommersemestern 1943 und 1944 die mit dem Namen Nietzsche verknüpfte ,Position' als Verfall des Wesens der Metaphysik herausgestellt. Zwischen dem, was an deren Anfang Heraklit gesagt hat, und der,Vollendung' in Nietzsches nihilistischer Lehre vom Ubermenschen klaffe „ein Abgrund" (Her 66ff.). Deshalb kann es auch nicht verwundern, „daß Nietzsche die fürchterlichste Mißdeutung dessen hinterlassen und in Umlauf gebracht hat, was Heraklit denkt" (Her 5). Der Ubermensch wird von Heidegger 1943 (im Anschluß an: WM, Zum Plan; WM 4; WM 135) als der „neuzeitlichste(n) aller neuzeitlichen Menschen" aufgefaßt, „der alles Wirkliche und somit auch sich selbst als eine Gestalt des Willens zur Macht erfährt" (Her 65—68), in welchem, wie wir gehört haben, in Wahrheit der Wille zum Willen sein ,Unwesen' treibt (Her 386). Daß der Mensch damit zu demjenigen Wirklichen wird, „vor dessen Blick nichts verborgen bleiben, dem kein Seiendes sich entziehen kann, weil er erst und er allein allem Seienden den Stempel des ,Seins' aufdrückt" (Her 66f., vgl. 218, 224), bedeutet gerade, daß das Sein in seiner anfänglich geahnten Wahrheit nur noch als der letzte Rauch einer verdunstenden Realität verstanden wird (GD, Die ,Vernunft' in der Philosophie, 4) und die Seinsvergessenheit den neuzeitlichen Menschen überspült hat, so daß er diese Vergessenheit nicht einmal mehr als solche erfahren kann (Her 83f., vgl. 90ff.). Nietzsches Philosophie fällt für Heidegger hier mit dem modernen Weltbewußtsein überhaupt in eins (Her 275). Wie 1942, so hat Heidegger auch 1943 und 1944 den aus Nietzsches Willen zur Macht gezogenen Willen zum Willen als Entfaltung des einen Willenswesens der sich vollendenden Metaphysik gedeutet. Die eigentümliche Hermetik des Gedankens, daß „jedes Wollen ein Sich-Wollen" und demgemäß Wille zum Willen ist, findet sich auch am Ende der Vorlesung von 1944 (vgl. Hw 217, s.o. S. 147f.) „Sicherstellung" (Her 71) und „Bestandsicherung" (Her 104) sind Kennzeichnungen, die, aus Nietzsche-Texten gewonnen, von Heideggers Bedenken des technischen Wesens im 20. Jahrhundert modifiziert, auf sein Nietzsche-Verständnis zurückschlagen.
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Insofern Heidegger Nietzsches Willen zur Macht metaphysikgeschichtlich aus dem Wesen der Technik, d. h. des Willens zum Willen zurückdenkt, kann er sich z. B. über zeitgenössische christliche Kritiker an Nietzsche mokieren, die zu Vorträgen von Berlin nach Oslo reisen: „Man findet das ,Erlebnis' herrlich. Aber man macht sich nicht den geringsten Gedanken darüber, daß dieses Erlebnis die reinste Bejahung des Willens zur Macht ist, dessen Wesen die Möglichkeit eines Flugzeugs und einer Reise in diesem überhaupt trägt . . . Man hält womöglich einen geistesgeschichtlich geladenen Vortrag gegen den .Nihilismus* und fliegt im Flugzeug umher, benutzt das Auto und die Rasierklinge und findet den Willen zur Macht grausig. Warum ist diese grandiose Verlogenheit möglich? Weil man weder bei seinem christlichen Standpunkt noch bei seiner Reise mit dem Flugzeug noch sonst einmal das Sein denkt und von der Seinsvergessenheit in der reinsten Vergessenheit umgetrieben wird." (Her 106)
VI. Hat Heidegger in den vierziger Jahren das Ubermenschentum als das Verhängnis beschrieben, das durch den ,Ubergang' der Herrschaft des Willens zur Macht auf diejenige des Willens zum Willen entstanden ist, so trennt er Anfang der fünfziger Jahre dieses Ubermenschentum, dessen Wurzeln er in seinen Vorlesungen von 1936 bis 1944 herausgearbeitet hat, von dem, was die Wesensgestalt des Übermenschen im eigentlichen Sinne Nietzsches ausmachen soll. Dieser Wandel findet sich in den Ausführungen zu Nietzsches Wort ,Gott ist tot' vorbereitet, in denen Heidegger über das in den später veröffentlichten Nietzsche-Vorlesungen hinausgeht 39 . Heidegger möchte „zum voraus alle falschen und verwirrenden Töne fernhalten", die bei diesem Wort „für das gewöhnliche Meinen anklingen". So hat das 1942 vom Ubermenschentum der Führer Gesagte nun nichts mehr mit dem eigentlichen' Ubermenschentum zu tun. Kann Heidegger mit der Abweisung des Willkürlichen vom Verständnis des Ubermenschen von ihm schon früher Gesagtes aufnehmen (s. o. S. 157), so 39
Heidegger schreibt in den 1950 veröffentlichten H w als Anmerkung zu seiner Abhandlung, „die Hauptteile" seien 1943 „in kleineren Kreisen wiederholt vorgetragen" worden. Der Inhalt beruhe auf den Nietzsche-Vorlesungen von 1936—1940. ( H w 344) Dies ist insofern unzutreffend, als die erst 1961 veröffentlichten Nietzsche-Vorlesungen in mancherlei Hinsicht hinter den Ausführungen in H w zurückbleiben. Ansätze einer neuen und positiveren Sicht Nietzsches, die Heidegger von 1951 an ausarbeitet, werden hier schon deutlich sichtbar. Vergleicht man den Text in H w mit den Heraklit-Vorlesungen, so kann man nicht umhin, die Datierung des Aufsatzes in seiner publizierten Fassung auf die Zeit nach 1944 zu verlegen. Auch die schon in Nietzsches Wort . . . vorgenommene Akzentuierung von Za steht in Gegensatz zur Kennzeichnung des späteren und eigentlichen Nietzsche, wie Heidegger sie 1943 und 1944 vorgenommen hat (Her 224). — Nachtrag während des Satzes: Vor kurzem erst habe ich die eindrucksvollen Ausführungen von Michel Haar, Heidegger et le Surhomme, in: Revue de l'enseignement philosophique 30, 1980, 3, 1 - 1 7 , lesen können. In seiner Darstellung geht er auch auf den sonst kaum berücksichtigten Wandel des Verständnisses des Übermenschen bei Heidegger ein. Ich kann hier nur auf seine diesbezüglichen gut fundierten Überlegungen (insb. 15—17) hinweisen. Auch in anderen Zusammenhängen stimme ich mit ihm überein.
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sollen wir von 1951 an den Ubermenschen auch nicht mehr „in jenen Figuren suchen, die als Hauptfunktionäre eines vordergründigen und mißdeuteten Willens zur Macht in die Spitzen seiner verschiedenen Organisationsformen geschoben werden". (WD 25f.; VA 105f.) Auch erscheint der (wahre) Ubermensch „niemals in den lärmenden Aufzügen vermeintlicher Machthaber". Wir finden ihn auch nicht „an den Plätzen der ferngesteuerten Meinung-und in den Börsen des Kulturbetriebs". Schon gar nicht zugänglich ist er den technischen Medien, deren Repräsentanten mit „in ihrem Mechanismus immer raffinierter werdenden Arten des auf- und zurechtgemachten Vorstellens" faktisch „ver-stellen . . ., was eigentlich ist". (WD 26) Konstatieren wir erst einmal, daß Heidegger denjenigen, der die Kulturmaschinerie bedient (in deren Mechanismus er zugleich eingespannt ist), mit einem anderen Namen aus dem Wortschatz Nietzsches belegt: er ist der letzte Mensch (vgl. WD 69f.). Unter diese Bezeichnung fallen nun auch die Funktionäre, die Machthaber, die Organisatoren. Wir können dann feststellen: Heideggers Interpretationsgang weist eine Entwicklung auf. Zunächst wurde der Ubermensch gewissermaßen als der große Maschinenbauer gedacht, durch den Willen zur Macht ein- und freigesetzt; unter der Herrschaft des Willens zum Willen wird er zum bloßen Maschinisten degradiert; voll in das Maschinenwesen eingepaßt, erscheint er als der letzte Mensch,40 Stimmt Heidegger dabei Nietzsches Gedanken zu, daß der letzte Mensch den äußersten Gegensatz zum Ubermenschen darstellt (vgl. I 241), so kann er das Wesen des (wahren) Übermenschen (Nietzsches) nun in einem neuen Anlauf bestimmen. Bei seiner ,neuen' Interpretation stützt sich H e i d e g g e r auf andere N i e t z s c h e - T e x t e als z u v o r . In d e n V o r d e r g r u n d tritt Also
sprach
Zarathustra
sowie der z u m U m k r e i s
d i e s e s W e r k e s g e h ö r e n d e N a c h l a ß , w ä h r e n d er in d e n J a h r e n d e r Vorlesungen
v o n 1936
bis 1941 v o r a l l e m d e n N a c h l a ß a u s N i e t z s c h e s l e t z t e n b e i d e n S c h a f f e n s j a h r e n h e r a n z o g . S i e s e i e n , s o hieß es d a m a l s , die Z e i t g e w e s e n , „ i n d e r N i e t z s c h e d i e g r ö ß t e H e l l e 40
In allen drei Fällen, besonders in den beiden letzteren, beschreibt Heidegger Erscheinungen des metaphysischen Vor-stellens in seinem unser Zeitalter prägenden nihilistischen Un-wesen, ob er nun das vernutzende Her-stellen akzentuiert oder das einverständliche „Sich-zu-stellen der gegenständlichen Ober- und Vorderflächen" des vom Menschen Betriebenen, als welches er das ,Blinzeln' des letzten Menschen interpretiert (WD 30). Heideggers Darlegungen zum Übermenschentum und zum letzten Menschen unterscheiden sich im einzelnen durch die Bezugnahme auf Zeitumstände, unter denen sie entstanden sind und auf die sie andeutend Bezug nehmen. Die mit dem letzten Menschen verfestigte Oberflächlichkeit und die aus dem Ubermenschentum resultierende „Gleichförmigkeit der planbaren Rechnung", die den Menschen in die „Einförmigkeit" eingehen läßt (von welcher schon Nietzsche in W M 888 spricht), gehören zusammen. — Es ist charakteristisch, daß Heidegger seine These vom Verschwinden des Wesensunterschiedes zwischen Krieg und Frieden sowohl mit seinen Ausführungen zum Ubermenschentum als auch mit denen zum letzten Menschen in Verbindung bringen kann. Zum letzten Menschen gehört Heidegger zufolge der Anspruch auf politische Verantwortung nicht weniger als zu den Führern, von denen 1942 die Rede war (vgl. VA 92, 9 6 f . ; W D 31 f.).
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und Ruhe seines Denkens erreichte" (I 486), die Zeit seiner „schärfsten Einsicht" (II 44). Nietzsches „uns noch unbekannte letzte Entwicklung'" lasse alles hinter sich, „was er auf dem Weg seines Denkens an Umkippungen überstanden" habe (I 618). Wies Heidegger 1937 und 1939 demzufolge die Auffassung zVirück, Zarathustra sei der „Gipfelpunkt" von Nietzsches Schaffen, demgegenüber seine späteren Schriften nichts Neues brächten (I 318ff., vgl. I 618, I 288), so bekennt er sich von Mitte der vierziger Jahre an immer entschiedener zu dieser früher von ihm verworfenen These. Die Aufgabe der „Auslegung der Gestalt von Nietzsches Zarathustra" und die Aufgabe einer „Auseinandersetzung mit den metaphysischen Grundlehren Nietzsches" gelten ihm jetzt im Grunde als eine einzige Aufgabe (WD 68), während er noch 1937 ausführte, die Auslegung des Zarathustra könne nur aus dem Ganzen der Metaphysik Nietzsches erfolgen" (I 287). Schon 1943 (folgt man seiner eigenen Datierung; dazu hier Anm. 39) versteht Heidegger „das Werk" Also sprach Zarathustra so wenig mehr als Vorstufe zu Nietzsches letzten Einsichten, daß er es als die künftige Aufgabe ansieht, im Zusammendenken dieses Werkes mit Schellings Freiheitsschrift, Hegels Phänomenologie des Geistes und Leibniz' Monadologie dem Wesen der Metaphysik näherzukommen (Hw 233). 1951/52 heißt es, Zarathustra denke den einzigen Gedanken Nietzsches: den der ewigen Wiederkunft (WD 20). Im Jahre darauf sagt er von der „Gestalt Zarathustra", „nirgends sonst in der Geschichte der abendländischen Metaphysik" werde „die Wesensgestalt ihres jeweiligen Denkers in dieser Weise eigens gedichtet oder, sagen wir gemäßer und wörtlich: er-dacht; nirgends sonst, außer am Beginn des abendländischen Denkens bei Parmenides, und hier nur in verhüllten Umrissen" (VA 123; s. a. SF 17).
VII. Von 1951 an erhebt Heidegger das Wort Rache zu einem Grundwort für das Verständnis von Nietzsches Philosophie, welches Wort er metaphysisch versteht, „ d . h . im Hinblick auf die Frage, wie das Sein des Seienden im Ganzen sich bestimme und den Menschen angehe". Er geht dabei ausdrücklich über die „Vorstellungsbezirke" von Moral und Psychologie hinaus, in denen sich Nietzsches diesbezügliche Erörterungen „dem Wortlaut und sogar dem Titel nach" bewegen. ( W D 34; vgl. VA 112) Als Beleg für seine Deutung dienen Heidegger vor allem Ausführungen Nietzsches in Zarathustra II. Zarathustra spricht in dem Stück Von der Erlösung davon, daß sein Auge keine Menschen finde, sondern immer nur „Bruchstücke und Gliedmaßen und grause Zufälle", selbst wenn er den Blick zum Vergangenen wende. „Das Jetzt und das Ehemals auf Erden" sind Zarathustras „Unerträglichstes", weil der Wille „nicht zurück . . . wollen", nicht das ,Es war' umschaffen kann, nicht „die Vergangenen zu erlösen" vermag. Sich selbst kann der so „gefangene Wille" zu erlösen suchen, freilich auf .närrische' Weise: An allem, „was nicht gleich ihm Grimm und Unmuth fühlt", „an allem, was leiden kann, nimmt er Rache dafür, daß er nicht zurück kann". Diese Narrheit hat sich zum „Geist der Rache" ausgebildet. Ihm galt „bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein": im Wort .Strafe' verbirgt sich die Rache. Zarathustra aber enthüllt deren wahres Wesen: „Diess, ja diess
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allein ist Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ,Es war'." (KGW VI 1, 176) Heidegger stellt Nietzsches Bestimmung der Rache im Ausgang von diesem Satz Zarathustras heraus: „Der Widerwille gegen die Zeit setzt das Vergängliche herab. Das Irdische, die Erde und alles, was zu ihr gehört, ist das, was eigentlich nicht sein sollte und im Grunde auch kein wahres Sein hat . . . Die tiefste Rache besteht für Nietzsche in jenem Nachdenken, das überzeitliche Ideale als die absoluten ansetzt, an denen gemessen das Zeitliche sich selber zum eigentlich Nicht-Seienden herabsetzen muß." Die Ausprägungen des Geistes der Rache, denen Nietzsche sich in seiner Zeit ausgesetzt sah, treten für Heideggers Fragen zurück. Er läßt unerörtert, ob hinter Zarathustras Sätzen „die unmittelbare Auseinandersetzung mit Schopenhauer steht und mittelbar diejenige mit allen weltverneinenden Haltungen" (WD 37). Wesentlich ist ihm, daß der Geist der Rache der einzigen Aufgabe entgegengesetzt ist, auf die er den Übermenschen Nietzsches schon in seinen früheren Interpretationen festgelegt hat. Ein Satz Zarathustras in Von den Taranteln ist der zweite Leitsatz, an dem sich Heideggers spätere Nietzsche-Deutung orientiert: „Denn daß der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern." (KGW VI 1, 124) Heidegger schreibt: „Gilt es die Erde als Erde zu retten, dann muß zuvor der Geist der Rache verschwinden." (VA 117) Jedenfalls tritt an die Stelle des verfehlten Erlösungsversuchs des menschlichen Willens durch die Rache Zarathustras Gedanke einer Erlösung des Menschen von der Rache. Diese Erlösung kann so wenig Erlösung vom Willen sein, als sie Erlösung von der Zeit ist. Der Wille macht in Nietzsches Metaphysik das Sein des Seienden aus. Daher käme seine Aufhebung, wie Heidegger sagt, „einem Fall in das leere Nichts gleich" (VA 117; vgl. WD 43). Er führt aus: „Die Erlösung von der Rache ist die Befreiung vom Widrigen für den Willen, damit er gerade erst Wille sein kann. Wann ist das, was für den Willen das Widrige bleibt, das ,Es war' beseitigt? Nicht dann, wenn es überhaupt kein Vergehen mehr gibt. Die Zeit läßt sich für den Menschen nicht beseitigen. Wohl aber schwindet das Widrige für den Willen dann, wenn das Vergangene nicht im bloßen ,Es war' erstarrt und als dieses Starre unbeweglich dem Wollen entgegenstarrt . . . Der Wille wird frei vom Widerwillen gegen die Zeit, gegen ihr bloß Vergangenes, wenn er von allem das . . . Gehen und Wiederkommen ständig will . . . Der Wille ist erlöst vom Widerwillen, wenn er die ständige Wiederkehr des Gleichen will. So will der Wille die Ewigkeit des Gewollten. Der Wille will die Ewigkeit seiner selbst." (WD 43) Ein solcherart sich selbst wollendes Wollen erfordert den Übermenschen. Zarathustra betritt die Brücke zur höchsten Hoffnung, zur Erlösung von der Rache, indem er zugleich die ewige Wiederkehr und den Übermenschen lehrt. Die beiden Lehren entsprechen einander (WD 45; VA 118, 120), sie gehören „anfänglich" und „unumgehbar" zusammen (WD 45).
VIII. Wir müssen uns deutlich machen, daß Heideggers späterer Auffassung zufolge der Wille zum Willen zwei bis in ihre Wesenstiefe hinab unterschiedene Repräsentanten in Anspruch nimmt. Sowohl der Ubermensch, nach dem Zarathustras „ N o t r u f " ergeht (VA 106; vgl. W D 24), als auch der letzte
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Mensch (s. W D , a. a. O . ) sind der Aufgabe ausgesetzt, die aus dem Wesen der technischen Umgestaltung der Erde freigesetzten Machtmöglichkeiten
zu
übernehmen. Fragen wir zunächst nach Heideggers Ausdeutung des letzten Menschen. E r knüpft an Zarathustras
Vorrede
5 an, in der dieser als der verächtlichste
Mensch beschrieben wird, der sich im bequemen Glück und in der verkleinernden Gleichmacherei hält. 4 1 Daß der letzte Mensch „am längsten" lebt, wie Zarathustra sagt, „von einer seltsamen Dauerhaftigkeit sein w i r d " , wie Heidegger ausführt, vereinbart sich gut mit seiner These, daß die „Verendung" der Metaphysik länger dauern könne als deren bisherige Geschichte (VA 71).Heidegger bezieht Zarathustras W o r t e über den letzten Menschen auf den Menschen der Gegenwart: „Wir werden von allen Seiten her mit Hilfe unserer Soziologie, Psychologie und Psychotherapie und mit noch einigen anderen Mitteln dafür sorgen, daß demnächst alle Menschen auf die gleiche Weise in den gleichen Zustand des gleichen Glücks gestellt werden und die Gleichheit der Wohlfahrt aller sichergestellt w i r d . " ( W D 31) Man wird an diesem Punkte Heidegger das sachliche Recht der Inanspruchnahme Nietzsches im Hinblick auf tiefgreifende Entartungen unseres Zeitalters kaum bestreiten können. Mehr als problematisch bleibt freilich seine Ausweitung von Zarathustras Kennzeichnung des letzten Menschen auf den bisherigen Menschen überhaupt (WD 30, vgl. 28). Sie gestattet ihm dessen Abhebung vom Übermenschentum im Sinne Zarathustras. Er fragt, ob der aus seiner Bisherigkeit verstandene „jetzige Mensch in seinem metaphysischen Wesen darauf vorbereitet" sei, „die Herrschaft über die Erde im Ganzen zu übernehmen", und verneint sie unter Berufung auf Nietzsche (WD 64). Der letzte Mensch macht nach Zarathustra alles klein, durch ihn wird die Erde kleiner. Heidegger aktualisiert diesen Gedanken. Das .blinzelnde Vorstellen' des letzten Menschen (vgl. Anm. 40) bestimmt auch in der Mitte des 20. Jahrhunderts „die Form der Maßnahmen, die eine Weltordnung schaffen sollen. Sind die Kongresse und Konferenzen, die Ausschüsse und Nebenausschüsse etwas anderes als die blinzelnde Organisation der blinzelnden Verabredung des Mißtrauens und der Hinterhalte? Jede Entscheidung innerhalb dieses Vorstellens trägt ihrem Wesen nach zu kurz." (WD 32) Die „überall zu kurz tragenden und zu engbrüstigen politisch-sozialen Kategorien", in die der alles verkleinernde letzte Mensch das im Hinblick auf „die Erdregierung im ganzen . . . zu Entscheidende" noch nach dem zweiten Weltkrieg „hineinzwängt", lassen die Gefahr „erneut" steigen, daß die Möglichkeit einer „hinreichenden Besinnung abgedrängt wird" (WD 65). Im Gegensatz zum letzten Menschen, auf den schließlich die in den Nietzsche-Vorlesungen von Heidegger vorgenommene Charakterisierung des Uber-
41
1951 zieh: Heidegger Partien aus dem genannten Text nur insoweit heran, als sie es gestatten, das Eigentümliche des letzten Menschen im Hinblick auf das 20. Jahrhundert herauszuarbeiten (s. W D 29f.), im Unterschied zur Interpretation des Textes in der Nietzsche-Vorlesung von 1937, wo noch das Motiv der Uberwindung des letzten Menschen durch Zarathustra leitend ist (vgl. I 285ff.).
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menschen, die Kennzeichnung des Ubermenschentums im Jahre 1942 wie auch Ausführungen in seinen Heraklit-Vorlesungen 1943 und 1944 hinausliefen, soll der in Heideggers ,zweitem Zugang* zu Nietzsche herausgestellte Übermensch aus der „hohe(n) Verantwortung" heraus bedacht werden, die letztlich „im Seinsgeschick des Willens zur Macht zur Übernahme der Herrschaft über die Erde bestimmt wird" (Hw 233 f.). Was Heidegger unter der Erdverwaltung durch den Ubermenschen, die „in einem hohen Sinn" erfolgen soll ( W D 26), versteht, läßt sich nur aus wenigen Andeutungen erschließen, in denen Heidegger sich mit Nietzsche trifft und sich zugleich von ihm unterscheidet. Bevor hierauf eingegangen wird, soll der Wandel seines Nietzsche-Verständnisses von den dreißiger und vierziger zu den fünfziger Jahren am Wandel seiner Deutung des Ubermenschen noch weiter verdeutlicht werden. Nach Heideggers früheren Ausführungen gilt es, den bisherigen Menschen „ ,über' sich hinauszuschaffen", um zum — von Heidegger in den Nietzsche-Vorlesungen von Anfang an nihilistisch gedachten — Ubermenschen zu gelangen, der „die höchste Gestalt des reinsten Willens zur M a c h t " sein soll (II 39). Das ,Uber-hinaus' besagt für Heidegger 1937 wie noch 1940 eine unbedingte Verneinung des bisherigen, geschichtlich gewordenen Menschseins (I 2 8 4 f . ; II 292ff.). „ D e r Ubermensch läßt den Menschen der bisherigen Werte einfach hinter sich, ,übergeht' i h n " (II 40). Das Hintersichlassen des Bisherigen erhält beim Heidegger der frühen fünfziger Jahre einen ganz anderen Sinn als in seinen Äußerungen bis 1944, in denen der Ubermensch als die Vergangenheit negierender homo faber erscheint. Während dessen Ausprägung sich zum geschichtslos Präsentischen des letzten Menschen verengt, soll nun Zarathustras Ubermensch den bisherigen Menschen „in sein noch ausstehendes Wesen . . . bringen und ihn darin fest . . . stellen". Dazu gehört, daß Zarathustra, wie Heidegger zitiert, „keine Vergangenheit des Menschen verlieren, Alles in den Guß werfen" will. (VA 106; G A X I V 271, Nachlaß S o m m e r - H e r b s t 1883, K G W V I I 1, 504. — Vgl. zum bewahrenden Fest-steilen des Ubermenschen W D 24—28) Daß der so beschriebene Ubermensch sich wesenhaft von dem uneingeschränkt die Bedingungen seiner Gesetzgebung bestimmenden Herrn der bloßen Machtvollstreckung unterscheidet, für den jede — also auch jede geschichtliche — Bestimmtheit unwesentlich bleibt, den Heidegger einseitig vor allem aus späten Aufzeichnungen Nietzsches herausinterpretierte, bedarf keines weiteren Hinweises. „Caesar mit der Seele Christi": diese synthetisierende Bestimmung des Ubermenschen durch Nietzsche hätte Heidegger früher so wenig angeführt wie diejenige, die auf die Bewahrung alles Vergangenen zielt ( W D 33). So läßt sich vermuten, daß Heidegger unter dem ,hohen Sinn' des Ubermenschen die geschichtliche Weite im Gegensatz zur Enge des Weltverwaltens durch den letzten Menschen versteht.
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IX. Heideggers spätere Aus-einander-setzung mit Nietzsche rückt diesen in eine ungleich größere Nähe zu seinen eigenen Denkbemühungen, als dies z. B. von 1942 bis 1944 der Fall war. Zarathustra, von Heidegger 1951 (im Unterschied zu VA 1953 noch) als „der werdende Ubermensch" vorgestellt (WD 27, vgl. 46f.), ist sowohl Repräsentant der metaphysischen Vollendung als nunmehr auch derjenige, der dieser Vollendung als einer Ver-endung gewahr wird. Insofern ein solches Sich-selbst-durchsichtig-werden der Metaphysik die Voraussetzung dafür ist, daß sie verwunden wird, steht Nietzsches Zarathustra an einer Grenze, die er zwar nicht überschreiten, die er aber als Grenze sichtbar machen kann. Von diesem Nietzsche-Verständnis Heideggers soll abschließend (in gebotener Kürze) die Rede sein. 1. Heidegger führt in Was heißt Denken? aus, daß Nietzsche „ i m Bereich des wesentlichen Denkens klarer denn je einer vor ihm, die Notwendigkeit eines Ubergangs und damit die Gefahr" gesehen habe, „daß der Mensch sich immer hartnäckiger auf die bloße Ober- und Vorderfläche seines bisherigen Wesens einrichtet"; Nietzsche habe als erster die drohende Gefahr erkannt und „als einziger bisher in der ganzen Tragweite metaphysisch" durchdacht (WD 24). In diesem Sinne erweckt die zitierte Vorlesung weitgehend den Eindruck einer Nietzsche-Apologie. Erst an ihrem Schlüsse kommen Heideggers Vorbehalte zur Sprache. Wenn Heidegger 1952 bei der skeptischen Frage stehenbleibt, ob „der Gedanke der ewigen Wiederkehr" oder „diese selbst die Erlösung von der Rache" bringe (WD 46), so laufen seine Ausführungen im Vortrag von 1953 darauf hinaus, sie schließlich mit einem entschiedenen Nein zu beantworten. Hier kann nicht auf Heideggers Begründungen für dieses Nein sowie auf mögliche Gegengründe und schließlich auf die Vielschichtigkeit der Aussagen Nietzsches eingegangen werden, welche Heidegger bei dieser Gelegenheit heranzieht. 4 2 Dreierlei sei genannt, ohne auch nur entfaltet werden zu können. Erstens meint Heidegger bei Nietzsche eben jenen Geist der Rache aufweisen zu können, gegen den dieser sich wendet. Zweitens stellt Heidegger infrage, ob der Geist des bisherigen Denkens zureichend getroffen ist, wenn man ihn als Geist der Rache deutet. Drittens vollendet sich desungeachtet nach Heidegger in Nietzsches Wiederkehr-Gedanken die abendländische Metaphysik (dazu vor allem VA 122).
42
S. dazu Vf., Der Geist der Rache und die ewige Wiederkehr. Zu Heideggers später NietzscheInterpretation. In: Philosophie der intellektuellen Redlichkeit, Festschrift für Gerd-Günther Grau, hg. von F. W. Korff, 1981/82.
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N u r zum letzten Punkt sei einiges angemerkt. Im Unterschied zu seinen früheren weitgespannten metaphysikgeschichtlichen Erörterungen bezieht sich Heidegger in den fünfziger Jahren allein auf eine Passage aus
Schellings
Freiheitsschrift, in der „Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung" als die Prädikate des Wollens im Sinne des Urseins aufgeführt w e r d e n . 4 3 E r nimmt auf, daß Schelling sagt, die ganze Philosophie strebe nur dahin, „für das Ursein als Wille den höchsten Ausdruck zu finden" ( W D 4 7 ; vgl. 3 5 f . , 77, V A 113 f.). In Nietzsches Wiederkunftslehre erfülle sich dieses Streben. Bildet sie den „letzten Gedanken der abendländischen Metaphysik", so muß sie auch im Willen zum Willen, soweit sich in ihm das technische Denken manifestiert, ihren Ausdruck finden. In der Tat verlangt H e i degger ein Bedenken von Nietzsches Lehre im Hinblick auf „das Wesen der modernen T e c h n i k " in ihrem ständigen Rotieren ( W D 47). E r stellt die Frage: „ W a s ist das Wesen der modernen Kraftmaschine anderes als eine Ausformung der ewigen Wiederkehr des Gleichen?" (VA 1 2 5 f . ) Hinweise auf den Zusammenhang von Wiederkunftslehre und durch die Technik bestimmter Wirklichkeit unserer Zeit finden wir z. B. auch bei W. Benjamin. In den Zentralpark-Fvagmenten (1939) charakterisiert er die Wiederkunftslehre als „Traum von den bevorstehenden ungeheuren Erfindungen auf dem Gebiete der Reproduktionstechnik" (in: Walter Benjamin: Charles Baudelaire, hg. v. R. Tiedemann, 1974, 176). — Benjamin löst auf seine Weise das von Nietzsche Ausgesagte von dem in ihm zum Ausdruck Gelangenden. Daß der Gedanke der ewigen Wiederkunft „ungefähr gleichzeitig in die Welt Baudelaires, Blanquis und Nietzsches hineinrückt", wird von Benjamin zugleich hinsichtlich der Unterschiede der Aufnahme des Gedankens thematisiert. Im Hinblick auf das „Immerwiedergleiche" akzentuiere Baudelaire das jeweils „Neue", Nietzsche sehe jenem „mit heroischer Fassung" entgegen, während bei Blanqui die Resignation dominiere ( a . a . O . , 169). Die über Nietzsches Verständnis des Willens zur Macht hinausgehende Deutung des Machtwollens als des Willens zum Willen durch Heidegger vollendet sich in der Ausprägung des Willenswesens als des immanenten Selbstbezugs, der kein .außerhalb seiner' mehr zuläßt. Am Ende kreist das Willenswesen geschichtslos und sinnentleert in sich; in solchem In-sich-kreisen hat die aus der griechischen Metaphysik herkommende Teleologie ihren endgeschichtlichen .Abschluß' gefunden. Die scheinbare Vielfalt des durch die Medien Vermittelten verdeckt nur die Gleichförmigkeit bloßer Bestandsicherung. „Die Ziel-losigkeit und zwar die wesentliche des Willens zum Willen ist die Vollendung des Willenswesens" nach Heidegger, der jene schon in Kants Philosophie der praktischen Vernunft „angekündigt" findet (VA 89). 4 4 43
Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. 1809. Schellings Werke, hg. M. Schröter, IV 242. - Übrigens hat sich Heidegger, wenn auch nur beiläufig, schon in seiner ersten Nietzsche-Vorlesung (1936/37) auf diesen Schelling-Text bezogen (I 44f.); später in Sch 207ff., dabei ohne direkte Bezugnahme auf Nietzsche.
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Während der Korrekturarbeiten an diesem Aufsatz fand ich in einer Berliner Tageszeitung vom 2 9 . 9 . 1 9 8 0 folgende Information: „Zu spontaner Solidarität mit den Opfern und Hinterbliebenen des Attentats auf dem Münchener Oktoberfest entschlossen sich die Schausteller des
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2. Nietzsche wußte nach Heidegger um diejenigen Folgen des entfesselten Willens zum Willen, die in die Erschöpfung der Erde ausmünden. In seinem Wissen um die Endgestalt der Metaphysik machte er diese zugleich transparent. Im Verenden der Metaphysik durchschaut diese sich gewissermaßen selbst. Heidegger geht, um dies zu belegen, 1951 bei der Erörterung seiner These, das Bedenklichste in unserer Zeit sei, daß wir noch nicht denken, von Nietzsches Wort in den Dionysos-Dithyramben aus: „Die Wüste wächst", das nach seiner Deutung „weit vorausblickend aus höchstem Standort" die genannten Folgen nennt. Das Wort wolle sagen: „Die Verwüstung breitet sich aus. Verwüstung ist mehr als Zerstörung. Die Zerstörung beseitigt nur das bisher Gewachsene und Gebaute; die Verwüstung aber unterbindet künftiges Wachstum und verwehrt jedes Bauen . . . Die Verwüstung der Erde . . . kann . . . auf die unheimlichste Weise überall umgehen, nämlich dadurch, daß sie sich verbirgt" (WD 11). Nietzsche hat nach Heideggers Deutung dieses Sichverbergende gesehen. — Von zeitgenössischer Kulturkritik will sich Heideggers Auslegung von Nietzsches Wort schon dadurch unterscheiden, daß sie die Bedenklichkeit des Sichverbergenden weder in einem pessimistischen noch in einem optimistischen, zugleich aber auch nicht in einem dazwischenliegenden .indifferenten' Sinne meint (WD 12f., 58ff.). Den denkenden Vorausblick ( W D 11), den er Nietzsche nunmehr zuspricht, kann er mit seinen früheren Deutungen, denen zufolge Nietzsches Metaphysik die Philosophie ,nur' vollendet, allein vereinbaren, wenn er in diesem Ende schon mehr als das bloße Ende findet, — wenn auch noch nicht den „Ubergang zu einem anderen Anfang" (VA 83), so doch dessen Vorbereitung (WD 21 ff.). 3. Heidegger versteht den ,hohen Sinn', den er in Nietzsches Verkündigung des Übermenschen findet, über dessen .geschichtliche Weite' hinaus vermutlich im Sinne einer Erdherrschaft, die zugleich ein der Erde Dienen und ein ihr Liebe Schenken besagt. Für diese Bestimmung des hohen Sinnes könnte Heidegger viele Hinweise Zarathustras auf die künftige Erdherrschaft des Ubermenschen heranziehen. So heißt es in Also sprach Zarathustra 4: „Wer soll der Erde Herr sein? Wer will sagen: so sollt ihr laufen, ihr großen und kleinen Ströme!" Die Antwort Zarathustras lautet: „Die Reinsten sollen der Erde Herrn sein, die Unerkanntesten, Stärksten, die Mitternachtsseelen, die heller und tiefer sind als jeder Tag." (KGW VI 1, 394, 396) Wenn Zarathustra an anderer Stelle seine Jünger beschwört: „Bleibt mir der Erde treu [. . .] Eure schenkende Liebe und eure Erkenntniss diene dem Sinn der Erde!" (KGW VI 1, 95; vgl. auch schon Za I, KGW VI 1, 9), so scheint solches Dienen dem zuvor genannten
Berliner Oktoberfestes . . . Auf dem Festplatz an der Jaffestraße werden am Dienstag die Flaggen auf Halbmast gesetzt, und die Eingänge bleiben geschlossen. Als Symbol der Trauer bleiben alle Lichter erloschen. Nur das Riesenrad soll zur Mahnung die ganze Nacht hell erleuchtet seine Runden drehen."
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Herrschen geradezu entgegengesetzt zu sein. Doch müssen wir uns an die Vieldeutigkeit des Zarathustra halten, die „kein Einwand gegen die Strenge des darin Gedachten" sein soll (WD 68). Hier fallen Dienen und Herrschen insofern in eins, als der künftige Sinn der Erde, der den „Ohne-Sinn" ablösen soll, im „Menschen-Sinn" gegründet wird. Zarathustra fordert seine Jünger auf, „dem Sinn der Erde" dadurch zu dienen, daß sie als „Kämpfende" und als „Schaffende" „aller Dinge Werth" neu setzen, um auf solche Weise das Erscheinen des Übermenschen vorzubereiten (Za IV, K G W VI 1, 9 6 f . ; vgl. Zarathustras Rede vom „Erden-Kopf, der der Erde Sinn schafft", Za I, K G W VI 1, 33). — Heidegger bezieht sich nicht ausdrücklich auf diese oder andere Texte, in denen Zarathustra von der Treue und von der Liebe zur Erde spricht. Nur 1953 zitiert er ein Nachlaßfragment Nietzsches, in dem von der schaffenden Liebe die Rede ist (VA 118; er bezieht sich dabei auf GA X I V S. 276; Nachlaß Frühjahr 1884, K G W VII 2, 139).
Heidegger selbst hat sich, von seinen Ausführungen über den Ursprung des Kunstwerks an (Hw 7—68), in wachsendem Maße dem Eigenen der Erde zugewandt. Von diesem her gewinnt seine negative Charakterisierung des Willenswesens eine besondere Dimension. So schreibt er Mitte der vierziger Jahre, „das unscheinbare Gesetz der Erde" wahre, im Gegensatz zum sichernden Werten und Rechnen des Willens zum Willen, die Erde „in der Genügsamkeit des Aufgehens und Vergehens aller Dinge im zugemessenen Kreis des Möglichen, dem jedes folgt und den doch keines kennt. Die Birke überschreitet nie ihr Mögliches. Das Bienenvolk wohnt in seinem Möglichen. Erst der Wille, der sich allwendig in der Technik einrichtet, zerrt die Erde in die Abmüdung und Veränderung des Künstlichen." Die Technik mache das Unmögliche möglich. (VA 98) Es wäre eine besondere Aufgabe, Nietzsches Aussagen in ein Verhältnis zu denen Heideggers zu bringen. Dabei würde sich wohl zeigen lassen, daß auch im Zarathustra (wie in früheren, gelegentlich aber auch in späteren Texten Nietzsches) die Erde innerhalb aller Sinnstiftung durch den Menschen ihr Eigenes behalten soll, — im Unterschied zu den Texten aus dem späten Nachlaß, die Heidegger mit Vorrang bis 1944 herangezogen hat. Wenn Nietzsche schon 1881 schreibt, die Erde sei für viele Menschen zu einer „Wiese des Unheils" geworden, weil sie „die allernächsten Dinge [. . .] sehr selten beachten" (MA II, WS 6 vgl. 12), so scheint dies zwar durch eine Kluft von Heideggers Darlegung aus dem Jahre 1942 getrennt zu sein, die Erde sei „seynsgeschichtlich der Irrstern" (VA 97). Nietzsches Ausführung scheint nur einen diätetischen Hinweis zu geben; Heidegger aber will das Ödland „der verwüsteten Erde" bedenken, „die nur noch der Sicherung des Menschen" im Sinne des Willens zum Willen dient (VA 97f.). Gleichwohl liegt beides nicht so weit auseinander, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Was Nietzsche angeht, so steckt schon in dem zitierten Text die Voraussetzung, daß der Mensch mit der Erdherrschaft sich zugleich seiner eigenen Erdhaftigkeit bewußt bleiben muß, um jene angemessen ausüben zu können. Das von Hei-
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degger früher herausgestellte technokratische Wesen des Ubermenschen findet zwar vielfältige Bestätigung in Nietzsches späten Niederschriften. Die Heraushebung der Frage nach der Einheit von Dienen und Herrschen im Zarathustra ermöglicht Heidegger aber in den fünfziger Jahren ein Verständnis von Nietzsches Gedanken der Erdherrschaft, das sich nicht mehr darin erschöpft, in Nietzsche allein den Vollender der rückhaltlosen Subjektivität des Subjekts zu sehen, in dem der Wille zum Willen sich in seinen ,Machenschaften' ausbreitet. Heidegger kann nun davon ausgehen (obwohl er sich auf nur wenige Texte Nietzsches beruft), daß Zarathustra die Treue des Menschen zur Erde beansprucht und zugleich damit die (vielleicht größere) Treue der Erde zum Menschen annimmt (dazu Za IV, KGW VI 1, 338ff.). Was Heideggers Denken selber angeht, so hat er die totale Vernutzung in ihrer Unterschiedslosigkeit vor Augen, die im 20. Jahrhundert heraufgezogen ist und jene Erdbezogenheit zerstört, welche nötig ist, „um den Segen der Erde zu empfangen und im Gesetz dieser Empfängnis heimisch zu werden, um das Geheimnis des Seins zu hüten und über die Unverletzlichkeit des Möglichen zu wachen" (VA 98). 4. Von 1951 an nimmt Heidegger (vor allem im Blick auf Zarathustra) Nietzsche nicht mehr nur als den Voraus-Denker der Einförmigkeit von technischer Planung und Vernutzung in Anspruch, sondern auch als den VorausAhner der Möglichkeit einer gegenwendigen Tendenz. So deutet er an, daß sich im ,Verborgenen' von Nietzsches Philosophieren dasjenige finde, dessen Bedenken über die verendende Metaphysik hinausführen könne. „Bis zur Stunde" (so heißt es nun) zeige sich freilich „kein Denkender . . ., der dem Grundgedanken dieses Buches gewachsen wäre" (VA 101; WD 21). An anderer Stelle sagt er, das die Metaphysik vollendende Denken zeige „in einem ausnehmenden Sinne auf Ungedachtes, deutlich und verworren zugleich. Aber wo sind die Augen, dies zu sehen?" (VA 122; vgl. WD 46f.) Das Zugleich von Deutlichkeit und Verworrenheit führt Heidegger vor allem in „das Dunkle" der Wiederkunftslehre. „Dieser abgründlichste Gedanke", von Nietzsche selbst vom Dionysischen her und damit noch metaphysisch gedeutet, verberge jenes Ungedachte. (VA 126) Das Dunkle soll auf das Wesen der Technik weisen, das aber selber nichts Technisches ist, wie oben schon ausgeführt wurde (s. S. 155ff.). Diese Weisung aber ist nötig, um, mit Heidegger zu sprechen, das Wesen der Technik in seine verborgene Wahrheit verwinden zu können, welche eine Wahrheit des Seinsgeschicks ist. Zu solcher Verwindung muß sich der Mensch dem Wesen der Technik öffnen, sich „fügen in die gewiesene Weisung, auf die ein anderes, noch verhülltes Geschick wartet". Mit Erdherrschaft, selbst im hohen Sinne Nietzsches, hat die von Heidegger erwartete Haltung des künftigen Menschen nichts zu tun, so wenig wie mit der bloßen Verneinung oder Bekämpfung des Technischen. In einem zuerst 1949 gehaltenen Vortrag heißt es z. B.: „Die Technik, deren Wesen das Sein selbst
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ist, läßt sich durch den Menschen niemals überwinden. Das hieße doch, der Mensch sei der Herr des Seins." (T 37ff.) 5. Heideggers Ausziehung von Nietzsches Gedanken auf die Zukunft, derzufolge in dessen Denken „bereits zur Sprache kommt, was ist, aber dem gängigen Denken noch verstellt bleibt", führt zu einer letzten Sublimierung der Gestalt von Zarathustras Ubermenschen. Dieser ist schließlich weder Herr des Seins noch Herr des Seienden, weder Technokrat noch Hüter der Erde. Was er ist, soll sich im Ubergang über den bisherigen Menschen erst zeigen. Wo er zu finden sein könnte, wird von Heidegger nur angedeutet: Wir dürfen vermuten, daß der Ubermensch „ f ü r die Öffentlichkeit noch unsichtbar" existiert. Es gibt ihn „schon", Heidegger zufolge, und zwar „hier und dort", das heißt wohl: noch selten. (WD 26) Das ,Uber-hinaus' des Uber-menschen ist demzufolge vorerst nur im Verhältnis zur Öffentlichkeit des ,Man' (SuZ 126ff.) zu fassen, die in ihrer Konstitution allerdings nun aus dem Wesen der Technik, d.h. aus dem Willen zum Willen gedacht werden muß. Als Ubermenschen bezeichnet Heidegger diese Wenigen nicht, wenn er, vermutlich an das, seiner Deutung nach, in Nietzsches Gedanken Verborgene anknüpfend (vgl. oben S. 173ff.), in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ausführt, es komme darauf an, „daß einige außerhalb aller Öffentlichkeit unermüdlich daran arbeiten, ein dem Sein achtsames Denken lebendig zu bewahren". (VS 90, vgl. 23) Die Wenigen wissen, „daß diese Arbeit darauf ausgehen muß, für eine ferne Zukunft eine Möglichkeit der Uberlieferung zu begründen", die ein zweitausendjähriges Erbe über ein Zeitalter hinweg rettet, welches bestimmt wird von „der wirtschaftlichen Entwicklung und der Rüstung, die sie verlangt" (VS 90). 6. Die wachsende Beschleunigung der technisch gelenkten Abläufe im „Atomzeitalter" (G 16—23), innerhalb deren „Geschichte und Uberlieferung auf die gleichförmige Speicherung von Informationen eingeebnet und als diese für die unumgängliche Planung nutzbar gemacht werden, die eine gesteuerte Menschheit benötigt" (W, Vorbemerkung), erfordert eine Besinnung, welche von ganz anderer Art ist als das vom Willen zum Willen in Anspruch genommene rechnende Denken (G 21—28). Der Frage nach jener Besinnung soll abschließend nur insoweit Raum gegeben werden, als Heidegger sie im Hinblick auf das Wesen des Willens stellt. 45 Die Besinnung „will das Nicht-Wollen" (G 32), vor dem der Wille in der Metaphysik Nietzsches noch „zurückschreckt", da er sich damit der „Vernichtung seiner eigenen Wesensmöglichkeit" ausgesetzt sähe (II 65). Das Nicht-Wollen im Sinne Heideggers meint ein Doppeltes. Zum einen ist das Nicht-Wollen ein Wollen, das sich auf sich selbst richtet, um ihm abzusagen. 45
Vgl. dazu D. F. Krell, Nietzsche and the task of thinking, a . a . O . , 244—255.
Das Willenswesen und der Ubermensch
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Zum anderen kann der Ausdruck Nicht-Wollen dasjenige benennen, „was schlechthin außerhalb jeder Art von Willen bleibt". Das erste Nicht-Wollen wird von Heidegger gewissermaßen als Vorstufe zum zweiten aufgefaßt. Die Entwöhnung des Wollens führt zum „Erwachen der Gelassenheit", die genauer als „Wachbleiben für die Gelassenheit" bestimmt wird. In dieser könnte das Wesen des Denkens als Besinnung eingelassen sein, wobei es auf die rechte Weise des Lassens ankommt. (G 31—40) Zur Gelassenheit gehört ein Absehen von allem Wollen, das nur noch einer „Spur des Wollens" bedarf, welche „jedoch im Sicheinlassen verschwindet und vollends in der Gelassenheit ausgelöscht ist". Andererseits soll die Gelassenheit nicht „ein willenloses Zulassen von allem" sein. Deshalb bedarf es der von Heidegger in Sein und Zeit existenzial herausgearbeiteten Entschlossenheit, welche nun eindeutig „als das eigens übernommene Sichöffnen des Daseins für das Offene" gedacht werden muß. Solches „Verhalten" der Entschlossenheit soll sich in einer „Verhaltenheit" sammeln, die als „Empfängnis" verstanden wird (G 59-61). — Auf Heideggers in diesen Zusammenhang gehörende Denk-Erfahrungen kann hier nicht eingegangen werden. Mit ihnen müßten wir den Bereich seiner Aus-einander-setzung mit Nietzsche verlassen. Dessen Philosophie behält ihren Ort als Vollendung der Metaphysik (über die sie nach den Ausführungen der fünfziger Jahre zwar dunkel hinausweist) grundsätzlich auch dann noch, wenn Heidegger in das geschicklose Ereignis einkehrt und dabei die seinsgeschichtliche Dimension hinter sich läßt (SD 44).
Diskussion Taureck: Sie haben, Herr Müller-Lauter, im Rahmen Ihrer früheren Veröffentlichungen deutlich Stellung genommen zum Ansatz Heideggers und verstehen sicher unter dem Ansatz Heideggers dasjenige, was dessen Nietzsche-Verständnis in den vierziger Jahren zu Grunde liegt. N u n kommen Sie im Blick auf spätere Heidegger-Texte zu einem Gesichtspunkt, bei dem ich frage, ob er Ihnen selber schon vorher so deutlich war. Die zweite Frage ist, ob der Wandel Heideggers, von dem Sie sprechen, konzentriert auf sein Verständnis des Ubermenschen — abgekürzt: vom herrschenden und verrechnenden Vernunfttechnokraten zum bloßen, eigentlich machtlosen Verwalter der Erde und schließlich zu einem Repräsentanten der denkenden Besinnung — tatsächlich eine wirklich große Wandlung oder nur eine leichte Modifizierung und Akzentverschiebung darstellt. Das kann man nur beantworten, wenn man eine dritte Frage stellt. Gibt es bei Heidegger eine Wandlung, aus der heraus man dieses Neubedenken Nietzsches verstehen und die man datieren kann? Bekannt ist ja, daß Heideggers Denken in den letzten Jahrzehnten seines Lebens geprägt war von der Furcht um die Verwüstung der Erde durch das technische Verrechnen, wobei er unter Technik ja immer Tieferes, Grundlegenderes versteht als das, was wir mit diesem Wort normalerweise bezeichnen. Sie sagten, das Wesen der Technik ist bei Heidegger Bemächtigung, es ist Überwältigung und dergleichen. Ich würde die These aufstellen, daß diese Wendung gegen die moderne Technik in dieser nicht vordergründigen, sondern auf die gesamte Uberlieferung zurückgreifenden These damit zusammenhängt, daß er sich damit auch gegen sein eigenes frühes Hauptwerk wendet. In Sein und Zeit ist ja die gesamte Welt als Bewandtniszusammenhang und damit als Ermächtigungsgebilde gedacht. Die Kehre, die er vollzogen hat, wäre eben bezeichnend gewesen für diesen Wandel, wobei die Kehre ja auch bedeutet, daß er sich in vertiefter Weise mit der Uberlieferung auseinandersetzt, und zwar schon früh nach Sein und Zeit. N u n die Frage an Sie: Ist die Beschäftigung mit Nietzsche dabei konstitutiv für diese Wandlung? Salaquarda: Ich möchte etwas dazu sagen, vor allem weil es an die Frage von Herrn Taureck anschließt. Was mich interessiert hat, war gegen Schluß Ihres Vortrages der Hinweis, daß Heidegger zuletzt sieht oder einräumt, daß Zarathustra an der Grenze steht, daß Zarathustra also nicht bloß in der
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Metaphysik befangen ist, sondern sozusagen ihre Endsituation sieht und damit möglicherweise Ubergänge vorbereitet. Nun ist das ja das Motiv, das dann in der Interpretation von Fink eine Rolle spielte und worin man in der Regel auch einen Schritt von Fink über Heidegger hinaus gesehen hat. 1 Wenn ich es richtig sehe, haben Sie selber jetzt in Ihrer Auseinandersetzung mit Heidegger eine Modifikation vollzogen. Das Zweite, das ich Sie gerne fragen möchte: In welchem Verhältnis steht diese Heidegger'sche Bestimmung, in der er den Willen zur Macht als Wille zum Willen auslegt, zu Ihrer Deutung? Was besagt es, wenn Heidegger dabei etwa die Formulierung wählt, Sie haben sie zitiert: der Wille erstrebt nicht etwas, was er nicht hätte, was nicht in ihm selber wäre, er findet das, was er erstrebt, immer nur in sich selbst; die Ubersteigerung, die das wesentliche Merkmal des Willens ist, ist die Ubersteigerung seiner selbst? Wenn man sich auf Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht einläßt, dann wird dies hier in der Tat problematisch, hier stimme ich Ihrer-Interpretation weitgehend zu. Aber es bleibt das Problem: Wenn man mit Nietzsche etwa den Menschen auffaßt als eine umfängliche Repräsentation von Willensanhäufungen, die selber aber immer sozusagen wieder als ein Wille resultiert oder mindestens als ein Wille resultieren kann, dann ist eine solche Definition von Heidegger merkwürdigerweise wieder gar nicht so weit weg vom Sachverhalt, wie Sie und auch ich ihn sehen. Heidegger drückt ihn in höchster Abstraktion aus, Nietzsches Abstraktionen noch überbietend, in dem er vom Willen zum Willen spricht. Aber was er dann als konkrete Bestimmung einführt, würde etwa gelten für die Problematik der Selbstüberwindung: dieses „Werde der du bist" — von früh an ja Nietzsches Grundbestimmung — und dies „Was du bist" ist freilich vielleicht nicht in dir selber zu sehen, sondern an dem zu sehen, was du für Vorlieben hast. Jedenfalls ist die Ausgestaltung, die eine solche umfängliche Willensrepräsentation und Anhäufung, wie der Mensch etwa erreichen kann, immer schon in ihm selber vorgegeben. Ist in Heideggers Bestimmung des Willens zum Willen Nietzsches Gedankengut durchaus mit eingegangen, — nur sozusagen von einer anderen Stelle her, als dies bei Nietzsche selbst der Fall ist? Müller-Lauter-. Zunächst zu Herrn Taureck. Sie haben ganz richtig gesehen, daß meine frühere Kritik an Heideggers Nietzsche-Verständnis sich an den Vorlesungen der vierziger Jahre orientiert hat. Seine Auslegung Nietzsches anhand eines teleologisch orientierten Verständnisses von Metaphysikgeschichte bestimmte ja die Diskussion seit ihrer Veröffentlichung 1961. Im übrigen wird ja das Grundmuster, Nietzsche vollende die 1
Vgl. E. Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart u.a. 1960.
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Metaphysik, von Heidegger in den Nachkriegsveröffentlichungen (Was heißt DenkenWer ist Nietzsches Zarathustra?) beibehalten, wenn auch, im Vergleich zur kritischen Schärfe der Aussagen früherer Jahre, gemildert, wenn auch mit Hinweisen darauf, daß Nietzsche das Entsetzliche dieser .Vollendung' (,Die Wüste wächst') gesehen habe, — Hinweise, die in den früheren Vorlesungen nicht nur fehlen, sondern in der Konsequenz von Heideggers früherer Interpretation auch fehlen müssen, in der Nietzsche als blind gegenüber dem erscheint, was mit ihm vorangetrieben wird. Wie bedeutsam die Differenz zwischen Heideggers Auslegungsphasen ist, habe ich erst später gesehen, Ob sie klein oder groß ist, ob Akzentverschiebung oder Sichtwandlung, ist eine Frage der Einschätzung. Damit bin ich bei Ihrer zweiten Frage, Herr Taureck. Am Wandel des Verständnisses des Ubermenschen läßt sich deutlich machen, daß Heidegger Nietzsches Denken äußerste Möglichkeiten abzuringen versucht, und zwar — aufs Ganze gesehen — verschiedenartige. Nietzsches Ubermensch repräsentiert für Heidegger immer äußerste Möglichkeiten, gemäß Nietzsches eigenem Anspruch. Daß diese sehr unterschiedlich ausfallen, hängt mit Heideggers Auseinandersetzung mit dem zusammen, was Sie selber zum ,Wesen' der Technik ausgeführt haben. Zu ihrer dritten Überlegung beschränke ich mich vorerst nur auf den Punkt, an dem Sie darauf hinweisen, daß in Heideggers Sein und Zeit schon das ,Willenswesen' spukt. Heidegger selbst hat dies in gewissen Grenzen schon 1949 in der Einleitung zu Was ist Metaphysik} eingeräumt, insofern er von seinem früheren Denken sagt, es habe vom metaphysisch-vorstellenden Verständnis ausgehen müssen und sei damit dem zu denkenden Sein „ungemäß" geblieben. 2 Zu Heideggers Ausarbeitung von Welt als Bewandtniszusammenhang ist nicht selten bemerkt worden, sie sei durch technisches Denken' mitkonstituiert. Die früheste Äußerung in dieser ¡Richtung, die mir einfällt, hat Donald Brinkmann getan 3 . Ich selber meine, daß die Orientierung an ,Praxis' und Technik leicht dazu führen kann, die wesentlicheren Dimensionen der Daseinsanalytik zu verdecken. Was zur Interpretation praktisch-technischen Verhaltens geeignet ist, ist nicht deshalb schon in seinem eigenen Grunde technisch bestimmt. Ich muß offen lassen, ob Heideggers ganz frühe Lektüre der Wille-zur-Macht-Kompilation für seine Analyse des besorgenden In-der-Welt-seins fruchtbar geworden ist. Die Bestimmungen des ,Worumwillen', des ,um . . . willen' würden dies von sich her nicht nahelegen. Der
2 3
M. Heidegger, Was ist Metaphysik, 6 1951, 17. D. Brinkmann, Mensch und Technik. Grundzüge einer Philosophie der Technik. Bern 1946, 4 2 - 7 3 , insb. 63.
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Gebrauch des Willensbegriffes kurz nach dem Erscheinen von Sein und Zeit in Verbindung mit dem späten Hinweis Heideggers auf seine frühe Lektüre von Der Wille zur Macht lassen für Vermutungen und Erwägungen viej Raum. Herrn Salaquarda möchte ich darin zustimmen, daß Eugen Fink sich in der Nähe dessen bewegt, was bei Heidegger in den fünfziger Jahren Thema wird. Heideggers Stellung zu Nietzsche bleibt gleichwohl distanzierter als die Finks, bei Fink kommen auch andere philosophische Aspekte ins Spiel. Ihr zweites Thema, Herr Salaquarda: ein weites Feld. Ich kann nur sehr knapp etwas dazu sagen. Daß die Aggregation der Willen zur Macht, die nach Nietzsche der Mensch repräsentiert, jeweils so vorgegeben sei, daß Ubersteigerung als Selbstüberwindung von ihr her bestimmt werde, scheint mir jene Teleologie ins Spiel zu bringen, der Nietzsche zwar zeitweilig zu verfallen scheint, gegen die er sich jedoch auch immer wieder wendet. Wahrscheinlich haben Sie in Ihrer Rede vom In-sich-sein des Willens zur Macht und von dessen Selbstübersteigerung an meine Ausführungen zum VonInnen-her allen Machtstrebens gedacht, von dem ich bei anderer Gelegenheit gesprochen habe. 4 Einmal mehr betonen muß ich dann, daß es Nietzsche immer darum geht, ein jeweiliges Von-Innen-her gegen andere Von-Innen-her zu stellen; alles Geschehen ist für ihn Ubergreifen einer Macht auf andere Macht, — auf welcher Ebene auch immer. Nach Nietzsche erstrebt der Wille, so sage ich gegen Heidegger, durchaus und notwendig etwas, was er nicht hat. - Heideggers Reduktion des Willens zur Macht auf den Willen zum Willen wird Nietzsches Verständnis vom Gegeneinander der Willen zur Macht nicht gerecht. Nicht zufällig spricht Heidegger von der Reinheit des Willens zur Macht, der sich in seinem Wesen selbst begreifen soll. Bei Nietzsche findet Derartiges keine Stütze. Baier: Die im Vortrag angesprochenen Wandlungen in Heideggers Verständnis des „Ubermenschen" sind möglicherweise in Heideggers Briefwechsel mit Ernst Jünger nachzuverfolgen. In dem noch nicht veröffentlichten Briefwechsel spielt nach meiner Kenntnis sowohl die Figur des Maschinenbauers wie auch die des Maschinisten eine große Rolle. Ernst Jünger ist von seinem heroischen Verständnis des Arbeiters nicht abgewichen; er ist stehengeblieben, während Heidegger, wie wir gehört haben, weitergegangen ist. Der Arbeiter, der anfangs die Züge des Ubermenschen trägt, hat später eher das ausdruckslose Gesicht des .letzten Menschen' im Widerschein der ,Feuerzeit'.
4
W. Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 7, 1978, 189—223.
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Was Heidegger im Einzelnen veranlaßt und angestoßen hat, ließe sich vielleicht in dem Dialog mit Ernst Jünger genauer verfolgen. 5 Dann möchte ich fragen, ob Heideggers Auslegung der „Technik" eigentlich mit Nietzsches Stellung zu den technischen Phänomenen zusammenstimmt. Mich hat insbesondere die Interpretation Albert Camus' auf einen — wie ich gerade aufgrund von Nietzsches Spätschriften meine — wesentlichen Zug aufmerksam gemacht: auf die Rolle des Zufalls, ja mehr: auf die Zufälligkeit und Unberechenbarkeit des Lebens und seiner Produktionen. Der Hasard des Lebens, das „Spiel in der Notwendigkeit" 6 , lassen erkennen, daß hier zwar ästhetische Momente eine starke Bedeutung haben, Akt und Prozeß aber gänzlich ungerichtet, zwecklos sind. Nimmt Heidegger diesen Ansatz Nietzsches eigentlich auf? Hätte man hier nicht einen Punkt, an dem sich Heideggers Uberinterpretation Nietzsches konkret aufzeigen ließe? Die Ausführungen über den besinnlichen Heidegger erinnern mich doch sehr an Schopenhauer und seine Lehre, den Willen zu überwinden — eine Assoziation, die mich, wenn wir vom späten Heidegger reden, auch gleich auf den späten Horkheimer bringt. Ist es nicht so, daß der „besinnliche" Heidegger einen Schopenhauerischen Ton anschlägt? Freilich tut er dies nicht — wie Horkheimer — in der weltstädtischen Sprache Frankfurts, sondern eher in seiner Schwarzwälder Tonart. Gründer: Gegenrede, Herr Baier! Der besinnliche Heidegger hat nichts von Schopenhauers pessimistischem Auflösungswunsch. Müller-Lauter: Ihre Frage, Herr Baier, ob man nicht Heidegger vorhalten könne, er vernachlässige die Bedeutung von Zufall und Unberechenbarkeit in Nietzsches Denken, ist wohl zunächst im Blick auf Nietzsche selbst zu beantworten. Wenn Nietzsche von Zufall spricht, so richtet er sich gegen jede Vorstellung von Teleologie. Was als zufällig erscheint, hat gleichwohl den Charakter der strengen Notwendigkeit. Die Notwendigkeit aller Geschehensabläufe wird von ihm aus dem Gegeneinander von stärkerem und schwächerem Machtwillen abgeleitet. Damit wendet er sich gegen die mechanistische Weltdeutung, deren relative ,Richtigkeit' er gleichwohl anerkennt. Auch die Rede vom Spiel in der Notwendigkeit muß man meiner Auffassung nach antiteleologisch verstehen. Ich sehe vorerst nicht, daß Heideggers Nietzsche-Deutung unter dem von Ihnen genannten Aspekt grundlegend kritisiert werden könnte. 5
6
Der Briefwechsel Ernst Jünger/Martin Heidegger befindet sich jetzt — noch unpubliziert — im Literaturarchiv Marbach sowie mindestens zu einem Teil, wie ich von einem Besuch bei Ernst Jünger weiß, noch in dessen Hand. Vgl. Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969, 62.
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Was Ernst Jünger angeht, so kann ich mich bloß auf wechselseitige Festschrift-Beiträge von Jünger und Heidegger beziehen, in denen Nietzsche insofern eine Rolle spielt, als Heidegger sich einig sein kann mit Jünger, daß jeder, der heute denkt, dies in Nietzsches Licht und Schatten tut. 7 Einer eigenen Erörterung wert — zunächst aber wohl einer quellenmäßigen Nachforschung bedürftig - , ist, was Herr Baier zum Verhältnis .Arbeiter', Ubermensch, letzter Mensch und damit auch zum „Willen zur Macht" angedeutet hat. Dies unter die ,abfallenden' Kategorien von Maschinenbauer und Maschinisten zu bringen, wäre — im Blick auf Heidegger und Jünger — vermutlich recht aufschlußreich, auch im Hinblick auf beider Nietzscherezeption. Aber von dem nicht Veröffentlichten, auf das Sie zu sprechen kamen, kenne ich nichts. Mit Herrn Gründer stimme ich darin überein, daß man in den späten Heidegger nichts Schopenhauerisches eintragen darf, so verwandt manche Äußerungen von Heidegger und dem ja immer (mehr oder weniger) schopenhauerisch gestimmt gewesenen späten Horkheimer klingen. Salaquarda: Wir haben jetzt sieben Wortmeldungen, und wenn ich das recht sehe, könnten wir die im Rahmen der verfügbaren Zeit gerade noch berücksichtigen, wenn Herr Müller-Lauter noch Zeit für ein Schlußwort bekommen soll. Macht im Sinne von Nietzsche ist in der Durchformung des Kleinen, nicht im Großen, vor allem wirksam. Vielleicht können auch wir versuchen, knappere Durchführungen zu finden. Fischer: Ich fasse mich kurz. Herr Müller-Lauter, würden Sie etwas mehr über Heideggers Begriff des besinnlichen Denkens sagen können. Ist darin Sinnlichkeit ein Denken, das mit den Sinnen zusammenkommt, eine Leib-Seele-Integrierung? Welche Bedeutung hätte das für die Skizzierung des Ubermenschen? Gründer-. Wann taucht Nietzsche bei Heidegger auf? In Sein und Zeit bekanntermaßen, aber wie steht es um Heideggers frühere Ausführungen? Kommt da Nietzsche vor? Meine weitere Frage ist, was lernt eigentlich Heidegger von Nietzsche, welche Funktion hat Nietzsche für Heideggers eigenen Denkweg? Bis einschließlich Sein und Zeit und darüberhinaus hat sein ganzes Werk bis zum Lebensende die prägende Prätention auf Strenge und durchaus den Charakter des Szientifischen. Also anfangs Scholastik, dazu gibt es bisher kaum etwas 7
Vgl. M. Heidegger, Zur Seinsfrage, 1956, 18f.
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Gedrucktes, dann methodische Überlegungen, die im weitesten Sinne zum Neukantianismus gehören und in denen mehr Emil Lask wirksam ist, als man gemeinhin annimmt. Dann ganz streng die philologische Schulsprache in Sein und Zeit mit einem merkwürdigen Deutsch-Aristotelismus. Die damals so befremdenden Bildungen in Sein und Zeit sind ja Aristoteles-Nachahmungen auf Deutsch. Und nun tauchen Hölderlin und Nietzsche auf, das ist mündlich und teilweise schriftlich von Pöggeler und Biemel überliefert. Beide, Hölderlin und Nietzsche, haben mindestens die eine Funktion, daß sie ihn von der Verpflichtung auf eine wissenschaftlich anerkannte Sprache befreien und dadurch die Diktion seiner späteren Werke freisetzen. Aber Hölderlin und Nietzsche haben darüberhinaus eine verschiedene Funktion für ihn. Hölderlin kennzeichnet für Heidegger die Leere der Welt, das Fehlen der Götter; wir kommen für Gott zu spät und für die Herkunft der Götter zu früh, heißt es dann im Zusammenhang der Hölderlin-Interpretationen. Und dann folgt eben Nietzsche. Was heißt das? Hölderlin steht für die Leerstelle, die das Ausbleiben der Eschatologie gelassen hat. Da ist das vorbereitet, worauf man wartet, auf die Schickung des Seins. Nietzsche dient Heidegger zur Artikulation dessen, was der Mensch, solange die Götter fehlen, in diesen Leerraum hineinstellt. Dann kommt die Entwicklung, von der Sie, Herr Müller-Lauter, gesprochen haben. Aber dazu gehört auch noch, daß Heideggers Hölderlin-Interpretation sich in anderen Dichter-Interpretationen fortsetzt. Im Geviert, worin der Sterbliche bloß eines ist, ist dieser Sterbliche ja nun gerade nicht der Ubermensch, sondern der endliche Mensch. Ist das alles etwas Vorläufig-Unverbindliches? So, wie er einen Augenblick darauf gesetzt hatte, daß vielleicht das Fehlen der Götter ersetzt werden könne durch die „staatgründende Tat" 8 ? Er hat recht bald gemerkt, daß das nicht geht. Um eine Anekdote beizusteuern: Schadewaldt hat ihn nach seinem Rücktritt als Rektor der Freiburger Universität in der Straßenbahn begrüßt: „ N a , Herr Heidegger, zurück aus Syrakus?" Andererseits sollte Nietzsche dann für Heidegger in den Kriegsjahren als Mittel der Kritik an der modernen Welt nicht bloß schlechthin, sondern auch an der rasenden Entwicklung des Krieges, d.h. als ein subversives Philosophieren oder als eine Form von innerer Emigration dienen. Dieses ist von Leuten, die in den vierziger Jahren im Kriege bei ihm studiert haben, so empfunden worden. Kaulbach: Das paßt jetzt überhaupt nicht zu dem, was Herr Gründer gesagt hat. Ich habe den Eindruck, gewisse beiläufige Formulierungen von Herrn Müller-Lauter bestätigen mich da, daß bei Heidegger die Wendung 8
Vgl. M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks (1935), in: Holzwege, Frankfurt a . M . 1963.
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Wille zum Willen zugleich auch impliziert die Wendung Wille zur Vernunft, und zwar Vernunft in einer neuen, in einer bestimmten Interpretation. Es scheint mir wichtig zu sein, die Physiognomie dieses Gesichtes von Vernunft, die Heidegger hier vorschwebt, zu charakterisieren. Neben dem Willen zum Willen kommen solche Züge vor wie Selbstverantwortung, Selbstbezogenheit des vernünftigen Sichbefehlens und dergleichen. Interessant ist, daß Heidegger sogar von der Gerechtigkeit spricht; geschieht dies unter dem Aspekt vor der Vernunft? Dies erinnert auch an das Bild, das sich von Kant her im Blick auf die Vernunft ergibt. Das ist deshalb besonders wichtig, weil offenbar auch für Heidegger die Metaphysik eigentlich die Statthalterin dieser Vernunft ist. Die Kritik an der Metaphysik ist zugleich die Kritik an der in diesem Sinne interpretierten Vernunft. Heideggers Interpretation führt vielleicht von daher zum Bilde des Technokraten, des Vergewaltigers der Natur. Ich werde in meinem Vortrag darüber reden. Ich ärgere mich immer darüber, daß Heidegger z.B. nicht bedenkt, daß Nietzsches Vernunftbegriff sich nicht auf das Berechnen beschränkt. Nietzsche versucht ja gerade die Vernunft auszuweiten. Bei Nietzsche hat die Vernunft auch dionysische Züge, und was stünde der Berechenbarkeit stärker entgegen als Dionysos? Heidegger hat für das Dionysische überhaupt keinen Sinn, vielleicht, weil er überhaupt nichts Musikalisches an sich hat. Das ist meines Erachtens ein ganz großes Manko seiner Nietzsche-Interpretation. Auch beim späten Nietzsche spielt Dionysos eine große Rolle. Es wäre übrigens eine lohnenswerte Aufgabe, einmal die Entwicklung des DionysosBildes bei Nietzsche im Laufe seines Denkens von Anfang an bis zum Ende zu verfolgen. Das wäre freilich eine sehr schwierige Aufgabe . . . Jedenfalls scheint es mir eine Folge von Heideggers Einseitigkeit zu sein, wenn er am Ende dem Verständnis des Ubermenschen nicht die richtige Wendung zu geben vermag, nämlich die dionysische Wendung, die Wendung zum „amor fati". Eine Wendung, die man mit Zarathustra als die Überwindung der Rache durch „amor fati" bezeichnen kann. Montinari: Daß man versucht, über Nietzsche hinaus weiterzudenken, beweist die Fruchtbarkeit seines Denkens. Nur sollte man meines Erachtens Nietzsches eigene Positionen genau beschreiben. Und hier scheint mir die Fixierung Heideggers auf den Ubermenschen im Zusammenhang des ganzen Nachlasses und des ganzen Werkes etwas übertrieben. Sie entspricht nicht dem, was der Ubermensch bei Nietzsche meiner Meinung nach ist. In der Folge der Heidegger'schen Interpretation, das kann ich Ihnen mitteilen, so als Element der Fruchtbarkeit von Heideggers Denken, hat sich in Italien eine ganze Richtung ausgeprägt, die links steht und die die Macht des Politischen auf Grund gerade des Nietzsche-Bildes in den Vorlesungen Heideggers ins
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Spiel bringt. Im Zarathustra ist der Ubermensch ein Gleichnis, über das man wenig sagen kann, außer dem Wenigen, was Nietzsche andeutet. Vor allen Dingen scheint mir dabei der Aspekt sehr wichtig, daß der Ubermensch die Rechtfertigung des Daseins ist. Indem der Ubermensch das „Ja" zum Leben aussprechen kann — und weil er auch dazu „fähig" ist — rechtfertigt er das Dasein. Nun ist aber diese Rechtfertigung des Daseins nicht Nietzsches einziges Experiment, wie das vielfach behauptet wurde, sondern auch zum Beispiel sein Versuch, das Leben durch die Kunst zu rechtfertigen. Ich denke hier an die Meditationen Nietzsches über die Geburt der Tragödie zuletzt in seinen Heften zwischen Winter und Sommer 1888. Ich frage mich, wie sich der Komplex Wille zur Macht zu dieser ästhetischen Rechtfertigung verhält. Und in dieser Konstellation hat eigentlich der Ubermensch wenig Bedeutung. Nietzsche spricht nicht davon. Auf dasselbe scheint mir hinzuweisen die letzte Phase von Nietzsches Philosophie der „Umwertung aller Werte" mit den darauf folgenden Werken. Im Antichrist ist sehr wohl die Rede vom Willen zur Macht, aber nicht vom Ubermenschen, und die nächsten Bücher hat er zwar geplant, aber nicht geschrieben. Wir wissen, daß das letzte von der ewigen Wiederkunft handeln sollte. Rohrmoser: Ich habe eine gewisse Schwierigkeit mit der gesamten Diskussion und eigentlich schon mit dem Referat von Herrn Müller-Lauter. Das Problem ist: Reden wir über Heidegger, oder reden wir über Nietzsche? Herr Müller-Lauter hat in seinem Referat in einer sehr subtilen Weise beide in einen Zusammenhang gebracht und sie auch gleichzeitig voneinander getrennt. Er hat von Gewaltsamkeit und auch von einer subtilen Nähe zwischen Heidegger und Nietzsche gesprochen. Aber ich muß noch einmal die Frage von Herrn Gründer aufnehmen: Was ist eigentlich die Funktion Nietzsches für Heideggers Denken? War denn nicht das das Thema des Referates von Müller-Lauter? Ist die Funktion Nietzsches für Heidegger nicht selber eine strategische? Gehört eigentlich nicht der ganze Umgang Heideggers mit Nietzsche, den er ja selber auf den Begriff gebracht hat, er denke mit Nietzsche, er denke gegen Nietzsche und er denke über Nietzsche hinaus in unsere Erörterung? Die Interpretation müßte dann eigentlich herausstellen, in welchen Punkten Heidegger mit Nietzsche, in welchen Punkten er gegen Nietzsche und in welchen Punkten er über Nietzsche hinausgedacht hat. Um diese drei Hinsichten voneinander zu unterscheiden und zu trennen, ist es natürlich des Schweißes der Edlen wert. Ich werde mich freilich nicht zu dieser Mühe bereit finden. Nun aber zu der Frage der Strategie. Die Bedeutung, die Nietzsche für Heidegger hat, gehört in die Strategie der Verwindung und der Uberwindung der Metaphysik. Die Uminterpretation Nietzsches, die Heidegger vornimmt,
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kann eben nur in seinem seinsgeschichtlichen Kontext überhaupt plausibel gemacht werden. Nietzsche als Vollender der Metaphysik zu interpretieren, halte ich übrigens für baren Unsinn, um auch mal was Provokantes zu sagen. Heidegger muß im Grunde voraussetzen, daß Metaphysik immer schon auf Technik hin angelegt war. Vollendung der Metaphysik bedenkt dann, daß ihr technisches Grundwesen, das von Anfang an in ihr gesteckt hat, herausgekommen ist. Daraufhin kann Heidegger sagen, Nietzsche sei die Vollendung des Nihilismus, und erst dann wird die Konstellation plausibel, die Heidegger mit der Kehre der Technik eigentlich eingeleitet hat. Wobei man ja sehr deutlich sehen muß, daß das, was Herr Müller-Lauter zu der Stellung des Ubermenschen bei Nietzsche gesagt hat, sich ja genau der Wendung zuordnen läßt, die in dieser Kehre der Technik bei Heidegger vollzogen wird, nämlich nicht eigentlich ein Denken gegen die Technik, keine Negation der Technik, keine Verabschiedung der Technik, sondern eigentlich nur der Schritt über das hinaus, was die als Technik interpretierte Metaphysik selber in Anspruch genommen hat, ohne selber noch die Bedingung der Möglichkeit ihrer selbst zu denken. In diesem Zug Heideggers läßt sich — glaube ich — ganz hervorragend das einordnen, was Herr Müller-Lauter über den MutationsWandel des Ubermenschen gesagt hat, der ja (auch) von einer den Atem verschlagenden Beliebigkeit ist, wenn man sich das so anhört: einmal ist der Ubermensch sozusagen Vollstrecker der höchsten Machenschaften, der technischen Weltmanipulationen, dann sinkt er plötzlich zum letzten Menschen herab, und dann plötzlich wird er selber besinnlich. Aber ich erkenne die große Leistung dieses Referates darin, daß zum ersten Mal deutlich wird, wie Nietzsches Lehre vom Ubermenschen seine besondere Bedeutung bei Heidegger im Verhältnis von Kehre und Technik gewinnt. Figl: Ich möchte mit meiner Frage an die Thematik anschließen, die schon Herr Kaulbach aufgeworfen hat, nämlich die Thematik des „Willens zum Willen", die Sie zu Beginn in Ihrem Referat, Herr Müller-Lauter, angesprochen haben. Es geht mir um Ihre Kritik an Heideggers Interpretation der Selbstübermächtigung des Willens. Ich würde wohl zustimmen, daß Nietzsche eine solche Selbstbestätigung des Willens nicht meint. Eine Ziellosigkeit des Willens, der nur sich selbst in seiner Selbigkeit will, wird von Nietzsche als inhaltsleer zurückgewiesen. Und dafür gibt es vor allem im späten Nachlaß Belegstellen, die zeigen, daß der Wille zur.Macht immer ein „Etwas-wollen" und das heißt „Etwas-Konkretes-wollen" ist. Ich erwähne nur eine Stelle, wo es heißt: „es giebt kein ,wollen', sondern nur ein Etwaswollen: man muß nicht das Ziel auslösen aus dem Zustand". 9 Hier ist Heidegger zu kritisieren. Aber könnte man die Gerichtetheit des Willens nun mit 9
Vgl. Nachlaß 1 8 8 7 / 8 8 : K G W VIII 2, 2 9 6 , 11[114].
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Nietzsche nicht anders verstehen? Nämlich als das Wollen der Macht? Das scheint eine Tautologie zu sein, aber es ist ja schon in dem Ausdruck „Willen zur Macht" ein gerichteter Wille angesprochen, daß nämlich die Macht der Inhalt des Wollens ist. Dadurch, daß es aber die Macht ist, kommt es wieder zu einer eigentümlichen „Ungerichtetheit", weil das Machtstreben sowohl den, der mächtig ist, als auch den, der (noch) nicht mächtig ist, bestimmt. Meine Frage ist: ob man nicht in diesem Punkt der Heideggerschen Nietzsche-Interpretation zustimmen kann. Von hierher ergibt sich die weitere Frage im Anschluß an Ihre letzteren Ausführungen, Herr Müller-Lauter, die ich sehr faszinierend finde: Könnte man dann nicht, wenn ein Wille zur Macht zielstrebig ist und Heidegger sich in seinen späten Publikationen von einem solchen Machtwollen und Willen abwendet, zu einem „besinnlichen Denken" hin, dieses nicht ebenfalls als Abschied von einem Machtwollen verstehen, das sich als Wollen in der technisch verwalteten und beherrschten Welt versteht? Das hieße, daß es ein Abschied von einer von solchen Mächten verwalteten Welt wäre. Taureck: Im Anschluß an die Ausführungen von Herrn Rohrmoser möchte ich nur ein Beispiel für eine strategische Verwendung Nietzsches in Heideggers Denken nennen: Die „Kraftmaschine", also der Motor in seinen zahlreichen technisch-physikalischen Varianten, wird von Heidegger als Ausdruck der ewigen Wiederkehr des Gleichen angesehen; die „unendliche" Umdrehung des Motors wird als technische Einlösung des Wiederkunftsgedankens dargestellt. Hier sehe ich ein ähnliches Mißverständnis wie in Heideggers Übernahme von Zarathustras Rede über den „letzten Menschen". Er übersieht die Ironie, die bei Nietzsche hörbar ist, wenn er Zarathustra diese Rede halten läßt. Offenkundig verfehlt scheint mir die Exemplifizierung des Wiederkunftsgedankens an der rotierenden Kraftmaschine aber schon deshalb, weil im Motor etwas historisch völlig Neues auftritt; schon durch den geschichtlichen Auftritt eines zuvor nie Dagewesenen ist der Kreislauf des Immergleichen durchbrochen. Müller-Lauter: Es sind nun noch so viele wesentliche, zugleich aber auch der Sache nach auseinanderstrebende Beiträge zusammengekommen, daß ich Mühe habe, in der knappen Zeit, die mir noch zur Verfügung steht, auf das Wichtigste einzugehen. Ich will versuchen, einen roten Faden durch Ihre Voten zu finden. Daß dabei manches, das der breiteren Ausführung und des weiteren Gesprächs bedürfte, zu kurz kommt, läßt sich nicht vermeiden. Ich beginne mit dem zuletzt Gesagten, mit Herrn Taurecks Kritik an Heideggers These, die Kraftmaschine sei eine Ausformung der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Sie sei jedoch, so habe ich Herrn Taureck verstanden,
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etwas geschichtlich Neues und nichts Wiederkehrendes. Dies ließe sich freilich bestreiten, stellt man sich auf den Standpunkt von Nietzsches kosmologischer Ausdeutung seiner Lehre. Warum soll die Entwicklung zum Maschinenwesen nicht schon unzählige Male stattgefunden haben? Heidegger denkt das Geschehen nicht als unendliches Kreisen, für ihn ist die Wiederkunftslehre — in Verbindung mit der Lehre vom Willen zur Macht — die Vollendung der Geschichte der Metaphysik. Diese Geschichte ist bei Heidegger im Sinne einer ,negativen' Teleologie konstruiert; er versteht sie — jedenfalls in seinen Nietzsche-Vorlesungen — im Hinblick auf den aristotelischen Entwicklungsgedanken. Ich habe mich schon früher gegen die Anbindung von Nietzsches Gedanken an die .höchsten Bestimmungen' der Metaphysik des Aristoteles gewandt 10 und brauche meine Übereinstimmung mit Herrn Rohrmosers Votum, soweit in ihm ein solcherart bestimmtes Entwicklungsschema kritisiert wird, nicht eigens zu betonen. Daß Heideggers Konstruktion eine Fülle von fruchtbaren Interpretationen Nietzschescher Texte zuläßt, muß ich gleichwohl einräumen. Hierin stimme ich mit Löwith überein, wie ich zu Anfang meines Referates ausgeführt habe. Ich gehe noch weiter und sage, daß nicht nur ,das Subtile', sondern auch das Gewaltsame seiner Nietzsche-Deutung sich als fruchtbar erweist, freilich vor allem hinsichtlich des Denkens von Heidegger selbst und nur gelegentlich hinsichtlich Nietzsches. Aber noch einmal zu Herrn Taurecks Einwand zurück. Die Wiederkunft des Gleichen ist für Heidegger nicht die Überzeugung oder die Wahrheit, daß alles, was war, unzählige Male wiederkehrt, sondern bildet das Ende einer ,interpretativen' Entwicklung, welches Ende durch den Gedanken des sinnlosen Insichkreisens des Seienden gekennzeichnet ist. Daher seine Rede vom Rotieren der Maschine als Ausdruck des Gedankens Nietzsches. Freilich bin auch ich, Herr Taureck, mit dem kurzen Hinweis Heideggers nicht zufrieden. Eindrucksvoller sind da die Bemerkungen Walter Benjamins 11 . Benjamin hat sich Gedanken über die eigentümliche Aktualität der Wiederkunftslehre im 19. und 20. Jahrhundert gemacht. Er verweist auf Zyklen ökonomischer Art und vor allem auf die ,unendliche' Reproduzierbarkeit von allem, worin sich — modifiziert — die unendliche Wiederkehr auf zeitgemäße Weise darstellt, eine Weise, von der man derzeit nicht sagen können wird, ob mit ihr nicht ein Letztes und Äußerstes erreicht worden ist, eine Weise, die vielleicht die großen schöpferischen Möglichkeiten des Menschseins endgültig hinter sich gelassen hat.
10 11
W. Müller-Lauter, Nietzsche, a . a . O . , 30ff. S. dazu o. S. 172.
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Wolfgang Müller-Lauter
Vielleicht läßt sich hier ein Wort zu Herrn Kaulbachs Ausführungen anschließen. Ihr Hinweis darauf, das noch näher zu bedenken, was Nietzsche im Laufe seiner eigenen Denkgeschichte unter dem Dionysischen verstanden hat, ist gar nicht wichtig genug zu nehmen. Hier kann ich nur auf Heidegger eingehen und Ihnen bestätigen, daß Heidegger dem Dionysischen nicht zureichend Rechnung trägt. Das zeigt sich z.B. darin, daß er noch 1953 gegen Nietzsche einwendet, dieser habe den Wiederkunftsgedanken dionysisch — und damit metaphysich — gedeutet, womit er dem Wesen der Technik ferngeblieben sei. Ich stimme Ihnen auch darin zu, daß Heideggers Auslassen der , dionysischen Dimension* an den Unzulänglichkeiten seines Verständnisses des Ubermenschen Schuld trägt; meine Bemerkungen zu seiner Interpretation in den Nietzsche-Vorlesungen sollten auch auf dieses Unzulängliche hindeuten. 12 Herr Figl hat den Anfang der Diskussion auf eine interessante Weise weitergeführt. Wille zur Macht ist immer ,etwas' wollen, so hat er zunächst gegen Heidegger eingeräumt. Aber, so argumentiert Figl weiter, ist nicht immer Macht das Gewollte? Ich bin hier selber neugierig darauf, was Herr Gerhardt anschließend zum Thema ,Macht' sagen wird. Mein sehr vorläufiges Wort dazu: In Heideggers ausdrücklicher Abwendung vom Machtwollen, das technisches Herrschaftswollen heraufführt, finde ich Heideggers Versuch legitim, zu einem anderen, besinnlichen Denken zu kommen. Vielleicht liegt hier auch meine Differenz zu Rohrmoser, was ich aber nicht genau weiß. Herr Fischer, hinsichtlich des besinnlichen Denkens kann ich zunächst eine ,prohibitive Charakteristik' geben: Das besinnliche Denken ist nicht anti-technisch, es hat nichts mit Sinnlichkeit etwa gemäß Feuerbach oder auch anderen zu tun. In seinem positiven Sinne liegt: das Sein-lassen als Gelassenheit gegenüber dem Technischen, jenseits von Nein oder Ja zu ihm. Daß dieses besinnliche Denken in das vom Sein Zugeschickte einkehrt, will heißen, die geistige Uberlieferung, die zweitausendjährige Geschichte des abendländischen Denkens soll für ein Künftiges bewahrt bleiben. Um über diese Zukunft ein Wort zu sagen: Die Äußerungen Heideggers weisen da eine erstaunliche Schwankungsbreite auf. So heißt es in einem Vortrag in Messkirch, der Mensch könne nicht schon vergehen, weil er seine Wesensmöglichkeiten noch nicht ausgeschöpft habe. Damit wird einmal mehr ein teleologisches Moment ins Spiel gebracht. Kraft welcher Eigentümlichkeit es das Seinsgeschick vermag, die Menschheit aus all dem, was sie faktisch zu vernichten droht, bewahrend herauszuhalten, bleibt ein Geheimnis. Es gibt aber auch negative Aspekte bei Heidegger, z.B. solche, die an das erinnern, was der späte Horkheimer gesagt hat, an die total verwaltete Welt, auf die zur 12
S. o. S. 160 ff.
Diskussion
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Technik gewordene und zur Erstarrung gelangte Weltwirklichkeit. Es gibt bei Heidegger aber auch den ausdrücklichen Hinweis, wir könnten nicht wissen, was kommen wird. Herr Montinari, ob Nietzsche zuletzt noch den Namen ,Obermensch' nennt oder nicht, scheint mir nur insofern von Bedeutung zu sein, als er diesen seinen Begriff nicht mehr sehr glücklich gefunden haben könnte. Schon das ist natürlich wichtig genug. Aber der Gesetzgeber der Zukunft, der Philosoph der Zukunft, der danach immer wieder auftritt, hat wesentliche Funktionen des ,Übermenschen' übernommen. Er ist kein platonischer Philosophenkönig, seine Verantwortung als Wertesetzer ist unvergleichlich größer, als Piaton sie je zu denken vermocht hat. Zum Schluß noch einige Sätze zu den Voten von Gründer und Rohrmoser, in denen ja mein Vortrag in seiner ganzen Anlage problematisiert wird. Zunächst einmal zu Herrn Rohrmoser. Daß man Heideggers NietzscheInterpretationen unter strategischen Gesichtspunkten sehen könne, muß ich Ihnen schon deshalb zugestehen, weil ich selbst ja Eigentümlichkeiten dieser Strategie herausgestellt habe, z. B. die ,Ausweitung' von Nietzsches Begriffen, um sie für die Metaphysikgeschichte in ihrem ganzen Umfang tauglich zu machen. Es ist aber keine Beliebigkeit, Herr Rohrmoser, mit der Heideggers Verständnis des Ubermenschen sich wandelt. Der Wandel hat durchaus Kontinuität; er läßt sich aus den geschichtlichen Erfahrungen, die Heidegger doch sehr bewußt aufnimmt, und aus seinen Bemühungen verstehen, das Wesen der Technik zu verwinden. Sie haben in bezug auf das Verhältnis Heidegger-Nietzsche eine dreifache Aufgabe genannt. Aber ich muß gestehen, daß ich sie in der säuberlichen Trennung, die Sie vorschlagen, für unlösbar halte. Die Punkte, in denen Heidegger mit Nietzsche zusammengeht, lassen sich schon schwerlich als solche herausdestillieren. In vielen Fällen — ich vereinfache jetzt — ist Heidegger mit Nietzsche einig, kann er ihn zitieren, als spräche er selbst, in anderen Fällen versteht sich Heidegger anders als Nietzsche, selbst wenn er ihn wörtlich heranzieht, in wieder anderen geht er über ihn hinaus, selbst dort, wo er mit ihm verbal übereinstimmt. Aber auch dies alles geht ineinander über; Heftrich hat die Schwierigkeiten ganz massiv aufgezeigt, die hier entstehen. Ich wollte, wie ich zu Anfang gesagt habe, über Heideggers NietzscheDeutung sprechen unter ausdrücklicher Ausklammerung anderer — sehr wichtiger — Fragen wie der, welchen Einfluß ab wann Nietzsche auf Heidegger ausgeübt hat. Das führt mich zu Herrn Gründer. Wie Rohrmoser nach der strategischen Bedeutung fragt, so Gründer nach der Funktion Nietzsches für Heideggers Denken. Mehr als einen Beitrag zu beiden Fragen beanspruche ich nicht vorgelegt zu haben. Die Frage nach dem Verhältnis zu Hölderlin habe ich in meiner Vorbemerkung ausdrücklich ausgeklammert; sie
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Wolfgang Müller-Lauter
würde, in Relation zum Problem des Ubermenschen gesetzt, den Rahmen des Vortrags gesprengt haben. Wie schwierig sie zu beantworten sein dürfte, zeigen schon Pöggelers Andeutungen, auf die ich hingewiesen habe. 13 Herr Gründer hat nach Heideggers Nietzsche-Lektüre vor Sein und Zeit gefragt. Ich kann dazu nur zwei Hinweise geben: erstens auf eine Bemerkung in Heideggers Habilitationsschrift über die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, in der von Nietzsche „unerbittlich herben Denkart und plastischen Darstellungsfähigkeit" — also sehr positiv — die Rede ist 14 , zweitens auf Heideggers Vorwort zum ersten Band der Gesamtausgabe, wo er (1972) die Lektüre der erweiterten Ausgabe des Willens zur Macht an die Spitze der ihn besonders bewegenden Werke in den Jahren zwischen 1910 und 1914 stellt, und zwar vor die Lektüre Kierkegaards und Dostoevskijs und anderer.15 Natürlich konnte und kann ich jezt auf vieles nicht eingehen, was in den Voten von Gründer und Rohrmoser anklingt. Zu bedenken ist: Die Denk-Versuche des späten Heidegger sind vielfältiger, als im allgemeinen zur Kenntnis genommen wird. Für einige ist Nietzsches Einfluß bedeutsam, für andere nicht. Heideggers Versuch, das Eigentümliche des Dinges als Geviert zu denken, steht sicherlich in der Nähe Hölderlins, jedenfalls nicht in der Nietzsches. Nietzsches Philosophie bleibt für Heidegger auch zurück, wenn er das Sein vom Ereignis her in den Blick nimmt, wobei im Ereignis ja die Geschichte nicht nur als Metaphysikgeschichte, sondern auch als Geschichte des Seins verwunden werden soll.
13 14 15
S. o. S. 139, Anm. 18. M. Heidegger, Gesamtausgabe Band 1, 196. A . a . O . , 56.
VOLKER GERHARDT
MACHT UND METAPHYSIK Nietzsches
Machtbegriff
im Wandel der
Interpretation
Im Zentrum der Philosophie Friedrich Nietzsches steht ein Begriff, der die schwersten Gedanken trägt, die größten Widersprüche aushält und die entferntesten Tatsachen verbindet. Er ist in den frühen wie in den späten Schriften präsent und Bestandteil jener Formel, die das Grundmotiv allen Geschehens bezeichnen soll; kein Leser kann an ihm vorbei, kein Interpret kann seine fundamentale Rolle leugnen — und dennoch ist er so gut wie unbeachtet geblieben. Die Rede ist vom Begriff der Macht. Wie eine Insel der Selbstverständlichkeit liegt die Macht in einem Meer von Fragwürdigkeiten. Nietzsche selbst hat keinen Versuch gemacht, Herkunft und Bedeutung des Wortes aufzuhellen. Was er mit dem Begriff der Macht denkt, ist stets nur zu erschließen. Um so mehr Veranlassung für seine Interpreten, dessen historischen und systematischen Implikaten nachzugehen. Aber bis heute ist die Nietzsche-Forschung diese Aufgabe schuldig geblieben. Schon darin liegt eine Aussage über Nietzsche und das ihm folgende Jahrhundert: Die Machtbefangenheit ist so groß, daß man zum Begriff — und damit auch zum Phänomen der Macht — erst gar nicht in philosophische Distanz gelangt. Das Problem des Umgangs mit der Macht, die Debatte über Motive, Instanzen und Kriterien der großen Mächte sind so beherrschend, daß man zur Frage nach ihrem Ursprung gar nicht mehr kommt. Die Präokkupation aller Theorie durch die bedrohlichen Machtmonopole lenkt alle Aufmerksamkeit auf deren Organisation und Kontrolle; was Macht eigentlich bedeutet, scheint dabei immer schon klar; in Zweifel steht lediglich, wie man sich zu ihr verhält. In diesem Gravitationsfeld eines dominanten politisch-praktischen Problems steht nicht nur die Nietzsche-Forschung. Auch die zeitgenössische Philosophie hat das Nachdenken über die Macht den Politologen und Soziologen überlassen. Die Anstöße aus den Grenzbereichen, aus politischer Theorie (z. B. von Hannah Arendt, L. Strauss oder C. Schmitt), soziologischer Anthropologie (H. Plessner, A. Gehlen, H. Schelsky, N. Luhmann)
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Volker Gerhardt
oder Theologie (K. Barth, J . B. Metz, F. Hammer) sind bisher nicht aufgenommen worden. Der philosophische Rang des Begriffes ist so gut wie vergessen. 1 Die Auseinandersetzung mit Nietzsches Denken, insbesondere die Reflexion des von ihm so selbstverständlich ins Zentrum gerückten Machtbegriffs, bietet jedoch eine Chance, diesen Rang und das mit dem Begriff verbundene Problemfeld bewußt zu machen. Es wäre schon viel, wenn es in diesem Beitrag gelänge, die Konturen dieses Feldes sichtbar zu machen. In dieser Absicht greife ich zwei Beispiele der Nietzsche-Interpretation heraus, die dem Machtbegriff die relativ größte Aufmerksamkeit schenken: die ihn beide metaphysisch verstehen, die aber beide — vielleicht eben deshalb — zu völlig entgegengesetzten Resultaten kommen. Im ersten Beispiel aus dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts figuriert Nietzsche als ,Anti-Metaphysiker' (H. Vaihinger). Im zweiten Beispiel, das eigentlich in die Mitte der dreißiger Jahre gehört, aber seine bis heute anhaltende Wirkung erst seit den fünfziger/sechziger Jahren ausübt, wird Nietzsche dagegen als Metaphysiker präsentiert. Damit ist ein Gegensatz exponiert, der die Nietzsche-Forschung bis heute in ihren Bann schlägt. Im fokussierenden Spiegel des Machtbegriffs wird die Historizität dieses Gegensatzes sichtbar. Damit könnte sich die Einsicht festigen, daß man zwischen dem Metaphysiker und dem Anti-Metaphysiker Nietzsche nicht nach Maßgabe einer Alternative zu entscheiden braucht. Freilich soll nicht der Eindruck entstehen, die in den beiden exemplarischen Werkdeutungen referierten Bemerkungen über die Macht seien das einzige, was die Literatur bietet. Hinweise, Erläuterungen und partielle Analysen finden sich in vielen Interpretationen: Die Psychologen unter den Nietzsche-Lesern, Alfred Adler, C . G . Jung und Eduard Spranger, haben der Macht größere Aufmerksamkeit geschenkt; Karl Jaspers und Walter Kaufmann verdanken wir wichtige Aufschlüsse über die werkimmanente Genese des Begriffs — Einsichten, die als gesichert gelten können, neuerdings in den Nietzsche-Studien 2 — wie ich meine — zu Unrecht bestritten worden sind. Wertvolle Einzelbemerkungen finden sich ferner bei Kurt Engelke (zum begriffsgeschichtlichen Horizont der Macht) 3 , bei Joan Stambaugh (zur Phänomenologie von Zeit und Macht) 4 , bei Rudolf Schottländer (in einem 1
2
3 4
Eine neue Qualität der philosophischen Machttheorie muß den verschiedenen Überlegungen M. Foucaults (Sexualität und Wahrheit, Bd 1, Frankfurt 1977, 101 ff.; Dispositive der Macht, Berlin 1978; Mikrophysik der Macht, Berlin 1976) zuerkannt werden. Foucault ist hier auch deshalb zu erwähnen, weil er der Auseinandersetzung mit Nietzsche wesentliche Anregungen verdankt. Mittelman, Willard: The Relation between Nietzsche's Theory of the Will to Power and his Earlier Conception of Power. In: Nietzsche-Studien 9, 1980, 122-141. Engelke, Kurt: Die metaphysischen Grundlagen in Nietzsches Werk. Würzburg 1942. Stambaugh, Joan: Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche. Den Haag 1959.
Macht und Metaphysik
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Vergleich Emerson — Nietzsche) 5 , oder in der aufschlußreichen Dissertation von Malcolm Aitken (über Analogien zwischen Substanz- und Machtbegriff) 6 sowie in der großen Monographie von Friedrich Kaulbach. 7 Zu erwähnen ist auch der — im Ansatz verdienstvolle, in der Lösung freilich abwegige — Versuch Bernhard Taurecks, die Macht dichotomisch von Gewalt und Herrschaft zu trennen und sie in Anlehnung an Hegel so zu substantialisieren, daß ihr schließlich kein Wille mehr gerecht werden kann. 8 — Auf den ersten Blick erscheint diese Aufzählung ganz stattlich; angesichts des Problems und einer Bibliotheken füllenden Nietzsche-Literatur ist sie dagegen dürftig. Charakteristisch für die bisherige Rezeptionsgeschichte ist viel eher der Beitrag Alfred Baeumlers, der mit Emphase fordert, vor jeder Auslegung des „Willens zur Macht" die konstitutiven Begriffe zu untersuchen, selbst aber nur bis zum „Willen" kommt und die „ M a c h t " kommentarlos übergeht. 9 Der erste, der auf die systematische Rolle des Machtbegriffs aufmerksam macht, ist Rudolf Eisler, dem wir das „Wörterbuch der philosophischen Begriffe" (1. Aufl. 1900) verdanken. So wohlwollend er aber Nietzsches „Erkenntnistheorie und Metaphysik" auch prüft, 1 0 in der Wahl des Wortes ,Macht' entdeckt er nichts als einen Fehlgriff: In den naturphilosophischen Zusammenhängen müsse es statt,Macht' stets ,Kraft' heißen, denn Macht bezeichne nur den überlegenen Einsatz großer Kräfte, also eine dominante Organisation von Kräften, die von Nietzsche jedoch nur in Ausnahmefällen gemeint sei. In der Formel vom „Willen zur Macht" sei der Terminus erst recht deplaciert, denn Macht könne stets nur als Mittel, doch nie als Zweck fungieren. Für Eisler ist damit das Urteil über die philosophische Relevanz des Begriffs gesprochen. Einen terminologischen Fehlgriff konstatieren auch die beiden Vertreter der ersten hier zum Exempel erhobenen Position: Raoul Richter und Alfred Fouillee begründen ihre Ablehnung allerdings mit dem Hinweis auf das Gegenteil: mit der metaphysischen Hypothek des Begriffs. Beide sehen in der Wortwahl eine Inkonsequenz, mit der Nietzsche seiner Metaphysikkritik zuwiderhandele. In seinen vielbeachteten Leipziger Nietzsche-Vorlesungen, die er seit 1902 in mehrfacher Wiederholung gehalten und in vier Auflagen publiziert hat 1 1 , moniert Raoul Richter den „rein formalen Charakter" des 5
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Schottländer, Rudolf: Zum Problem des Machtwillens. In: Philosophische Rundschau 6, 1958, 285-290. Aitken, Frederick Malcolm: The Concept of Power in Nietzsche's Ethics. Diss. Missouri 1970. Kaulbach, Friedrich: Nietzsches Idee einer Experimental-Philosophie. Wien/Köln 1981. Taureck, Bernhard: Macht, und nicht Gewalt. In: Nietzsche-Studien, 5, 1976, 29—54. Baeumler, Alfred: Nietzsche. Der Philosoph und Politiker. Leipzig 1931. Eisler, Rudolf: Nietzsche's Erkenntnistheorie und Metaphysik. Leipzig 1902. Richter, Raoul: Friedrich Nietzsche. Sein Leben und sein Werk. 15 Vorlesungen. Leipzig 1903 (von der zweiten Auflage: 16 Vorlesungen; 4. Aufl. 1922).
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Volker Gerhardt
Machtbegriffs. Nietzsche hätte im einzelnen spezifizieren müssen, welche Formen, welche Phänomene der Macht er eigentlich meint. Um darzutun, wie man konkreter über die Macht hätte sprechen können, unterscheidet Richter zwischen „äußerer", „innerer" und „zeitlicher" Macht — eine Einteilung, die sich bei näherer Prüfung als wenig durchdacht erweist und die der Autor selbst in späteren Auflagen fallen läßt. An dem Einwand, der Machtbegriff sei „rein formal" — was soviel heißen soll wie: gänzlich abstrakt, völlig inhaltsleer — hält Richter dagegen fest und knüpft daran seinen Beweis vom „Grundwiderspruch" in Nietzsches Lehre. Dieser Beweis nimmt folgenden Gang: Macht, so argumentiert er, stehe als „oberster Wert" an der Spitze von Nietzsches Wertlehre, denn letztlich wolle alles Macht und nichts als Macht. 12 Da die Wertlehre im Ansatz „voluntaristisch-individualistisch" sei, der Wille zur Macht jedoch einen „allgemeingültigen und seienden Wert" für alles Lebendige verbindlich mache, gerate die „logisch-metaphysische" Machtlehre nur dann nicht in einen Widerspruch zur Wertlehre, wenn die Macht in sich differenziert sei. Da sich aber eine solche Differenzierung nicht finde, sei der „Grundwiderspruch" in Nietzsches Lehre nicht auszuräumen. An die Seite der individualistischen, „biologischen" Ethik trete unvermittelt eine „monadologische Machtmetaphysik", die unverbindlich bleibe und nur einen „schrankenlosen Anarchismus der Affekte" lehre. Somit breche Nietzsches Denken seit dem „Zarathustra" in zwei nicht kompatible Teile auseinander. Dies ist die Position der ersten Auflage von 1903. In den folgenden Ausgaben gibt Richter seiner Kritik eine andere Pointe: Nun liefert ihm die Abstraktheit der Macht den Grund für die Behauptung des Gegenteils: ein Widerspruch lasse sich an einem so inhaltsleeren Begriff überhaupt nicht festmachen. Die Opposition zwischen individuell bestimmtem Willen und dem zu keiner Bestimmung tauglichen Machtziel bestehe nur „scheinbar"; in Wahrheit nämlich sei die Macht mit allem vereinbar. Mit dieser Wendung ist Nietzsches Denken vom Odium eines „Grundwiderspruchs" befreit, freilich um den Preis einer restlosen Liquidation des Machtbegriffs. Hatte er im Beweisgang der ersten Auflage noch eine Schlüsselfunktion, so ist ihm nun alle Deutungskraft genommen. Der Interpret glaubt damit, Nietzsche treuer anzuhängen als dieser sich selbst. Ihm erscheint die Abstraktheit des Begriffs als nichts Geringeres als das Spezifikum metaphysischer Spekulation. Der bloß formale Topos liege außerhalb des empirischen Zusammenhangs, weit oben auf den Höhen einer „Machtmetaphysik". Wenn Nietzsche sich tatsächlich dahin verstiegen habe, so könne er nicht wollen, daß der Interpret ihm folge. Die metaphysische Begründung des 12
Richter 1903, 271 f.
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Begriffes habe er bekanntlich verweigert, also dürfe man sie auch von seinen Kritikern nicht verlangen. 13 In Richters Monographie tritt an die Stelle der Aufzählung äußerer, innerer und zeitlicher Formen der Macht von der zweiten Auflage an eine Fußnote. In ihr wird auf die Arbeit eines zu Beginn des Jahrhunderts in Frankreich vielgelesenen Autors, auf Alfred Fouillée, verwiesen. 14 Fouillée, ein Weggefährte des früh verstorbenen Jean Marie Guyau, an dessen „Esquisse d'une Moral sans Obligation ni Sanction" (1884) Nietzsche sein Konzept des Willens zur Macht geschärft hatte, setzt sich im Vorfeld der Ausarbeitung seiner Moral der „Kraftideen" (idées-forces) mit Nietzsche auseinander. Die Kraftideen Fouillées sollen die Einheit von Denken und Handeln bezeichnen. Ohne die Vermittlung eines dritten soll in ihnen der Gedanke zur Tat werden. Die Ablehnung finaler Ursachen, die dynamische Einheit von körperlichen und geistigen Äußerungen, die prononcierte Wendung gegen alles das, was als überlieferte Ethik angesehen wird, sowie die Akzentuierung von Wagnis und Kampf lassen sich mit Gedanken Nietzsches verbinden und erklären das Interesse des französischen Autors gerade an dessen Machtbegriff. Doch bei seiner Prüfung kommt Fouillée schnell zu einem negativen Resultat: Die Vieldeutigkeit, so heißt es bündig, mache den Begriff der Macht für eine philosophische Theorie der Moral ganz und gar wertlos. 15 Von der Unterscheidung zwischen Lebens- und Machtwille ausgehend, wird die Vergrößerungs- und Erweiterungstendenz der Macht als das Wesentliche angesehen. Ihr Wesen liegt in der dynamischen Ausrichtung auf Mehr. Die Macht wird mit dem Unendlichen, Unerreichbaren gleichgesetzt, in ihr wirkt ein „soif de l'infini", der keine Befriedigung, keine Ruhe findet. Somit erscheint die Macht als reiner Progreß ins Grenzenlose und an sich selbst als nichts. Nietzsche hätte an die Stelle der Macht auch das Unendliche setzen können. Ein Wille zum Unendlichen aber sei in keinem empirischen Rahmen erfahrbar. Wenn überhaupt, dann komme man nur in einer metaphysischen Abhandlung auf die hier beanspruchte Ebene der Wirklichkeit. N u r in dem von Fouillée für obsolet gehaltenen Stil eines Piaton, Malebranche, Spinoza oder Schopenhauer lasse sich über den Machtwillen spekulieren. Daß mit diesem Verdikt auch tatsächlich die Macht selbst gemeint ist, wird in folgender These deutlich: „Le mot puissance, Macht, n'est d'ailleurs pas plus clair que celui de vouloir-vivre, puisqu'il reste toujours à dire ce qu'on peut, ce qu'on veut, ce qu'on doit." 1 6 Die wesentliche Aussage bleibe also bei diesem Begriff immer offen. Das Vermögen (pouvoir) sei, wie auch die Mög13 14 15 16
Richter 1917, 325. Fouillée, Alfred: Nietzsche et l'Immoralisme. Paris 1902. Fouillée 1902, 35. Fouillée 1902, 35.
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lichkeit (possibilité) und eben auch die Macht, eine bloße Abstraktion, die unabhängig von der eben dadurch bestimmten Realität gar nichts aussage. Ohne Angabe des „Wozu" eines Vermögen, einer Fähigkeit oder Möglichkeit bleibe sie gänzlich inhaltsleer. Entsprechendes wird für die Macht behauptet. Sie gebe es überhaupt nur, sofern sie Macht zu „Etwas" ist. Dies habe Nietzsche eigentlich selbst erkennen müssen, wenn er „Macht" sowohl einem kontemplativen Weisen wie auch einem Gewaltmenschen zuschreibe; mit dem undifferenzierten Bezug des einen Wortes auf beide Extreme gestehe er letztlich ein, daß die Macht für sich genommen alles und nichts bedeute. In Fouillées Augen jedenfalls ist die Vokabel „Macht" nicht mehr als ein Relikt einer „alchimie métaphysique". 17 Sie bezeichnet ein in sich gänzlich unbestimmtes Wirkungsvermögen; ihre Beziehung zur Wirklichkeit ist beliebig und infolgedessen wissenschaftlich völlig uninteressant. „Le mot Macht n'a pas le privilège de porter en lui toute lumière: il est encore plus métaphysique que les puissances' cousiniennes, car il désigne une simple potentialité' qui ne vaut que par ce qui l'actualiser." 18 Damit ist deutlicher ausgesprochen, was Raoul Richter mit dem Hinweis auf den „bloß formalen" Charakter des Machtbegriffs sagen will. Die größere Klarheit hat nicht zuletzt ihren Grund darin, daß der Franzose auf die in seiner Sprache stärker hervortretende Nähe zwischen Macht (puissance), Vermögen (pouvoir) und Möglichkeit (potentialité) rekurriert und so die Weite des Bedeutungsfeldes bewußtmacht. Der Blick geht über die Phänomene politischer und psychologischer Valenz hinaus auf die Ebene ontologischer Verwendung. So ist die Aussicht auf eine terminologische Tradition freigegeben, die Fouillée freilich nur erwähnt, um sich von ihr zu distanzieren. Für ihn — wie auch für Richter — ist der Begriff durch seine Nähe zur Uberlieferung diskreditiert. Wenn die Interpreten sich nicht desselben Fehlers schuldigmachen wollen, den sie bei ihrem Autor rügen, dann dürfen sie die Macht nicht länger im Zentrum seiner Philosophie belassen. So weit das erste Beispiel. Die Reserve gegenüber der Metaphysik und die Insistenz auf einer nicht spekulativen, streng auf das Faktische gerichteten Denkhaltung werden hier so offenkundig, weil sie von Nietzsche hergeleitet und zugleich gegen ihn gewendet werden. Der Philosoph hält der Prüfung am selbsterrichteten Maßstab nicht stand. Die Stellung, die er der Macht verleiht, setzt ihn in Widerspruch zu seinen eigenen Absichten. Ausgerechnet der so vordergründig, so äußerlich politisch erscheinende Begriff der Macht lenkt die
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Fouillée 1902, 35. Fouillée 1902, 158 („Cousiniennes" bezieht sich auf den Vertreter des französischen Idealismus, Victor Cousin (1792—1867), gegen dessen geistmetaphysischen Eklektizismus Guyau und Fouillée sich wenden.)
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Kritiker auf einen „Grundwiderspruch" als Folge des Rückfalls in die alten, längst überwunden geglaubten Fehler der Philosophie. In der Strenge ihres Urteils folgen Richter und Fouillée keineswegs bloß Nietzsches eigenem Programm. Die Distanz gegenüber der Metaphysik gehört überhaupt zum Selbstverständnis der Philosophie nach dem Ende des Hegelianismus. Nietzsche ist in dieser Hinsicht alles andere als unzeitgemäß, so sehr er sich auch vom Szientismus abgrenzt und die Distanz zum vermeintlichen Kronzeugen der antimetaphysischen Einstellung, zu Kant, bewahrt. Auch die frühe Rezeption seiner Schriften steht noch ganz im Zeichen der Abkehr. Erst im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts setzt allmählich ein Wandel ein, der paradoxerweise — aber für den aufmerksamen Leser keineswegs überraschend — wichtige Impulse auch aus Nietzsches Denkeinsatz erhält. Die Ausweitung der Phänomenologie auf das Phänomen des Lebens selbst, die aus dem Verständnis des Symbolischen neu einsetzende Begegnung mit Kult und religiösem Erleben, die dramatische Entdeckung der menschlichen Existenz durch eine im Schatten des großen Krieges denkende Philosophie oder — in strikt akademischer Perspektive — der Übergang vom Neukantianismus zur metaphysischen Kant-Interpretation rehabilitieren die große Theorie und überlassen das Ideal der Reduktion aller Erkenntnis auf das Faktische den Einzelwissenschaften. Nietzsche, durchaus ein Anwalt des Ideals, fungiert gleichwohl als Mentor dieser Wende — ein wirkungsgeschichtliches Phänomen, das sich nur verstehen läßt, wenn man Nietzsche nicht an seinen programmatischen Erklärungen mißt, sondern an dem, was er gedacht hat. Die Nietzsche-Forschung folgt der philosophiegeschichtlichen Kehre mit einer wohl durch die politischen Verhältnisse in Deutschland verursachten Verzögerung. Die großen Interpretationen von Löwith (1935), Jaspers (1936), Heidegger (1950; 1961) und Kaufmann (1950) dokumentieren die heuristische Kraft des Neuansatzes, zugleich aber auch die Nähe zwischen dem Philosophen und seinen Interpreten. Nietzsche wirkt wie ein Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts. Die veränderte Interpretationslage läßt nun das am Machtbegriff interessant erscheinen, was dreißig, vierzig Jahre früher als Beleg für seine Verfehltheit gelten konnte: Die Macht kann nun als großer Begriff der metaphysischen Tradition gewertet werden. Heidegger spricht dies als erster aus. Seiner Deutung entnehme ich das zweite Beispiel. Macht steht in einem offenkundigen Zusammenhang mit Bewegung. Machterwerb setzt Mobilität voraus und Machtbesitz ist instabil. Bei Nietzsche ist Weniges stärker betont als die Verbindung von Krieg, Kampf und Uberwindung, von Wechsel, Werden und Macht. Gleichwohl ist die Macht ein Element der Ruhe in der Bewegung. Die Ruhe der Macht, ihre
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Wirkung durch bloßes Dasein, der in ihr mögliche Ausgleich von Gegensätzen, ihre Funktion als Bedingung, Folge und Ende einer Bewegung . . . dies alles gibt zu denken. Während bei Fouillée einzig die Ruhelosigkeit betont ist, dominiert bei Heidegger die bloße Gegenwart einer Stillstand gebietenden Macht. Für ihn ist Macht erst, „wo die Einfachheit der Ruhe waltet". 1 9 Die Macht „schaut weit umher, ist somit alles andere, nur nicht eine blind drängende Kraft". 20 So gefaßt, kommt in dem Begriff Nietzsches höchste Anstrengung zum Ausdruck, „dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen" 21 — damit aber zugleich Nietzsches Verfallenheit an die Tradition der Metaphysik. Wer die Heidegger leitende Absicht kennt, bedarf nach diesem Hinweis keiner weiteren Aufklärung über die Schlüsselfunktion der Macht in seinem Interpretationskonzept. Freilich stützt sich Heideggers Urteil nicht auf den Machtbegriff allein; der „Wille zur Macht", ja Nietzsches spätes Denken insgesamt ist immer mitgemeint. Während andere Interpreten aber Macht und Machtwillen gar nicht unterscheiden, unterwirft Heidegger sie separater Betrachtung, um sie dann allerdings in ihrer konstitutiven Verbindung vorzustellen. Sein Vorgehen kann als exemplarisch dafür angesehen werden, daß die gesonderte Betrachtung das Phänomen keineswegs aus seiner wesensmäßigen Beziehung herauslösen muß; das Reden über die Macht braucht nicht vergessen zu lassen, daß sie nicht nur stets in konkreten Relationen vorkommt, sondern ohne strukturelle Bindungen an Träger, Mittel oder Ziele gar nicht existiert. Damit kann Heideggers Deutung als Korrektur des gravierendsten Fehlers der frühen Interpreten verstanden werden: des Fehlers der Isolierung und Verselbständigung. Seine Explikation der Verbindung von Wille und Macht ist wie eine Antwort an Richter und Fouillée zu lesen: „Die Macht . . . ist nicht das Ziel, zu dem der Wille als einem Außenbereich seiner erst hin will. Der Wille strebt nicht nach Macht, sondern west bereits und nur im Wesensbezirk der Macht. Gleichwohl ist der Wille nicht einfach Macht, und die Macht ist nicht einfach Wille. Statt dessen gilt dies: Das Wesen der Macht ist Wille zur Macht, und das Wesen des Willens ist Wille zur Macht."22 Die Akzentuierung dieser gegenseitigen Verschränkung von Macht und Wille erlaubt es dann auch, von der Macht selbst zu sprechen, so etwa in dem tiefen, von Heidegger gar nicht ausgeschöpften Diktum von der Macht als der „Wirklichkeit des Willens" 2 3 ; so aber auch in zahlreichen einzelnen Bemerkungen, die wesentliche Züge von Nietzsches Begriff kenntlich machen. 19 20 21 22 23
Heidegger, Heidegger, Heidegger, Heidegger, Heidegger,
Martin: Nietzsche. 2 Bde, Pfullingen 1961, I, 161. II, 645. I, 656 (vgl. Nietzsche, Nachlaß 1887/88, K G W VIII 3, 104). II, 265. I, 76.
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Die Betonung der Ruhe der Macht hindert z. B. nicht daran, ihre immanente Steigerungsqualität hervorzuheben. „Macht machtet nur, indem sie Herr wird über die je erreichte Machtstufe." 24 Folglich ist auch ihr die Bewegung wesentlich, die Unruhe in einem jeweils erreichten Stand und das Streben nach Erweiterung. Die Bewegung ist allerdings auf sie selbst gerichtet. Die Steigerung hat ihr Maß und Ziel in sich: „Zum Wesen der Macht gehört die Ubermächtigung ihrer selbst." 25 Die reflexive Form dieser Steigerung läßt sich am ehesten in der paradoxen Wendung erkennen, die Macht sei „ständig unterwegs ,zu' ihr selbst". 26 Mit der aktiven Selbstbezüglichkeit der Macht begründet Heidegger die Ubersetzung der Formel „Wille zur Macht" in die von der „Macht zur Macht". Wenn er diesen Ausdruck sogleich in einer weiteren Wendung mit „Ermächtigung zur Ubermächtigung" erläutert, dann wird deutlich, daß dem Wort „Macht" ein zweifacher Sinn gegeben wird: 27 — Macht als „ U b e r m ä c h t i g u n g " hat die Steigerungsqualität der Macht und legt ihren ständig über sich selbst hinaustreibenden Anspruch nach einem Mehr an Macht frei. In der Ubermächtigung steckt die Uberwindung, Überwältigung, das Unter-sich-lassen eines anderen; darin ist auch die Niederwerfung eines Widerstandes, das gewaltsame Durchsetzen im Kampf oder in der Überrumpelung enthalten. Freilich auch die H e r r schaft über Menschen, die Indienstnahme von Werkzeugen oder die Bestimmung von Aufgaben. — Macht als „ E r m ä c h t i g u n g " gibt dem Vollzug der Steigerung die Legitimation und nimmt der Formel als ganzer die Gewalttätigkeit. E r mächtigung ist das Wesen des Willens als Befehl. Im Befehl wird die Macht zur Ubermächtigung ermächtigt; von ihm kommen A n s t o ß und Berechtigung zum U b e r s c h r i t t . 2 8 In ihm liegt der „ G r u n d " zum Geh o r c h e n ; er vermittelt die immanente Legitimität der Macht.
In der Macht sind damit die Prozeßqualität des Uberschreitens und der rechtgebende Grund des Prozesses vereint. Bewegtes und Bewegendes sind in ihr verbunden. Wo bei Nietzsche die terminologischen Grenzen gegenüber der Gewalt wie auch gegenüber der Kraft nicht deutlich gezogen sind, kommt auch die „überhöhende Erhöhung" dieser „Ermächtigung zur Ubermächtigung" nicht klar zum Ausdruck. Aus dem komplexen Selbstbezug der Macht zieht nun Heidegger eine bedeutsame Konsequenz: Die sich überhöhende, sich steigernde, sich zu sich selbst bewegende Macht ist im Grunde nur eine einzige. Nietzsche meine nicht 24 25 26 27 28
Heidegger, II, 266. Heidegger, II, 266. Heidegger, II, 266. Heidegger, II, 266f. Vgl. dazu auch: Heidegger, Martin: Nietzsches Wort ,Gott ist tot'. In: Holzwege. Frankfurt 1950, "1963, 1 9 3 - 2 4 7 , 216f.
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„ e i n e " Macht „unter und neben" anderen Mächten, sondern ausschließlich „jene erst zu nennende Eine, die über alle anderen hinaus machtet, die entsprechend der Rede vom ,höchsten Repräsentanten' höchste Macht i s t " . 2 9 Die Macht ist ohne Gegenüber. Sie ist in aller Steigerung und Ermächtigung stets bei sich selbst. Alle Bewegung läuft in sie zurück, und so kann sie mitten in der Prozessualität des Werdens zugleich auch die „Einfachheit der R u h e " ausstrahlen. Dieser Ausgleich aller Bewegung in der selbstbezüglichen Steigerung der inneren Fülle der Macht wird die „Beständigung des Werdens in die Anwesenheit" genannt 3 0 und so zum Beleg für die bekannte These, die auch Nietzsche einen Glauben an die „Beständigkeit des Anwesens" des Seins attestiert, mit dem er in Wahrheit die Seinsvergessenheit der europäischen Metaphysik perpetuiert. An seinem Machtgedanken zeigt sich, daß er alles Werden letztlich doch in seiner Beständigkeit und damit als das Bleibende versteht. Nietzsche erscheint so als der letzte Deuter im Schatten des Seienden — und Heidegger als sein Überwinden In engem Zusammenhang mit diesem philosophiegeschichtlichen Verdikt stehen die Hinweise auf die metaphysische Herkunft des Machtbegriffs. U m den Bann der Uberlieferung zu demonstrieren, betont Heidegger wie kein anderer vor ihm die Kontinuität der terminologischen Tradition. Zwar habe Nietzsche von dieser Tradition nichts gewußt; allein seine Wortwahl führe ihn in den innersten Kreis des abendländischen Denkens. 3 1 Die drei Stammbegriffe der Aristotelischen Physik, dynamis, energeia und entelecheia, die im 9. Buch der Metaphysik als oberste Bestimmungen des Seins auftreten, verweisen gleichermaßen auf die in der Macht vereinigten Momente: auf das wirkungsbereite Vermögen (dynamis), auf das „Am-Werk-sein der K r a f t " (energeia) und auf das „Zu-sich-selbst-kommen" in der „geschlossenen Einfachkeit des Wesens" (entelecheia). 32 Diese indirekte Verschmelzung der drei Stammbegriffe schätzt Heidegger höher als die langen Mühen der Schulphilosophie, „energeia" und „ d y n a m i s " unter den Titeln „ a c t u s " und „potentia" zu denken. Auf mindestens ebenso wichtige Beziehungen zum Begriff der Potenz bei Spinoza oder Leibniz geht er nicht ein. Auch seinen Hinweis auf Aristoteles führt er nicht aus. Dafür aber sucht er zu umschreiben, worin das Neue der von Nietzsche betriebenen „Sicherung des Seienden" zu sehen ist. Dies geschieht in einer barocken Paraphrase des Wortes „ M a c h t " , wobei Heidegger, hier übrigens ebenso irrend wie Nietzsche, eine etymologische Verwandtschaft zwischen „ M a c h t " und „machen" unterstellt: Im „Willen zur Macht" werde der neuzeitliche Ansatz, das Seiende in seiner „ausmachbaren 29 30 31 32
Heidegger, Heidegger, Heidegger, Heidegger,
I, I, I, I,
645. 648 f. 76. 77.
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Machbarkeit" vorzustellen, in einer „totalen Mobilmachung" des Lebens überboten. Aus der „Vormacht" der „Machsamkeit" werde nun die bloße „Machenschaft". Der „Wille zur Macht" signalisiere die „losgelassene Machenschaft" der Moderne, die sich im wahllosen Einsatz von Weltanschauungen und in der unbeschränkten Ausweitung aller wissenschaftlichen Machtmittel äußert: „Jedes Machbare bestätigt jedes Gemächte, alles Gemächte schreit nach Machbarkeit, alles Handeln und Denken hat sich darein verlegt, Machbares auszumachen. Uberall und stets drängt die Machenschaft, sich selbst in den Schein der maßvollen lenkenden Ordnung verhüllend, das Seiende in den einzigen Rang und läßt das Sein vergessen." 33 Diese letzte Passage macht anschaulich, wie virtuos Heidegger Metaphysikhistorie und Epochendiagnose in einander spielen läßt: Ist die Macht das eine Mal mit den höchsten Bestimmungsgründen des Seienden vergleichbar, ist sie das andere Mal identisch mit der entfesselten wissenschaftlichtechnischen Potenz der industriellen Gesellschaft. Von der ontologischen Rolle schlüpft sie in die kulturkritisch-soziologische und umgekehrt. Aber so fließend die Ubergänge auch sind, so wenig sind sie tatsächlich vermittelt. Die gesellschaftlichen Funktionen und Strukturen der Macht, wie sie in den Hinweisen auf ihre Kampfbedingungen, auf den Zusammenhang von Befehl und Gehorsam oder auch in der Akzentuierung der Verkoppelung mit dem (menschlichen) Willen zumindest angesprochen sind, treten in den Hintergrund, wenn es um die Demonstration der metaphysischen Verstrickung Nietzsches geht. Dann kommt die eine, die übergroße, nur auf sich selbst bezogene Macht ins Spiel, die zwar noch anthropomorphe Züge trägt, die aber längst dem menschlichen Geschehen enthoben und absolut geworden ist. Freilich heißt das Absolute nun nicht mehr Gott. Als „höchster Repräsentant des Lebens" fungiert nun, nach Nietzsches Wort, die „Gerechtigkeit", die als stärkster Ausdruck des Herrschaftsanspruchs des Menschen ausgelegt wird. 3 4 Damit scheint der Mensch an die Stelle des einen Gottes getreten. Doch seine irdische Macht wird gleichwohl nach dem Modell der Allmacht konzipiert, wird als ein in sich zurücklaufender Steigerungsprozeß gedeutet und läßt sich so sinnfällig als letzte Konsequenz theologisch orientierter Metaphysik dartun. Es ist aber schon nach Heideggers eigenen Ausführungen überaus fraglich, ob der Machtbegriff bei Nietzsche ein theomorphes Monopol bezeichnen kann. Die Konzeption der einen Macht unterstellt ein ausschließliches Bei-sichselbst-sein der organisierenden Kraft, die aber schon mit sich im Widerspruch stehen müßte, um gegenüber sich selbst als Befehlendes und Gehorchendes, als Ermächtigendes und Ausführendes zu fungieren. Viel näher liegt es, den Ur33 34
Heidegger, II, 27. Heidegger, II, 20.
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sprung der Machterfahrung im menschlichen Subjekt zu suchen, das in der Spannung innerer und äußerer Gegensätze lebt und Macht immer nur in Relation zu anderer Macht erfährt. Hier liegt mit Sicherheit auch Nietzsches Ansatzpunkt, der nicht als Theologe oder Metaphysiker auf die Macht gestoßen ist, sondern als Psychologe und Kritiker der Kultur. Von dieser Wurzel läßt Heideggers Deutung nichts erkennen. Damit ist ein Einwand nur angedeutet. Er wiederum soll lediglich andeuten, daß gerade der Machtbegriff die Einordnung Nietzsches in die Geschichte der europäischen Seinsvergessenheit problematisch werden läßt. Mehr möchte ich über mein zweites Beispiel nicht sagen. Die Extreme, in denen die Nietzsche-Interpretation das Verhältnis von Macht und Metaphysik bestimmt, sind umrissen. Wer die Macht, aus Gewohnheit oder aus theoriegeleiteter Uberzeugung, der politisch-gesellschaftlichen Sphäre zurechnet, der wird zunächst erstaunt sein, mit welcher Selbstverständlichkeit ihr Begriff in beiden Interpretationsvarianten der Metaphysik zugerechnet wird. Zweifellos ist es der Verwendungszusammenhang — hier insbesondere die Funktion des Machtwillens als eines letzten Faktums — , der diese Auffassung nahelegt. Im „Willen zur Macht" wird dem Begriff eine Rolle zugewiesen, die nach bisherigem Verständnis den ersten Ursachen, den letzten Prinzipien vorbehalten bleibt. Was aber diese Lozierung der Macht philosophisch bedeutet — aus der Perspektive Nietzsches, angesichts der Macht und für das Verständnis der Metaphysik — ist das Problem, mit dem in den beiden Beispielen so unterschiedlich umgegangen wird. Richter und Fouillée behandeln den Machtbegriff wie einen Fremdkörper, den es aus Nietzsches Denken zu eliminieren gilt. Allein die vermeintliche Abstraktionshöhe ist ihnen Anlaß genug, entweder einen Grundwiderspruch in der gesamten Lehre oder aber die gänzliche Belanglosigkeit eines zentralen Begriffs zu diagnostizieren. Für Heidegger dagegen liefert der Terminus „Macht" einen Grund mehr, Nietzsches Bindung an die Uberlieferung zu exponieren. Wenn wir richtig gelesen haben, bildet die „Macht" sogar den entscheidenden Brückenkopf für den Ubergang zur Aristotelischen Metaphysik. Mit dem Blick des Phänomenologen legt er einige Wesenszüge der Macht (ihren Doppelcharakter in Ruhe und Bewegung, ihre Steigerungsqualität, die Bindung an die Wirklichkeit des Willens und damit an ihr immanentes Legitimationspotential) frei ; er benennt auch, obzwar mehr durch Umschreibung als durch begriffliche Analyse, ihre Verknüpfung mit dem Handlungsvollzug des Menschen, und gibt durch die Parallele zu dynamis, energeia und entelecheia der Vermutung Raum, in der „Macht" seien Wirklichkeit und Möglichkeit in ihrer lebendigen Einheit gedacht. Das alles bündelt er zu der These von der einen Macht, unter deren Titel Nietzsche — wie vor ihm Piaton,
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Descartes oder Hegel — das Sein als Seiendes verfügbar zu machen sucht. Es sieht so aus, als läge die Differenz zwischen Nietzsche und der älteren Metaphysik allein darin, daß die nach dem Modell göttlicher Allmacht konzipierte Macht über das Seiende nicht dem Gott, sondern einschränkungslos dem Menschen anheimgestellt ist. So ist es Heidegger möglich, in Nietzsche sowohl den Vollender der antiken wie auch der neuzeitlichen Metaphysik namhaft zu machen. Als Denker der Macht erscheint Nietzsche gleichermaßen als konservativ und modern: Die systematischen Implikate des Begriffs erlauben seine Zurechnung zu den Anfängen der Metaphysik; die politischen Konnotationen machen die Nähe zum wissenschaftlich-technischen Herrschaftsanspruch des Menschen plausibel. So ist es möglich, daß Heideggers Nietzsche die Seinsvergessenheit der alten Theorie und der modernen Praxis in einem Akt entlarvt und überbietet. Im Akt des Willens zur Macht wird der gemeinsame Irrtum des alten und des neuen Denkens — der Glaube an die Wahrheit und an das Sein des Seienden — bloßgestellt; gleichzeitig verfällt er in eben diesen Fehler, weil nunmehr die „Macht" es ist, die das Sein auf das Beständige und Gegebene reduziert. Die Bürde der „Macht" ist schwer in dieser Interpretation. Aber auch dort, wo sie sich eher in luftige Abstraktionshöhen verflüchtigt, bei Richter und Fouillée, ist ihre Bedeutung groß. In beiden Fällen ist sie es, die Nietzsche zum Metaphysiker werden läßt. So groß aber die Beweislast des Begriffs in beiden Interpretationen auch ist, so stark er einerseits mit Nietzsche und andererseits mit der Metaphysik verbunden wird: Der Charakter dieser Doppelbeziehung bleibt weitgehend ungeklärt. Warum spricht Nietzsche von der „Macht" und nicht von „Kraft", „ T a t " oder „Geist"? Warum „Macht" und nicht mehr, wie noch bei Schopenhauer, „Leben"? Was nimmt der philosophische Begriff der Macht von den alltäglichen Machterfahrungen in sich auf? Was läßt er vom Umgang mit der Macht und den Mächtigen erkennen? Was geht von der Macht der Eltern, der Institutionen und Organisationen, von der Macht des Wissens, des starken Willens odes des überlegenen Talents in ihn ein — und zwar sowohl bei Nietzsche wie in der Metaphysik? Heideggers Paraphrasen berühren und erhellen einige dieser Phänomene, finden aber in der entscheidenden Auslegung keine Beachtung. Strenggenommen erfahren wird daraus nur, daß eine über die Macht vermittelte Analogie zwischen Nietzsches spätem Werk und überlieferten metaphysischen Positionen besteht. Offen bleibt, wie Nietzsche, ausgerechnet Nietzsche, der Künstler, Psychologe und Moralist, zu dem — auch damals schon diskreditierten — Begriff der Macht kommt, und warum er, auch angesichts drohender Mißverständnisse, 35 auf ihm beharrt. Offen bleibt 35
Vgl. dazu die erste Besprechung von „Jenseits von Gut und Böse" von Josef V. Widmann, Nietzsche's gefährliches Buch. In: Der Bund, 16./17. 9. 1888 (abgedruckt in: C. P. Janz, Friedrich Nietzsche. 3. Bd, München 1979, 257-264.
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vor allem die Struktur der Beziehung zwischen Macht und Metaphysik. Freilich beruht ein Teil dieser Unklarheit auf der sich immer wieder neu stellenden Frage nach der Metaphysik. Das kann aber nur Veranlassung sein, zunächst einmal und entschiedener als bisher nach der Macht zu fragen. Erst danach wäre zu erörtern, wie Macht und Metaphysik zueinander stehen; wie sich die Macht in diesen großen Kontext historisch wie systematisch einläßt, aber auch: was von der überlieferten Metaphysik tatsächlich bleibt, wenn in ihr die Macht als elementarer Begriff fungiert. - Dies sind Fragen, die uns Nietzsche aufgibt. Die bisherige Nietzsche-Forschung erlaubt uns nicht, sie zu beantworten; doch sie ermöglicht es, sie präziser zu stellen und — das sollten die Interpretationsbeispiele illustrieren — ihre Reichweite für die Einschätzung von Nietzsches Philosophie als ganzer zu erkennen. So sehr ich hoffe, durch die Präsentation dieses in der Nietzsche-Forschung bis heute nicht geschlichteten Gegensatzes schon einiges über die Struktur und den Zusammenhang von Macht und Metaphysik mitgesagt zu haben, möchte ich doch nicht einfach mit dem Hinweis auf eine offene Frage schließen. In drei kursorischen Bemerkungen zum Machtbegriff soll das durch die beiden Deutungsextreme abgesteckte Feld prägnanter und vor allem Nietzsches Rolle darin plastischer werden. Erstens: Der Terminus der Macht spielt eine Rolle in Nietzsches ganzem Denken und gewinnt nicht erst in der Formel vom Willen zur Macht Gestalt. Noch vor der Suche nach einem durchgängigen Motiv für alles Geschehen erweist sich Nietzsche als differenzierter Phänomenologe der Macht. Auf die Kontinuität des Machtdenkens in Nietzsches Entwicklung hat vor allem Kaufmann aufmerksam gemacht; seine Charakterisierung der reifen Lehre als „philosophy of power" hat aber einen tieferen Sinn als Kaufmann erkennen läßt. Der enge Zusammenhang von Kampf und Macht, von schöpferischer Leistung und Machtbewußtsein, das Machtbewußtsein als Klammer um die Erfahrung von Wirkung und Ursache sowie als Horizont des Zeiterlebens, weisen schon früh auf historisch-soziale und psychologische Einsichten hin, die vom späteren Hauptbegriff nicht zu trennen sind. Unberücksichtigt sind bisher Nietzsches Einblicke in das korrelative Gleichgewicht von physischer Stärke und sozialer Anerkennung; erst aus der Wechselwirkung sich gegenseitig einschätzender Kontrahenten, und nicht aus dem Auftrumpfen bloßer Kraft, geht das Recht hervor. Macht ist sowohl im Innen- wie im Außenaspekt ein Verhältnis von Kräften. Ihre Einheit wird in Analogie zu einem kommandierenden Willen konzipiert, ist also auf Handlungsakte bezogen, tritt in Wirkungen hervor, die wiederum nur an überwundenen Widerständen abzulesen sind. Im Machtgefühl spiegeln sich die inneren und äußeren Wirkungen der Macht. Es läßt auch erkennen, wie sehr die Macht sich selbst genügen kann, indem sie nur auftritt, sich in Glanz und Pracht darstellt und sich bereits
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in der vermuteten Einflußnahme stärkt. In der Macht wird das Mögliche als gegenwärtig erlebt. Der Mächtige scheint über Zukunft zu verfügen, dem Ohnmächtigen ist sie genommen. - Die Beschäftigung mit der griechischen Geschichte, insbesondere mit Thukydides, und die psychologische Ausleuchtung des Machtgefühls lassen Nietzsche schon in „Menschliches, Allzumenschliches" zu einem Machtverständnis gelangen, das er sowohl von dem Burckhardts wie auch von dem Wagners abgrenzen kann. Zweitens: Nietzsche artikuliert eine Machterfahrung, die nicht am Stereotyp einer Machtbildung, etwa des Machtmonopols, abgelesen ist. Sie ist auch nicht auf politische Vorgänge beschränkt. Der alltagssprachliche Verwendungsreichtum kommt bei ihm voll zum Ausdruck. Ursprünglich gewiß auf den gesellschaftlichen Bereich bezogen, ist das Wort auf alle Phänomene übertragbar, die Wirkungen zeitigen oder Wirkungen erwarten lassen. So kann Nietzsche von der Macht der Natur, der Götter, der Musik oder der Person Wagners sprechen. Die psychische und soziale Konnotation des Wortes geht dabei nicht verloren; der mechanische Prozeß erscheint in solcher Rede beseelt, der lebendige verstehbar und das individuelle, das persönliche Geschehen stellt sich als meßbar dar, meßbar zumindest in sozialen Größen. In Nietzsches Entwicklung beobachten wir die Genese einer neuen Kategorie zur Erfassung der Wirklichkeit als eines lebendigen Geschehens. Macht benennt die Wirkungen in ihrem Charakter als Einwirkungen oder als Auswirkungen, sie wertet sie in ihrem Einfluß auf den Menschen oder in ihrer Steuerung durch ihn. Strenggenommen bezeichnet sie nur die Erwartung dieser Einwirkungen oder Auswirkungen. In ihr ist implizit der notwendig menschliche Ausgangspunkt des Erlebens immer schon mitreflektiert; doch es ist weder ein isolierter Rezipient noch ein transzendentaler Konstrukteur unterstellt, sondern ein mit und gegen andere handelndes menschliches Wesen, wahrgenommen in einer psychologisch-soziologischen Doppelperspektive, die Innen- und Außenaspekt des Geschehens integriert. Die elementare Kategorie „Macht" begreift die Wirklichkeit als dynamischen Erwartungszusammenhang von Auswirkungen und Einwirkungen, in deren Schnittpunkten sich der Mensch findet — selbst eine Macht unter Mächten. Die kategoriale Leistung der Macht abstrahiert nicht von den bei Nietzsche hervortretenden Besonderheiten des Phänomens. Hervorzuheben sind der konstitutive Bezug einer Macht auf andere Mächte und der dabei hervortretende agonale Charakter der Macht. Sie ist notwendig bezogen auf widerstreitende und stützende Kräfte. Krieg, Kampf und Wettstreit sind ihre Existenz- und Wachstumsbedingungen. Die Stabilität, die sie verheißt, die Ruhe, die sie, was Heidegger übersieht, stets nur temporär gewährt, sind Ausdruck eines Gleichgewichts. Auch große Macht ist bei Nietzsche nicht auf Dauer gestellt. Ohne Widersacher kommt keine Macht zur Größe. Und wäre
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sie nur von Ohnmächtigen umgeben, so würden ihr aus diesen die gefährlichsten Gegner erstehen. Nietzsche hat wie kein anderer vor ihm die Genese der Macht aus der Ohnmacht freigelegt. Der Strukturaufbau der Macht folgt dem Muster kämpfender Parteien: Definiert durch Kampfbedingungen und Kampfziel, gewinnen sie Kontur erst an Stärke, Geschicklichkeit und Auftreten der anderen; sie verfügen über ein beherrschbares, in Verstellung und Maske bewußt eingesetztes Außen sowie über ein komplementäres, kontrollierendes, steuerndes Innen; die Verständlichkeit ihrer Bewegungen resultiert aus der impliziten Intentionalität, aus dem inhärenten Willen. Es läßt sich zeigen, daß in dieser Verbindung von Macht und Wille, in welcher der Wille das zwingend zu unterstellende Steuer der Macht und die Macht die Wirklichkeit des Willens darstellen, das Problem der Willensfreiheit noch gar nicht berührt ist. Auch von einer teleologischen Ausrichtung braucht auf dieser Ebene nicht die Rede zu sein. Die Macht bedarf nur eines Spielraums der Bewegung, den sie den äußeren Bedingungen entsprechend durch den aus dem Machtverlangen folgenden Aktionsdruck füllt. „Macht" — das ist Nietzsches Terminus für die „lebendige Kraft", ein gegenüber Leibniz und Kant durch historische und psychologische Einsichten bereicherter und durch die tragische Ansicht des Lebens eingefärbter Begriff. Er ist erst dort am Platz, wo der „Sieg" über die bloße Kraft gefeiert werden kann. Der „Grad der Vernunft in der Kraft" entscheidet, ob von Macht gesprochen werden kann. 3 6 Drittens: Nietzsche entwickelt seinen Machtbegriff nahezu unabhängig von überlieferten philosophischen oder politischen Konzepten. Eine Ausnahme bildet eigentlich nur Jakob Burckhardt, dessen Drei-Potenzen-Lehre (Staat, Religion, Kultur) bei Nietzsche Spuren hinterläßt. Seine Befreiung von dem berühmten, meist allerdings falsch verstandenen Diktum Burckhardts, demzufolge die Macht „an sich böse" sei, 37 markiert die gewonnene Selbständigkeit in dieser und in moralkritischer Hinsicht. Eine Einlaßstelle für andere Einflüsse bietet ferner Nietzsches Lust an der Provokation der Moralprediger, Bildungsphilister und der öffentlichen Meinung überhaupt. In der Verletzung gehüteter Tabus hat der Machtbegriff im 19. Jahrhundert bereits eine Tradition. Wer aufdecken wollte, daß die Welt nicht von Idealen oder von guten Absichten bestimmt wird, sondern daß Egoismus und materieller Vorteil alles regieren, der setzte die Macht als Triebkraft gegen den Geist. In der seit der Aufklärung umsichgreifenden Ideologiekritik ist die Macht ein bevorzugter 36 37
M 548. Burckhardt, Jakob: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Gesamtausgabe Bd 7, Berlin u. Leipzig 1929, 20ff. (Von den drei Potenzen: Staat, Religion, Kultur). — Burckhardts Ausspruch über die „an sich böse" Macht (ebd. 25) bezieht sich nur auf die neuzeitlichen Machtphänomene in der Folge der Verabsolutierung der Staatsautorität, nicht auf die Macht überhaupt.
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Reduktionsbegriff. Nietzsche fand ihn so in zahlreichen Texten, vor allem bei Stendhal, den er intensiv las, als er die Formel vom Willen zur Macht entwickelte. 3 8 In seinem Einsatz der Formel ist die Attitüde der entlarvenden Psychologie unübersehbar. Herkunft und Verwendung geben der „ M a c h t " einen dezidiert anti-metaphysischen Impuls. Andere Einflüsse des 19. Jahrhunderts, insbesondere der Kraftlehre Robert Mayers oder die dynamische Atomistik Roger Boscovichs, die pragmatistische Machtemphase Ralph Waldo Emersons oder die Abgrenzung von Gewalt und Macht bei dem Basler Kollegen Johann Jacob Bachofen, wirken gewiß auf Nietzsche und machen den Bedeutungsreichtum anschaulich. Nietzsches Begriff präformieren sie jedoch nicht; er entwickelt die Macht aus der Logik seines eigenen Denkens. Gleichwohl dürfte es für die Urteilsbildung über Nietzsches Machtkonzept von Belang sein, den historischen Spuren des Begriffs nachzugehen. Beispiele kann ich hier nicht geben; aber ich kann versichern, daß Thukydides anthropomorphe Machtlogik, Piatons Begriff des Vermögens und Aristoteles Bewegungsbegriff, daß die Einheit von Macht und Wille im christlichen Gottesverständnis, die Umwertungsleistung der Macht bei Machiavelli und Luther sowie die Legitimationskraft der Macht im neuzeitlichen Denken — besonders bei Bodin, Hobbes und Spinoza — erhellende Schlaglichter auf Nietzsches Lehre werfen. Sie dürften auch zeigen, wie viele Probleme der großen philosophischen Tradition im Begriff der Macht zusammenschießen. Mit Nietzsches großen Themen, mit seinem Versuch, das Werden zu denken, mit seiner Suche nach Bedingungen und Zielen des Handelns, sind diese Probleme durchaus eng verbunden. Es ist daher sehr gut möglich, daß Nietzsche im Problemzusammenhang der Metaphysik verbleibt. Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß er hier mit einer neuen Lösung experimentiert, die aus den alten Oppositionen von Ewigkeit und Augenblick, von Sein und Erscheinung, von Vernunft und Sinnlichkeit herausführen. Es spricht vieles dafür, Nietzsches philosophische Anstrengung, dem Leben einen Wert abzugewinnen, dem Dasein einen in diesem selbst erfüllbaren Sinn zu geben, der Metaphysik zuzurechnen. Diese Metaphysik wäre aber nicht mehr identisch mit der, die es vor ihm gab. Wenn wir Nietzsche der metaphysischen Tradition zurechnen, dann hat das nicht nur Folgen für das Urteil über sein Werk, sondern ebenso für unser Verständnis von Metaphysik. Gehört er ihr zu, dann hat er sie auch verändert. Nach diesem neuen Verständnis von Metaphysik wäre zu fragen.
38
Vgl. Andler, Charles: Nietzsche. Sa vie et sa pensee. 1920, 6. Aufl. Paris 1958, Bd. I, 158ff.
Diskussion Abel: Ihre aufschlußreichen Ausführungen zu Nietzsches Machtbegriff, Herr Gerhardt, schließen gut an die im Vortrag von Herrn Müller-Lauter verhandelten Fragestellungen an. In beiden Referaten ist die Argumentation wie ein Weberschiffchen zwischen „Wille" und „Macht" hin- und hergeschossen. Vielleicht gelingt es uns nun auch in der Diskussion, an die vorausliegende Debatte anzuknüpfen. Leider steht uns zur Diskussion des Verhältnisses von „Macht und Metaphysik" nur noch eine knappe halbe Stunde zur Verfügung. Ich möchte daher nur andeuten, welche Schwerpunkte mir ins Auge fallen: Erstens die im Referat ausdrücklich übernommene Themafrage unserer Tagung nach der Rezeptionsgeschichte. „Aufnahme" Nietzsches und „Auseinandersetzung" mit ihm werden an einem zunächst partiell erscheinenden Problem vorgeführt, um sich dann aber als für die Nietzsche-Deutung insgesamt entscheidend zu erweisen. Zweitens wäre der in den Ausführungen steckende systematische Aspekt der Untersuchung des Machtbegriffs anzusprechen. Hier könnte man z. B. kritisch fragen, ob nicht die Zusammenjochung von „Wille" und „Macht" im „Willen zur Macht", den ich persönlich mit Bindestrich als „Wille-zur-Macht" schreibe, durch diese Deutung auseinander gerissen wird. Und drittens ist die Frage aufgeworfen, wie die Machtproblematik eigentlich im Zusammenhang von Nietzsches Entwicklung zu beurteilen ist. Im Referat wird die Rolle der Macht in Nietzsches ganzem Denken betont. Müßte man demgegenüber aber nicht darauf bestehen, daß Nietzsche zu Beginn der achtziger Jahre neue Problemzusammenhänge erkennt, die in eine weitergespannte philosophische Tradition und zu einem neuen Begriffsverständnis führen, zu einem Verständnis, das Nietzsche eben im „Willen zur Macht" auszudrücken sucht? — Zur Anregung der Diskussion müssen diese Andeutungen genügen. Salaquarda: Ich würde gerne viel dazu sagen, muß mich aber auf weniges beschränken. Im wesentlichen stimme ich dem Vortrag zu. Nur die negative Einschätzung hinsichtlich der Bedeutung bisheriger Ansätze für die Erhellung des Problembereichs der Macht teile ich nicht ganz. Ich finde es gut, daß Sie neben Raoul Richter gerade Fouillée ausgewählt haben, um die ältere Interpretation zu illustrieren. Fouillée ist vor anderen Interpreten durch seine enge Verbindung zu dem im Vortrag erwähnten Jean Marie Guyau 1 1
Zu J. M. Guyau vgl. die entsprechende Anmerkung zum Vortrag.
Diskussion
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ausgezeichnet. Wie wir aus Nietzsches Randglossen zu Guyaus Esquisse d'une morale sans obligation ni sanction wissen, hat er dieses Werk mit Begeisterung gelesen und alle jene Positionen markiert, die er durch die Lehre vom Willen zur Macht überwinden wollte. Für Nietzsche war die teleologische Position, die Guyau übrigens mit Schopenhauer teilte, ein produktives Ärgernis. Ihm gegenüber beruft er sich auf seinen „Spinozismus", womit er eben die anti-teleologische Anlage des Machtwillens zum Ausdruck bringen will. Fouillée, der Schwiegervater Guyaus, führt dessen Grundgedanken nunmehr als Nietzsche-Interpret weiter. Das ist eine interessante Konstellation. Ich stimme auch völlig mit Ihnen, Herr Gerhardt, überein, daß Kaufmann in der Aufhellung der Entwicklungsgeschichte der Macht bei Nietzsche Wesentliches geleistet hat. Kaufmann hat gezeigt, daß zunächst der Machtwille gleichrangig neben anderen Motivkomplexen, z.B. der Furcht, steht. Dann aber rückt der Machtwille immer mehr ins Zentrum und wird — im Ubergang von der Fröhlichen Wissenschaft zum Zarathustra — zum letztlich alle anderen Strebungen fundierenden Motiv. Für uns ist es ja heute relativ selbstverständlich, daß wir etwa ein solches Phänomen wie Mutterliebe nicht mehr einfach als solches hinnehmen, sondern fragen, ob sich darin nicht ein verstecktes Streben nach Herrschaft äußert. Hier machen wir Gebrauch von einer Einsicht, die wir Nietzsche — und natürlich auch Freud — verdanken. Kaufmann hat eben diesen Zusammenhang zwischen entlarvender Psychologie und der Lehre vom Willen zur Macht genetisch und systematisch herausgearbeitet. Besonderen Nachdruck möchte ich darauf legen, daß wir ein angemessenes Verständnis des Machtbegriffs bei Nietzsche nur in der Wendung vom Willen zur Macht finden. Insofern stimme ich mit den drei abschließenden Punkten des Vortrags überein. Um den Machtbegriff überhaupt erschließen zu können, muß man erst einmal ein gewisses Grundverständnis des „Willens zur Macht" haben. Ich habe das meinerseits in der Interpretation von Müller-Lauter gefunden. Ich glaube, daß man weder mit Heideggers Verständnis vom Willen zur Macht noch mit älteren Auffassungen Nietzsches Konzeption der Macht systematisch adäquat erfassen kann. Erst dort, wo gezeigt wird: Ein Wille zur Macht kommt gar nicht vor; wo immer ich suche, finde ich nur das Spiel der Willen zur Macht; wo immer ich einen konkreten Willen zur Macht vorfinde, ist er schon in sich geeinte Vielheit; erst dort, wo ich erkenne, daß es nicht den Willen zur Macht, sondern stets nur die Willen zur Macht gibt, finde ich einen adäquaten Zugang zu Nietzsches Machtbegriff. Macht ist für Nietzsche die Fähigkeit zur zeitweiligen Einigung. Wille zur Macht bezeichnet die Art, in der alles Wirkliche ist, nämlich als dynamisch geeinte Vielheit.
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Rohrmoser: Dieses konstruktive Referat schließt glücklich an die Diskussion an, die wir heute morgen geführt haben. Ich möchte vom Schlußsatz des Vortrags ausgehen. Der Horizont der Überlegungen war ja die Alternative: Ist Nietzsche Metaphysiker oder Antimetaphysiker? Die Schlußthese besagt: Jawohl, er ist ein Metaphysiker, aber er betreibt eine Art von Metaphysik, die es vorher nicht gegeben hat. Das Referat hat ja hinreichend Argumente für die Dringlichkeit der Frage nach Nietzsches Stellung zur Metaphysik beigebracht. Es wird deutlich, daß insbesondere der Wille zur Macht etwas mit dem Verhältnis Nietzsches zur Metaphysik zu tun hat. Und in dem Zusammenhang ist es außerordentlich wichtig, daß Herr Gerhardt noch einmal darauf aufmerksam gemacht hat, wie früh der Begriff der Macht bei Nietzsche auftaucht und auf den „Willen zur Macht" vorausweist, noch ehe der Terminus im strengen Sinn entwickelt ist. Damit treten dann auch die Verbindungen hervor, die den „Willen zur Macht" mit dem neuzeitlichen Naturbegriff und mit der neuzeitlichen Konstitutionsthematik der Gesellschaft verknüpfen. Auf diese Weise erscheint der Wille zur Macht geradezu als ein gesellschaftskonstituierender Begriff, der mit dem ganzen Arsenal der entlarvenden Psychologie und der modernen Kulturkritik im Zusammenhang steht. Er hat gar nichts Mysterienhaftes, gar nichts Anrüchiges, sieht man ihn nur vor diesem Hintergrund. Er markiert zweifellos eine Stufe der vorangetriebenen Dialektik der Aufklärung. Der Wille zur Macht wird an dem Punkt aktuell, an dem die Aufklärung sich gegen ihre eigenen Prämissen und Voraussetzungen zu wenden beginnt. Wird nun dieser Wille zur Macht zu Ende gedacht, so wie es Nietzsche getan hat, dann führt das in der Tat zur Destruktion aller Grundannahmen der traditionellen Metaphysik, der Metaphysik der alten Welt. Freilich muß das gerade auch in den komplexen historischen Beziehungen, insbesondere zu Hobbes und Spinoza, im einzelnen gezeigt werden. Hat man dies getan, dann taucht die entscheidende Frage auf: Was tritt eigentlich an die Stelle der alten Metaphysik, die sich in Nietzsche selbst aufgehoben hat? Und welche Probleme bleiben? Ist die Metaphysik nunmehr hinfällig geworden? Liegt jetzt die Aufgabe in der Organisation des Chaos, wie Nietzsche es genannt hat? Allein diese letzte Frage führt schon auf die zentrale Rolle des Machtbegriffs. Eine andere Frage ist: Welches ist nun eigentlich das Kriterium für die Entscheidung der Grundfrage Nietzsches: Was sind die bisherigen Werte wert? Vielleicht läßt sich an Ziel und Struktur dieser Frage die Eigenart dessen ablesen, was als neue Form der Metaphysik bezeichnet worden ist. Taureck: Ich bin von Herrn Gerhardt zitiert und etwas abgewertet worden. Mir liegt es fern zu sagen, daß diese Abwertung aus einem in ihm wirksamen Willen zur Macht zu verstehen ist. Meine Kritik wäre denn auch
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nur ein Ausdruck des agonalen Willens zur Macht. Was auch immer die Formulierung „Wille zur Macht" bedeutet: es erscheint darin stets die Macht — aber nur als das, was angestrebt, nicht jedoch erreicht wird. Dies ist der Unterschied zu dem Machtbegriff der Metaphysik vor Kant. So unterscheiden sich Gott und Mensch bei Thomas von Aquin nicht durch den Besitz von Willen und Intellekt, sondern durch die infinita potentia = Gott. (S.T. lq 7a3; l q 25a 5) Das Fundament dieses Machtbegriffes hat im übrigen Plotin gelegt, der in VI,8 cap. 20 u. 21 das Hen als „Hervorgebrachthaben seiner selbst" aufgrund seiner „Energeia"-, „Dynamis"- oder „Arche"-charakters bestimmt. Wie dieses Anstreben der Macht näher zu fassen ist, das ist eben kontrovers und auch nach dem Referat von Herrn Gerhardt noch nicht entschieden. Vielleicht ist sie unentscheidbar . . . Viel wichtiger erscheint mir die auch von Herrn Rohrmoser angeschnittene Frage nach der metaphysischen Rolle der Macht in der philosophischen Tradition. Welche Modifikationen sind hier im Gang der Entwicklung zu erkennen? Inwieweit ist der Machtbegriff gerade auch durch die Kontroverse bestimmt, die Piaton über die Stellung der Macht mit den Sophisten geführt hat? Ist es nicht so, daß der Altphilologe Nietzsche, der mit der griechischen Philosophie nun bestimmt vertraut war, wieder an den großen Gegensatz zwischen den Sophisten einerseits und der Vorsokratik, Piaton und Aristoteles andererseits anknüpft? Bei Nietzsche wiederholt sich doch der Gegensatz zwischen der öuvamg als (¿eycc ö i v a a ö a i , wie sie im Gorgias von den Sophisten vertreten wird (Gorgias 466e3), und der ötivajug, als der vom vovg, von der Erkenntniskraft ausgeübten Verfügung gemäß dem äyaööv. Nietzsche greift die sophistische Position wieder auf und bricht aus der sokratisch-platonischen Tradition des Machtbegriffes aus, in der etwas nur kraft der Erkenntnis mächtig ist. Die Frage ist nun, ob Herr Gerhardt, wenn er Thukydides und Piaton in einem Atemzug nennt, diesen Gegensatz berücksichtigt. Zwischen Piaton und den Sophisten fällt eine welthistorische Entscheidung für einen Machtbegriff, der dann später z.B. noch wiederkehrt im Gottesbeweis Descartes': Gott als höchste Macht, Macht meint hier die Einschließung der Existenz im Wesen. Nietzsche macht diese Entscheidung nicht mit; er stellt sich auf die Seite der Sophisten und tritt damit den Weg der Metaphysik gar nicht erst an. Zugleich aber muß man sagen, daß er ihn fortsetzt, und zwar fortsetzt in der Periode der Auflösung der Metaphysik im Versuch des Rückgriffes auf die Sophisten Kritias, Kallikles und Thrasymachos. 2 Nietzsches Versuch, die Metaphysik zu überwinden, läuft, wie jeder Versuch dieser Art, auf eine Metaphysik der Metaphysik hinaus. 2
Neue Überlegungen zur Einordnung des Nietzscheschen Machtbegriffes habe ich vorgelegt in: Nietzsches Erhellung der Aufklärung. In: Wiener Jahrb. f. Philosophie XIII, 1980.
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Volker Gerhard:
Figl: Zwei Aspekte Ihres für mich sehr instruktiven Referates möchte ich ansprechen: Zunächst erbitte ich eine inhaltliche Klärung im Hinblick auf die erste Auflage des Werkes von Raoul Richter, wo Sie auf den Grundwiderspruch, den er an Nietzsches Machtbegriff feststellt, hinweisen. Nämlich, daß dieser nur gelöst werden könnte, wenn die Macht in sich differenziert würde. Da sich diese Differenzierung aber bei Nietzsche nicht fände, ende er bei einer monadologischen Machtmetaphysik. Ich frage nun, in welchem Sinn der Begriff der Monadologie verwendet ist: In einem monistischen Sinn, oder aber — wie ich vermute — im Sinne von Leibniz' Monadologie? Leibniz' Monadenbegriff setzt von vornherein eine Pluralität von Monaden an. Folglich müßte auch die Vielfältigkeit, ja selbst die Widersprüchlichkeit der Monaden untereinander in Nietzsches Machtbegriff mit eingehen. Wie hat Richter Nietzsche in diesem Punkt verstanden? Dann habe ich noch eine Frage im Zusammenhang Ihrer Heidegger-Kritik. Sie meinen, man könne vielleicht die bei Heidegger entstehende Problematik des Machtbegriffs lösen, wenn man sie anthropologisch aufrollt und auf den Menschen zurückgeht. Da möchte ich zu bedenken geben, daß die Macht bei Nietzsche selbst, besonders in späten Fragmenten, ein ontologischer Begriff ist. Er hat also eine Dimension, die auch vormenschliche Bereiche umfaßt. Liegt darin nicht ein Argument für Heideggers Interpretation? Gerhardt: Auf Ihre erste Frage, Herr Figl, ist die Antwort rasch gegeben: Raoul Richter wirft Nietzsche einen Rückfall in die philosophische Tradition vor. Das Adjektiv „monadologisch" soll also auf Leibniz verweisen. Daran, daß der von Ihnen mit Recht benannte Widerspruch nicht bemerkt wird, können Sie sehen, wie wenig diese vermeintlichen Anti-Metaphysiker von der Metaphysik wissen. Auf Ihre zweite Frage komme ich am Schluß zurück. Baier: In größter Kürze eine Frage, die sich auch an Herrn Montinari richtet. Die Schwester Nietzsches hat nach meiner Erinnerung einen großen Einfluß auf Raoul Richter genommen, auch noch auf seine Leipziger Nietzsche-Vorlesungen, die Richter nach seinem Ausscheiden aus dem Nietzsche-Archiv gehalten hat. Wie hängt denn eigentlich die in diesen Vorlesungen schrittweise erfolgte Revision der Interpretation des Willens zur Macht mit der Editionsgeschichte des Nachlasses zwischen 1890 und 1906 zusammen? Das wäre auch interessant für den im Vortrag aufgewiesenen Widerspruch in der Darstellung Richters und natürlich überhaupt für die Frage nach der metaphysischen bzw. antimetaphysischen Nietzsche-Deutung. Mit der Deutungsproblematik im Spannungsfeld zwischen Metaphysik und Antimetaphysik hängt m.E. auch die Frage einer nicht-teleologischen Auslegung des Machtwillens zusammen. Hier ist auch der Machtbegriff selbst
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berührt: Wie ist die Macht ohne einen Zweck zu denken? Die Lebensphilosophie ist von einem nicht auf Zwecke gerichteten Machtbegriff ausgegangen. Auch in der Existenzphilosophie, bei Camus z.B., findet er sich; der „hasard de la vie" setzt die individuelle Lebensmacht ein, ohne sich um einen Zweck zu kümmern. Hier sehe ich nicht, zu welcher Lösung der im Vortrag skizzierte Ansatz kommt. Die Machtmetaphysik Nietzsches spielt für die Konstitution der deutschen Soziologie eine wesentliche Rolle. Dabei werden aber zwei für Nietzsche wesentliche Gesichtspunkte eliminiert: Der erste zeigt sich in Max Webers Charakterisierung der Macht als „sozial amorph". Nur die sozial strukturierte und organisierte Macht ist das Thema der Soziologie: nämlich Herrschaft. Das Thema der Macht in seiner ganzen Tragweite ist damit aus der Soziologie — trotz allen Einflusses Nietzsches auf Max Weber — eliminiert. Und zweitens ist auch vom „Machtgefühl" nicht mehr die Rede. Daß es sich dabei um die ganz bewußte Ausklammerung eines mißverständlichen Psychologismus handelt, läßt sich sehr schön an Max Webers Notizen zu Georg Simmeis Vorlesungen über Schopenhauer und Nietzsche3 erkennen. Übrigens zeigen beide Ausgrenzungen einen für die Konstitution der Soziologie entscheidenen Vorgang, nämlich ihre Ablösung von der Metaphysik. Auch aus dieser Perspektive ist einsichtig, welche Bedeutung dem Zusammenhang von Macht und Metaphysik zukommt. Blondel: Je suis frappé du rapport possible de la pensée de Nietzsche avec celle de Hobbes et, par conséquent, avec celle de Thucydide, et il me semble que, en rapport avec la question de la relation de Nietzsche à la métaphysique, il se pourrait que Nietzsche avec la notion „Wille zur Macht" reprenne d'une façon très ambiguë les théories des sophistes, de Protagoras sur vôjioç (nomos) et cptioiç (physis). C'est-à-dire, comme vous l'avez dit, il semble emprunter à Hobbes la notion de force comme nature contre la raison, conte l'idéal, contre la morale — et en même temps il voudrait montrer que la force constitue en quelque sorte une nature artificielle. C'est-à-dire que sa position à l'égard de la métaphysique, à cet égard, serait ambiguë: — d'une part: Macht als (ptioiç, d'autre part: Macht als vô|xoç. La Macht est un principe naturaliste; le Wille, un principe artificialiste, et le „zur" pose le problème de leur articulation.
3
Handexemplar Max Webers von Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus, Leipzig 1907 im Besitz des Max Weber-Archivs in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. — Die Notizen von Max Weber sind zum Teil zitiert und kommentiert von W . J . Mommsen, Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfun am Main 1974, S. 108f., 129ff., 254f., 261 ff (!!).
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Kaulbach: Ich begrüße es, daß wir den Machtbegriff in die alte Debatte um die Metaphysik eingeholt haben. Zur Ergänzung der Vorgeschichte des Machtbegriffs möchte ich auf die im 19. Jahrhundert mit Heftigkeit geführte Auseinandersetzung um die Rolle der Vernunft hinweisen. In Frage steht vor allem Hegels These von der Macht der Vernunft in der Geschichte. Nach der idealistischen Konzeption ist die Vernunft so ohnmächtig nicht, daß sie sich nicht von sich aus in der Geschichte verwirklichen könnte. Nietzsches Machtdenken steht zu dieser Auffassung in einem extremen Gegensatz. Für ihn ist die bloße Vernunft machtlos. Die Macht ist es, die zur „Vernunft" kommt, und nicht umgekehrt. Wie das „Zur-Vernunft-Kommen" der Macht gedacht werden kann, zeigt Nietzsche am Prozeß der Selbst-Uberwindung und der Selbststeigerung. Montinari: Ich möchte nur einen kurzen Hinweis zur Entwicklung des Machtkonzepts bei Nietzsche geben. Der Terminus „Macht" kommt meiner Meinung nach in Nietzsches Basler Zeit nur selten vor. Sachlich aber bin ich mit dem Vortrag sehr einverstanden, denn der Ausgangspunkt vom agon, vom Kampf, und die Thukydides-Lektüre sind schon in den frühen Jahren für Nietzsches Machtdenken von Bedeutung. Hierher gehört auch der Einfluß durch Burckhardts Auffassung von der „an sich" bösen Macht — eine Formulierung, die bekanntlich von dem Historiker Friedrich Christoph Schlosser stammt 4 . Mir ist wichtig zu betonen, daß Nietzsche sich im Ubergang zu den achtziger Jahren stark für das empirische Phänomen der Macht interessiert und viele Seiten aus den Memoiren der Madame de Rémusat über Napoleon exzerpiert5. Nach einem (noch unveröffentlichten) Zeugnis von Peter Gast wollte er im Frühjahr 1881 Napoleon zur Hauptfigur eines eigenen Werkes machen. Eine Wende in Nietzsches Macht-Denken scheint mir im Sommer 1881 einzutreten. Belegt ist das z.B. durch den Brief an Overbeck, in dem es heißt: „Ich habe einen Vorgänger und was für einen! . . .Spinoza. . . " 6 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß Nietzsche Spinoza nicht im Original gelesen hat, sondern ihn nur aus der Monographie von Kuno Fischer kannte. Gerhardt: Ich habe meinen Vortrag mit einer Frage geschlossen. Es fiel mir daher nicht schwer, das Zeitdiktat zu akzeptieren, zunächst Ihre Beiträge anzuhören und darin nach Antworten zu suchen. In meiner abschließenden Replik kann ich nicht auf alle Hinweise, Einwände und Anregungen eingehen. Vor allem muß ich den Ansatz meines Vorhabens, das ich hier nur ap einem Beispiel vorgeführt habe, unkommentiert lassen, denn an die Rechtfertigung 4
5 6
Nach einer Anmerkung des Herausgebers von Jacob Burckhardts, „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" Jacob Oeri, vgl. K G W IV 4, S. 159. Mme de Rémusat, Mémoires 1802-1808, publ. par Paul de Rémusat, 3 Bde., Paris 1880. Vgl. Nietzsches Brief an Franz Overbeck vom 30. Juli 1881.
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der philosophischen Untersuchung des Machtbegriffs will ich mich erst nach deren Abschluß begeben; vielleicht erledigt sich manches, das jetzt fraglich ist, am Ende von selbst. Ein mögliches Mißverständnis muß ich vorweg ausräumen: Die Analyse der Macht ist nicht gegen die Zusammenhänge gerichtet, in denen sie jeweils vorkommt. Macht ist stets eine relationale Größe und als solche kontextabhängig. Es besteht daher auch nicht die geringste Absicht, Nietzsches Formel vom „Willen zur Macht" auseinander zu reißen. Um aber den Sinn der Formel zu verstehen, ist es unerläßlich, den Bedeutungsumfang ihrer Bestandteile auszuleuchten. Der analytische Akt wirkt nur dann zerstörerisch, wenn die Künstlichkeit seines Ein-griffs in einen Lebens- und Sinnzusammenhang vergessen wird. In unserem Beispiel würde es freilich sehr schwerfallen, denn Sinnzusammenhang außer acht zu lassen, denn alle Macht ist so organisiert, als ob in ihr ein Wille wirksam sei. Der Machtbegriff fordert von sich aus die Einbettung in eine derartige Verbindung mit dem Willen. Interessant und für das begriffliche Gerüst in Nietzsches Denken höchst aufschlußreich wird es dann, wenn man, von der anderen Seite kommend, auch über den Willen eine analoge Aussage treffen kann: Ohne die Unterstellung einer Macht, eines „Vermögens", läßt sich sinnvoll gar nicht vom Willen sprechen. Jeder Wille tritt auf, als ob er auch die Macht zu seiner Realisierung hätte. In diesem „Als-ob" liegt z.B. das unterscheidende Kriterium zum Wunsch. Wie dicht das begriffliche Geflecht innerhalb der Formel vom „Willen zur Macht" tatsächlich ist, läßt sich m.E. nur über einen solchen Zugang dartun. Von Herrn Salaquarda unterscheide ich mich also in der Reihenfolge der Schritte. Das Verständnis der Formel steht bei mir nicht am Anfang, sondern, so hoffe ich wenigstens, am Ende. Die Bindestriche, die Herr Abel jetzt schon zwischen Macht und Wille anbringt, könnten sich nach einer solchen Analyse als zwingend erweisen. Vielleicht verstehen Sie nach diesem Hinweis auch meine Beschwerde über die mangelnden Auskünfte in der bisherigen Nietzsche-Literatur besser. Natürlich gibt es zahlreiche Deutungen des Machtwillens und viele interessante Bemerkungen zum Machtbegriff. Einige wichtige Autoren habe ich genannt. Aber auf eine Untersuchung der historischen wie auch der systematischen Implikationen des Machtbegriffs bin ich noch nicht gestoßen. Warum heißt es „Wille zur Macht" und nicht zur „Kraft" oder „Stärke" oder „Gewalt"? Warum spricht Nietzsche nicht vom „Willen zur Herrschaft"? Auf Fragen wie diese gibt es bisher keine Antworten, zumal keine, die den überlieferten philosophischen Begriff der Macht mit einer Analyse des gesellschaftlich-politischen Phänomens verknüpfen. Herr Taureck hat in dem von mir erwähnten Aufsatz den Versuch gemacht, Verbindungen zu Spinoza, Leibniz und Hegel herzustellen. Diese Verbindungen sehe ich auch, aber sie
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dürfen den Zugang zum Phänomen der Macht nicht verstellen. Das geschieht aber in der vorbehaltlosen Identifikation der Macht mit der Substanz, die dann bei Taureck, eigentlich ganz konsequent, zu dem Vorschlag führt, künftig nicht mehr vom „Willen", sondern vom „Trieb" zur Macht zu sprechen. In Ihrer heute vorgestellten Parallele zur Sophistik vertreten Sie ja nun selbst einen anderen Standpunkt. Ich habe Ihnen gegenüber, lieber Herr Taureck, beileibe keinen Machtanspruch. Ich beanstande lediglich, daß Sie in Ihrem Aufsatz die „Gewalt" dem kruden Alltagsverständnis und die „Macht" der Metaphysik zurechnen. Es ist gut, beide Begriffe auseinanderzuhalten. Aber die dichotomische Trennung, von der Sie damals ausgegangen sind, läßt sich nicht rechtfertigen. Erst in einem weiter ausgreifenden Blick auf die politische und philosophische Tradition der Begriffe und durch eine Analyse des Phänomens der Macht als einer stets aus gesellschaftlicher Erfahrung stammenden Größe läßt sich schärfer erfassen, was bei Nietzsche vorliegt. Dann, so hoffe ich, wird kenntlich, daß die Macht als das Vermögen zu wirken nicht gleich „Kraft" ist, sondern die Präsenz einer möglichen Kraft bedeutet; daß sie auch nicht mit „Gewalt" oder „Herrschaft" zusammenfällt, sich aber doch als Gewalt oder als Herrschaft äußern kann. Mit dem Blick auf diese Äußerungsformen ist die Macht soziologisch amorph. An diese Charakterisierung Max Webers hat Herr Baier mit Recht erinnert. Geht man von den gesellschaftlichen Erscheinungsformen zurück auf in ihnen hervortretende anthropologische Momente, dann erweist sich die Macht als durchaus strukturiert. Diese Strukturmerkmale spiegeln sich in der metaphysischen Verwendung des Begriffes. Im Vortrag konnte ich nur einige Beispiele geben. Wenn ich Thukydides' anthropomorphe Machtlogik in einem Atemzug mit Piatons Begriff des Vermögens genannt habe, dann lag das am Charakter der Aufzählung, in der ja noch Aristoteles, Augustinus, Machiavelli und Luther folgen. Mir kommt es gerade dabei auf die Betonung der Unterschiede der möglichen Einflußquellen an. Ich habe bewußt nur von Thukydides gesprochen, weil er als ein von den Sophisten durchaus unabhängiger Geist anzusehen ist, der in seiner Einzigartigkeit auch auf Nietzsche gewirkt hat. Freilich finden sich bei ihm deutliche Spuren der sophistischen Machtrechtslehre. Darin ist er mir allerdings weniger wichtig als in seiner von den historischen Ereignissen des Peloponnesischen Krieges ausgehenden Phänomenologie der Macht^ Mit Herrn Taureck glaube ich aber gleichwohl, daß Piatons Dialog mit den Sophisten für das Verständnis Nietzsches von außerordentlicher Bedeutung ist. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, daß die Debatte zwischen Sokrates und Kallikles die Geburtsstunde der praktischen Philosophie in Europa darstellt. Diese Debatte nimmt Nietzsche wieder auf, aber nicht in einer Neuauflage des alten Streits. Nietzsche verbindet die Einsicht in das Wesen der Macht mit der eindringenden
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Erkenntnis des moralischen Bewußtseins. Im Rückgang auf die Ursprungssituation der praktischen Philosophie kommt er zu einer Lösung, welche die von Sokrates aufgespürte Schwäche des sophistischen Machtkonzepts überwindet, ohne bei der platonischen Alternative, d.h. bei der Gleichsetzung von Macht und Erkenntnis zu enden. Natur und Vernunft, das hat Herr Blondel sehr richtig betont, sind in Nietzsches Machtverständnis in einer spezifischen Weise verbunden. Denken Sie nur daran, wie Nietzsche die sophistische These vom Recht des Stärkeren modifiziert: Es sind die Machtschätzungen, und zwar die wechselseitigen Machtschätzungen, die das Recht begründen, nicht aber die bloße Faktizität einer Ubermacht. Gegebenes und Gewolltes, physische Kraft und gegenseitige Bewertung, Natur und Vernunft sind in der Tat im Begriff der Macht vereint — oder genauer: Die in der philosophischen Tradition unter den Titeln „ N a t u r " und „Vernunft" gedachten Elemente sind hier im Terminus der Macht verbunden. Herr Figl hat nun gefragt, ob dieser Terminus anthropologisch oder ontologisch angelegt sei. Ich möchte mir die Antwort aus Zeitgründen einfach machen: In den Nachlaß-Notizen der Spätzeit hat die Macht zweifellos eine ontologische Funktion. Sie ist ontologisch gemeint, sofern sie den Charakter der Gegenständlichkeit von Gegebenem überhaupt, nämlich dessen Wirksamkeit bzw. Wirkungsmächtigkeit bezeichnet. Als Begriff aber ist die Macht, wie alles bei Nietzsche, anthropologisch fundiert. Der Mensch verhüllt uns auch im Fall der Macht die Dinge. Wir erkennen, so heißt es immer wieder, stets nur uns selbst: „ U n d zuletzt erkennen wir die Möglichkeiten unserer Strukturverschiebung, nichts mehr." 7 Der Ursprung des Begriffs liegt in der unhintergehbaren Konstitution des Menschen. Und hier ist auch — so paradox es erscheint — die Wurzel für das ateleologische Verständnis der Macht zu suchen, das ich im Vortrag nur gestreift habe. Man versetze sich in ein Gefühl von Kraft — ohne das Bewußtsein einer bestimmten Aufgabe; man denke an Zustände von Genesung, Ubermut, Ausgelassenheit oder an die Funktionslust beim Gelingen von Leistungen; überall dort zeigt sich die Macht als Gegenwart einer möglichen Wirksamkeit, als Präsenz einer möglichen Kraft — und das ohne jedes konkrete Ziel. Mit den letzten beiden Hinweisen bewege ich mich bereits in dem Feld, das ich Nietzsches Metaphysik nennen würde. Ich freue mich, daß meine Schlußfrage in der Diskussion so lebhaft unterstrichen worden ist. Aber zeichnet sich auch eine Antwort ab? Läßt sich über den Typus der „anderen Metaphysik" schon eine Aussage treffen? Um den weiteren Überlegungen einen Anstoß zu geben, möchte ich abschließend einfach einmal eine Antwort versuchen. Ich kümmere mich dabei wenig um Nietzsches Selbsteinschätzung 7
Vgl. KGW V 1, 635.
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als Uberwinder der Metaphysik. Sein eigener Begriff von Metaphysik ist zu eng gefaßt. Nicht zuletzt durch Nietzsches eigene kritische Leistung wissen wir heute mehr über den Begriff der Metaphysik als er selbst. Der „metaphysische" Kant ist eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts, die also erst nach Nietzsche gemacht wurde und die, wie ich meine, auch erst nach Nietzsche gemacht werden konnte. Heute können wir fragen: Warum soll es eigentlich für die Metaphysik wesentlich sein, nach dem Ewigen, Unveränderlichen, nach dem Sein des Seienden wie nach einer Sache zu fragen? Warum sollte ausgerechnet die Metaphysik durch ihren Gegenstand definiert sein, während andere Wissenschaften doch viel eher durch ihre Methode und die Art ihrer Fragestellung abgegrenzt werden? Der metaphysische Ausgangspunkt jeder Philosophie liegt doch in dem wohl immer wieder neu zu unternehmenden Versuch, nach dem Ganzen der Welt, des Lebens oder des Daseins vernünftig zu fragen. In der Geschichte der Philosophie sind die Antworten immer wieder neu gesucht worden, unabhängig davon, ob es schon Antworten gab oder ob die neuen Antworten in Widerspruch zu allen anderen standen. Das Bedürfnis und die aufs Ganze gehende Fragestellung sind das entscheidende Kriterium der Metaphysik. Bei wem wäre es stärker erfüllt als bei Nietzsche? Seit Kant sind wir darüber aufgeklärt, daß die Metaphysik einen Gegenstand im strengen Sinne gar nicht haben kann. Das, worauf sie sich bezieht, also auf die Welt, die Seele und die Freiheit, ist als Idee von der menschlichen Vernunft entworfen. Kants Zeitgenossen haben darin die Zertrümmerung, die „Zermalmung" der Metaphysik gesehen. Heute wird eben dieser Akt der vernichtenden Kritik als Rettung der Metaphysik interpretiert. Bei Nietzsche liegt der Fall ganz entsprechend: Indem er der Metaphysik nunmehr auch die „Ideen" und den sie tragenden Vernunftglauben nimmt, erscheint ihm und seinen ersten Anhängern das unwiderrufliche Ende der Metaphysik besiegelt. In Wahrheit aber erfolgt ein noch radikalerer Rückgang auf die Ausgangsfrage, denn es gibt nun nichts Festes mehr, bei dem sie sich beruhigen könnte. Die auf das Ganze der menschlichen Situation bezogene Frage bewegt Nietzsche von der Geburt der Tragödie bis zu den späten Aufzeichnungen. Sie ist das Movens in Nietzsches Werk. Er stellt sie wohlgemerkt nicht als Biologe oder als Anthropologe, sondern als Philosoph, d.h. mit begrifflichen Mitteln und in der größten denkbaren Allgemeinheit. — So gesehen gehört er voll und ganz zur metaphysischen Tradition. Seine Lehre vom Ubermenschen, vom Willen zur Macht, der Gedanke der ewigen Wiederkunft, seine Einsichten in den Zusammenhang von Kunst und Leben oder seine Begründung des Perspektivismus — was sind sie anderes als Themen einer sich unter neuen Erfahrungen artikulierenden Metaphysik? Könnte es nicht sein, daß der metaphysische Charakter dieses Denkens nur deshalb zweifelhaft ist, weil ein zu enger Begriff von Metaphysik unterschoben ist? Ich halte es jedenfalls für
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möglich, eine Kontinuität des Fragens herzustellen, die von Piaton über Kant und Nietzsche hinausreicht, ohne den beiden letzten einen heimlichen Piatonismus zu unterschieben: Die alte Metaphysik stellte die Seinsfrage. Kant verwandelt sie bereits in eine Sinnfrage. Nietzsche radikalisiert sie noch einmal zu einer Wertfrage. Unter dem Wert verstehe ich hier den ganz auf die Bedingungen der Endlichkeit bezogenen Sinn. Die jeweils neuen Fragen sind in den alten vorgebildet. Für das, was hier geschieht, würde Nietzsche wohl die Metapher der „Häutung" verwenden. Zuletzt tritt eine Haut hervor, in deren Spuren sich nur noch die Endlichkeit der Dinge spiegelt. Vielleicht läßt sich überhaupt Nietzsches Stellung zur Tradition der Metaphysik am Maßstab der Zeitlichkeit ausdrücken: Die platonische Metaphysik setzt auf die Ewigkeif, die Vernunftmetaphysik Kants nimmt ihren Ausgang von der erfahrenen Natur, von der erschlossenen Geschichte des Menschen; sie sucht das vernünftige Kontinuum zwischen Endlichkeit und Ewigkeit. Nietzsche radikalisiert auch hier ein weiteres Mal und stellte alle Bedeutung auf den Augenblick des Erlebens. Der Augenblick hat aber für ihn nicht den Rang einer Tatsache, ist nichts bloß Gegebenes, sondern er hebt ihn philosophisch als das Wesentliche des Lebens heraus, und er versucht zu begründen, daß nur die Hinwendung zum Augenblick, daß durch die vollständige Drehung in die Endlichkeit hinein das Dasein Größe gewinnen und der Mensch überwunden werden kann. Die vollständige Drehung in die Endlichkeit hinein geschieht bei Nietzsche in der Absicht, den Augenblick zu überhöhen. Die Endlichkeit soll innerhalb ihrer selbst überschritten werden. Das ist ein Sinn des amor fati. Damit, so glaube ich, stößt man auf eine Gemeinsamkeit von Piaton, Kant und Nietzsche: Der Mensch will in allen Fällen über den Augenblick hinaus. Philosophisch gesprochen: Er will sein Dasein transzendieren. Sobald sich die Philosophie auf diese Absicht einläßt, wird sie metaphysisch. Bleibt sie allerdings spröde gegen diesen Anspruch — wofür es nach Nietzsche gute Gründe gibt —, dann verliert sie mit der metaphysischen Reichweite zugleich auch den Charakter von Philosophie.
GERD-GÜNTHER GRAU
SUBLIMIERTER ODER REALISIERTER WILLE ZUR MACHT? I. Einleitung und
Überblick
Nachdem auch diese Tagung wieder erstaunlich weitgehend von den Nietzsche-und-Problemen beherrscht wird, möchte ich eine andere Bindewort-Thematik aufgreifen, welche neuerdings die Diskussion ausgeweitet hat: die Nietzsche-zwischen-Charakterisierung 1 . Sie mag unserem Philosophen nicht nur deswegen besonders angemessen sein, weil er es liebte, sich zwischen alle Stühle zu setzen, sondern vor allem auch deshalb, weil auf seinen Stühlen die Vertreter der verschiedensten, sich gegenseitig nicht eben wohlgesonnenen Weltanschauungen und Ideologien gleichermaßen gern, obschon mit entgegengesetzter Blickrichtung, Platz zu nehmen pflegen. Sollte sie, um Anlaß und Anliegen meiner Reflexionen zu Nietzsches Spätphilosophie vorweg anzudeuten, wirklich ein ihnen gemeinsamer Wille zur Macht bewegen, Nietzsche entweder — so orthodoxe Theologen und Marxisten — zum philosophischen Zerstörer jeglicher Humanität zu stempeln oder — wie die Nationalsozialisten, aber neuerdings auch sozialistisch eingestellte „kritische" Theoretiker — dem Arsenal seiner Argumente die Waffen zur Begründung und Durchsetzung ihrer Bewegungen und Bestrebungen zu entnehmen? Auf einen gemeinsamen Grundtrieb scheinen ja auch die erstaunlichen Parallelismen in der theoretischen Struktur wie in der organisierten Praxis jener politischen Bewegungen und geistigen Strömungen zu verweisen, deren Entwicklung bezweifeln läßt, daß eine V e r ä n d e r u n g der Welt und des Menschen, soweit überhaupt erreichbar, schon die V e r b e s s e r u n g der Verhältnisse in der ersteren und im Verhalten des letzteren gewährleistet, welche allerseits versprochen wird. Auch Nietzsche schien zunächst „die wichtigste Frage aller Philosophie zu sein, wie weit die Dinge eine unabänderliche Artung und Gestalt haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die V e r b e s s e r u n g der als v e r ä n d e r l i c h e r k a n n t e n S e i t e der W e l t loszugehen" 2 ; doch war ihm dann am Ende „keine V e r ä n d e r u n g vorstellbar, bei der es nicht einen Willen zur Macht giebt" 3 . 1
2 3
Vgl. M. Montinari: Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukács. Basis 9 (1979) S. 194 ff. U B IV, W B 3. Nachlaß K G W VIII 3, 14 [81],
Sublimierter oder realisierter Wille zur Macht?
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Andererseits dürfte gerade die Transzendenz eines a b s o l u t e n A n s p r u c h s das verbindende Moment aller, doch zunächst weitgehend von einem humanen Anliegen ausgehenden und getragenen Ideologien bilden, demzufolge sie jener „Selbstaufhebung aller großen D i n g e " erliegen, die Nietzsche am Christentum — historisch und systematisch — aufzeigt: „Viele von ihnen litten zuviel —: so wollen sie Andre leiden machen", heißt es „ V o n den Priestern", und der Philosoph versteht sich selbst mit seiner Aufhebung als „Erben von Europas längster und tapferster Selbstüberwindung" 4 . Diese, von der „intellektuellen Redlichkeit" vollzogene Überwindung gründet aber in der Aufdeckung der Vergeblichkeit aller Bemühung des Menschen, seinen Willen auf ein letztes Ziel oberster Werte festzulegen, — deren Entwertung, d. h. Reduzierung auf menschlich-allzumenschliche — individuelle wie allgemeine, kontingente oder prinzipielle — Interessen, er dann, schmerzlich genug, als Nihilismus erfahren muß. Doch auf ein solches „absolutes T e l o s " (Kierkegaard) mag nun wiederum offensichtlich d i e „Selbstüberwindung" nicht Verzicht leisten, die Nietzsche so abrupt wie überraschend als Fundament eines nicht sowohl vom Willen zur Macht als durch die Macht des Willens zum Geist bestimmten Lebens ansieht, — „Geist ist das Leben, das selber in's Leben schneidet: an der eignen Q u a l mehrt es sich das eigne Wissen, — wusstet ihr das schon?" 5 Sollte das letzte Versagen aller Ideologien und Weltanschauungen in Theorie und Praxis ein Scheitern des absoluten Anspruchs belegen, in dessen gemeinsamer Struktur sich zugleich der Umschlag von einer eigen-mächtig schöpferischen Gestaltung des Lebens aus Selbstüberwindung in den Willen zur Macht einer Uberwindung anderer, am Ende aller, durch die Festlegung der Menschheit auf ein letztes Ziel auswirkt? „Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. N u r die Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. N o c h hat die Menschheit kein Ziel.
Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch — sie selber noch?" 6 Und soweit — dies der dritte Strang meiner Überlegungen — Nietzsche s e l b s t offensichtlich dem Umschlag einer sinngebenden Selbstüberwindung in den Willen zur Macht absoluter, positiv oder negativ fixierter Sinngegebenheit 4
5
Za II, Von den Priestern; F W 357, G M III 27. Diese beiden Stellen, an denen Nietzsche, sich selbst ausdrücklich wiederholend, seine Gesamtkonzeption einer Selbstaufhebung des Christentums — die hier auf absolut gesetzte Werte überhaupt erweitert werden soll — recht ausführlich und präzise entwirft, sieht der Verf. als zentral ebensowohl für Nietzsches Destruktion des christlichen Glaubens wie für dessen immanente Problematik an. G . - G . G r a u : Christlicher Glaube und intellektuelle Redlichkeit. Eine religionsphilosophische Studie über Nietzsche. Frankfurt/M. 1958; ders.: Die Selbstauflösung des christlichen Glaubens. Eine religionsphilosophische Studie über Kierkegaard. Frankfurt/M 1963. Eine Zusammenfassung beider Bücher in: Nietzsche-Studien 1 (1972) S. 2 9 5 - 3 3 3 . 6 Za I, Von tausend und Einem Ziele. Za II, Von den berühmten Weisen.
224
Gerd-Günther Grau
erlegen ist, indem er ihn für u n v é r m e i d b a r gehalten hat, müßte die damit verbundene A b s o l u t s e t z u n g des Willens zur Macht ihrerseits daran kenntlich werden, daß sie dem Grundtrieb jene Strategien zuschreibt, in denen die Ideologien, bei aller Verschiedenheit ihrer Interpretationen und Werte, abermals so ersichtlich übereinstimmen: Etwa eine Geschichtsphilosophie, welche, auf eine monokausale Deutung allen Geschehens gestützt, die eigene MachtErgreifung als End- oder Höhepunkt des historischen Geschehens ausweist; vor allem aber die Idee eines — christlich oder sozialistisch bestimmten, nationaler oder personaler Eigentlichkeit verpflichteten — „Ubermenschen", dessen es, in Absetzung gegen den jeweils „letzten Menschen" niederen Ranges einer, wie auch immer verstandenen, bürgerlichen Alltäglichkeit bedarf, um das Desiderat einer „Überwindung" des — denn auch in allen Ideologien so eklatant verfehlten — Menschen, doppelsinnig genug, zu propagieren. „ D e r Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll." 7
Diese Andeutung meines Programms — für dessen Durchführung im einzelnen ich Sie auf ein in Arbeit befindliches Buch verweisen muß — mag genügen, um die Zwischen-Thematik meiner Überlegungen zu Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht näher zu bestimmen; gewinnt doch auch dieses, durch das Schlagwort seines Titels eher verdeckte als erhellte und demgemäß Anhängern wie Gegnern weitgehend suspekte Lehrstück seine Bedeutung erst aus der Betrachtung der divergierenden Tendenzen, von denen es ausgeht und beherrscht wird. Ich möchte die beiden Ansätze Nietzsches, die zu vermitteln wären, durch die Namen zweier Interpreten charakterisieren, deren Arbeiten ich die Anregung zu meinem Versuch ihrer Synthese und die daran geknüpften Reflexionen verdanke. Derart, daß ich — bislang ebenfalls zu den Gebildeten unter den Verächtern von Nietzsches Entwurf einer systematischen Theorie zu zählen — dem einen, Walter Kaufmann, überhaupt erst den tieferen Hinweis auf ein philosophisch ernst zu nehmendes Anliegen Nietzsches in der Fundierung seiner Grundideen auf einen durch und für die Selbstüberwindung „sublimierten" Willen zur Macht verdanke, während der andere, Wolfgang Müller-Lauter, mich über die tieferen Gründe meiner unreflektierten Ablehnung dieser Ideen in der letzten Gestaltung eines realisierten Willens zur Macht aufgeklärt hat 8 . Mein Thema wäre also am besten durch den Untertitel: „Nietzsche zwischen Kaufmann und Müller-Lauter" präzisiert; 7
8
J G B 36: „ [ . . .] so m ü s s e n wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen". — Za I, Vorrede 3. W. Kaufmann: Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist. Princeton 1950; hier zitiert nach 4 1974. — W. Müller-Lauter: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie. Berlin/New York 1971.
Sublimierter oder realisierter Wille zur Macht?
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und wenn Sie bitte noch das im endgültigen Tagungsprogramm ausgelassene Fragezeichen hinzufügen, dann dürfte Kennern, vor denen ich hier ja zu sprechen habe, bereits durchsichtig sein, worauf ich hinauswill: „Sublimierter oder realisierter Wille zur Macht? Nietzsche zwischen Kaufmann und Müller-Lauter."
II. Der sublimierte Wille zur Macht Ich darf zunächst die Erinnerung an die Ihnen gewiß bekannten Bücher ein wenig auffrischen, — wobei mir die Autoren ebensowohl gewisse Verkürzungen wie interpretierende Erweiterungen nachsehen mögen, die ich aus der Blickrichtung meiner intendierten Synthese vornehme. Das Buch von Walter Kaufmann — dessen Interpretation auch der neueren Darstellung von R. J. Hollingdale (1973) zugrunde liegt9 — erschien zuerst 1950 in den USA, zu einer Zeit also, da Nietzsches Philosophie, Nietzsche als Philosoph, durch die Ereignisse des Dritten Reiches hoffnungslos diskreditiert schien. Und es war die ausgesprochene Absicht des Verfassers, Nietzsche nicht nur der ideologischen Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten zu entreißen, sondern ihn zugleich in die „große Tradition" des „westlichen", etwa durch die Namen Sokrates und Plato, Luther und Rousseau, Kant und Hegel zu umreißenden Denkens einzuordnen (Vorw. z. 1. Aufl.); eine Einordnung, die ihm sogar von Wohlmeinenden seiner — analytisch oder metaphysisch ausgerichteten, religiös oder moralisch motivierten — Gegner verweigert wird, ja die, hinsichtlich der Lehre vom Willen zur Macht, auch Anhängern, welche seine philosophische Bedeutung gern auf ein kritisches Anliegen beschränken möchten, von jeher schwer gefallen ist. Das erste Ziel — die Abwehr des Vorwurfs, Nietzsche habe der Verbreitung nationalsozialistischen Gedankengutes durch seine philosophischen Ideen Vorschub geleistet, auf welche man sich habe berufen können — ließ sich verhältnismäßig leicht durch den Nachweis erreichen, daß diese Ideen, nach Inhalt und Intention, von einigen unglücklichen provokativen Formulierungen abgesehen, so gut wie nichts mit den ideologischen 9
R . J. Hollingdale: Nietzsche. L o n d o n / B o s t o n 1973. Im deutschen Bereich hat, ebenfalls schon 1950, L . Giesz seine Interpretation des Willens zur Macht auf den Ansatz Zarathustras „ V o n der Selbstüberwindung" gegründet; zwar beschränkt er seine „wissenschaftliche Analyse der Spätlehre" darauf, „den Horizont für die Möglichkeiten eines philosophischen Gesprächs zwischen . . . Existenzphilosophie und Positivismus" ( V o r w . ) zu öffnen, steht aber Kaufmann in seiner Auffassung des Ubermenschen als „Gleichnis" für die „Selbstüberwindung des Schaffenden" (S. 131) ebenso nahe, wie er Müller-Lauters Verständnis vorwegnimmt, wenn er die ewige Wiederkehr als dessen „komplementäre Ergänzung" (S. 137) deutet. L . Giesz: Nietzsche. Existentialismus und Wille zur Macht. Stuttgart 1950.
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Lehrstücken der damaligen Machthaber und ihrer intellektuellen Wegbereiter gemein haben: Weder darf man seine lebenslange, wesentlich moralkritisch bedingte Auseinandersetzung mit Problem und Problematik des jüdischen Volkes als rassistischen Antisemitismus verstehen, noch stempelt ihn seine biologistische Lebensphilosophie zum Vorgänger eines ohnehin eher am Todestrieb als an der Bewältigung des „ L e b e n s " orientierten militaristischen Heroismus. Durch Darwin allenfalls aus dem dogmatischen Schlummer begriffsphilosophischer Dialektik wie auch positivistischer Analytik geweckt, zielt seine Propagierung der — geradezu aus einer Rassenmischung erhofften — „Züchtung" eines Uber- und Herrenmenschen keineswegs auf die politische Herrschaft einer bestimmten Rasse (oder Klasse), vielmehr auf den höheren Rang des geistig bestimmten, im engeren wie weiteren Sinne schöpferischen Menschen, — dessen Werk nicht durch Unterwerfung anderer, oder unter andere, sondern durch Selbstbeherrschung ermöglicht wird. Auf die Entdeckung dieses — bei Nietzsche oft und weitgehend übersehenen — Ansatzes einer als unerläßlich, ja als zentrales Moment des auf den Geist als seinen Widersacher verwiesenen „ L e b e n s " angesehenen „Selbstüberwindung" stützt Kaufmann nun die angestrebte Einordnung Nietzsches in das klassische Denken westlicher Philosophie. Er kann dafür sogar eine bislang ebenfalls in der Diskussion kaum beachtete, unmittelbare Begründung des Willens zur Macht auf eben solche Selbstüberwindung heranziehen, die Nietzsche bei der ersten systematischen, obschon poetisch verbrämten Darstellung seines Grundtriebes vornimmt, — in den beiden Zarathustra-Kapiteln „Von tausend und Einem Ziele" bzw. direkt „Von der Selbst-Ueberwindung" (aus dem 1. bzw. 2. Buch). Hier werden zunächst, an der ersten Stelle, die in der Geschichte der Völker zutage getretenen „tausend Ziele" zwar dem Willen zur Macht der jeweiligen Nation zugeordnet, wobei, wie schon angedeutet, bezeichnend sogleich nach dem „ E i n e n " Ziele der Menschheit gefragt wird, dessen Bestimmung noch ausstehe; doch zugleich wird die „Tafel der G ü t e r " jedes Volkes als „seiner Uberwindungen Tafel" verstanden, aus welcher ersichtlich werde, daß und wie es die eigentliche Aufgabe des Menschen, Werte zu „schaffen", verstanden habe. „ E i n e Tafel der Güter hängt über jedem Volke. Siehe, es ist seiner U b e r windungen Tafel; siehe, es ist die Stimme seines Willens zur Macht. [. . .] Wahrlich, die Menschen gaben sich alles ihr Gutes und Böses. Wahrlich, sie nahmen es nicht, sie fanden es nicht, nicht fiel es ihnen als Stimme v o m Himmel."10
Diese Feststellung vertieft dann das angezogene Kapitel des zweiten Buches weiter dahin, daß, als Konstituens solcher Wertsetzung, das Bedürfnis 10
Za I, Von tausend und Einem Ziele.
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des Lebens nach einem „ G e h o r s a m e " herausgestellt, der nur würdig ausgeübt wird, wenn und soweit er dem eigenen, individuell gewählten „ G e s e t z e " gilt. Erst in der Unterwerfung unter selbstgesetzte und als solche „geschaffene" Werte soll das „Geheimnis" des Lebens in einer Selbstüberwindung erfahren werden, deren Machtausübung und -genuß bei weitem die Befriedigung übertrifft, welche durch die — direkt politisch oder moralisch indirekt erstrebte — Uberwindung anderer zu erlangen ist. „ A b e r , w o ich nur Lebendiges fand, da hörte ich auch die Rede v o m Gehorsame. Alles Lebendige ist ein Gehorchendes. [. . .] U n d dies Geheimniss redete das Leben selber zu mir: ,Siehe, sprach es, ich bin das, w a s s i c h i m m e r s e l b s t ü b e r w i n d e n m u s s ' . " 1 1
Beachtet man des weiteren, daß diese Selbstüberwindung, sowohl im „Schaffen" der Werte wie in ihrer kritischen Wahl, wesentlich die Aufgabe des Geistes ist, so wird klar, was sie so unvermeidbar wie unverzichtbar macht, indem sie jedes Opfer zu rechtfertigen scheint, das ihr gebracht werden muß: die S i n n g e b u n g durch eine Wertordnung, deren menschliche Herkunft sie zwar als ein metaphysisches „ N i c h t s " ausweist, ohne deren dem Menschen auferlegte Schöpfung aber der Wille vollends dem Nichts völliger Wert- und Sinnlosigkeit des Lebens preisgegeben wäre. „Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, — er schuf erst den Dingen Sinn, einen M e n s c h e n - S i n n ! " 1 2
Allerdings bleibt auch bei dieser Bestimmung des Willens zur Macht als Unterwerfung unter die Macht des schöpferischen Geistes zunächst völlig offen, ob sich der Wille wirklich mit der Macht begnügen kann, welche die Selbstüberwindung im Dienste des eigenen „Werkes" gewinnt; denn je nachdem, ob die Hingabe einem individuellen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Schaffensprozeß, günstigstenfalls der kreativen Gestaltung des eigenen Lebens, oder der Begründung einer philosophischen Wertordnung gilt, die sich als Weltordnung verstehen muß, erscheint der Umschlag innerer in äußere Machtausübung — schon beim Künstler zu beobachten, beim politischen Menschen unverzichtbar — stets gegeben, ja gefordert. Andererseits steht zu erwarten, daß die Sinngebung nur in dem Maße gelingen kann, in dem die Selbstüberwindung durch die über das Selbst ausgeübte Herrschaft befriedigt wird, während umgekehrt zur Herrschaft über andere nur tendieren wird, wem die Selbstüberwindung versagt ist, mag er sie a limine gescheut haben, ihm ihr Werk mißlungen oder durch innere bzw. äußere Umstände versagt sein. 11 12
Za II, Von der Selbst-Ueberwindung. Za I, Von tausend und Einem Ziele.
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Um dieser, wenn man will, „dialektischen" 13 Situation der — freilich weniger von ihrem inneren als vom Abfall in ihren äußeren Gegensatz bedrohten — Selbstüberwindung Rechnung zu tragen, ist Kaufmann in der Folge bemüht, die „Entwicklung" des Grundtriebes in den Werken vor dem Zarathustra so darzustellen, daß Nietzsche dabei zunehmend die schöpferische Macht des Geistes herausgearbeitet, während er im gleichen Maße das Abgleiten des Menschen in die Ausübung „weltlicher" Macht kritisiert, wo nicht verurteilt habe. Für seine Auslegung kann er sich vor allem darauf berufen, daß dem Philosophen die Bedeutung der Macht — der Begriff des Willens zur Macht taucht in der ersten Zeit nur an einer Nachlaßstelle beiläufig auf — offensichtlich in der Tat zunächst am k ü n s t l e r i s c h e n Prozeß aufgeht, bei dem ihm allerdings sogleich die Zweideutigkeit ihrer Ausübung und Auswirkung, ihrer Voraussetzungen wie ihrer Folgen, durchsichtig wird. So zieht Nietzsche schon in einem seiner frühesten Entwürfe den Ausspruch von J. Burckhardt über die „Natur der M a c h t , die immer böse ist", heran, um ihren Einsatz gleichwohl zu rechtfertigen, soweit er erst die Opfer, vor allem das Sklaventum der großen Menge, ermögliche, welche „zum Wesen der Kultur" gehören sollen 14 . Auf der nächsten Stufe erweist sich dann jedoch „Homers Wettkampf" bereits in dem Sinne als Basis aller Kultur, daß er dem „unheimlichen Doppelcharakter" des Menschen gleichsam ein Vehikel künstlerischer Bewältigung der Macht eröffnet, deren „agonales" Moment nicht mehr der politischen Überwältigung des Gegners, sondern der Uberwindung des Mitbewerbers durch das besser gelungene Werk gilt 15 . Und die erste verschlungene Absage an Richard Wagner hält, abermals Burckhardt zitierend, das Bild des auf Macht verzichtenden Wotan dem Künstler vor, der — wie in den späteren Schriften expliziert — seine Macht mißbraucht, weil ausschließlich auf den äußeren Erfolg ausgerichtet habe: „Wer von euch will auf Macht verzichten, wissend und erfahrend, daß die Macht böse ist?" 1 6 Demgegenüber betont eine spätere, in diesem Zusammenhang angestellte, „vom Volke Israel" und seinem Geschick angeregte Überlegung, daß gerade die dauernde politische Unterdrückung und das Ausgeschlossensein von der Macht bei den Juden die Entwicklung einer Kultur herbeigeführt habe, deren innere Kraft sich „zuletzt in große geistige Menschen und Werke" habe „ausströmen" müssen und können. 17
13 14
15 16 17
Zur Kritik der hegelianisierenden Tendenz der Interpretation Kaufmanns s.u. S. 233. Nachlaß: Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern. Der griechische Staat, K G W III 2, S. 262. Nachlaß, 1. c. Homers Wettkampf, KGW III 2 S. 277 ff. U B IV, WB 11. M 205.
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Extrapoliert man derartige Feststellungen, so ergibt sich eine „lange Leiter" möglicher Ausübung für das „Streben nach Auszeichnung", wie sie Nietzsche im ersten anthropologischen Gesamtentwurf seiner Konzeption vorlegt, — mit der ausdrücklich geäußerten Vermutung, „ein vollständiges Verzeichnis derselben käme beinahe einer Geschichte der Kultur gleich". Am untersten Ende der Skala wäre danach das Streben des politischen Menschen nach äußerer Macht anzusetzen, das sich in zunehmender „Verfeinerung" qua „Vergeistigung" bis zu ihrer obersten Stufe entwickelt, auf welcher „der Asket und Märtyrer" den höchsten Triumph einer nach innen gekehrten Machtausübung erfahren würde 18 . Zur weiteren Ausgestaltung dieser Konzeption kann Kaufmann dann noch den sonst schwer verständlichen Schluß der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung" anführen, wo Nietzsche, bei ihm ziemlich unvermutet, die „Mächte" des „Überhistorischen" als wirksamstes „Gegenmittel" gegen die Uberzüchtung mit historischer Kultur, aber auch gegen ein Versinken im „Unhistorischen" eines banalen Augenblickslebens ins Feld führt; zwar seien auch sie — K u n s t und R e l i g i o n ebenso wie die W i s s e n s c h a f t — letztlich bloß „Gifte" zum Vergessen der zeitlichen Situation des Menschen, die aber jedenfalls, deshalb vornehmlich der Jugend empfohlen, insoweit eine völlige Vergiftung des Lebens verhindern könnten, als sie „den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden gibt" 1 9 . Und da die folgende Abhandlung über Schopenhauer geradezu „ d i e P h i l o s o p h e n , K ü n s t l e r und H e i l i g e n " als „jene wahrhaften M e n s c h e n , jene N i c h t - m e h r - T h i e r e " anführt, auf welche es der Natur ankäme und deren „ E r z e u g u n g [. . .] in uns und a u s s e r uns zu f ö r d e r n " 2 0 die Aufgabe der Kultur darstelle, hat Kaufmann keine Mühe, Nietzsches „philosophy of power" nicht nur von dem Verdikt einer Aufforderung zu rücksichtsloser Durchsetzung im einzelnen wie zur Aufrichtung politischer Herrschaft über das Ganze freizusprechen, sondern in ihr sogar die Züge eines neuen Menschenbildes zu entdecken. Genauer: den Grundzug einer Selbstüberwindung, die Nietzsche alsbald im Zentrum jeder moralischen und als solcher geistbestimmten Lebensweise aufspüren und r e s p e k t i e r e n werde; es komme ihm bei seiner dezidierten Kritik lediglich, aber wesentlich darauf an, die moralische Forderung von dem Odium einer „Ausrottung" (extirpation) der Triebe zu befreien, um sie für die Aufgabe ihrer „Disziplinierung" zu gewinnen. Solche Selbstbeherrschung mag gleichermaßen für den künstlerischen Prozeß wie für die wissenschaftliche Arbeit und das philosophische „Schaffen" unerläßlich sein, sie kann aber durchaus, wie Kaufmann bei Nietzsche belegt, als allgemeine Aufforderung zu 18 19 20
M 113. U B II, H L 10. U B III, SE 5.
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jenem „Seinem Charakter ,Stil geben'" verstanden werden, in dem der „übermenschliche Geist" des wahren Genies seine Kraft „ n i c h t auf W e r k e , sondern auf sich als W e r k , verwendet" 2 1 . Auch dann wird das „ Z i e l d e r M e n s c h h e i t " immer noch „in i h r e n h ö c h s t e n E x e m p l a r e n " 2 2 liegen, denen eine entsprechend erfolgreiche Selbstüberwindung vergönnt ist und gelingt, doch sind die Leitbilder nicht länger C. Borgia und Napoleon, sondern Sokrates und Goethe. Ist damit das Motiv der und zur Selbstüberwindung in der Sinngebung durch das eigene Werk oder eine künstlerische Lebensgestaltung gesichert, bleibt noch nach der Bedingung der Möglichkeit und der Verfahrensweise einer Uberwindung zu fragen, bei der das Selbst nicht nur weitgehend auf äußere Ausübung von Macht verzichtet, sondern diese überdies gegen die Befriedigung seiner unmittelbaren Bedürfnisse wendet. Kaufmann — dem gleichermaßen daran gelegen ist, die empirische Basis in Nietzsches Philosophie vom Willen zur Macht heraus- wie den experimentellen Grundzug seiner Psychologie einer Selbstüberwindung sicherzustellen — findet den Schlüssel zur Aufdeckung des Widerspruchs einer freiwilligen Restriktion des Trieblebens durch den Geist in einer ebenfalls unter Nietzsches „psychologischen Errungenschaften" oft genug übersehenen Entdeckung, mit welcher der Philosoph einen Grundbegriff der modernen Psychologie vorwegnimmt: in der „Sublimation" (218ff.) 2 3 . Ihr soll der doppelte Balance-Akt gelingen, auf den es hier ankommt: die Triebe zu disziplinieren, ohne sie zu unterdrücken — wozu jedenfalls die moralische Forderung tendiert —, und den Willen zur 21 22 23
F W 290; M 548. U B II, H L 9. Kaufmann verweist, op. cit. S. 215ff., auf Klages, der — freilich Entdeckung und Heranziehung der Sublimation durch den Philosophen übersehend, andererseits aber stets bemüht, „das Irreführende der Formel Wille zur Macht" aufzuzeigen - als erster und einziger Interpret den scheinbaren inneren Widerspruch in Nietzsches „Uberwindungsmotiv" festgestellt habe. L. Klages: Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches. Bonn 4 1979, XIV. Kapitel (vorher S. 39). — Zur Bedeutung der Sublimation bei und für Nietzsche kann Kaufmann darauf verweisen, daß schon der erste Aphorismus von M A I das Ergebnis des angestrebten „historischen", die Methode der Natur- auf die Geisteswissenschaft übertragenden Philosophierens in der „Erklärung" zusammenfaßt, daß es „weder ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen" geben könne, „beides" vielmehr „ n u r Sublimirungen" seien, „bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint [. . .]". M A II, V M , 95 spricht sogar von einer „sublimirten Geschlechtlichkeit" im modernen Sinne, die „im Christenthum ihren Fund gemacht" habe, welche Behauptung J G B 189 u . ö . wiederholt w i r d ; dagegen fragt eine Nachlaßstelle (Ende 1886 - Frühjahr 1887, K G W VIII 1, 7 [3]) bei der Erwägung, „ I n w i e f e r n d i e W e l t - A u s l e g u n g e n S y m p t o m e i n e s h e r r s c h e n d e n T r i e b e s s i n d " , explizit, „Welche Triebe" wohl der Künstler, aber auch der Wissenschaftler „sublimirt". Weitere Belege bei Kaufmann und, sehr konzentriert, bei Hollingdale (op. cit., Kap. 4 X), der vor allem auf die poetische Schilderung von Za I, „Von den Freuden- und Leidenschaften", verweist: dort bleibt allerdings besonders fraglich, ob die Sublimation eine Umwandlung oder lediglich eine Umwertung erzeugt: „ A m Ende werden alle deine Leidenschaften zu Tugenden und alle deine Teufel zu Engeln".
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Macht so auf die Stilgebung der eigenen Person zu konzentrieren, daß er seiner gleichsam normalen Befriedigung durch die Uberwindung anderer nicht mehr bedarf. Weit entfernt, dazu aufzufordern, den Geist ganz in den Dienst des Grundtriebes zu stellen, sei es Nietzsche wesentlich um dessen „Vergeistigung" durch die schöpferische Kraft eines Willens zur Macht gegangen, der — dem Platonischen Eros vergleichbar zugleich irrationaler Antrieb wie rationaler Gestalter — seinen höchsten Triumph erst und nur im Gelingen einer — durch ihr Werk ausweisbaren — Selbstüberwindung erfahren könne. N u r die Lehre vom „reinen G e i s t " habe der Philosoph zurückweisen (233), das Recht des Geistes auf seine Führungsrolle in der „Selbstrealisation" des Menschen nie bestreiten wollen; sowenig er selbst äußere, politische Macht erstrebt habe, sowenig habe er die Macht des Politischen verherrlichen wollen, — dessen Anspruch er ja ebenso im „neuen G ö t z e n " des autoritären Staates wie in einer „Demokratisierung Europas", soweit diese „zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen, — das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten" 2 4 , bedeute, energisch zurückgewiesen hat. „ D o r t , w o der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche W e i s e . " 2 5
Selbstverständlich weiß Kaufmann um die vergleichsweise schmale, auf den Zarathustra und die zu seinem Konzept führenden Analysen beschränkte Basis, gegen welche die Masse der Texte vor allem aus späterer Zeit spricht, in welcher zunehmend der äußere, will sagen der Aspekt äußerer, wenn auch nicht unmittelbar politisch verherrlichter Macht vorherrscht, die Grundlegung durch Selbstüberwindung aber weitgehend vergessen, allenfalls auf die heroische „Bejahung" des Lebens und des eigenen Stils gegenüber allen Widrigkeiten abgedrängt ist. Gegen ein „Weißwaschen" (194) Nietzsches meint sich der Autor allerdings schon durch die zahlreichen Hinweise auf die dominierende Rolle des Geistes im Erstreben und Ausüben der Macht gesichert, während er seine bewußte Nichtbeachtung des Nachlasses — über die philologische Problematik der Sammlung hinaus — mit dem Hinweis darauf rechtfertigt, daß der Philosoph diese Aphorismen eben nicht endgültig ausgearbeitet und einer Veröffentlichung für würdig befunden habe. So zielt das Anliegen des Buches von Kaufmann genau darauf, den Philosophen einer in zwei Versionen verbreiteten „Nietzsche-Legende" (Prolog) zu entreißen; ihr zufolge sollen, zum einen, seine Gedanken ohnehin so „hoffnungslos inkohärent, zweideutig und widersprüchlich" sein, daß er 24 25
J G B 242. Za I, Vom neuen Götzen.
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keinen Anspruch auf den Rang eines ernst zu nehmenden Denkers erheben dürfe; andererseits sollen sie den Denker gerade in seinem einzigen systemstiftenden Begriff als „Proto-Nazi" (8) abstempeln, — dem Begriff der Macht. Schließlich hat, wie angedeutet, dieser Begriff sogar wohlmeinende Verteidiger seines philosophischen Ranges abgestoßen, wenn schon nicht aus politischen Gründen, so jedenfalls als tendenzieller Rückfall in eben die systematische Metaphysik, welche seine Redlichkeit hatte endgültig überwinden wollen; was blieb ihnen übrig, als Nietzsches Bedeutung auf seine K r i t i k an Religion und Moral, an seiner Zeit wie am Menschen überhaupt, zu beschränken und seine übergreifenden Ideen — der „Übermensch" und die „Ewige Wiederkunft des Gleichen" scheinen ja die genannte Tendenz noch verstärkt zu bezeugen — als Ersatzlösung, wo nicht als allenfalls psychologisch verstehbare Entgleisung abzutun? Solcher — vom Verfasser selbst lange behaupteten — Einstellung gegenüber weist Kaufmann zu Recht auf die Bedeutung hin, welche eben diese Ideen für Nietzsche selbst gehabt haben, — dessen Philosophie daher nicht adäquat verstehen und gerecht würdigen könne, wer von ihnen von vornherein absehe. Und das große Verdienst seiner Arbeit liegt gerade darin, einen systematischen Aspekt dieser Philosophie freizulegen, der seine rigorose Kritik nicht desavouiert, indem er seinen Lösungsansatz als durchaus kritisch fundiert erscheinen läßt — bis hinein in die auf den ersten Blick allerdings so befremdlichen Ideen des Ubermenschen und der Ewigen Wiederkunft. Läßt sich doch, im Lichte dieser Interpretation, jener als Symbol des in der Selbstüberwindung vollzogenen Transzendierens und der erfüllten Aufgabe, „das Chaos zu organisieren", deuten, während diese die zeitlose und insofern ewig wiederkehrende, ja zu aller Zeit bestehende Möglichkeit einer Verifizierung des überhistorischen Ideals im „Typus der höchsten Wohlgerathenheit" symbolisieren könnte (307ff.) 26 . Allein, so beachtens- und bedenkenswert diese Interpretation auch sein mag — von der man bedauern muß, daß sie noch nicht in einer deutschen Ubersetzung vorliegt 27 —, so gewichtig sind die Bedenken, die der kritische Leser am Ende doch gegen sie erheben muß. Nicht gegen ein „Weißwaschen" von Intentionen und Ambitionen des Philosophen, soweit es darum geht, seine Ideen angesichts ihres offenkundigen Mißbrauchs zur Begründung und Durchsetzung politischer Macht zu verteidigen, — vor deren „Dämon", mag er sich für ein irdisches oder ein himmlisches „Reich" einsetzen, er stets gewarnt hat; wohl aber gegen die Einseitigkeit einer Darstellung, welche ebensowohl das „Dynamit" dieser Ideen vergessen wie, damit verbunden, die Möglichkeit ihrer beliebigen Verwendung im Dienste der Macht gar nicht 26 27
UB II, H L 10; E H III 1. J. Salaquarda bereitet gegenwärtig eine Ubersetzung vor.
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mehr recht begreifen läßt 28 . Nicht gegen die Heraus- und Klarstellung humaner Tendenzen einer Philosophie, die man, weil sie nur die redliche Einsicht in die Situation des Menschen verbreiten wollte, allzu vorschnell eines Angriffs auf jegliche Humanität verdächtigt hat; wohl aber gegen ein Verschweigen ihres eigenen Abgleitens in die Inhumanität einer endgültigen Interpretation, die sie selbst als Folge überhöhter Ideale aufgedeckt hat. Schließlich nicht gegen den energischen Hinweis auf die rationalen Momente dieser Philosophie, die man so leicht und gern als Inbegriff eines totalen „Irrationalismus" ansehen kann; wohl aber gegen die Harmonisierung der Gedanken eines Philosophen, für den die Unterwerfung unter die Macht des Geistes stets verdächtig ist, bloße Kompensation eines gehemmten „ L e i b e s " zu sein, und das „Streben nach Auszeichnung" in jeglicher Form immer zugleich ein „Streben nach Überwältigung des Nächsten" bleibt 2 9 . Besonders bedenklich wird die Arbeit von Kaufmann aber an der Stelle, wo sich der Autor verleiten läßt, von einer systematisierenden Betrachtung der Selbstüberwindung in die Darstellung eines Systems des Willens zur Macht überzugehen, Nietzsche kurzerhand zum „dialektischen Monisten" erklärt und ihm einen „monadologischen Pluralismus" zuschreibt (235ff.), welcher die Harmonie äußerer und innerer Momente des Grundtriebes ausdrücken soll. Damit wird jedoch die gerade gewonnene dialektische Sokratik je eigener, existentiell vollzogener Selbstüberwindung sogleich wieder in eine hegelianisierende Dialektik „aufgehoben", das neue Menschenbild bedingter Selbstverwirklichung zugunsten eines Weltbildes preisgegeben, dessen unbedingter Wirksamkeit des Willens zur Macht es sich anzupassen gilt: Aus der N o t wendigkeit, sich für den Gewinn eigener Identität absolut zu setzen, wird die Nötigung, sich mit dem vorgegebenen Absoluten zu identifizieren. Doch ungewollt — wie es Dialektikern so zu ergehen pflegt — deckt Kaufmann mit seinem Versuch einer umfassenden, an Hegels Konzeption des „absoluten Geistes" orientierten (123 u . ö . ) „Synthese" genau den unüberbrückbaren Gegensatz in Nietzsches Philosophie auf. Er besteht nicht zwischen der dualistischen Intention des Frühwerks und der monistischen Konzeption der Spätzeit, auch nicht zwischen dem lebensphilosophischen Ansatz und den Ansätzen zu einem kritischen Rationalismus, ja nicht einmal zwischen dem exoterischen Werk der veröffentlichten Schriften und der im Nachlaß verborgenen esoterischen Botschaft. Vielmehr verbirgt sich hinter diesen divergierenden Tendenzen nur die grundsätzliche — keineswegs bei Nietzsche allein festzustellende — Diskrepanz zwischen der theoretischen Kritik fremder Ansprüche und dem Anspruch, der praktisch für die eigene 28 29
M 262; E H , Warum ich ein Schicksal bin 1. M 113, vgl. S. 229.
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Theorie erhoben wird; so verdienstvoll es ist, daß Nietzsche den Willen zur Macht hinter jenen Ansprüchen generell und prinzipiell aufdeckt, so redlich es sein mag, daß er sich selbst zu ihm bekennt, so bedenklich erscheint es, daß er sogleich für sein Prinzip, wie verschlungen auch immer, die Wahrheit beansprucht, die nicht zu haben er als „das Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie" verstehen wollte 3 0 . Erst mit diesem Umschlag seiner Kritik in eine neue Theorie droht seine Philosophie zur Ideologie zu werden, deren Genese sie beschreibt; es ist der Umschlag von der Selbstüberwindung zugunsten eines persönlich erstrebten, allenfalls allgemein für erstrebenswert gehaltenen Ideals in das Streben nach Uberwindung anderer, am Ende aller, durch und unter die absolut gesetzte eigene Idee, — der Umschlag vom sublimierten in den realisierten Willen zur Macht.
III.
Der realisierte Wille zur Macht
Den so realisierten Willen zur Macht sieht Müller-Lauter in seiner bedeutsamen Studie — der ersten umfassenden Erörterung der Philosophie Nietzsches im Lichte ihrer späteren systematischen Ideen — als den allein maßgeblichen, zumindest beachtenswerten Aspekt für und bei Nietzsche an; er erwähnt nicht nur den von Kaufmann herausgearbeiteten Ansatz eines in der bzw. die Selbstüberwindung sublimierten Willens zur Macht mit keinem Wort, sondern schenkt auch den beiden Zarathustra-Kapiteln, auf welche sich dieser Autor stützt, keinerlei Beachtung. Dabei könnte er sich, wie bemerkt, durchaus auf den Philosophen selbst berufen, der in der Entwicklung seiner späteren Theorie den früheren kritischen Entwurf kaum berücksichtigt, ja ihn ganz vergessen zu haben scheint. Beachtet man allerdings den Untertitel seines Buches, so wird deutlich, daß Müller-Lauter auch und gerade bei der Nachzeichnung von Nietzsches „Philosophie der Gegensätze" auf eben die „Gegensätze seiner Philosophie" gestoßen ist, in denen jener Grundwiderspruch zum Ausdruck kommt und an deren mißlingender „Synthese" er den Philosophen scheitern läßt. Zunächst möchte Müller-Lauter freilich den Willen zur Macht — den er weder mit Heidegger als metaphysisches Prinzip noch als Konkretisierung des Schopenhauerschen Universal willens, geschweige denn als Rückfall in ein Hegelsches „Systemdenken" versteht — wesentlich als Ausdruck des philosophischen Bemühens deuten, „gegen jede Art von metaphysischem Dualismus die Einzigkeit dieser Welt zu behaupten". Deren Wesen habe Nietzsche 30
Nachlaß, Frühjahr 1880, K G W V 1, 3 [19]: „ D a s Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine Uberzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: d a ß w i r d i e W a h r h e i t n i c h t haben."
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zwar in einem unaufhörlichen, ja am Ende ewig wiederkehrenden Prozeß permanenter Konflikte zwischen den sich gegenseitig zu überwältigen trachtenden realen Machtquanten gesehen, — um jedoch, mit eben solcher Bezogenheit der Kraftzentren aufeinander, „jede als a b s o l u t verstandene Gegensätzlichkeit" zu bestreiten, wie sie nur aus einer Übertragung logischer Begrifflichkeit auf die Realität resultieren könnte. Um diesen „Gegensatzcharakter des Daseins als Faktizität, ja als Letztgegebenheit", verbunden mit einer „Leugnung des" — von der menschlichen Erkenntnis fiktiv vorgegebenen — „Beständigen zugunsten des reinen Prozesses", sei es Nietzsche vor allem in seiner Spätphilosophie gegangen; diese braucht dann nicht nur keinen Abfall gegenüber der „moralkritischen Entlarvungspsychologie" zu bedeuten, welche auch für Müller-Lauter „zu nicht geringem Teile die Faszination mitbegründet", die Nietzsches „Denken in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts ausgeübt hat", sondern kann durchaus als letzte und konsequente Folgerung aus seinen Genealogien verstanden werden, — die ja der kritischen Abwehr eben solcher Verabsolutierungen dienen sollten (16ff.). Aus dieser, jeder Durchsetzung eines einseitig ausgerichteten Machtwillens geradezu widersprechenden, am ehesten doch noch monadologisch 31 zu verstehenden Konzeption kann Müller-Lauter dann, im minutiösen Nachvollzug der Argumentationen Nietzsches, auch noch die bekannten immanenten Widersprüche bei der Entwicklung der früheren Philosophie im Lichte der im Spätwerk realisiert gedachten Gegensätze begreiflich machen: So löst sich etwa „das Gegensatzproblem in Nietzsches Geschichtsphilosophie" (2. Kap.) — seine Wendung vom durchschauten Nachteil einer wissenschaftlichen Bemühung um die Historie zur Entdeckung des Nutzens eines „historischen" Philosophierens mit wissenschaftlichem Anspruch — letztlich darin auf, daß der „Starke" sich die Geschichte aneignen kann, ohne ihrer dekadenten Entwicklung zu verfallen, ja aneignen muß, um aus dem Scheitern aller Versuche des Menschen, sie überhistorisch zu deuten, die Kraft zu gewinnen, sich in ihr unhistorisch — aber ihre Gegensätze „rechtfertigend" — zu behaupten. Demgegenüber müssen die „Schwachen" — man beachte die Akzentverschiebung zu Kaufmann — darauf bedacht sein, die ihnen verwehrte Ausübung der Macht, aber auch ihre fehlende Kraft zur „Synthese", durch die „Verinnerlichung" jener im moralischen Menschen zu kompensieren, um den Mangel an dieser im „Ressentiment" eines von vornherein zum Scheitern verurteilten „Sklavenaufstandes" wirksam werden zu lassen. Damit erledigt sich zugleich der scheinbare „Selbst-Widerspruch" im „asketischen Ideal", die Gegensätze der Welt dadurch überwinden zu wollen, daß man sich in einen 31
Auch Kaufmann spricht gern von „Nietzsches Monadologie" (S. 2 6 3 , vgl. oben S. 233). Neuerdings ist F . Kaulbach dieser Thematik — „Nietzsche und der monadologische Gedanke" - ausführlich nachgegangen: Nietzsche-Studien 8 (1979) S. 1 2 7 - 1 5 6 .
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Gegensatz zur Welt stellt (3. Kap.); denn sowenig die Macht durch ihre innere Ausübung geschmälert wird, sowenig kann das Gegensatzproblem des Lebens durch seine Verlagerung in das Individuum — das damit, wie Nietzsche sagt, zum „dividuum" wird 3 2 — gelöst werden. Ja, am Ende wird gerade ihre Verinnerlichung die Vergeblichkeit jeder Auflehnung gegen einen Nihilismus, der sich als „Wille zum Nichts" ebenso in der moralisch-religiösen Verneinung des Lebens wie in der Bejahung eines ziel- und sinnlosen und damit eigentlich „nicht" wollenden Willens äußert, vollends einsichtig machen. Schließlich könnte dann für den, der sich solcher Einsicht stellt, die redliche Anpassung an die unaufhebbaren Gegensätze der Welt durch einen offen bekannten und unmittelbar ausgeübten Willen zur Macht redlicher erscheinen als die Aufrichtung seiner verborgenen Herrschaft im „Nichts" einer Gesetzlichkeit, deren Verneinung nur die gehemmte Bejahung verrät: „In alledem ist der Wille zum Nichts ein Wille zur Macht, der sich als dieser verbirgt." (78). Immerhin werden damit auch aus dieser Perspektive eines sich ohnehin eher in den geistigen Bewegungen und weltanschaulichen Strömungen als in den politischen Auseinandersetzungen der Geschichte realisierenden Willens zur Macht die zwei „Typen" vertieft sichtbar, zwischen denen der eigentliche Gegensatz liegt: derjenige des „Starken", der sich weigert, durch künstliche Restriktionen einem Leben Gestalt geben zu wollen, das sich schließlich doch als sinnlos erweisen muß, und derjenige des „Schwachen", den gerade und nur die asketische Verneinung des Lebens dieses noch im Hinblick auf einen Sinn, zumindest eine sinnvoll zu erhebende Forderung, ertragen läßt. Insoweit und solange es beiden Typen um die Aufrichtung und Ausdehnung ihrer Macht, durch die Unterwerfung anderer unter das Gesetz ihres Willens, geht, sind sie dabei jeweils auf die Überwältigung der Vertreter des gegensätzlichen Typus angewiesen, — ohne damit freilich „den Untergang der Menschheit verhindern zu können". Die Starken nicht nur deshalb nicht, weil sie in der heraufbeschworenen Situation permanenter Konflikte stets Gefahr laufen, noch Stärkeren zu begegnen, denen sie unterliegen müssen; vielmehr auch und vor allem deshalb, weil sie gegenüber der Menge den „Sieg der Schwachen und Mittleren" gar nicht verhindern können. Doch auch die letzteren bezahlen den Sieg ihrer „Ressentiments"-Bewegung einer Auflehnung gegen das Gesetz des Lebens — die im Christentum ihren höchsten Ausdruck gefunden haben soll — mit einer bis zum äußersten vertieften Erfahrung des Nihilismus, wenn sich herausstellt, daß sogar die umfassende Relativierung des Lebens das Absolute nicht herbeizuzwingen vermag, in dem allein die Gegensätze aufgehoben wären. Zugleich aber „züchten" sie, im Scheitern aller Bemühung um die Realisierung eines letzten Zwecks, eben jene „Spannung" heran, aus und von 32
MA I 57.
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der Nietzsche einen neuen Typus der Stärke erwartet, der, in „voller Ubereinstimmung mit ,dem Leben'" (79) stehend, den wahren, weil seiner selbst bewußt gewordenen Willen zur Macht repräsentieren würde. Dieser müßte sich dann allerdings auch noch von seiner „letzten Tugend" freimachen, welche der Aufrichtung seiner Herrschaft bei der Begründung des absoluten Anspruchs ihrer Macht im Wege sein könnte, — der „intellektuellen Redlichkeit" des Willens zur Wahrheit, welcher zuvor, im historischen Vollzug systematischer Selbstaufhebung, gerade diesen Anspruch beim weltanschaulichen Gegner zerstört hat. An diesem Punkt jedoch, wo der Philosoph wie sein Interpret zunächst keine Mühe zu haben scheinen, auch noch den Willen zur Wahrheit auf seinen „moralischen Sinn" (5. Kap.) und damit auf einen Machtwillen der „Schwachen" zurückzuführen, welche mit und in ihm den Anspruch der „Starken" auf Herrschaft endgültig zunichte zu machen trachten, wird Nietzsches eigener Weg in die Ideologie sichtbar, — der ihn allerdings zugleich die Bedingungen ihrer Möglichkeit und ihrer Verwirklichung aufdecken läßt. Beginnt doch dieser Weg überall und allemal mit einer Absage an den Willen zur Wahrheit, soweit von ihm kritische Bedenken gegen die Endgültigkeit der eigenen Interpretation der Welt und des Menschen erhoben werden könnten, — um in der Behauptung einer „neuen Wahrheit" zu enden, welche die Gültigkeit der Theorie voraussetzt, deren Anhängern sie — theoretisch wie praktisch — zur Macht verhelfen soll. Müller-Lauter macht diesen Weg Nietzsches der und zur Ideologisierung seiner Anschauungen präzise deutlich: Von der kritischen Bestreitung des Anspruchs anderer Interpretationen, bei denen die Abkehr von der Allgemeinheit alter die Auserwähltheit der Vertreter der neuen Wahrheit zur Folge hat — „die Wahrheit ist nichts, was Einer hätte und ein anderer nicht hätte" 3 3 —, über die radikale Leugnung jeglicher Wahrheit überhaupt — „es giebt vielerlei ,Wahrheiten', und folglich giebt es keine Wahrheit" 3 4 — bis hin zu der Behauptung, nun doch in der eigenen Erfahrung das wahre Wesen der Welt enthüllt zu haben: „ D i e s e W e l t ist d e r W i l l e z u r M a c h t — u n d n i c h t s a u ß e r d e m . " 3 5 Anders ausgedrückt: „Die ,neue' 33 34 35
A C 55. Nachlaß, K G W VII 3, 34 [230], Nachlaß J u n i - J u l i 1885. K G W VII 3, 38 [12]. - Bemerkenswert an dieser weithin bekannten Stelle ist vor allem der glatte Ubergang von der eingangs sehr persönlich gestellten Frage: „ U n d wißt ihr auch, was mir ,die Welt' ist?" zur apodiktischen Version der angeführten Behauptung, - die sich denn auch als „Eine L ö s u n g für alle ihre Räthsel" ausgibt. K. Schlechta hat — in einer Antwort auf kritische Bedenken von K. Löwith gegen die Tendenz, mit seiner Neuausgabe nicht nur die Kompilation eines vorgetäuschten Hauptwerkes philologisch rückgängig zu machen, sondern damit zugleich philosophisch zu belegen, „daß es den Willen zur Macht als ein von Nietzsche gestelltes und durchdachtes Problem von weitester Herkunft und größter Tragweite nicht gäbe" (Der Fall Nietzsche, München 2 1959, S. 120-122) — versucht, Nietzsches affirmative Thesen durch den Hinweis zu entschärfen, daß der Philosoph in seinen
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Wahrheit (die von jeher die einzige, in der Vergangenheit freilich verborgen gebliebene ist) besteht im Einssein mit dem Willen zur M a c h t " (114). Damit ist allerdings, wie Müller-Lauter feststellt, „Nietzsches Kriterium der ,Wahrheit' . . . in der .Steigerung des Machtgefühls' gefunden" (110), aber dieses Kriterium leistet gerade nicht, was es belegen soll: die Gleichberechtigung aller Perspektiven letztgültiger Interpretationen; dagegen belegt es, was es verdecken möchte, daß alle Wahrheit, welche der Absolutsetzung der eigenen Perspektive entspringt, lediglich Ausdruck des Willens zur Macht ist. Nietzsches eigenes Bekenntnis zu diesem Willen mag ebenso die subjektive Konsistenz seiner Theorie wie seine Redlichkeit ausweisen, es kann selbstverständlich nicht die objektive Gültigkeit des Prinzips bestätigen, dessen Allgemeinheit es leugnen muß; sein Umschlag zur Ideologie liegt nicht in der Relativierung der Macht der Wahrheit, deren bloßer Richtigkeit man die eigenen Interessen nicht unterwerfen möchte, sondern erst in der Absolutsetzung der Wahrheit der Macht, die gebietet, alles (und alle) dem eigenen Interesse zu unterwerfen. Es ist daher kein Zufall, daß Müller-Lauter — der sich bewußt auf eine immanente Analyse beschränkt — am Ende den eigentlichen Gegensatz in Nietzsches Philosophie i n n e r h a l b des Willens zur Macht selbst entdeckt, der in die beiden Perspektiven seiner unbedingten Realisierung und seiner je bedingten Sublimierung zerfällt, die der hier angestrebten Untersuchung zugrunde liegen. Nötigt ihn die Realisierung zur „Absolutsetzung e i n e r Perspektive" (111), welche ihn erst, obschon nur „erstarrt", als Willen zur Macht ausweist, so gebietet, hier nicht als solche erkannt und genannt, die Sublimierung gerade die „Anerkennung a l l e r Perspektiven", in denen er sich, freilich „jede wirksame Gestalt" verlierend, als Selbstüberwindung bewähren und betätigen kann. In jener Version fordert der Wille zur Macht den allen Ideologien gemeinsamen Typus des Ubermenschen, der die Anerkennung der eigenen Lehre erzwingen muß, weil und soweit er, der Attraktivität seiner Idee offensichtlich keineswegs gewiß, den Menschen nur durch die Aufrichtung seiner Herrschaft „überwinden" kann. „ E s ist nicht genug, eine Lehre zu bringen: man muß auch noch die Menschen g e w a l t s a m v e r ä n d e r n , daß sie dieselbe annehmen! — Das begreift endlich Zarathustra." 3 6
36
veröffentlichten Werken — die entsprechende Stelle, J G B 36 (vgl. A n m . 7), will nur „den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen" - seine Gedanken wesentlich vorsichtiger, eben in der F o r m von Hypothesen, vorgetragen habe. Diese Interpretation hat jedoch W . Müller-Lauter (Nietzsche-Studien 3, 1974, S. 8ff.) entschieden zurückgewiesen und präzise widerlegt. Nachlaß, K G W VII 1, 16 [ 6 0 ] ; 16 [51] vermerkt als Plan zu „Zarathustra 3 " explizit den „ U b e r g a n g vom F r e i g e i s t . . . zum H e r r s c h e n - M ü s s e n " .
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Im zweiten Falle bringt die Einsicht in das Desiderat allgemeiner, aber nur individuell vollziehbarer Selbstüberwindung den „weisesten Menschen" hervor, der, als „der reichste an Widersprüchen" (120), für den Fanatismus des Starken und sein Streben nach politischer Herrschaft nur Verachtung übrig hat. „Herrschen? Meinen Typus Andern aufnöthigen? Gräßlich! Ist mein Glück nicht gerade das Anschauen vieler A n d e r e r ? P r o b l e m . " 3 7
Der erste Typus, „der sich auf sein Ideal beschränkende Starke" (138), kann seine Legitimierung nur teilweise in der Geschichtstheorie des Wiederkunftsgedankens finden, der ihm zwar „die Möglichkeit einer Befestigung seiner Macht" eröffnet, aber zugleich den Durchsetzungswillen der Vertreter anderer Ideale stärkt; daher „läßt sich die Wiederkunftslehre nicht aus der Eigentümlichkeit des gewalttätigen Ubermenschen ableiten". Diese Lehre „erwächst . . . andererseits mit zwingender Konsequenz aus dem radikalisierten Selbstverständnis des synthetisierenden Weisen" (138f.), — bei dem allerdings „das Ja zur ewigen Wiederkunft" (159) wohl nur den Willen symbolisiert, mit einer absolut gesetzten Sinnlosigkeit übermenschlich fertig zu werden und, ihrer ungeachtet, das Leben relativ sinnvoll zu gestalten. Während jedoch der erste Typus, vom „Nein-sagen" zum „Nein-thun" übergehend, den Nihilismus nur durch seine Radikalisierung zu überwinden, „die Uberwindung des Nihilismus" nur „als dessen äusserste Konsequenz zu beschreiben" (106f.) vermag, muß der zweite schließlich „sogar die nihilistischen Verwerfungen billigen, die er selbst verwirft", um durch seine „Weisheit des Ja-sagens" der Verführung zur „Stärke des Nein-thuns" (129f.) zu wehren. Hier wie dort kann Müller-Lauter nur die Selbstaufhebung auch noch des Willens zur Macht konstatieren, der, wie angedeutet, seinem eigenen Absolutheitsanspruch in jedem Falle erliegt, sei es, daß der Starke der von ihm heraufbeschworenen permanenten Konfliktsituation zum Opfer fällt, sei es, daß der Weise ein Opfer seiner Toleranzidee wird.
IV. Von der Selbstüberwindung zum Willen zur Macht So entläßt uns Müller-Lauter, bemüht, Nietzsches systematische Philosophie an der immanenten Widersprüchlichkeit des Willens zur Macht scheitern zu lassen, in dieselbe Fragestellung — nach der Möglichkeit einer Selbstüberwindung, die sich nicht im Willen zur Macht aufhebt —, in welche Kaufmanns Reduktion des Willens zur Macht auf eine, freilich zum System 37
Op. cit. 16 [86],
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erweiterte „Dialektik" der Selbstüberwindung geführt hat. Beide Interpretationen nehmen, wie bemerkt, von dem jeweils korrelativen Ansatz keinerlei Notiz, geschweige denn daß der Versuch einer Synthese dieses letzten Gegensatzes — zwischen Kritik und Theorie — bei Nietzsche ins Auge gefaßt würde, — deren Desiderat indes auch der Philosoph selbst überhaupt nicht verspürt zu haben scheint 3 8 . Dabei bieten die Texte durchaus Hinweise auf den Weg zu einer solchen Synthese, die ja nicht unbedingt eine „Versöhnung" mit Nietzsche und schon gar nicht mit dem Willen zur Macht beinhalten muß; ja, vielleicht könnte die Eröffnung dieser Perspektive einen Beitrag liefern, wenn schon nicht den Nihilismus, so jedenfalls Nietzsche insoweit zu überwinden, daß der Wille zur Macht als das untauglichste Mittel, mit ihm — mit Nietzsche wie mit dem Nihilismus — fertig zu werden, erkannt wird. Allerdings bedarf es dazu eines vertieften Einblicks in die Motivation und Struktur des Willens zur Macht, den Nietzsche sich und uns dadurch verdeckt, daß er sich selbst zu ihm bekennt, — es bleibt nur zu prüfen, ob er ihm verfallen m u ß t e oder ihm verfallen w o l l t e ; anders ausgedrückt: ob er ihn sublimieren oder ihn nur auf besonders sublime Weise realisiert ausüben konnte. Einen Schlüssel zu der hier am Ende kurz zu skizzierenden Lösung dieses Problems bietet der — schon von Müller-Lauter im Zusammenhang eines Nachweises des Willens zur Macht in der Moral herangezogene — letzte Aphorismus der „Genealogie der Moral", der unvermerkt geradezu in das von Kaufmann aufgespürte Konzept hinein- bzw. zurückführt. In diesem Aphorismus wird bekanntlich die im dritten Kapitel der Abhandlung aufgeworfene Frage: „Was bedeuten asketische Ideale?" mit der Feststellung beantwortet, daß der scheinbare innere Widerspruch einer freiwilligen, den unmittelbaren Machtwillen hintanstellenden Unterwerfung des Menschen unter Ideale und Ideen — von der moralischen Askese bis zur asketischen Anerkennung der 38
In seiner Untersuchung der „Relation between Nietzsche's Theory of the Will to Power and His Earlier Conception of P o w e r " wendet sich W. Mittelman, Nietzsche-Studien 9 (1980) S. 122—141, gegen die von Kaufmann und Hollingdale, vorher bei Jaspers, verbreitete Ansicht einer kontinuierlichen Entwicklung von der frühen K o n z e p t i o n der M a c h t zur späteren T h e o r i e des W i l l e n s z u r M a c h t . Gegenüber dieser Auffassung weist er auf den Unterschied hin, der bestehe zwischen dem „desire for e x t e r n a l p o w e r " , das Nietzsche in den Werken vor dem „Zarathustra" aus psychologischen Beobachtungen erschließe, und der Ansetzung eines Grundtriebes als „ i n t e r n a l p o w e r " , wie er der späteren Lehre zugrunde liege. Eigentümlicherweise sieht Mittelman dann gerade das entscheidende Moment für diese letzte Konstruktion in Nietzsches Betonung der „kreativen" Funktion des Menschen, deren abgestufte Verschiedenheit zugleich die differenzierten Äußerungen des Grundtriebes und seiner Objektivationen, besonders in den Werten, erkläre: „ a lack of will to power is the cause of a large ränge of behavior and values". D a der Verf. es aber unterläßt, den Bezug zu Zarathustras Begründung des Willens zur Macht auf Selbstüberwindung herzustellen, bleibt es bei der Darstellung, „that Nietzsche's earlier observations concerning power cannot empirically confirm his later theory of the will to p o w e r " , — wobei allerdings aufschlußreiche Hinweise auf beibehaltene Ansätze zur Behauptung des Desiderats einer „spiritualization of Our drives" auch in der späteren Entwicklung der Lehre gewonnen werden.
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Resultate der Wissenschaft, ja einer Respektierung des Willens zur Wahrheit überhaupt — sich in der damit gewonnenen, zumindest intendierten Sinngebung aufhebt, ohne welche es das mit dem Geist nicht sowohl ausgezeichnete als beladene „Tier Mensch" nicht aushalte. „Sieht man v o m asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das T h i e r Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; , w o z u Mensch überhaupt?' — war eine Frage ohne A n t w o r t ; der W i l l e für Mensch und E r d e fehlte; hinter jedem grossen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch grösseres . U m s o n s t ' ! "
Die so dem Menschen vorbehaltene Wahrnehmung dieser „ungeheuren Lücke" weist ihn schon und vor allem deshalb als ein „in der Hauptsache [. . .] k r a n k h a f t e s Thier" aus, weil er zwar die letzte Unbehebbarkeit des Leidens in und an der Endlichkeit seines Daseins begreift, ja akzeptiert, aber gleichwohl nach einer sinngebenden Interpretation verlangt, durch welche sein Leiden im Ganzen des Seins aufgehoben erscheint. „ D e r Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Thier, verneint an sich n i c h t das Leiden; er w i l l es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, dass man ihm einen S i n n dafür aufzeigt, ein D a z u des L e i d e n s . "
Der Behebung, wenn schon nicht des Leidens, so jedenfalls von dessen Sinnlosigkeit, dient das „asketische Ideal" nun gerade dadurch, daß es den Menschen in ein Engagement einspannt, welches ihm zugleich gestattet, ein durch sein Leiden als sinnlos ausgewiesenes Leben seinerseits zu verneinen wie an der Realisierung des Zweckes mitzuarbeiten, in dem das Leiden endgültig bewältigt, entweder relativ gefaßt zu ertragen oder als absolut beseitigt zu erfahren sein soll. „ D i e Sinnlosigkeit des Leidens, n i c h t das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag, — u n d d a s a s k e t i s c h e I d e a l b o t ihr einen S i n n ! "
Allerdings bleibt zunächst der Widerspruch zwischen einer bloßen, als solcher unwirksamen Interpretation und der erhofften vollständigen Behebung des Leidens; er kann nur dadurch, wenn nicht gelöst, so doch überbrückt werden, daß der Mensch es nicht bei der faktischen — relativen oder absoluten — Negation eines sinnlosen Lebens bewenden läßt, sondern sich selbst insofern als „schuldig" an der Sinnlosigkeit empfindet, als er weder den Anspruch der Endlichkeit völlig zu verweigern noch demjenigen der unendlichen Forderung ganz zu genügen vermag. Aber solches „neues Leiden", das alles Dasein unter die „Perspektive der Schuld" geraten läßt, wird mehr als aufgewogen durch den Gewinn eben des Sinns, dessen Nichtrealisierbarkeit der Mensch jetzt gleichsam durch die Vergeistigung seines realen Leidens zu kompensieren trachtet.
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„Die Auslegung — es ist kein Zweifel — brachte neues Leiden mit sich, tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes: sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der S c h u l d . . . A b e r trotzalledem — der Mensch war damit g e r e t t e t , er hatte einen S i n n [. . .]"
Diese totale, wenn auch insofern „widersinnige" Verneinung des Lebens, als durch sie das Leiden nicht nur nicht behoben, sondern zu einem solchen am Leben vertieft wird, ist es, die Nietzsche im „asketischen Ideal" aufdeckt und als einen zu hohen Preis für die „Rettung" des Willens zurückweist. Doch man vergesse nicht, daß damit keineswegs die freiwillige Unterwerfung unter sinngebende Restriktionen ebensowohl eines banalen Genußlebens wie bedingungsloser Durchsetzung, sondern nur die Sinnlosigkeit erzwungener Anpassung an ein absolutes Telos verurteilt wird, das jede bedingte Lösung von Problem und Problematik des Leidens verwirft, ohne auch nur den Einblick in die Legitimität der unbedingten Forderung zu gewähren. Letztlich ist es also lediglich eine tiefe Enttäuschung — die eigene, in welcher sich diejenige der Menschheit widerspiegelt —, welche Nietzsche aus der Unwirksamkeit auf die Unwirklichkeit eines solchen Telos schließen und dessen Ansatz als „Nichts" verstehen läßt, — auf das der menschliche Wille gleichwohl nicht glaubt verzichten zu können, weil und solange ihm die Bescheidung auf die Verwirklichung endlicher Ziele als „nicht wollen" erscheint. „Und, um es noch zum Schluss zu sagen, was ich Anfangs sagte: lieber will der Mensch das N i c h t s wollen, als n i c h t wollen . . ," 3 9
Es ist nun unschwer einzusehen, daß diese Erörterung im wesentlichen nur die resignierende Kehrseite des Konzepts darstellt, demzufolge Zarathustra den Willen zur Macht auf Selbstüberwindung gründen, genauer: die weite Verbreitung des ersteren aus der Unerläßlichkeit der letzteren begründen will. Was die spätere Schrift nur noch als „einen W i l l e n z u m N i c h t s , einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens" verstehen kann, empfiehlt das frühere Werk dem Menschen als „löblich", insofern es „ihm schwer gilt", als „gut", weil „unerlässlich und schwer", — gerade weil und insoweit es „aus der höchsten Noth noch befreit"; das gilt zunächst sogar noch für die Anpassung an die jeweils vorgegebene „Tafel der Güter" der Gemeinschaft, kann aber a fortiori auf die Hingabe an die vom einzelnen „Ich", nach Einsicht in die Notwendigkeit persönlichen „Schaffens", selbstgesetzten und demgemäß material gegen die Vorstellungen der „Heerde" gerichteten Werte ausgedehnt werden. „Eine Tafel der Güter hängt über jedem Volke. Siehe, es ist seiner Uberwindungen Tafel; siehe, es ist die Stimme seines Willens zur Macht. Löblich ist: was ihm schwer gilt; was unerlässlich und schwer, heisst gut, und was aus der höchsten Noth noch befreit, das Seltene, Schwerste, — das preist es heilig. [. . .] 3»
GM III 28.
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Älter ist an der Heerde die Lust, als die Lust am Ich: und so lange das gute Gewissen Heerde heisst, sagt nur das schlechte Gewissen: I c h . " 4 0
Die spätere Erwägung, die unmittelbar „Von der Selbst-Ueberwindung" handelt, vertieft, wie einleitend bemerkt, diesen Aspekt zunächst noch verallgemeinernd zu der Feststellung, daß „alles Lebendige" wesentlich als „ein Gehorchendes" zu betrachten und verstehen sei, — freilich nur so lange, bis der Wille zur Macht hinter den Tafeln der Werte erkannt ist; doch diese Entdeckung des Willens zur Wahrheit, der als „Wille zur Denkbarkeit alles Seienden" die menschliche Setzung hinter der allgemein akzeptierten Satzung durchschaut hat, bedeutet keineswegs die völlige Dispensierung von der Unterwerfung unter Werte überhaupt, sondern lediglich den Ubergang von einem heteronom gesteuerten „ G e h o r s a m " zur individuell fundierten Autonomie dessen, der sich selbst „gehorchen kann". „ A b e r , w o ich Lebendiges fand, da hörte ich auch die Rede vom Gehorsame. Alles Lebendige ist ein Gehorchendes. U n d diess ist das Zweite: D e m wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann. So ist es des Lebendigen A r t . "
Der Preis der Emanzipation ist damit so hoch angesetzt, daß sie nicht leicht in Würde gelingt; nicht nur deshalb, weil prinzipiell „Befehlen schwerer ist als Gehorchen", vielmehr vor allem deshalb, weil die echte Befreiung durch und für das eigene Gesetz so leicht in die Unterwerfung anderer unter seine Satzung umschlägt, für die nun der Gehorsam gefordert wird, den man selbst zuvor verweigert hat. „Diess aber ist das Dritte, was ich hörte: dass Befehlen schwerer ist, als Gehorchen. U n d nicht nur, dass der Befehlende die Last aller Gehorchenden trägt, und dass leicht ihn diese Last zerdrückt: —"
Wie schmal der Grat würdiger Selbstbestimmung ist, wird schließlich daran ersichtlich, daß diese am Ende sogar noch vom eigenen Gesetz gefährdet erscheint, dessen Zwang ja gerade derjenige auf andere ausweiten wird, wo nicht muß, dem es selbst zum Zwang geworden ist. So „wagt das Lebendige sich selber dran", — nicht wenn und weil es sich einer Sinngebung verschreibt, wohl aber insofern und insoweit es sich und anderen mit dieser einen Anspruch — gleichermaßen unverifizierbar in der Theorie wie unlimitierbar in der Forderung — zumutet, dessen „Befehlen" die Freiheit durch eben die Regulierung gefährdet, die sie ermöglichen soll. „ E i n Versuch und Wagniss erschien mir in allem Befehlen; und stets, wenn es befiehlt, wagt das Lebendige sich selber dran. J a noch, wenn es sich selber befiehlt: auch da noch muss es sein Befehlen büssen. Seinem eigenen Gesetze muss es Richter und Rächer und Opfer werden." 40
Za I, Von tausend und Einem Ziele.
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Hier sieht Nietzsche also, jedenfalls bei der individuellen Selbstbestimmung, noch genau, daß die Sinngebung — so unerläßlich wie problematisch — vor allem durch das Moment gefährdet ist, das ihr unverzichtbar scheint, — den a b s o l u t e n A n s p r u c h . Wird er verweigert, droht das dann buchstäblich „wertlose" Dasein der ziellosen Betriebsamkeit eines leeren, keiner auch nur vorläufigen Befriedigung mehr fähigen, aber zu jeder Zerstörung bereiten anarchischen Willens zu verfallen. „ U n d wer ein Schöpfer sein muss im Guten und B ö s e n : wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe z e r b r e c h e n . " 4 1
Ist aber der Preis glaubwürdiger Sinngebung ihr absoluter Anspruch, so läßt ihr neuer, ebensowohl individuell vertiefter wie gesellschaftlich verallgemeinerter Zwang die theoretisch humane Intention fast unvermeidbar in eine inhumane Praxis umschlagen, welcher am Ende nur die Wahl zwischen der Zerstörung aller Werte durch das Selbst oder der Selbstzerstörung durch einen als unbehebbar angesehenen Nihilismus bleibt. „ . E n t w e d e r schafft eure Verehrungen ab oder — e u c h s e l b s t ! ' D a s Letztere wäre der Nihilismus; aber wäre nicht auch das Erstere — der Nihilismus? — Dies ist u n s e r F r a g e z e i c h e n . " 4 2
Genaugenommen übersieht Nietzsche bei dieser Alternative also lediglich, aber wesentlich die Tatsache, daß erst der a b s o l u t e A n s p r u c h die S e l b s t ü b e r w i n d u n g in einen — gegen sich und andere gerichteten — W i l l e n z u r M a c h t überführt, welcher die Hingabe an ihre Sinngebung an der Höhe der Opfer mißt, die er, subjektiv wie objektiv, für die Realisierung der von ihm vertretenen Sinngegebenheit fordern muß. Das gilt, wie man in der Tat beobachten kann, sogar schon für die individuelle Zielsetzung, deren zwanghafte Verfolgung oft genug eher die kompensierte Leere als den erfüllten Zweck verrät; sinn-voll kann solches Verhalten allenfalls bei der totalen Hingabe des Künstlers oder Wissenschaftlers an sein Werk, aber auch — was Nietzsche nicht wahrhaben will, weil er die Selbstüberwindung immer schon im Banne des Willens zur Macht sieht — beim hingebenden Einsatz für den Mitmenschen sein. Mag hier immerhin oft genug ein latent befriedigter Machtwille die Selbstüberwindung tragen oder lohnen, so dient das erstrebte „ W e r k " zumindest gleichrangig dem bestätigten Selbst der Betroffenen wie der Selbstbestätigung der „Schaffenden", — wobei jede Störung des Gleichgewichts zugunsten des Willens zur Macht — und das Soziale kann ja durchaus zum Moment neuer Herrschaft werden — die Sinngebung gefährdet. Vollends zerstört wird aber die letztere überall dort, wo sich die Selbstüberwindung, be41 42
2a II, Von der Selbst-Ueberwindung. FW 346.
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wüßt oder unbewußt, völlig in den Dienst des Willens zur Macht stellt, indem sie auf ihre Unverzichtbarkeit die Unfehlbarkeit des Ideals gründet, hinter dem sich jener Trieb verbirgt. Mag dabei die Idee des Absoluten den Willen zur Macht legitimieren oder dieser die Absolutsetzung der Idee betreiben, die Verlagerung des „Schwergewichts" von der Selbstüberwindung zur erstrebten Uberwindung anderer — durch eine Theorie oder in der Praxis — bleibt unabhängig davon, ob das eigene Ideal jedermann zugemutet wird oder alle ihm unterworfen werden sollen. In jedem Falle wird, zur Uberwindung des Selbst oder anderer beschworen, der Absolutheitsanspruch — in Philosophie und Kunst, Politik und Wissenschaft — zum Kriterium eines Willens zur Macht, — der freilich eher die Schwäche der Sinngebung als ihre Stärke, eher die mißlungene oder verweigerte Selbstüberwindung als den Willen bezeugt, sich mit ihrer Macht zufriedenzugeben. Wo immer sich die Kunst oder die Wissenschaft, aber auch die Philosophie, nicht selten sogar die Religion, in den Dienst des Politischen stellen, müssen sie nicht nur ihre genuinen Ziele weitgehend verraten, verraten sie vielmehr auch oft genug die Unfähigkeit oder Unwilligkeit ihrer Träger, einer für das Selbst gewählten Bestimmung zu genügen, sich mit dem Erfolg zu bescheiden, den ihr Werk — innerlich oder äußerlich — erringen kann. Doch dieses Abgleiten in das Politische eines unmittelbaren, wenn auch hinter Ideen und Idealen sich verbergenden Willens zur Macht — und die totale Politisierung des durch den „ Z w a n g zur grossen Politik" im „Kampf um die Erd-Herrschaft" 43 aufgeriebenen Lebens erweist sich ja als eines der auffälligsten Charakteristika, das allen, sich in der „kleinen Politik" so heftig befehdenden Ideologien gemeinsam ist — bleibt weit entfernt davon, den Anspruch einzulösen, dessen Durchsetzung es dient. Sowenig es das — irdische oder himmlische — Absolute in die Geschichte hineinzuzwingen vermag, das den Menschen der Nötigung zu eigener Sinngebung entheben müßte, sowenig kann das Werk des Willens zur Macht das Bedürfnis der und nach Selbstüberwindung befriedigen, deren autonomes Anliegen durch die heteronome Forderung eher gefährdet als gestärkt wird. Ja, am Ende führt so der absolute Anspruch der Sinngebung zu einer vertieften Erfahrung absoluter Sinnlosigkeit, deren realisierte Praxis — wie Nietzsche an der Verkehrung der Botschaft Jesu einer Aufhebung der Gegensätze in die Verkündigung des historischen, den Gegensatz zur Welt voll herausstellenden Christentums sichtbar zu machen sucht — nur das Ausbleiben des Absoluten verrät, durch dessen Theorie sie gefordert scheint: „ S o zu leben, dass es keinen S i n n mehr hat, zu leben, d a s wird jetzt zum ,Sinn' des Lebens . . ," 4 4 43 44
JGB 208. A C 43.
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Diese Verkehrung der und innerhalb der absoluten Sinngebung, derzufolge die unerläßliche Transzendierung des Selbst in die Transzendenz einer unerfüllbaren Forderung umschlägt, dürfte daher auch letztlich der Motor jener Selbstaufhebung des asketischen Ideals sein, die Nietzsche am Christentum so beredt wie präzise beschreibt, — ohne freilich zu bemerken, daß dieses Ideal dann nicht an seiner christlichen Ausprägung, sondern diese an ihrem absoluten Anspruch gescheitert wäre, den ihre Botschaft nicht als Anspruch des Absoluten vor der intellektuellen Redlichkeit vertreten kann. Wenn Nietzsche daher am Ende dieses — unmittelbar vor der oben als zentral für den Umschlag herausgehobenen Stelle der „Genealogie" geschilderten — Prozesses auch noch dem W i l l e n z u r W a h r h e i t glaubt absagen zu müssen, so steht zu befürchten, daß er damit gerade den Punkt verfehlt, an dem die Sinngebung der und durch Selbstüberwindung in die Sinngegebenheit durch und für den Willen zur Macht umschlägt. Statt aus dem Auflösungsprozeß, dem die religiösen und moralischen Ideale jedenfalls insoweit unterliegen, als die menschliche Basis ihrer Festlegung durchsichtig wird, auf den verfehlten Absolutheitsanspruch zu schließen, führt Nietzsche die Verfehlung des Absoluten auf die falsche Wahl der Ideale zurück. Weit entfernt, die asketischen Ideale als Ausdruck eines überzogenen Anspruchs zu verstehen und sich mit „ermäßigten Zielen" 4 5 zu bescheiden, sucht der Philosoph weiter nach einem Ideal, dessen Askese den Willen zur Macht nicht sowohl restringiert als bestätigt, — um den Preis, daß die Selbstüberwindung wieder um den Erfolg ihrer kreativen Funktion gebracht wird. Zu redlich für das Bekenntnis des Glaubens, einen absoluten Sinn theoretisch erkennen und praktisch verifizieren zu können, glaubt er — genau den Fehler begehend, den er Schopenhauer vorhält —, wenigstens die Sinnlosigkeit absolut setzen zu müssen, um die Macht des Willens sicherzustellen. Obwohl er genau weiß, daß „der Parteimensch mit Notwendigkeit Lügner" werden muß, opfert er die Wahrheit dem absoluten Anspruch ihrer Parteilichkeit, um nicht die Grenzen ihrer überparteilichen Allgemeinheit anerkennen zu müssen; weil der Mensch kein Gesetz eines Absoluten als „ w a h r " zu erkennen vermag, soll ihm „alles erlaubt" sein, was im absolut gesetzten eigenen Interesse — des einzelnen oder der Gruppe — geboten erscheint 46 . Sieht man, wie hier beabsichtigt, diese letzte entscheidende Kehre Nietzsches als symptomatisch für die ideologische Wende von analytischer Kritik zu einer unkritischen Theorie an, so gilt es, zwei Momente in ihr zu unterscheiden: die Absolutsetzung des Willens zur Macht als solche und die mit ihr stillschweigend behauptete Unumgänglichkeit einer absolut gesetzten 45 46
S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, II, Ges. Werke, London 1948, Bd. XIV, S. 437. A C 55; G M III 24. Zu Schopenhauer vgl. u.a. Nachlaß, KGW VII 2, 9 [42],
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Sinngebung für die Selbstüberwindung, — die damit wiederum zu einem Vehikel politischer Durchsetzung denaturiert wird. Die Herausbildung des ersten Moments ist den Texten unschwer zu entnehmen, in denen Nietzsche zunehmend von der kritischen Extrapolation der Resultate seiner psychologischen Analysen auf einen Grundtrieb zur synthetischen Betrachtung menschlichen Verhaltens als Ausdruck des Willens zur Macht geführt wird, — dessen Begriff — mit den begleitenden Ideen des Ubermenschen und der ewigen Wiederkunft — dann ebenso abrupt wie überraschend auf Selbstüberwindung gegründet im „Zarathustra" hervortritt. Dabei wird man dem Philosophen weder die empirische Basis — „ d e m Lebendigen gieng ich nach, ich gieng die grössten und die kleinsten Wege, dass ich seine Art erkenne" 4 7 — seiner, im Leben der Völker wie der einzelnen nachweisbaren Beobachtung noch die weite Verbreitung des Willens zur Macht im politischen wie im geistigen Leben, im Geschehen des Alltags wie im Anspruch von Wissenschaft und Kunst, nicht zuletzt aber auch in Religion und Philosophie, bestreiten wollen. Hier den Willen zur Macht im Großen wie im Kleinen als e i n e n d e r Grundtriebe des Menschen aufgedeckt und bei Namen genannt zu haben, bleibt auch dann sein unüberholbares Verdienst, wenn man ihm die induktive Verallgemeinerung 48 des empirischen Befundes bestreiten muß; sie wäre nur unter der von ihm geforderten Aussetzung der Gesetze der Logik statthaft, welche indes den Willen zur Macht voraussetzt, dessen Beweis sie stützen soll. Weit bedeutsamer, weil in dieser Funktion bislang kaum beachtet, erscheint dagegen das zweite Motiv, das Nietzsche zur ideologischen Dogmatisierung seiner Spätphilosophie bewogen haben könnte, — weil es unmittelbar jener Aufhebung der Selbstüberwindung in den Willen zur Macht entspringt, die aus der Unverzichtbarkeit absolut gesetzter Sinngebung resultieren müßte. Es handelt sich um die — von den beiden vorn behandelten Interpretationen verschieden gedeutete 4 9 — Entdeckung Nietzsches, daß auch im asketischen 47 48
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Za II, Von der Selbst-Ueberwindung. Durch ein „ L e r n e n ohne Induktion", d . h . ohne vorschnelle „ B i l d u n g einer T h e o r i e " , sieht K . Popper (Ausgangspunkte, H a m b u r g 1979, 10. Kap.) „kritisches" und „dogmatisches D e n k e n " wesentlich unterschieden. Gemäß der Regel, daß Kaufmann als sublimierte Formen der Machtausübung ansieht, was Müller-Lauter allenfalls als besonders sublime Weisen ihres Vorgehens gelten läßt, ist die unterschiedliche Bewertung der asketischen Ideale leicht verständlich: Kaufmann hebt (S. 245f.) besonders Nietzsches implizit positive Bewertung einer innerweltlichen Askese als höchsten Ausdruck der Selbstüberwindung hervor, auf deren vergeistigter „ G r a u s a m k e i t " alle „höhere K u l t u r " beruhe, wie auch der „kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens [. . .] von jeher mit geistigen und körperlichen Martern erstritten w o r d e n " (M 18) sei: „ F a s t Alles, was wir .höhere Cultur' nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der G r a u s a m k e i t — dies ist mein S a t z " ( J G B 229). Demgegenüber zieht Müller-Lauter vor allem die „ D r i t t e A b h a n d l u n g " der „ G e n e a l o g i e " heran, um aus ihr Nietzsches rigorose Zurückweisung der dort thematisierten „asketischen Ideale" zu
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Ideal der Wille zur Macht nicht nur nicht aufgehoben, sondern allererst zu seiner höchsten, gerade weil nach innen gerichteten Entfaltung geführt wird, — deren Ressentiment dann ja im „Sklavenaufstand in der Moral [. . .] selbst schöpferisch" geworden sein soll. Offensichtlich kann sich der Philosoph — der, mehr von der permanenten Nötigung zu moralischem Handeln abgestoßen als die Notwendigkeit einer praktischen Vernunft leugnend, „ d a s eigentliche Problem v o m Menschen" lösen will: „ E i n Thier heranzüchten, das v e r s p r e c h e n d a r f " 5 0 — auch das allgemeine Gesetz nur als absolutes Gebot vorstellen; und eben diese Erfahrung mag ihn zu der Uberzeugung gebracht haben, daß n u r a b s o l u t g e s e t z t e I d e a l e d i e S e l b s t ü b e r w i n d u n g v o l l a u f b e f r i e d i g e n k ö n n e n . So kommt ihm die Zweideutigkeit jenes schon erwähnten „Strebens nach Auszeichnung" — das ja ebensowohl dem Vorrang des Geistigen bei der Lebensgestaltung, allenfalls dem besser gelungenen Kunstwerk gelten wie einen Anspruch der „geistigeren Menschen" auf moralische und politische Herrschaft begründen kann 5 1 - nur flüchtig, wie erinnerlich, beim künstlerischen Prozeß und vor allem bei der Betrachtung des jüdischen Schicksals zu Bewußtsein 5 2 . Weil er von vornherein den „Triumph des Asketen über sich selber" als „letzte Tragödie des Triebes nach Auszeichnung" vor Augen hat, vermag er diesen Trieb nur im Lichte des Willens zur Macht, dem er den Weg bereitet, als „Streben nach Überwältigung des Nächsten" zu sehen, — dem nun auch noch das „schlechte Gewissen" versagten oder versagenden Gehorsams gegen das Gebot des Absoluten aufgezwungen wird. Damit ist allerdings der Selbstüberwindung von vornherein jede Chance eigenmächtiger und sinnvoller Gestaltung des Lebens — die sich ja sogar im Eintreten für ein allgemeines Sittengesetz äußern könnte, dessen unbedingte Forderung dann freilich nicht bedingungslos realisiert werden
begründen, in denen sich — nach dem letzten, soeben S. 241 ff. ausführlich analysierten Aphorismus 27 — „ d e r Wille zum N i c h t s " lediglich als „ein Wille zur M a c h t " erweise, „ d e r sich als d i e s e r verbirgt" (S. 7 7 f . ) ; allerdings trete aüch und gerade in dieser Beurteilung die „ Z w i e spältigkeit . . . in Nietzsches Darlegungen mit aller Deutlichkeit hervor", indem die asketischen Ideale sich zugleich als Ausdruck eklatanter, obschon nicht immer bewußter Verneinung wie als „Kunstgriff in der E r h a l t u n g des L e b e n s " ( G M II 13) erweisen. - Immerhin beantwortet schon der erste, das Ergebnis — daß der Wille auf ein letztes Ziel seines Wollens angewiesen sei - vorwegnehmende Aphorismus ( G M III 1) die Frage nach der Bedeutung der asketischen Ideale mit dem Hinweis auf ihre vielfältige Funktion, die von „Witterung und Instinkt für die günstigsten Vorbedingungen hoher Geistigkeit" bei „Philosophen und Gelehrten" über eine „heilige F o r m der Ausschweifung" bei der „ M e h r z a h l der Sterblichen", soweit sie den „physiologisch Verunglückten und Verstimmten" zuzurechnen sei, bis hinein in eine „ .allerhöchste' Erlaubniss zur M a c h t " bei den Priestern reiche. 50 51
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G M II 1. F W 358 (über die katholische Kirche als „Herrschaftsgebilde", das der protestantische „ P l e bejismus des G e i s t e s " schon bei Luther völlig mißverstanden habe). Vgl. S. 228 (Anm. 17).
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dürfte 53 — genommen; aber doch nur dann, wenn sie ihre Aufgabe erst in einer — sei es innerweltlich, sei es außerweltlich orientierten — Askese erfüllen könnte, welche der Übertragung einer „barbarischen" Unterwerfung anderer durch die Politik in die eigene Unterwerfung unter das absolute Ideal entspricht: „ — hier am Ende der Leiter steht der A s k e t und Märtyrer, er empfindet den höchsten Genuss dabei, eben Das als Folge seines Triebes nach Auszeichnung selber davon zu tragen, was sein Gegenbild auf der ersten Sprosse der Leiter, der B a r b a r , dem Anderen zu leiden giebt, an dem und vor dem er sich auszeichnen will." 5 4
Man sieht, der Wille zur Macht ist keineswegs, wie Kaufmann vermerkt, lediglich ein „unpassend" (246) gewählter Ausdruck für das eigentliche Anliegen der Selbstüberwindung; er ist vielmehr eine prägnante Bezeichnung — nicht sowohl für die weitverbreitete Tendenz des Menschen, seine persönlichen Ressentiments über eigenes Versagen am Nächsten abzureagieren, als vor allem auch für seine fast „unhintertreibliche" (Kant) Neigung, das generelle Ressentiment über seine Lebenssituation durch absolute Werte zu kompensieren, deren Unlegitimierbarkeit ihre Herrschaft gleichermaßen qualitativ wie quantitativ beliebig ausweiten muß. Auch diese letzte Phase der Wendung Nietzsches von der Idee eines in der Selbstüberwindung bis zur Vergeistigung sublimierten Willens zur Macht in einen Willen, für den gerade die Philosophie eine besonders sublime Ausübung von Macht durch die absolut gesetzte Idee bedeutet, läßt sich an den Texten genau nachweisen. Dabei mag es hier genügen, darauf hinzuweisen, daß im Grunde bereits der Ansatz zu einer kritischen Theorie der Selbstüberwindung im „Zarathustra" — mit deren Freilegung Kaufmann eine ebenso bei den Interpreten wie von Nietzsche selbst verschüttete Perspektive regeneriert hat — von jenem Umschlag geprägt ist, der sich am absolut gesetzten Ideal vollzieht. Zwar hält die antibiblische Verkündigung der poetischen Phänomenologie zunächst daran fest, daß es ein „Gutes und Böses, das unvergänglich wäre", unter Menschen nicht geben könne, der „Schaffende" daher nicht nur fremden Werten „ein Vernichter", sondern auch dem eigenen Gesetz alsbald wieder „Gegner" zu sein habe 55 , — was wiederum genau dem Postulat der „notwendigen Selbstüberwindung' im
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In Richtung auf eine Berücksichtigung seiner sinngebenden Teleologie sollte auch das Kriterium einer gelegentlichen „Suspension des Ethischen" zu suchen und einem offensichtlich sinnlos werdenden Rigorismus in den seit Kants gegenteiliger Entscheidung viel diskutierten Grenzfällen zu wehren sein, dessen Befolgung entweder den moralischen Skeptizismus fördern oder zum absoluten Anspruch einer „teleologischen Suspension des Ethischen" führen muß, wie sie Kierkegaard aus Gründen seines religiösen Gehorsams vertritt. M 113, vgl. MA I 137. Za II, Von der Selbst-Ueberwindung; vgl. oben S. 244 (Anm. 41).
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Wesen des Lebens — immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: ,patere legem, quam ipse tulisti"' 5 6 — entsprechen würde. Doch der Pluralismus verschiedener „Mutmaßung" über das Absolute ist stets und schon hier in Gefahr, in den Monismus bedingungsloser Durchsetzung des eigenen als des „Einen Zieles" umzuschlagen, dessen die Menschheit bedürfen soll, um überhaupt und eigentlich existieren zu können. Wir hörten es schon: „Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. N u r die Fessel der tausend N a c k e n fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. N o c h hat die Menschheit kein Ziel. Aber sagt mir doch, meine Brüder: w e n n der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch — sie selber noch?"
So rächt es sich, daß Nietzsche aus der jeweiligen „Uberwindungen Tafel" der Völker und Weltanschauungen immer zugleich die Stimme des Willens zur Macht heraushören wollte, die für das eigene „Schaffen" erstrebte Auszeichnung nur als Aufforderung zur Aufrichtung der Herrschaft über andere, konkurrierende Ansätze der Selbstüberwindung verstehen konnte. „Was da macht, dass es herrscht und siegt und glänzt, seinem Nachbarn zu Grauen und N e i d e : das gilt ihm als das H o h e , das Erste, das Messende, der Sinn aller D i n g e . " 5 7
Es ist also gar nicht so befremdlich, wenn Müller-Lauter am Ende der Entwicklung Nietzsches genau das Moment seiner neuen Lehre — wörtlich also: seines Dogmas — herausstellen kann, von dessen rigoroser Zurückweisung der Philosoph in seiner Kritik ausgegangen ist, — das Moment einer „neuen Religiosität" (155). Mag diese sich inhaltlich auch noch so sehr vom christlichen Ewigkeitsglauben entfernt haben, sie bleibt — obzwar als „Religion der Religionen" die absagende Erhebung über ähnliche Bemühungen betonend — der Unverzichtbarkeit eines Glaubens so verpflichtet, wie sie auf die „Ewigkeit" der Lust ausgerichtet ist: „Wer nicht glaubt, hat ein f l ü c h t i g e s Leben in seinem Bewußtsein" 58 ; nur daß Nietzsche damit gerade nicht „das 56 57 58
GM III 27 (vgl. Anm. 4). Za I, Von tausend und Einern Ziele. Nachlaß, Frühjahr-Herbst 1881, KGW V 2, 11 [160], Selbstverständlich hat Nietzsche bei dieser kurzen Bemerkung nur s e i n e n Glauben an die ewige Wiederkunft vor Augen, — von dem der Vordersatz feststellt „Diese Lehre ist milde gegen die, welche nicht an sie glauben, sie hat keine Höllen und Drohungen". Nach der vorhergehenden Notiz (11 [159]) soll „dieser Gedanke" aber auch insofern „mehr als alle anderen Religionen, welche dies Leben als ein flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten a n d e r e n Leben hinblicken lehrten", für den Menschen erbringen, als er dazu auffordere, „das Abbild der Ewigkeit auf u n s e r Leben" zu drücken. Doch gerade damit könnte erneut jene Uberforderung des Menschen regeneriert werden, derzufolge für den christlichen Glauben „der Augenblick wirklich die Entscheidung der Ewigkeit ist" (S. Kierkegaard: Ges. Werke, „Philosophische Brocken", Düsseldorf-Köln 1952, S. 55); bezeichnenderweise entzündet sich ja auch Zarathustras Verkündigung an der Rede „Von diesem Thorwege Augenblick" (Za III, Von Gesicht und Rätsel 2). Von der un-
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Wissen aufheben" will, „ u m zum Glauben Platz zu bekommen" 5 9 , vielmehr umgekehrt seinen Glauben zu einem neuen Wissen zu erheben trachtet, um seine Macht etablieren zu können. Der Ubermensch ist dann allerdings nicht mehr der Mensch, der diese Macht, in Erkenntnis der Sinnlosigkeit ihrer Ausübung, zu sinngebenden Werten z u s u b l i m i e r e n oder in der Gestaltung des Lebens sinnvoll zu „vergeistigen" bemüht ist, ohne sich Illusionen über Grenze und Erfolg solcher Selbstüberwindung zu machen; er ist der Mensch, den der Glaube an die einzig richtige Interpretation — die dann keine solche mehr ist — und, von ihr bestimmt, das allein gültige Ideal zum „ G o t t menschen" 6 0 eines nicht sowohl säkularisierten als r e a l i s i e r t e n Absoluten werden läßt, in dessen Macht es steht, den Willen aller seinem Ziel zu unterwerfen. Als solcher kann und muß er die Geschichte als Legitimationsprozeß seiner Herrschaft verstehen, deren „Ewige Wiederkehr" in ihrer zirkulären Struktur nur das Prinzip der Macht behauptet, das der linearen Interpretation der „Weltgeschichte" als „Heilsgeschehen" so oft zugrunde liegt 6 1 . Daß Nietzsche schließlich auch diese Struktur der Geschichte — deren Aufdeckung schon deshalb keine Freiheit bringen kann, weil das jeweilige Absolute ihrer Theorie sie a priori ausschließt, nicht einmal als zwingende „Einsicht in die Notwendigkeit" vermitteln kann — mit den Methoden und Ergebnissen eben der Wissenschaft zu beweisen sucht, die er als letztes Relikt der „alten Wahr-
mittelbaren Bejahung eines spielenden Kindes (Za I, Von den drei Verwandlungen) oder gar einem Tanzen „ a u f den Füßen des Zufalls" (Za III, Vor Sonnenaufgang) ist der nachchristliche Glaube Nietzsches jedenfalls kaum weniger weit entfernt als der christliche seines Antipoden, der auch nur „Redlichkeit" wollte, — die ihm indes genau das Verhalten verwehrte, dessen Ermöglichung seinen Glauben bestätigen sollte: „sich zugleich absolut zu seinem absoluten Ziel (Telos) und relativ zu den relativen (Zielen) zu verhalten" (Unwissenschaftliche Nachschrift II, op. cit., S. 9 2 f f . ) : „ U n d gerade in der Wohnstube soll ja doch die Schlacht geschlagen werden, . . . denn der Sieg soll ja gerade darin bestehen, daß die Wohnstube zu einem Heiligtum w i r d " (1. c. S. 172). Von eben solcher Sehnsucht mag daher — entsprechend dem doppelten Ansatz des Willens zur Macht in der Selbstüberwindung — auch eine andere, der im Texte angeführten geradezu widersprechende Aussage Nietzsches getragen sein: „ , I c h glaube an nichts mehr'. — Dies ist die richtige Denkweise eines s c h ö p f e r i s c h e n Menschen" (Nachlaß, K G W VII 1, 3 [1] 119). Nicht weil der Mensch den Glauben verweigert, hat er ein flüchtiges Leben, vielmehr sucht er einen Glauben, weil er und soweit er die Flüchtigkeit des Lebens nicht erträgt; aber die Forderung der Ewigkeit beraubt ihn vollends der Möglichkeit, die Zeitlichkeit zu gestalten, in der er sich bewähren soll, ohne das Gesetz des Absoluten erkennen zu können, vor dem er zugleich bestehen muß. D a bleibt schließlich nur der Bruch mit dem Endlichen, das ohnehin keine letzte Erfüllung gewähren kann, zugunsten der Forderung des Unendlichen, die als unendliche Forderung wenigstens den Respekt vor dem absoluten Telos gewährleistet. 59 60 61
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Aufl. (1787). S. a. Za IV, Ausser Dienst. Vgl. K . Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953.
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heit" überwinden wollte 6 2 , macht seinen Wandel von der legitimen Kritik absoluter Sinngegebenheit zur Absolutsetzung ideologischer Sinngebung vollends, aber wiederum symptomatisch, deutlich. Solcher Beweise für die Wiederkunftslehre — nach der alten Wahrheit so unmöglich wie für die neue unnötig — bedürfte es indes überhaupt nicht, wenn man sie, dem korrekten Sprachgebrauch folgend 63 , als Ausdruck einer Betrachtung der Geschichte ansehen dürfte, deren resignierende Feststellung, daß „nichts Neues unter der Sonne" (Pred. Sal. 1,9) geschehe, durch die Jahrtausende besser belegt scheint als ein „Fortschreiten zum Besseren", an das zu 62
Am Ende seines Buches (S. 164ff.) setzt Müller-Lauter sich ausführlich mit der „beachtenswerten Untersuchung" von O . Becker auseinander, in welcher dieser (Blätter für deutsche Philosophie 9, 1936, S. 3 6 8 - 3 8 7 ) „Nietzsches Beweise für seine Lehre von der ewigen Wiederkunft" im Lichte der Erkenntnisse und Ergebnisse der Naturwissenschaft erörtert hat. Er kann es sich dabei (mit Heidegger) zunächst und grundsätzlich insofern leicht machen, als ein ErnstNehmen dieser Beweise sich „noch im Horizont des ,alten' Wahrheitsverständnisses" (S. 164) bewegen würde, dessen Perspektive daher, wie im einzelnen genau nachgewiesen wird, die Analysen Beckers von vornherein verzerren muß. Andererseits kann er ebensowenig übersehen, daß Nietzsche selbst jedenfalls seine Bemühungen, die Wiederkunftslehre naturwissenschaftlich zu belegen, durchaus ernst genommen hat, — schließlich hat er „im Jahre 1881 den Plan" gefaßt, „zur wissenschaftlichen Begründung seiner Lehre 10 Jahre lang Mathematik und Physik zu studieren". So bleibt nur der Ausweg, auch in diesem Gegensatz einen Hinweis darauf zu sehen, daß sich „ k e i n e i n h e i t l i c h e r S i n n des Wiederkunftgedankens" (S. 160) finden lasse: „Wir dürfen Nietzsches Rückgriffen auf die ,alte Wahrheit' letztlich nur prohibitiven Charakter zugestehen, wobei freilich bezweifelt werden muß, ob er sie selbst so aufgefaßt hat" (S. 186). Man beachte jedoch, daß auch diese „absonderliche" (Heidegger) Strategie bei allen Ideologien — von der Christlichen Wissenschaft bis zum Wissenschaftlichen Sozialismus, von der Deutschen Physik bis zur Lyssenko-Biologie — weit verbreitet ist, indem die Wissenschaft zunächst zur kritischen Abwehr fremder Ansprüche gern herangezogen, aber sogleich als ihrerseits ideologieverdächtig desavouiert und entsprechend manipuliert wird, wenn sie die Geltung der eigenen Theorie in Frage stellt; doch der damit stets verbundene Ruf nach einer neuen Theorie der Wissenschaft soll nur den wissenschaftlichen Anspruch der Theorie sicherstellen, den er voraussetzt: „Hoch die Physik", ruft Nietzsche (FW 335) aus, um mit dieser Wissenschaft — deren kausales Denken er „vorkritisch" als Abbild realer Determination, bis hinein in die materialistische Genesis von Ideen versteht — jede Erörterung auch nur einer Möglichkeit von Freiheit zu unterbinden; aber seine spätere Lehre muß jede Gesetzmäßigkeit zurückweisen, welche den Willen zur Macht auf Bedingungen seiner Entfaltung festlegen und der Heraufkunft der „Sich-selber-Gesetzgebenden", der „Sich-selber-Schaffenden" im Wege sein könnte. Schließlich wird der Kausalismus noch zum Ausdruck des Willens zur Macht, der die Natur wie den Menschen gleichermaßen seinem Gesetz zu unterwerfen trachtet: „Psychologisch nachgerechnet: so ist der Begriff .Ursache' unser Machtgefühl vom sogenannten Wollen [. . . ] " (Nachlaß, Frühjahr 1888, K G W VIII 3, 14 [81], s. o. Anm. 3).
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K. Löwith (Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, Hamburg 3 1978) versucht (VII), den divergierenden Tendenzen in Nietzsches Idee durch den Nachweis gerecht zu werden, daß sie „ebensosehr eine welthafte Wiederkehr des G l e i c h e n wie eine eigene Wiederholung des S e l b e n " bedeute; dieser „Zwiespalt" zwischen einer „kosmologischen", auf ein „immer gleiches Weltenspiel" abhebenden und einer „anthropologischen" Auslegung, deren ethischer Entwurf eine „immer von neuem wiederholte Selbstüberwindung" postuliere, entspricht weitgehend der hier aufgezeigten Diskrepanz in Nietzsches „credo quia absurdum" (S. 162).
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glauben immerhin Pflicht sein mag, - obgleich es einem gerade durch jene „wahrsagende" Philosophie schwergemacht wird, welche den Fortschritt nur so und in der Weise gestattet, daß ihr jeweiliger Vertreter „die Begebenheiten selbst m a c h t und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt" 64 . Doch vielleicht könnte der Ubergang von der Befürchtung des Predigers einer endlosen zur Hoffnung des Philosophen auf eine ewige Wiederkehr des Gleichen deren Prinzip, den Willen zur Macht, als das erweisen, was er vermutlich allein bedeutet — und was sich wohl wirklich nur übermenschlich erträglich gestalten läßt: die ebenso begreifliche wie vergebliche, ebenso unerläßliche wie gefährliche Kompensation der Ohnmacht des menschlichen Willens, „dem Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n . . . " „ D e m Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n — das ist der höchste W i l l e z u r M a c h t . [. . .] D a ß A l l e s w i e d e r k e h r t , ist die extremste A n n ä h e r u n g e i n e r W e l t d e s W e r d e n s a n d i e d e s S e i n s : Gipfel der Betrachtung."65
64
"
I. Kant: Streit der Fakultäten (1798), 2. Abschnitt. Nachlaß, Herbst 1885-1887, K G W VIII 7 [54].
Diskussion D a s T h e m a von H e r r n G r a u hat eine Situation eigentümlicher Kaulbach: A r t herbeigeführt. Es wird hier eine Auseinandersetzung zwischen zwei Nietzsche-Interpretationen in G a n g gesetzt. Ursprünglich war ja geplant, daß beide angesprochenen Interpreten anwesend sein sollten. N u n ist leider H e r r K a u f m a n n nicht da. A b e r H e r r Müller-Lauter ist anwesend und vermag infolgedessen auch das Bild dort, w o er es für nötig hält, zu korrigieren oder zu rechtfertigen. Ich schlage vor, daß wir zunächst einmal H e r r n Müller-Lauter die Gelegenheit geben, sich zu äußern. Es entsteht dadurch keine merkbare und allzu gravierend sich auswirkende Asymmetrie, weil ich meine, daß die größeren der aufgeworfenen Probleme auf der Seite von H e r r n Müller-Lauter als auf der Seite von H e r r n K a u f m a n n sind.
Müller-Lauter: Ich mache zwei Vorbemerkungen und möchte dann k u r z nur zu einem der Themen von H e r r n G r a u Stellung nehmen. D i e erste V o r b e m e r k u n g : H e r r n G r a u s Vortragstext hat mich in den Ferien erreicht und sehr lebhaft beschäftigt, so beschäftigt, daß mein Heidegger-Vortrag zeitweilig zurücktrat und ich eine Vielzahl von Seiten fabriziert habe. Eine Zeitlang dachte ich, H e r r K a u f m a n n und ich könnten ebenfalls Papiere dieser A r t vorlegen — gewissermaßen zur Entfaltung und E r g ä n z u n g von H e r r n G r a u s These aus zwei Perspektiven. D a s ist nicht geschehen, und es ist auch gut so. Betonen möchte ich aber, daß ich mich in dem, was H e r r G r a u über mein N i e t z s c h e - B u c h referiert hat, voll und ganz wiedererkenne, auch in den dargestellten Konsequenzen. D i e zweite Vorbemerkung betrifft die Frage, w a r u m ich mich in meinen bisherigen Veröffentlichungen nicht mit K a u f m a n n s Interpretation beschäftigt habe. E s geht mir in Sachen N i e t z s c h e so, daß ich je bei besonderer Gelegenheit eine der großen Interpretationen aufnehme, diskutiere ünd in meine eigenen Überlegungen einbeziehe. Was K a u f m a n n angeht, so beschäftigt er mich immer wieder, und wenn ich mich bisher nicht über ihn geäußert habe, dann besagt das nichts über die außerordentliche Bedeutung, die ich seiner Nietzsche-Interpretation zuspreche. Freilich, dies sei zur Ergänzung gesagt, es geht mir in bezug auf das T h e m a der Selbstüberwindung so, daß ich in ihr vor allem das M o m e n t der Vorbereitung des künftigen Menschen bei N i e t z s c h e dargestellt finde. Dieser zugegebenermaßen partielle oder transitorische A s p e k t der Selbstüberwindung hat bisher in meiner Be-
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schäftigung mit Nietzsche jedenfalls im Vordergrund gestanden. Möglicherweise werde ich damit weder Nietzsche noch Kaufmann gerecht. Ich hoffe, daß ich noch Gelegenheit finden werde, zu der Frage in ihrem ganzem Umfang Stellung zu nehmen. Das waren die Vorbemerkungen, und nun will ich kurz nur einen entscheidenden Begriff berühren, den Herr Grau, mich zitierend, verwendet. Vielleicht ist es für die weitere Diskussion wichtig, eine gewisse Vorklärung herbeizuführen. Es handelt sich um den Begriff des absoluten Anspruchs. Zu diesem Begriff möchte ich in aller Kürze dreierlei sagen. Erstens: Es ist eine unvermeidbare Absolutsetzung durch faktisches Denken oder Tun, Absolutsetzung in einem eingeschränkten Sinne, von einem uneingeschränkten Absolutheitsverständnis zu unterscheiden. Herr Grau hat zwei Stellen aus meinem Nietzsche-Buch zitiert, durch die ich erst darauf aufmerksam geworden bin, daß ich selber den Begriff des Absoluten in doppelter Weise verwendet habe. Wenn ich davon spreche, daß Nietzsche keine absoluten Gegensätze zuläßt, sondern genealogisch das Gegensätzliche auseinander ableitet, so habe ich da den Absolutheitsbegriff gebraucht in einem Sinne, der uneingeschränkt zu nennen ist. Was mit einem eingeschränkten Absolutheitsverständnis — darauf bezieht sich ja Herr Grau in seinen Ausführungen insbesondere — gemeint ist, will ich an einem anderen Denker, der nach Nietzsche lebt und auf mehr oder weniger untergründige Weise durch Nietzsche beeinflußt worden ist, nämlich an Sartre, verdeutlichen, ohne damit dessen extreme Positionen zu beziehen. Sartre führt in L'existentialisme est un humanisme aus, daß jede meiner Entscheidungen die gesamte Menschheit verpflichte, ob ich es will oder nicht. „Mit meiner Verheiratung", so Sartre, „verpflichte ich die ganze Menschheit auf den Weg der Monogamie." Schon früher, in L'être et le néant hatte Sartre ausgeführt, daß mein Subjektsein umschlage in eine Objektivität, wenn ich in das faktische In-der-Welt-sein eines anderen gerate. Die berühmten Analysen des Blickes in L'être et le néant sind dafür ein Beispiel: Das erblickende Subjekt setzt fest, legt fest, wen es erblickt, verabsolutiert. Es gibt bei Sartre ja sogar den Begriff, den Herr Grau auch aus meinem Buch zitiert hat, nämlich den der Erstarrung. Ich gerinne zum Objekt angesichts des anderen, indem ich mich vom anderen her in sein In-der-Welt-sein einbezogen erfahre. Das bedeutet nun in bezug auf den Begriff des Absoluten im engeren Sinne (wie ich meine sowohl nach Sartre als auch nach Nietzsche): daß jeder Mensch in jeder Situation in bezug auf andere Menschen (aber natürlich nicht nur auf Menschen) seine eigene Perspektive verabsolutiert. Dies meinte ich, als ich in meinem Buch (allerdings ohne Bezug zu Sartre) von der Absolutsetzung sprach, die jeweils perspektivisch erfolgt, aber immer wieder umschlägt, weil sie gebrochen wird. Der faktisch unvermeidliche
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Umschlag führt zu jener eigentümlichen Haltlosigkeit und Bewegtheit, die, das hat Herr Grau ja ganz in meinem Sinne herausgestellt, die Gegebenheit des Willens zur Macht in einer eigentümlichen Weise aufspaltet. In diesem Zusammenhang noch zwei Bemerkungen zu Sartre: Gerade der frühere Sartre weist darauf hin, daß es keinen Ausweg gibt aus dieser Absolutsetzung und aus dem Absolut-gesetzt-werden. Selbst mein Selbstmord, so Sartre in L'être et le néant, ändert nichts daran, daß ich in gewisser Weise derjenige bin, auf den der andere bezogen bleibt, indem er sich als von mir absolut gesetzt sieht. — In bezug auf das Problem der Erziehung sagt er: Toleranz realisieren besagt durchaus nicht Achtung vor der Freiheit des anderen; das sei leeres Gerede. Denn in eine tolerante Welt geworfen zu sein bedeutet, daß mir grundsätzlich die freien Möglichkeiten des mutigen Widerstandes, der Ausdauer, der Selbstbehauptung u. dgl. genommen werden. Zweitens : In einer umfassenderen Weise taucht der Absolutheitsanspruch bei Nietzsche und damit auch natürlich nach Nietzsche auf. Wenn Gott tot ist — d.h. wenn das Bewußtsein besteht, daß Gott tot ist — dann ist das eine, mit Sartre zu reden, sehr unangenehme Angelegenheit. Denn nun gibt es keine Möglichkeit mehr, irgend etwas an sich Sinnvolles, etwa gemäß einer vorgegebenen Wertetafel, zu tun. Sartre versteht in seinem frühen Hauptwerk den Menschen als die vergebliche Begierde, Gott zu werden. Was ist das anderes als Nietzsches Verkündigung des Ubermenschen? Was ist das anderes, als der Gottmensch, von dem Herr Grau spricht? Drittens eine These, eigentlich nur, um die Diskussion zu beleben. Absoluter Anspruch im engeren Sinne ist durch meine faktische Existenz, nach Sartre wie schon nach Nietzsche, unvermeidbar. Absoluter Anspruch im weiten Sinne aber ist auch nach dem Tode Gottes nicht hinfällig geworden; dies zeigt sich in Nietzsches Verständnis alles Seienden im Sinne des Willens zur Macht. Ich stimme Herrn Grau also darin zu, daß Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, wie er vorhin gesagt hat, nicht bloß Struktur ist, die verschiedenartig gefüllt wird. Struktur ist er freilich auch, vielleicht in Analogie zu Salaquardas Verständnis des Willen zur Macht im Sinne eines analytischen Begriffes. Aber Wille zur Macht ist eben nicht nur Struktur, sondern eine, ich sag mal so, Quasi-Ideologie. Worin das Ideologische bestehen könnte, das kann ja die Diskussion noch zeigen. Grau: Wir sind uns weitgehend einig. Aber ich sehe nicht ein, warum Sartre meint, durch eine Eheschließung werde ein absoluter Anspruch erhoben. Einer, der heiratet, erhebt doch weder den Anspruch, daß sich jedermann verheiraten soll, noch daß jedermann seiner Heirat zustimmen soll. Ein derartiger Anspruch ist ja doch nur gerechtfertigt, sofern ich mich ihm selbst unterwerfe; ich sehe ihn z.B. in der Hingabe von Künstlern an ihr
Diskussion
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Werk, an ihren Beruf. Da, finde ich, ist das berechtigt, da hat jeder das Recht, sich dem Werk seiner Sinngebung zu opfern. Schwierig und bedenklich wird es aber doch erst, wenn er erwartet, daß sich andere diesem seinem Werk auch opfern sollen. Die hier zwischen Selbstanspruch und Fremdanspruch liegende Differenz möchte ich gern deutlich machen; sie mag sich weitgehend mit derjenigen von unvermeidbarem und vermeidbarem Anspruch decken, — der aber doch wohl weder in jener noch in dieser Form absolut sein muß.
Kaulbach: Ist da nicht im Hintergrunde die Vorstellung von Christus? Jeder kleinste Schritt von Christus fordert Nachfolge, ist für den Nachfolgenden verbindlich. Hier ist Christus eigentlich auch wieder eine Projektion in eine übermenschliche N o r m und Lebenstypologie. Müller-Lauter: Wobei es Nachfolge, so bei Kierkegaard, Jesus gibt, die Nietzsche zu Aufhebung aller Gegensätze Nachfolge nicht mehr nötig.
da natürlich eine radikale Forderung wie eine entgegengesetzt milde Auslegung zeigen im Sinn hatte, wenn er in ihm fand. Dann ist die Uberforderung in
von von die der
Rohrmoser: Meine erste Frage ist: Wie weit ist der Begriff von Ideologie auf Nietzsche überhaupt anwendbar? Was bedeutet eigentlich Nietzsche in der Geschichte des Ideologieverständnisses? Das sollte man eigentlich doch noch einmal genau klären, weil es ja so scheinen könnte, als sei Herr Grau der Meinung, im Sinn der drei anfänglichen Bestimmungen könne auch Nietzsche darunter subsummiert werden. Die zweite Frage betrifft den Grund der von Herrn Grau behaupteten Selbstperversiön des Willens zur Macht. Was steht hinter dem Mechanismus, kraft dessen der auch als sublimiert vorgestellte Wille aus sich selbst heraus dieser Tendenz der Perversion in den realisierten absoluten Willen verfällt? Das habe ich nicht verstanden. Schließlich der dritte Punkt: Ein außerordentlich wichtiger Ansatz Ihres Referates liegt m. E. darin, daß wir hier zu einer produktiven Nietzsche-Kritik kommen. Das scheint mir eines der wichtigsten Postulate für die Beschäftigung mit Nietzsche überhaupt zu sein. Ich sehe, daß eine solche produktiv-immanente Kritik an Nietzsche, in die auch ein Stück Erfahrung eingegangen ist, die wir doch alle mit der Berufung auf den Willen zur Macht und auf Nietzsche gemacht haben, in das Referat eingegangen ist. Aber der begriffsgeschichtliche Bezug zu Nietzsche ist mir unklar. Könnten Sie einmal sagen, ob der Begriff des Absoluten einen an Nietzsche herangetragenen Interpretationsbegriff darstellt, oder ob Sie glauben, die Wendung zum Absoluten bei Nietzsche selber nachweisen und systematisch begründen zu können? Ich habe aus Müller-Lauters NietzscheInterpretation gelernt, daß eben der Wille zur Macht nicht im Sinne eines klassischen Prinzips der Metaphysik gedacht werden kann. Wenn aber die
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Gerd-Günther Grau
Prinzipienstellung des Willens zur Macht überhaupt entfällt, bleibt eigentlich nur noch ein plurales, agonales Modell übrig. Wie ist mit diesem agonalen Modell die Rede vom Absoluten zu vereinbaren? Das sind meine drei Verständnisfragen. Salaquarda: Mir scheint, daß die Problematik des Willens zur Macht, so wie sie Herr Grau vorgeführt hat, tatsächlich am Beispiel der beiden großen Interpretationen von Kaufmann und Müller-Lauter entfaltet werden kann. Ich selbst neige Müller-Lauters Interpretation zu und habe von dort aus auch meine Überlegungen vorangetrieben. Was mich an Müller-Lauters Buch — je mehr ich mich damit beschäftigt habe — immer weniger überzeugt, ist, das möchte ich hier einflechten, lediglich der Fortgang der Problematik. Damit meine ich die systematischen Konsequenzen für einige der großen Themen Nietzsches. Das Aufbrechen der Gegensätze, etwa in der Lehre vom Ubermenschen oder in der Lehre von der ewigen Wiederkunft, scheint mir fragwürdig zu sein. Es scheint mir schon methodisch problematisch zu sein, Nietzsches Argumentationen einer so strengen Systematik zu unterwerfen. Ob Nietzsche selber je in eine solche Form von Systematisierung eingestiegen wäre, ist mindestens nicht erweisbar; feststeht jedenfalls, daß er es nicht getan hat. Beim Willen zur Macht ist Nietzsches vorsichtigere, eben nicht systematisch gemeinte Form des Gedankens, glaube ich, am deutlichsten. Im Anschluß an Herrn Rohrmosers Frage möchte ich hervorheben, daß man der von Müller-Lauter eröffneten Problematik nur durch Auswahl und Entscheidung gerecht werden kann. Ich glaube, es gibt dafür gute Belege, daß die eigentliche Tendenz von Nietzsches Arbeit eben die ist, nicht zu verabsolutieren, sondern sie zielt darauf, den Willen zur Macht als analytischen Begriff zu nehmen, als etwas, mit dem immer wieder neu vorliegende Phänomene, aber auch die verschiedenen Interpretationen, also mechanistische, materialistische, dialektische oder idealistisch-metaphysische, zu erfassen sind. Man kann — ich habe das in Aufsätzen dargelegt1 — zwischen zwei Auffassungen des Willens zur Macht unterscheiden. Der Wille zur Macht ist einerseits ein Erklärungsprinzip, und andererseits ein Deutungsprinzip. Die Welterklärung ist für Nietzsche ein unabschließbarer, ständig zu erneuernder Prozeß, an dem z.B. die Naturwissenschaften und die Sozialwissenschaften wesentlichen Anteil haben. Weltdeutung ist aber von Nietzsche nichts Absolutgesetztes. Exponent dieser Deutung scheint mir der Wille zur Macht zu sein. Das interessante Buch von Monika Funke 2 , dem ich über weite Strecken sehr zustimme, kommt an 1
J . Salaquarda, Umwertung aller Werte; Mythos bei Nietzsche (s. Bibliographie).
2
M . Funke, Ideologiekritik und ihre Ideologie bei Nietzsche, Stuttgart-Bad Cannstadt 1974.
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diesem Punkt zu einem — wie ich meine — falschen Schluß: Der Wille zur Macht sei sozusagen Nietzsches absolut-gesetzte Ideologie, die aus seiner Ideologiekritik folge. In deutlicher Entgegensetzung dagegen würde ich sagen: Der Wille zur Macht ist gerade das Schema, mit dem Nietzsche alle Absolutsetzung verhindern will. Grau: Herr Rohrmoser, Ihre drei Fragen lassen sich nicht leicht beantworten. So sehr ich Ihnen im einzelnen Recht geben möchte, bleibt doch die grundsätzliche Frage, ob nicht aus der Logik von Nietzsches Denken folgt, daß die Sinngebung oder das Leiden absolut verstanden werden müssen. Er setzt überdies nicht nur igendeinen Sinn, sondern die Sinnlosigkeit absolut. Aber gerade das ist verhängnisvoll. Warum macht er aus der Erfahrung der Sinnlosigkeit eine universell gültige Aussage? Ideologe wird Nietzsche in dem Augenblick, in dem er den Willen zur Macht absolut setzt. Ob gewollt oder ungewollt, ob bewußt oder unbewußt, das halte ich (s.o.) für eine sekundäre Frage. Müller-Lauter: Man kann sich auf die Überlegung einlassen, ob der Wille zur Macht den Charakter des verabsolutierenden Reduktionismus trägt, und zwar in der sprachlichen Form, in der Nietzsche sagt: „Alles ist nichts anderes als . . . " Das ist ja die klassische Formulierung des Reduktionismus, der allerdings nicht deshalb schon seinen Wahrheitsanspruch einbüßt, weil er ideologische Konsequenzen haben kann. Abel: Ich möchte zunächst in Sachen Ideologie einen Punkt nachdrücklich herausstellen, nämlich daß Nietzsche sich darüber bewußt war, wie sehr Ideologie erst in Gestalt der Ideologiekritik auf die Bahn kommt. Das ist insofern ein entscheidender Punkt, als unter der Erfahrung, daß wir die .Wahrheit' nicht nur nicht besitzen, sondern es ,Wahrheit* im Sinne eines An-sich-Seins auch gar nicht gibt, jene, wenn man so will, alte Art der Ideologie und der Ideologiekritik, die ihre Legitimation und ihren Absolutheitsanspruch aus der expliziten oder impliziten Berufung auf irgendeine Wahrheit-an-sich zieht, gar nicht mehr zur Debatte steht. Es geht von vornherein um diejenige Ebene, auf der ,Wahrheit' essentiell als etwas aufgefaßt werden muß, das ,geworden', geschaffen bzw. zu „schaffen" ist und den „Namen für eine ,Prozeß' abgiebt" 3 , für den Prozeß nämlich fortwährender Kraft-feststellungen und funktionsaufprägender Ubermächtigungen im Kampf-Spiel der Willen-zur-Macht-Komplexe. Bewegen wir uns auf dieser Ebene des Willen-zur-Macht-Geschehens, dann scheint es mir deutlich zu sein, 3
K G W VIII 2, 9[91], S. 49.
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daß wir, und hier sehe ich einen Unterschied zu der Auffassung von Herrn Salaquarda, den Willen zur Macht nicht bloß als einen „analytischen", bloß als einen erklärungsschematischen Begriff, der sich dadurch auszeichne, daß er auf je neu auftretende Phänomene angewendet werden könne, auffassen dürfen. Es scheint mir wichtig zu betonen, daß wir Nietzsches Auffassung in Sachen Willen-zur-Macht, Perspektivismus und Interpretation nicht zu anthropozentrisch, nicht bloß erklärungsschematisch, nicht allein vom Welt- und Selbstverhältnis des Menschen her verstehen. Es geht um die Interpretativität ,allen' Geschehens und darum, daß ,jedes' Kraftzentrum, nicht also nur der Mensch, sondern vom Bereich des sogenannten Anorganischen über das am Ende des Organischen auftretende Bewußtsein und bis hinein in das bewußte Denken, auf axiologisch-perspektivischem Wege im Verhältnis zu anderen dynamischen Willen-zur-Macht-Komplexionen die ganze übrige Welt perspektivisch konstruiert und dadurch selbst auch überhaupt erst Welt hat. ,Diese' Ebene der wertschätzend-perspektivischen Interpretativität der Willen-zur-Macht-Komplexe, und damit des ursprünglichen Vollzugscharakters von Geschehen, ist nun weder im Sinne eines Objektivismus, eines Ansichseins oder einer doktrinären Absolutheit hintergehbar (denn auch dies würde eine Auflösung des Lebens selbst zur Folge haben) noch — und das scheint mir mindestens ebenso wichtig zu sein — ist er in einen abgespannten Relativismus der Beliebigkeit hinein aufzulösen. Darin liegt, wenn man so will, auch eine eher physiologische Komponente des Ideologieproblems, die freilich nicht als Realismus oder Naturalismus mißverstanden werden darf. Auch müßte in diesem Sinne die Frage der Ideologie im Zusammenhang des genealogischen' Verfahrens Nietzsches erörtert werden, wobei sich ebenfalls erweisen würde, daß es sich weder um einen Objektivismus noch um einen bloßen Relativismus, weder um Dogmatismus noch um Skeptizismus handelt. Die für Nietzsche charakteristische Pointe scheint mir dabei darin zu liegen, daß Nietzsche die Auflösung bestimmter Probleme und Ideologeme dadurch erreicht, daß er zum einen solche Bedingungen ausfindig macht, unter denen das Problem überhaupt erst entstehen konnte und zum anderen diejenigen Bedingungen angibt, unter denen es nicht mehr entsteht. Der zweite Punkt bedeutet m. E. aber gerade nicht, daß die so durchgeführte ,Ideologiekritik' (wobei die Frage ist, ob Nietzsches Verfahren der Genealogie damit überhaupt hinreichend gekennzeichnet ist) ihrerseits auf Maßstäben mit Absolutheitsanspruch im Sinne eines versteckten objektiven Wahrheitsverständnisses ruht. Vor diesem Hintergrund erlauben Sie bitte noch drei kurze Anmerkungen. Sie sind, Herr Grau, sehr stark von der Problematik der asketischen Ideale ausgegangen, und wenn ich Sie recht verstanden habe, liegt für Sie dort auch der Hase im Pfeffer. Eine Schwierigkeit, die ich nicht nur mit dem Referat, sondern auch mit einer Reihe von Nietzsche-Texten habe, sehe ich
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darin, daß wir uns mit den asketischen Idealen bereits auf einer Ebene der in sich selbst verkehrten Verzweigung des Willens zur Macht bewegen und mithin die Frage nach dem Verhältnis zum ursprünglichen Geschehenscharakter selbst zu stellen ist. Das ist das Geschäft der Genealogie. Nun sind die asketischen Ideale, trotz ihrer weitreichenden Bedeutung, einer moralischpraktischen Dimension zuzuordnen (von wo aus sie freilich gerade auch in den gnoseologischen Bereich ausstrahlen), und es ist dabei immer schon die Existenz eines ,Ich', eines Welt- und Selbst-Verhältnisses vorausgesetzt, auf die bezogen dann die asketischen Ideale zugerechnet und wirksam werden können. Das ist ähnlich wie bei Kant für den Bereich der praktischen Vernunft, wo auch das moralische Subjekt nicht erst noch konstituiert wird. Vorausgesetzt ist also bereits derjenige Mensch, dem die asketischen Ideale dann so viel bedeuten. Wird nun aber nach dem Willen zur Macht, seiner Reichweite und dem mit ihm verbundenen Anspruch gefragt, so zeigt sich, daß dieser von Nietzsche so grundlegend angesetzt wird, daß nicht erst das Verhältnis des Menschen zu anderen Menschen, zur Welt und zu sich selbst, sondern bereits das Zustandekommen z.B. eines ,Ich', das dann auch andere und sich selbst überwinden bzw. Widerständigkeit aufbringen kann oder nicht, durch den Willen zur Macht bedingt, d. h. bereits aus einer Verzweigung des Willen-zur-Macht-Geschehens heraus abzuleiten ist. Ein zweiter Punkt betrifft die Sinn-Frage, in deren Kontext die Willen-zur-Macht-Problematik ebenfalls gesehen werden muß. Dabei ist zu bedenken, daß bei Nietzsche ja nicht einfach an die Stelle eines vormaligen und jetzt nicht mehr übernommenen ,Sinns' (insbesondere der christlich-platonischen Gesamt-,Wertung' der Welt) ein anderer tritt, daß also nicht einfach ein Absolutheitsanspruch durch einen anderen, durch ein Surrogat des Absoluten, ersetzt wird, sondern daß der Sinn von Sinn, und das heißt: die Funktionsstelle von Sinn, und damit auch die der Absolutheit, selbst betroffen ist. Als Stichworte sind etwa zu nennen: kein Sinn-an-sich, sondern S'mn-Schaffen; Sinn nicht mehr als Palliativ gegen den Nihilismus, sondern als Manifestation des ursprünglich-produktiven Kräftecharakters des Lebens; ,Sinn' ist damit nicht mehr Ausdruck der Lebensverneinung, sondern der uneingeschränkten Bejahung aller Realität. Vor diesem Hintergrund muß und darf jede Perspektive, außer daß in ihr unvermeidlich ein assertorisch-wertschätzendes Element allgemeiner Verbindlichkeit liegt (welches ja gerade das Spezifische ihrer Perspektivität ausmacht), sich, wenn man so will, die ganze ,Wahrheit' zutrauen. Das ist für die Uberwindung des Nihilismus von entscheidender Bedeutung. Schließlich möchte ich das Verhältnis von Pluralismus und Monismus nur noch antippen. Das Problem ist für Nietzsche nicht, daß er unter einem Monismus den Pluralismus verbergen will, sondern er fragt, wie etwa Leibniz, umgekehrt: wie kommt es zur Einheit, wo prinzipiell doch alles
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Vielheit ist. Daß für Nietzsche die Pluralität grundlegend ist, haben die Arbeiten von Herrn Müller-Lauter gezeigt. Grau: Im Rahmen einer größeren Untersuchung habe ich einmal meine frühere Darstellung von Nietzsches Religionskritik4 im Hinblick auf ideologiekritische Momente durchgemustert. Und da zeigt sich, daß sie durchaus alle Stärken und Schwächen einer Ideologiekritik hat. So etwa auch, wenn sie Verlogenheit als das Normale und Uberzogenheit als das allgemeine Gesetz ansieht. Nietzsche kann sich ein moralisches Gesetz lediglich auf der Basis asketischer Ideale als absolutes religiöses Gebot vorstellen. Auch hier ist es der absolute Anspruch, der die philosophische Aussage doktrinär werden läßt. Nietzsche (und tendenziell jedenfalls auch Kant 5 ) stand ganz unter dem Druck einer Nötigungsmoral. Kants Ausdruck der Nötigung durch das Sittengesetz wird hier sozusagen material: Als permanente Verpflichtung, etwas zu tun. Nietzsches ganze Moralkritik ist von der Abwehr einer permanenten moralischen Nötigung getragen; das eigentliche „Problem" besteht ihm darin: „Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf —".6 Bei dem Pluralismus-Monismus-Problem habe ich ein ganz allgemeines Bedenken, das nicht nur für philosophische Positionen gilt: Wer den Pluralismus so herausstreicht, will meist seinen eigenen Monismus durchsetzen. Ich fürchte, bei Nietzsche ist das ähnlich, es ist zumindest höchst dialektisch — was ich jetzt freilich nicht genauer ausführen kann. Herrn Abels Ausführungen über den Funktionswandel des Sinnbegriffs habe ich nicht ganz verstanden. Vielleicht liegt in einem allgemeinen Hinweis eine Antwort: Das Wort Sinn hat natürlich keinen Sinn. Aber es ist gewiß so, daß Begriffe, die sich nicht exakt definieren lassen, ebensowenig wie Probleme, die sich nicht exakt lösen lassen, damit ja noch nicht, fürchte ich, aus der Welt sind. Baier: Mich beschäftigt Nietzsches Stellung zur Ideologiekritik. Ich bin nicht überzeugt, daß Nietzsche im Sinne der Wissenssoziologie und der soziologischen Ideologiekritik überhaupt eine Ideologiekritik geleistet hat. Den Grund habe ich in meinem Vortrag genannt; nämlich, daß ihm die Immanenz der Gesellschaft, in der ja erst die Ideologien als Sinnreste des gestorbenen und getöteten Gottes benötigt und verwertet werden, gleichsam als ein Skelett erscheint, das jetzt mit Werten und Ganzheitswörtern behängt wird. Er hat weiters vorausgesagt, wie Experten und Antiquare versuchen werden, diese Werte zur Legitimierung von Interessen mit allerhand Ethiken 4
Gerd-Günther Grau, Christlicher Glaube und intellektuelle Redlichkeit. Eine religionsphilo-
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sophische Studie über Nietzsche, Frankfurt a. M. 1958. Vgl. dazu A n m . 53 zu meinem Vortrag. GM II'l.
6
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und Philosophien zu objektivieren. Für Nietzsche selbst ist dieses Thema, das gleichwohl ein reales Thema seiner und unserer Gegenwartsgesellschaft ist, jedoch nicht relevant, da er sich eben dieser Gesellschaft nicht ausliefert, sondern jenseits von Gut und Böse, und das heißt auch jenseits der Gesellschaft, bleibt. Methodologisch betrachtet betreibt er also gar keine Ideologiekritik. Freilich ist nicht zu leugnen, daß er thematisch sehr viel Ideologiekritisches aufgenommen hat. Selbst den Ausdruck ,Ideologie' verwendet er — hier muß man Monika Funke korrigieren. Ein anderes Problem liegt natürlich dann vor, wenn man Nietzsche selbst ideologiekritisch angeht. So ist es für den Soziologen legitim, ihn auf eigene Zeit- und Interessenabhängigkeiten zu ,entlarven', oder seine Aussagen am Maß seiner eigenen Kriterien zu prüfen. Darüber kann man in der Dissertation von Funke sehr viel Zutreffendes nachlesen. N u n aber zu Herrn Grau: Ich sehe eigentlich den Widerspruch nicht, von dem Sie sprechen. Es mag zwar einen Widerspruch zwischen den Büchern von Müller-Lauter und von Kaufmann geben. Den Widerspruch zwischen Realisierung und Sublimierung des Machtwillens erkenne ich nicht. Wenn man die Realisierung des Willens zur Macht als eines unbedingten Herrschaftswillens und die Sublimierung bis zur Weisheit des Ja-Sagens oder bis zur Produktivität des Künstlers so dichotomisch voneinander trennt, dann ergibt sich natürlich die Frage, ob der unbedingte Herrschaftswille nicht selbst Ideologie ist. Und wenn Nietzsche sie als dominant gesetzt hätte, dann wäre er ganz fraglos ein Ideologe des Willens zur Macht als eines Herrschaftsprogramms. Aber Sie vergessen, Herr Grau, daß die andere Seite, die Weisheit des Ja-Sagens, notwendig hinzugehört. Die Sublimierung des Willens zur Macht in der Weisheit zweckloser Lebensführung, in der Artistik des vollkommenen Lebenswerkes als zweckfreies Kunstwerk, ist auch eine Realisierung des Machtwillens. Dabei ist das eine stets nach dem Modell des anderen gedacht: der Herrscher am Modell des Künstlers — und umgekehrt; das ,Machtwerk' am Modell des Kunstwerks. Unter dieser Prämisse sehe ich keinen Widerspruch. In der Figur des Künstlertyrannen kann man sogar beides zusammen denken. Für dieses Zusammendenken zweier Modi des Willens zur Macht könnte nun wieder die Soziologie Anleitungen geben. Die Soziologie, die eigentlich Nietzsches Wort vom Individuum als ,Dividuum' zum Erkenntnisprogramm erhoben hat und insofern mit dem ungeteilten und unteilbaren Individuum gar nicht mehr rechnet, hat natürlich doch immer wieder nach dem Einheitsmoment hinter den verschiedenen ,Teilen', eben hinter den ,Rollen', gefragt. Bei den soziologischen Klassikern, bei Max Weber und Georg Simmel, gibt es eine Fassung dieser Frage, die mit der bei Nietzsche intendierten Verschmelzung von Herrscher und Künstler in Verbindung zu
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bringen ist, womöglich von ihm angeregt ist. Für Weber gibt es auf der einen Seite denjenigen, der als Individuum den Machtwillen unbedingt realisiert und damit unter das Gesetz der Verantwortungsethik gerät, d.h. unter die Sachzwänge von Machtlagen. Verantwortung bedeutet nichts anderes als Zweckrationalität im politischen Geschäft. Auf der anderen Seite steht der Sublimierende, der zweckfrei Schaffende, der Künstler, der die Zerfallenheit und Zerstrittenheit der Welt mittels des Kunstwerkes darstellt und vorlebt. Simmel hat diesem Typus der Künstlerexistenz unter dem individuellen Gesetz der Selbstvervollkommnung eine Art Lebensästhetik gewidmet; bei Max Weber müssen wir eher in privaten Quellen suchen. Das ist keine Metaphysik des Willens zur Macht, verkleidet als Soziologie; auch keine Ideologie, verdeckt als Ethik heroischer Lebensführung; sondern ein Weltmodell ohne jede Transzendenz, oder besser: nur mit Transzendenz im Diesseits (Arnold Gehlen). Im Sinn Nietzsches also die Rechtfertigung der Zwecke des Lebens, auch der strittigen bei und in sich, durch die Anerkenntnis im vorbildlichen Lebensausdruck und durch die Forderung, diesen immer vollkommener zu steigern. Wenn man das Wort Dividuum ernst nimmt, und wenn man den Satz, daß der Mensch eine Einheit, womöglich aus angeborenen oder anerzogenen Qualitäten seiner Seele, zu sein hat, auch fallen läßt — und das hat Nietzsche ja getan —, dann gibt es keinen Widerspruch zwischen (politischer) Realisierung und (ästhetischer wie ethischer) Sublimierung des Willens zur Macht im Gewand menschlicher Leiber. Dann gibt es keinen Widerspruch zwischen den beiden Typen des Politikers und des Künstlers, sondern man kann sich ein Ideal des Ubermenschen und den höheren Menschen als lebbaren Ubergang schon vorstellen. Dem widerspricht nicht, daß Nietzsche die Immanenz der gesellschaftlichen Reflexion aufsprengt. Die Parallele zu Max Weber, zu Simmel und zum modernen Rollenbegriff soll nicht verdecken, daß Nietzsche die Ideologiekritik im soziologischen Verständnis überhaupt nicht interessiert. Der neue Mensch, der sich realisieren kann im unbedingten Herrschaftswillen und sublimieren kann im vollkommenen Kunstwerk, steht im Jenseits der Gesellschaft. Das mag ein utopischer Ort sein, aber es ist ein Ort, den wir uns denken, auf den hin wir uns entwerfen können. Kaulbach: Hat Ihre Interpretation, in welcher die Unterscheidung zwischen politischer Existenz und künstlerischem Charakter eine Rolle spielt, mit der Vorstellung Thomas Manns zu tun, der zufolge der Künstler aus der bürgerlich-politischen Sphäre heraustritt, sich sogar in einem gewissen Gegensatz zu ihr befindet, um schließlich zum moralischen Ernst der bürgerlichen Verantwortung zurückzukehren? Ich möchte nur an den Josephs-Roman erinnern.
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Baier: Thomas Mann oder auch sein Bruder Heinrich, beide seit jungen Jahren im Bann Nietzsches, haben gewiß eine solche Dialektik der Künstlerund Politikerexistenz für Ausnahmemenschen im Auge gehabt. Der letzte hat sie im Henri Quatre literarisch vorgeführt, der erste sie selbst sogar exemplarisch vorleben wollen. Die Brüder wußten freilich auch von Hybris und Scheitern durch die Gewalt der Dinge: Der französische König kam durch Mörderhand um und der literarische Stellvertreter Thomas Manns, Adrian Leverkühn, verkam in der Syphilis. Beiden Figuren gelang aber die Sublimierung: dem einen politisch im französischen Staat, dem anderen im Tonkunstwerk. Zweifellos keine Allerwelts- und keine Allerleutemoral. Tauredt: Drei Punkte möchte ich ansprechen: Herr Grau hat eine Formulierung verwendet, die ja wohl Schlüsselfunktion hat: Die unbefriedigte Selbstüberwindung wird als Macht an anderen ausgelassen. Ist das psychologisch gemeint? Und wenn ja: Ist es denn plausibel? Bedeutet es, daß ich ein Erlebnis des Versagens durch Herrschaft über andere zu kompensieren versuche? Daß man Versagen gern vertuscht, kann ich nachvollziehen, aber daß man es durch Herrschaftsansprüche über andere zu überdecken versucht: Für diese Annahme braucht man Zusatzannahmen. Welche psychologische Plausibilität hat dieser Anspruch für Sie, Herr Grau? Das zweite ist jetzt eine Frage, die weiter geht. Ich möchte noch einmal auf die Frage nach den Arten der Absolutheit zurückkommen, die Herr Müller-Lauter vorhin differenziert ausgeführt hat, welche bisher fast nur im Hinblick auf Absolutheit im weiteren Sinne erörtert wurde. Herr Kaulbach sprach, an Müller-Lauters Rede vom engeren Sinne anknüpfend, von Christus. Wer aber hat eigentlich einen absoluten Anspruch im weiten Sinne gestellt in der Uberlieferung der Geschichte, außer die Religionsstifter — in unserem Bereich eben Christus? Nehmen wir z . B . das Johannes-Evangelium: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben". Darin liegt ja doch wohl ein äußerster absoluter Anspruch. Zeigt sich hier nicht, daß Absolutheit erst dann entsteht, wenn jeweils endliche Bestimmungen als unendlich gesetzt werden? Haben wir nicht seit Kant die Möglichkeit, diese Form von Dogmatismus zu durchschauen? Geht Nietzsche nicht über diese Verabsolutierung hinaus? Und eine letzte Frage: Wenn Nietzsche den Willen zur Macht im großen wie im kleinen als einen der Grundtriebe des Menschen aufgedeckt hat, hat er dann nach Ihrer Meinung Anerkennung, Würde, Achtung, also die moralische Bestimmung des Menschen, dem Willen zur Macht geopfert? Oder meinen Sie, der Wille zur Macht sei letztlich im Sinne Müller-Lauters als eine Vielfalt antagonistischer, sich bekämpfender Weltpunkte zu verstehen? Wenn Sie dieser Auffassung sind, dann können Sie nicht mehr folgern, Nietzsche habe etwas fälschlicherweise verabsolutiert. Zumindest gibt es dann diesen Grundtrieb auch hinter
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der Moral, wenn auch als zusammengesetzte, in sich widersprüchliche Strebung. Glauben Sie dagegen, Nietzsche habe dem Willen zur Macht insgesamt eine falsche Stellung zugewiesen, dann scheint mir Ihre immanente Nietzsche-Kritik auf ein ,Zurück zu Kant!' hinauszulaufen. Grau: Ja, ich meine schon, unbefriedigte Selbstüberwindung schlägt sehr leicht in Machtwillen um. Das ist natürlich psychologisch gemeint, ohne damit ein strenges Seelengesetz zu behaupten. Den Umschlag vom Versagen in den Herrschaftsanspruch möchte ich als Modell ansehen, als ein besonders wichtiges und durchsichtiges Modell, an dem sich die Genese und die Realisierung des Machtwillens sehr schön zeigen läßt. Sehen Sie, in der Bergpredigt ist von Kreuzzügen gar nicht die Rede; ebensowenig wie etwa bei Marx etwas von Stalin steht. Man kann auch vermuten, daß Marx sich durch Stalin nicht besonders erfüllt gesehen hätte. Trotzdem denke ich, kann man die Geschichte des Christentums eben nicht betrachten, ohne auch die Kreuzzüge, den Sozialismus nicht, ohne den Stalinismus zu reflektieren. An dieser Art des historischen Umschlags setze ich analytisch an. Seinen Ursprung sehe ich eben im Absolutheitsanspruch, in der behaupteten absoluten Wahrheit eines unbedingten Wertsystems, einer endgültigen Interpretation. Von dem einen Grundtrieb habe ich eigentlich nur gesprochen, weil Nietzsche so apodiktisch von ihm spricht. Warum begnügt er sich nicht mit der Aussage, das sei einer der offensichtlich besonders wichtigen Triebe des Menschen? Es mag ja noch andere geben, die wichtiger oder weniger wichtig sind. Selbstverständlich haben wir seit und mit Kant die Möglichkeit, den Dogmatismus zu durchschauen. Aber Nietzsche ließ sich durch Kant — den er ja von seiner Position aus wiederum heftig attackiert (vgl. das Kant-Kapitel meines Nietzsche-Buches) — so wenig bremsen wie andere Dogmatiker bis heute. Ihre letzte Frage deckt dagegen noch einmal genau den Widerspruch auf, den ich bei Nietzsche (und überhaupt . . .) herausarbeiten möchte: zwischen dem Pluralismus der Selbstüberwindung, den der „Weise" gelten läßt, und dem Monismus, den der Wille zur Macht des „Starken" darauf errichtet. Man erlebt das heute ja handfest genug. Deshalb wird es auch in der Frage der Moral wesentlich darauf ankommen, den — von Nietzsche völlig übersehenen, von Kant nicht immer beachteten — Unterschied zwischen allgemeinem und absolutem Anspruch herauszuarbeiten. Sie sehen: Mit einem „Zurück zu Kant" wäre ich, bei entsprechenden Kautelen in seiner Ethik (s.o.), durchaus einverstanden — in der Theorie und für die Praxis: „Die Grenzen der Vernunft begreifen, — das erst ist wahrhaft Philosophie . . ." heißt es überraschend im Antichrist (ÄC 55).
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Müller-Lauter: Es ist schwierig, angesichts der Vielfalt von Sachen, die mir zu den verschiedenen Beiträgen einfallen, einen roten Faden zu finden. Ich fange mal bei Herrn Grau an. Warum nur den einen Grundtrieb oder — mit Nietzsches Worten — warum die These, der Wille zur Macht sei das letzte, auf das wir stoßen? Es gibt viele Gründe für ein solches Denken. Ich will einen nennen, der leicht vergessen wird: Je eindeutiger die Bestimmung des Kriteriums ist, mittels dessen man andere Weltanschauungen, Religionen, Ideologien etc. untersucht, desto schärfer trifft es. Wenn Nietzsche gesagt hätte, man findet im Christentum auch den Willen zur Macht, dann wären die Christen aus seiner Kritik leicht heraus. Denn es gibt ja auch Liebe, und es gibt dies oder jenes, worauf sie sich berufen können. Das will heißen: Die Kritik Nietzsches gewinnt gerade ihre Eindeutigkeit und ihre Unbedingtheit von daher, daß sie nur von einem ursprünglichen Trieb ausgeht. Es soll jetzt einmal unausgemacht sein, Herr Baier, ob der Begriff Ideologiekritik, so wie Sie ihn verstehen, oder so, wie ihn Herr Maurer in seinem Aufsatz 7 verwendet, sachangemessener ist. Lassen wir das einmal eine Definitionsfrage sein. Schon damit, daß vom Willen zur Macht gesprochen wird, ist die Ebene des bloß Analytischen verlassen, wie ich gegen Salaquarda sage. Im Begriff des Willens zur Macht, wenn Sie so wollen, steckt schon ein ideologiebildendes Moment. Ideologiekritik setzt insofern .Ideologie' voraus. Das ist mir wichtig, und ich muß noch einen Schritt weitergehen, einfach weil ich sehe, daß die literarische Diskussion an diesem Punkte in der letzten Zeit ein Stück vorangekommen ist. Herr Salaquarda schreibt in seiner Auseinandersetzung mit Funke und Maurer zu Nietzsches Kritik: „Solange das kritische Vorgehen sich damit begnügt, Zweifel zu erregen, bedarf es nicht notwendig einer positiven Theorie, auf die es sich stützen und zu seiner Begründung zurückziehen könnte." 8 Sehr richtig, soweit sich Salaquarda auf das Selbstverständnis von Nietzsches Philosophie als einer Schule des Verdachts berufen kann. In der Tat, solange Nietzsche eine skeptische Position bezieht, braucht er eine solche positive Theorie nicht. Aber im Begriff des Willens zur Macht liegt ein zusätzliches Moment, das auch am Ende von Salaquardas Ausführung zum Vorschein kommt. 9 D a heißt es nämlich, überall dort, wo Nietzsche vom Willen zur Macht, vom Ubermenschen, von der Wiederkunftslehre spreche, ziehe er einen Horizont. Was für einen Horizont? Einen, der es vor allem verhindert, daß es zu Stagnation oder Schwächung kommen kann. Und dann nennt Salaquarda dasjenige Kriterium des Willens zur Macht, das in 7
8 9
R. K. Maurer, Das antiplatonische Experiment Nietzsches. Z u m Problem einer konsequenten Ideologiekritik, in: Nietzsche-Studien 8, 1979, 1 0 4 - 1 2 6 . J . Salaquarda, Mythos bei Nietzsche, a . a . O . , 194. J . Salaquarda, a. a..O., 198. - Vgl. dazu J . Salaquarda, Umwertung aller Werte, Archiv f. Begriffsgeschichte, X X I I , 1978, 169 ff.
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seinem Begriff schon enthalten ist und das es nicht gestattet, bei seinem analytischen Charakter stehen zu bleiben: „Aufsteigendes Leben kann und wird seine Möglichkeiten schöpferisch ergreifen, das Ressentiment des niedergehenden Lebens wird keinen Anhalt finden, diese Hypothesen ins Statische und Lebensfeindliche umzulügen." Will heißen, im Begriff des Willens zur Macht liegen Elemente einer dogmatischen Vorentscheidung. So ist in ihm z . B . die Verurteilung bestimmter religiöser Möglichkeiten menschlichen Selbstverständnisses mitgesetzt. Es ist mir aber wichtig zu betonen, daß Nietzsches Verständnis des Willens zur Macht jenen Relativismus voll in sich aufgenommen hat, bei dem Salaquarda (und erst hier trennen wir uns) stehen bleibt, über den Nietzsche aber hinausgeht. Und nun zur Kontroverse zwischen Salaquarda und Maurer. Zunächst die These von Maurer: Beim Versuch, das Verhältnis von Ideologiekritik und Ideologie bei Nietzsche zu bestimmen, gelangt er über die These vom Perspektivismus der interpretierenden Machtwillen auch zu jenem beschriebenen Relativismus. Andererseits aber findet Maurer, in Ubereinstimmung mit meinen Ausführungen zur Interpretation 1 0 , daß diese These vom Perspektivismus beansprucht, die adäquate Interpretation des Interpretierens zu sein. Das führt dann zu dem, was Maurer das „ D i l e m m a " des Perspektivismus nennt; entweder ist er nur eine Position unter gleichberechtigten anderen oder eine übergeordnete Position, die dann aber inhaltlich leer ist. 1 1 N u n , da läßt Maurer Nietzsche scheitern. An diesem Punkte muß die Frage nach dem Willen zur Macht als Interpretation weitergeführt werden (wenn sie weitergeführt werden kann). N u r — erlauben Sie mir das Wort — es ist das Raffinierte, das vielleicht Unüberbietbare von Nietzsches Position, daß er einmal als der auftritt und aufgenommen werden kann, der undogmatisch die Schule des Verdachts gründet, und daß er ein anderes Mal, wenn es um die Radikalität seiner Kritik geht, überall und in vielerlei Gestalten, selbst im asketischen Ideal, d. h. im Willen zum Nichts, jenen lebensdienlichen Willen zur Macht findet, dessen verschiedene Ausprägungen bejaht oder verneint werden. Und zwar gemäß ihrer Uberwindungskraft, ihrer Organisationsfähigkeit, ihrer Dauerhaftigkeit usw. Und damit bin ich bei dem, was ich am Anfang unseres Gesprächs nicht vortragen wollte, bei dem Punkt, in dem ich mit Ihnen, Herr Grau, wohl übereinstimme. Nietzsches Philosophie erlaubt zwar die Feststellung: Das ist keine Ideologie, alles bleibt nur Verdacht. Aber damit habe ich nicht den ganzen Nietzsche! Den ganzen Nietzsche habe ich nur, wenn ich die immanenten dogmatischen Voraussetzungen hinzunehme, nur in jener inneren Spannung, die ich als Gegensätzlichkeit auf verschiedenen Ebenen in meinem 10
11
W. Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, Nietzsche-Studien 3, 1974, 41-60. R. K. Maurer, a . a . O . , 120.
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Nietzsche-Buch herauszustellen versucht habe, und die ich in der Kontroverse Maurer-Salaquarda verwandelt wiederfinde. Kaulbach: Ideologie spielt bei Nietzsche die Rolle, die er auch dem „Glauben" überträgt. Daher gilt auch für sie, was Nietzsche im Hinblick auf den Glauben sagt: „Nicht der Glaube soll uns beherrschen, sondern wir sollen die Herren des Glaubens sein." Das ist eine Wendung, die ich auch als Programmpunkt des Ubermenschen bezeichnen möchte und zugleich als Inhalt, als Inhaltsfüllung des Willens zur Macht. Der Wille zur Macht wäre dann der Wille zur Herrschaft über jeden möglichen Glauben. Salaquarda: Herr Grau, wahrscheinlich haben Sie es gar nicht so streng gemeint, aber ich möchte es trotzdem ausdrücklich machen. Sie haben an einer Stelle gesagt 12 : Hier mündet es dann doch in Kaufmanns „System". Kaufmann würde sich gewiß gegen diese Aussage wehren, und ich glaube zu Recht. Er diskutiert ja den Systembegriff ausdrücklich und versteht unter System nicht mehr und nicht weniger als eine Synopse, einen existentiellen Zusammenhang von Experimenten, Problemen und Lösungen usw., den er aus methodischen Gründen zunächst genetisch, dann aber im systematischen Kontext darstellt. , System' ist bei Kaufmann eine denk- und darstellungsökonomische Einheit und nicht Ausdruck der dogmatischen Herrschaft eines Prinzips über die Wirklichkeit. Im Vortrag und in der Diskussion wird m.E. nicht genügend deutlich, wovon eine Interpretation des Willens zur Macht ausgehen muß. Wir müssen uns vor Augen halten, daß das Ich, die Substanz keineswegs bloße Fiktionen, sondern Realitäten sind, freilich endliche, zeitweilige Realitäten. Eine Eintagsfliege ist eine relativ kurze Realisierung von Willen zur Macht, ein Mensch eine langfristigere, eine Kultur, ein Gebirgszug sind noch langfristiger. Sie sind allesamt zeitweilige Einigungen, und von solchen zeitgebundenen Gegebenheiten geht Nietzsche stets aus. In ihnen findet er das Faktum, nicht aber in letzten metaphysischen, überzeitlichen Gegebenheiten. Wille zur Macht ist das, was sich jeweils in einem Volk, in einer Tat oder in einem Individuum ausdrückt. In Wirklichkeit sind sie Komprehensionen von Machtprozessen oder genauer: Sie sind Versuche, komplexe, aber konkrete Gegebenheiten möglichst lange zu einen und durch größere Konzentration zu steigern. Im Blick auf diese Einheiten denkt Nietzsche höchst relativistisch und skeptisch. Überall sind die Einheiten nicht nur Klammer um eine Vielheit, sondern sie selbst sind auch immer Teile einer umfassenderen Vielheit. Und wenn Nietzsche von der Wirklichkeit spricht, dann meint er dieses Auf und Ab des 12
Vgl. o. S. 233. 239f.
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Wellenspiels, worin es also keine endgültige Realisierung und keine Absolutheit gibt, sondern eben nur die Deutung dieses Geschehens. Hier berühre ich mich mit Herrn Baier. Von diesem Ausgangspunkt ist Absolutsetzung bei Nietzsche geradezu ausgeschlossen. Wenn Nietzsche trotzdem manchmal solche Äußerungen tut, dann sind das Gedankenexperimente. Dann spielt er mit dem Absoluten. Aber ich glaube, Nietzsche will darauf nicht hinaus, und sollte er dennoch darauf hinaus wollen, dann irrt er sich. Dies gilt auch von Nietzsches Auffassung von der Geschichte: Die Menschheit ist selbst ein Traditionsstrang, in dem sich nun einmal bestimmte Willenskombinationen zusammengeschlossen und als solche überlebt haben. Wir können die Lüge, die bei der Bildung solcher Stränge eine Rolle gespielt hat, einsehen, wir können sie aber nicht widerrufen. Sie zu widerrufen, wäre ein Wille zum Nichts. Gerade hier müssen wir ein Doppel- oder Dreifachoder Vielfach-Bewußtsein entwickeln, damit wir die internalisierte — so würden wir heute sagen — Nietzsche sagt: einverleibte Grundlüge akzeptieren. Rohrmoser: Mein Beitrag kommt eigentlich ein bißchen spät, denn ich wollte eigentlich im Anschluß an Herrn Baier etwas sagen. Ich empfinde ein Unbehagen bei dem, was Herr Baier auf die berechtigte These von Herrn Grau eingewandt hat. In welchem Sinne kann man — wenn überhaupt — den Begriff der Ideologie auf Nietzsche anwenden? Wenn ich das in Herrn Graus Referat Nichtgesagte, um mich mal einer Heideggerschen Wendung bedienen zu dürfen, benennen darf, so habe ich den Eindruck, daß er Nietzsche als einen Denker interpretiert, der den machtinspirierten ideologischen Antrieb in sich selbst entlarvt hat. An Nietzsche selbst wird etwas sichtbar, das zu einer berechtigten Skepsis und zu einer gewissen Relativierung des späten Nietzsche führt. Das kommt dem von Herrn Salaquarda Gesagten sehr nahe. Ist es nicht so, daß mit dem Verlust des Wahrheitsbegriffes auch der Begriff der Ideologie selber sinnlos wird? Was kann der Begriff der Ideologie eigentlich noch für einen Sinn haben, wenn mit der Wahrheit experimentiert wird? Der Experimentalcharakter schließt die Ideologien und Ideologeme mit ein! In diesem Sinne würde ich Herrn Baier voll zustimmen, wenn er sagt, daß in der Bedeutung, in der Soziologie, Politologie und Psychologie von Ideologie reden, der Begriff auf Nietzsche nicht anwendbar ist. Dem späten Nietzsche stehen Kategorien und Denkmodelle zur Verfügung, die genau diesen Weltzustand diesseits der Ideologien begreifen oder besser: ihn interpretieren. Die Auslegung des Willens zur Macht ist es, die zu einer Relativierung, ja zur Negation der bis ins Absolute vorangetriebenen Sinnangebote und Sinnansprüche führt. Wie kann man diese Position mit dem anderen, im Vortrag entwickelten, Standpunkt vereinbaren? Vielleicht ist im methodischen Ansatz des Spätwerks
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eine Antwort zu finden. Was für einen Status haben eigentlich die Aussagen, die wir in den Fragmenten der späten achtziger Jahre finden? Metaphysische Aussagen im Sinne der alten Metaphysik sind es nicht. „Ontologisch" wurde dann mal angeboten, z . B . von J . B. Lötz 1 3 . Sind es aber ontologische Aussagen? Man stelle sich einmal vor, Nietzsches Nachlaß würde als Lehre angenommen und in die Praxis umgesetzt. Was wäre wohl die Praxis des praktizierten Willens zur Macht? Das Absurde eines solchen Unterfangens ist evident. Man kommt nicht umhin, Nietzsche im Grunde als Experimentator anzusehen, der Weltmodelle und die zugeordneten Kategorien entwirft, die nur insofern anwendbar werden, als mit der Wahrheit experimentiert wird. An wen wendet er sich also? Eigentlich an einen erst noch zu schaffenden Typus eines Philosophen, nicht an bereits existierende Philosophen, sondern an einen noch zu erzeugenden, neuen Typus des Philosophen, dem er den Anspruch und den Rang eines Gesetzgebers zuspricht. Da taucht ganz unerwartet der platonische Philosophenkönig wieder auf, der sich selber dem obersten Maßstab der Gerechtigkeit unterwirft. Und wenn man nun fragt, was Gerechtigkeit ist, dann kommt man mit dem Begriff des Willens zur Macht allein nicht aus, sondern da ist ein Weiteres, das Heidegger vermutlich richtig empfunden hat, wenn er die Lehre von der ewigen Wiederkehr und den Willen zur Macht in diese Konstellation einbringt und beide in Verbindung mit der Gerechtigkeit unter die Leitfrage der Metaphysik gebracht hat. Nach Heidegger liegt lediglich eine neue Variante der Beantwortung der alten Frage nach dem Wesen und der Existenz des Seins als Seiendes vor. — Wir können mit unserer Interpretation natürlich nicht auf den Auftritt des neuen Philosophentypus warten, sondern müssen die Auslegung des Gesagten auf die beste uns mögliche Weise betreiben. U n d da komme ich zurück auf Sie, Herr Grau. Sie haben im Schlußsatz von der Aufprägung des Seins auf das Werden durch den Willen zur Macht als von der höchsten Annäherung an das Sein selber gesprochen, vom Ausdruck des höchsten Willen zur Macht. U n d da stocke ich: Was heißt hier „höchster Wille"? Also gibt es doch auch eine inferiore Form des Willens zur Macht! Was ist eigentlich das Maß, an dem ich zwischen hoch und niedrig unterscheiden kann? Hier findet sich also eine Differenzierung innerhalb des Willens zur Macht, die bei den bisherigen Interpretationen gar nicht deutlich geworden ist. Ich glaube, von dieser Fragestellung hängt es wesentlich ab, ob man zwischen den Positionen von Herrn Grau und von Herrn Baier vermitteln kann. Wenn ich Nietzsche so interpretiere, wie Herr Grau es getan hat, dann erfährt er zweifellos die Entlarvung dieser in ihm angelegten Perversion. Interpretiere ich ihn so, wie Herr Baier es gesagt hat, dann ist die Frage: Wie gehe ich eigentlich mit dem 13
J. B. Lötz, Entwurf einer Ontologie bei Friedrich Nietzsche, in: Scholastik XX—XXIV, 1 (1944-1949), 1 - 2 9 .
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Gerd-Günther Grau
Chaos sich wechselseitig relativierender und bekämpfender Ideologien, mit ihrem jeweiligen partikularen Willen zur Macht, um? Das ist eine ganz andere Perspektive. Ist Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht selbst eine Perspektive? Oder ist sie eigentlich die Lehre einer neuen, agonalen, pluralen, perspektivischen Welt? — Das ist die Frage! Grau: Ich will Nietzsche ja gar nicht so uneingeschränkt in das Prokrustesbett des Ideologen hineinpressen. Eigentlich möchte ich nur sagen, er ist immer in Gefahr, ein Ideologe zu werden. Das Modell von Herrn Salaquarda ist doch sehr einleuchtend. Hätte er auf Sie gehört, Herr Salaquarda, wäre die Sache vielleicht zu einem besseren, ja plausibleren Ergebnis gekommen. Sein Denken scheint stets einer besseren Lösung nahe. So schiefgehen mußte es nicht unbedingt. Aber sein Naturell hat es ihm nicht leicht gemacht. Abel: Ich möchte zunächst einen früheren Diskussionspunkt aufgreifen. Wieso muß Nietzsche eigentlich auf den einen Grundtrieb kommen? Herr Müller-Lauter hat zur Erklärung auf die Schlagkräftigkeit, die mit der Eindeutigkeit verbunden ist, hingewiesen. Ich möchte einen weiteren Aspekt nennen, der auf den ersten Blick vielleicht überraschend ist. Es gibt viele Stellen bei Nietzsche, wo man sagen kann, daß hier auch ein „Gewissen der Methode" schlägt. Er will nicht auf viele Prinzipien zurückgreifen, sondern, dem Gebot der Prinzipiensparsamkeit gemäß, auf möglichst wenige, ja am besten auf nur eines. Wir dürfen nicht „mehrere Arten von Causalität annehmen, so lange nicht der Versuch, mit einer einzigen auszureichen, bis an seine äusserste Grenze getrieben ist". 1 4 Für Nietzsche hat dies die Willen-zurMacht-,Kausalität' zu sein. Die Prinzipiensparsamkeit bei der Naturerklärung hat bekanntlich in Philosophie und Wissenschaft eine lange Tradition. Aus Nietzsches eigener Zeit möchte ich lediglich auf Ernst Machs Prinzip der Denkökonomie hinweisen. Mein zweiter Punkt betrifft von hier aus die Frage, wie es um die Möglichkeit eines perfekten, eines absoluten Wissens steht. Wenngleich jedes auftretende Wissen sich, zumal unter der Erfahrung des Todes Gottes und des Nihilismus, letztlich die ganze ,Wahrheit' zutrauen muß und auch darf, so gibt es für Nietzsche doch, und hierin stimmt er durchaus mit Kant überein, keine Möglichkeit eines perfekten Wissens. Aber ganz entgegen der am Objektivitätsideal orientierten Perspektive Kants und damit auch gegen die Möglichkeit, die Metaphysik zu sichern, wird bei Nietzsche die Einsicht leitend, daß wir immer schon eine gehörige Portion , Glauben' vorausgesetzt haben, um überhaupt sinnvoll von .Wissen' reden zu können. Wichtig ist also, 14
JGB 36.
Diskussion
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daß alles Wissen axiologisch vorbestimmt und latent gestützt ist. Ist dies nicht mehr der Fall, gerät das Wissen und die Wissenschaft selbst in eine Krise. Das Problem, das Nietzsche an dieser Stelle weiter- und in den Kern seines eigenen Anliegens treibt, ist: welcher Art ist die ,Logik' dieser ,Glaubens'verhältnisse, auf denen auch alles .Wissen' bereits aufruht? An die Stelle einer ,Logik' des Wissens hat so die Tiefenlogik der axiologisch-interpretativen Wertschätzungen zu treten. Für diese gilt, daß jede Perspektive nicht, wie bei Leibniz, das Spiegelbild einer harmonischen und aus sich heraus vollkommenen und verbindlichen Wirklichkeit ist und von daher einen absoluten Geltungsanspruch ableiten könnte, sondern von sich aus die ganze übrige Welt erst konstruiert. In diesem Sinne muß sie sich verabsolutieren, weil sie andernfalls ihre eigene Welt nicht nur relativieren, sondern zerstören würde. Gleichwohl aber stellt dies weder einen Objektivismus noch eine Absolutsetzung im Sinne metaphysischer Wahrheiten dar. Es ist wichtig, das Zusammenspiel beider Komponenten zu sehen, um sowohl einen neuen Absolutismus, als auch die Auflösung von Nietzsches Lehre in einen bloßen Relativismus zu verhindern. Das Grundproblem scheint mir die Frage nach Stellung und Status der Wertschätzungen, d. h. der axiologischen Interpretationsverhältnisse zu sein. Der dritte Punkt, auf den ich hinweisen möchte, betrifft den von Herrn Grau am Ende seines Vortrags pointierten, jetzt mehrfach angesprochenen und zuletzt von Herrn Rohrmoser aufgegriffenen Satz, demzufolge dem Werden der Charakter des Seins aufzuprägen und dies der , höchste' Wille zur Macht sei. Wie ist dies zu verstehen? Wir dürfen uns diesen Vorgang nicht so vorstellen, als könne man eine Auftrennung zwischen einem Etwas, dem etwas aufgeprägt wird, und demjenigen, der aufprägt, vornehmen. Das wäre noch im Rahmen jener Unterscheidung nach Täter, Tun und Bewirktem gedacht, die für Nietzsche gerade nicht charakteristisch ist. Wenn es um das Verhältnis von Werden und Wille zur Macht geht, dann ist das angesprochene Aufprägen ein Vorgang, der von der Ebene der ursprünglichen Einheit von Mensch und Welt her verstanden werden muß. Hier geht es um eine bestimmte Stellung zum Werdecharakter der werdenden Welt, und es wird kein Fangnetz über das Werden geworfen, um es mit eiserner Hand still zu stellen. Vielmehr wird (da Veränderung, Wechsel und Bewegung, mithin alles Werden seinerseits nur als Willen-zur-Macht-Geschehen, d. h. nur als Übermächtigendes und funktionsaufprägendes Ubergreifen von Machtordnungen über andere Machtordnungen abgeleitet werden kann) der Grundcharakter allen Werdens vom Individuum bzw. vom Ubermenschen als der zugleich eigene Grundcharakterzug einstimmend übernommen und so das Werden ganz von seiner Innenseite her bis in sein Äußerstes getrieben, so daß schließlich selbst die Vergänglichkeit noch als eine Schöpfung angesehen werden muß, und auf diese Weise das Werden selbst, ganz von innen heraus, als das einzige ,Sein' bestimmt werden kann. Ich
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erinnere daran, daß die geforderte dionysisch-tragische Bejahung aller Realität ohne Abzug und Ausnahme, welches die äußerste Stellung zum Werden darstellt, darin gipfelt, das Werden selbst zu sein. Darin ist, so glaube ich, der ,höchste Wille zur Macht' zu sehen. Der Wille zur Macht darf nicht als gigantomanischer Subjektivismus des Wollens neuzeitlicher Provenienz verstanden werden. Dieser Punkt ist übrigens auch mit Blick auf die Wiederkunftslehre von Bedeutung. Und in dem skizzierten Sinne haben wir auch die von Nietzsche im Gefolge der Rede vom Aufprägen des Seinscharakters auf das Werden vorgebrachte Figur zu verstehen, daß die Wiederkehr von allem und jedem „die extremste ,Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins: Gipfel der Betrachtung'" ist. 15 Fischer: Eine Antwort noch auf Herrn Rohrmosers wichtige Frage nach dem methodologischen Status der Aussagen des späten Nietzsche. Es handelt sich um Aussagen einer transzendentalen Psychologie. Nietzsche hat in Jenseits von Gut und Böse gesagt, daß die Psychologie als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht nunmehr wieder auf dem Weg zu den Grundproblemen sei. Die Verbindung mit Kant einerseits und andererseits mit der Erfahrung des Nihilismus ist in meinen Augen evident. Damit ist auch klar, daß der Wille zur Macht das hypothetisch erklärende Hauptkonzept ohne Absolutheitsanspruch ist. Hier schließe ich mich Herrn Baier und Herrn Salaquarda an. Die Verifikation des transzendentalen Modells geschieht im experimentellen Entwurf, in den man jeweils selber einbezogen ist. Ich habe bisher gefunden, daß Nietzsche recht hat. Deshalb möchte ich, vielleicht etwas naiv formuliert, bemerken: das „Experiment mit Nietzsche" gelingt! Der Wille zur Macht bestätigt sich als transzendental-psychologisches Konzept. Grau: Was Sie sagen, ist das „Ich glaube", das alle meine Gedanken über Nietzsche muß begleiten können. Ich sehe ein, daß das ein Gesichtspunkt ist, aber in mir sehe ich — ich mag mich da täuschen und Psychologen würden das vielleicht als sehr bedenklich auslegen — keineswegs nur den Willen zur Macht. Montinari: Uberzeugungen sind Gefängnisse, hat Nietzsche gesagt, aber das heißt ja nicht, daß seine eigenen Aussagen unverbindlich wären. Ich möchte anhand eines Textbeispiels zeigen oder vielmehr: versuchen zu eruieren, an wen sich Nietzsche wendet. Diese Frage steht ja im Raum. Das betrifft auch die Praxis des Willens zur Macht. Das, worum es geht, findet sich 15
KGW VIII 1, 7[54], S. 320.
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meiner Meinung nach sehr gut formuliert in einem Fragment, in dem Nihilismus, Wiederkehr des Gleichen und Wille zur Macht in ihrer gegenseitigen Verbindung treffend zum Ausdruck kommen. Es ist das Fragment mit dem Titel: „Der europäische Nihilismus"; es stammt vom 10. Juni 1887. Dieses Fragment erinnert mich an das, was Sie am Anfang Ihrer Ausführung gesagt haben, Herr Grau. Dieses Fragment gibt es nur in der Kritischen Gesamtausgabe und nicht in jener Buchausgabe des „Willens zur Macht". Den Willen zur Macht gibt es zwar nicht als Buch, aber es gibt den Willen zur Macht als Problem, und alle Ausführungen Nietzsches über den Willen zur Macht sind philosophisch sehr ernstzunehmen. In dem genannten Text argumentiert Nietzsche so 1 6 : Die Moral hat die Wahrhaftigkeit großgezogen, diese aber erkennt die Haltlosigkeit der Moral, und das führt zum Nihilismus als Einsicht in die Sinnlosigkeit des Geschehens. Das Sinnlose, sich ewig wiederholend, ist nun die stärkste Form des Nihilismus. Wenn aber der Grundcharakterzug des Geschehens gutgeheißen werden könnte unter der Voraussetzung, daß man den eigenen Grundcharakterzug darin erkenne, so könnte man das sinnlose Wiederkehren bejahen. Das geschieht, wenn der bestgehaßte Grundcharakterzug im Leben, der Wille zur Macht, bejaht werden kann. Nun müssen auch die Schlechtweggekommenen, diejenigen, die unter dem Willen zur Macht leiden und deshalb den Willen zur Macht hassen, davon überzeugt werden, daß sie nicht anders als ihre Unterdrücker sind, indem in ihrem Willen zur Moral, wobei die Moral die Verneinung des Willens zur Macht ist, doch ein Machtwille verpackt ist. Ihr Hassen ist somit Wille zur Macht. Der Terminus der Schlechtweggekommenen hat keinen politischen Sinn. Die Schlechtweggekommenen finden sich in allen Ständen der Gesellschaft. Die Unmöglichkeit der Moral wird wiederum Nihilismus bei den Schlechtweggekommenen erzeugen. Danach entsteht eine Krisis, wobei die Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkt der Gesundhe't, den Anstoß gibt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende; natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen, bemerkt Nietzsche ausdrücklich. Die Stärksten dieser Krise, die Reichsten an Gesundheit, werden die Mächtigsten sein, d. h. die welche keine extremen Glaubenssätze nötig haben, die, welche einen guten Teil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben. Menschen, die ihrer Macht sicher sind und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolz repräsentieren. Das Fragment schließt da mit einem Fragezeichen ab: Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkehr? Gründer: Die Frage von Herrn Rohrmoser nach dem Status von Nietzsches Aussagen war mir ein bißchen unheimlich, dieses Gefühl wurde 16
Vgl. K G W VIII 1, 5[71], S. 215ff.
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dann aber aufgelöst durch das, was Herr Fischer sagte. Die Frage nach dem Status bestimmter Aussagen begegnet ja im wissenschaftstheoretischen Schubkastensystem, und man beruhigt sich leicht, wenn man eine Schublade gefunden hat. Herr Fischer hat das plausible Angebot gemacht, von einer Transzendentalpsychologie zu sprechen. Nietzsche wolle einen Grund, eine Bedingung der Möglichkeit angeben und in der Form der Psychologie, in einer transzendentalen Psychologie aufweisen, gefaßt als unaufhörliche Geste, als Habitus oder als wiederkehrende Attitüde. Was Herr Montinari da aus dem Nachlaß zitierte, scheint mir diesen Ansatz eigentlich vollkommen zu bestätigen. Hier finden sich Aussagen transzendentalen Ranges, aber die Diktion kann nicht verleugnen, daß eben auch etwas Persuasives mitschwingt. Herr Montinari hat uns ja gerade vorgeführt, daß man nicht in einen hermeneutischen Nihilismus verfallen darf, der letztlich einen Verzicht auf Interpretation bedeutet. Es ist im Sinne Nietzsches, nach einem bestimmten Sinn in seinen Schriften zu suchen. Dies gilt, so meine ich, besonders für den Willen zur Macht.
Kaulbach: Das Wort .transzendental' hier so unbegrifflich einzuführen, das fordert einen geradezu heraus . . . D a muß ich meine ganze Selbstbeherrschung als Diskussionsleiter aufbieten, um die Rednerliste nicht zu unterbrechen. Müller-Lauter: Ich will nicht die Problematik des Begriffs des Transzendentalen aufgreifen. Ich glaube, daß Herr Fischer es im Sinne des Unterlaufens gemeint hat, im Sinne des Versuchs, vorgängige Bedingungen der Möglichkeit zu eruieren, eben in dem Sinne, in dem Nietzsche sein Interpretieren selber interpretiert. Freilich ist, wie ich meine, jenes experimentierende Denken, das hier herumgeistert, zwar gar nicht so schlimm, wenn man es introspektivpsychologisch nimmt. Aber Sie, Herr Fischer, haben ja — wenn ich mich recht erinnere — gezeigt, daß etwa auch der Nationalsozialismus von Nietzsche her als ein Experiment gesehen werden kann 1 7 . „ W i r m a c h e n e i n e n V e r s u c h m i t d e r W a h r h e i t ! Vielleicht geht die Menschheit dran zu Grunde! Wohla n ! " 1 8 Auch das ist Nietzsche! Das müssen wir einfach sehen. Experimentieren ist eben nichts Abgeschirmtes, sondern etwas, das seine unheimlichen, entsetzlichen, zerstörerischen Dimensionen hat — gerade angesichts dessen, daß nach dem ,Tode Gottes' nun der Mensch selber derjenige ist, dessen Aktivitäten in einer sinnlosen Welt total freigesetzt werden müssen. Herr Rohrmoser hat noch einmal nach dem Sinn der Wiederkunftslehre gefragt und da17
18
K. R. Fischer, Nazism as a Nietzschean ,Experiment', in: Nietzsche-Studien 6, 1977, 116-122. Nachlaß 1884: KGW VII 2, 25[305], S. 84.
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nach, was dieser Gedanke für eine Bedeutung im Verhältnis zum Willen zur Macht habe. Darüber läßt sich natürlich viel sagen. Ich weise hier nur auf eines hin. Der höchste Wille zur Macht muß durch die höchste Dauerhaftigkeit ausgezeichnet sein. In der Welt des bestandlosen Werdens kann dieses Höchste nur durch das ewige Wiederkehren des Gleichen erreicht werden. Ich spreche davon jetzt nur als von der Konsequenz des Philosophierens Nietzsches. Ob er die Wiederkehr als Postulat für das Selbstverständnis des Ubermenschen, ob als faktisches Geschehen oder anders gedacht hat, muß außer Betracht bleiben. Ein Wort noch zu Nietzsches „Relativismus": Der ganz konsequente Relativismus wäre in seinem Geltenlassen von ganz Verschiedenartigem unter Nietzsches Voraussetzung des Willens zur Macht unvermeidlich der Ausdruck eines schwachen Machtwillens. Deshalb ist jener Nietzschesche »Relativismus' eben kein Relativismus im hier öfters genannten Sinne mehr.
1.
2. 3.
4.
5.
6.
Grau: Statt eines Schlußwortes gebe ich eine Zusammenfassung in Thesen: Nietzsche gründet ursprünglich, im Zarathustra, den Willen zur Macht auf Selbstüberwindung; diese ist dem Menschen unerläßlich, weil er ein auf Sinngebung angewiesenes Wesen ist, dessen Geist Werte „schaffen" oder akzeptieren muß, um ihnen „gehorchen" zu können. Daher zeigt sich der Wille zur Macht zunächst in den „tausend Zielen", die als „seiner Uberwindungen Tafel [. . .] über jedem Volke hängen". Eine Emanzipation erfordert dann lediglich, aber wesentlich den Ubergang von der Unterwerfung unter eine heteronome zur Selbstbestimmung durch eine autonome Sinngebung, welche der Selbstüberwindung ihre kreative Macht sichert. Da aber die Sinngebung ihre Funktion nur erfüllen kann, wenn sie absolut gesetzt wird, tendiert die Selbstüberwindung stets dazu, in bloßen Willen zur Macht umzuschlagen, die Menschheit dem „Einen Ziel" ihrer Hingabe zu unterwerfen. Der Ubergang von der „sublimierten" Macht der Selbstüberwindung in den „realisierten" Willen zur Macht der Uberwindung anderer konstituiert die Ideologie; er ist es, der am Umschlag ihres humanen Anliegens in eine inhumane Praxis sichtbar wird. Die „Ewige Wiederkehr" der Macht bezeugt die Ohnmacht des ideologischen Anspruchs, „dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen"; das von allen Ideologien betonte Desiderat eines „Ubermenschen" erweist die Zweideutigkeit der Forderung Zarathustras, den Menschen zu „überwinden".
DIETRICH SCHUBERT NIETZSCHE-KONKRETIONSFORMEN IN DER BILDENDEN KUNST
1890-1933
Ein Überblick J . A . S c h m o l l gen. E i s e n w e r t h h e r z l i c h g e w i d m e t „Kunst [. . .] wir finden sie eingelegt in den engelhaftesten Instinkt des Lebens [Liebe]: wir finden sie als größtes Stimulans des Lebens . . . " KGW VIII 14 [120] I. Während
sich
Nietzsche-Rezeption
die
Literaturhistorik
mitten
in
der
Diskussion
b e f i n d e t , hält sich die K u n s t h i s t o r i k seit l a n g e m
der zu-
r ü c k , d e n E i n f l u ß v o n N i e t z s c h e - I d e e n in d e r F o r m - u n d I n h a l t - E r n e u e r u n g der K u n s t nach 1 9 0 0 und im Expressionismus zu erforschen, also mögliche k o n k r e t e N i e d e r s c h l ä g e seiner D e n k s p l i t t e r in b i l d n e r i s c h e n W e r k e n , m i t h i n bildnerische K o n k r e t i o n e n . 1 D i e s e A b s t i n e n z d e r K u n s t h i s t o r i k u n d ihr V e r h a r r e n i m i k o n o g r a f i s c h e n Trend,
ihre
zunehmende
Schwäche
im
Sinn
für
und
im
Begreifen
des
K ü n s t l e r i s c h e n , sind — w i e s c h o n bei d e r H e r m e n e u t i k - D i s k u s s i o n — k e i n e s wegs geeignet, d e m F a c h innerhalb der historisch-hermeneutischen 1
Wissen-
Abschnitt I wurde aus Zeitgründen auf der Reisensburg nicht vorgetragen. — Zum Begriff der Konkretion (Werk) und Konkretisation (Abbild des Werkes im Bewußtsein des Betrachters) vgl. Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerkes, Tübingen 1968, 49f. — H. R. Jauss, Geschichte der Kunst und Historie, in: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/Main 1970, 208—251 mit Bezug auf den Prager Strukturalismus, besonders Felix Vodicka (auch in: Geschichte — Ereignis und Erzählung, hg. von R. Koselleck, München 1973 (Poetik u. Hermeneutik 5), 175 f. Zur Nietzsche-Rezeption in der Literaturhistorik vgl. Gunter Martens (hier Anm. 7) und die zwei Bände von Bruno Hillebrand (Hg.), Nietzsche und die deutsche Literatur, München 1978; — ferner das Nietzsche-Kolloquium, das Walter Gebhard 1980 an der Universität Bayreuth veranstaltete. Aus der Kunstwissenschaft: Gösta Svenaeus, Edvard Münch - Im männlichen Gehirn, Lund 1973 und E.-G. Güse, Das Frühwerk Max Beckmanns, Frankfurt/Main/Bern 1977, — dazu meine Besprechung in: Zeitschrift f. Kunstgeschichte, 1978, Heft 3/4, 3 4 2 - 3 4 7 ; — T. Buddensieg, im Kat. d. Ausst. Peter Behrens, 1980 (siehe Anm. 47).
Nietzsche-Konkretionsformen in der bildenden Kunst
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Schäften eine mitführende Rolle zu garantieren. Das Nachhinken der Kunsthistorik im Falle der Nietzsche-Diskussion mag einerseits an der verhängnisvollen Nazifizierung Nietzsches im „3. Reich" liegen, die nach 1945 zu einer breiten Abstinenz gegenüber dem Entlarvungsphilosophen führte, andererseits an der teilweisen Ambivalenz seines aphoristischen Philosophierens selbst. Gibt es doch ein breites Spektrum der Beurteilung und Auslegung Nietzsches, vor allem des Spätwerkes. Die Einschätzung reicht noch heute von emanzipatorisch bis faschistoid. Die negative Einschätzung geht zurück auf Mehrings 1898 erschienenen Artikel, der aus dem Blickwinkel des marxschen Klassenkampfes den Philosophen wegen seiner un-sozialistischen Haltung und dem extremen Individualismus disqualifizierte als einen Denker des Spätkapitalismus, seine Werke als „ratloses Irrlichterieren": „Subjektiv ein verzweifeltes Dilirium des Geistes ist diese sogenannte Philosophie objektiv eine Verherrlichung des großen Kapitalismus . . . " Nietzsches System logisch zu begreifen, sei „keinem Gotte, geschweige denn einem Menschen gegeben," — Mehring versuchte ein Verstehen deshalb auch nicht und blieb bei bequemer Fehleinschätzung. 2 Hier folgte Georg Lukacs, der im Sinne von Mehring Nietzsche aufgrund unklarer politischer Haltung und dem Postulat der Maximierung des Individuums nun als „führenden Philosophen der reaktionären Bourgeoisie" bezeichnete. Lukacs unterstellt ihm Irrationalismus und damit eine Grundlegung des Nährbodens von Faschismus. 3 Diese Auslegung setzt sich gegenwärtig auf interessenbedingte Weise fort in Jost Hermands mit Richard Hamann verfaßtem Buch über die Gründerzeit, in dem ständig Zitate Nietzsches ohne ihren geistigen Zusammenhang ausgerechnet für die wilhelminische Ideologie, die Nietzsche keineswegs teilte, vielmehr in den Frühschriften kritisiert hatte, reklamiert werden. 4
2
Franz Mehring, Nietzsche, in: F. M. Werkauswahl III, hg. von Fr. J . Raddatz, Neuwied 1975, 1 1 8 - 1 3 2 .
3
G. Lukacs, Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus, Berlin 1946; — ders. Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied 1962; — auch teilweise in: Von Nietzsche zu Hitler oder der Irrationalismus in der deutschen Politik, Frankfurt/Main 1966, Kap. I — Nietzsche als „führender Philosoph der reaktionären Bourgeoisie", 31 f. Dagegen vgl. schon Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, Leipzig 1907, Max Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers „ N i e t z s c h e " , in: Zs. f. Sozialforschung, Bd. VI, 1937, 4 0 7 - 4 1 4 und Karl Löwith: Nietzsches Versuch der Wiedergewinnung der Welt, in: Löwith: Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik, Göttingen 1967, 1 5 6 f . , ferner Mazzino Montinari, Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs, in: Basis, 9, 1979, 194f.
4
R . Hamann/Jost Hermand, Gründerzeit (Epochen deutscher Kultur 1), Berlin-Ost 1965, München 2 1 9 7 1 . Dazu D . Schubert, Nietzsche und seine Einwirkungen in die bildende Kunst — ein Desiderat heutiger Kunstwissenschaft? in: Nietzsche-Studien 9, 1980, 374—382.
280
Dietrich Schubert
Nach den Darlegungen von Karl Löwith, Hans Barth, Albert Camus, Gilles Deleuze, Jürgen Habermas u. a. erweist sich Hermands Konstruktion als ein Rückfall, und zwar in Ideologie und politisches Interesse der D D R (die die Hamann'sche Reihe zur deutschen Kunst seit 1965 herausbrachte). — Selbst Nietzsches zentrale emanzipatorische Feststellung gegen die Herrschaft des Staates: „Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist", wird von den Autoren vereinnahmt. 5 Freilich liegt es an der Ambivalenz, ja Multivalenz von manchen Aphorismen Nietzsches, daß sich unterschiedliche Positionen bzw. perspektivische Standorte auf einen isolierten Denksplitter oder ein Fragment berufen könnten. Beachtet man jedoch die wesentlichen Grundlinien in Nietzsches individual- und sozialpsychologisch gerichtetem, diagnostizierendem Denken, so ist er nicht der wilhelminisch-imperialistische Ideologe, wie Lukäcs und Hermand möchten, sondern vielmehr ein Gegner solchen Ungeistes. Schließlich bezeichnete er schon 1873 den Sieg von 1871 über Frankreich als „Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des ,deutschen Reiches'",6 und von Wagner wendete er sich auch wegen dessen Antisemitismus ab. Der Germanist Gunter Martens schrieb 1971 zu Recht, daß Nietzsches Philosophie ein „vielschichtiges Gewebe" aus Kulturkritik, gesellschaftlichen Utopien, Zeitanalysen, Psychologie und lebensphilosophischen Axiomen darstellt. „Jede Reduzierung des Werks auf einen einzelnen Grundzug muß entsprechend eine starke Verzerrung seiner Aussage zur Folge haben." 7 Die der national-panegyrischen entgegenstehende positiv-kritische, ja emanzipatorische Nietzsche-Rezeption in der Kunstrevolution des Frühexpressionismus läßt sich primär bei Dichtern, aber auch bei Theoretikern belegen: Gustav Landauer hält schon um 1901 Vorträge über Tolstoj und Nietzsche, die Erich Mühsam hörte. 8 Georg Simmel hält 1906 in Berlin Vorträge über Schopenhauer und Nietzsche, die Kurt Hiller und Georg Heym besuchten. 9 Hugo Ball promoviert 1910 in München mit „Nietzsche in Basel". 1 0 Im gleichen Jahr verfaßte Heinrich Mann seinen für den politisch engagierten Flügel des Expressionismus bedeutsamen Essay „Geist und T a t " , 1911 erschienen im „ P A N " (hg. von Wilhelm Herzog). Ganz im Sinne der prophetischen Schrift „Zarathustra", insistiert Heinrich Mann auf der Identität 5 6 7 8
9
10
Za I, V o m neuen Götzen. — R. Hamann/J. Hermand, Gründerzeit, München 1971, 162. U B I, D S 1. Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, Stuttgart 1971. Erich Mühsam, Unpolitische Erinnerungen (1931), Berlin 1977, 37; - Gustav Landauer, Der werdende Mensch — Aufsätze, Potsdam 1921. Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, Leipzig 1907; — G . Martens, Nietzsches Wirkung im Expressionismus, in: Bruno Hillebrand op. cit. 1978, Bd 2, 55. H u g o Ball, Nietzsche in Basel - eine Streitschrift (1909/10), jetzt in: H u g o Ball - Almanach, hg. von der Stadt Pirmasens, bearbeitet von E. Teubner, Pirmasens, 1978, 2—52.
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von Geist und Leben. Das Stichwort hatte wohl der für Nietzsche wichtige Heinrich Heine gegeben, wenn er in der „Romantischen Schule" (1832— 1835) schrieb: „Die Tat ist das Kind des Wortes." Heinrich Mann nun mahnt 1911, daß nicht die Mentalität des Kapitals das Leben formen dürfe, vielmehr der Geist dasselbe formen müsse. Wie verwandt seine Wendungen denen Nietzsches sind, belegt ein kurzer Vergleich. Nietzsche: „Geist ist das Leben, das selber ins Leben schneidet: an der eigenen Qual mehrt sich das eigene Wissen" (Za II, Von den berühmten Weisen). Heinrich Mann: „Der Geist ist das Leben selbst, er bildet es, auf die Gefahr, es abzukürzen;" und: „Der Geist, die Revolte des Menschen gegen die Natur . . . Ein Volk war nötig, das sich ihm darbrachte . . . Sie haben es leicht gehabt, die Literaten Frankreichs, die, von Rousseau bis Zola, der bestehenden Macht entgegentraten: sie hatten ein Volk . . . " 1 1 Welche Rolle Heinrich Manns Essay für den sozialistisch-aktivistischen Flügel des Expressionismus um Ludwig Rubiner, Franz Pfemfert und Hiller spielte, ist bekannt. 12 Entscheidender Grundzug der Lehre Nietzsches ist die Idee des Lebens als dem höchsten Wert, die Idee der Lebenssteigerung; daraus folgt, daß alle Verminderung des Lebens zum Nihilismus führt. Folglich ist das Christentum wegen des Sündigsprechens des sinnlichen Lebens nihilistisch. Mit Nietzsches „Geburt der Tragödie" von 1872 datiert die Wiederentdeckung des Dionysischen Prinzips als Bejahung und Steigerung des Lebens mit allen Räuschen, Wandlungen, Schrecken, aller Vernichtung, Tod und Verwandlung. Darin lag nicht nur ein Problem für Alt-Philologen, sondern Nietzsche kommt zum Entwurf einer Gegenkultur zur Gründerzeit.13 Gegen die Ideen von 1789, — Liberté, Egalité, Fraternité — setzte die wilhelminische „Großmannssucht" (ein Ausdruck von Paul Cassirer und W. Bode) 14 die Ideen eines Untertanenstaates: „Wille zur Macht" als verzerrter 11
Heinrich Mann, Geist und Tat (1910), in: ders. - Essays, Hamburg 1960, 7 - 2 0 ; Michael Landmann, Geist und Leben - Varia Nietzscheana, Bonn 1951.
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Wolfgang Paulsen, Expressionismus und Aktivismus, Straßburg 1934, 42 ff. — D . Schubert, Expressionistische Bildnisse im Rahmen des Aktivismus, in: Katalog der Ausst. „Die zwanziger Jahre im Porträt", Bonn 1976, 23 —46 und: Bildniszeichnungen expressionistischer Dichter von Wilhelm Lehmbruck, in: Festschrift Wolfgang Braunfels, Tübingen 1977, 389f. Vgl. die Unzeitgemäßen Betrachtungen, 2./3. Stück, die Entwürfe zu „Wir Philologen", die Vorrede von 1886 zur „Fröhlichen Wissenschaft" und im „Ecce homo" die Passagen über „ D e r Fall Wagner"; — dazu K. Ulmer, Orientierung über Nietzsche, in: Zs. f. philos. Forschung X I I / 4 , 1958, 485ff. und G. Mattenklott, Nietzsches .Geburt der Tragödie' als Konzept einer bürgerlichen Kulturrevolution, In: Positionen der literarischen Intelligenz, Kronberg 1973. Paul Cassirer, Der Tempel des Bismarck, in: Pan, Bd. 6, Dezember 1911, 186 ff. und Wilhelm Bode, Die Großmannssucht in der deutschen Kunst, in: Kunst u. Künstler, Bd. 19, 1921, 140 f.
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ferner
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Nietzsche, Rang und Unbrüderlichkeit. Nietzsche ist keinem dieser beiden Pole zuzuschlagen, eben vor allem nicht dem wilhelminischen. Sein Wille zur Macht (in: J G B , bes. 2. Hauptstück; Za II, Von der Selbstüberwindung)15 meint den „unerschöpft zeugenden Lebenswillen". Nach Nietzsche sind alle Begierden, Bewegungen und Gedanken Symptome der subjektiven Triebstruktur, alles Tun mit Lust verknüpft, ein „Uberwinden, ein Herrwerden . . . und Vermehrung des Machtgefühls" — „die Grundbegierde ist der Wille zur Macht" (KGW VIII 1 [59]). Im Plan seines vermeintlichen Hauptwerkes, dessen Fehldeutung die dunkle Zeit des Hitlertums begleitet hat, steht: „Unser Intellekt, unser Wille, ebenso unsere Empfindungen sind abhängig von unseren Wertschätzungen: diese entsprechen unseren Trieben und deren Existenzbedingungen. Unsere Triebe sind reduzierbar auf den Willen zur Macht." (KGW VII 40 [61]) Es ist ersichtlich, daß Nietzsches Machtwille ein individual- und sozialpsychologischer, ja geistiger Begriff ist, nicht der Welt und dem Wollen der Realpolitiker angehört, und er ist nicht nationalistisch alldeutsch zu verstehen. Heinrich Mann schrieb 1919 in „Kaiserreich und Republik": „Drang einer durch? Dann war er mißverstanden . . . Das Schicksal Nietzsches . . . Der Gegenstand seines Machtwillens . . . war der Geist. Irdisch würde er, wie Flaubert, die Herrschaft einer Akademie verlangt haben, anstatt eines Klüngels von Waffenfabrikanten und Generalen. Moralfrei hieß für ihn wissend, nicht tierisch . . . " 1 6 Gegen die Identifizierung Nietzsches mit der alldeutschen Ideologie, die antisemitisch war, und dem Nationalismus und Kolonialismus unter Wilhelm II., also letztlich mit Keimen des Faschismus, für den Nietzsche durch seine Schwester, A. Baeumler und Peter Gast vereinnahmt wurde, sprach sich schon der Sozialist Franz Pfemfert aus im Jahr als der Weltkrieg in Gang kam. Pfemfert hat 1915 einen Protest angemeldet, der sich am Nationalismus der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, Werner Sombarts und Fritz Mauthners entzündete, die für die Kriegsziele in Nietzsche einen guten Preußen, einen deutschen Patrioten und Bismarckianer sehen zu können glaubten; er sollte für die „ersten Tage des August" 1914 ideologisch dienstbar gemacht werden. Ausgehend von Zitaten aus „Ecce homo" ruft Pfemfert: „Diese Deutsch-
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Hierfür besonders Karl Löwith 1956 und 1967 (s. A n m . 3, 24, 35) und Wolfgang MüllerLauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3, 1974, 1 - 6 1 . - Die folgenden Zitate aus „ U m w e r t u n g aller W e r t e " , hg. von Friedrich Würzbach, München 1969, 2 1 9 7 7 , 2 4 6 - 2 4 9 ( K G W VIII 1 [59] und VII 4 0 [61]); dazu auch Walter Bröcker, Das was kommt - gesehen von Nietzsche und Hölderlin, Pfullingen 1963, 5 - 2 8 .
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Heinrich Mann, Kaiserreich und Republik (1919), in: Essays, Hamburg 1960, 4 0 8 - 4 0 9 , ein für das Verständnis des frühen 20. Jahrhunderts unerläßlicher Essay!
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sprechung Nietzsches ist ein ungeheuerlicher Vorgang." (Die Aktion, Juni 1915) 1 7 . Die wichtigsten emanzipatorischen Ideen Nietzsches, die am Beginn des 20. Jahrhunderts gleich „Sprengstoff" (W. Muschg) 18 zu wirken begannen, sind: Seine Ablehnung von Bismarcks Machtpolitik und der dadurch bedingten Trennung der Völker und Kulturen Frankreichs und Deutschlands, seine Verachtung von Wilhelm II., in dem Nietzsche den personifizierten Ungeist sah, seine Absage an den teutonischen Wagner-Kult, seine im Vitalismus und der Idee der Erneuerung des Menschen wurzelnde Kritik von Pseudo-Kultur und Folgen der Gründerzeit, also ihres krassen Nihilismus und Materialismus. Dieser stellte er einen vitalistischen Daseinsbegriff gegenüber, die Idee der dionysischen Maximierung des Lebens — im Gegensatz zur christlichen Entwertung des Lebens und der Jenseits-Lehre, die er als lebensverachtend bekämpfte. Emanzipatorisch sind ferner Nietzsches Ablehnung des alldeutschen Antisemitismus und frankreichfeindlichen Nationalismus 19 , die sich um 1885 stärker reckten, sodann seine Vorstellung von der Einigung Europas und der Bildung einer Liga gegen die Hohenzollern, da sie ihm eine Gefahr für Europa bildeten. Dargelegt hat Nietzsche seinen Standort im „Ecce homo" 1888: „voll souveräner Verachtung gegen alles, was [. . .] ,Reich', ,Bildung', .Christentum', ,Bismarck', ,Erfolg' hieß - " (EH, die Unzeitgemäßen 1). Klar formuliert er sein „Mißtrauen gegen den deutschen Charakter". An die Reichsdeutschen: „Ich rede von ihrer Unzucht in historicis. Nicht nur, daß den deutschen Historikern der große Blick [. . .] für die Werte der Kultur 17
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Franz Pfemfert, Die Deutschsprechung Nietzsches — ein Protest, in: Die Aktion (Berlin) 5. Jg., 26. Juni 1915, 320f. (jetzt teilweise abgedruckt in: B. Hillebrand op. cit. 1978, Band 1, 177f.); — vgl. auch die einseitige Deutschung Nietzsches und Max Beckmanns als Kriegsbefürworter bei E.-G. Güse, Das Frühwerk Beckmanns, 1977 (s. o. Anm. 1). Walter Muschg, Von Trakl zu Brecht, München 1961, 32. Zum Antisemitismus nach 1871 vgl. die Aufsätze in den Preußischen Jahrbüchern 1879/80 von Heinrich von Treitschke, ferner die Broschüre: „Der zerstörende Einfluß der Juden im Deutschen Reich" und dagegen den Briefwechsel zwischen Berthold und Jacob Auerbach (Berthold Auerbach, Briefe an seinen Freund Jacob A., Frankfurt/M. 1884, Bd. 2) und dazu das typische, erschreckende Buch von J. Langbehn, Rembrandt als Erzieher - von einem Deutschen (1890), 1909, 45f.: Zolaismus sei „ausgesprochen antideutsch"! Langbehn hatte von November 1889 bis Februar 1890 die abenteuerlichen ,Heilungsversuche' an Nietzsche unternommen, die dieser mit einem Tobsuchtsanfall beantwortete (Erich Podach, Gestalten um Nietzsche, Weimar 1932, 178). - Zum Antisemitismus in Nietzsches Umgebung, vor allem der Schwester, und Nietzsches Abneigung dagegen, ja seinem antipodischen Selbstverständnis vgl. die Text-Revisionen in Briefen und zum „Ecce homo", die Mazzino Montinari veröffentlicht hat: Ein neuer Abschnitt in Nietzsches ,Ecce homo', Nietzsche-Studien 1, 1972, 380ff. und: Nietzsches Briefwechsel - Kritische Gesamtausgabe, in: Nietzsche-Studien 4, 1975, 392 zu Herrn Dr. Förster und 401 f.; - vgl. auch Karl Schlechta: Nietzsche-Chronik, München 1975, 111 und allgemein R. Hamann/J. Hermand, Stilkunst um 1900, Berlin-Ost 1967, München 1973 , 6 7 - 71.
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gänzlich abhanden gekommen ist, daß sie allesamt Hanswürste der Politik (oder der Kirche) sind [. . .]. ,Deutsch' ist ein Argument, ,Deutschland, Deutschland über alles' ein Prinzip, die Germanen sind die ,sittliche Weltordnung' in der Geschichte; [. . .] Es gibt eine reichsdeutsche Geschichtsschreibung, es gibt, fürchte ich, selbst eine antisemitische, — es gibt eine H o f - G e schichtsschreibung, und Herr von Treitschke schämt sich n i c h t . . . [ . . . ] Alle großen Kulturverbrechen von vier Jahrhunderten haben sie [die Deutschen] auf dem Gewissen!. . . [. . .] diese kulturwidrigste Krankheit und Unvernunft, die es gibt, den Nationalismus, diese névrose nationale, an der Europa krank ist, [. . .]: sie haben Europa selbst um seinen Sinn gebracht, um seine Vernunft - " (EH, Der Fall Wagner 2). Aufgrund dieser Idee der Einheit Europas und des Vorranges von Vernunft und echter Kultur kann Nietzsche nicht zum Befürworter eines imperialistischen Krieges wie dem von 1914 gemacht werden (wie es im Gefolge von Lukacs noch Güse jüngst tat 20 ). Vielmehr nimmt sein Standort die Bemühungen um Verständigung nach 1918 vorweg (Idee des Völkerbundes). Im Zusammenhang mit seiner Ablehnung des teutonischen Machtanspruches der Hohenzollern und der deutschen Bourgeoisie steht Nietzsches Wendung zur französischen Kultur und zu seinem persönlichen Herold Heinrich Heine, der ihm verwandt scheint, der ihm für die Kritik des historischen Christentums Stichworte geliefert, in der Diskussion um Antike und Moderne das Dionysische geschaut und die Idee des vereinten Europas vorweggenommen hatte. 21 Im Jahr des Streites um das von den alldeutschen Antisemiten verhinderte Heine-Denkmal in Düsseldorf 1888 bestellt Nietzsche wütend die Zeitschrift „Kunstwart" ab, weil der Herausgeber, Ferd. Avenarius, Heine auf beschämende Art fallen gelassen habe. In „Nietzsche contra Wagner" (Wohin Wagner gehört) schreibt er 1889 zum Heine-Denkmal-Streit: „Was wüßte deutsches Hornvieh mit den délicatesses einer solchen Natur anzufangen!" 22 Nietzsches Telegramme nach seinem Zusammenbruch im Januar 1889 an Overbeck, Meta von Salis und diverse Königshäuser konkretisieren seinen Standort: er warnt vor den Hohenzollern, will eine antideutsche Liga (Brief an Franz Overbeck 26/27. 12. 1888); an Overbeck: „Ich lasse eben alle Anti20 21
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E . - G . Güse, op. cit. 1977, 31 f. Zu Heine und Nietzsche vgl. Karl Quenzel, Heine und Nietzsche, in: Literarisches E c h o 19, 1916/17, 599 f. - Ludwig Marcuse, Heinrich Heine (1932), Rothenburg 1970, Bern 1 9 7 7 ; Eliza M. Butler, The tyranny of Greece over Germany (1935), deutsche Ausgabe von Erich Ratsch, Berlin 1948, 3 5 0 f . - Hanna Spencer, Heine und Nietzsche, in: Heine-Jb. 1972, 148ff. — Dolf Sternberger, Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde (1972) Frankfurt/M. 1976, 4 2 0 f. Vgl. die Briefe Nietzsches an Overbeck und Peter Gast vom 20. 7. 1888 und 30. 10. 1888; D . Schubert, Verhinderte und errichtete Heine-Denkmäler 1 8 8 7 - 1 9 5 5 (Vortrag im N o v . 1978, Bielefeld, Universität Z I F , und im N o v . 1979, Universität Göttingen).
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semiten erschießen . . . Dionysos"; — an Meta von Salis: „Ich habe eben Besitz ergriffen von meinem Reich, werfe den Papst ins Gefängnis und lasse Wilhelm, Bismarck und Stöcker erschießen. — Der Gekreuzigte." 2 3 Zentrale Feststellungen Nietzsches in philosophischer Hinsicht sind seine Analyse vom Tod Gottes im Zeitgenossen und der daraus entstehende Nihilismus. Damit zusammengesehen werden muß die sich dialektisch ergebende Wendung zu Selbstverantwortung und Selbstwerdung des Menschen. Die Kritik des Christentums als nihilistische Religion ist von der Nihilismus-Analyse und der Uberwindung des Nichts in der Bewegung zum höheren Menschen (Übermensch) nicht zu trennen. Gegen die Verächter und Verleumder des Leibes und des Lebens setzt Nietzsche als höchste Werte die sinnliche Welt, Leben und Menschenwürde wieder ein. 2 4 Der autonom gewordene Mensch, der kein transzendentes Ziel der Welt sucht, vielmehr das Ziel ins Leben legt, der Mensch, der im Bewußtsein des dionysischen Urschmerzes lebt, überwindet das Nichts des Nihilismus durch die Maximierung des Lebens: er wird der höhere Mensch, der Schaffende, der Revoltierende, der Schöpfer. In dem Sinne war Nietzsche das Künstler-Genie (z. B. Beethoven) immer eine Leitgestalt, ein Paradigma. Hier werden wir geführt auf die Gestalt des Prometheus und die Idee der Revolte: Prometheus ist zugleich Revoltierender und Schaffender, das „titanisch strebende Individuum", das freveln muß, darin aber seine Würde hat. 2 5 Schon dem frühen Nietzsche wird der Schaffende und besonders die K u n s t zum zentralen Paradigma; sie ist ihm Ausdruck des höheren Menschen — im Kontrast zum Menschen des Ressentiments und Untertanengeistes. Sie, die Kunst, hat immer schon das Leben, statt es zu verleumden, gepriesen. Schon 1872 ist sie für Nietzsche höchste Aufgabe und eigentliche metaphysische Tätigkeit des Lebens (Geburt der Tragödie). Zugleich wendet er sich mit dem Entwurf eines revolutionären Geschichtsbegriffs, 1874 „Vom N u t z e n und Nachteil der Historie für das Leben", ursprünglich „Die 23
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Erich Podach, Nietzsches Zusammenbruch, Heidelberg 1930; — Edgar Salin, Jacob Burckhardt und Nietzsche, 2. A. Heidelberg 1948; - ders., Vom deutschen Verhängnis, Gespräch an der Zeitenwende: Burckhardt — Nietzsche, Hamburg 1959. Albert Camus, Nietzsche und der Nihilismus, in: Camus, Der Mensch in der Revolte (1951) Reinbek 1969, 55f. - Hans Barth, Wahrheit und Ideologie, 2 1961, Frankfurt/M. 3 1974, Kap. V.; — Karl Löwith, Nietzsches Versuch der Wiedergewinnung der Welt, in: ders.: Gott, Mensch und Welt, Göttingen 1967, 156 ff. - Erich Heller, Uber die Bedeutung Friedrich Nietzsches, in: ders., Die Reise der Kunst ins Innere u. a. Essays, Frankfurt/M. 1966, 201-229; - Kurt Badt, Kunsttheoretische Versuche, Köln 1968, 85f. und 114f. - Jürgen Habermas, Nietzsches erkenntnistheoretische Schriften (1968), in: Kultur und Kritik, Frankfurt/M. 1973, 239-262; - Herbert Marcuse, Eros and Civilisation, Boston 1955, dt. Ausg.: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1971, 119-125. Fr. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Griechentum und Pessimismus), Leipzig 1872; — Albert Camus, Der Mensch in der Revolte (1951), 1969, 55f.
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historische Krankheit" genannt, 2 6 gegen die Unkultur des Historismus. Historie sei nur sinnvoll, wenn sie statt aus lebensfeindlichem Historismus aus dem Gegenwarts-Impuls der Lebensgestaltung käme: die drei Arten der Historik, die Nietzsche differenziert, die antiquarische, die monumentalische und die kritische, dienen zwar dem Leben, aber auf unterschiedlich starke Weise: erstere gehört dem Sammelnden und Bewahrenden, die zweite dem Feiernden und Strebenden (der nach Vorbildern sucht), aber die dritte als höchste gehört „dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen". So wurde Nietzsche nach Gervinus und Droysen der Begründer einer kritischen Standortnahme in der Methode der Historik. Uber Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen" wirkte seine „kritische Historie" bis in unsere Zeit hinein auf die Debatten über Theorie und Praxis in der , Kritischen Theorie* um Horkheimer und Habermas. 2 7 Mit Nietzsches Geschichtsbegriff verbunden ist sein Lebens-Geist- und Tatverständnis als Einheit prometheischer Art; hier konnten Heinrich Mann und der soziale Aktivismus um Hiller, Rubiner und Pfemfert anknüpfen. 2 8 Daß sich Nietzsche gegen alle Knechtschaft wandte, sein „Wille zur Macht" nicht menschenfeindliche Diktatur meint, ist im „Zarathustra" nachzulesen. Dort predigt er gegen Pessimismus und die Einstellung, es würde sich nichts lohnen, gegen Weltmüde und die Welt- und Lebens-Feinde, gegen die Prediger des Todes (Heine: „Religion des Schmerzes") und die „Stockmeister", — denn diese seien Predigten für Knechtschaft; alles GewaltHerrische soll von einem neuen Adel abgelöst werden (Za III, „ V o n alten und neuen Tafeln"). Für die Praxis der Wissenschaften stellt Nietzsche den Mangel an Ethik der Ekenntnis fest: er kritisiert den verhängnisvollen Glauben an Objektivität, die es aufgrund der Triebstruktur, der Interessen und der „Perspektivenlehre der Affekte" nicht geben kann. Wissenschaftliche Erkenntnis ist ihm immer Verhüllung von Willen zur Macht; es existiert keine Erkenntnis ohne diesen 26
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U B II, H L 2 und die diversen Stellen in seinem „Ecce homo"; — dazu H . - G . Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, ferner D. Schubert, Nietzsche-Studien 9, 1980, 381, Anm. 31. J. Habermas op. cit. (1968), 1973 (s. o. Anm. 24) und von Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: Merkur 213, 1965, 1139-1153 und als Buch 1968; - Hermeneutik und Ideologiekritik, hg. von K.-O. Apel/J. Habermas u. a., Frankfurt/M. 1971. - Dazu P. Pütz, Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie, in: Nietzsche-Studien 3, 1974, 175 — 191; — H. Pfotenhauer, Benjamin und Nietzsche, in: „Links hatte noch alles sich zu enträtseln . . . " — Walter Benjamin im Kontext, hg. von B. Lindner, Frankfurt/M. 1978, 100-126; N . W. Bolz, Nietzsches Spur in der Ästhetischen Theorie, in: Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos, hg. von B. Lindner/W. M. Lüdke, Frankfurt/M. 1980, 369f. Ferner Reinhart Koselleck, Geschichte — Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von O . Brunner/W. Conze/R. Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975, 715. Kurt Hiller, Geist werde Herr, Berlin 3 1920 (Tribüne der Kunst und Zeit, hg. von K. Edschmid, Bd. 16/17); - zu Ludwig Rubiner vgl. hier Anm. 12.
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Trieb. — Die moderne Wissenschaft sei in moralischem Nihilismus befangen, dagegen will Nietzsche, daß „der Mensch die sittliche Verantwortung auf sich nähme für die Art von Fragen, die er stellt." 29 Nietzsche: „Das Verlangen nach Wahrheit bedarf selbst der Kritik." So wie Wissenschaft jedoch bis heute betrieben wird als scheinobjektive Erkenntnis um jeden Preis (etwa in der Physik und Biogenetik), führe sie zu Katastrophen: „Es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat." 30 Das nihilistische Christentum hat das Leben entwertet und das eigentliche Leben in ein Jenseits' verlegt; die nihilistische Wissenschaft forscht um jeden Preis ohne Rücksicht auf das Leben. Solche Wissenschaft, also Wahrheitssuche um ihrer selbst willen, dieser Wert, der zu Katastrophen führe, müsse umgewertet werden, da solche Tätigkeit „zur Weltvernichtung" führe. Nietzsches kritische Prognose war nie aktueller als für uns Heutige, die in der Bedrohung der totalen Vernichtung von Leben und Welt durch nukleare Waffen leben. Auch der Sozialismus, der Nietzsche zu gleichmacherisch und antiindividualistisch ist, wird ihm nihilistisch, weil auch er einen Endzustand sucht. Er strebe die förmliche Vernichtung des Individuums an. Die Eigentumsverteilung sei zwar ungerecht, aber die ungerechte Gesinnung sei in den Seelen der Besitzenden wie der Nichtbesitzenden. „Nicht gewaltsame neue Verteilungen, sondern allmähliche Umschaffungen des Sinnes tun not, die Gerechtigkeit muß in allen größer werden, der gewalttätige Instinkt schwächer." 31 Die Lehre des Sozialismus oder die Idee des idealen Staates seien im übrigen nicht vereinbar mit der Idee des Genius. Hier erweist sich, daß Nietzsches Denken ganz auf den Élan vitale der stärkeren Einzelnen ausgerichtet ist. Im „Zarathustra" postuliert er den Vorrang des Einzelnen gegenüber Mehrheit und Gesellschaft, das Wachsen des Einzelnen und das Schaffen des Genies als entscheidende Vorgänge, Bewegungen. Der schaffendschöpferische Mensch, das Genie (wie Dante, Shakespeare, Goethe, Heine) ist ihm der höhere Mensch. „Ihr Schaffenden, ihr höheren Menschen!" „Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch, höher! [. . .] Erhebt auch eure Beine, 29
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Erich Heller, Die Bedeutung Friedrich Nietzsches, in: Reise der Kunst, op. cit. 1966, 218. — W. Müller-Lauter, Nietzsche — Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin 1971. Vgl. die Passage im „Ecce homo" (Warum ich ein Schicksal bin), - dazu K. Löwith, Nietzsches Philosophie, 1978, 114; — ferner den Briefentwurf Nietzsches an Brandes von Dezember 1888, wo Nietzsche das Jahr 1888 als „Jahr Eins" bezeichnet und geistige Kriege ankündigt: „wir werden Kriege haben, wie es keine gibt, aber nicht zwischen Nationen, nicht zwischen Ständen: Alles ist auseinander gesprengt [. . .]" (Mazzino Montinari, Nietzsches Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, in: Nietzsche-Studien, 4, 1975, 401). MA I, 452. — Zu Nietzsches Verhältnis zum Sozialismus und individualistischen Liberalismus und seinem Standpunkt „jenseits dieses Gegensatzes" vgl. Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, 1907, 207f.
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ihr guten Tänzer [. . .] besser plump tanzen als lahm gehen [. . .]" 3 2 Für diese Bewegung des Einzelnen im Schaffen und die zentrale Idee der vitalen und geistigen Maximierung des Lebens entwickelt Nietzsche die Chiffre „Übermensch". Im „Ecce homo" nennt er ihn „idealistischen Typus", halb Heiliger, halb Genie, ein Typus höchster Wohlgeratenheit, — er ist also nicht der blonde Arier-Herrenmensch der Nazis. Von den Expressionisten wurde diese Formel für den Anti-Untertanen nicht verfälscht und nazifiziert, sondern richtig verstanden im Sinne der (nach dem Tod Gottes aus dem Nichts folgenden) „Erweckung", Auferstehung und Erhebung, d. h. im Sinne der Idee der Erneuerung des Menschen — im Kontrast zum wilhelminischen Untertanen (den H. Mann 1916 so glänzend beschrieb), der zwischen 1871 und 1933 die Katastrophen mitherbeiführte. Erweckung, Erhebung Auferstehung und Erneuerung sind zu Schlüsselworten der expressionistischen Kunst-Revolution geworden, die ja „einen moralischen Willen" (Schickele) besaß. G. F. Hartlaub wollte 1919 im ,Ubermensch' Kunstwerk gewordenes Leben sehen, und A. Kerr definierte anläßlich der Enthüllung des Heine-Denkmals (von Hugo Lederer) in Hamburg 1926 Nietzsches Ubermenschen als Synthese aus Nazarener und Hellenen (die bei Heine Antipoden waren), aus Schönheits- und Gewissensmensch, aus Geistes- und Tatmensch33, — also keineswegs als arische Bestie oder antisemitischen Gewaltmenschen. Freilich bleibt Nietzsches Menschenbild und Vision des Lebens auf den Einzelnen zugespitzt, impliziert die Führungsrolle der Weisen, Philosophen, Genies und Propheten (Zarathustra und seine Jünger) und bleibt unsozialistisch. In den Paradoxien Nietzsches sah Heller eine Kristallisation der dialektischen Methode: „Die ewige Wiederkehr der Dinge ist Nietzsches mythische Formel für eine sinnlose Welt . . . Der Ubermensch aber bedeutet die Uberwindung des ewigen Nichts, die wunderbare Auferstehung des Werts und der Würde aus der Tiefe der totalen Verneinung. Alle Wunder Nietzsches sind Paradoxien, die Menschen aufzuscheuchen aus ihrem falschen Glauben, ehe es zu spät ist . . , " 3 4 32
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Za IV, V o m höheren Menschen 12 u. 19. - Dazu W . Taraba, Der schöpferische Einzelne und die Gesellschaft in Nietzsches Zarathustra, in: Literatur und Gesellschaft — Festgabe für Benno von Wiese, hg. von H . J . Schrimpf, Bonn 1963, 196ff. A . Kerr, Rede am Heine-Denkmal 1926, in: Heine in Deutschland — Dokumente seiner Rezeption 1 8 3 4 - 1 9 5 6 , hg. v. K . Th. Kleinknecht, München 1976, 139; - ferner Leo Berg, Der Ubermensch in der modernen Literatur, München 1 8 9 7 ; — R . Koselleck, Zur historischpolitischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Positionen der Negativität, hg. von H . Weinrich, München 1975 (Poetik u. Hermeneutik 6), 65—104 und auch schon Georg Simmel op. cit. 1907, 6. E . Heller op. cit. 1966, 2 2 2 ; - vgl. dagegen Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie (1962) ed. 1976, 2. Kap. 3 : Quantität und Qualität und Kap. 1, 7: Dionysos und Christus;
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Max Kruse: Nietzsche-Büste, M a r m o r 1899 (Standort u n b e k a n n t )
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Max Beckmann, Auferstehung (1908—09) Stuttgart Staatsgalerie
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H o e t g e r : Niedersachsenstein, A u s f ü h r u n g 1922 (alte A u f n a h m e )
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Eine Ubersicht über Nietzsches Erkenntnistheorie gab Jürgen Habermas in einem Nachwort von 1968 und im letzten Kapitel von , Erkenntnis und Interesse'. Neben Walter Nigg, Karl Löwith, Martin Heidegger, Gilles Deleuze, Erich Heller und W . Taraba konnten vor allem die Beiträge von Eliza M. Butler, Hans Barth, Dieter Jähnig, Eugen Biser, Kurt Badt, Peter Pütz, Karl Brose, Wolfgang Müller-Lauter u. a . 3 5 das Nietzsche-Bild anders zeichnen als es Lukâcs tat. — In der neueren Literaturwissenschaft ist Nietzsches Wirken durch Pütz, Martens, Silvio Vietta, H . G. Kemper und Hillebrand dargestellt worden. Den Lyrik-Anthologien werden zentrale Nietzsche-Texte vorangestellt. 36 - Während in der D D R , die 1969 eine interessante Sammlung expressionistischer Lyrik edierte, Nietzsche nach wie vor eine Leiche im Keller der „Erberezeption" bleibt.
II. Vor dem ersten Weltkrieg lag Nietzsche einfach „in der Luft" (Ernst Blass). Beinahe alle Künstler und Intellektuellen lasen seine Hauptwerke, besonders „Zarathustra", — und nicht nur in Deutschland: so Beckmann, Hugo Ball, Hesse, Benn, Blass, Heinrich und Thomas Mann, Kurt Hiller, Otto Dix, Franz Pfemfert, Eckart von Sydow, Robert Musil, Ernst Bloch, Bruno Taut, Adolf Loos, Käthe Kollwitz, Ludwig Rubiner, Franz Marc, Adorno u. a.
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Deleuze sieht gerade bei Nietzsche den radikalen Gegensatz zur Dialektik (p. 22): „ E s ist Zarathustra, der ausruft: .Höheres, als alle Versöhnung' — das Jasagen. Etwas viel höheres als aller entfaltete, aufgehobene, unterdrückte Widerspruch — die Umwertung der Werte . . . Der Gegensatz von Dionysos oder Zarathustra zu Christus stellt keinen dialektischen Gegensatz, vielmehr den Gegensatz zur Dialektik selbst dar: die différentielle Bejahung gegen die dialektische Verneinung, gegen jeden Nihilismus und jene besondere Form des Nihilismus" (das Christentum). M . Landmann op. cit. 1951; — W . Nigg, Religiöse Denker, Bern 1942; — Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935), Stuttgart 2 1956; — M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bde, Pfullingen 1961 (zu Heidegger die Kritik von Karl Löwith: Heidegger - Denker in dürftiger Zeit, Frankfurt/M. 1953, Kap. III und Löwith, 222—225 in: Nietzsches Philosophie, 3 1978); - Hans Barth, Wahrheit und Ideologie, (1961) Frankfurt/M. 3 1974; — J . Habermas, Zu Nietzsches Erkenntnistheorie — ein Nachwort, in: Kultur u. Kritik, Frankfurt/M. 1973, 2 3 9 - 2 6 2 ; - W. Müller-Lauter (s. o. Anm. 29); - E. Biser, Nietzsches Kritik des christlichen Gottesbegriffs und ihre theologischen Konsequenzen, in: Philos. Jb. d. Görres-Ges. 78, 1971, 35ff., 295ff. Dieter Jähnig, Welt-Geschichte: KunstGeschichte, Köln 1975 und die wertvolle Sammlung von Beiträgen: Jörg Salaquarda (Hg.), Nietzsche (Wege der Forschung 521), Darmstadt 1980. P. Pütz, Künstler und Künstlerexistenz bei Nietzsche und Thomas Mann, Bonn 1963; — ders., Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1967, 2 1975; - G . Martens (s. o. Anm. 7); H . G. Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus, Kronberg 1974; — S. Vietta/H. G. Kemper, Expressionismus, München 1975, 134 f. und Bruno Hillebrand (Hg.) op. cit. 1978 (s. o. Anm. 1).
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Benn schrieb im Oktober 1950: „Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat — alles das hat sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen," und Benn nennt ihn treffend den großen „Flammenwerfer". 3 7 Nicht allein mit der Frage, ob die Seele nicht nur ein Teil des Leibes sei („Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe", Zarathustra I, „Von den Verächtern des Leibes), sondern mit der Leib-Priorität allgemein und der Beziehung des Lebens- und Macht-Willens auf die Triebstruktur gab Nietzsche Sigmund Freud quasi die Stichworte. 38 Selbst Alfred Adlers zwischen 1910 und 1920 geformtes System einer sozialen Individualpsychologie, die von Freuds Trieblehre abweicht, ist in der Aufdeckung des psychologischen ,Machtwillens' und des Lebensplanes von Nietzsche inspiriert: das sozialistische Denken von Engels und die Entlarvungspsychologie Nietzsches gehen bei Adler eine gewisse Synthese ein. 3 9 Nietzsches revolutionärer Kunstbegriff zwischen den Polen , Apollinisch' und ,Dionysisch' — Kunst als Lebenssteigerung, als „organische Funktion: wir finden sie eingelegt in den engelhaftesten Instinkt des Lebens [Liebe]: wir finden sie als größtes Stimulans des Lebens," 4 0 Kunst als Konkretion des höchsten Begriffs vom Menschen und seines schöpferischen Vermögens — dies kann hier nicht dargelegt werden; es sei auf Nietzsches Aphorismus 24 „L'art pour l'art" in der „Götzendämmerung" (Streifzüge eines Unzeitgemäßen) verwiesen, auf die Fragmente zur ,Physiologie der Kunst' (KGW VIII 7 [7], 292-298) und auf die Studien von Dieter Jähnig. 4 1 Die Fragen jedoch nach Einflüssen Nietzsches auf Formen und Gehalte (Ideen) von Werken der bildenden Kunst müssen gestellt werden. Solches Fragen und die Versuche von Antworten bilden ein schwieriges Kapitel der Kunsthistorik, — wegen der Disparatheit der Nietzsche-Rezeption und weil 37
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Gottfried Benn, Nietzsche nach 50 Jahren, in: Das Lot, Heft 4, Oktober 1950, auch in: Benn - Gesammelte Werke, hg. von D. Wellershoff, Wiesbaden 1958, Bd. I, 1959, 482. Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1955), Frankfurt/M. 1971, 107f. B. Lauret, Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud, München 1977 (dank freundlichem Hinweis von Norbert Schiffers und Anton Uhl, Regensburg). Manes Sperber, Alfred Adler und das Elend der Psychologie, Frankfurt/M. 1971, 75f. - Josef Rattner, Alfred Adler, Reinbek 1972, 82; — Axel Krefting, Zur Philosophie der Psychoanalyse, Salzburg 1976, phil. Diss. bei Igor Caruso. Fr. Nietzsche, Umwertung aller Werte, hg. von Fr. Würzbach, 1969, München 2 1977, 2. Buch, 6. Kap.: Zur Physiologie der Kunst, 378ff. (Zitat p. 384), (KGW VIII 14 [120]). Stanislaw Przybyzewski, Zur Psychologie des Individuums I — Chopin und Nietzsche, Berlin 1890, 2 1906. Dieter Jähnig, Nietzsches Kunstbegriff, in: Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jh., hg. von H. Koopmann und J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, Bd. 2, Frankfurt/M. 1972, 2 9 - 68 und sein Buch von 1975 (s. o. Anm. 35). Ferner Kurt Badt, Kunsttheoretische Versuche, hg. von L. Dittmann, Köln 1968, 85ff. und 114 f.
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Vorarbeiten weitgehend fehlen, abgesehen von einzelnen Marginalien. Ausnahmen bzw. Ansätze zur Nietzsche-Diskussion in der Kunstgeschichte bilden die Beiträge von Gösta Svenaeus über Edvard Münch, Güses Arbeit zum frühen Beckmann und T. Buddensiegs Studien zu Peter Behrens. Allein schon Fragen zu stellen, heißt möglicherweise Ansätze zur Erhellung der Nietzsche-Rezeption in der Kunst zu geben. In dem Sinne sind meine Ausführungen als Versuche zu werten, und es können keine endgültigen Antworten erwartet werden. Die Darstellung der Person Nietzsches und seines Werkes, seines Kultes in Weimar ist Thema der Dissertation von Jürgen Krause. 4 2 Dabei geht es um den panegyrischen Nietzsche-Kult, wohl auch als Belege desselben um Porträts wie die Fotos und die Radierung von Hans Olde vom sterbenden Nietzsche und um andere Bildnisse wie die von Edvard Münch aus den Jahren 1905-1906. Zu thematisieren wären ferner Denkmalprojekte wie Henry van de Veldes Entwurf von 1910/11 für ein monumentales Nietzsche-Stadion bei Weimar, angeregt durch den wichtigen Mäzen Harry Graf Kessler, der es in einem Brief vom April 1911 an Hugo von Hofmannsthal erläutert: ein riesiges Stadion plus „eine Art Tempel" mit einer Nietzsche-Herme im Inneren, mit einer großen Jünglingsfigur von A. Maillol (Modell: der Tänzer Nijinsky) als Symbol des Apollinischen; Reliefs von Max Klinger im Inneren sollten das Prinzip des Dionysischen veranschaulichen. Es sollten ferner Tänze und Musik aufgeführt werden und Nietzsche-Feiern mit Platz für 250 Menschen in der Halle möglich sein. Wegen Kontroversen um Nietzsche und wegen des Kriegsausbruchs kam das ehrgeizige Projekt nicht zur Ausführung. 43 Ferner könnte eine Arbeit über Nietzsche-Darstellungen die Entwürfe zu Denkmälern von Max Kruse (Herme) und Fritz Schumacher behandeln, wobei zum Teil Aspekte von Nietzsches Ideen anschaulich würden: so bei Schumacher die Sonnen-Symbolik (Zarathustra). Außerdem kennen wir skulpturale Darstellungen Nietzsches wie die Büste von Kurt Stöving (1901/02), die 42
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Jürgen Krause, Freie Universität Berlin (bei Prof. T . Buddensieg), Titel: Der Weimarer Nietzsche. Grundlegend dazu Ferdinand Tönnies, Der Nietzsche-Cultus, Leipzig 1891. Das Projekt des Nietzsche-Denkmals bei Weimar von Harry Graf Kessler beschrieben (Brief vom 16. 4. 1911): H u g o von Hofmannsthal - Harry Graf Kessler, Briefwechsel 1 8 9 8 - 1 9 2 9 , Frankfurt/M. 1968, 3 2 3 f . ; vgl. ferner E . von Bodenhausen—Harry Graf Kessler — ein Briefwechsel 1 8 9 4 - 1 9 1 8 , hg. von H . - U . Simon, Marbach 1978, 91, 181; - K . E. Osthaus, Van de Velde, Hagen 1920, 136—139; — Henry van de Velde, Geschichte meines Lebens, München 1962, 349f. - R . Hamann/J. Hermand (Stilkunst um 1900, Bin 1965, München 2 1973, p. 357) meinten, das Nietzsche-Stadion verbände den „ G e d a n k e n der Heroenverehrung mit der Idee der körperlichen Ertüchtigung". — D . Schubert in: J b . d. Hamburger Kunstsammlungen 21, 1976, 228 Anm. 34. An dieser Stelle danke ich Frau D r . Anneliese Clauss vom Goethe-Schiller-Archiv in Weimar für kollegiale Hilfe hinsichtlich der Nietzsche-Ikonografie im April 1977.
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Statuette von Max Klein (1903), das Porträt von Max Klinger (1904, Marmor und Bronze-Ex.) und die verschollene Nietzsche-Büste vom jungen Dix (1912) als die interessanteste. 44 Von ihr meinte P. F. Schmidt 1923, daß sie Klinger belehren könne, „wie Zarathustras Ubermensch erzeugt wurde". 4 5 Jedoch Konkretionen von Nietzsches I d e e n in Malerei und Plastik oder in Grafik und Baukunst? Ich gebe im Folgenden einige Beispiele, die mir signifikant erscheinen, ohne Vollständigkeitsanspruch, Beispiele, die unter der gestellten Frage erörtert werden sollten. In den beiden Radierungen von Max Klinger „Zum Lichte" und „Der Philosoph" aus dem Zyklus „Vom Tode II" (1898-1909) scheinen früh Vorstellungen Nietzsches umgesetzt. Einmal schreitet der nackte Jüngling wie Zarathustra auf das Licht der Morgenröte zu, die Hände leidenschaftlich zum „ U n d doch" erhoben. Im anderen Bild steht er als Philosoph neben dem schlummernden Weib, weist suchend über ,Sich' und über ,Sie' hinaus — über Fluß, Wasserfall und Gebirge in den Himmel: dort aber, über den Bergen, streckt mit titanischem Gesichtsausdruck sein Spiegelbild sich ihm entgegen. Das ist die Zarathustrasche Vision des höheren Menschen, der deutlich heller als der Lebende über dem Gebirge im Lichtstreifen erscheint. Zwischen 1893 und 1897 entsteht Klingers Monumentalgemälde „Christus im O l y m p " (Museum Leipzig). Es zeigt das Eindringen der bekleideten Figuren von Christus und Magdalena in die Versammlung der nackten antiken Götter, also die Konfrontation der alten und der neuen Protagonisten. Diese Antinomie der hellenischen Götter (vor allem Apoll und Dionysos) und der Gestalt Christi ist ein Grundtenor von Nietzsches Denken seit 1872 bis zum späten „Ecce homo". Als weltgeschichtlicher Gegensatz war sie von Heinrich Heine 1835 in der „Romantischen Schule" und den „Englischen Fragmenten" thematisiert worden, indem Heine — mit SaintSimon — hellenische Religion der Freude, des Leibes, der Sinne und des Lebens der christlichen Lebens-Verachtung und -Verleumdung als Religion 44
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Arthur Seidl, Über Nietzsche-Bildnisse und Nietzsche-Bildwerke, in: Allgemeine Zeitung, München 1902, N o . 140, Beilage-Band April/Juni 1902, 535; - Zu Kurt Stöving vgl. p. 65 in: Dt. Kunst u. Dekoration XI, 1902/03; — Fr. Schumacher, Stufen des Lebens, Stuttgart 1935 (Abb. seines Entwurfes). — Gottfried Benn bezeichnet später Schumachers Entwurf als „schauerliche Marmorbombasterei im Fidus-Toteninsel-Stil" und ist dankbar, daß er nie zur Ausführung kam (vgl. G. Benn, Briefe an F. W. Oelze 1945-1949, Wiesbaden 1977, 94). Die Statuette des sitzenden Nietzsche von Max Klein (Gips 1902/03) in: Allgemeine Zeitung, Leipzig, 26. Nov. 1903 und in: Th. Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jh., Berlin 1911 (freundl. Hinweis meines Regensburger Kollegen Reiner Schmidt). — Stella W. Mathieu, Max Klinger, Frankfurt/M. 1976, 40, 78; - Zu Otto Dix vgl. Katalog der Dix-Ausstellung, Galerie der Stadt Stuttgart 1971 und D. Schubert, Otto Dix, Reinbek 1980, 13 f. Paul F. Schmidt, O t t o Dix, Köln 1923.
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„der Wollust des Schmerzes" gegenüberstellte. Klinger mildert die Polarität dahingehend ab, daß er auch Christus in hellenischem Gewand und Habitus malt, — eine Synthese aus beiden denkend?46 Die .Vorhalle des Deutschen Reiches', die Peter Behrens 1902 in Turin ausstellte, wurde unter Zitierung von Nietzsche durch Georg Fuchs als „Haus der Macht und der Schönheit" vorgestellt, indem er Zarathustras Satz: „Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt ins Sichtbare: Schönheit heiße ich solches Herabkommen" (Za II, Von den Erhabenen) direkt auf diese Vorhalle bezieht. Indem Fuchs jedoch nicht die geistig-psychologische Macht allein meint, sondern in einer affirmativen Wendung auf die Macht des „Kaisertums Wilhelms II." umschwenkt, diese als gereift, gerüstet und entschlossen bei der neuen Teilung des Erd-Balles bezeichnet, entfernt er sich grob verzerrend von Nietzsche, der in den Hohenzollern zu Recht die Gefahr für Europa sah und in Wilhelm II. den personifizierten Ungeist. Inwieweit nun Behrens in seiner Vorhalle für Hamburg tatsächlich Nietzsche-Ideen konkretisieren wollte und mit jener Interpretation von Fuchs selbst übereingestimmt hat oder nicht, muß einstweilen offen bleiben.47 Immerhin läßt sich hier schon um 1902 klar eine verfälschende Indienstnahme Nietzsches — die er ja selbst immer befürchtet und geahnt hatte — greifen. Gerade der säbelrasselnde junge Kaiser war ihm alles andere als Herold seiner Ideen und des Wunsches der Vereinigung der Völker und Kulturen Frankreichs und Deutschlands. - Für solch frühe Verzerrung Nietzsches durch deutschnationale und antisemitische Kreise — die Schwester und Peter Gast sind zu erinnern — steht auch der sog. „RembrandtDeutsche" Julius Langbehn, der im übrigen seit 1889 an Nietzsche jene obskuren ,Heilungsversuche' unternommen hat. 1890 forderte Langbehn sogar die Vormundschaft für zwei Jahre über den Philosophen, die er nicht bekam. 48 Entweder wußte er nichts von Nietzsches Neigung zur geschichtlichen Gestalt Napoleon und für die höhere Kultur Frankreichs und für Heinrich Heine, nichts von dessen später Abneigung gegen Bismarck und Wilhelm und den ganzen Antisemitismus — oder aber er wollte den Kranken ummodeln? 46
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Katalog der Ausstellung: Max Klinger 1857—1920, Museum der bildenden Künste Leipzig 1970, No. 50; - Eliza M. Butler, Deutsche im Banne Griechenlands, Berlin 1948, 300f. und D. Sternberger op. cit. 1976, 431. — Zu den grafischen Blättern vgl. J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, in: Max Klinger, die grafischen Zyklen, Villa Stuck München 1980, p. XII. G. Fuchs, Die Vorhalle zum Haus der Macht und der Schönheit, in: Deutsche Kunst u. Dekoration, Bd. 11, Oktober 1902/März 1903, 2 - 1 2 . Vgl. .ferner von G. Fuchs: Nietzsche und die bildende Kunst, in: Die Kunst für Alle, 11. Jg., 1895/96, 33f., 71 f. und 85f. Zur Beziehung zwischen Behrens und G. Fuchs und zu Behrens' Nietzsche-Rezeption, seine Bevorzugung der Motive Adler und Kristall in den Jahren 1898-1902 vgl. Tilmann Buddensieg, Das Wohnhaus als Kultbau — Zum Darmstädter Haus von Behrens, in: Peter-Behrens-Ausst. Katalog, Nürnberg 1980, 3 7 - 4 7 ; - H.-J. Kadatz, Peter Behrens, Leipzig 1977, 38. Erich F. Podach, Gestalten um Nietzsche (1932), 178f. (siehe auch Anm. 19).
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Im Sommer 1902 wurde Harry Graf Kessler als Direktor der herzoglichen Kunstsammlungen nach Weimar berufen, nachdem einige Monate zuvor der belgische Architekt Henry van de Velde dort als Leiter der Kunstgewerbeschule eingesetzt worden war. Beide sahen im Nietzsche-Archiv das geistige Zentrum ihrer neuen kulturellen und künstlerischen Initiativen. Das erklärte Ziel Kesslers und Van de Veldes, eine neue Kunst, einen neuen Stil zu verwirklichen, übernational und alle Lebensbereiche umfassend, auch alle Kunstgattungen, dürfte inspiriert sein von Nietzsches früher Kulturkritik an der Gründerzeit, ihrem extremen Historismus und ihrer Stillosigkeit (1. Unzeitgemäße, 1873): Die Formen aller Zeiten (historistisch aufgewärmt) verhindern einen eigenen Stil; das „chaotische Durcheinander aller Stile" im 19. Jahrhundert bringt „jene moderne Jahrmarkts-Buntheit" hervor, die einen echten Stil, somit eine wahre Kultur verhindert, also nur Bildungsphilisterei erzeugt. Gegen diese, von „historischer Krankheit" erfaßte Unkultur der Gründerzeit, setzte Nietzsche die Forderung nach einer neuen Kultur und nach einem neuen Stil: „Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes". Wahre Kultur ist für Nietzsche „jedenfalls Einheit des Stils" und keineswegs denkbar „ohne die zur Harmonie E i n e s Stiles zusammenlaufende Mannigfaltigkeit." Solche echte Kultur gäbe es zu seiner Zeit nicht, weil das „Ausschließen und Negieren aller künstlerisch produktiven Formen und Forderungen eines wahren Stils" dominierte. 49 Nietzsche trifft mit dieser Kritik den ideologischen Kern des Historismus in der Kunst: um die Machttraditionen, auf die sich die Hohenzollern-Kaiser beriefen, anschaulich wirksam zu machen, mußte in unproduktiven, also in historischen Formen gebaut werden (z. B. die Kaiserpfalz in Goslar mit den Reiter-Denkmälern). Nun hatten in Frankreich und Belgien der „Art Nouveau" und in Deutschland der folgende, schon wieder entlastete „Jugendstil" bereits versucht, alle Lebensbereiche zu umgreifen. Dabei ist der enorme Aufschwung der Kunstgewerbe-Schulen, ausgehend von England, in Europa und ihre fördernde Rolle bekannt. Der deutsche „Jungendstil" ist ohnehin teils von Nietzsche inspiriert; Ahlers-Hestermann sprach 1941 von einem „Zarathustra-Stil". 50 In Frankreich setzt die Nietzsche-Rezeption seit 1893/94 um die „Revue Blanche" ein, in Belgien etwa zur gleichen Zeit im Kreis der Zeitschrift „La Société Nouvelle", deren Mitarbeiter seit 1894 auch Henry van de Velde wurde. Damit ist der Bogen von dem franko-belgischen Art Nouveau nach 49 so
U B I, DS 1—3, — zugleich entwirft er die „Möglichkeit einer deutschen C u l t u r " . Fr. Ahlers-Hestermann, Stilwende, Berlin 1941, 87 und 120; — Dolf Sternberger, Uber den Jugendstil, Hamburg 1956, 42 f. - R. Schmutzler, Art Nouveau - Jugendstil (1962), Stuttgart 1977; - und D . Schubert in: Nietzsche-Studien 9, 1980, 3 7 8 f .
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Weimar offensichtlich. Später wird die Entwicklung der Kunst zu einem neuen Stil, den Van de Velde und Kessler in Weimar inaugurierten — das „neue Weimar" — zwischen 1902 und 1912 zu einer Bewegung, die das erreichen wollte, was Nietzsche gefordert hatte, als er die Gründerzeit-Kultur und Kaiser-Ideologie verwarf. Dabei muß betont werden, daß Van de Velde für seine gattungsübergreifende Kunst das Etikett Jugendstil' logischerweise ablehnte. 51 Bekanntlich legte sein im Oktober 1902 gegründetes „Kunstgewerbliches Seminar" in Weimar geistig und handwerklich die Grundlagen für das ab 1919 folgende, bedeutende „Bauhaus" der expressionistischen Kultur. Im Jahre 1905 modelliert Wilhelm Lehmbruck das Relief „Weg zur Schönheit", ganz im neuklassizistischen Stil von Hildebrand. Es zeigt einen Jüngling, der von einem Genius den Weg zur Schönheit des hellenischen Tempels, zum Licht der aufgehenden Sonne (Morgenröte) und somit zur idealen Freiheit gewiesen bekommt. Eine gleichzeitige Zeichnung Lehmbrucks verbindet diese Gruppe, eine aufgehende Sonne und eine sich emporreckende weibliche Figur, die der Freiheitsstatue (von F. Bartholdi) entlehnt scheint. 52 Unterschriften Lehmbrucks erläutern: „Freiheit — der Prophet — zur Pforte der Morgenhelle (röte) . . . Genius und Mensch oder mit Greis (den Lebensweg) oder ,Aller Menschheit Ziel' nennen". Prophetie der Freiheit und zielhafte Licht-Symbolik der Nietzscheschen Morgenröte verbinden sich in der Komposition der weiblichen Freiheitsallegorie und dem Paar Genius/ Mensch, die nichts anderes sind als Zarathustra und der Jüngling. Im Jahre 1908 malt Max Beckmann die erste „Auferstehung", und Edvard Münch beginnt in Oslo seine großen Wandbilder für die Universität. Die bei Lehmbruck auch anzutreffende Vorstellung des Lebensweges verdichtet sich zu dieser Zeit in Münchs Schaffen zur Vorstellung des „Menschenberges", einer Pyramide von Menschenmassen, die zum L i c h t e streben. Die Spitze der Pyramide bildet der die Menschen leitende „höhere Mensch", der sich emporreckt: in Zeichnungen und ölskizzen hat Münch dies zwischen 1909 und 1912 konkretisiert. Zugleich wird die kolossalische Darstellung der S o n n e , die ja völlig unabhängig von Nietzsche um 1888 bei Vincent van Gogh die Lebenskraft symbolisierte, in Münchs Wandbildern ein wahres Nietzsche-Bild und 51
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H . van de Velde, Die Renaissance im Kunstgewerbe, Berlin 1895 und Kunstgewerbliche Laienpredigten, Leipzig 1902; - ders.: Zum neuen Stil, München 1955; - dazu W. H o f m a n n , Von der Nachahmung zur Erfindung der Wirklichkeit, Köln 1970, 4 8 f f . : Die negative Schönheit. Kat. N o . 16 und N o . 81 in: Wilhelm Lehmbruck - Frühwerke, Kat. d. Ausstellung Lehmbruck-Museum Duisburg, Bd. III, Recklinghausen 1969; - dazu D . Schubert in: Kunstchronik 23, 1970, 1 4 7 - 1 5 1 und die 1980 als M s . abgeschlossene Arbeit: Die Kunst Lehmbrucks (Wernersche Verlagsgesellschaft Worms/Stuttgart 1981).
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Nietzsche-Symbol: die riesige aufgehende Sonne verheißt die Morgenröte der Götzendämmerung für die nach Erlösung von der christlichen Moral durstende Menschheit. Dieser Teil eines Fragens nach Nietzsche-Einflüssen auf die bildende Kunst ist von G. Svenaeus eingehend dargestellt worden. Münch hatte im übrigen 1905/06 auf Einladung der Schwester Nietzsches und Graf Kesslers in Weimar und Umgebung geweilt, Fotos von Nietzsche erhalten und — wie erwähnt — zwei Bildnisse in ö l gemalt (heute Oslo und Stockholm). 53 Max Beckmanns 1908 gemalte „Auferstehung", 1909 signiert und datiert (Staatsgalerie Stuttgart) fällt dadurch gänzlich aus der Tradition des Themas heraus, daß sie die Auferstehenden nicht mehr — wie Michelangelo oder Rubens — in Selige und Verdammte teilt. Sie zeigt vielmehr das Aufsteigen aller Menschen als Nackte und Gleiche gleichwertig zu einer den oberen Bildteil beherrschenden Licht- und Himmelszone. Am Boden verharren verschiedene nackte Anonyme und identifizierbare Zeitgenossen: darunter Beckmann selbst, seine Frau, seine Schwiegermutter Frau Tube, die Gräfin Hagen, Franz Kempner. Diese zögern, sinnen oder reflektieren über das Geschehen zu ihren Köpfen, die Auferstehung zum Licht, oder über die der Erde in Dumpfheit oder bloßer leiblicher Schwere noch Verhafteten. Die Uberwindung aber der irdischen Gebundenheit und die Bewegung aller als Gleiche zum Lichte als dem höheren geistigen Prinzip, als Wahrheit und Ziel des Seins, ist der Versuch Beckmanns, Nietzsches Ideen und Metaphorik aus „Zarathustra" in Malerei umzusetzen. 54 Beckmann las — wie wir aus den Tagebüchern wissen — seit um 1903/04 sowohl Heine als auch Nietzsche. Den „Zarathustra" und die Apokalypse des Johannes las er während der Kriegsjahre. Die Inspiration liegt also auf der Hand: die Auferstehung der Menschen ist nicht mehr die im Rahmen des christlichen Nihilismus, also der christlichen Verleumdung des Lebens und des Leibes, nicht mehr die der christlichen Moral von Sünde, Gericht und Verdammung, sondern ein gegenwärtiges Ge53
Zu Münchs Bildnissen Nietzsches von 1 9 0 5 / 0 6 vgl. Katalog der Ausst. „Malerei nach Fotografie" (von J . A . Schmoll gen. Eisenwerth), Stadtmuseum München 1970. Zu Münch und Nietzsche: G . Svenaeus, Edvard Münch — Das Universum der Melancholie, Lund 1968; - ders. Münch — Im männlichen Gehirn, Lund 1973, 241 f. - ders., Der heilige Weg — Nietzsche-Fermente in der Kunst Edvard Münchs, in: Edvard Münch — Probleme, Forschungen, Thesen, hg. von H . B o c k / G . Busch, München 1973, 2 5 - 4 6 ; W . Hofmann, Von der Nachahmung . . ., 1970, 3 8 ; — P. Krieger, Edvard Münch — Der Lebensfries für Max Reinhardts Kammerspiele, Berlin 1978, 68—72. Zur älteren Tradition von Sonne und Lichtsymbolik vgl. Hans Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit, in: Studium Generale, X , 1957, 4 3 2 - 4 4 7 .
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Diesen Deutungsansatz konnte ich vor Erscheinen von E r n s t - G . Güses Beckmann-Arbeit mündlich mit ihm erörtern (Jan. 1977); dafür sei ihm auch an dieser Stelle gedankt; — E . - G . Güse op. cit. 1977 und meine Besprechung desselben (s. o. Anm. 1). — Zu Beckmanns Nietzsche-Lektüre 1903/04 vgl. die Tagebücher in: P. Beckmann/Peter Selz ( H g . ) , Beckmann — Sichtbares und Unsichtbares, Stuttgart 1965, 58.
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schehen, das die Menschen als Gleiche leiblich zum Lichte führt. O b dabei auch Gustav Landauers Sozialismus-Ideen mit hineinspielen, muß offenbleiben; aber Beckmann diskutierte um 1908/09 des öfteren mit Landauer in Berlin-Hermsdorf, wo sie benachbart wohnten. Auch Beckmanns 1911 entstandene Grafik-Folge zum Leben Christi ist unter einem Einfluß von Nietzsche zu sehen, wie Güse gezeigt hat: Christus wird als der Protagonist des „freien Geistes" und als Anarchist verstanden, der einsam in der Natur meditiert und der auszieht um zu predigen wie Zarathustra. Wie Nietzsche rückt auch Beckmann die Taten Christi als Botschaft in den Vordergrund (der einzige wahre Christ, den es je gab, war Jesus, und der starb am Kreuz!) und nicht die kirchliche Glaubensfrage. 55 Und auch Beckmanns später lithographierte Folge „Die Hölle" von 1919, in der es verschiedene Großstadtszenen gibt, scheint mir von Nietzsches Lektüre geprägt: dieser nennt im „Zarathustra" wiederholt die Stadt, die er als Brutstätte des Billigen, Gemeinen und Korrupten verwirft, eine H ö l l e . Einige Jahre früher als Beckmanns „Auferstehung", aber wohl ohne gegenseitige Kenntnis (?), modellierte Gustav Vigeland das Relief „Auferstehung", das eine in der Breite aufsteigende Menschenmasse ebenfalls ohne christliche Trennung in Gute und Böse darstellt. 56 Wilhelm Lehmbrucks Radierung ,Auferstehung II' von 1913 scheint mir im Bedeutungshorizont offen bzw. ambivalent zu sein, auch wenn sie in der direkten oder in der indirekten Kenntnis von Nietzsche entstand: melancholisch angstvoll sich umarmende und sich beugende Mädchen und Jünglinge, zum Wissen ihrer selbst gelangend, — Prototypen des nicht verbogenen Menschen, wie ihn Nietzsche gedanklich entwarf. 57 Im übrigen muß erwogen werden, ob bei verschiedenen AuferstehungsDarstellungen jener Zeit nicht Leo Tolstojs Roman von 1899 (deutsch 1899, 1900) wirksam wurde, der die Auferstehung nicht metaphysisch, sondern als eine irdisch-moralische Wandlung des Einzelnen in seinem Handeln gegenüber dem Mitmenschen auffaßt. Zwischen 1909 und 1911 formiert sich in Mailand die Gruppe der italienischen Futuristen um Marinetti, Boccioni und Ballä. In ihren Manifesten stellen sie das dynamisch-zerstörerische Leben und das Chaos über die Normen und die Werke der Kunst. Der futuristische Held — ein Bruder oder
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Zum „Christusimpuls" im Expressionismus und zum Verständnis von Jesus als „Prophet des Unterwegs" s. Ernst Bloch, Geist der Utopie, (1918, 1923), Frankfurt/M. 1964, 1977; - zu Beckmann vgl. Güse op. cit. 1977, 51—54. Ragna Stang, Gustav Vigeland, Oslo 1965; — J . A. Schmoll gen. Eisenwerth, Münch und Rodin, in: Münch - Probleme, hg. Bock/Busch, 1973, 127. Carl Einstein (Einf.), Wilhelm Lehmbrucks graphisches Werk, Cassirer Berlin 1913; — E. Petermann, Die Druckgraphik von W. Lehmbruck, Stuttgart 1964, No. 72.
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Jünger Zarathustras? — ein Stiefbruder? Marinetti schrieb zwar 1911 „Was uns von Nietzsche trennt" und stellt dort fest, „trotz seines Strebens in die Zukunft bleibt Nietzsche doch einer der hartnäckigsten Verteidiger de.r Größe und Schönheit der Antike . . . Sein Ubermensch ist ein Erzeugnis hellenischer Phantasie . . . Wir stellen diesem griechischen Ubermenschen, der im Staub der Bibliotheken geboren wurde, den durch eigene Kraft vervielfältigten Menschen entgegen, einen Feind der Bücher, einen Freund der persönlichen Erfahrung". 58 Abgesehen davon, daß Nietzsches ,Ubermensch' die Enge der Bibliotheken verläßt, Zarathustra einsam meditiert und den Menschen von seinen Visionen predigt, Nietzsches Wille zur Macht dem Leben, der Lebensbejahung dient, die Steigerung desselben höchstes Ziel ist, betonte Christa Baumgart zu Recht, daß Marinettis „Mafarka" und Nietzsches Symbolfigur ,Ubermensch' grundsätzlich verwandt sind. Während aber der futuristische ,Held' von den Bergen herabsteigt in die „lebenssprühenden Städte" 59 und deren Chaos bejaht, sich darin tummelt, kommt Zarathustra mit einer völlig anderen Wertung (3. Teil, „Vom Vorübergehen") durch viel Volk und vielerlei Städte, „an das Stadttor der großen Stadt". Sie ist ihm im Unterschied zu den Futuristen vielmehr Lebensvernichterin, Hölle, Schlachthaus und Garküche des Geistes und aller großen Gefühle; deshalb gebühre ihr nur der zerstörende Untergang. In diesem Lichte können die apokalyptischen Stadt-Visionen von Ludwig Meidner (um 1913) gesehen werden; — wie jetzt auch Ernst-G. Güse für Meidners „Apokalyptische Stadt" im Landesmuseum Münster (Heft Juni 1980 Das Kunstwerk des Monats) darlegte. Im übrigen scheint Marinetti Nietzsche simplifiziert bzw. mißverstanden zu haben: Denn Nietzsches Idee des höheren Menschen ist ja gerade der durch eigene Kraft, ohne Gottes Autorität, vervielfältigte Mensch, der dionysisch Leben und Wandel bejaht (ewige Wiederkehr), und der Prototyp und Schaffender wird und zum Schöpfer neuer Welten, eines neuen Mittag ohne Götter — wie Prometheus („der große Menschenfreund"). Lange habe ich mich gefragt, wie Lehmbruck auf den Titel „Emporsteigender Jüngling" für seine expressionistische Plastik kam, die er 1913/14 in Paris modellierte, 1916 in der Freien Sezession in Berlin zeigte. Man hat gegen diese Figur — da sie nach unten schaut — eingewendet, sie würde das gemeinte Emporsteigen nicht anschaulich machen. Nun ist selbstverständlich ein geistiges Emporsteigen und keine physische Aktion gemeint. Der Schlüssel zum vollen Verständnis des wichtigen Werkes scheint mir in Zarathustras Dialog mit dem Jüngling am Baume zu liegen, im Kapitel „Vom Baum am Berge" (1. Teil). Dort sagt dem suchenden, zweifelnden Jüngling Zarathustra 58
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F. T . Marinetti, Le Futurisme, Paris 1911, 93 f. — Marianne W . Martin, Futurist A r t and Theory 1 9 0 9 - 1 9 1 5 , O x f o r d 1968, 4 0 - 4 1 . Christa Baumgart, Geschichte des Futurismus, Reinbek 1966, 127f.
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u. a.: „Noch bist du nicht frei, du suchst noch nach Freiheit. Übernächtig machte dich dein Suchen und überwach. In die freie Höhe willst du, nach Sternen dürstet deine Seele. Aber auch deine schlimmen Triebe dürsten nach Freiheit. [. . .] wenn dein Geist alle Gefängnisse zu lösen trachtet. Noch bist du mir ein Gefangener, der sich Freiheit ersinnt: ach, klug wird solchen Gefangenen die Seele, aber auch arglistig und schlecht. Reinigen muß sich noch der Befreite des Geistes. [. . .] Ja, ich kenne deine Gefahr. [. . .] wirf deine Liebe und Hoffnung nicht weg!" Der Jüngling hatte zu Zarathustra gesagt: „Ich traue mir selber nicht mehr, seitdem ich in die Höhe will, und niemand traut mir mehr [. . .]. Ich verwandele mich zu schnell: mein Heute widerlegt mein Gestern. [. . .] Was will ich doch in der Höhe?" — „Nach meinem Untergange verlangte ich, als ich in die Höhe wollte [. . .]" (KGW VI 1, 48f.).' Die Antinomie von geistigem Steigen und Bellen der Lust der Triebe „in ihrem Keller" — dazwischen die komplexe Ambivalenz der Seele —, die Antinomie von Leib und Geist, von Irratio und Ratio, die eine Grundproblematik des gesamten Expressionismus ist, hat Nietzsche 1883 in seinem Dialog gestaltet. Er vergleicht Baum und Mensch: „Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts, ins Dunkle, Tiefe, — ins Böse." Mit diesen Sätzen charakterisiert Zarathustra das Streben des Jünglings, der in die Höhe will. Und dies ist in der bronzenen Figur Lehmbrucks meisterhaft anschaulich gemacht, nämlich das Emporwollen einerseits und das Verhaftetsein andererseits, die Gestik qua Hinauf und der Blick in die Tiefe. 6 0 Auch eine Vorzeichnung Lehmbrucks verdeutlicht das. 60
Vgl. dazu aus jener Zeit G. F. Hartlaub, Kunst und Religion, Leipzig 1919, bes. 14f., wo die Synthese aus Geist und Leib im Hinblick auf die Mystik der Romantik und die Leibpriorität Nietzsches entworfen ist. — Angesichts solcher weiterführenden Fragen bleibt das motivische Ableiten-Wollen des ,Emporsteigenden' Lehmbrucks von vermeintlichen Vorbildern, von Hans von Marées durch Willi Lehmbruck (in: Munuscula Discipulorum — Festschrift für Hans Kauffmann, 1968), von einer Daumier-Figur durch D. de Chapeaurouge (Konstanz und Wandel in der Bedeutung entlehnter Motive, 1974) nicht nur subaltern sondern irrelevant, da es methodisch verfehlt ist. Peter Szondi nannte solches Ableiten die „Parallelstellen-Methode", die die Einheit des Werkes nach Sinn und Formung zerstört. Dies gilt ebenfalls für die oberflächlichen Motiv-Vergleiche von S. Salzmann, in: Brancusi — Kat. d. Ausst. Duisburg 1976, 122f. Setzt man dagegen methodisch die Einheit von Form und Sinn an jedem wesentlichen Kunstwerk voraus und sein Hinausgehen über die Tradition, muß man das Neue an Lehmbrucks Figur, ihren Abstand zu möglichen Anregungen geradezu betonen. Erst so gewänne das jeweilige Werk individuellen Wert innerhalb der historischen Progression. Im Falle von Lehmbrucks ,Emporsteigenden': Die Einheit von Komposition der Figur (Formgebung) und ihrem komplexen Leib-Geist-Sinngefüge (Stoff, Idee) würde — wenn überhaupt — zu ganz anderen ,Vorbildern' führen, nämlich zu Barlachs Zeichnung „Prophet", ferner zu literarischen Prototypen des Expressionismus und würde die Kontradiktion zur Tradition erweisen. Vgl. D. Schubert in: Zs. f. Kunstgeschichte, 1978, 346 und: Anmerkungen zur Kunst Lehmbrucks, in: Pantheon, H. 1, 1981, 5 5 - 6 9 .
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Um 1916/17 hatte Lehmbruck im übrigen in Berlin und Zürich Kontakte zu den Pazifisten und sozialistischen Expressionisten um Ludwig Rubiner und Franz Pfemfert, die partiell auf Tolstoj und auf Nietzsches Ziel-Philosophie fußten und sich um eine nicht-nationalistische Nietzsche-Auslegung bemühten. Lehmbruck arbeitet 1917 bei der Zeitschrift „Die Aktion" mit: er porträtiert den Sozialisten und Aktivisten der Menschen- und Gesellschaftsveränderung Rubiner und plante — wie aus diversen Zeichnungen zu schließen ist — eine Porträtbüste desselben zu modellieren, vergleichbar denen von Th. Däubler und Fritz von Unruh. Ferner kannte Lehmbruck seit 1912/13 Carl Einstein, der dem Aktionskreis um Pfemfert angehörte.61 Damit ist Lehmbrucks Nähe zur nichtnationalen, also emanzipatorischen Nietzsche-Rezeption im Expressionismus belegt. Ein unspezifischer Einfluß Nietzsches auf die Plastiker am Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt sich in der Bevorzugung des Themas: Jüngling und mädchenhafte Frau. Beispiele finden sich im Schaffen von George Minne, Karl Albiker, Hermann Haller, Georg Kolbe und Lehmbruck. Dementsprechend stellte W. Hofmann 1958 fest, daß darin das nietzschesche Ideal „des unverbogenen Menschen" nachwirke.62 In diesem Lichte muß man wohl auch das im Dezember 1913 in Frankfurt (Friedberger Anlagen) enthüllte Heinrich-Heine-Denkmal von Kolbe sehen, das ein tanzendes Liebespaar aufsockelt. Das allegorische Denkmal versucht, etwas vom Kern der Dichtungen Heines wie den „Florentinischen Nächten" anschaulich wirksam zu machen, und zwar die Emanzipation der Sinnlichkeit und Erotik und die Abschaffung der (christlichen) Sünde (Sternberger).63 Eine zentrale Passage zur Licht- und Himmels-Symbolik finden wir im 3. Teil von „Zarathustra" im Abschnitt „Vor Sonnenaufgang", wo der Prophet ausruft: „Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! [. . .] In deine Höhe mich zu werfen — das ist meine Tiefe! In deine Reinheit mich zu bergen — das ist meine Unschuld! [. . .] Und stieg ich Berge, wen suchte ich je, wenn nicht dich [. . .]? [. . .] fliegen allein will mein ganzer Wille, in dich hinein fliegen!" 61
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Zu Lehmbrucks Dichter-Porträts vgl. meinen Beitrag in: Festschrift Wolfgang Braunfels, Tübingen 1977, 389—404. — Carl Einstein, Gesammelte Werke, hg. von Ernst Nef, Wiesbaden 1962. - A . Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit: Im Banne des Expressionismus, 6. A . Leipzig 1925, 362 f. Wilhelm Lehmbrucks graphisches Werk, mit einer Einf. von Carl Einstein, Berlin 1913. Später schrieb Einstein über Lehmbruck in seinem Band zur Kunst des 2 0 . J h . in der Propyläen-Reihe (Berlin 1926). Werner Hofmann, Die Plastik des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1958, 6 1 - 6 2 . Dazu Dolf Sternberger, Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde, Hamburg 1972, Frankfurt/M. 2 1 9 7 6 . Der Unterzeichnete bereitet eine Studie über die Geschichte der Denkmäler für Heinrich Heine zwischen 1887 und heute vor (als Vortrag: s . o . A n m . 22).
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Zwei Beispiele bildender Kunst, die diese Stelle mehr oder minder nahe bildlich umsetzen: Für das auf 1914 geplante Norwegische National-Denkmal entwirft Münch eine Skizze, die einen sich zum Lichte streckenden nackten Menschen — Zarathustra als der Visionär — zeigt. 64 Seit um 1912/13, also zur gleichen Zeit, arbeitet Fidus an der Komposition „Lichtgebet", ein vom Felsen sich steil zum Himmelsabgrund reckender nackter Jüngling65, zuerst als Aquarell, dann als Postkarte für die Jahrhundertfeier der Völkerschlacht (von Leipzig 1813) auf dem Hohen Meissner im Oktober 1913. Im Unterschied zu Münchs nicht-rassistischer Rezeption ist hier, wie schon bei der Vorhalle von Behrens, ebenfalls ein Umbiegen von Ideen Nietzsches ins banal Völkisch-Nationale zu beobachten: Die Festschrift zum Meissner-Treffen in Jena bringt von Fidus die Grafik „Hohe Wacht", eine Schwertwache teutonischer Art und Stils wie sie der mit Fidus befreundete Franz Metzner skulptural als Bekrönung des drohenden Völkerschlacht-Denkmals schuf. Dazu käme ein Text von Fidus selbst an die Jugend; dort ist vom „Geist deutscher Treue", von deutscher Tüchtigkeit die Rede und immer wieder vom deutschen Wesen. Nietzsche hatte aber gerade im „Deutschland, Deutschland über alles" das Ende des deutschen Geistes und der deutschen Kultur erblickt (Götzendämmerung, Was den Deutschen abgeht 1). Dessen ungeachtet gingen in der nationalistischen Nietzsche-Rezeption mißverstandener Macht-Wille, völkischer Antisemitismus und FrankreichFeindschaft (vgl. Langbehns „Zolaismus") Hand in Hand und bereiteten so das imperialistische Völkermorden des 1. Weltkrieges ideologisch vor. Dabei hatten die Jahrhundertfeiern 1913 eine klare Funktion. 66 Bilder wie die „Schwertwache" (1913) münden direkt ein in die teutonische Kriegsgrafik, die Fidus zwischen 1915 und 1918 schuf, und passen zu den über 300 Entwürfen vieler deutscher Architekten und Bildhauer für das 1910/11 projektierte Bismarck-National-Denkmal bei Bingerbrück, gegenüber der „Germania" vonj. Schilling: „Einssein", „Germanias Blut" (1917), „Unser Gewaltfriede" (1918). 67 Der gegen Frankreich und England kolonialistisch gerichtete teu64
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J . A. Schmoll gen. Eisenwerth, Münch und Rodin, in: Münch, edition Bock/Busch, München 1973 (s. o. Anm. 53), 125ff. Vgl. Katalog d. Ausst. „Monte Verità" - Ascona/Berlin/Wien 1 9 7 8 - 1 9 7 9 . Das Herrenrasse-Denken wurde besonders durch Kaiser Wilhelm II. gefördert, fußend auf den Schriften von H . S. Chamberlain, — natürlich auch durch den Germanen-Kult in Wagners Musik, die Nietzsche mehr und mehr ablehnte: N W , Wo ich bewundere. Dazu die Festschrift zum Meissner-Treffen, Jena 1913; — ferner Fr. Schulze, Die Völkerschlacht und ihr Ehrenmal, Leipzig 1937. Die demokratischen Impulse der Befreiungskriege gingen bis 1913 schrittweise verloren; - ein Überblick dazu bei H . und O . Hanmann, Völkerschlachtdenkmal Leipzig, Leipzig 1973, wo das Monument freilich wieder der Ideologie der D D R einverleibt wird. Metzner und Fidus waren seit 1900 befreundet; sie schmückten gemeinsam die Räume der .Neuen Gemeinschaft' (Berlin), entwickelten sich jedoch — im Gegensatz zu Lehmbruck und Belling — wie
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tonische Wahn und Rassismus Wilhelms II. und seiner Generäle, der sich keineswegs auf den lebenden, sich wehrenden Nietzsche hätte berufen können, mündete später in die Bewegung der Nazis, die Nietzsche ihrerseits nationalistisch verzerrten, die die junge Republik zerstörten, bruchlos ein. Das Zielen ins Licht, den Drang zum Licht-Himmel, also Zarathustras Licht-Metaphorik, konkretisiert ähnlich Münch im Jahre 1915 auch Bernhard Hoetger in seinem 1. Entwurf zum Niedersachsenstein (bei Worpswede) 68 , einem Krieger- und Kriegsmal (während der 2. ausgeführte Entwurf einen gewandelten Hoetger, einen Phönix als Friedensmal zeigt): Vor der kubistisch abstrakten Form eines übergroßen Vogels reckt sich ein schlanker Jüngling empor. Der Entwurf entstand im Klima der Sieges-Illusion des Jahres 1914/15, die nach Tannenberg noch bestand, und zwar auf Wunsch des Mitbegründers der Worpsweder Künstlerkolonie, Fritz Mackensen; das Kirchspiel Worpswede stellte den Weyerberg zur Verfügung und führte die Geldsammlung durch. Indem Hoetger diesen 1. Entwurf für einen damals erhofften deutschen Sieg schuf als ein „Siegesmal", wie er sich ausdrückte, mißbrauchte er Nietzsches expressive Metaphorik „Vor Sonnenaufgang", die Vorstellung der hymnischen Ich-Entgrenzung Zarathustras, der sich zu Himmelshöhe und Licht-Abgrund gezogen fühlt, eine Metaphorik, die für Nietzsche oberhalb aller „Vaterländer", Parteien und Regierungen lag. Dabei wird die psychischgeistige Bewegtheit, die ein Wachsen des Menschen aus dem „Tod Gottes" heraus meinte, in eine realpolitische Verwertbarkeit umgebogen und den Kriegszielen der Hohenzollern, vor denen Nietzsche warnte, gegen die er eine antideutsche Liga plante, angepaßt. Nietzsche hatte vielmehr die frankreichfeindliche Politik des Kaisers und der Generäle und die Reichsgründung durch einen deutschen Sieg von 1871 als Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des ,deutschen Reiches' bezeichnet (in der 1. Unzeitgemäßen, DS 1), hätte also einen Krieg gegen Frankreich wie den von 1914 kaum geistig unterstützt (wie G. Lukäcs glaubte). Mit der Entwicklung des Krieges jedoch zum barbarischen „Erdgemetzel" (Ernst Toller 1917), dem europäischen Pazifismus, der Republik, Hoetgers Wandlung von 1917/18 und seinem Beitritt zur „Novembergruppe" Lederer mehr und mehr in die Dimensionen der wilhelminischen Ideologie. Ihr teutonischer Nationalismus manifestierte sich dann besonders im 1. Weltkrieg (dazu J . F r e c o t / J . F . Geist/ D . Kerbs: F i d u s — zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, München 1972, 168 f.). 68
Zu Hoetgers Monument vgl. C . E . Uphoff, Bernhard Hoetger, in: Cicerone 11, 1919, 4 2 7 f . — L. Roselius/Suse Drost, Bernhard Hoetger, Bremen 1974, 22 f. und 75 f. - D. Schubert, Das Denkmal für die Märzgefallenen 1920 von Walter Gropius in Weimar, in: Jb. d. H a m burger Kunstsammlungen 21, 1976, 213. — Ein kurzer Text Hoetgers über sein 1922 ausgeführtes Denkmal befindet sich im Archiv zu Worpswede (Haus im Schluh). — Herrn H a n s - H . Rief danke ich für freundliche Hilfe.
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(Berlin) verwirft er seinen Plan für ein Sieges-Denkmal und konzipiert einen aus Backsteinen gemauerten riesigen Vogel, einen expressionistischen P h ö n i x , ein „Trauermal mit dem Hinblick auf Frieden", das die Ideen von Fruchtbarkeit, Aufbau und Auferstehung versinnbildlicht, wie Hoetger selbst schrieb, 69 ausgeführt bis 1922 (noch in situ). Daß jedoch die Bewegung des prototypischen Jünglings empor zum L i c h t nicht nur nationalistisch rezipiert wurde, sondern auch auf einer sozialistisch orientierten Gegenseite anzuverwandeln war, belegt das Titelblatt zu der Zeitschrift „Die Freie Jugend": im Jahrgang 1923 zeigt das Sonderheft für den inhaftierten Dichter Emst Toller eine Gruppe zum Lichte bewegter nackter Menschen 70 . Apokalyptische Dimensionen erhält die nietzschesche Licht-Symbolik aus Zarathustra im Kriegsjahr 1917 in einer Meisterzeichnung von Otto Dix mit dem Titel „Finale 17" (Dresden, Kupferstichkabinett) 71 : der am Horizont übergroß stehenden S o n n e recken sich Köpfe und Arme Verwundeter und Sterbender entgegen; die dunklen Wolken bilden gleichsam Vorhänge für das Finale der Weltbühne. Am Ende der Wirkung von Nietzsches Licht-Symbolik steht das Massensterben im Grabenkrieg. Die ehemals prototypischen Jünglinge erleben im Angesicht der adorierten, aber gleichmütigen Sonne ihren ganz realen, egalitären Tod. In den Weihnachtstagen des Jahres 1919 entwirft Bruno Taut zwei utopische Projekte, den festlichen Zentralbau „Vivat Stella" und das „Monument des Neuen Gesetzes" in zwei Varianten, aus unregelmäßigen Prismen zusammengesetzte symmetrische Bauten utopischen Gehalts mit deutlich astraler Symbolik bzw. starkem Aufwärtszug. Das Material des Monumentes ist Metall und G l a s (das als lichtes Material die Ideen der Utopie neuer Gemeinschaft theoretisch trug), der Sockel aus weißem Marmor, der Schmuck aus türkisfarbenen Majoliken, Höhe ca. 18 Meter. Signifikant nun ist die Vorstellung der sieben Tafeln — Tafeln bereits ein Motiv aus dem „Zarathustra" — und zwar aus Glas, von oben beleuchtet. Diese Tafeln, von unten zu lesen, tragen die leitenden Inschriften und die Motti der sieben Herolde, die Taut wählte: Paul Scheerbart, den Dichter der „Glasarchitektur" (1914), Luther, Karl Liebknecht, den Prophet Haggai, Johannes (die Offenbarung) 69
Text Hoetgers zum Niedersachsenstein und sein Brief vom 31. Mai 1931 an L . Roselius (in: Kat. d. Hoetger-Ausstellung, Bremen/Münster 1964).
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Die Zeitschrift „Freie J u g e n d " war das Blatt der jungen Anarchisten, Schriftleitung Ernst Friedrich (Berlin), der 1924 die viersprachige Dokumentation „Krieg dem Kriege" herausgab. — Abb. des Zeitschriften-Titels in: E . Toller, Zwei Stücke der Revolution, Berlin 1977.
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O t t o Dix - Protokolle der Hölle, hg. von Hans Kinkel, Frankfurt/M. 1968, N o . 40 - jetzt Dresden Kupferstichkabinett; — D . Schubert, O t t o Dix in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1980, 32 (Abb.) und Veit L o e r s / D . Schubert: O t t o Dix und der Krieg — Zeichnungen und Graphik 1913—1924, Städtische Galerie Regensburg 1981, 15.
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und Nietzsche, und zwar „Vom neuen Götzen" aus dem Zarathustra. Taut nennt das erstaunliche Monument, das nicht errichtet wurde, eine „Glaskristallpyramide". In Alfred Wolfensteins expressionistischem Jahrbuch „Die Erhebung" von 1920 veröffentlichte er einen der beiden Entwürfe im Rahmen seiner programmatischen Schrift „Architektur neuer Gemeinschaft". 7 2 Zu Unrecht hat W. Pehnt gemeint, daß mit solchen Werken die Gefahr eines Totalitarismus aufkäme und wies auf die Durchhalteparolen der NS-Zeit. Aber seit wann ist es sinnvoll, an einem Kunstwerk Form- oder Inhaltsteile auszutauschen? Gerade die Nietzsche-Stelle „Vom neuen Götzen", die an Hölderlins und Heines Kritik des Staates gemahnt, die Pehnt offenbar nicht nachgelesen hat, räumt hier voreilige Zweifel und falsche Assoziationen aus. Nietzsche schreibt: „Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch [. . .]: ,Ich, der Staat, bin das Volk'. Lüge ist's. Schaffende waren es, die schufen die Völker [. . .]." Und den Schaffenden, die dem Leben und seiner Liebe dienen, stellt Nietzsche die Vernichter entgegen, die den Staat aus Schwert und hundert Begierden (sie!) über die Völker hängen. Er trifft eine klare Unterscheidung zwischen den Schaffenden, die Glaube an die Erde und Liebe leiten, die das Leben steigern, und den Vernichtern, die mit Schwert und Begierden regieren. Diese Passage aus Zarathustra ist m. E. auf den begehrlichen Machtwahn der Hohenzollern zu beziehen: „Staat nenne ich's [. . .], wo alle sich selber verlieren [. . .] der neue Götze [ . . . ] — das kalte Untier! [. . .] Staat, wo der langsame Selbstmord aller ,das Leben' heißt." Und Nietzsche fährt fort: „Dort wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort, wo der Staat aufhört — so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regensbogen und die Brücken des Übermenschen? — " 7 3 Solche Kritik des Vernichter- und Gewalt-Staates als repressiver Uberbau über den Völkern und den Schaffenden, die Taut meint, kann seinem Monument gerade nicht die totalitäre Dimension geben. Jene Tafeln der Herolde, die er konzipierte, sollen neben dem Poeten der Glasarchitektur Scheerbart Texte von Luther und Liebknecht aufnehmen. Aus Nietzsche stammt das Motiv der Tafeln, da im 3. Teil des Zarathustra, „Von alten und neuen Tafeln" (11 u. 12), ein neuer Adel d. h. die „Säemänner der Zukunft"
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Bruno Taut, Architektur neuer Gemeinschaft, in: Die Erhebung, hg. von Alfred Wolfenstein, Bd. 2, Berlin 1920, 2 7 0 - 2 8 2 ; - Kat. d. Ausstellung „Die Gläserne Kette", Leverkusen/ Berlin-West 1963, 78; - W. Pehnt, Die Architektur des Expressionismus, Stuttgart 1973, 208; — der kleinere Alternativbau des Monuments abgebildet im Jb. d. Hamburger Kunstsammlungen, 1976, 215. Za I, Vom neuen Götzen — dazu auch Hölderlins Einschätzung des Staates in seinem „Hyperion", die Nietzsche kannte!
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angesprochen sind, die „allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher" sind und auf neue Tafeln neu das Wort „ e d e l " schreiben. Von hier aus kann man Nietzsche — trotz der Ausdrücke „Zeuger", „Züchter" und „Säemänner" — unmöglich für die wilhelminische Großmannssucht reklamieren, aus der sich (in Nichtanerkennung der Kriegsniederlage) über die Generäle und die Freicorps die faschistische Bewegung entwickelte. Im übrigen sind Nietzsches Ausdrücke metaphorischer Art und meinen eine geistige Züchtung. Der verhängnisvolle deutsche Typus des Untertanen, den Heinrich Mann 1916 beschrieb, 74 auf dessen Mentalität Kaiserreich und Nazi-Bewegung basierten, der die Kriege trug, die Lager organisierte und bewachte, er ist von Nietzsche nicht gemeint. Mit der Stelle aus der „Apokalypse des Johannes" 21, die das himmliche Licht der Stadt Jerusalem preist, „klar wie Kristall", und mit den Herolden Nietzsche und Karl Liebknecht soll das Monument von Taut die Wilhelminismus und Krieg überwindende neue Zeit und Zukunft beleuchten und zum Symbolbau werden für kosmische Metaphorik (Sternen-Zeichen), für die expressionistische Utopie der Hoffnung auf humane Erd- und Lebensgestaltung. Das .Monument des Neuen Gesetzes' von Taut — ein expressionistischer .Leuchtturm' der Utopie. So steht Tauts Entwurf zentral für die verschiedenen Linien, die sich 1919 bündelten: für die ur-christlichen Ideen und ihre sozialistische Realisierung im Sinne von Dostoevskij und Tolstoj (Tagebuch; Auferstehung) 75 und später bei Tillich — „Sozialismus ist Gottes Ordnung in der Welt", ruft Ludwig Meidner in Pechsteins Broschüre „An alle Künstler" 1919 aus 76 — für die Verwerfung des autoritären Staates und endlich die expressionistische Synthese dieser unterschiedlichen Linien im Brenn-Glas der Christentum- und Kultur-Kritik des Flammenwerfers Nietzsche. Die Synthese aus Geist und Tat, Denken und Lebens- und Gesellschaftsgestaltung ging Taut mit dem Berliner „Arbeitsrat für Kunst" seit 1918/19 an, später in seinen vorbildlichen Sozialbauten in Berlin (Britz). 7 7 Zugleich steht sein .Monument' für die auf Nietzsche fußende Licht-Symbolik des politischen Expressionismus. Tauts Werke (Vivat Stella) muten an wie die Ausformung von Ernst Tollers Vision der „Menschheits-
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Heinrich Manns Buch „ D e r Untertan" (bis 1916 geschrieben) und sein Kap. ,Der Untertan' im Essay: Kaiserreich und Republik (1919), in: H . Mann, Essays, 1960, 398f. - Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt, Berlin 1973. Leo Tolstoj, Tagebuch 1 8 9 5 - 1 8 9 9 , hg. von Ludwig Rubiner, Zürich 1918, 26 und 164. An alle Künstler! — mit Beiträgen von J . R . Becher, Ludwig Meidner, B. Kellermann, Max Pechstein u. a. Berlin 1919, 10. Dazu Norbert Huse, „Neues Bauen" 1 9 1 8 - 1 9 3 3 , München 1975; - Katalog d. Ausst. Bruno Taut, Akademie der Künste, Berlin-West 1980.
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kathedrale . . . aus leuchtendem Kristall" in seinem zentralen Drama „Die Wandlung" von 1917/19. 78 Das religiöse Bewußtsein des Expressionismus, das in seiner Zeit u. a. von Ernst Bloch und Eckart von Sydow angesprochen wurde, 7 9 kann hier nicht erörtert werden. Von Sydow war es im übrigen auch, der 1919 in einem Beitrag über den Ursprung des deutschen Expressionismus in künstlerischer Hinsicht auf Münch und Van Gogh hinwies, ferner auf die großen Russen Dostoevskij und Tolstoj und ideengeschichtlich auf die tragende Rolle Nietzsches. Im Wiederstand gegen den Kapitalismus und in der „aufpeitschenden Dogmatik Nietzsches" sah Sydow entscheidende Wurzeln des Expressionismus: „Nietzsche . . . den Leitstern unserer jüngsten Vergangenheit, hat man in sehr unkluger Weise als den ,Mörder Gottes' bezeichnet. Sehr unklug . . . und sehr falsch: weil er in Wirklichkeit gar nicht das Göttliche Wesen in seiner Totalität tötete, sondern nur die eine seiner beiden Hälften niederschlug, um in die andere Hälfte alle Macht und Lebendigkeit hineinzupressen. Diese zweite, unendlich kräftige Hälfte der Göttlichkeit nannte er das ,Leben'. . ," 8 0 Und darin lag die „wundervolle Gewalt" und das „unheimlich Unbezwingbare der Reden Zarathustras". In nachexpressionistischer Zeit wird durch Formvereinfachung, asketische Reduktion und Unemotionalität die Malerei von Oskar Schlemmer gekennzeichnet. Mit Nietzsche schätzte Schlemmer das künstlerische Schaffen als das „Beste im Menschen" ein (laut Brief vom Juli 1913 an R. Herre); er las Kierkegaard, zwischen 1913 und 1920 vor allem Jean Paul (Titan, Siebenkäs), Dostoevskij, Nietzsche und Tolstoj. Von Bildenden waren ihm Vincent van Gogh, Cezanne und der Naive Zöllner Rousseau paradigmatisch. Aus Tagebüchern und Briefen wissen wir, daß Schlemmer von Nietzsche außer „Zarathustra" den „Antichrist" und „Menschliches, Allzumenschliches" kannte. Für seine mittels Reduktion und Formaskese die Klassizität suchende Kunst liest er 1915/16 in Nietzsche Passagen über das Klassische, Klassizität, das Ziel des Großen Stils und Gesetzmäßigkeit in der Kunst, und zwar in der durch 78
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Ernst Toller, Die Wandlung, Potsdam 1919, 77. — Dazu D . de Chapeaurouge, Die Kathedrale als modernes Bildthema, in: Jb. d. Hamburger Kunstsamml. 18, 1973, 168f. — Christian Lenz, Beckmanns „Synagoge", in: Städel-Jb. Bd. 4, 1973, 314; — zu Tollers Drama im Hinblick auf kunstgeschichtliche Fragen vgl. meinen Beitrag in der Festschrift Braunfels, 1977, 399. Ernst Bloch, Geist der Utopie (1918), 2. Fassung 1923, Neuausgabe Frankfurt/M. 1964, 2 1977; — Eckart von Sydow, Das religiöse Bewußtsein des Expressionismus, in: Neue Blätter für Kunst u. Dichtung, Jg. 1, Dresden 1919, 193 f. und ders.: Der doppelte Ursprung des Expressionismus, ebenda 1919, 227f. — vgl. auch O t t o F. Best (Hg.), Theorie des Expressionismus, Stuttgart 1976, 98 f. — Wolfgang Rothe, Der Expressionismus — theologische, soziologische und anthropologische Aspekte einer Literatur, Frankfurt/M. 1977. E. von Sydow a . a . O . 1919, 194 — ferner sein Buch: Die deutsche expressionistische Kultur und Malerei, Berlin 1920.
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Nietzsches Schwester erfolgten Edition des sog. „Willens zur Macht" und in „Menschliches, Allzumenschliches I I " . Daraus notiert Schlemmer 1916 im Tagebuch: „Der große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt." 8 1 Mithin wäre Schlemmers Kunst dem Prinzip des apollinischen (Starrmachens) zuzurechnen. Das streng Gesetzmäßige in seiner Kunst ist nach der jüngsten Monographie von Karin von Maur auf Stellen in Nietzsches Aufzeichnungen aus dem Frühjahr 1888 ( K G W VIII 14 [61]) mit der Uberschrift „Der Wille zur Macht als Kunst" zu beziehen wie: „Uber das Chaos Herr werden, das man ist, sein Chaos zwingen, Form zu werden [. . .]: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik werden; Gesetz werden." O b Schlemmer diese Stelle aus Nietzsches späten Notizen kannte, muß ich dahingestellt lassen. Wie stark freilich solche Essenzen Nietzsches zur Kunst als höchster Tätigkeit des Menschen überhaupt gewirkt haben, belegt auch die 1920 getroffene Selbstaussage von Max Beckmann in „Schöpferische Konfession" (hg. von K. Edschmid): „Ich glaube, daß ich gerade die Malerei so liebe, weil sie einen zwingt, sachlich zu sein. Nichts hasse ich so wie Sentimentalität. Je stärker und intensiver mein Wille wird, die unsagbaren Dinge des Lebens festzuhalten, je schwerer und tiefer die Erschütterung über unser Dasein in mir brennt, um so verschlossener wird mein Mund, um so kälter mein Wille, dieses schaurig zuckende Monstrum von Vitalität zu packen und in glasklare scharfe Linien und Flächen einzusperren, niederzudrücken, zu erwürgen. Ich weine nicht, Tränen sind mir verhaßt und Zeichen der Sklaverei. Ich denke immer nur an die Sache. 8 2 Was Schlemmers apollinische Tendenz betrifft, so ist noch in einer für seine Kunst zentralen Hinsicht auf Nietzsche zu verweisen (die Karin v. Maur übersehen hat): Die tanzend bewegten Figuren, besonders das Triadische Ballett, sind zumindest partiell als Nietzsche-Figuren zu deuten, insofern bei Schlemmer im Tanz die Spannung zwischen Apollinisch und Dionysisch konkretisiert wird. Schlemmer notierte am 28. 9. 1919 in seinem Tagebuch: „Dem Tänzer gehört, um mit Nietzsche zu sagen, die W e l t . " Als reduzierte Figurinen und in der radikalen Askese der Gestik verlieren jedoch Schlemmers Gestalten die bei Nietzsche unabdingbare konstitutive Individualität und die dionysische Ekstase. Darüberhinaus war Schlemmer die Polarität Apollinisch — Dionysisch, wie sie Nietzsche radikalisiert hatte, gegenwärtig, und er übertrug sie als Entscheidungsproblem und Grundsatz-Spannung auf seine Orientierung an 81 82
Karin von Maur, Oskar Schlemmer — Monographie, München 1979, 62, 71 — 72 und 332. Max Beckmann, in: Schöpferische Konfession, hg. von Kasimir Edschmid (Tribüne der Kunst und Zeit 13), Berlin 1920, 62.
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künstlerischen Vorbildern. Tagebuch 2. 9. 1915: „Ich muß mich entscheiden für Cézanne oder Van Gogh, für Klassik oder Romantik, für Ingres oder Delacroix . . . " , sucht aber eine Vermittlung, wenn er fortfährt: „Ich möchte die romantischste Idee in der abgeklärtesten Form darstellen." — Zur gleichen Zeit erlebt Schlemmer im September 1915 die Malerei des im Expressionismus entdeckten Mathias Grünewald als eine ältere Synthese beider Kunstpole: „Alles finde ich hier, wunderbarst! — Die dionysischste Form und die apollinischste." 83 Ein weiteres Beispiel: Der österreichische Plastiker Anton Hanak schuf 1922 die Bronzefigur „Der brennende Mensch". Dahinter steht eine nur aus Nietzsche zu begreifende, konkrete Gestalt-Idee: der in seinem leidenschaftlichen Suchen brennende Mensch, der alles Hinterwäldlerische, Pöbelhafte und allen Untertanengeist überwinden will, der im übermenschlichen Brennen und Verbrennen dionysisch sich wandelt, um sich als Selbst immer wieder zu finden. Auch der Dichter Alfred Döblin hatte in seinem Roman „November 1918" in dem ethisch suchenden Friedrich Becker einen solchen brennenden Menschen charakterisiert: „Hier fängt ein Mensch an, lichterloh zu brennen." 8 4 Unter Nietzsches Gedichten von 1882 (FW, „Scherz, List und Rache", 62) findet sich das „Ecce homo": „Ja! Ich weiß, w o h e r ich stamme! Ungesättigt gleich der Flamme Glühe und verzehr' ich mich. Licht wird alles, was ich fasse, Kohle alles, was ich lasse: Flamme bin ich sicherlich."
Schauen wir zu einer völlig anders gearteten Kunst in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, zum kritischen Verismus bzw. Realismus von Otto Dix, so wird niemand hier ohne Weiteres einen Nietzsche-Einfluß annehmen. Und in der bisherigen Literatur über Dix in Ost und West fehlen auch diesbezügliche Erörterungen. 85 In ihrer Entstehungszeit wurden die Bildnisse und die Großstadtszenen der Dixschen Kunst bereits als psychologische Entlarvung gefürchtet. Das 83
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Oskar Schlemmer, Briefe und Tagebücher (Auswahl), hg. von Tut Schlemmer, Stuttgart 1977, 39 und 21. Alfred Döblin, November 1918, München 1978, hg. von Heinz D. Osterle, Bd. 3, Drittes Buch: Das Tor des Grauens und der Verzweiflung, 169ff. — Zu Hanaks Plastik vgl. A. Vogel, Anton Hanaks Menschen, in: Artis, Oktober 1969, 30. Fr. Löffler, Otto Dix, Dresden 4 1977; - Diether Schmidt, Dix im Selbstbildnis, Berlin-Ost 1979; — O . Conzelmann, Otto Dix — Weiber, makol-Verlag 1-rankfurt/M. 1976 und meine Bemerkungen in: Nietzsche-Studien 9, 1980, 3 7 4 - 3 8 2 .
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Porträt des Urologen Dr. Hans Koch beispielsweise rief 1921 einen Familienskandal hervor. Personen, die sich aus Repräsentationsgründen von einem berühmten Maler hätten porträtieren lassen wollen, fürchteten den beißenden Verismus von Dix. Reichskanzler Dr. Luther ließ sich 1926 dann doch lieber nicht von dem berüchtigten Dix malen, weil er nicht wußte, was dabei herauskommt. Möglicherweise müßten im Schaffen von Dix verschiedene Phasen der Nietzsche-Verarbeitung differenziert werden. Im Jahre 1915 zieht Dix mit naiv-gutem Glauben und Sensationslust — wie so viele — in den 1. Weltkrieg: Er malt ein Selbstbildnis als M a r s (Freital, Museum, heute Leihgabe in Dresden, Neue Meister), in dem Häuser, Tiere, sterbende Menschen, Bäume, Masken des Todes und S t e r n e vom Kopf des Malers wie von einer Zentrifuge gewirbelt werden. Das Chaos, das Dix in egomaner Identifikation mit dem Kriegsgott Mars gebärt, und die aufblitzenden Sterne des Helmes und der Vision gemahnen an Zarathustras Vorrede (5): „ M a n m u ß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können."
Der Dix, der vier Jahre die Schrecken des Grabenkrieges als MG-Schütze durchmacht, kehrt als Gewandelter zurück. Doch bleibt er Nietzscheaner. Schon 1912 hatte er auf der Dresdner Kunstgewerbeschule jene Nietzsche-Büste modelliert, „die Klinger belehren konnte, wie Zarathustras Ubermensch erzeugt wurde" (P. F. Schmidt); und noch in einem Interview von 1965 bekannte Dix, daß er bereits seit 1911 Nietzsche gelesen habe. 8 6 Da Dix überwiegend Nietzsche las, ist es keinesfalls abwegig, in ihm statt einen Marxisten oder Schopenhauer-Anhänger einen Nietzscheaner zu sehen. Besonders „Zarathustra" und die „Fröhliche Wissenschaft" las Dix wieder und wieder und konnte daraus rezitieren. Seit ca. 1920 entsteht im Schaffen von Dix eine Kunst, die nicht nur realistisch ist, sondern die eine radikale Umwertung der Ästhetik vollzieht, nämlich eine Ästhetik des Häßlichen begründet bzw. eine Ästhetik, die nicht nur apollinisch den schönen Schein darstellt, nicht romantisch eine ideale Welt malt, sondern vielmehr das darstellt, was wirklich existiert, was ist und was Dix sah: die furchtbaren Szenen des Grabenkrieges, das Töten, Sterben und Verwesen der Soldaten, ferner in den Bildern von Zuhältern, Prostituierten und anderen Großstadtszenen das Häßliche und Höllische des Stadtlebens und der Stadt-Menschen; Dix entlarvt die Spießer, die Nichtigkeit des deutschen Untertanen-Typs — ob politisch manipulierter Kleinbürger oder spekulierender 86
P. F. Schmidt, Dix, 1923 (s. o. Anm. 45); - Maria Wetzel, Dix-Interview: Ein harter Mann dieser Maler, in: Diplomatischer Kurier 14. Jg. Köln 1965, 740; — D. Schubert, Otto Dix, Reinbek 1980, 38f. und 5 4 - 5 8 .
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Großbürger. Dixens Kunstmittel der Entlarvung sind Verzerrung, Kontraste, extreme Farben, Komposition, Karikatur, extreme Nahsichtigkeit, also keine bloße Sachlichkeit oder nazarenische Neoromantik, sondern vielmehr überspitzte Darstellung, Deformation durch Phantasie, die — in der Rezeption — kritisch wirkt, mithin Realismus. Der Effekt ist die psychologische Analyse des Einzelnen und die radikale Feststellung des Milieus. Wolfradt sprach 1923 entsprechend von „Unerbittlichkeit der Sichtbarmachung", und Carl Einstein, der nach 1919 Abstrakte und Surrealismus als extrem subjektive, imaginative Kunstformen ablehnte, 87 schrieb ebenfalls 1923 von „Malerei kritischer Feststellung". Im Jahre 1922 malt Dix das Bild „ A n die Schönheit" (heute Museum Wuppertal) und persifliert damit einen Titel der Kunst Klingers und das ganze historistische Kunstsystem des Idealismus des 19. Jahrhunderts, — wobei erinnert werden muß, daß Nietzsche den Historismus radikal als Krankheit und Niedergang des Lebens gekennzeichnet hatte. Indem Dix sich als Ansager „An die Schönheit" darstellt, gestaltet er vielmehr die Häßlichkeiten und höllischen Züge seiner Zeit, wird Zeuge seiner Zeit. Mit der Konstituierung und Begründung des neuen Realismus im 20. Jahrhundert geht der Bruch mit dem traditionellen Schönheitsideal aufgrund der nietzscheschen Weltauffassung einher. Es war also nicht allein der Krieg, der Dix das Vertrauen in das idealistische „Gute" und „Schöne" (schöner Schein) am menschlichen Dasein nahm; es war vor allem der NietzscheB l i c k und Nietzsches Lehre der Weltidentität, also seine Absage an allen Piatonismus: die platonisch-christliche Teilung der Welt in eine ,wahre' und in eine ,scheinbare' Welt verwies Nietzsche ins Reich der Fabel und lebensverleumderischen Moral, zugunsten der „Wiedergewinnung der Welt" (Löwith). Mit der Abschaffung jener Teilung und der Wiedergewinnung der wirklichen Welt wandelte sich zwangsläufig die künstlerische Ästhetik. Somit hat Dix „mit schneidendem Blicke" — um Nietzsche zu zitieren 88 — „mitten in das furchtbare Vernichtungstreiben der sog. Weltgeschichte, ebenso wie in die Grausamkeit der Natur geschaut" und sie folglich ohne Beschönigungen gemalt: etwa das „Alte Liebespaar", 1923 (Berlin-Ost). Schon im Grundgedanken, daß Kunstschaffen als aktiv-kreatives Leben eine Art höheren Daseins verkörpert als reaktiv-passives Dasein, daß 87
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Carl Einstein, Die Fabrikation der Fiktionen (um 1930), aus dem Nachlaß hg. von Sibylle Penkert, Reinbek 1973, Buch I. - Carl Einstein, Otto Dix, in: Das Kunstblatt, 8. Jg., 1923, 97-102. G T 7. — Zu Nietzsches Aufhebung des Piatonismus (Trennung in eine ,scheinbare' und eine .wahre' Welt) in der „Götzendämmerung": „ W i e die ,wahre' Welt endlich zur Fabel wurde", vgl. Karl Löwith, Gott, Mensch, Welt, Göttingen 1967, 1 6 9 - 1 7 0 .
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Kunstschaffen höchste Konzentration und W i l l e n erfordert, daß darin sich Selbstüberwindung' und der geistige Wille zur Macht realisieren, hätte Dix sich auf Nietzsche berufen können: In der Vorrede von 1886 zur „Fröhlichen Wissenschaft" (1882) steht: „Man kommt aus solchen langen gefährlichen Übungen der Herrschaft über sich als ein anderer Mensch heraus [. . .], vor allem mit dem Willen, fürderhin mehr, tiefer, strenger, härter, böser, stiller zu fragen [. . .]. Das Vertrauen zum Leben ist dahin: [. . .]" Im Angesicht der Schrecken der Natur und der menschlichen Welt geht Nietzsche den Weg zum Prinzip des ,amor f a t i ' und weist dem Kunstschaffen einen höchsten Rang zu. Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" (7): „Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich — das Leben." Und unter den späten Fragmenten steht zur Physiologie der Kunst: „Wir haben
die Kunst,
damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen."
( K G W VIII 16 [40])
Dix stellte sich als leidenschaftlicher Nietzsche-Leser (seit 1911) — statt harmlose Bildchen, harmonisierend-romantische Visionen oder aber abstrakt zu malen — ganz in diese Spannung. Er gestaltet nicht einen idealen Schein eines gedachten Schönen, sondern die Wirklichkeit, also das, was er sieht, den realen, den sinnlich-wirklichen Schein, die Wirklichkeit ohne Beschönigung — „strenger, härter, böser", das, was der späte Nietzsche die Anbetung des Scheins, den Schein an wirklichen Formen des Daseins, „den ganzen Olymp des Scheins" nannte. 89 Gegenüber dem 19. Jahrhundert (Klinger) und auch gegenüber der Kunstrevolution des Expressionismus entsteht eine vollkommen neue Kunstauffassung: Bejahung und folglich die Gestaltung der sinnlich realen Welt als das Einzige. Der ,kritische' Verismus von Dix also — eine dionysische Malerei? Da Dix wieder und wieder Nietzsche las, kann dies bejaht werden. Seine Malerei ist quasi dionysisch, weil sie das Bestehende unverändert wiedergibt, den Schein, den Anblick, die Oberfläche, die Falte, die Haut, die sinnlichen Formen, alles Schreckliche und Häßliche des Lebens, den Tod, das Altern, das Schreckliche der Gesellschaft und ihre barbarischen Kriege, — und zwar ohne Verweise auf Idealisierung oder eine andere, vermeintlich wahrere Welt. Nietzsches dionysisches Prinzip meint nicht bloße Entfesselung der Sinne (Rausch) und des Erotischen, sondern umfassend den tragischen „Urschmerz" des Daseins, mit Heraklit den Wandel, den Wahnsinn, die Zerstörung, und daraus folgend die mythische Auferstehung („ewige Wiederkehr des Gleichen"); — statt christlich-neoplatonischer Verleumdung des Lebens im 89
FW, Vorrede 3 und 4.
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Verweis auf ein erfundenes „Höheres" vielmehr die Steigerung und Bejahung alles Lebens, antichristlich, dionysisch: A m o r f a t i . In dem 1886 der Neuausgabe der „Geburt der Tragödie" vorangestellten Kapitel „Versuch einer Selbstkritik" hat er das ausgesprochen. In einem Fragment vom Frühjahr 1888 nennt er es „ein verzücktes Jasagen zum Gesammt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen [. . .]" (KGW VIII 14 [14]) (Dionysos philosophos). Da Nietzsche aber in der Skulptur a priori die Kunstgattung des Apollinischen schlechthin sah, bleibt für das Dionysische, das sich nach Nietzsche in der M u s i k manifestiert, bestenfalls die Malerei als die Gattung mit der Möglichkeit umfassenderer bildhafter Gestaltung als die Skulptur. Im Aphorismus 107 der „Fröhlichen Wissenschaft" schrieb Nietzsche — und dies sei hier im Hinblick auf die Kunst von Dix zitiert — „ Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst. — Hätten wir nicht die Künste gutgeheißen [. . .] so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, [. . .] in den Wahn und Irrtum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins —, gar nicht auszuhalten. Die Redlichkeit würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben." Und in der Vorrede von 1886 schlußfolgerte Nietzsche, daß man zuletzt aus solchen Abgründen „neugeboren zurück" komme. „ O h wie einem nunmehr der Genuß zuwider ist, [. . .] wie ihn sonst [. . .] unsre ,Gebildeten', unsre Reichen und Regierenden verstehn! Wie boshaft wir nunmehr dem großen Jahrmarkts-Bumbum zuhören, mit dem sich der gebildete Mensch' und Großstädter heute durch Kunst, Buch und Musik zu ,geistigen Genüssen' [. . .] notzüchtigen läßt! Wie uns jetzt [. . .] der ganze romantische Aufruhr und Sinnen-Wirrwarr, den der gebildete Pöbel liebt, samt seinen Aspirationen nach dem Erhabenen, Gehobenen, Verschrobenen fremd geworden ist! Nein, wenn wir Genesenden überhaupt eine Kunst noch brauchen, so ist es eine andere Kunst — eine spöttische [. . .]" In diesem Sinne ist die Kunst von Dix als unter dem Einfluß von Nietzsche zu verstehen. In einem Interview mit Hans Kinkel von 1961 sagte Dix: „Ich habe vor den früheren Bildern das Gefühl gehabt, eine Seite der Wirklichkeit sei noch gar nicht dargestellt: das Häßliche." 90 Die christlich-idealistische Malerei eines Raffael oder aber seiner ,Schüler' des 19. Jahrhunderts, der „Nazarener", die idealistische Malerei des Historismus des 19. Jahrhunderts, — dies war es nicht, was Dix nach der Lektüre von Nietzsches Schriften suchte. Dix hätte mit Nietzsche sagen können: „Natürlicher ist unsere Stellung zur K u n s t : wir verlangen nicht von ihr die schönen Scheinlügen usw.: es 90
Hans Kinkel, Vierzehn Berichte, Stuttgart 1967, 6 9 - 7 8 ; - D. Schubert, Dix, 1980, 56.
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herrscht der brutale Positivismus, welcher constatirt, ohne sich zu erregen." Dieser Satz Nietzsches aus den Fragmenten vom Herbst 1887 (KGW VIII 10 [53], 149), die von Würzbach zum vermeintlichen Hauptwerk der „Umwertung aller Werte" zusammengestellt wurden (3. Buch, Kap. 2, Abs. 5), kann zentral für das Kunstdenken und Kunstwollen von Dix stehen. Er enthält die Absage an das klassizistische Ideal des sog. „Höchsten Schönen" (Winckelmann, Goethe), die Entlarvung der damit verbundenen Scheinlügen, impliziert die Wiedergewinnung der Welt und signalisiert den Willen zur Konstatierung dessen, was wirklich ist. In diesem Lichte freilich wird der „Realismus" von Dix ein dionysischer Verismus. Und die dionysische Komponente seiner Kunst schließt jedenfalls als zentral mit ein das „ Verlangen nach dem Häßlichen " (GT, Versuch einer Selbstkritik 4). Dixens Kunst realisiert den nietzscheschen Willen „zum Bilde alles Furchtbaren, Bösen, Rätselhaften, Vernichtenden, Verhängnisvollen auf dem Grunde des Daseins" (ebd.), — ja, um weiter mit Nietzsche zu sprechen, — mit einer Tapferkeit „des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren verlangt, [. . .] an dem sie ihre Kraft erproben kann." (ebd. 1) Noch im Jahre 1933, als sich der gleichsam dionysische Verismus von Dix durch innere Ursachen und äußere Gründe zu einem abgeklärten AltmeisterNaturalismus gewandelt hatte, bleibt Nietzsche eine Leitfigur für ihn. Das allegorische Gemälde, das die 1933 hereinbrechende Nazi-Flut symbolisiert, die Tafel der „Sieben Todsünden" (heute Karlsruhe Kunsthalle), das in der Todfigur im Zentrum das Hakenkreuz abwandelt, trägt links an der grauen Wand ein zentrales Nietzsche-Motto aus „Zarathustra" und aus den Dionysos-Dithyramben: „Die Wüste wächst, weh dem der Wüsten birgt".
Direkte Darstellung der Realität war für Dix nach 1933 nicht mehr möglich, da er von den Nazis mit besonders großem Haß verfolgt, wegen seiner Kriegsbilder von 1924 der „gemalten Wehrsabotage" bezichtigt und deshalb überwacht wurde. Also blieb nurmehr die versteckte Aussage, die politische Metaphorik, mit der wir in seinen altmeisterlichen Bildern christlicher Ikonografie bzw. in den Landschaften zu rechnen haben (Christopherus, Todsünden, Judenfriedhof im Schnee).91 Zur gleichen Zeit, 1933, vollzieht sich, lange vorbereitet durch Nietzsches Schwester, Elisabeth Förster und durch Peter Gast und ihren Antisemitismus in der geduldeten und manipulierten Kunst die Wendung zur nationalistischfaschistischen Nietzsche-Umformung. 91
Fr. Löffler, Dix, 4 1977, 107ff. - Werner Schmidt, Dix-Rede, in: Gedenkschrift zur Verleihung des Rembrandt-Preises der Goethe-Stiftung, Salzburg 1968, 17; — D . Schubert, Dix, 1980, 108 und 114.
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Seit 1933 modelliert Georg Kolbe die Großplastik „Zarathustra", — ein muskelstarkes Führeitier. Sie repräsentiert, wie Werner Hofmann 1958 bereits schrieb, genau das verzerrte Nietzsche-Bild, das „in jenen Jahren von Künstlern und Forschern propagiert wurde." 92 Josef Thoraks Nietzsche-Büste von 1944 (Gips für Marmor), heute verschollen, dürfte etwa das letzte an nazistischer Darstellung und Verehrung des für Antisemitismus, Arier-Wahn und Gewalt mißbrauchten Philosophen sein.93 Ich komme zum Schluß: Für die Generation der um 1880/90 geborenen Expressionisten war Nietzsche nicht der Nationalist und nicht der Antisemit, zu dem ihn Leute wie Langbehn, Fuchs, Peter Gast, Elisabeth Förster, Alfred Baeumler, die Hitler-Faschisten und später Georg Lukäcs machten. Den anderen Strang der Nietzsche-Auslegung verkörpert vor allem — auch um 1939 — wieder Heinrich Mann. Er, nicht erst Walter Kaufmann, hat Nietzsche aus der Umklammerung durch nationalsozialistisches Gedankengut befreit, schon befreit. 94 Den Expressionisten galt Nietzsche vielmehr als einer der wichtigsten Herolde der Kulturkritik, des Aufbruchs und der Bewegung zu einer neuen Zeit und Kultur, einem neuen Menschen und einer neuartigen Gesellschaft, die den Wilhelminismus und den Krieg überwindet — mit Nietzsche überwand — für die Bewegung in einen ,neuen Menschen' und eine ,neue Gemeinschaft'. Carl Einstein schrieb 1926: „Geist und Pathos des deutschen Expressionismus waren schon durch Nietzsche vorbereitet . . ." 9S Döblin, Musil, Ball, Hiller, Rubiner, dem jungen Bloch, Dix, Taut, Hesse, Heinrich Mann u. a. galt er als genialer Zerbrecher alter Tafeln und des alten Götze-Staat-Verständnisses, — nämlich als Schaffender, der die Synthese aus Geistes- und Tatmenschen suchte, zwar nicht-sozialistisch, aber keineswegs wilhelminisch imperialistisch, vielmehr als Prophet der individualistischen Erneuerung von Geist, Sinnlichkeit, Leben, — wie es auch Heinrich Mann in seinen Essays „Geist und Tat" (1910) und „Kaiserreich und Republik" (1919) bezeugt hat. Und auch der „Wille zur Macht" und die aus
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W . Hofmann, Die Plastik des 20. Jh., 1958, 73; - ferner G. Binding, Georg Kolbe, Berlin 1935. Abb. Seite 184 in: Die Kunst im Dritten Reich, 8. Jg. 1944. - Die Büste war im Sommer 1944 auf der Großen Kunstausstellung in München (vgl. Völkischer Beobachter vom 24. August 1944). W . Kaufmann, Nietzsche — Philosopher, Psychologist, Antichrist, N e w Y o r k 1950. Heinrich Mann, Kaiserreich und Republik, 1919 (s. o. A n m . 16) und ders. Préface, in: Les pages immortelles de Nietzsche, Paris 1939, 7—66 und auch in: Maß und W e r t (Zürich) Jg. 2, Heft 3, Jan.-Febr. 1939, 2 7 7 - 3 0 4 . Carl Einstein, Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1926, 3 1 9 3 1 , 146.
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dem „Tod Gottes" im modernen Menschen folgende Wendung zum „Ubermenschen", der als Schaffender aktiv J A sagt und sich in der Wiederkehr zum „ A m o r f a t i " bekennt, ist primär in der Bewegung des Einzelnen zu begreifen und zu verstehen, nicht aber als Umschlag in die kollektive Praxis politischer Herrschaft, wie jetzt G.-G. Grau mißverständlich vermutet. 96 Auch der Name der Künstler-Gemeinschaft „Brücke" (Dresden) von 1905 ist eine Übernahme aus „Zarathustra" (I, Vorrede 4): „Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist." Denn die Maler Heckel, Pechstein, Schmidt-Rottluff und Kirchner verehrten dieses Buch. Georg Reinhardt hat jüngst in einem Beitrag zur frühen ,Brücke' nachdrücklich darauf hingewiesen.97 Auch Nolde las früh Nietzsche. Inwieweit Nietzsches Weltsicht ihre Kunstprinzipien beeinflußt hat, ist schwer zu sagen; möglicherweise jedoch spiegelt sich in der Bevorzugung von ErdBildern, im Preisen der Erde, des Himmels und der Leiblichkeit des Menschen, in den erdhaften Farben, die bevorzugt werden (Braun, Rot, Grün) ganz allgemein Nietzsches großes Ja-Sagen zur Erde, seine Forderung nach Treue zur Erde. Obiges Zitat aus Carl Einsteins Buch über die Kunst des 20. Jahrhunderts fährt fort: „. . . und man findet die vage Deklamation und Exotik des Zarathustra' verändert auf den Leinwänden der ,Brücke'-Maler wieder." Auch für Franz Marc, der 1912 als Verkünder von extremer ,Innerlichkeit' und Abstraktion, einen Gegensatz zur „Brücke" bildend, sich apollinisch zum Antipoden von Beckmann, der Sachlichkeit forderte, machte, ist die Auseinandersetzung mit Nietzsche belegbar. 98 96
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Siehe G . - G . Graus Vortrag „Sublimierter oder realisierter Wille zur Macht?" in diesem Band. - Dagegen ist die Lektüre von Heinrich Mann (a. a. O . 1939, 293) zu empfehlen u. a. : Nietzsche hatte es „mit dem Bismarckschen ,Reich' zu tun und hielt schon dies für das Ende der deutschen Kultur. Die Frage hat er nie gestellt, woher die Starken und Vornehmen s e i n e s Sinnes in aller Welt noch kommen könnten." — Ferner Albert Camus, Nietzsche und der Nihilismus, in: L'Homme révolté (1951), Reinbek 1969, 5 5 - 6 7 (jetzt auch in der Sammlung von J . Salaquarda (Hg.), Nietzsche, Darmstadt 1980, 63 f.). Georg Reinhardt, Die frühe ,Brücke' — Beiträge zur Geschichte und zum Werk der Dresdner Künstlergruppe, in: Brücke-Archiv (Berlin), Heft 9/10, 1977/78, 28f. - ferner Donald E. Gordon, Ernst Ludwig Kirchner, München 1968, 15, 82; — H . K. Röthel, Die Brücke, in: Der deutsche Expressionismus — Formen und Gestalten, hg. von H . Steffen, Göttingen 1965, 179ff. - L. G . Buchheim, Die Künstlergemeinschaft Brücke, Feldafing 1956, 39; - Carl Einstein op. cit. (1926) 1931, 80, 117, 146. — Nietzsche nicht erwähnt im Katalog der großen Kirchner-Ausstellung, Berlin/München/Köln/Zürich 1980. Carl Einstein, Die Kunst des 20. J h . , 1931, 200; - Klaus Lankheit, Franz Marc, Köln 1976, 13 und 146. Nicht thematisiert ist Nietzsche im neuesten Katalog der Marc-Ausstellung (Lenbachhaus München 1980), obgleich man S. 114 den aufschlußreichen Brief Marcs an seine Frau vom 21. 1. 1911 über „Kulturfragen" abdruckt. Dort fragt Marc, „welcher Art neuer Kultur wir entgegen gehen" und nennt als wesentliche Kulturkritiker Burckhardt, Schopenhauer, Rohde, Wagner und Nietzsche. Doch kämen sie von tiefer humanistischer Bildung her,
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Selbst die Kunstkritiker und -Historiker standen damals auffallend unter seinem Einfluß: Julius Meier-Graefes Sprache ist davon geprägt. Der mit Marc und Wilhelm Lehmbruck befreundete Fritz Burger schrieb im Kriegsjahr 1916 die Einleitung zu seiner „Einführung in die moderne Kunst" ganz im Lichte von „Zarathustra". 99 Des bedeutenderen Carl Einstein frühe Texte wie „Totalität" von 1913/14 und späteren Texte wie „Antike und Moderne" (1928) sind von Nietzsches Denken mitgeprägt. 100 G. F. Hartlaub skizziert 1919 Nietzsches Wirkung in seinem Buch „Kunst und Religion", indem er den „dionysischen Aktivismus" Nietzsches der geistigen Mystik der Romantik gegenüberstellt. Eckart von Sydow ist bereits genannt. Ob der kubistische Wille zur klaren Form auf den Einfluß von Nietzsches geistigen Begriff des ,Willens zur Macht' als grundlegendem individualpsychologischen Prinzip zurückgeht, wie Biemel und Dittmann andeuteten, möchte ich wieder zur Diskussion stellen. 101 Immerhin sprach sich der deutsche Kubist Franz Marc in seinen „100 Aphorismen" von 1914/15 (publiziert 1920 als Anhang der Briefe) ganz ähnlich aus, wenn er sagt, aus dem nietzscheschen Willen zur Macht müsse der Wille zur F o r m entspringen (als apollinische Bändigung des Chaos, ein Gedanke, der auch Beckmann beherrschte), und Nietzsches Ideen als eine großartige Mine bezeichnet. 102
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vom Griechentum, der Renaissance und dem Frankreich des 18. Jh. — „Nietzsche litt am tiefsten, kämpfte am verzweifeltsten; mit seinen Zarathustra-Ideen riß er das Unmöglichste vom Himmel; er allein wollte eine ganz neue Kultur forcieren . . . seine Tragik. Er konnte nicht allein schaffen, wozu vielleicht 2 Jahrhunderte nötig sein werden. Aber doch ist jede seiner Gesten ein Ereignis, jeder seiner Gedanken im höchsten Sinne heroisch. Seine .Unzeitgemäßen' sind Anfangsschriften; mit der ,Morgenröte' beginnt der Umschlag bei ihm, seine Übermenschenideen. Er wird vom Historiker zum Propheten!" Fritz Burger, Einführung . . ., Berlin 1917, 1 — 10; — vgl. dazu auch E. von Sydow op. cit. 1920; - bei Wolfgang Rothe, Der Expressionismus, Frankfurt/M. 1977 wird die enorme Rolle Nietzsches als „Flammenwerfer", als Ideen- und Formen-Inspirator, für den gesamten Expressionismus unterschätzt und nur marginal behandelt. Die Herausgabe der kunstkritischen Schriften Einsteins (über Carpeaux, Negerplastik, Lehmbruck, Dix, Schlichter, Leon Bakst u. a.) hatte Vf. vorbereitet, — vgl. nun die sehr zu begrüßende Gesamtausgabe von Rolf-Peter Baacke und J. Kwasny, Medusa-Verlag Berlin 1980: Werke Band I 1908-1918; - dazu Jörg Müllers Hinweis auf Carl Einstein, in: Frankfurter Rundschau, vom 27. Sept. 1980: „Gestehen wir den Bankrott der dicken Ideologien". Walter Biemel, Philosophische Analysen zur Kunst der Gegenwart, Berlin 1968, 2 3 6 - 2 6 3 ; — Lorenz Dittmann, Die Willensform im Kubismus, in: Argo — Festschrift für Kurt Badt, hg. von M. Gosebruch, Köln 1970, 413 und schon Carl Einstein (siehe im folgenden). Zu Nietzsches Impuls auf den Kubismus vgl. jetzt J. M. Nash, The Nature of Cubism, in: Art History, 3, 1980; 435 ff. So unterschiedliche Autoren wie Hans Sedlmayr (Die Revolution der modernen Kunst, Hamburg 1955) und Arnold Gehlen (Zeit-Bilder, Frankfurt/M. 1960, 2 1965) blenden die tiefgreifenden Wirkungen Nietzsches einfach aus. Klaus Lankheit a. a. O. 1976, 146. - Auch Carl Einstein sprach 1914 von Unmittelbarkeit und „Willen zum Stil"; Malen heiße „Raum schaffen, zu gesetzmäßigen Körpern verdichten, die
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Formzertrümmerung und .Deformation' (aus Willen und aus Phantasie) einerseits, Formaufbau und Geometrisierung andererseits können im deutschen Expressionismus, bei Marc speziell, ebenso wie im Kubismus Europas auf die Anregung und Auswirkung von Nietzsches Willensbegriff zurückzuführen sein. Das bezeugt zumindest schon Carl Einsteins Passage über die Kubisten in seinem Buch von 1926, „Die Kunst des 20. Jahrhunderts" ( 3 1931, 80), wenn wir dort lesen: „aus der Leidenszone geht man ins Willensmäßige über . . . Ein Hellsehen neuer Elemente bricht durch. Man verbleibt nicht im schweifenden Dionysischen, sondern entwickelt es zu apollinischer Präzision." Die Abstinenz der Kunstwissenschaft von den Fragen nach Nietzsches weitgreifender Wirkung und ihrer Bedeutung für die Ideen-Geschichte und die Formen-Geschichte in den bildenden Künsten des 20. Jahrhunderts war nach 1945, aufgrund der Verformung durch die Nazis, vielleicht verständlich; weniger jedoch schon als man Otto Conzelmann aus seiner ersten westdeutschen Dix-Monographie von Seiten des Verlages die Nietzsche-Stellen streichen wollte. 103 Vollends heute sollte der nazistisch dienstbar gemachte, in solchem Dunkel verzerrte und verformte Nietzsche und sollte die Ignoranz seiner „Flammen" der Vergangenheit angehören. (1978—1980)
103
zu heftiger Einheit gedrängt werden" (Zu Paul Claudel, in: Die Weißen Blätter, hg. von René Schickele, 1. Jg. 1914, Heft 3, 289f.) Otto Conzelmann, Otto Dix, Fackelträger-Verlag Hannover 1959.
Diskussion Trillhaas: Können Sie etwas über das Nietzsche-Haus in Weimar sagen, Herr Schubert? Das Haus ist ja vollkommen von Henry van de Velde ausgestattet worden. Vom Portal bis zu einzelnen Möbelstücken trägt alles seine Handschrift. Wäre diese unverkennbare Gestaltung nicht, dann wirkte das Interieur eigentlich eher kleinbürgerlich. Es sollte mich wundern, wenn das alles nicht dokumentiert wäre und wenn es darüber keine Bilder gäbe. Wissen Sie darüber etwas? Schubert: In der Ausstattung durch Henry van de Velde sehe ich keinen direkten Ausdruck von Nietzsches Denken. Im Formenapparat dieses Jugendstilarchitekten erkenne ich auch keinen Einfluß von Nietzsches Ideen. Aber Sie haben Recht, in den Themenkomplex „Nietzsche und die bildende Kunst" würde auch die Innenarchitektur des Nietzsche-Hauses gehören. Inwieweit sie dokumentiert ist, kann ich leider nicht sagen. Reschke: Ich habe zwei Fragen zu Ihrem Vortrag, Herr Schubert. In Ihren Ausführungen über Otto Dix haben Sie die Tendenz zur Entlarvung, zur Demaskierung als charakteristisch für die bildende Kunst dieser Jahre herausgestellt. Sie haben den Gestus der Entlarvung ja wesentlich — und sicherlich zu Recht — auf Nietzsche zurückgeführt. Gibt es nun auch Anzeichen für einen entsprechenden Einfluß Nietzsches auf die politische Karikatur dieser Zeit, z. B. auf George Grosz oder Th. Th. Heine? Meine zweite Frage ist durch einen Vorgang in der Literatur veranlaßt, für den es in der bildenden Kunst vielleicht eine Parallele gibt. Es ist zu beobachten, daß es nicht nur in der sogenannten „hohen" bzw. „seriösen" Literatur, sondern auch in deren trivialen Abspaltungen eine starke Aneignung Nietzsches gibt. Hillebrand 1 verweist in seiner Einleitung u. a. auf Otto Erich Hartleben, Michael Georg Conrad oder Adolf Wilbrandt. Es liegt nahe, daß hier Verzerrungen Nietzsches auftreten. Aber auch ein Paul Heyse oder eine Franziska von Reventlow waren nicht frei von Trivialisierungen der Ideen Nietzsches. Lassen sich Tendenzen dieser Art auch in der bildenden Kunst aufzeigen?
1
B. Hillebrand (Hrsg.), a . a . O . , l f f .
Diskussion
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Schubert: Ob George Grosz Nietzsche-Leser war, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, möchte es aber annehmen. Zumindest würde ich seine radikale Kritik an den Deutschen (er sammelte z. B. Fotos zur „Häßlichkeit der Deutschen") mit Nietzsches Kritik an Deutschland, dem „Flachland Europas", wie es ja in der Götzen-Dämmerung heißt, in Verbindung bringen. Natürlich würde auch hier ein Phänomen auftreten, das man im Verlauf von Wirkungsgeschichten immer beobachten kann: Die geistige Spannung, die am Anfang herrscht, verliert sich im Laufe der Rezeption. Die trivialen Erscheinungen in der bildenden Kunst habe ich in meiner Untersuchung absichtlich ausgeklammert. Sie zu behandeln, ergäbe eine Abhandlung für sich. Mir kommt es zunächst darauf an, die Nietzsche-Umsetzungen primär in den bedeutenden Leistungen der bildenden Kunst namhaft zu machen. Mir scheint aber, daß sich im trivialen Bereich von Malerei und Skulptur eine ähnliche Vergröberung und Verzerrung Nietzsches breitmachte wie in der Trivialliteratur. Taureck: Ich möchte gleich an Ihre letzte Äußerung anschließen, Herr Schubert. Eine Beschränkung auf die bedeutenden Leistungen der bildenden Kunst vermag ich in Ihrem Vortrag nicht zu erkennen. Sie haben einige Beispiele angeführt, die nach Ihrem eigenen Urteil gar nicht zur großen Kunst zählen, sondern eher Mißverständnisse oder bewußte politische Umdeutungen erkennen lassen. Überdies haben Sie manche Schöpfungen großer Kunst gar nicht genannt. Wie ist es z. B. mit Franz Marc oder mit den Futuristen? Ich erwähne nur Marinettis „Dynamismus" und erinnere an die Werke von Giacomo Balla oder Umberto Boccioni. Kommen diese Künstler der Geisteshaltung Nietzsches nicht sehr nahe, auch wenn sie seine Schriften gar nicht gelesen haben sollten? Ich habe überhaupt Bedenken gegen die Priorität, die Sie dem jeweiligen literarischen Einfluß der Künstler einräumen. Sie fragen immer erst: Hat der Künstler Nietzsche gelesen? und leiten von der nachgewiesenen oder vermuteten Lektüre die Beziehung zu Nietzsche her. Das scheint mir doch einseitig zu sein. Eine ganz andere Verbindung, die auch dem Charakter der bildenden Kunst stärker entgegenkommt, könnte sich ergeben, wenn man z. B. Probleme der Bildgestaltung heranzieht. Auch hier wäre der Futurismus zu nennen, der ja Parallelen zum Kubismus aufweist. Da ist die Rede von den „Kraftlinien", den linee forze, oder das bildnerische Problem des GleichzeitigSehens, dem sich der Futurismus im Bereich der Bewegung (Bewegungssimultaneität) gestellt hat. Hier wird die Perspektivität des menschlichen Erlebens selbst zum künstlerischen Problem. „Perspektivismus" und „Kraftlinie" — erweckt das nicht deutliche Assoziationen an Nietzsches Perspektivismus und an seine Lehre vom Willen zur Macht?
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Dietrich Schubert
.Baier: A m E n d e Ihres Vortrags, H e r r Schubert, wäre m . E . ein Hinweis auf A r n o Breker angebracht gewesen. Breker, der ja eine Reihe von N i e t z sche-, und Zarathustra- und Dionysos-Plastiken geschaffen hat, scheint mir den U b e r g a n g z u m Nietzsche-Verständnis im Dritten Reich viel besser zu illustrieren als etwa J o s e f T h o r a k . 2 In diesem Zusammenhang wäre wohl auch Aristide Maillol zu erwähnen, dessen Freundschaft zu Breker auch eine gemeinsame Beziehung zu Nietzsche annehmen lassen 3 . Mein zweiter Punkt betrifft Giovanni Segantinis Beziehung zu Nietzsches Werk und zu Nietzsches Landschaft, z u m Engadin. Im Segantini-Museum in St. M o r i t z hängt nur eine G r a f i k aus dem Gedankenkreis Zarathustras, o b gleich eine ganze Serie für eine italienische Buchausgabe geschaffen worden sein dürfte. 4 Ich habe die Leiterin des M u s e u m s schon einmal gebeten, im Nachlaß nach weiteren Bildern aus der Serie zu suchen. Aber da der Nachlaß sehr groß ist, ist auch die Suche schwierig. Ich bin jedoch sicher, daß sich noch einiges über die Verbindung N i e t z s c h e — Segantini finden wird, und damit Zeugnisse einer direkten Rezeption Nietzsche'scher Engadinmotive im italienischen, deutschen und natürlich schweizerischen Frühimpressionismus und S y m b o l i s m u s . D a s obere Engadin ist als ,Ausdruckswelt' der Gebirgswanderungen Zarathustras nicht nur für Segantini ein reizvolles Panorama erlebter Philosophie in Landschaftsvisionen. Ich bin Ihnen sehr dankbar für die R e p r o d u k t i o n der beiden KlingerGrafiken „ I m L i c h t " und „ D e r P h i l o s o p h " . Als ich sie gerade sah, bin ich etwas zusammengezuckt, denn es sind die beiden Grafiken, die im Arbeitszimmer M a x Webers hingen. Bislang bin ich gar nicht auf die Idee g e k o m m e n , hier eine Verbindung zu N i e t z s c h e zu sehen. A b e r Sie haben mir eine interessante Anregung gegeben. D i e G r a f i k „ I m L i c h t " spielt übrigens im Briefwechsel zwischen Marianne Weber und Else J a f f e eine gewisse Rolle, allerdings ohne jeden B e z u g zu Nietzsche. In den Briefen wird eine Verbindung zu Wagnerischen Motiven, so z u m Tristan- und Isoldemythos angedeutet: D a s Licht steht für Männlichkeit und Wahrhaftigkeit, das Dunkel für Mütterlichkeit und Triebhaftigkeit. Ihrer D e u t u n g der Grafiken M a x Klingers werde ich daher noch einmal nachgehen.
Montinari: Herrn Trillhaas' Erinnerungen möchte ich bekräftigen. D a s N i e t z s c h e - H a u s in Weimar ist bis hin zur Türklinke und z u m Kerzenhalter von H e n r y van de Velde ausgestattet worden. E s ist nach meinen Informationen möglich, daß dort bald eine kleine Gedenkstätte entsteht, die eine histori2 3 4
Vgl. A . Breker, Im Strahlungsfeld der Ereignisse, Pr. Oldendorf 1972. D a z u J . Sommer, Arno Breker (Rheinische Meisterwerke, H . 11), Bonn 2. Aufl. 1943. G . Segantini, Die Verkündigung des Wortes, abgebildet und kommentiert in: F. Arcangeli, Das Gesamtwerk von Segantini, St. Moritz 1973, S. 118f. (Abb. 363).
Diskussion
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sehe Ubersicht über Nietzsche und seine Wirkungen bietet. — Ihr Vortrag, Herr Schubert, war für mich sehr interessant, aber ich möchte doch vor einigen Schlußfolgerungen warnen und zu methodischer Vorsicht raten. Vielleicht haben Sie uns nicht alle Belege vorgeführt, so daß ich selber jetzt voreilig urteile. Aber ich meine, der Hinweis auf eine Nietzsche-Lektüre des Künstlers reicht allein nicht aus, um einen Einfluß zu beweisen. Es ist doch eine Tatsache, daß Nietzsches Gedanken zum Klima der Jahrhundertwende gehörten; Nietzsche lag, wie Sie richtig sagen, in der Luft. Die Lektüre Nietzsches besagt deshalb noch nichts Besonderes, und auch wer Nietzsche nicht las, konnte doch von ihm beeinflußt sein. Eine wichtige Anregung sehe ich in Ihrer Frage nach Nietzsches „persönlichem Kunstbegriff". Der wäre in der Tat einmal näher zu untersuchen. Was hat Nietzsche eigentlich von der Malerei gehalten? Welche Maler haben ihn interessiert? Welcher Geschmack herrschte in seiner Umgebung? Mich hat immer wieder gewundert, daß Carl von Gersdorff die Geburt der Tragödie mit den Kolossalgemälden Hans Makarts vergleichen konnte, ohne daß Nietzsche sich dazu geäußert hätte. Als Historiker finde ich es jedenfalls interessant, wenn die Zeitgenossen Nietzsches sein Werk ebenso bewundern wie die Uberladenheit der Bilder Makarts. Schubert: Die Beziehung zu den Futuristen, Herr Taureck, habe ich bewußt nur gestreift. Wollte man sie genauer betrachten, dann ergäbe sich auch hier eine gesonderte Studie. Daran mögen Sie auch erkennen, für wie gravierend ich den Einfluß Nietzsches auf das futuristische Programm ansehe. 5 Salaquarda: Herr McGinn wird in seinem Vortrag auf Marinettis Gestaltung des Ubermenschen eingehen. Insofern werden wir zumindestens einen Aspekt der Beziehung des Futurismus zu Nietzsche behandeln. Schubert: Wenn ich diese Verbindung betone, dann möchte ich allerdings im Unterschied zu Herrn Taureck die Gestaltungsprinzipien nicht einbeziehen. Linienführung und Simultaneität z. B. lassen sich m. E. nicht direkt auf Nietzsche zurückführen. Hier dominierte ein technisch-formales Problem der Darstellung von Bewegung. Durch die Photographie war schon seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bekannt, wie sich ein Bewegungsablauf in verschiedenen Phasen der Sukzession auflösen läßt. Diese Erfahrung hat die Maler entscheidend bestimmt. Ihrer ersten Anmerkung, Herr Taureck, muß ich beipflichten. Ich habe mich in der Tat nicht ausschließlich auf die anerkannten Werke der Malerei 5
Vgl. Marinettis Artikel „Was uns von Nietzsche t r e n n t " (s. oben S. 298).
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Dietrich Schubert
und Skulptur beschränkt, sondern doch auch einige triviale Beispiele herangezogen. Hier spielt ein systematisches Interesse herein, das meine historischen Forschungen zur Nietzsche-Rezeption leitet: Ich möchte zwischen einem panegyrischen, mehr nationalistischen Strang und einem positiv-kritischen, ja emanzipatorischen Rezeptionsstrang unterscheiden. Ich glaube, daß sich diese Unterscheidung kunstgeschichtlich herausarbeiten läßt. Doch ich stehe hier mit meinen Überlegungen erst am Anfang. Herrn Baier bin ich für die Hinweise auf Breker, Maillol und Segantini sehr dankbar. Die drei gehören gewiß in den Zusammenhang der NietzscheRezeption, ich habe aber ihrer Rolle im einzelnen noch nicht nachgehen können. Ihre Bemerkung über Segantini kann ich zum Anlaß für eine methodologische Feststellung nehmen: Illustrationen zu Nietzsches Werken mußte ich in meiner Darstellung ebenfalls unberücksichtigt lassen. Auch hier läge wohl wieder ein eigenes Arbeitsfeld, denn es sind zahlreiche Werkausgaben mit z. T . hochwertigen Illustrationen erschienen. Uberhaupt muß ich Sie um Verständnis dafür bitten, daß ich aus der Fülle des Materials nicht nur aus Zeitgründen bloß eine Auswahl vorstellen konnte; die kunstgeschichtliche Forschung steht in diesem Bereich noch am Anfang. Diese Erklärung ist besonders an Herrn Montinari gerichtet, der zu Recht auf ein methodisches Problem der Einflußforschung hingewiesen hat. Die Nietzsche-Lektüre allein ist kein ausreichender Beweispunkt für einen wirklichen Einfluß auf die künstlerische Produktion. Ich habe deshalb die Lektüre nur dort zum Kriterium erhoben, wo sie über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder nachweisbar ist. Das etwa kann man Oskar Schlemmers Tagebüchern entnehmen. Bei O t t o Dix kann man von einer lebenslangen Beschäftigung mit Nietzsche sprechen. In solchen Fällen von einem Einfluß Nietzsches auszugehen, halte ich für begründet. Andere, von denen wir auch wissen, daß sie Nietzsche gelesen, durchaus intensiv gelesen haben, wie z. B. die Brücke-Künstler von 1903 bis 1905 vor ihrem Zusammenschluß in Dresden, habe ich gar nicht erwähnt. 6 Auch Schmidt-Rottluff, ebenfalls ein Nietzsche-Leser, habe ich nicht deshalb schon für erwähnenswert gehalten. Das gleiche gilt für Emil Nolde. Ihre Diskussionsbemerkung, Herr Montinari, drängt aber auf die Frage nach weiteren Einflußkriterien, auch bei den Künstlern, die sich direkt auf Nietzsches Person oder auf Passagen oder Intentionen seines Werks beziehen. Hier kann ich nur die Vermutung äußern, daß eine bestimmte Themenauswahl oder die Bevorzugung erdhafter Farben, überhaupt die Beziehung zur Erde, zur Landschaft, zu den Stimmungen des Himmels usw. Nietzsches „ J a " zur Erde ausdrücken. In dieser Hinsicht sind die sächsischen Expressionisten der
6
Vgl. die Bemerkungen in der publizierten Fassung m. Vortrages.
Diskussion
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„Brücke" ganz anders geprägt als die Vertreter des „Blauen Reiters", bei denen sich das Blau-Braun-Grün der Landschaft selten findet. — Ihre Forderung, Nietzsches Beziehung zur bildenden Kunst in Verbindung mit dem Urteil seiner Zeitgenossen einmal näher zu untersuchen, kann ich nur unterstreichen. Gründer: Ich möchte die von Herrn Montinari und Herrn Taureck geäußerten methodischen Bedenken verstärken. Sie haben, Herr Schubert, bildende Künstler herausgesucht, deren Nietzsche-Lektüre belegt ist, haben dann die Themen ihrer Werke herangezogen, gefragt, was davon auf Nietzsche verweisen könnte, und wenn sich irgendeine Verbindung zeigte, haben Sie einen Einfluß konstatiert. Ich frage mich, ob das als Grundlage reicht, vor allem wenn die Themen von solcher Allgemeinheit sind, daß man sie nicht bloß bei Nietzsche findet. Um die Verbindung zu belegen, müßte unter der Graphik oder dem Ölbild eben schon „Zarathustra", „Morgenröte", „Ewige Wiederkunft" oder dergleichen stehen, um die Beziehung zu Nietzsche eindeutig zu machen. Denn: „per aspera ad astra" oder „es geht nach oben" oder „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" — alles das gab es damals doch in solcher Breite, daß man in Nietzsche schwerlich den Urheber sehen kann. Methodischer Natur ist auch mein Bedenken gegen die konträren Stränge der Nietzsche-Rezeption. Ich gebe zu, daß man prinzipiell zwischen einer panegyrisch-nationalistischen und einer emanzipatorischen Richtung unterscheiden kann. Wichtig aber wäre, ihre Gleichzeitigkeit aufzuweisen und auch hier den Bezug zu Nietzsche deutlich zu machen. Das emanzipatorische Motiv in der hier wohl gemeinten Variante, die ich einmal als „ad astra" bezeichnen möchte, gibt es ja schon länger, auch in der Verbindung mit der „kritischen Entlarvung". „Entlarvt" wird lange vor Nietzsche, und zwar auf einer ganz anderen Basis, die auch nach ihm nicht fortgefallen ist. Lassen wir einmal die christliche Moraltheologie mit ihren Lasterkatalogen beiseite: Entlarvt wird seit dem französischen Moralismus; entlarvt wird — beinahe gleichzeitig mit Nietzsche — auch wieder bei Freud. Wenn Sie also den emanzipatorischen Rezeptionsstrang wirklich an Nietzsche festmachen wollen, dann müssen Sie die Beziehung zu ihm kenntlicher machen. Hier, wie auch bei den Bildmotiven, müßte man vielleicht vorweg negativ verfahren und alles das aufweisen, was nicht von Nietzsche stammt. Wenn ich nur an das denke, was Sie uns von Otto Dix gezeigt haben. Da ist doch so viel zu sehen, was vermutlich nicht durch Nietzsche vermittelt ist, viel Hieronymus Bosch ist, manches aus der englischen Karikatur des 18. Jahrhunderts, viel Daumier, aber auch einiges von Jacques Callot und Francesco Goya. Das zähle ich nur auf, um zu illustrieren, wie mühevoll die Vorbereitungen sind, ehe es möglich wird, von einem Einfluß Nietzsches zu sprechen. Ganz analog läßt sich auch für den an-
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Dietrich Schubert
deren Rezeptionsstrang, den Sie, Herr Schubert, panegyrisch nennen, die Vielzahl möglicher Einflußquellen hervorheben. Wo finden wir nicht überall die Lichtmetaphorik im 19. Jahrhundert! Da ist es doch sehr problematisch, all die Trivialitäten und Verkitschungen, von Fidus bis hin zur Batterie-Reklame, auf Nietzsche zurückzuführen. Schubert: Ich würde Ihnen nicht zustimmen, Herr Gründer, wenn Sie meinen, unter einem Werk müsse erst das Nietzsche-Stichwort stehen, ehe man das Werk zu ihm in Beziehung setzen kann. Ich kann Ihre Kritik verstehen, wenn Sie sich auf meine Ausführungen zu Lehmbrucks „Emporsteigender Jüngling" bezieht. Die Verbindung zum Zarathustra-Kapitel „Vom Baum am Berge" wird nicht von Lehmbruck selbst hergestellt, sondern das ist meine Interpretation,7 die natürlich bestritten werden kann. Auch für Beckmanns „Auferstehung" sind die Bezüge zu Nietzsche nicht explizit belegt; ich meine aber, das Werk ist ohne Zarathustras Botschaft vom Wachstum des Menschen auf dem Weg zum Ubermenschen gar nicht zu verstehen. Ich stimme Ihnen sofort zu, Herr Gründer, wenn Sie von Goyas Einfluß auf Otto Dix sprechen. Dix hat sich nachweislich mit Goya auseinandergesetzt, auch mit dessen graphischem Werk. Aber diese Kenntnis schließt doch eine Suche nach Motiven, die der ausgedehnten Nietzsche-Lektüre entstammen können, nicht aus! Erst wenn man hier zu Ergebnissen gekommen ist, lassen sich Vergleiche zwischen verschiedenen Einflußquellen anstellen. Möglicherweise führen die dann wieder zu einer Relativierung der Verbindung zu Nietzsches Werk. Ich schließe das gar nicht aus und möchte selbst demnächst solche Vergleiche anstellen können; zuvor aber müssen die möglichen Bezüge zu Nietzsche ermittelt sein. Dann darf ich daran erinnern, daß einige Künstler vorgestellt worden sind, deren direkter Bezug zu Nietzsche gar nicht in Zweifel gezogen werden kann. Hervorheben möchte ich vor allem Bruno Taut. Er ist in meinen Augen auch ein überzeugendes Beispiel für eine emanzipatorische Nietzsche-Rezeption. Möglicherweise sind die Kategorien zur Differenzierung zweier Stränge der Wirkungsgeschichte Nietzsches noch etwas grob. An Tauts Projekt „Monument des neuen Gesetzes" aber wird zweifellos erkennbar, daß die von den überlieferten Gesetzen regierte Zeit überwunden und eine neue Ära des Menschen und der Gesellschaft selbstbewußt gestaltet werden soll. Eben dies kennzeichnet der Begriff der Emanzipation.
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Vgl. dazu das Kap. über den „Emporsteigenden" Lehmbrucks in meinem Buch: Die Kunst Lehmbrucks, Werner'sche Verl. Ges. Worms/Stuttgart 1981.
Diskussion
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Taureck: Sie sprechen im Titel von „Konkretionsformen" Nietzsches in der bildenden Kunst. Die Diskussion macht nun deutlich, daß man den Begriff der Konkretion genauer fassen müßte. Könnte man Ihrer Meinung nach, Herr Schubert, statt „Konkretion" auch „Illustration" sagen? Illustration würde bedeuten, daß bestimmte Vorgaben Nietzsches sichtbar gemacht werden, ohne dabei auf Buchillustrationen im engeren Sinn beschränkt zu sein. Sie haben uns in Ihrem Vortrag Nietzsche-Portraits bzw. Nietzsche-Büsten vorgeführt; dann kamen bestimmte Metaphern, Gleichnisse und Sprachbilder Nietzsches in bildnerischer Ubersetzung vor; schließlich waren da auch gemalte Gedanken. Das sind drei verschiedene Bedeutungen von „Konkretion", die man auseinanderhalten sollte. In meinem ersten Votum habe ich nach Beziehungen zwischen Nietzsches Perspektivismus und der Bildgestaltung in Kubismus und Futurismus gefragt. Ich sah auch eine Verbindung zur Lehre vom Willen zur Macht. Mir ging es dabei nicht um einen literarischen Bezug, der sich an Zitaten aufweisen läßt, sondern um den Niederschlag eines philosophischen Gedankens in einer ästhetischen Form. Sie haben unter Berufung auf die Erfahrungen mit der Photographie einen solchen Zusammenhang bestritten. Ihr Hinweis befriedigt mich aber nicht. Könnte nicht auch die Photographie als etwas gedeutet werden, das bereits Nietzsches Perspektivismus entspricht? Ich stelle diese Frage noch einmal in dieser verschärften Form, um auf das tiefere Problem einer Beziehung zwischen Philosophie und Kunst aufmerksam zu machen. Reschke: Meine Frage zielt in die gleiche Richtung. In Ihrer Themenstellung, Herr Schubert, verbirgt sich bereits ein weitreichendes philosophisches und ästhetisches Problem, nämlich die Frage: Lassen sich philosophische Ideen überhaupt künstlerisch adäquat umsetzen? Das ist freilich eine Frage, die über den Bezug zu Nietzsches Werk hinausgeht. Ich glaube aber, das Problem hat für Ihre Themenstellung eine nicht unerhebliche Bedeutung. Wenn ich nur an Ihre Interpretation von Lehmbrucks „Aufsteigender Jüngling" denke — einmal unterstellt, die historischen Bezüge träfen zu und die (in meinen Augen etwas gewaltsame) Interpretation ließe sich halten: Als was wäre dann die künstlerische Umsetzung durch den Bildhauer zu beurteilen? Wäre sie Illustration, „Umsetzung" einer Idee? Und wenn sie das wäre: Könnte sie dann noch den Anspruch erheben, als Kunst zu gelten? Wenn man so unvermittelt nach den Auswirkungen philosophischer Gedanken in der Kunst fragt, dann muß man doch auch das spezifisch Künstlerische problematisieren. Wo und wie erfolgt die originäre ästhetische Umsetzung, die einen Gedanken erst in ein Kunstwerk verwandelt? Bleibt da eigentlich noch der Gedanke qua Gedanken erhalten? Das sind Fragen, die vielleicht Ihren Ansatz, Herr Schubert, weitertreiben können.
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Behler: Den Chor der Kritiker möchte ich nicht verstärken; mir ist bewußt, welche Begrenzung mit Ihrer Themenstellung, Herr Schubert, notwendig verbunden sind. Ich habe nur noch zwei Informationsfragen. Wie steht es denn mit den bereits erwähnten Buchillustrationen? Kann man in diesem Bereich von Konkretisierung bestimmter Ideen sprechen? Man hat die Werke manchmal mit ganz phantastischen Ausstattungen versehen, deren Beziehung zum Inhalt der Bücher außerordentlich interessant ist. Die zweite Frage ist ganz speziell, aber vielleicht kann sie zufällig jemand beantworten. Dürers berühmten Kupferstich „Ritter, Tod und Teufel", der ja in Nietzsches Biographie eine Rolle spielt, gibt es auch in einer zeitgenössischen Version mit einem Ritter, der Nietzsches Züge und einen überdimensionalen Schnauzbart trägt. Das war nicht als Karikatur, sondern wohl als symbolische Darstellung der philosophischen Situation Nietzsches gedacht. Kennen Sie diese IJarstellung, Herr Schubert, oder weiß jemand anderer, von wem sie stammt? Müller-Lauter: Wenn ich nun Herrn Schubert um das Schlußwort zur Diskussion bitte, dann möchte ich ihm vorweg die Last der Antwort etwas leichter machen. Bei aller sehr bedenkenswerten methodischen Kritik, die gegen seine Darstellung vorgebracht worden ist, muß man betonen, daß hier ein erster Versuch gewagt worden ist, ein erster Schritt auf ein bisher nicht erkundetes Gebiet. Ich halte es hier für wesentlich, daß man erst einmal anfängt! Wie stark man sich im folgenden korrigiert und auch adäquate Methoden entwickelt, das wird sich zeigen. Bisher gibt es für das, was Herr Schubert in Sachen Nietzsche in Angriff genommen hat, noch nichts Vergleichbares. Ich war und bin daher sehr froh, ihn als Referenten gewonnen zu haben. Schubert: Ich bin Ihnen dankbar für diese Worte, Herr Müller-Lauter. Mir ist natürlich selbst bewußt, wie eng die zunächst gezogenen Grenzen sind und welche zusätzlichen Aspekte und Problemfelder und Fragen es noch gibt. Auf Herrn Behlers beide Fragen kann ich leider nicht antworten. Ich hatte schon gegenüber Herrn Baier betont, daß die Buchillustrationen ein Gebiet für sich darstellen, das ich hier gänzlich unberücksichtigt lassen muß. — Herrn Taureck gegenüber möchte ich zwischen direkten, bloß bebildernden Illustrationen und eigentlich künstlerischen Umsetzungen, die ich als Verdichtungen ansehe, unterscheiden. Im ersten Fall wird zu einem Gedanken nur ein Bild gefunden, im zweiten wird der Gedanke überschritten oder erweitert; hier kommt etwas Neues hinzu, das eigentlich erst die Konkretion ausmacht. Damit ist natürlich die von Frau Reschke weitergeführte Frage nach dem Verhältnis von philosophischer Theorie und ästhetischer Produktion überhaupt aufgeworfen. Das sehe ich sehr wohl. Ich muß mich aber aus den von ihnen
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freundlicherweise gelegten Schlingen herausziehen, indem ich betone, daß mir die methodischen Probleme ebenfalls bewußt sind. Ich habe die Hoffnung, im weiteren Verlauf der Untersuchung der Wirkungsgeschichte Nietzsches in der bildenden Kunst auch Antworten auf solche methodischen Fragen zu finden. Dabei hege ich die Erwartung, daß Nietzsche mir diese Aufgabe erleichtert. In seinem Werk stehen nämlich Anschauung und Begriff in so starker Wechselwirkung, sind Bild und Metapher selbst an eine philosophisch entscheidende Stelle gerückt, daß man auf eine besondere Nähe zu den bildkünstlerischen Konkretionen rechnen kann. Nietzsches Denken scheint mir für die gestellte kunsthistorische Frage offener und ergiebiger zu sein als beispielsweise die Philosophie Kants.
GÜNTER ROHRMOSER
NIETZSCHES KRITIK DER MORAL
Vor einigen Jahren fand Jürgen Habermas, daß Nietzsche den Stachel des Anstößigen verloren, daß er aufgehört hätte, uns eine Verlegenheit zu sein. Diese Meinung scheint der These nicht ganz gerecht zu werden, die Max Horkheimer vertrat, als er Nietzsche im Vergleich zu Marx den tieferen Denker nannte. Was heißt hier tiefer? Doch offenbar, daß Nietzsche tiefer die Gründe und die Natur des Verfalls, der sogenannten Selbstentfremdung des Menschen erfaßte, als daß er den von Marx entwickelten Therapien hätte vertrauen können. Richtig ist, daß die Einordnung Nietzsches als eines geistigen Urhebers des Nationalsozialismus und die auf die Niederlage des Nationalsozialismus folgende Renaissance des Marxismus empfunden wurde wie eine definitive Widerlegung Nietzsches selber. Sich nach Auschwitz noch auf Nietzsche zu berufen wie auf eine Quelle von Einsichten und Erkenntnissen, die uns noch betreffen könnten, wurde geahndet wie der Bruch eines Tabus, ja wie ein intellektuelles Verbrechen. Nun ist es ein Allgemeinplatz seriöser Nietzscheinterpretation, den Vorwurf eines Schuldanteils Nietzsches am Nationalsozialismus als unstatthaft und unbegründet zurückzuweisen. Zweifellos hätte Nietzsche sich mit Abscheu und Entsetzen von diesen Schülern, die sich auf ihn beriefen, abgewandt. Aber ist das ein Argument? Offen bleibt die Frage, ob Nietzsche der nationalsozialistischen Wirklichkeit mehr hätte entgegenstellen können, als einen letztlich ästhetisch begründeten Ekel vor der Niedrigkeit und Gemeinheit dieses Aufstands der Kleinbürger. Aber was immer er dem Nationalsozialismus hätte vorwerfen können, er hätte nicht leugnen können, daß die Nationalsozialisten ernstgemacht haben mit der Ausrottung der christlich bürgerlichen Moral, der auch Nietzsches eigener Kampf gegolten hat. Nietzsches Vorstellungskraft reichte nicht aus, diese geschichtlich praktische Konsequenz seines Grundwillens zu antizipieren. Was er tatsächlich erkannte und analysierte war eine Bewußtseinslage, die auch eine solche Möglichkeit in sich einschloß und diese Bewußtseinslage ist mit dem militärischen Sieg über den Nationalsozialismus nicht überwunden. Sie konnte nur solange als überwunden erscheinen, als der Marxismus selbstbewußt sich als die fällig gewordene Wahrheit der imperialistischen Ideologie Nietzsches entgegenstellte und beanspruchen konnte, die Vollendung der Humanität zu
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sein, die Nietzsche undialektisch negierte. Inzwischen beginnen die Einsichten und Erkenntnisse Nietzsches den Marxismus einzuholen und in gewisser Weise zu überholen. Der von Nietzsche prognostizierte Umschlag der demokratistisch anarchistischen Bewegung in eine Tyrannei neuen Charakters und Typs, für die der Mensch als Material einer neuen Züchtung und Formierung totaler Herrschaft dient, erfüllt sich vor unseren Augen. Was Nietzsche dagegen offenbar unterschätzt hat, ist die Dauer der Zeitläufe, deren es bedarf, um den von ihm diagnostizierten Verfall der bürgerlichen Kultur an ihr und durch sie selber zu vollstrecken. Die anthropologisch kulturrevolutionäre Wendung der Emanzipation von den Traditionen des Rationalismus leitet im Westen die letale Phase von Kultur überhaupt ein, von einer Kultur wie sie Nietzsche als eine Schöpfung der frühen Griechen und als Vision einer nachnihilistischen Zukunft vor Augen stand. Kurz: Die Gegenwart steht mehr im Zeichen der Ängste Nietzsches als im Zeichen seiner Hoffnungen. Die Aufteilung der Nietzscheschen Prognose, der anarchistischen und der tyrannischen Komponente, macht den global planetarischen Aspekt seines Denkens deutlich: Die Zukunft der Menschheit ist ihr in die eigenen Hände gegeben und sie kann mit sich machen, was sie will. Die weltgeschichtliche Gegenwart tritt zunehmend in eine Konstellation, die Nietzsche durch einen Nihilismus bestimmt sah, der sich ebenso destruktiv gegen die vergangene wie gegen die zukünftige Geschichte richtet. In der Auslegung Nietzsches durch Martin Heidegger wird die epochale Zäsur der Stellung Nietzsches im geschichtlichen Zusammenhang der Gegenwart radikal zum Prinzip seiner Deutung gemacht. An Nietzsche entscheidet sich für Heidegger nicht nur das Verhältnis der Gegenwart zur überkommenen Metaphysik, sondern die zukünftige Möglichkeit einer menschlichen Geschichte überhaupt. Weil in Nietzsches Denken die Metaphysik ihre äußerste Möglichkeit verwirklicht und sich in ihm dadurch vollendet hat, ist durch Nietzsche jeder Rückgriff auf ein in der durch die Metaphysik bestimmten Geschichte hervorgebrachtes Denken abgeschnitten. Wo ein solcher Rückgriff versucht wird, fördert er bewußtlos den Prozeß, den Nietzsche als den unvollendeten Nihilismus interpretiert hat. Aber nicht die Bedeutung Nietzsches für die Geschichte der Metaphysik ist für die Sicht Martin Heideggers entscheidend, sondern die These, daß Nietzsche antizipierend gedacht habe, was heute weltgeschichtlich die Wirklichkeit sei. Erst durch die Verbindung der These vom Ende der Metaphysik mit der vom Ende der europäisch abendländischen Geschichte, also der provozierend formulierten Deutung der Neuzeit als einer Endzeit, wird Nietzsche in den Horizont der Gegenwart gerückt. Nach dem definitiven Scheitern aller Versuche, durch marxistisch angeleitetes revolutionäres Handeln Entfremdung aufzuheben, hat Nietzsche eine Aktualität gewonnen, die nach der Erfahrung mit dem
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Günter Rohrmoser
Faschismus so nicht erwartet werden konnte. Die Personalisierung der unserer Epoche immanenten Gewaltstrukturen und ihrer wachsenden Bereitschaft, zur Lösung ihrer Konflikte kein anderes Mittel als eben die Gewalt für möglich zu halten, erweist sich immer mehr als eine Flucht vor der eigenen Wirklichkeit. Aus der Perspektive der langfristigen Tendenz des Zeitalters geurteilt, scheint auch Hitler nichts anderes gewesen zu sein als das, was die analytischen Marxisten eine Charaktermaske des Systems nennen. Was Marx gegenüber recht ist, sollte Nietzsche gegenüber billig sein. Ebensowenig wie der Stalinismus die Bemühung um eine gerechte Würdigung von Marx zu vereiteln vermochte, sollte auch die faschistische Gewaltherrschaft nicht im Stande sein, die Beschäftigung mit Nietzsche zu tabuieren. Selbst wenn es wahr sein sollte, daß Nietzsche zum Faschismus eine größere Nähe aufweist als Marx zum Stalinismus, so könnte er eben dadurch dem Wesen weltgeschichtlicher Gegenwart näher sein als Marx. Ein Versuch, Nietzsche im Horizont gegenwärtiger Erfahrungen zu erfassen, dient da nicht nur der Interpretation Nietzsches, sondern unmittelbar der Erkenntnis eben dieser Erfahrungen. Die Frage braucht nicht weiter zu interessieren, ob das Denken Nietzsches eine Einheit darstellt oder nicht. Auch die Frage nach der Bedeutung Nietzsches für das Schicksal der Metaphysik ist ja nicht länger die Frage, auf die es ankommt. Man kann es durchaus für zweifelhaft halten, ob der angemessene Zugang zur Aktualität Nietzsches vom unveröffentlichten Spätwerk her zu gewinnen ist, wie Martin Heidegger meint. Das völlig eindeutige Zeugnis Nietzsches zeigt in die Richtung einer Zerstörung der Metaphysik. Für Nietzsche ist die Metaphysik seit ihrem geschichtlichen Anfang bei Piaton eine Fiktion, ein Symptom für ein Ausweichen, eine Flucht vor dem, was ist. Was sich in Nietzsches Denken vollendet, ist nicht die Metaphysik, sondern ihre aufgeklärte Destruktion. Die Zweideutigkeit der marxistischen Rede, die Entfremdung in der Naturwüchsigkeit des gesellschaftlichen Prozesses begründet zu sehen, zugleich aber die Aufhebung der bisherigen Gesellschaft in der Natur zu erwarten, die sich in der Gesellschaft mit sich selbst vermittelt, wird bei Nietzsche zum bewegenden Problem seines Denkens, wenn er die Frage stellt, was denn der Mensch angesichts der aus der Herrschaft befreiten Natur bedeutet. Wir kennen die Antwort Nietzsches: Nichts. Nihilismus ist eben keine von Nietzsche erfundene Rede, sondern die von ihm begriffene Konsequenz einer in ihr Ende getretenen Bewegung der Emanzipation der Geschichte aus der Geschichte heraus. Indem Heidegger einen formalisierten Begriff von der Metaphysik seiner Auslegung Nietzsches zugrunde legt, nach welchem jedes Denken metaphysisch ist, das nach Wesen und Existenz, nach dem was und dem daß alles Seienden fragt, hat er den Zusammenhang Nietzsches mit der Emanzipationsproblematik der modernen Gesellschaft unsichtbar gemacht.
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Es ist nicht mehr verständlich, wie mit dem Tode Gottes der Mensch selber sich im Zeichen der Möglichkeit seines eigenen Endes zu erfahren beginnt. Auf diesen Punkt aber kommt es Nietzsche im Zusammenhang seiner Moralkritik an, denn Moral ist für Nietzsche nichts anderes als die Kategorie, bei der es um die dem Platoniker Nietzsche noch einsichtige Praxis geht, in welcher sich der Mensch selbst in der Eigenart seines der Natur überlegenen Seins verwirklicht. Das Christentum kommt für Nietzsche vielmehr nur als eine Gestalt der in der Metaphysik und ihren Seinsannahmen begründeten Moral in Betracht. Durch die Einwirkung des Christentums auf die Gewissensbildung sei das Gewissen so verfeinert und verschärft worden, daß dieses endlich gezwungen sei, sich gegen das Christentum selbst zu wenden. Eine eminent dialektische Formel, die die Macht des Entsprungenen über seinen eigenen Ursprung behauptet, also gerade die Umkehrung des Grundprinzips des Heideggerschen Denkens. Die Frage ist nur, wie mit dem Fortfall der theologischen Begründung das Gewissen einen neuen Grund findet. Dieser Gedanke führt unmittelbar in die Dialektik der Emanzipation, die Nietzsche tiefer erfaßt hat als seine neomarxistischen Schüler. Die christliche Moral war für Nietzsche kein Verhängnis an sich, sondern wurde es erst, als der sanktionierende Grund unglaubwürdig geworden war. Der Verhängnischarakter der christlichen Moral wird offenbar, wenn diese Moral es nicht mehr vermag, dem aus der Erfahrung der Negativität erwachsenen Leiden einen Sinn zu geben und wenn ihre Verwirklichung zu einer desparaten Entzweiung und Entfremdung von der geschichtlichen Realität führt. Die über das Schicksal der Metaphysik, der überkommenen Moral und damit über den Menschen im Grunde bestimmende Macht ist aber für Nietzsche die Wissenschaft vor allem in ihrer neuzeitlichen Gestalt. Modernität und Aktualität Nietzsches sind mit dieser These umrissen. Es gehört zu den Uberzeugungen schon des frühen Nietzsche, daß das Ziel der Wissenschaft die Weltvernichtung sei. Ihr Wesen besteht für Nietzsche darin, daß sie jeden objektiven Sinn zerstört, die essentielle Sinnund Vernunftlosigkeit der Welt als Natur und Geschichte erweist, und sich damit als der von der modernen Welt eingeschlagene Weg herausstellt, im grenzenlosen Fortschritt die Barbarei zu produzieren. Folgt man der Entstehung und Entwicklung von Nietzsches Denken, so stellt siel) sein Werk als der vielleicht radikalste Versuch dar, die im Wesen und Prinzip der modernen Welt angelegten Forderungen konsequent zu Ende zu denken. Die Neuzeit ist für Nietzsche daher auch nicht Endzeit, wie Heidegger interpretiert. Sein Verhältnis zu ihr muß begriffen werden als der am Ausgang des bürgerlichen Zeitalters kontrapunktisch zu Marx unternommene Angriff auf die moderne Welt mit dem Ziel, sie aus dem Zustand unentschiedener Halbheiten und konstitutionell gewordener Heuchelei heraus-
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zuholen. „In solchen Zeiten, wie heute, seinen Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängnis mehr. Diese Instinkte widersprechen, stören sich, zerstören sich untereinander; ich definierte das Moderne bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch." 1 Heute ist die moderne Gesellschaft in die Phase eingetreten, in der sie an ihren Widersprüchen, die ihre wesentlichste Gestalt in dem Grundwiderspruch von Technologie und Subjektivität angenommen hat, zu zerbrechen droht. Die Aktualität Nietzsches wird zunehmen in dem Maße, in dem die moderne Welt gezwungen ist, die letzten Konsequenzen aus ihrem Prinzip nunmehr auch praktisch zu ziehen. Nietzsche ist kein Lehrer, er ist ein Zeichen dieser sich ankündigenden Konstellation und seine Größe besteht darin, daß er eines ihrer bedeutsamsten Opfer genannt werden kann. In der Anthropologisierung des Revolutionsprinzips und in der Ersetzung der Revolution durch eine permanente Erziehung hat die nachrevolutionäre Gesellschaft der Einsicht Nietzsches Rechnung getragen. Anthropologisierung der Revolution bedeutet, wie sich bei Herbert Marcuse zeigen ließe, den Eingriff in die biologisch bedingten Bedürfnis- und Antriebsstrukturen des Menschen als Voraussetzung realer Veränderung gesellschaftlicher Strukturen. Wenn die pädagogische Theorie die Sozialisation als das Grundproblem erzieherischen Handelns in der Gegenwart ansetzt, dann wird, wie Nietzsche schon gesehen hat, die Pädagogik zur Fundamentaldisziplin der Sozialwissenschaften. Es wäre daher an der Zeit, wenn überhaupt, Nietzsche nicht, wie seit Marx üblich, mit Kierkegaard, sondern mit Marx nicht nur zu vergleichen, sondern auch hinter ihrer vordergründigen Verschiedenheit ihre Gemeinsamkeiten zu erkennen. Erst beide zusammen vermitteln einen Einblick in das, was gegenwärtig weltgeschichtlich ist. Erst wenn man Nietzsche und Marx als die beiden Denker dessen begreift, was nach dem Abschied von der bisherigen Geschichte der Umkehrung und Verkehrung der Metaphysik von Piaton bis Hegel heute weltgeschichtlich ist, wird man erkennen können, daß das Ende der modernen sogenannten bürgerlichen Welt zu einer Reproduktion und nicht zu einer Beseitigung des diese Welt bestimmenden Antagonismus geführt hat, mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, daß dieser Antagonismus zum mindesten für das ideologische Bewußtsein sich ins Unversöhnliche verfestigt und fixiert hat. Die Geschichte der Emanzipation hat im 20. Jh. dem Schrecken Nietzsches bisher mehr entsprochen als den Hoffnungen von Karl Marx. Die marxistische Erwartung einer möglichen Einrichtung der Gesellschaft, in welcher Technologie und Humanität wenigstens tendenziell sich ohne Entfremdung als vereinbar erweisen könnten, ist heute nur als utopische Erneuerung der romantischen Tradition möglich, der Marx nicht entsagte, 1
G D , Streifzüge 41; SA II 1018.
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weil er sie zu wenig durchschaute. Die Marxisten glauben eben noch an die Wissenschaft. In dem Versuch einer Selbstkritik hatte Nietzsche mit klaren Worten ausgesprochen, daß es ihm in der „Geburt der Tragödie" darauf angekommen sei, die Wissenschaft zum Problem zu machen. „Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches, ein Problem mit Hörnern, nicht notwendig gerade ein Stier, jedenfalls ein neues Problem: Heute würde ich sagen, daß es das Problem der Wissenschaft selbst war — Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefaßt." 2 Nun kann aber das Problem der Wissenschaft nicht auf dem Boden der Wissenschaft selber erkannt werden. Wenn man die Optik des Wissenschaftlers voraussetzt, kann die Problematik der modernen Wissenschaft nicht in den Blick kommen. Daher muß diese Optik durch eine andere ersetzt werden, nämlich für Nietzsche durch die Optik des Künstlers. Die Kunst wiederum müsse, wie Nietzsche es ausdrückt, unter der Optik des Lebens gesehen werden. Die Methode Nietzsches ist leicht zu bestimmen. Es ist die eines genetischen Rückgangs von den objektiven Gestalten des Geistes auf ihren Grund im produzierenden Leben. Nietzsche folgt dem transzendental genetischen Gang der von Kant ausgehenden Bewegung des philosophischen Geistes, in dem er wie Marx hinter das Bewußtsein auf das Leben, wie er es damals noch unbestimmt genug nennt, zurückgeht. Die Nötigung aber von der Wissenschaft auf die Kunst und von der Kunst auf das Leben zurückzugehen, entspringt dem, was der junge Nietzsche immer wieder eine Not des Lebens selber nennt. So heißt es z. B. in „Richard Wagner in Bayreuth": „Aber wohl kann auch dieser Ungläubige die Frage stellen, welcher Art ein Geschlecht sein müsse, in dem Wagner sein Volk wiedererkennen würde, als dem Inbegriff aller derjenigen, welche eine gemeinsame Not empfinden und sich von ihr durch eine gemeinsame Kunst erlösen wollen." Um welche Not handelt es sich aber, der man nur ansichtig werden kann, wenn man aus dem Umkreis der Wissenschaften heraustritt und von der der Mensch nach der Meinung Nietzsches nur durch die Kunst erlöst werden kann. Ein Hinweis bietet der Satz: „Eine Grundfrage ist das Verhältnis der Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität, — blieb dies Verhältnis sich gleich? oder drehte es sich um?" 3 Die Grundfrage ist also der Schmerz, der seinerseits in dem gründet, was Nietzsche die Sensibilität, die im Horizont der Sinnlichkeit erfahrene Bedürftigkeit des Menschen nennt. Was den Menschen leiden läßt, ist für Nietzsche das Leben selbst. In der Erfahrung des leidenden Menschen an sich selber wird das Leben erfahren als im Wider2 3
G T , Versuch einer Selbstkritik 2; SA I 10. Versuch einer Selbstkritik 4; SA I 12.
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spruch mit sich selbst befindlich. Dieser Grundwiderspruch, der mit dem Auftritt des seiner selbst bewußten, individuierten Menschen in allem Leben aufbricht, ist nach Nietzsche die Wunde des Daseins. Er nimmt mit dem Aufbruch des Menschen zur Kultur, also zur Gestaltwerdung seiner selbst, die Form eines peinlichen, unlösbaren Widerspruchs an. „Und so stellt gleich das erste philosophische Problem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die Pforte jener Kultur." 4 Wie kann aber das Leben, dessen Grundzug in der essentiellen Einheit mit sich selbst besteht, leidend sich selbst entgegentreten? An welchen Momenten seiner Selbstmanifestation tritt dieser Widerspruch auf? Vor welcher Instanz könnte denn das Leben ins Unrecht versetzt werden? „Denn vor der Moral (insonderheit christlichen, das heißt unbedingten Moral) muß das Leben beständig und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell Unmoralisches ist, — muß endlich das Leben, erdrückt unter dem Gewichte der Verachtung und des ewigen Neins, als begehrens-unwürdig, als unwert an sich empfunden werden." 5 Das Grundbedürfnis des an sich im Menschen selbst leidenden Lebens gründet also in dem Bedürfnis gerechtfertigt zu werden. In Nietzsches Schrift „Die Geburt der Tragödie" geht es um die reformatorische Problematik der Rechtfertigung, genauer: um einen Beitrag zum Grundproblem des neuzeitlichen Bewußtseins, es geht um die Theodizee. Das letzte und geheimste Motiv von Nietzsches Moralkritik hängt unmittelbar mit der Theodizeefrage zusammen. Nach den Kriterien der Moral kann das Leben nur verurteilt werden und ein Leben, das nur wert ist, verurteilt zu werden, ist nicht wert gelebt zu werden: Es verdient daher seine Vernichtung. Was Nietzsche nur leicht verhüllt bereits in der „Geburt der Tragödie" als die Zukunft der modernen Welt ausspricht, ist ihre Selbstvernichtung aus Moralität. Die Praxis, die dieser moralischen Verwerfung entspringt, ist die Praxis des aktiv werdenden Nihilismus, die Zerstörung und ihre Lust. Während Marx den Antagonismus der modernen Welt zwischen Leben und Sinn, Vernunft und Wirklichkeit auf den Antagonismus von ökonomischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zurückführte, führt Nietzsche ihn — ohne daß er vermutlich der Theorie von Marx, wenn sie ihm bekannt gewesen wäre, widersprochen hätte, auf den Bereich zurück, den man metaphysisch, religiös, ästhetisch oder naturphilosophisch nennen kann, ohne daß mit einer solchen Charakterisierung eigentlich etwas gewonnen wäre, auf einen Bereich jedenfalls, die es ihm gestattet, in den Blick zu nehmen, was allen Formen moderner Gesellschaft — unangesehen ihres Klassencharakters — ge4 5
G T 9; SA I 59. G T , Versuch einer Selbstkritik 5; SA I 15.
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meinsam, was also im Prinzip der modernen Zivilisation selber begründet ist. Der Satz, durch den Nietzsche in hellsichtiger Weise die gegenwärtige, aus der bewußt gewordenen Unvereinbarkeit von technologischer Zivilisation und Bedürfnis nach unmittelbar erfahrenem Sinn hervorgegangene Konstellation vorweggenommen hat, lautet: „Alles, was wir jetzt Kultur, Bildung, Zivilisation nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysos erscheinen müssen." (GT 19) Was immer Nietzsche unter dem Namen des Gottes Dionysos verstanden haben mag, von der Epiphanie dieses Gottes im Medium des tragischen Kunstwerks versprach er sich nicht weniger als eine Rechtfertigung des essentiell unmoralischen Lebens, die Vermittlung einer Kraft, durch die der Mensch auch noch das Zerbrechen seiner eigenen Individuation zu bejahen vermag. Das Problem, das sich für Nietzsche am Horizont der modernen Welt abzeichnet, ist also die Frage, ob es für sie eine transmoralische Rechtfertigung des Menschen geben kann, die nicht mehr christlich im Sinne seiner metaphysischmoralischen Auslegung ist. Es hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis Nietzsches und unserer eigenen Lage, wenn man begreift, daß Nietzsche am Ende der bürgerlichen Kultur damit in gewisser Weise die Frage des jungen Luther wiederholt, die zum Ausgang der Reformation wurde. Nietzsche war sich von Ferne dieses Zusammenhangs durchaus bewußt. „Alle unsere Hoffnungen strecken sich vielmehr sehnsuchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus, daß unter diesem unruhig auf und nieder zuckenden Kulturleben und Bildungskrampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft verborgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen Erwachen entgegenträumt. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation hervorgewachsen: In deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang." 6 Nietzsche nennt den Choral Luthers auch einen dionysischen Lockruf. Das Dionysische ist bei Nietzsche der Name für die wahre und einzige Realität, zu der sich die im Logos verfaßte Realität der Zivilisation und der modernen Kultur als diese Realität verhüllender und in die Abstraktion ihrer Ordnungen verfremdender Schein verhält. Die moderne Kultur ist — in ihrer Entfremdung von der dionysischen Realität — der zur Ideologie ihrer selbst gewordener Schein, von dem der in der Kunst produzierte Schein den Menschen erlösen soll. „Der tragische Mythus ist nur zu verstehen als die Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel; er führt die Welt der Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst verneint und wieder in den Schoß der wahren und einzigen Realitäten zurückzuflüchten sucht." 7 Die 6 7
G T 2 3 ; SA I 126. G T 22; SA I 121.
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konsequente Fortentwicklung des romantischen Gedankens, von der das Ich formal transzendentaler Identität aus seiner Fesselung an das Gesetz der Rationalität entfesselnden und lösenden Gewalt der Nacht sollte nicht übersehen lassen, daß Nietzsches Etablierung der dionysischen als der einzigen Realität die von der Gesellschaft nicht erfaßte und beherrschte Natur als die Macht der Befreiung einsetzt. „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen." 8 Nicht der kapitalistischen Gesellschaft, sondern der im Prinzip der Zivilisation begründeten modernen Gesellschaft überhaupt wird von Nietzsche der Krieg erklärt. Die Stadt der Zivilisation erscheint bereits in dieser frühen Schrift Nietzsches in dem fahlen Licht einer ausgeglühten Kraterlandschaft. „Vergebens spähen wir nach einer einzig kräftig geästeten Wurzel, nach einem Fleck fruchtbaren und gesunden Erdbodens: überall Staub, Sand, Erstarrung, Verschmachten." 9 Man kann nicht behaupten, daß die neomarxistische Kritik an der modernen technisch-wissenschaftlichen Zivilisation Nietzsche an Radikalität übertroffen hätte. Die in ihrem illusionären Charakter von ihm bald durchschaute Hoffnung, daß die Kunst es vermöchte, den Menschen vor seinem Verfall in der modernen Stadt zu retten und ihn ai^den verlassenen Ursprung der mythischen Einheitswelt zurückzubinden, ändert nichts daran, daß die Uberwindung des Nihilismus durch Ästhetik nach wie vor eine der großen Hoffnungen des gegenwärtigen Zeitalters ist. „Aufgabe der Kunst — das Auge vom Blick ins Grauen der Nacht zu erlösen und das Subjekt durch den heilenden Balsam des Scheins aus dem Krämpfe der Willensregungen zu retten [. . .]". 1 0 Zu der Hoffnung auf Rettung durch die Kunst besteht aber in der Gegenwart um so weniger Anlaß, als der dionysische Grund für die Kunst unerreichbar geworden ist und das, was einmal Kunst war, sich in ein permanentes Happening aufzulösen scheint. Pornographie wird als dürftiger Ersatz für Nietzsches dionysischen Orgiasmus angeboten und paßt das entfesselte Leben der Öde und Langeweile technologischer Zivilisation an. Nietzsches Überlegenheit besteht darin, daß er in der als Rettung vor der Dürre der Zivilisation beschworenen Urgewalt des Dionysischen nicht nur das Rettende, sondern auch das den Menschen von Grund auf Gefährdende und Bedrohende gesehen hat. „Von dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg, der Weg zum indischen Buddhaismus, der, um überhaupt mit seiner
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GT 1; SA I 24. GT 20; SA I 112f. GT 19; SA I 108.
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Sehnsucht ins Nichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf." 1 1 Die romantische Hoffnung, mit der Nietzsche zunächst auf die moderne Welt zuging, richtete sich auf die Möglichkeit, durch Richard Wagners Gesamtkunstwerk wenigstens ästhetisch die im Untergang des Mythos verlorene Einheit wieder herzustellen und der zerrissenen Welt der Moderne von außen in der Vermittlung des Kunstwerks eine Einheit wieder einzustiften. Dieser Versuch der unmittelbaren Wiederherstellung einer in der mythischen Welt als gegeben geglaubten Einheit führt in der Form der politisch gewordenen Romantik zum Faschismus. Nietzsche hat die versuchte Wiederherstellung der mythischen Einheits- und Ursprungswelt durch die Kunst oder durch eine unmittelbar auf sie abzielende Praxis als einen romantischen Traum durchschaut und im Gesundungsbad des Positivismus, der die sogenannte zweite Periode in seinem Denken bestimmte, sich von diesem den Blick für die harten Realitäten trübenden Rausch erholt und die ästhetische Rechtfertigung der Welt überwunden. Nietzsche wiederholte in dieser Entwicklung die Einsicht Piatons, daß die Dichter zu viel lügen. Der Positivismus hatte daher für Nietzsche die wichtige und fruchtbare Funktion einer Reinigung vom romantischen Rausch, er hatte für ihn die Bedeutung einer Ernüchterung, die immer dann notwendig wird, wenn die Realität dem wahnumflorten Blick des ekstatischen Visionärs zu entschwinden droht. Der Positivismus wird immer dann notwendig, wenn es sich von einem „Betrug" zu befreien gilt, durch den die Einheit in der Moderne als unmittelbar gegeben geglaubt oder gehofft wird, daß man sie in der Unmittelbarkeit wieder herstellen könnte, und solcher Glaube sich zum Wahnsystem verfestigt. Vor der Verflüchtigung der Wirklichkeit durch den zum Betrug gewordenen Mythos rettet sich Nietzsche in den Positivismus, den er aus experimentellen und therapeutischen Gründen als eine Position auf Zeit einnimmt. Mit der zeitlich befristeten Hinwendung zum Positivismus ist die in der „Geburt der Tragödie" entwickelte Antwort auf die Genese des mit der Metaphysik einsetzenden geschichtlichen Verfallsprozesses korrekturbedürftig geworden. Wie muß das Verhältnis zur Geschichte gedacht und gestaltet werden, wenn der geschichtsphilosophische Rahmen der „Geburt der Tragödie" als unhaltbar fallengelassen wird? Die geschichtsphilosophische Konstruktion ist unhaltbar, wie jede Geschichtsphilosophie des klassischen, im deutschen Idealismus entwickelten Typs, weil Geschichtsphilosophie für Nietzsche überhaupt unvereinbar ist mit der Erforschung von Geschichte durch die modernen, voraussetzungslosen Geschichtswissenschaften. Nietzsche hat mit der historischen Auslegung des
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GT 21; SA I 114.
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durch die modernen Geschichtswissenschaften repräsentierten Verhältnisses der modernen Gesellschaft zu ihrer eigenen Vergangenheit den radikalst möglichen Schluß gezogen. Er hat ihr Aufkommen verstanden als die nun grundsätzlich bejahte und wirksamste Form der Destruktion der Metaphysik der Alten Welt. Nicht die Naturwissenschaften, sondern die Geschichtswissenschaften sind für Nietzsche der gefährlichste Feind des metaphysischen Bewußtseins. Nietzsche begreift die modernen Geschichtswissenschaften in ihrer bis Dilthey verborgen gebliebenen Tendenz als die Wissenschaft vom universalen Werden, als die Theorie des anfang- und endlosen Prozesses, in dem sich jede auf Dauer gestellte menschliche Schöpfung und jede Form unbedingten Seins auflöst und erinnerungslos verschwände, wenn nicht die Historie die vergangene Geschichte künstlich wiederherstellen würde. Die alles tragende Grundannahme für Nietzsche ist als ein Produkt seiner positivistischen Periode nunmehr die These vom Tode Gottes. Für Nietzsche ist die Kritik der Moral und der Versuch ihrer Neubegründung, wie wir wissen, eine notwendige Konsequenz des Todes Gottes, d. h.: des Fortfalls des Grundes, auf dem alle bisherige Moral gegründet war. Wenn Gott tot ist, dann wird alle überkommene Ethik und Moralität hinfällig. Was ist in diesem Zusammenhang unter Moral zu verstehen? Wir gehen von der Bedeutung der Frage nach Ethos und Ethik aus. Ethos ist der Ort, an dem jemand wohnt. Ethik ist jene Praxis, durch die der Mensch für sich zu einem Gegenstand der Verwirklichung wird, die es ihm ermöglicht, bei sich selbst und in seiner Welt heimisch, zu Hause zu sein, so wie es bei Piaton darauf ankommt, daß der Mensch lernt mit sich selbst befreundet zu sein. Von Natur ist es der Mensch nicht. Das wird er erst in einer Praxis, die das Wesen der Ethik ausmacht. Mit dem Hinfälligwerden aller ethischen Ordnungen und Traditionen in der emanzipierten Gesellschaft wird daher alles unvertraut und fremd. Unsere alte Welt wird täglich mißtrauischer und fremder, an die Stelle des Vertrauens tritt erst der Zweifel und schließlich das Mißtrauen, der Verdacht. Der Geist ist seit und durch Nietzsche in sich ständig radikalisierenden Formen in die Schule des Verdachtes gegangen. Die Schule, die Nietzsche als die Schule des Mißtrauens und des methodischen und prinzipiell gewordenen Verdachtes begründet hat, ist, so scheint es, zur einzigen Stätte und Behausung des Geistes geworden. Die Schule des Verdachtes, der mißtrauischen Auflösung einer jeglichen Weise des Vorverständigtseins, bei Nietzsche ein geistiges, ein philosophisches Ereignis, ist inzwischen selber zu einer vertrauten Praxis des Umgangs des Menschen mit sich selbst und den Mitmenschen geworden. Der Satz Sartres: „Die Hölle ist der Andere", der zentrale Satz über die gesellschaftliche Natur des Menschen in seiner Philosophie, ist zugleich ein wesentlicher Grundsatz der Nietzscheschen Anthropologie.
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Wenn man aber der Metaphysik nicht mehr vertrauen kann, wenn sich gegen ihre Voraussetzung ein abgründiges Mißtrauen und ein methodisch geleiteter Verdacht richtet, dann bedeutet das, daß man davon ausgehen muß, daß es in allem, was ist und geschieht, keine Einheit gibt. Wenn es aber in allem Seienden und Geschehenden keine Einheit gibt, dann ist Sein als Kosmos, als Ordnung nicht länger denkbar, dann trifft auf dem Boden dieser Voraussetzung die These von der Absenz von Einheit und Ordnung zu. Ist aber Einheit nicht mehr entdeckbar, dann ist das, was übrig bleibt und wovon man ausgehen muß, nicht nichts, sondern das, was in jeglicher Hinsicht einer Einheit entbehrt: Das Chaos. O b man aber nun sagt, Einheit gibt es nicht und das Prinzip einer möglichen Einheit ist nur auf Grund von Setzung, oder ob man sagt, Wahrheit gibt es nicht, in beiden Fällen sagt man im Grunde dasselbe. Gibt es aber keine Wahrheit, dann ist nach Nietzsche alles verkehrt und falsch. Wenn alles durcheinander ist, dann ist nicht nichts, dann ist dieses Ungeordnete, das in sich Verkehrte und, aus der Perspektive der Metaphysik beurteilt, die man voraussetzen muß, wenn ein Urteil überhaupt möglich sein soll, das essentiell Falsche. Im Gedanken der Einheit, der Wahrheit und des Telos wird das Seiende im Ganzen in der Metaphysik unter drei verschiedenen, aber auf einen Punkt konvergierenden Hinsichten angesprochen, unter denen sich der Mensch in der Geschichte der Metaphysik sein Sein als ein Sein im Sinn so selbstverständlich ausgelegt hat, daß ihm in der Tat die Frage nach dem Sinn des Seins sinnlos erschienen wäre. Daher muß mit dem Hinfall der Vernunftkategorien, d. h. mit der Statuierung einer essentiell vernunftlosen Welt das Dasein des Menschen selber als sinnlos erscheinen. In der Theorie des Nihilismus bei Nietzsche geht es um die Erfahrung, daß mit dem Hinfall und dem Untergang der Metaphysik das Dasein als sinnlos erscheint. Wäre die Metaphysik ein den Menschen nicht betreffender abstrakter Interpretationsversuch der Welt, neben dem auch noch beliebig viele andere gedacht werden könnten, dann wäre der Schrecken Nietzsches nicht verständlich, mit dem er auf die geschichtliche Erfahrung antwortet, daß durch die Bewegung der Emanzipation und der exakten Wissenschaften sich die Grundannahmen der Metaphysik als unhaltbar erwiesen haben. Nietzsche jedenfalls hat daran festgehalten, daß mit dem Ende der Metaphysik in der Herrschaft des Nihilismus nicht eine beliebige Interpretation der Welt vernichtet wurde, sondern daß mit dem Untergang der Metaphysik der Mensch ohne Antwort auf die Frage bleibt, die Nietzsche in der „Genealogie der Moral" so formulierte: Wozu Mensch überhaupt? Angesichts der Praxis des kollektiven Völker- und Rassenmords im 20. Jahrh. hat die Frage nach einer möglichen Begründung der Moral, wie sie von Nietzsche gestellt worden ist, den Anschein verloren, eine akademische oder nur für die religiös verinnerlichte Subjektivität interessante Frage zu sein.
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Mit der Metaphysik war für Nietzsche alles das mituntergegangen, was mit ihr und in ihren Voraussetzungen begründet war. Es war ein fundamentaler Irrtum des auch für Nietzsche großen 19. Jahrhunderts, wenn es glaubte, den Verlust der Metaphysik durch eine heroische Moral kompensieren zu können. Es ist eine Erneuerung dieses Glaubens des 19. Jahrh., wenn in der Gegenwart der nihilistischen Erfahrung eine selbst grundlose Moral entgegengesetzt wird. Die Bestimmung unseres Verhältnisses zur Ethik und Moral ist heute daher von Grund auf funktional. Ethik wird auf ihre Funktion für die Selbsterhaltung der Gesellschaft unter den Bedingungen organisierter Herrschaft hin betrachtet. Diese These der nur funktionalen Bedeutung der Ethik schließt die Uberzeugung ein, daß auch in der Vergangenheit Ethik in ihrer Funktion zur Stabilisierung organisierter Herrschaft in der Gesellschaft aufgegangen sei. In der noch nicht aufgehobenen Geschichte war die Ethik zur Aufrechterhaltung von Herrschaft daher funktional notwendig, um äußere Herrschaft zu verinnerlichen. Ethik ist dann die Form der Verinnerlichung organisierter Herrschaft. Die Lasten, Versagungen und Anforderungen, die dem Individuum von organisierter Herrschaft zugemutet wurden, werden durch die Ethik in die Innerlichkeit des Subjektes hineingenommen. Die Innerlichkeit des Subjektes reproduziert also die Zwänge, ohne die eine Gesellschaft unter den Bedingungen der bisherigen Geschichte nicht existieren konnte. Dann ist aber nicht nur die Ethik der Herrschaft funktional zugeordnet, sondern es gilt auch umgekehrt, daß alle bisher geschichtlich wirklich gewesene und gewordene Gesellschaft ihr letztes Fundament und ihre Basis in der Ethik gehabt hat. Wenn Ethik die Verinnerlichungsform von äußerer Herrschaft ist, wird Herrschaft selber erst möglich durch die Ethik, als die die Herrschaft in der Innerlichkeit und Subjektivität des Menschen reproduziert und bejaht wird. Dieses Vorverständnis in der Bestimmung des Verhältnisses von Ethik und Gesellschaft zwingt dazu, die Zukunft einer herrschaftsfreien Gesellschaft auch in der Befreiung des Menschen von der Ethik zu sehen und zu fordern. In dieser funktionalen Bestimmung des Verhältnisses von Ethik und Gesellschaft gibt es zwischen den als reaktionär Apostrophierten und den Emanzipationstheoretikern, also zwischen Marcuse und Gehlen zum Beispiel, keine Differenz. Herbert Marcuse hat in dem Buch „Versuch über die Befreiung" die Utopie einer herrschaftslosen und ethoslosen Gesellschaft konsequent zu Ende gedacht. Marcuses Entwurf wird auf dem Boden eines biologischen Ansatzes durchgeführt, denn die zukünftige herrschaftsfreie und ethosfreie Gesellschaft soll die Gesellschaft der Reproduktion und der Befriedigung des Ensembles natürlicher Bedürfnisse sein, die dem Menschen von Natur eigen sind. Die Entwicklungsfähigkeit der menschlichen Bedürfnisse bleibt im Rahmen dessen, was dem Menschen als biologischem Naturwesen zukommt. Damit ist die zukünftige Gesellschaft zugleich eine Gesellschaft der Befreiung von der
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Geschichte, weil zum ersten Mal diese Gesellschaft organisiert sein kann im Namen des Prinzips der Befriedung, der totalen Befriedung des menschlichen Daseins als eines durch biologische Bedürfnisse bestimmten Daseins. Der ungeschichtliche Naturbegriff, der der modernen neuzeitlichen und emanzipativen Gesellschaft schon immer zugrunde gelegen hat, wird in dem Marcuseschen Entwurf zu Ende gedacht auf dem Boden des gleichen biologischen und letzten Endes pragmatischen Prinzips, das auch das Fundament des scheinbaren Antipoden, Arnold Gehlens, darstellt. Das Bild, das Marcuse von der zukünftigen Gesellschaft als der Gesellschaft fast totaler Befriedung menschlichen Daseins zeichnet, nimmt in die Utopie Züge und Momente hinein, die erst in der Interpretation Nietzsches verständlich gemacht werden können. Im Gegenzug zu Marcuse hatte ja Gehlen eine pluralistische Ethik entwickelt, die zu ihrem Prinzip den Imperativ der Erhaltung hatte. Doch die Frage warum soll der Mensch sich erhalten, kann von Gehlen nicht beantwortet werden. Warum ist Selbsterhaltung nötig? Warum ist Hingabe an die Institutionen gerechtfertigt, wenn das Ziel der Institutionen nur das schiere Uberleben ist? Kann schieres Uberleben eine Antwort auf die Frage nach dem Telos des Uberlebens sein, oder wie man heute wieder sagt, nach dem Sinn einer solchen ethischen Entsagung? Wenn letzten Endes alles auf das schiere Uberleben ankommt, dann ist der Marcusesche Entwurf, der das bessere Leben will, im Vergleich zu Gehlens bloßem Uberleben der evidentere und überzeugendere. Die Ästhetisierung hat der Moralisierung dann alles voraus, wenn das Ziel das bloße Uberleben ist. Wenn die Differenz zwischen den beiden rivalisierenden Ethosformen nur die Differenz ist zwischen dem, der die Bedingungen schieren Uberlebens in der Moral habitualisieren will und dem, der in der Utopie die ersehnte Möglichkeit eines besseren Lebens sieht im Vergleich zu dem was ist, kann der große Reichtum scharfsinniger und hellsichtiger Aperçus bei Gehlen keine Evidenz haben. Was will Gehlen eigentlich dem von ihm analysierten Verfallsprozeß einer dekadenten und gegen ihre Selbsterhaltung lebenden Gesellschaft entgegensetzen, außer der Einsicht in die geschichtliche Notwendigkeit, mit der die Gesellschaft in das Stadium ihres Verfalls eingetreten ist. Die Apostrophierung der Ethik des bloßen Uberlebens ist die Form der tiefsten Ubereinstimmung Gehlens mit dem Geist der Zeit, von dem er sich distanziert. Es war Nietzsches große Sorge, daß der Verfall aller menschlichen Ordnungen in einer durch den Nihilismus und Atheismus bestimmten Praxis unvermeidbar wäre, wenn in einem durch diese Praxis gekennzeichneten Zeitalter der Unterschied nicht gelernt wird zwischen dem, was ist und dem, was wünschbar ist. Nietzsche geht in seiner Zeitkritik von der Notwendigkeit der Einübung in eine solche Scheidungskunst aus. Wenn das zutrifft, was Nietzsche über die Folgen des Endes der Metaphysik gesagt hat — und
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niemand zweifelt heute mehr daran, daß die Metaphysik am Ende ist —, dann hätte jede Wünschbarkeit unter den Bedingungen des Nihilismus nur in dem Maße eine Chance, verwirklicht zu werden, wenn eine Macht den Wunsch realisierte und gegenüber widerstrebendem Willen auch durchsetzte. Dies ist aber nicht die ganze Antwort Nietzsches. In der „Genealogie der Moral" finden wir noch ein anderes Kriterium, nach welchem Nietzsche zwischen stark und schwach geschieden hat. Ich meine ein anderes Kriterium der Unterscheidung zwischen aufsteigendem und absteigendem, starkem und schwachem Leben. Es ist das Kriterium des Leidens. Dem Unterschied von stark und schwach geht eine Erfahrung voraus, die Nietzsche das Leiden nennt. Stark und schwach, vornehm und gemein, gut und schlecht, allen diesen Scheidungen geht das Vermögen voraus, Leiden zu bejahen. Die in der Metaphysik begründete Moral und das asketische Ideal waren die Voraussetzung, unter denen das Tier Mensch einen Sinn hatte. Sieht man vom asketischen Ideal ab, dann hatte das Dasein kein Ziel. „Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; ,wozu Mensch überhaupt?' — war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch größeres ,Umsonst!' Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand — er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Problem seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage ,wozu Leiden?' Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an sich nicht das Leiden, er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag — und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! Es war bisher der einzige Sinn." 1 2 Wenn man den Menschen auf den Grund geht, dann wird man als diesen Grund die Erfahrung des Leidens finden. Was heißt hier Leiden? Was wird von Nietzsche als Leiden angesprochen? In der Tat wäre auch schon die Frage nach Gott gegenstandslos, wenn nicht am Grunde des In-der-Welt-seins des Menschen eine Frage, ein Problem läge, auf das sich alle Rede von Gott beziehen kann. Wenn es ein solches radikales, den Menschen in der Wurzel seines Daseins bestimmendes Problem nicht gibt, oder wenn gesagt und geglaubt wird, daß es eine Sache der Organisation und der gesellschaftlichen Produktion sei, einschließlich der eines neuen Menschen, die Frage unnötig zu machen, dann wäre in der Tat die Frage nach Gott erledigt. Nietzsche dagegen 12
GM III 28; SA II 899.
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hält die Erfahrung des Leidens für unumgänglich. Das Leiden macht den Rang des Menschen aus. Er kann mehr leiden als irgendein Wesen sonst. Die Notwendigkeit, alle Formen unnötig gewordenen Leidens abzuschaffen, berührt diese Einsicht Nietzsches nicht. Leiden heißt für Nietzsche: Der Mensch kommt her von einem an der Wurzel seines Daseins liegenden Bruch, von der Erfahrung einer Entzweiung seiner selbst und seiner Welt. Diese Entzweiung wird von Nietzsche in der „Genealogie der M o r a l " nicht angesetzt als Resultat einer entzweienden Praxis der Metaphysik. Man sagt heute die Entzweiung sei das Resultat einer theologischen oder metaphysischen Praxis oder sie sei das unbegriffene Resultat eines erst in der Geschichte eingetretenen Bruches von Welt und Mensch. „Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand — " . 1 3 Der Mensch erfährt sich also selbst im Zusammenhang einer Welt, auf die er angelegt und auf die er angewiesen ist, die ihm aber gleichzeitig entgegen ist. Wenn das Entgegensein dessen worauf man angelegt und angewiesen erfahren wird, dann macht der Mensch die Erfahrung des Leidens. Er erfährt die Welt, die in einem für ihn entscheidenden Belang die Tendenz hat ihn zu verneinen. Aufgrund dieser notwendigen Erfahrung des Leidens gab das asketische Ideal dem Dasein einen Sinn, und zwar darum, weil sich der Mensch in der Metaphysik aus der Fraglichkeit seiner selbst rettete in eine Welt ewigen beständigen und wahren Seins. Er rettet sich aus der Faktizität seines Leidens, indem er sich in der Bewegung des Ressentiments, ohnmächtig, die Wirklichkeit zu verändern, gegen diese kehrt und sie denunziert. Nach dem Verfall des asketischen Ideals bleibt daher die Frage nach dem Sinn des Leidens ohne Antwort. Das Leiden aber bleibt. An dieser Stelle wird der grundlegende Gegensatz Nietzsches zu Marx deutlich. Im Marxismus geht es um eine Welt, in welcher der Mensch nicht mehr gezwungen ist, auf das Leiden zurückzukommen. Für Nietzsche aber ist eine Praxis der Beseitigung aller Formen und Gründe des Leidens für den Menschen unmöglich. Von der Vision einer Welt ohne Mangel ist die Ideologie der Wohlstandsgesellschaft ja genauso bestimmt, wie der Kommunismus am überzeugendsten in der Verheißung sich manifestiert, das Problem des Todes endlich praktisch zu lösen. Entweder wird eine Welt erhofft, in der Mangel und Tod nicht mehr sein werden, oder Mangel und T o d werden wenigstens aus der Öffentlichkeit verdrängt und unkenntlich gemacht. Wo sie sichtbar werden, dürfen sie nur als Aufforderung verstanden werden, die Welt zu verbessern. Welches ist nun das Gegenideal Nietzsches zum asketischen Ideal? Für Nietzsche ist der Atheismus, wie wir wissen, nicht der Gegensatz zur Metaphysik, sondern die auf ihren Kern reduzierte Metaphysik. Er ist die Katastrophe, insofern er den 13
ebd.
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katastrophalen Charakter aller bisherigen Geschichte offenbar werden läßt. Er verneint alle Ideale, gibt keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn, aber er hält in der Askese gegen das asketische Ideal an der Voraussetzung dieses Ideals fest, nämlich an seinem Willen zur Wahrheit. Er ist die Katastrophe, weil er am Willen zur Wahrheit festhält und gleichzeitig alles, was auf diesem Willen beruhte, negiert. Das ist der Selbstwiderspruch, in welchem die in ihre Vollendung eintretende Emanzipation nicht bleiben, den sie aber auch nicht aufheben kann, am wenigsten dann, wenn sie die Identität mit sich selbst jenseits der Wahrheit oder die Wahrheit jenseits der Identität will. Atheismus und Nihilismus verstehen sich falsch in Hinsicht auf ihre Voraussetzung. Sie wähnen, nach der Destruktion der Metaphysik und des Glaubens an einen weltüberlegenen Gott hätte es noch einen Sinn, nach Wahrheit und Sinn zu fragen. Denn indem sie die Wahrheit wollen und sei es die Wahrheit über die Metaphysik und den christlichen Gott, nehmen sie in Anspruch, was sie ausdrücklich verneinen. Sie glauben, daß es dann noch einen Sinn habe, nach dem Sinn zu fragen. Atheismus und strenge Wissenschaft sind für Nietzsche Formen der Verhüllung dieser Tatsache. Seit Kopernikus fällt der Mensch aus dem Zentrum heraus und wird zum Tier ohne Gleichnis und ohne Abzug. Es bleibt für Nietzsche die Notwendigkeit einer Uberwindung des Geistes der Rache. Will der Mensch nicht gleichnislos auf seine naturgegebene Animalität zurückfallen, dann muß mit der Uberwindung des Geistes der Rache der Geist des Verneinens überwunden werden. Nietzsche sagt nein zur Verneinung. Das Ziel besteht darin, zu einer vollständigen, das Ganze der Wirklichkeit umgreifenden Bejahung zu gelangen. Die das Ganze der Wirklichkeit umfassende Bejahung schließt die Bejahung des Leidens und der Zusammenhänge ein, die das Leiden unumgänglich machen. Der Atheismus soll durch eine alles Verneinen noch selbst verneinende Bejahung überwunden werden. Die Negation der Negation, die unendliche Negativität als ein notwendiges Moment der Verwirklichung von Freiheit, die bei Hegel die Bewegung des spekulativen Begriffs in seiner Unendlichkeit ausmacht, nimmt bei Nietzsche im Verlust der Christologie die Forderung an, die eigene Vernichtung noch als ein Moment der Steigerung des Lebens zu wollen und zu bejahen. 14 Das Subjekt einer solchen, auch noch die eigene Vernichtung in sich aufnehmenden Bejahung, nennt Nietzsche den Ubermenschen. Er hätte die Position jenseits von Gut und Böse erreicht. Wenn Nietzsche als die ethische Aufgabe im Zeitalter des Nihilismus die Uberwindung des Geistes der Rache bestimmt und ihre Erfüllung von Menschen erwartet, die aus dem Geist der schenkenden Tugend handeln, dann hat, wie mir scheint, Nietzsche in der Form der 14
Günter Rohrmoser, Zäsur. Wandel des Bewußtseins. Stuttgart 1980.
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leidenschaftlichen Verneinung der christlichen Tradition die Substanz des christlichen Glaubens seiner ethischen Forderung, gegen seinen Willen, wiederentdeckt. Wovon sollte sich der Christ in seinem Handeln bestimmen lassen, wenn nicht von der Uberwindung des Geistes der Rache? Nur Nietzsche kann für diesen Glauben keinen Grund beibringen, es heißt, es bedürfte, kurz und schlimm genug, eben dieser großen Gesundheit! Nachdem Nietzsche aber die Geschichte in einer nichts auslassenden und alles erfassenden Erkrankung enden läßt, bleibt die Frage, wie der tödlich erkrankte Patient sein eigener Arzt werden kann, ohne Antwort. Nietzsche selber hat sich gerne in der Rolle des Arztes der Kultur gesehen und hat den Philosophen, wie Piaton, die Rolle des Gesetzgebers zugesprochen. Der geheimste Antrieb Nietzsches ist der Versuch, durch die Erzeugung eines Bewußtseins umfassendster Verantwortung dem menschlichen Dasein ein Gewicht wiederzugeben, das in der neuen Unschuld leicht verloren werden kann. Er wußte, daß mit der Religion der Ernst aus dem menschlichen Leben hin weggenommen wird. Die Anarchie der Triebe, die die menschliche Gesellschaft mit ihrer Selbstauflösung bedroht, brachte Nietzsche vom Weg einer ästhetischen Rechtfertigung, den Herbert Marcuse wieder einschlug, ab und ließ ihn zu dem Kritiker der Moderne werden, der in der Ethik das Fundamentalproblem erblickte, von dem die Zukunft des Menschen abhängen wird. „Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf — ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen?" 15 Mit dieser Frage ist das Grundproblem Nietzsches am klarsten umrissen, das sich aus der Destruktion aller bisherigen Moral am Leitfaden einer kompromittierenden Genealogie ergibt. In einer anderen Richtung als Marx zieht Nietzsche Konsequenzen, die im Prinzip der Natur, wie sie der neuzeitlichen Naturtradition zugrundeliegt, angelegt sind. Während Marx aus der technologischen Unterwerfung der Natur im fortgeschrittenen Kapitalismus den Schluß zieht, daß, nach einer revolutionären Veränderung der Eigentumsordnung, eine Gesellschaft ohne Herrschaft möglich sein wird, folgert Nietzsche aus der Freisetzung der geschichtslos abstrakten Natur durch die bürgerliche Gesellschaft die Totalität von Herrschaft. Indem Nietzsche von der Züchtung des Menschen zu einem Tier, das versprechen darf, spricht, stellt er die Forderung nach einer Selbstherstellung des Menschen, der die Mittel technischer Naturveränderung und ihrer Beherrschung nun auf sich selbst anzuwenden gezwungen ist. Der Verfall überkommener gesellschaftlicher Herrschaftsordnung entläßt den Menschen nicht aus dem Zwang einer Formierung seiner eigenen Natur, sondern wirft zum ersten Mal die Frage auf, wodurch der Mensch nun ge15
GM II 1; SA II 799.
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seilschaftsfähig gemacht werden kann. Ein Tier, das versprechen darf, ist ein Wesen, das für seine eigene Identität auf Zukunft hin einstehen und gut sagen kann und damit fähig wird, Zukunft zu wollen und zu verantworten. Der Ansatz, den Nietzsche mit Hobbes und Marx teilt, besteht in der Gleichsetzung des Werdens des Menschen mit dem Entstehen der Gesellschaft als Herrschaft. Mit der Naturrechtstradition der Neuzeit geht Nietzsche von der essentiellen Unvereinbarkeit des natürlichen Menschen mit seiner gesellschaftlichen Existenz aus. Als Naturprodukt ist der Mensch für Nietzsche ein Tier, das in der unmittelbaren Einheit mit dem jeweiligen Augenblick zum Leben in der Gesellschaft so unfähig ist, daß er erst Mensch in und durch die Gesellschaft wird. Erst die Gesellschaft macht ihn zum Menschen. Der Mensch ist das Produkt seiner Selbstherstellung, die ihr Maß in der Natur hat. Da aber die Natur in ihrer gesellschaftlichen Verfassung die ungebändigte, in sich maßlose Natur ist, bedarf jede Ordnung eines Gesetzgebers, der sie setzt und durchsetzt. Das Wesen der Gesellschaft ist die Gewalt, die Geschichte ist die Geschichte der grausamen und gewalttätigen Verwandlung des Tiermenschen in ein gesellschaftliches Wesen. Die Grausamkeit bestimmte das Wesen der Praxis, durch die dem Menschen ein Gedächtnis, eine Identität eingebrannt wurde. Die Geschichte menschlicher Kultur nimmt in der Interpretation Nietzsches die geheimsten Antriebe der modernen Kulturrevolution vorweg, sie ist die vergeistigte und verinnerlichte Form einer Grausamkeit, durch die sich der Mensch dem schweifenden Dasein der Vorgeschichte entrang. Noch in der Verdrängung durch die Kultur setzt sich die Vorgeschichte fort in jener selbst. „Je schlechter die Menschheit ,bei Gedächtnis' war, um so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche; die Härte der Strafgesetze gibt insonderheit einen Maßstab dafür ab, wieviel Mühe sie hatte, gegen die Vergeßlichkeit zum Sieg zu kommen und ein paar primitive Erfordernisse des sozialen Zusammenlebens dieser Augenblicks-Sklaven des Affektes und der Begierde gegenwärtig zu erhalten." 16 Von gemeinsamen Voraussetzungen mit Marx ausgehend, kommt Nietzsche zu einem entgegengesetzten Schluß: Herrschaft ist die essentielle, nur durch den Verfall des Menschen und der Gesellschaft aufzuhebende Bedingung seines Menschseins. Die Emanzipation aus der Geschichte geht also in eine vom Marxismus falsch prognostizierten Richtung. Diese Einsicht Nietzsches ist um so bedeutsamer als er mit Marx von der Notwendigkeit einer Destruktion der Geschichte überzeugt ist. „Im Menschen ist so viel Entsetzliches! . . . Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus! . . ." 1 7 Der Verdacht gegen die bisherige Moral ist Nietzsches äpriori. Er ist nicht zu begründen, sondern begründet sich im Leiden, im Ekel am Anblick des gegenwärtigen Menschen, der sich für das Ziel und die Vollendung des Welt16 17
GM II 3; SA II 803. GM II 22; SA II 834.
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prozesses hält. „Was zu fürchten ist, was verhängnisvoll wirkt [. . .], das wäre nicht die große Furcht, sondern der große Ekel vor dem Menschen; insgleichen das große Mitleid mit dem Menschen. Gesetzt, daß diese beiden eines Tags sich begatteten, so würde unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der ,letzte Wille* des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus." 1 8 Die Frage Nietzsches lautet also nicht Herrschaft oder Nichtherrschaft, sondern welche Art von Herrschaft läßt den Menschen gedeihen und welche ihn verkommen? Es ist die Frage Piatons. Nachdem aber bei Nietzsche die schon in der Tradition christlicher Theologie undurchschaute Gleichsetzung des biblischen Gottes mit der Platonischen Idee des Guten unaufgeklärt blieb, ist die Frage nach einem Prinzip, auf dessen Grund man über das Gedeihen des Menschen etwas sagen könnte, nicht zu beantworten. Die einer Theorie vom Ursprung der asketischen Moral zugrundeliegende fingierte Geschichte setzt genauso dogmatisch den abstrakten Naturbegriff neuzeitlicher Emanzipation voraus, wie das bei Rousseau der Fall ist. Nietzsche entrinnt nicht den Fallstricken eines negativen Rousseauismus. In der erfolgreichen Unterwerfung der Natur durch das, was nicht Natur ist, sei es Gott, Vernunft, Gewissen oder ein Ideal, vollzieht sich für Nietzsche keineswegs die Aufhebung der Macht in die Kultur, in ihrer Verinnerlichung und Vergeistigung setzt sie sich als die verdrängte indirekt und um so wirksamer durch. Geschichte wird zur Geschichte verdrängter Macht und ihrer Pathologie. Das marxistische Grundaxiom, nach dem alle Geschichte Geschichte von Herrschaft ist, wird von Nietzsche mit dem Ziel einer Rehabilitierung der Macht geteilt. Nicht die Bestimmtheit der Geschichte durch Herrschaft ist zu verurteilen, sondern ihr Mißlingen durch das Herrwerden des falschen Typus Mensch. Die bisherige Moral ist für Nietzsche nichts anderes als ein Instrument der Verfälschung und Verdrängung ursprünglicher Natur. Die Geschichte ist falsch und verkehrt von dem sie beherrschenden Prinzip einer Verneinung des Willens der Macht her und die in dieser Grundverkehrung gründende Moral erfüllt die Funktion, die Wirklichkeit zu maskieren und zu verbergen. Auch hinter dem Willen zur Verneinung der Macht steht ein Bedürfnis nach Macht. Auch hinter dem Willen zur Aufhebung von Herrschaft steht ein Wille zur Herrschaft. Das Phänomen des schlechten Gewissens wird für Nietzsche der Schlüssel, durch den er die verborgene, weil verdrängte Bestimmtheit aller Geschichte durch den Kampf um die Macht ebenso aufdeckt, wie er das schlechte Gewissen selber als ein Symptom ihrer mißglückten Verdrängung interpretiert. Die Hoffnung Nietzsches, aus einer erneuten Umkehrung der Vorzeichen, auf die sich die Umwertung der herrschenden Werte in ihrem praxis18
GM III 14; SA II 863.
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fähigen Gehalt reduziert, den Ausweg aus dem Verfall des Menschen zu finden, hat aber ebenso getrogen wie der Austritt des Menschen aus der Geschichte seiner Selbstentfremdung, wie sie von Karl Marx erhofft wurde. Die Neubestimmung des Sinns von Herrschaft durch Nietzsche, die sich als die Grundermöglichung menschlichen Gedeihens konstituieren soll, wiederholt in der Form der Negation den Entwurf Piatons zur Rettung der Polis. Nietzsche ist nicht unfreiwillig der zügelloseste Platoniker der Geschichte, wofür er erklärt wurde, er denkt vielmehr am Ende der Emanzipation die Philosophie Piatons um: Auf dem Boden des sophistischen Prinzips des natürlichen Willens zur Macht. „Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehören zueinander." Wie aus dieser zweiten Unschuld, die der ersten, der Vorgeschichte korrespondiert, der umfassende „Instinkt" des Geistes der Verantwortung wachsen soll, der Emanzipation nicht nur fordert oder bewußtlos vollzieht, sondern sie auch zu verantworten bereit ist, diese Frage vermag, wie mir scheint, Nietzsche nicht mehr zu beantworten. Wenn man die Gegenwart in der Perspektive Nietzsches als eines Zeitalters neuer Unschuld sieht, dann folgt sie der Logik des Schreckens, die Nietzsche als Konsequenz der Auflösung der christlich-bürgerlichen Moral prognostizierte. Sie wirft die Frage auf, ob der Kampf Nietzsches gegen die modernen Ideen als Relikt und Ausdruck seines elitär-aristokratischen Denkens allein angemessen gewürdigt werden kann. Seine Kritik an der fundamental-demokratischen Bewegung ist nach wie vor eine Provokation, von der man nicht behaupten kann, daß sie für uns keinen Anstoß mehr darstelle. Es geht, wie mir scheint, um folgende Thesen: 1. Der Sozialismus ist die unausweichliche Konsequenz des Rousseauistischen Demokratiebegriffs, zu dem es, in dem Maße, in welchem er in seiner Verwirklichung voranschreitet, keine Alternative geben kann. 2. Die Demokratie ist die Bewegung der Auflösung der Institutionen, die in den Anarchismus mündet und zum Ende des Staates führen wird. 3. Die Vollendung des modernen Demokratismus wird ihre Selbstaufhebung bedeuten und in eine neue Tyrannei umschlagen. 4. Das Gemisch aus demokratischen und sozial-anarchistischen Ideen ist das geschichtlich politisch folgenreichste Produkt der Agonie des Christentums, es setzt dieses voraus und kann nur durch einen Bruch mit der christlichen Herkunft bekämpft werden. Die anthropologische Mutation, die Nietzsche mit dieser Entwicklung verbunden sah, war für ihn die Herrschaft des letzten Menschen. Ist diese Sicht der Dinge wirklich nur ein Ausdruck von Nietzsches Idiosynkrasie? Eine andere Frage ist es, ob Nietzsche zu dem von ihm prognostizierten Verfall eine Alternative anzubieten hat. Ist Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht und
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der ewigen Wiederkehr der Boden, auf dem eine neue, eine höhere Moral wachsen kann oder endet mit ihr, mit der Destruktion der Idee des Sollens eine jede denkbare Gestalt von Sittlichkeit? Die Frage ist nicht leicht zu entscheiden. Auf der einen Seite verstand Nietzsche seine Moralkritik selber als ein moralisches Unternehmen, er verstand sie als einen Akt, durch den ein in der Geschichte traditioneller Moral erzeugtes, verfeinertes, strengeres Gewissen sich gegen sich selbst wendet und insofern setzt seine Moralkritik gerade die innerste Essenz der Moral voraus, die er destruiert. Auf der anderen Seite führt seine moralistische Interpretation der Genese der Metaphysik zu der sophistischen Gleichsetzung der als Natur gedachten Notwendigkeit mit dem Guten. Die Grundfrage Nietzsches: Was ermöglicht und fördert das Gedeihen, die Steigerung des Menschen und was läßt ihn verfallen und verkommen, trennt ihn ebenso radikal von den Tendenzen des gegenwärtigen Zeitalters wie sie ihn mit der Tradition verbindet, aus der er herkommt und die er bekämpft. Entweder ist das Letzte, das Äußerste, auf das man denkend zurückkommen kann, von der Art der Faktizität eines Faktums, eines Triebes oder eines wie immer zu interpretierenden Willens oder es ist von der Art dessen, was Piaton unter der Idee des Guten verstanden hat, die über das Sein noch hinausgeht und daher als das Prinzip einer möglichen Bildung und Beurteilung von Maßstäben dienen kann, ohne die eine Unterscheidung von gut und schlecht nun in der Tat sinnlos würde. Selbst die Unterscheidung von aufsteigendem und absinkendem Leben ergäbe dann keinen ausweisbaren Sinn mehr. Nun hat aber doch Nietzsche versucht, einen Maßstab zur Bewertung der Werte zu entwickeln, in dem er den Imperativ aufstellte: Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen — das ist der höchste Wille zur Macht. Höchster Wille? Also gibt es einen geringeren, eine niedere Form des Willens zur Macht? Müller-Lauter hat in seinem außerordentlich instruktiven Nietzsche-Buch gezeigt, daß der Wille zur Macht nicht als ein alles bestimmendes und beherrschendes Prinzip gedacht werden darf, so wie das Prinzip in der Geschichte der Metaphysik gedacht wurde. Es gibt nicht den oder einen Willen zur Macht, sondern mehrere, die im Kampf um ein Mehr an Macht stehen. Offenbar ist es ein plurales, agonales Modell, das Nietzsche vor Augen steht. Der Maßstab ist der gleiche, den auch Piaton zugrundelegte: Die Beständigung des an sich bestandlosen Werdens durch seine Bemächtigung und Ubermächtigung. Die Organisation des Chaos also, wie es Nietzsche genannt hat. Die Grundparadoxie Nietzsches ist der Versuch, unter Verzicht der Ideenhypothese den Entwurf Piatons am Ende der Moderne zu wiederholen und in der Form der Destruktion des transzendentalen Motivs zu revidieren. In der Anwendung auf sich selber hebt dieser Entwurf sich aber auf. Denn was ist das Denken Nietzsches, wenn man es auf ihn selber anwendet? Ein Ausdruck des Willens zur Macht, eine zufällig faktische Interpreta-
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tionshypothese, die dem Subjekt Nietzsche zuzurechnen eine sprachlich grammatikalisch bedingte Täuschung wäre, ohne Wahrheit und ohne Sinn. Der Wille zur Macht und die Lehre von der Wiederkehr hat Nietzsche völlig zutreffend ein Denkprojekt, ein Experiment genannt, durch das er versucht hat zu Ende zu denken, was wäre, wenn die Grundannahmen der Metaphysik und die auf ihnen aufgebaute Moral in jeglicher Hinsicht hinfällig geworden sind. Seine Argumentation folgt der Logik des Argumentes wenn-dann. Er konzipiert seine zentralen Lehren als züchtende Gedanken. Nietzsche ist ein zügelloser Platoniker, weil er glaubt, das Sein, die Physis vom Gedanken aus umschaffen zu können, sein Denken soll die Aufgabe einer selektiven Steuerung des evolutionären Prozesses übernehmen. Nietzsches Philosophie ist an niemanden gerichtet. Er entwirft ein Denkbild, das der Erzeugung eines neuen Typs von Philosophen dienen soll, der als Gesetzgeber eine neue Kultur, einen neuen Menschen, eine neue Moral schaffen soll. Es ist absurd zu unterstellen, Nietzsche selber hätte die neue Moral bereits entwickelt. Er vollendet nicht die Metaphysik, sondern die Aufklärung. Die Aufklärung hat für Nietzsche den Prozeß der Erkenntnis, der Gesetze und Mechanismen des Entstehens und Vergehens der Kulturen zu einem gewissen Abschluß gebracht und nunmehr steht die Menschheit vor der Aufgabe, eine universale Weltkultur mit Rücksicht auf das Wissen zu schaffen, das ihr die Aufklärung zur Verfügung stellt. Die Menschheit experimentiert mit der Wahrheit und kann dabei zugrundegehen. Nietzsche wußte, daß jeder Schritt über die Sicherung ihrer bloßen Erhaltung hinaus tödlich sein kann. Die zum bloßen Schein heruntergekommene Moral wird dann lebensgefährdend, wenn sie die verweigerte Wahrnehmung der Wirklichkeit sanktioniert. Als diesen die Wirklichkeit verstellenden Schein hat Nietzsche die Moral vernichtet. Die Begründung für ein der Totalität der Wirklichkeit entsprechendes Ethos der Verantwortung ist uns Nietzsche schuldig geblieben. Aber den Maßstab einer Annahme, einer Bejahung der Wirklichkeit als Voraussetzung eines Willens, sie zu verantworten, teilt er mit dem Grundwillen der alten Metaphysik. Wenn der moralische Standpunkt zu dem allein herrschenden wird, dann ist er selber das Produkt des Zerfalls der Sittlichkeit, die Nietzsche nur als die vorsubjektive der Sittlichkeit der Sitte verstanden hat. Hegel nannte das Pochen des moralischen Gemüts für das Wohl der Menschheit ohnmächtig und die zu sich selbst gekommene formelle moralisch absolute Subjektivität böse. In gewisser Weise ist Nietzsche mit seiner Moralkritik hinter der Radikalität zurückgeblieben, die sie bei Luther und Hegel bereits erreicht hatte. Die große Gesundheit, die Nietzsche beschwor ist ein fataler Ausweg. Die Restitution der faktischen Notwendigkeit der Natur ist ein verzweifeltes Unternehmen, wenn die Natur selber der Rettung bedarf . Der Preis des Verbrechens, weil es für Stärke zeugt, dem Nietzsche manchmal erlag, ist ein Ideal für Knaben und
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Unmündige. Was Nietzsche mit der Uberwindung des Nihilismus intendierte, war die Erzeugung, die Hervorbringung einer Kraft zum Nein nein zu sagen, die Bejahung auch noch der eigenen Vernichtung, die Einwilligung in die eigene Dekadenz, die Erneuerung des tragischen Bewußtseins, um seine tiefste Formel zu gebrauchen: Die Uberwindung des Geistes der Rache.
Diskussion Behler: Herr Rohrmoser, neben der dramatischen Betonung der Konsequenzen des Todes Gottes oder, wie Sie es genannt haben, des hermeneutischen Exerzitiums in Nietzsches Moralkritik, hat mich an Ihrem Vortrag vor allem die These interessiert, daß die Gegenwart mehr im Zeichen der Ängste als der Hoffnungen Nietzsches steht. Das impliziert doch wohl, daß die von Nietzsche gehegten Hoffnungen oder das von ihm entworfene Gegenideal bzw. das, was sich als solches zeigt, von der Gegenwart noch gar nicht eingeholt und begriffen worden sind. Ich stimme mit Ihnen überein, daß dieses Gegenideal nur sehr rudimentär entworfen ist. Die Frage, wie eine neue Verantwortlichkeit begründet werden kann, wird bei Nietzsche nicht voll beantwortet. Daher habe ich die von Ihnen skizzierten Züge von Nietzsches Gegenideal mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen. Darin kommen Gesichtspunkte zum Ausdruck, die in Heideggers Deutung oder in der marxistischen Nietzsche-Interpretation völlig fehlen. Ich denke z. B. an die Uberwindung des Ressentiments oder an die Uberwindung des Gefühls der Rache, in dem Sie ein wesentlich christliches Erbe gesehen haben. Ich möchte dies aber gern noch etwas ergänzt wissen durch die artistischen Züge, durch ein bestimmtes Raffinement in Nietzsches Geistigkeit, die ihn für viele Menschen unseres Zeitalters interessant gemacht haben. Thomas Mann, André Gide, Gottfried Benn u. a., die nicht so sehr an der Wiederherstellung von wesentlichen oder grundlegenden christlichen Prinzipien interessiert waren, sondern mehr an dem Artisten Nietzsche, an der künstlerisch gestalteten Dekadenz, haben uns dafür den Blick geschärft. Im Hinblick auf Nietzsches Werk denke ich dabei an Figuren wie die „guten Europäer", die „Artisten des Lebens", die „sehr freien Geister" — Gestalten, in denen man auch schon einen Gegenentwurf sehen kann. In ihnen finden sich exemplarische Möglichkeiten des Lebens nach dem Tode Gottes. Sie weisen auf eine Verantwortlichkeit hin, die sich zwar nicht im herkömmlichen Sinne der Pflicht und Schuldigkeit äußert, aber in einem Sinne der Verantwortlichkeit für die Gestaltung seines eigenen Lebens aus artistischen, an Wachstum und Produktion orientierten Prinzipien heraus. Hier herrscht ein Spiel mit Masken und Spiegeln, ein geistiger Zauber aus Wahrheit, Spott und Ironie. Auch darin äußert sich eine Art wiedergewonnener Unschuld. Für diese Artistik gibt Nietzsche in den von ihm selbst veröffentlichten Spätschriften unübertreffliche Beispiele. Hier braucht man gar nicht auf den Nachlaß zurückzugehen.
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Fischer: Herr Rohrmoser, am Ende des Vortrages haben Sie mit Nietzsche eine Vorstellung von einem zukünftigen Philosophen entwickelt. Mir ist aufgefallen, daß Sie das Wissen dieses zukünftigen Philosophen akzentuiert haben, und da möchte ich fragen, ob es sich nach aller Kritik an der Aufklärung, nach allem was Nietzsche kritisiert hat, tatsächlich um ein Wissen oder mehr um eine Vision handelt? Wieviel Intellektualität enthält das Bild vom künftigen Philosophen? Was geht darin von dem ein, was uns die vergleichenden Kulturwissenschaften vermitteln? Rohrmoser: Herr Behler, Sie haben vollkommen recht, denn ich habe in meinem Vortrag ja eigentlich nur einige Fragen mit Nietzsche an Nietzsche gestellt und habe dabei bestimmte Entwicklungen, Erfahrungen des 20. Jahrhunderts berücksichtigt. Diese Interpretation ist ganz sicher sehr selektiv, meinetwegen auch subjektiv, und sie sollte es auch sein. Es kam in der Tat sehr darauf an, das an Nietzsche in Erinnerung zu rufen, was in der Heideggerschen und in der marxistischen Nietzsche-Rezeption fast verschwunden ist. Ein anderes ist die von Nietzsche freigesetzte Positivität und artistische Produktivität, die Sie mit Recht betont haben. Nietzsche hat als große Macht der Befreiung gewirkt, sein Denken ist ein großer, weiter Schritt und Vorstoß im Prozeß der Aufklärung: Die Schiffe können wieder auslaufen. Aber es ist doch die Frage, ob diese Produktivität über die individuellen und artistischen Spielformen der Aneignung hinausgeht und ob gerade diese Züge die zukünftige Verantwortung, die die Menschheit nun für sich selber zu übernehmen hat, miterfassen. Vielleicht liegen hier in der Tat die Bedingungen der Formierung, der Züchtung, des Feststellens eines dauerhaften Typus, und auch die Voraussetzungen der geschichtlich neu zu sehenden und zu begründenden Verantwortung. Sicher ist, daß die artistischen Elemente bei der primitiven und auch deformierenden Form der Aneignung Nietzsches eigentlich nicht zum Zuge kommen. Bei all dem Reichtum, auf den Sie hingewiesen haben, ist das freilich erstaunlich. Zur Frage nach dem Wissen, die Herr Fischer gestellt hat: Ich glaube nicht mit Heidegger, daß Nietzsche die Vollendung und damit das Ende der Metaphysik darstellt; wenn überhaupt, würde ich Nietzsches Denken eher als ein neues Stadium in der Dialektik der Aufklärung ansehen. Nietzsche selber führt eine ganz neue Form herauf, eine ganz neue Phase der Aufklärung, die ganz entscheidend über die ersten Formationen des 18. Jahrhunderts hinausgeht, sie vorantreibt, und zwar so konsequent vorantreibt, daß die in der ersten Phase der Aufklärung noch unterstellten Selbstverständlichkeiten nunmehr selbst aufgeklärt werden. Insofern ist Nietzsche ein Stück Aufklärung über die Aufklärung. Was aber Nietzsche für die Aufklärung zu einer solchen Provokation werden läßt, ist die Konsequenz seiner Kritik, die letztlich auf die Selbstliquidation der Aufklärung älteren Stils hinausläuft. Wenn er nun
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das Problem einer ökumenischen Weltkultur konzipiert, dann knüpft er damit an einen eigenen frühen Gedanken an, nämlich an den Vergleich der Kulturen. Nietzsche sagt, daß das, was die Aufklärung uns zur Verfügung gestellt hat, dieser ungeheure Reichtum an Einblicken in die Konstitutionsgesetze, nach denen die Kulturen gebaut sind, auf Grund derer sie aber auch verfallen, daß dieses Wissen eigentlich destruktiv bleibt, wenn es nicht einen Typus des Philosophen gibt, der aus diesem Wissen etwas macht. Wie der platonische Philosophenkönig bedient er sich dieses Wissens sozusagen instrumentell und ermöglicht damit ein neues Kulturmodell, eröffnet eine Vision von einer denkbaren zukünftigen Gestalt des Lebens. Fischer: Liegt darin die „Einverleibung" des Wissens? Rohrmoser: Natürlich auch Einverleibung und auch dann noch einmal im Sinne der Radikalisierung der Kritik. Das heißt, er bringt eben alles das in die Fundamente des neuen Entwurfes mit hinein, was ihm als Resultat der modernen Naturwissenschaften, insbesondere der Evolutionstheorien, aber auch der Geschichtswissenschaften, als ein Chaos von Wissen mit den ja bekannten Folgen vor Augen steht. Baier: Sie haben darauf aufmerksam gemacht, Herr Rohrmoser, wie wenig Nietzsche an der Frage interessiert ist, mit welchen Mitteln wir uns als Gattung selbst erhalten können, sondern Nietzsches elementare Frage ist: „Wozu Selbsterhaltung?" „Wozu eigentlich Mensch?" Es ist die naive Kinderfrage, die plötzlich eine so enorme philosophische Bedeutung erlangt. Sie formulieren hier einen Gedanken, den ich in Ihrem Nietzsche-Buch auch schon gefunden habe 1 . Die Vergegenwärtigung Nietzsches in Westdeutschland nach 1945, die sicherlich in der Gestalt Arnold Gehlens kulminiert, hat m. E. die Frage „Wozu Selbsterhaltung?" decapitiert. Gehlens Moral und Hypermoral2, das eines der bedeutendsten Werke zur Moralphilosophie im Nachkrieg ist, präsentiert einen Pluralismus von Ethiken, wobei die Ethiken der Macht: die Ethik der Institutionen — contra Gemeinschaftsgesinnung und die Ethik des Staates — contra Familienethik eigentlich reduziert werden auf die kompenr satorische Frage: Welche Mittel haben wir, um uns als Gattung zu bewahren? Diese Verkürzung im Ansatz Gehlens hat sicherlich mit dem Dilemma nicht nur der deutschen Nietzsche-Rezeption, die sicher vielfältiger ist, sondern des Nietzscheanismus in der Bundesrepublik nach 1945 zu tun. Im Unterschied 1 2
G. Rohrmoser, Emanzipation und Freiheit, München 1970. A. Gehlen, Moral und Hypermoral, Frankfurt 1969.
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zur französischen und italienischen Nietzsche-Rezeption, und man kann auch sagen zum französichen und italienischen Nietzscheanismus, ist in der Bundesrepublik die Frage „Wozu Selbsterhaltung?" „Wozu Mensch?" oder sogar „Wozu Humanität?" gar nicht gestellt worden. Auch die große Debatte um die soziologische Systemtheorie blendet dieses Thema aus. 3 Wenn Niklas Luhmann sagt, der Zweck von Systemen sei Selbsterhaltung und diesen Zweck in Funktionserfüllung erschöpfen läßt, und wenn auch die Gegenargumentation von Jürgen Habermas, die ja auf eine Diskussion der nötigen Zwecke in einer Art Gesprächskultur ausläuft, die entscheidende, nämlich inhaltliche Antwort schuldigbleibt, dann sieht man sofort, daß hier eine Lücke, womöglich ein Tabu ist. Wir bleiben also in der Radikalität des Fragens, geschweige des Antwortens weit hinter Nietzsche zurück. Eine entsprechende Verkümmerung der Philosophie gibt es auch im Marxismus. Im Hinblick auf die großen Probleme des 19. Jahrhunderts auf die Fragen nach Mensch und Gesellschaft im Zeichen der Moderne ist Marx für mich der Zwillingsbruder Nietzsches. Beide stehen Rücken an Rücken, mit Blick und Ausgriff zwar in verschiedene Weltgegenden, jedoch gekettet an einen Ort der modernen Geschichte. Aber das wird heute kaum gesehen. Wenn z . B . Wolfgang Harich erklärt, die Diktatur der Arbeiterklasse sei das einzige Mittel zur Sicherung der Selbsterhaltung der Gattung, der einzige Weg, die Selbstzerstörung des Menschen durch die technisch-industrielle Zivilisation zu verhindern, dann ist auch bei diesem so gescheiten Kommunisten die Frage „Wozu Mensch?" oder „Wozu Gattung?" ebenfalls verdrängt. An diesem Punkt zeigt sich, wie sehr es darauf ankommt, daß wir uns endlich von der verbissenen Festklammerung an den Verdacht, Nietzsche sei ein Präfaschist, seine Fragen und Antworten führten nur in neue Katastrophen, endlich lösen und uns einem sozusagen postfaschistischen Nietzsche zuwenden. Wie es schließlich ein Verdienst der neuen Linken nach 1968 gewesen war, uns vom prästalinistischen Marx befreit und uns den Blick eines poststalinistischen Marx wieder geöffnet zu haben. Das muß man den Kollegen von Links — besonders der Frankfurter Schule in der Bundesrepublik und den USA — als ein Verdienst hoch anrechnen. Ähnlich wie wir nun wieder von Marx nach Katyn sprechen können, so sollte nun auch wieder von Nietzsche nach Auschwitz zu reden möglich sein. Rohrmoser: Zu Herrn Baier: Ich bin mit Ihrem Hinweis zu Gehlen vollkommen einverstanden. Was ist eigentlich — wenn wir mal Gehlen als Repräsentanten nehmen — das mit Nietzsche Gemeinsame? Es ist eigentlich die Tendenz dessen, was ich einen negativen Rousseauismus nennen möchte. Aber die 3
J. Habermas / N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfun 1971.
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Konsequenzen Nietzsches sind andere als die Gehlens. Gehlen hat offensichtlich einen ganz anderen Naturbegriff, zumindestens einen gegenüber Nietzsche modifizierten Naturbegriff, der ihn dazu zwingt, die Entfremdung in die Naturkonstitution des Menschen selber hineinzuprojizieren und damit das Programm einer Aufhebung von Entfremdung zu eliminieren. Bei Gehlen ist es die Aufgabe der Institutionen, die Organisation der mit der Natur des Menschen gegebenen Selbstentfremdung nach den Imperativen seiner Erhaltung zu konzipieren. Nietzsche kennt weder einen derartigen Begriff von der Natur des Menschen noch eine so angelegte Stabilisierungsfunktion der Institutionen. Ihren letzten Hinweis möchte ich ergänzen: So wie wir einen postfaschistischen Nietzsche brauchen, benötigen wir auch einen postmarxistischen Nietzsche. Man muß doch mal ganz nüchtern sehen: Das, was uns bisher daran gehindert hat, Nietzsche so zur Kenntnis zu nehmen, wie es ein in gewisser Hinsicht ja klassisch gewordener Autor verdient, ist doch einmal der Nationalsozialismus und ist zum andern die nach 1945 einsetzende Renaissance des Marxismus. Das ist aber nicht nur negativ zu verstehen. Die beiden Erfahrungen müssen selbst wieder in die neue Auslegung Nietzsches eingehen. Nur so kann man Nietzsche von einseitigen Verdeckungen frei machen. Die naive Kinderfrage ist heute eine wirkliche bewegende Grundfrage geworden. Nietzsche kann uns helfen, sie deutlicher zu stellen. Erlauben Sie mir noch eine grundsätzliche Bemerkung: Ich bin der Meinung, daß Nietzsche ernsthaft einen genetischen Anteil an dem hat, was man die faschistische oder nationalsozialistische Ideologie nennen könnte. Für den offiziösen geschichtlichen Gang der Diskussion um Nietzsche sind dadurch bestimmte Blockierungen geschaffen worden, die sich ja jetzt zum Teil von selbst abbauen und verflüchtigen. Wenn man z . B . die Ummontierung des klassischen Marxismus auf eine sogenannte kulturrevolutionäre Strategie beobachtet, so ist deutlich, in welchem Ausmaße Nietzsche präsent ist und ständig aktualisiert wird. Nietzsche wird fortwährend in Anspruch genommen und umfunktionalisiert. Er wird aber auch — wie das Referat von Herrn Grau gezeigt hat — als der Hermeneutiker der neuen Erfahrung in Anspruch genommen. Darauf, so meine ich, muß man aufmerksam machen. Taureck: Ich kann Ihnen nicht folgen, Herr Rohrmoser, wenn Sie eben in der Diskussion sagten, Nietzsche sei nicht, wie Heidegger sagt, als ein Metaphysiker zu verstehen, sondern eher als ein Vertreter der Aufklärung, und zwar im Zusammenhang der Dialektik der Aufklärung. Sollte das bedeuten, daß Metaphysik und Aufklärung zwei ganz verschiedene Dinge sind? Im Fortgang Ihrer Argumentation sagen Sie ja selbst, daß sich Nietzsche letztlich wieder Piaton zum Vorbild nehme. Piaton ist aber doch wohl ein metaphysischer Denker gewesen!
Diskussion
357
Schubert: Ich möchte auch Herrn Baier und Herrn Rohrmoser widersprechen, was die Ausdrücke postfaschistisch und postmarxistisch anbelangt. Ich meine, daß eine unbefangene Annäherung an die Kernpunkte von Nietzsches Denken durch solche Ausdrücke eher verstellt wird. Ganz abgesehen davon, daß m. E. die Gefahr des Faschismus immer entstehen kann. Baier: Ich habe von einem poststalinistischen Marx gesprochen. Ich bin nicht der Meinung, daß Marx durch Nietzsche überholt ist. Schubert: Wenn ich das richtig sehe, scheinen alle Fragen darauf hinzuweisen, daß der höchste Wert in Nietzsches Philosophieren stets der lebende, zeitgenössische Mensch ist. Also nicht das Gestern und auch nicht nur die Zukunft, sondern der lebendige Mensch in seinem realen, sinnlichen Leben — darin liegt der höchste Wert. Die schöpferischen menschlichen Leistungen, also alles, was wir zusammenfassen unter Wissenschaft, Kultur, Geschichte und vor allem die Kunst. Alle diese Ausdrucksformen der Menschen müssen dem Leben dienen als dem höchsten Wert. Im einzelnen darf ich noch zwei Ergänzungen geben, und zwar zunächst zum Problem der Wissenschaft. Nietzsche war ja der Uberzeugung, daß Wissenschaft weitgehend im moralischen Nihilismus befangen sei. Seine Forderung war, die Wissenschaft müsse zur sittlichen Verantwortung zurückkehren; sie müsse jederzeit bereit sein, die Verantwortung für die Art von Fragen zu übernehmen, die Wissenschaft überhaupt stellt. — Dann möchte ich noch auf die Problematik der Geschichte hinweisen: Die Geschichtswissenschaft ist für Nietzsche doch nicht allein der Feind der metaphysischen Tendenz, sondern, wenn ich ihn richtig verstehe, ist die Geschichtswissenschaft vor allem in der Gefahr, der Feind des Lebens zu werden. Leben gilt eben als der höchste Wert, und nur unter dieser Prämisse ist Nietzsches Entwurf einer kritischen Historie zu beurteilen. Die kritische Historie dient den Leidenden und der Befreiung Bedürftigen. Das ist die Forderung. Ich möchte schließen mit einer Frage zu Luther: Sie sprachen von Luthers dionysischem Lockruf. Es gibt aber auch bei Nietzsche ganz andere Einschätzungen Luthers, z. B. daß er die große Bewegung der Renaissance zum Halten gebracht habe (im Ecce homo). Welchen Stellenwert würden Sie diesem Urteil über den Reformator beimessen? Reschke: Ich möchte nur eine Frage zu Ihrer ganz am Anfang aufgestellten These formulieren, Herr Rohrmoser. Sie sagten, Nietzsche überhole Marx als Gesamtphänomen; zumindest hole er ihn ein. Mir ist bei Ihren Ausführungen nicht klar geworden, mit welchen Argumenten Sie diese These belegen. Die Unklarheit besteht auch im Hinblick auf die Äußerungen von Herrn
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Günter Rohrmoser
Baier, der von Marx und Nietzsche als den Zwillingsbrüdern sprach. Wenn man schon das Bild von den Zwillingsbrüdern gebraucht, dann sollte man, um genauer zu sein, von verfeindeten
Brüdern sprechen. Aber auch ich möchte
neben dem Gegensatz die Gemeinsamkeit der beiden betonen; sie sind verfeindet, aber
Brüder. Dafür lassen sich mehrere Gründe benennen: Beide
beziehen sich auf die gleiche Grunderfahrung, auf die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts annähernd in dem gleichen Zeitraum. Beide, glaube ich, gewinnen ihre Überlegungen aus der Sorge und der Beunruhigung über die sich abzeichnenden Möglichkeiten der gesellschaftlichen Moderne — ich will es erst einmal in dieser allgemeinen Formulierung sagen. Beide suchen nach M ö g lichkeiten, die drohenden Gefahren zu bannen, sei es im philosophischen G e samtexperiment — sicherlich die primäre Situation bei Nietzsche —, sei es auf der Suche nach den sozialen Trägern für mögliche Veränderungen, um das Ziel von Karl Marx auf allgemeine Weise zu umschreiben. Mir ist also von daher nicht ganz klar, welche Differenz Sie hier benennen. Unklar ist mir auch ein zweiter Gesichtspunkt Ihrer Ausarbeitung. Sie sprachen zu Recht von einem ungeheuren Satz bei Nietzsche, dem Satz vom untrüglichen Richter
Dionysos. D i e Bedeutung dieses Satzes würde ich
unterstreichen, würde aber eine ähnliche Überlegung auch bei Marx sehen, und zwar nicht nur beim frühen Marx, dem der Manuskripte, schen
ökonomisch-philosophischen
sondern bis hin zum Marx der Grundrisse
Ökonomie
und der Theorien
über
der Kritik
den Mehrwert.
der
politi-
W e n n man berück-
sichtigt, daß bei Marx, bei Engels übrigens auch, die Entfremdungsproblematik und die Überlegungen, wie diese Situation zu überwinden oder möglichst zu bannen sei, zu der Frage führen: „ W i e können wir die menschliche N a t ü r lichkeit wiedergewinnen?"
— dann wird eine tiefgehende
philosophische
Parallele deutlich. D i e Wiedergewinnung der nichtentfremdeten Beziehung Mensch — Mensch, die Emanzipation der Sinnlichkeit ohne Verzicht auf die Vernunft, diese
Rehabilitierung des Sensualismus sind Anliegen des Marxis-
mus, die sich auch bei Nietzsche finden. Freilich gebe ich zu, daß die Sinnfrage des
menschlichen
Daseins,
zumindest
von
der
Theorie
her,
von
der
marxistischen Theorie zu wenig berücksichtigt worden ist oder im Augenblick unterbelichtet ist. Aber ich möchte daran erinnern, wie eng „ S i n n " und „Sinnlichkeit"
zusammenhängen.
Im
übrigen
würde
ich
schon
genügend
Gemeinsamkeiten in der ähnlichen Situationsbeschreibung der Gesellschaft sehen und vielleicht auch Ansätze zu einer möglichen Synthese der alternativen Positionen von Marx und Nietzsche. Rohrmoser:
H e r r Taureck, Sie haben mich mißverstanden. Ich habe nur
gesagt, daß ich Nietzsche nicht mit Heidegger als die Vollendung, die sich selbst aufhebende Vollendung der Metaphysik interpretiere. D i e Frage, in
Diskussion
359
welchem Sinne man bei Nietzsche von Metaphysik reden kann, ist offen; wird uns in Zukunft noch stärker beschäftigen müssen. Nietzsches großes Problem zeigt sich ja dort am klarsten, wo er die Irrsinnsgeschichte der bisherigen menschlichen Kultur aufdeckt. Die Geschichte war zu lange schon ein Irrsinn. Darin liegt seine tiefgehende Differenz zu den Geschichtsphilosophien der Neuzeit. Liegt darin aber auch schon die völlige Abwendung von der Metaphysik? Zu Luther, Herr Schubert, gibt es bei Nietzsche eine Vielfalt einander völlig widersprechender Äußerungen. Die von mir zitierte relativ frühe Äußerung kommt später nicht mehr zum Zuge. Bei Nietzsches Lutherbild wäre die Frage zu stellen, wie weit das Bild von der Reformation, wie es der Jesuit Johann Janssen 4 gezeichnet hat, nicht Nietzsches Verhältnis zur Reformation einseitig bestimmt hat. Das bedarf weiterer Aufklärung. Aber dieser Satz über den Choral Luthers als einen dionysischen Lockruf finde ich faszinierend. N a türlich bedürfte er genauerer Betrachtung, was in diesem Referat nicht geschehen konnte. Ich habe seit langem vor, ein Buch über Luther und Nietzsche zu schreiben. Wenn die Zeit und die Götter es geben, werde ich das auch noch einmal tun und dann eine Antwort darauf versuchen. Mit Frau Reschke bin ich vollkommen einverstanden: Postmarxistisch heißt also nicht primär post Marx selber. Als „marxistisch" steht mir das vor Augen, was inzwischen als das Resultat aller marxistischer Theorie und Praxis anzusehen ist. Das Verhältnis Marx—Nietzsche ist sehr komplex, sowohl im Hinblick auf die Gemeinsamkeiten wie auch auf die grundsätzlichen Unterschiede. Hier besteht also keine Differenz, sondern die entscheidende Differenz ist — und das hängt mit Nietzsches Versuch zusammen, die Aufklärung bis an den Punkt ihrer Selbstliquidation zu Ende zu denken, daß Nietzsche, im Unterschied zu Marx, der ja jenseits der aufgehobenen Klassengesellschaft die anarchische Freisetzung des Freiheitsverständnisses in Aussicht gestellt hat, genau an diesem Freiheitsbegriff eine radikale Kritik übt. Hier liegt die tiefe Divergenz der beiden Deuter: Aus Nietzsches Sicht ist Marx nicht aufgeklärt genug. Marx hat überdies bestimmte Traditionen der Romantik, die ihn in der Frühzeit beeinflußt haben, nie revidiert. Bei Nietzsche ist das geschehen. Das ist ein Unterschied. Salaquarda: Angesichts der Kürze der Zeit möchte ich nur einige Statements machen und lediglich an einem Punkt ein wenig ausführlicher werden. Erstens — in metaphorischer Rede: Auch Jakob und Esau waren Zwillingsbrüder. Man könnte anhand von Leszek Kolakowskis hübschen Überlegungen die Frage stellen: Wer war nun eigentlich der Erstgeborene? 4
J. Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, Freiburg 1878-1888.
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Günter Rohrmoser
Wenn man schon solche Familienbeziehungen für das 19. Jahrhundert bildet, sollte man vielleicht noch einen dritten Denker erwähnen, nämlich Kierkegaard. Zweitens möchte ich, bei aller grundsätzlichen Zustimmung, eine Kritik anmelden: Am Ende des Referates schienen mir die Perspektiven sehr grob zu werden. Wenn sich Nietzsche, Piatonismus, Christentum usw. so zusammenfinden, daß einerseits zwar der Gegensatz andererseits aber auch die Kontinuität hergestellt ist, so werden Sie mir zugeben, daß man es sehr viel differenzierter machen müßte. Mein nächstes Statement bezieht sich auf das, was Sie im Anschluß an Herrn Baier ausgeführt haben. Ich meine, wenn einer in unserer Zeit die Frage „Wozu eigentlich Mensch?" aufgeworfen und mit immer größerer Intensität gestellt hat, dann ist es Heidegger. Diese Frage ist also keineswegs vergessen. Denken Sie nur an den Brief über den Humanismus. Darin ist Heidegger explizit darauf eingegangen. Ich will es nicht im einzelnen entwickeln, aber als solcher ist der Mensch, da stimmt Heidegger mit Nietzsche überein, nicht zu rechtfertigen; aber was bedeutet das angesichts der vollendeten Geschichte der Metaphysik . . .? Ob wir Heideggers Antwort folgen, daß ist eine andere Frage. Aber hier ist eine zur Gegenwart gehörende große Theorie, die gerade durch diese Frage bewegt wird. Und schließlich mein eigentlicher Punkt, angeregt durch Ihre Schlußfrage: Was mir an Ihrem Referat besonders einleuchtet, und was mit dem Thema dieser Tagung engstens zusammengehört, ist eben die nicht nur historische Auslegung Nietzsches. Ich bin ein großer Anhänger der Philologie und auch der Nietzsche-Philologie; aber die darüber hinausgehende Frage ist doch stets: Was ist uns Nietzsche wert? Was können wir mit ihm tun? Auch hier will ich nur andeuten: Ich meine, daß Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht recht verstanden ein wesentliches Instrumentarium heutigen Philosophierens sein kann. Dagegen kann das, was Nietzsche versuchsweise in verschiedenen Andeutungen vom Ubermenschen und von der ewigen Wiederkunft gesagt hat, als Problemanzeige seine wesentliche Bedeutung erhalten. Sie stehen für große Problemkonstellationen, können aber als solche nicht übersetzt werden. Am Beispiel der Wiederkunftslehre hat etwa Magnus5 sehr schön herausgearbeitet, daß wenn man sie ernsthaft auf den verschiedenen Ebenen diskutiert, überhaupt nichts wiederkehrt. So hat es nach Magnus den Anschein — und ich stimme vollkommen mit ihm überein —, daß es Nietzsche in dieser Lehre nicht um den Erweis einer bestimmten Zeit- oder Geschichtsstruktur, sondern um die radikale Betonung der Endlichkeit des Menschen
5
Bernd Magnus, Nietzsche's Existential Imperative, Indiana University Press 1978, Vgl. meine Rezension in Nietzsche-Studien 9, 1980, 432 ff.
Diskussion
361
geht. Von hieraus bietet sich auch ein ganz anderes Kriterium zur Bewertung der Nietzsche-Rezeption. Meine letzte Bemerkung knüpft an Nietzsches Fragment von 1887 über den europäischen Nihilismus an 6 . Mir scheint, daß wir hier vielleicht gar nicht so weit von Heidegger weggehen, weil es die Perspektive offen läßt, die Möglichkeit einer radikal endlichen Existenz wirklich ernst zu nehmen — ohne sie zu verabsolutieren, ohne zu sagen, es könne nichts anderes geben. Die traditionelle Metaphysik jedenfalls hat abgewirtschaftet. Ihr Rechtfertigungscharakter, ihre ideologische Bedeutung sind nunmehr durchschaut. Wir können nicht mehr sagen, wir brauchten sie und müßten sie deswegen in irgendeiner Form wieder repristinieren. Das Bedürfnis nach Metaphysik liefert keinen zureichenden Grund für sie. Wir müssen im Gegenteil die endliche Existenz bewußt auf uns nehmen. Das ist, so glaube ich, ein Schritt über den Nihilismus hinaus, den wir mit Nietzsche gehen können. Rohrmoser: Also ich muß doch offen sagen, jeder hat so seine fixen Ideen gerade im Umgang mit Nietzsche, davon ist keiner ganz frei. Meine fixe Idee ist — ich will es mal ganz zugespitzt formulieren — die These, daß Nietzsches Scheitern, richtig interpretiert, uns wieder auf Piaton zurückführt. Natürlich müßte das im einzelnen differenziert und begründet werden. Aber als Antwort auf Ihre letzte Bemerkung, Herr Salaquarda, muß es genügen. Was Sie vorher über Heidegger gesagt haben, finde ich sehr interessant, darüber muß ich einmal nachdenken. Ich habe das bisher anders gesehen, doch vielleicht haben Sie recht. Mir geht es aber vor allem darum, die Frage nach der Metaphysik zu klären. Wenn Sie den Aphorismus aus der Götzendämmerung „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde" nehmen: Da muß man doch fragen, was Nietzsche eigentlich von Piaton und was er von der Metaphysik verstanden hat. Das, was in dieser Deutung sichtbar wird, ist, daß er das Modell der Exklusivität von Metaphysik und Geschichte als ein selber Unreflektiertes zugrundelegt. Man kann aber sehr wohl das Verhältnis von Metaphysik und Geschichte anders als Nietzsche bestimmen und dabei ein Problemniveau bewahren, das von Hegel erreicht worden ist. Das Traurige ist eben, daß Nietzsche einen Schopenhauer zu seinem philosophischen Lehrer gehabt hat und erst ganz spät noch einiges von Hegel zur Kenntnis genommen hat. Folglich ist doch sehr ungewiß, ob Nietzsche überhaupt die neuen geschichtlichen Gestalten der Aktualisierung der Metaphysik, die Verschränkung von Metaphysik und Geschichte zur Kenntnis genommen hat, und ob er also beanspruchen kann, ein abschließendes Urteil über die Metaphysik zu fällen. 6
K G W V I I I 1, 5[71], S. 215-221.
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Günter Rohrmoser
MUller-Lauter: Obwohl es mir schwerfällt, verzichte ich als Diskussionsleiter darauf, zu der eben geführten Debatte auch noch ein Wort zu sagen. Ich beschränke mich auf den Heidegger-Fragenkomplex, der ja verschiedentlich anklang. Es ist sehr wichtig, was Herr Salaquarda gesagt hat. Seit der sogenannten Kehre wird der Mensch von Heidegger, expressis verbis im Humanismusbrief, als „Hirt des Seins" verstanden. Von daher gibt Heidegger seine Antwort auf die Frage Nietzsches. Ich möchte, gerade weil ich ja eine sehr kritische Darstellung von Heidegger gegeben habe, darauf hinweisen, daß gleichwohl viele Einflüsse — die im einzelnen nachzuweisen wären — von Nietzsche zu Heidegger führen. Es gibt eine Verwandtschaft zwischen beiden, die nicht dadurch beiseite gerückt werden darf, daß man Verkennungen und Fehleinschätzungen Nietzsches durch Heidegger in den Vordergrund stellt. Ich will nur etwas nennen, was bei Ihnen, Herr Rohrmoser, eine Rolle spielt. Es betrifft das Thema Zivilisation und Verfall. Wie Nietzsche versteht Heidegger die gesamte bisherige Metaphysik als Verfall — unter welchem Zeichen er ja allein Geschichte denkt, wie Sie ja kritisch in einer Rezension 7 angemerkt haben. Beide haben ein Modell von Geschichte, wenn auch keine Geschichtsphilosophie, in dem von einem relativ hohen Anfang ein Abstieg erfolgt ist. O b Sie ihn décadence nennen oder zunehmende Seinsvergessenheit, ist eine besondere Frage. Und bei beiden spielt die Erwartung, die Hoffnung eine Rolle, daß die Metaphysik überwunden werden könnte, wenn auch von verschiedenen Standorten aus und mit unterschiedlichem Metaphysikverständnis. Auch etwas scheinbar so Peripheres wie Heideggers Begründung für die Ablehnung des Rufes an die Berliner Universität im Jahre 1934 8 korrespondiert — in der Ablehnung des Lebens „in den großen Städten mit Nietzsche-Zarathustras Ekel vor der großen Stadt" 9 . Ein weiterer Punkt, der in Ihrem Vortrag eine Rolle spielt und auch noch Heidegger betrifft, liegt in Nietzsches Begriff und Verständnis der Rache. Sie haben gefragt, ob denn diese Auffassung nicht möglicherweise christliche Wurzeln habe oder mit christlichem Denken verwandt sei. Ich weise darauf hin, daß Heidegger sich auf diese Frage eingelassen hat, und zwar in Was heißt Denken?10, in jener Vorlesung, in der er ausführt, daß auch in der christlichen Glaubenslehre das „Es war" zurückgewollt werde: durch die Reue. Aber ganz spezifisch im Stil Heideggers gefragt: Was setzt die Reue voraus? Reue im
7
8
9 10
Günther Rohrmoser, Anläßlich Heideggers Nietzsche, in: N e u e Zeitschrift für systemat. Theol. u. Religionsphil. 6, 1964, 49f. Martin Heidegger, Schöpferische Landschaft: W a r u m bleiben wir in der Provinz?, in: Der Alemanne, Folge 9, 7. März 1934. Za III, V o m Vorübergehen. Martin Heidegger, Was heißt Denken? Pfullingen 1954, 4 4 .
Diskussion
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Verein mit Sündenvergebung verweist auf den ewigen Willen des erlösenden Gottes, und der ist metaphysisch gedacht. Zwar denke auch Nietzsche das ,Es war' metaphysisch, aber eben nicht vom ewigen Willen des erlösenden Gottes her, sondern in bezug zum Sein als Willen. Heidegger hat hier auf seine Weise zu differenzieren versucht: beides hat nach seiner Auffassung nichts miteinander zu tun. Figl: Herr Rohrmoser, Sie haben das Verhältnis Nietzsches zum Christentum und zu seiner Moral in einer eigentümlichen Dialektik gekennzeichnet. Einerseits ist er der große Analytiker dieser theistisch fundierten Ethik und erweist sie als grundlos. Auf der anderen Seite ist er aber auch der Nachfolger eines christlichen Ethos. Sie haben das angedeutet im Hinblick auf die Uberwindung des Geistes der Rache und in einem anderen Bereich auch im Verhältnis zur protestantischen Rechtfertigungslehre. Diese Dialektik (oder auch nur Ambivalenz) findet sich in Texten Nietzsches ebenso wie in der Rezeptionsgeschichte, hier besonders in den theologischen Arbeiten über Nietzsche. Meine Frage ist nun, ob Sie nicht vielleicht der Meinung sind, daß es für diese ambivalente Situation im Textbefund und in der Deutungsgeschichte eine gemeinsame Wurzel gibt. Diese muß nicht inhaltlich bestimmt werden. Sie könnte ja auch formaler Art sein, wie Sie dies etwa in dem Gedanken der Schule des Verdachts und des Mißtrauens — wohl in Anlehnung an Paul Ricoeur — formuliert haben. Gibt es eine gemeinsame Wurzel, und wo findet sie sich in Nietzsches Werk? Rohrmoser: Also, Herr Figl, darüber müßte man länger nachdenken. Jetzt vielleicht nur zwei Bemerkungen dazu: Der erste Punkt betrifft die eigentümliche dialektische Struktur des Argumentes, daß die Kraft, durch die Nietzsche kritisch die bürgerlich-christliche Moral aufhebt, selber ein Produkt der von ihm aufgehobenen Moral darstellt. Dialektik liegt hier in der Macht des Entsprungenen über den Ursprung. Der zweite Punkt bezieht sich auf die Tugend der Redlichkeit und der Wahrhaftigkeit. Die Frage ist, ob diese Kraft, die ja das moralische Motiv der Moralkritik selber darstellt, ob diese Kraft eigentlich auch die Bedingung einer neuen höheren Moral ist. Das ist ein Punkt, der auch noch der Klärung bedarf. Ein weiteres Thema, das ich jetzt nur nennen will, ist Nietzsches Begriff des Christentums. Was hat er verstanden und was hat er nicht verstanden? Was er nicht verstanden hat, ist so ungeheuer, daß man sich wirklich fragen muß, was ist eigentlich mit dem Herrn Nietzsche los? Es gibt Urteile von einer solchen Ignoranz, Infantilität und geradezu infamen Dummheit, daß man sich um Nietzsches willen nur schämen kann. Er liebt ja solch eine Sprache, warum soll man die nicht auch mal gegen ihn selber anwenden.
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Günter Rohrmoser
Montinari: Was Sie zuletzt gesagt haben, Herr Rohrmoser, findet meine Zustimmung. Zum Beispiel bin ich überzeugt, daß Nietzsche, wenn er Christentum und Mitleidsmoral identifiziert, am Christentum vorbeiredet. Hier steht er unter dem Einfluß von Schopenhauer, und ich sehe nicht ein, daß die Mitleidsmoral mit dem Christentum zusammenfällt. Aber das ist ein weites Feld. Ich neige ja auch zu der Ansicht, Nietzsches Denken als eine Form der Aufklärung anzusehen. Er hat selber von einer „neuen Aufklärung" gesprochen; das findet man auch im Nachlaß. Was sie am Ende Ihres Referats über den letzten Exzeß eines zügellosen Platonikers gesagt haben, das ist zwar schön formuliert, aber eine Kritik liegt darin eigentlich nicht, denn dieser Gedanke entspricht einer von Nietzsche selbst festgestellten Tatsache. Die Lektüre der letzten Fragmente Nietzsches erweckt manchmal den Eindruck einer Voreiligkeit, Nietzsche ist vielleicht vorschnell in diesen letzten Formulierungen, und man könnte meinen, er sehe die Züchtung unmittelbar vor sich und habe die verheerenden Folgen der ewigen Wiederkehr vor Augen. Aber das ist nicht so. Tatsache ist eben, was auch Herr Salaquarda angedeutet hat: die radikale Endlichkeit der Immanenz nach Gottes Tod oder vielmehr nach Gottes Ermordung durch den historischen Sinn. Es ist wichtig, uns weder durch die ersten faszinierenden Formulierungen Nietzsches aus der Zeit der Geburt der Tragödie blenden noch durch die letzten Aufzeichnungen zu stark beeindrucken zu lassen. Beachtenswert scheint mir vielmehr der Einschnitt im Sommer 1881, als Nietzsche seinen Entwurf über die Wiederkunft schreibt. Mit dieser Wendung beginnt, meiner Meinung nach, Nietzsches Experimentieren. Hier findet sich zum ersten Mal die sehr wichtige Formulierung von der „Einverleibung". Wiederkehr und Einverleibung führten für mich auf den Gedanken der Züchtung zurück. Die Einverleibung ist in den Augen Nietzsches ein sehr langwieriger Prozeß. Die Menschheit hat auf dieser Ebene eine neue Aufgabe, sich mit der Endlichkeit auseinanderzusetzen, sich diese Endlichkeit einzuverleiben. Gerhardt: Mein Beitrag schließt direkt an Herrn Montinari an und nimmt etwas von dem auf, was Herr Salaquarda vorhin gesagt hat. An Ihrem Vortrag, Herr Rohrmoser, finde ich richtig und beeindruckend, daß Sie die Moralkritik Nietzsches nicht nur im engeren Bezug zur Moral bewerten, sondern sie im Kontext seiner Kultur- und Gesellschaftskritik und seiner Kritik an der Geschichte insgesamt gesehen haben. Hier würde ich nun allerdings den Einwand machen, daß Sie die Radikalität Nietzsches, alle Bedingungen von Gesellschaft, Kultur- und Geschichtskritik zu revozieren, nicht genügend mitgedacht haben. Sie sagen mit Recht, daß Nietzsche an der Aufklärung die Säkularisierung des Gottesglaubens als eine Halbheit kritisiert.
Diskussion
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Was vorher im Glauben an Gott auftrat, wird vom aufgeklärten Geist als geschichtliche Erwartung gepflegt. Insofern ist es gerade der historische Sinn, der Gott tötet. Doch diese Wendung Nietzsches bedenken Sie m.E. zu wenig, wenn Sie aus ihm wieder einen Theoretiker künftiger Geschichte machen. Sie lassen ihn zu einem Visionär, zu einem Prognostiker werden, zu jemandem der sagen könnte, was jetzt in unserer Zeit wichtig ist und was daraus in Zukunft wird. Nietzsche hat aber gerade die Bedingungen einer solchen Fortschreibung von Geschichte, die Bedingungen von Prognosen auf der Basis geschichtsphilosophischer Hoffnungen, zu destruieren versucht. Seine Wiederkunftslehre muß man als Warnung verstehen, in die Fehler sowohl der alten Heils- wie auch der neuen Weltgeschichte zurückzufallen. Die Radikalität Nietzsches sehe ich darin: zwar die historische Existenz des Menschen anzuerkennen, aber sie nicht im Hinblick auf ein Ziel, das im 20. oder im 21. Jahrhundert oder weiß ich nach welchen „Revolutionen" liegen könnte, zu bestimmen, sondern sozusagen in einer Inversion auf den Augenblick in die Geschichte zurückzugehen und in der Geschichte zu bleiben. Es gibt bei Nietzsche keinen Fluchtweg aus der Geschichte — auch nicht den über die Zukunft in die Utopie. Das ist eine „schwere" Einsicht; sie muß ertragen werden. Die verschiedenen Formeln für den Augenblick, der Wille zur Macht oder die ewige Wiederkehr, die Betonung des künstlerischen Moments oder des großen Mittags, sehe ich als immer wieder unternommene Gedankenexperimente, alles Wissen zu kontrahieren auf das, was eben die eigentlich dionysische Einsicht ist: daß der Mensch ein endliches Wesen ist und von der Endlichkeit wissen muß. Ich glaube, von daher bezieht auch der „ungeheuerliche Satz" von dem Richterstuhl des Dionysos erst seine Ungeheuerlichkeit. Denn was könnte Dionysos anderes sagen als der weise Silen den Häschern des Königs Midas? Auf die Frage, was das Wichtigste für den Menschen sei, antwortet er, das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar, nämlich nicht geboren zu sein. Das Zweitbeste aber ist, bald zu sterben. Das ist die ungeheuerliche Antwort des Richters Dionysos. Rohrmoser: Ich will sofort auf Ihre Bemerkung, Herr Gerhardt, eingehen. Teilweise ist das, was Sie jetzt verlangt haben, im Vortragstext enthalten, aber beim Referat dem Zeitdiktat zum Opfer gefallen. Wenn Sie also sagen, Nietzsche versuche irgendwie die Zeit-Ewigkeits-Dialektik vom Augenblick aus zu denken, versuche also auch Geschichte vom Augenblick her zu entwerfen, dann ist das nur die eine Seite. Die andere Seite liegt aber darin, daß Nietzsche sagen kann, er könne schon die Geschichte der kommenden Jahrhunderte erzählen. Welches ist eigentlich die Logik, die ihm erlaubt, zu sagen, was kommt? Welche Art von Logik gestattet ihm, die Geschichte, die
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Günter Rohrmoser
kommt, heute schon zu erzählen? Was entgegnen Sie darauf? Auf der anderen Seite haben Sie recht. D a sind die modernen Ideen eigentlich nur die Endprodukte der Geschichte, der Aufklärung, die eigentlich immer nur von Ersatzgrößen, wenn ich es mal so einfach sagen darf, gelebt hat, von Größen, die sie an die Stelle Gottes gesetzt hat. Was Nietzsche eben im Vorantreiben der Aufklärung vollendet, ist die Demontage dieser Ersatzgrößen als „ G ö t z e n " . Er hat vielleicht das Kind und vielleicht sogar das Christkind mit dem Bade ausgeschüttet. Aber das ist eine andere Frage. Was Nietzsche aber sagt, konfrontiert uns mit der entsetzlichen Wahrheit über die Moderne. Was ist die Moderne? Es ist der konstitutionell gewordene, physiologische Selbstwiderspruch; es ist die unerträgliche Heuchelei, es sind die Halbheiten im Umgang der Moderne mit sich selbst. D a sehe ich die eminent moralische und zugleich zeitkritische Bedeutung von Nietzsches Moralkritik. U m zum Schluß noch einmal auf die Formel, die Herr Montinari und Herr Grau zitiert haben, zurückzukommen: Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen, das wäre der höchste Wille zur Macht. Ich behaupte, ohne das jetzt einlösen zu können: Besser kann man das, was Piaton gemeint und gewollt hat, eigentlich gar nicht beschreiben. Es geht bei Piaton, heideggerisch gesprochen, um die Beständigung durch eine Bestandsgebung des an sich seinslosen Werdens. Nietzsche hat eigentlich, wie vor ihm Piaton und nach ihm Heidegger, alles gedacht, was man denken und auch hypothetisch annehmen muß, um diesen Entwurf am Ende der Neuzeit zu verifizieren.
GÜNTER ABEL
NIETZSCHE CONTRA ,SELBSTERHALTUNG' S T E I G E R U N G D E R M A C H T U N D EWIGE W I E D E R K E H R I.
Mit dem Stichwort ,Selbsterhaltung' sind Vorstellungen verbunden wie: Suche nach Nahrung, Kampf ums Dasein, Sicherung der eigenen Existenz, des physischen Bestandes und der zeitlichen Dauer. Mehr oder weniger fraglos wird dabei unterstellt, daß alles Lebendige und gerade auch der Mensch aus sich selbst heraus diese Leistung aufzubringen nicht nur bestrebt, sondern auch prinzipiell in der Lage ist. Selbsterhaltung erscheint als die natürlichste Sache der Welt, gleichsam als das primäre Anliegen alles Seienden selber. Um so provozierender tritt uns aus Nietzsches Philosophieren die Behauptung entgegen, daß .Erhaltung' als Sicherung dessen, was ohnehin schon ist, bzw. als bloßer Verlustersatz entlang der Zeit bereits eine Verfalls- und Niedergangsform von .Leben' darstellt, dergegenüber es einen ursprünglich-aktiveren Kräftecharakter herauszustreiten gilt. Damit wird, so scheint es, über den gesunden Menschenverstand hinaus gerade eines der wesentlichsten Merkmale der neuzeitlichen Rationalität in Frage gestellt und überboten. Denn, wie die Arbeiten von H . Blumenberg, D. Henrich, aber auch schon von W. Dilthey, gezeigt haben, ist das Prinzip der Selbsterhaltung für die Entstehungsgeschichte der neuzeitlichen Rationalität und weit darüber hinaus von zentraler Bedeutung. 1 Erinnert sei an einige wenige Aspekte aus der Frühen Neuzeit, in der sich der Erhaltungsgedanke gegen eine bis dahin weitgehend dominante aristotelisch-scholastische Teleologie durchsetzt. Bei Hobbes ist es vor allem die Furcht vor einem gewaltsamen Tode, die bei den primären Individuen das Streben nach Selbsterhaltung auslöst und sowohl für das Leben des einzelnen als auch für dasjenige des Staates zum obersten Gebot und Prinzip der Vernunft werden läßt. Newton formuliert das 1
Vgl. H . Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, (1970), und D . Henrich: Die Grundstruktur der modernen Philosophie, (1974), sowie ders.: Uber Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung, (1976); alle Arbeiten jetzt in H . Ebeling ( H g . ) : Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankfurt/M. 1976. Vgl. W. Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Ges. Sehr., Bd. II, bes. S. 2 8 3 - 2 9 2 .
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Günter Abel
gleiche Prinzip mit Blick auf die physikalische Mechanik und die Bestimmung von Kräften. Die Materie besitzt in sich eine Widerständigkeit, die dafür verantwortlich ist, daß jeder Körper, soweit es an ihm ist, in seinem jeweiligen Zustand beharrt (perseverat in statu sui; vis inertiae). Und bei Spinoza schließlich läßt das Prinzip der Selbsterhaltung seine bereichsspezifischen Eingrenzungen (auf Anthropologie, Politik, Physik) hinter sich und wird abstrahierend zum Wesensmerkmal alles Seienden im Sinne spekulativer Ontologie und Ethik. „Conatus sese conservandi est ipsa rei essentia." 2 Es kann kein Prinzip gedacht werden, das diesem vorherginge. Wichtig ist dabei zu sehen, daß wir , Selbsterhaltung' weder auf einen bloß physikalistischen Naturalismus noch auf einen Biologismus oder Sozioökonomismus verkürzen dürfen, sondern daß sie als Bestimmung die Grundauslegung alles Lebendigen und Wirklichen selbst betrifft. Der Erhaltungsgedanke spielt bekanntlich auch für den Cartesianischen Gottesbeweis in der Dritten Meditation die entscheidende Rolle. Anders als später Spinoza hat Descartes dort seinen Beweis noch ganz im Rahmen der Lehre der creatio continua geführt, derzufolge die physische Existenz von Seiendem und dessen Dauer auch in jedem weiteren Zeitmoment nicht aus dem unmittelbar vorangegangenen Dasein notwendig folgt, sondern es vielmehr einer externen Ursache bedarf, die dieses auch in jedem folgenden Zeitpunkt von neuem schöpft und so in seinem Dasein erhält. Nietzsche wird, und das ist die Pointe dieser Erinnerung an Spätmittelalter und Frühe Neuzeit, auf die strukturell ähnliche Problematik, daß nämlich aus einer vorhandenen Veränderung nicht ohne weiteres auch schon auf ein fortwährendes Verändern zu schließen sei, mit seiner Lehre der von innen heraus wirkenden Kraftzentren, die als Willen-zur-Macht aufzufassen sind, antworten. Dies signalisiert bereits, daß sich der Erhaltungsgedanke gut als Hintergrundfolie für eine Interpretation von Nietzsches Denken eignet.
II. Neben dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen sind drei Momente für Nietzsches Philosophieren zu Beginn der achtziger Jahre und für seine Stellung zum Prinzip der Selbsterhaltung von hoher Bedeutung: die Kritik an der Lehre Darwins, die Aufnahme der Erhaltungs- und besonders 2
Spinoza: Ethica IV, Prop. 22, Dem. et C o r . ; Hobbes: De cive, praef.; Newton: Philos. nat. princ. math., Ausg. Horsley, Bd. II, S. 2; 13. — Zur Frage des Zusammenhangs des neuzeitlichen Prinzips der Selbsterhaltung mit der stoischen ,conservatio sui' im Rahmen des Neustoizismus vgl. von Verf.: Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin/New York 1978, S. 7—42 u . ö .
Nietzsche contra ,Selbsterhaltung'
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der Auslösungskausalität des Naturforschers J. R. Mayer und die nähere Beschäftigung mit der Lehre Spinozas. A. In den Auseinandersetzungen um Darwin und Haeckel besteht für Nietzsche die entscheidende Frage darin, ob mit der darwinistischen Lehre vom Selbsterhaltungstrieb die Grundbedingungen des Lebendigen überhaupt getroffen sind. Denn, was der „Dauer" des Individuums nützlich ist, könnte nämlich seiner „Stärke und Pracht" gerade ungünstig sein; „was das Individuum erhält, könnte es zugleich festhalten und stille stellen in der Entwicklung." 3 Würde es sich also bloß um Selbsterhaltung handeln, dann gäbe es gar keine Veränderung, keinen Wechsel, kein Geschehen. Von einschneidender Bedeutung ist nun, daß Nietzsche auf ein inneres Vermögen in jedem erreichten Zustand zu stoßen glaubt, gerade nicht sich erhalten 4 , sondern wachsen, über-sich-hinaus-, mehr-werden zu wollen. Andernfalls wäre eben gar nicht zu verstehen, daß auf eine Veränderung eine andere folgt. In dem Vorrang eines inneren, endogenen Vermögens und Strebens des Mehr-werden-Wollens vor allen äußeren Umständen finden wir also Nietzsches Antwort auf jene Problemlage, die Descartes noch mit der sachlichen Identität von externer conservatio und creatio lösen zu müssen glaubte. Das Wesentliche am Lebensprozeß ist aber gerade „die ungeheure gestaltende, von Innen her formschaffende Gewalt, welche die ,äußeren Umstände' a u s n ü t z t , a u s b e u t e t . . . " s Dieses Innere will aus sich heraus mehr-werden, will wachsen und ist Nietzsche zufolge selber bereits ein vielheitliches Kampfgeschehen von Teilen 6 , von Willen-zur-Macht. Darwins Kampf ums Dasein ist mithin eine späte Veranstaltung, die erst dann auftritt, wenn die internen Herrschaftsverhältnisse ein Gebilde relativer Einheit und Stabilität ausgebildet haben. Einer solchen Kritik am Darwinismus entspricht diejenige am Mechanismus. Auch das mechanistische Prinzip von Druck und Stoß setzt bereits, wie Nietzsche in ähnlicher Weise wie schon Leibniz betont, etwas voraus, was drücken und stoßen ,kann'. Wichtig ist dabei in unserem Zusammenhang zunächst und grundsätzlich, daß Bewegung und Veränderung, mithin Geschehen, nicht bloß auf die Erhaltung des Bestandes zurückzuführen sind und auch nicht bloß etwas exogen Verursachtes, sondern wesentlich etwas endogen Herausgebrachtes darstellen. B. Diese Einstellung Nietzsches trifft nun mit der Lehre des Naturforschers J. R. Mayer zusammen. Mayer hatte 1842 das Gesetz über die Erhaltung der Energie von einer den Physikern bekannten Fassung als Erhal3 4 s 6
K G W VIII 1 7[25], S. 312. K G W VIII 3 14 [121], S. 93. K G W VIII 1 7 [25], S. 312. Vgl. dazu W. Müller-Lauter: Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 189-223.
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tungssatz der mechanischen Kraft auf das ganze Gebiet der Naturkräfte erweitert und vermittels der Berechnung des mechanischen Wärmeäquivalentes auf einen sicheren Boden gestellt. Dabei wird der Erhaltungsgedanke von Mayer als der eigentliche Inhalt des Kausalprinzips vorgestellt. Doch hat Mayer auch gesehen, daß in diesem Kausalitätsprinzip nicht alle Ursachenphänomene aufgehen. Vielmehr spielt in der ganzen lebenden Welt der Zusammenhang ,kleine Ursachen — große Wirkungen' eine wesentliche Rolle. Damit wird der Blick auf ein Doppeltes freigegeben. Zum einen ergibt sich jetzt neben dem Erhaltungsgrundsatz ein weiterer und veränderter Kausal- und Kraftbegriff. Zum anderen scheint es gebundene Kraftpotentiale zu geben, die erst dann in Prozesse übergehen, wenn, so Mayer, sie „durch einen Anstoss eingeleitet werden". 7 Zu denken ist etwa an die „Auslösung" bestimmter Effekte (z. B. Knallgas — elektrischer Funke; Pulvertonne — Streichholz). Wichtig ist nun, daß hier zwischen Ursache und Wirkung keine quantitative, keine mathematisch berechenbare Beziehung mehr besteht. Wir können also eine Erhaltungs- und eine Auslösungskausalität unterscheiden. Und da die Gedanken über „Auslösung" die qualitative Seite allen Tätigseins von Lebendigem betreffen, haben sie, worauf A. Mittasch 8 erstmals hingewiesen hat, bei Nietzsche starke Aufnahme gefunden. C. Damit kommen wir zur dritten Komponente unserer Hintergrundkonstellation, Nietzsches intensive Beschäftigung mit Spinoza, im wesentlichen anhand des Spinozabuches von Kuno Fischer. Bei aller Nähe zwischen Spinoza und Nietzsche 9 steht für unseren Zusammenhang ein gravierender Unterschied zu erwarten. Das Wachsenwollen als Argument gegen Darwins Selbsterhaltungstrieb und das Herauslassen von bisher gebundenem Kraftpotential im Sinne von Mayers Auslösungslehre, dies sind Denkfiguren, denen gegenüber Spinozas ,conatus in suo esse perseverare' bei weitem zu wenig als eine Grundcharakterisierung alles Lebendigen erscheint. Nietzsche hat bei Spinoza (und dies zeigen seine Exzerpte und Notizen im Nachlaß sehr deutlich) sogleich und zentral den Zusammenhang von Selbsterhaltung, Nutzen und Macht (potentia) im Blick. In Fischers Buch konnte ihm dabei nicht verborgen bleiben, daß es schon bei Spinoza nicht nur um bloßen 7
8 9
J . R. Mayer: Ü b e r Auslösung, (1876), hier zit. nach ders.: Beiträge zur Dynamik des H i m mels, und andere Aufsätze, hg. von B . Hell, Leipzig 1927, S. 9 5 f . Vgl. dazu A . Mittasch: Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, Stuttgart 1952, S. 114ff. Auf der berühmten Postkarte an F . O v e r b e c k vom 30. Juli 1881 schreibt der begeisterte Nietzsche: „ I c h habe einen ,Vorgänger' und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: (. . .) in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in .diesen' Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit —; die Zwecke —; die sittliche Weltordnung —; das Unegoistische —; das Böse —; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Kultur, der Wissenschaft." - Vgl. W. S. Wurzer: Nietzsche und Spinoza, Meisenheim a. Glan, 1975.
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Erhalt der Macht, sondern um deren Mehrung geht. Aber er legt Spinoza auf den Gedanken der Erhaltung fest, und der Grund dafür ist wohl darin zu sehen, daß der Machtgedanke (entgegen der Ansicht Spinozas, für den die größte Macht in der Vernunft liegt und sich in der Uberwindung der Leidenschaften und in der Ubereinstimmung des Menschen mit sich selbst und mit anderen ausdrückt) allererst in den Kontext von Kampf und Leidenschaft gerückt und von diesem her gedacht werden muß, bevor er mit Nietzsches Anliegen verbindungsfähig wird. Vor diesem Hintergrund können wir nun den für das Denken Nietzsches wie für die Geschichte des neuzeitlichen Prinzips der rationalen Selbsterhaltung zentralen Aphorismus 13 in Jenseits von Gut und Böse verstehen: „Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft ,auslassen' — Leben selbst ist Wille zur Macht —; die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten ,Folgen' davon. — Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor überflüssigen' teleologischen Prinzipien! — wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inconsequenz Spinoza's)." Dieser These Nietzsches, daß nicht Selbsterhaltung, sondern Erweiterung, Mehrung, Steigerung und Kraftauslassung die Grundtendenz des Lebendigen darstellen, ist noch etwas näher nachzugehen.
III. Nietzsche demonstriert seine Auffassung etwa am Beispiel des Protoplasma, an der Grundlage also aller pflanzlichen, tierischen und menschlichen Zellen. Diese „unterste und ursprünglichste Thätigkeit" kann man nämlich nicht aus dem Prinzip der Selbsterhaltung ableiten, denn das Protoplasma „nimmt auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde: und vor allem, es ,erhält sich' damit eben nicht, sondern zerfällt . . ." 10 Der hier anzutreffende Wille zur „Accumulation von Kraft" ist „spezifisch für das Phänomen des Lebens". Dabei geht es in diesem Erweiterungsstreben um ,Macht', und das in den ganzen Raum ausstrahlende „ S t ä r k e r - w e r d e n - w o l l e n von jedem Kraftcentrum aus" muß als „die einzige Realität" 11 angesehen werden. Leben ist aber nicht nur eine Akkumulation von Kraft, sondern, weiter über sich hinaustreibend, „Auslassung" von Kraft. Selbsterhaltung ist so nicht bloß ein sekundärer, sondern bei näherem Hinsehen gleichsam ein nur tertiärer 10 11
K G W VIII 2 11 [121], S. 299. K G W VIII 3 14 [81], S. 53; vgl. ibid. 14 [186], S. 165.
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Aspekt, der erst als Folge der „Selbsterweiterung" 12 sowie der Ausbildung von Organisiertheit und Funktionalisierung auftritt, und dies gilt für alle Bereiche, in denen und als die sich Leben vollzieht, von der organisch-physiologischen bis hin zur kulturell-politischen Sphäre und ist zugleich ein Wollen und ein Müssen. Die sogleich aufbrechende Frage nach dem Wohin solcher Kraftauslassungen bekommt ihre Brisanz dadurch, daß Nietzsche alles teleologische Denken ablehnt. Die jetzt veränderte Sichtweise können wir dadurch verdeutlichen, daß wir mit Nietzsche zwei Arten von Ursachen unterscheiden: die „Ursache des Handelns" und die „Ursache des So- und So-Handelns". Die erste Ursache ist jenes „Quantum von aufgestauter Kraft", das auf seine Entladung wartet. Die zweite Ursache ist daran gemessen ganz unbedeutend, „ein kleiner Zufall zumeist, gemäss dem jenes Quantum sich nunmehr auf Eine und bestimmte Weise .auslöst': das Streichholz im Verhältnis zur Pulvertonne." Gfcwohnt sind wir freilich die umgekehrte Sichtweise, in Ziel und Zweck nämlich die „treibende" Kraft zu sehen. Aber der Zweck ist nur eine „ d i r i g i r e n d e Kraft". Man hat dabei „den Steuermann und den Dampf verwechselt." 13 Der Steuermann lenkt, aber er bewegt nicht.
IV. Die Auslegung allen Geschehens als endogene, von innen her sich vollziehende Aktivitäten macht Nietzsche zum dezidierten Gegner der Teleologie im Sinne jeder Art exogenen Vorgegebenseins von Zielen und Zwecken. 14 Dies bedeutet aber nun nicht, daß damit die Zweck-Problematik überhaupt entfällt. Nietzsche überbietet das als restteleologisch aufgefaßte Prinzip der Selbsterhaltung, bleibt aber auf der Ebene der jetzt unausweichlichen Frage nach der Selbstregulation und der Funktionalität der organisierten Herrschaftsgebilde an das Problem der Zweckmäßigkeit gleichwohl gebunden. Freilich 12 13 14
KGW VIII 1 2 [68], S. 90. KGW V 2, S. 289, FW 360. Die Frage der Teleologie spielt in den gegenwärtigen Diskussionen um die neuzeitliche Rationalität und darüber hinaus, etwa in der Wissenschafts- und in der Handlungstheorie, eine wichtige Rolle. Als Verteidiger teleologischen Denkens gegen den Geist der Neuzeit sind hier etwa R. Spaemann: Der Verzicht auf Teleologie, in: R. E. Verne (Hg.): Erfahrung und Erfahrungswissenschaft, Stuttgart 1974, S. 90—95, ders.: Naturteleologie und Handlung, in: Zeitschrift f. philos. Forschung 32 (1978), S. 481-493, aus rein Kantischer Perspektive J. Simon: Teleologisches Reflektieren und kausales Bestimmen, in: Zeitschrift f. philos. Forschung 30 (1976), S. 369—388 zu nennen. Zu Nietzsche allgemein vgl. H . P. Balmer: Freiheit statt Teleologie (Phil. Diss.,Tübingen 1972) Stuttgart 1977, S. 2 7 - 6 7 . Uns interessiert im folgenden die Frage der Zwecke im Rahmen der Erhaltungsproblematik und auf der Ebene der Willen-zur-Macht-Organisationen, d. h. der Herrschaftsgebilde.
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gilt es nachdrücklich auf den Unterschied zu achten: Zweck und Zweck sind nämlich zweierlei, je nachdem, ob er im Sinne exogener Teleologie oder im Sinne des endogenen Zwecke-Setzens aufzufassen ist. Ersteren Typus lehnt Nietzsche entschieden ab, der zweite dagegen liegt ihm gerade am Herzen. Die Willen zur Macht 15 ,sind' nur, insofern sie sich als Relationsgefüge von Reiz, Entladung, Auslassung und einverleibendem Ubermächtigen vollziehen. Sie, und mithin alles Wirkliche und Lebendige, sind nur ,als' Organisation, und zwar als Herrschaftsorganisation. Wenn sich nun solche Gebilde aber durch eine innere Regulationsbedürftigkeit auszeichnen, so könnten wir aus dem bisher Gesagten versucht sein, die Nietzsche provozierende These aufzustellen: zwar komme es zur Ausbildung von Herrschafts-Organisationen aufgrund der Auslassungen dynamischer Kraftzentren, diese Herrschafts-Gebilde selbst aber funktionieren dann doch genau wieder nach dem altbekannten und teleologisch bestimmten Organismus-Modell. Dagegen sind hier nur zwei Aspekte der jetzt veränderten Auffassung zu betonen. Zum einen ist festzuhalten, daß der Streit in Sachen Organismus weniger hinsichtlich eines gleichsam fertigen organischen Gebildes, sondern vielmehr hinsichtlich der Entstehung von Organismen geführt wurde. Erinnert sei, daß es das Problem der Entstehung der Arten war, das die Biologie von Buffon über Cuvier und Lamarck bis hin zu Darwin bestimmte. Und zum anderen läßt sich das Binnenfunktionieren eines Herrschaftsgebildes, wie Nietzsche dieses denkt, weder mechanistisch durch Druck und Stoß noch klassisch-organologisch durch eine harmonische Integration und Reintegration der Teile zur Mitte des Ganzen hin sowie als Leistung dieses Ganzen auffassen. Vielmehr handelt es sich um einen wechselseitigen und jeweilige Bewährung verlangenden Machtkampf, in dem selbst das Gehorchen noch als ein Widerstreben gedeutet werden muß. Leben ist eine „dauernde Form von P r o z e ß der K r a f t f e s t s t e l l u n g e n , wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen". 1 6 Vor diesem Hintergrund besteht die Möglichkeit, die internen Erhaltungstendenzen eines Herrschafts-Organismus nicht nur mit Nietzsches Konzept der Machtsteigerung zu vereinbaren, sondern die Selbst-Erhaltung aus der Machtsteigerung abzuleiten. Auch also auf der Ebene der Regulationsbedürftigkeit und des Binnenfunktionierens von Organismen/Organisationen verbleibt Selbsterhaltung in dem ihr zugewiesenen sekundären Status. Nietzsches Wende gegen eine mechanistische Erklärungsweise könnte ihn erneut an das teleologische Denken heranführen. Doch geht alles darum, gerade diese Gefahr aufzulösen. Hier sind u. a. zwei Momente von Bedeutung. 15
16
Vgl. W. Müller-Lauter: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1 - 6 0 . K G W VII 3 36 [22], S. 284.
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Zum einen müssen wir alle Bewegungen in und von Herrschafts-Gebilden (einschließlich derjenigen, die zur Abspaltung und Entstehung neuer Machtgefüge führen) als vollständig endogene, von innen heraus sich produzierende Auslassungsvorgänge interpretieren. Wenn wir dies aber tun, dann erscheinen alle ,Zwecke* gleichsam als späte, als nachträgliche Rationalisierungen. Die Existenz der Zwecke und selbst die Zweckmäßigkeit sind so aus den endogenen Vorgängen selbst abzuleiten. Zum anderen sucht jeder innere Funktionsteil sogar noch bei der Vergegenwärtigung des Organisations-Ganzen und im Gehorchen seine eigene Macht in den fortwährenden internen Kraft-feststellungen im Verhältnis zu allen anderen Funktionsteilen zu erhöhen.
V. Betrachten wir nun den die Selbst-Erhaltung überbietenden Steigerungsund Auslassungscharakter der Willen-zur-Macht noch etwas näher, so zeigt sich, daß dieser Nietzsche zufolge Interpretation' ist. Darin gründet der „interpretative Charakter alles Geschehens". 1 7 Vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten und bezogen auf die Frage nach der neuzeitlichen Rationalität können wir jetzt sagen, daß nicht bereits die intransitive und reflexive Selbsterhaltung, sondern erst deren immanente Überbietung, der mit dem Willen-zur-Macht-Geschehen verbundene Erweiterungs-, Steigerungs-, Auslassungs- und Interpretationscharakter die teleologische Auslegung von Geschehen hinter sich läßt, daß der Weg also von der aristotelisch-scholastischen Teleologie des Spätmittelalters über die neuzeitliche Selbsterhaltung zum interpretativen Charakter allen Geschehens bei Nietzsche führt. Darin erst erfüllt sich die eigentliche Intention der frühneuzeitlichen Rationalität, eine antiteleologische Endogenisierung alles Wirklichen nämlich zu erreichen. Doch hebt in dieser Überhöhung der neuzeitlichen Rationalität ineins auch deren Auflösung an. Nietzsches anti-teleologische Einstellung läßt sich in vier Richtungen skizzieren. Zunächst (a) ist festzuhalten, daß die scheinbaren Zweckmäßigkeiten, wie diese von Organisations-Gebilden nach außen hin erweckt werden, bloß die Folge jenes Stärkerwerdenwollens der Willen-zur-Macht sind, in deren Zuge sich Ordnungen, Funktionsgefüge bilden, die dann „einem Zweckmäßigkeits-Entwurfe ähnlich sehen". 1 8 Sodann (b) wäre die in Nietzsches 17
18
K G W VIII 1 1[115], S. 34. Zum Auslegungs- und Interpretationscharakter von Nietzsches Philosophieren vgl. K. Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin/New York, 4. Aufl. 1974, S. 2 9 0 - 3 3 0 , und W. Müller-Lauter, a . a . O . , S. 41-60. K G W VIII 2 9 [91], S. 50.
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Philosophieren angestrebte Erhöhung und Stärkung des Typus Mensch durch einen exogen vorgegebenen Daseinszweck blockiert. Schließlich (c) gibt es auch in Hinsicht auf das Ganze der menschlichen Geschichte keinen Zweck und kein Ziel. Und endlich (d) dürfen wir auch in bezug auf das All nicht von Teleologie sprechen. Das All ist kein Organismus. In einem solchen Glauben steckt vielmehr das „modern-wissenschaftliche Seitenstück zum Glauben an Gott". 1 9 So hat das All auch keinen Selbsterhaltungstrieb, es hat überhaupt keine Triebe. Vom Vollzugscharakter der Willen-zur-Macht her, der weder kausalmechanistisch noch teleologisch zu erklären ist, betont Nietzsche demgegenüber, daß es zwischen der Ursache und der schließlichen zweck-funktionalen Nützlichkeit eines Dinges weder eine kausale noch eine teleologische Verbindung gibt. Causa efficiens ist ebenso abzulehnen wie causa finalis. Vielmehr wird etwas Vorhandenes „immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Absichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen [. . .] umgerichtet". 20 Das Grundgeschehen des Ubermächtigens, d.h. des Funktionsaufprägens, wird als ein zurüstendes Neu-Interpretieren gefaßt, und so ist natürlich bereits auch die Bildung von Herrschafts-Organisationen als ein Interpretations-Geschehen aufzufassen. Die Auslassungen der Kraftpunktationen vollziehen sich als Interpretation*. Jeder Wille-zur-Macht „grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten"; selber ein„wachsen-wollendes Etwas" interpretiert er jedes andere Kraftquantum „auf seinen Werth hin". 2 1 Und alles, was den Anschein von Zwecken und Nützlichkeit hat, ist „nur A n z e i c h e n davon, dass ein Wille-zur-Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat". Die Geschichte solcher Gebilde kann dann als eine „fortgesetzte ZeichenKette" 22 stets neuer Interpretationen und Zurechtmachungen, gleichsam interpretativer Funktionalisierungen, gefaßt werden, wobei deren Ursachen wiederum nicht untereinander in einem Zusammenhang zu stehen brauchen und schon gar nicht einen Progressus auf ein Ziel hin darstellen. In mehrfacher Hinsicht also ist dem Geschehensprozeß kein teleologisches und auch kein kausal-mechanistisches Prinzip mehr eigen. Weder die Entstehung und Bildung von Organisations-Gefügen, noch deren inneres Geschehen sowie das Geschehen nach außen, noch deren innere wie äußere Entwicklung und Geschichte, noch auch die Ursachen der verschiedenen Interpretationen lassen sich mit Hilfe einer teleologischen und auch nicht mit einer kausal-mechanistischen Denkweise erklären und verstehen. Der InterpretaKGW KGW 21 K G W " KGW 19
20
V 2 11 [201], S. 420. VI 2 S. 329f.. GM II 12. VIII 1 2 [148], S. 137f. VI 2, S. 330, GM II 12.
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tionscharakter allen Geschehens macht zudem deutlich, daß es kein Dingan-sich, keine an-sich-seiende Wahrheit, keinen vorgegebenen Sinn gibt, sondern daß ein Sinn immer erst „hineingelegt" werden muß, damit es einen ,Tatbestand' geben kann. 2 3 Damit stoßen wir auf erkenntniskritische Probleme und auf die Zirkelhaftigkeit des Interpretierens. Dazu sind hier lediglich drei Aspekte im Hinblick auf die mit ihnen verbundene Verfraglichung des Objektivitätsideals der neuzeitlichen Wissenschaft, und das heißt präziser: der methodischen Rationalität, wie diese sich in den wertneutralen, empirisch-analytischen und/ oder formal-apriorischen Wissenschaften vollzieht, anzusprechen. Zunächst (a) ist auf den fiktiven Charakter allen Welt-Auslegens hinzuweisen. Der Mensch projiziert die vermeintliche Einheit seines Ich-Begriffes in das Wirkliche als dort zugrunde liegende Bestimmung (in Gestalt von Ding, Substanz, Zahl, Einheit, bis hin zu Zweck und Ziel) hinein und stellt so den eigentlichen fortwährenden Fluß allen Geschehens ,fest'. Wollte jemand aus der Welt der Interpretativität und der Perspektive herausspringen, so ginge er zugrunde. Dies ist der Punkt, von dem aus eine Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie sowohl Kantischer als auch analytischer und sprachphilosophischer Prägung zu führen ist. Dabei dürfen wir aber hinter die Interpretation nicht noch ein Interpretationss#&/e&£ dichten, sondern das Interpretieren selbst „hat Dasein". 2 4 Sodann (b) ist herauszustellen, daß auch die von der Wissenschaft vertretene Gesetzmäßigkeit der Natur „kein Thatbestand, kein ,Text', vielmehr [. . .] Interpretation" ist. 2 S Und schließlich (c) ist zu betonen, daß keine noch so intensive Selbstprüfung des Intellekts umhin kann, sich stets nur in und unter ihren eigenen perspektivischen Formen zu sehen. Es ist nicht möglich, „um unsre Ecke" zu schauen. Alle drei Aspekte geben den Blick darauf frei, daß die Welt „ u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n in sich s c h l i e s s t . " 2 6 Erst indem allem Wirklichen und Lebendigen ein vollständig endogenes und im Sinne der Akkumulation, Steigerung und Auslassung über das Prinzip der Selbsterhaltung immanent hinausgehendes Tätigsein zugesprochen und dieses endogene Geschehen der Willen-zur-Macht-Komplexionen wesentlich als ein funktionsaufprägendes Auf-seinen-Wert-hin-Interpretieren ausgelegt wird, haben wir die teleologische sowie die kausal-mechanische Denkungsart hinter uns gelassen. Hier erst erfüllt sich der innere Antrieb der neuzeitlichen Rationalität in seinem ganzen Ausmaß. Doch sind damit zugleich auch insofern Zeichen der Auflösung verbunden, als jetzt nämlich der Auslassungs- und 23 24 25 26
KGW KGW KGW KGW
VIII 1 2 [149], S. 138. VIII 1 2 [151], S. 138. VI 2, S. 31, JGB 22. V 2, S. 308, F W 374.
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Interpretationscharakter allen Geschehens an die Stelle des Prinzips der SelbstErhaltung tritt. Die immanente Uberbietung der neuzeitlichen Rationalität führt also gerade nicht zu deren Unerschütterlichkeit. Vielmehr scheint es, als treibe uns nicht nur die von Nietzsche diagnostizierte Erfahrung des ,Todes Gottes' und die ,Heraufkunft des Nihilismus' sowie das von Nietzsche positiv herausgestellte ,Chaos' (sowohl in uns, als auch des Gesamtcharakters der Welt), sondern gerade auch der zu Ende gedachte Interpretationsgedanke von neuem in eine Fremdheit der Welt und in das damit verbundene gnostische Syndrom, als dessen „zweite Uberwindung" H. Blumenberg die neuzeitliche Rationalität gekennzeichnet hat. Freilich geht es dabei nicht mehr um die dualismusnahen Positionen der Gnosis auf die Fragen ,unde malum, unde homo, unde deus?', um mit Tertullian zu sprechen. Vielmehr stellt sich auf der jetzt erreichten Ebene grundsätzlich endogener und in der Interpretation als dem Grundgeschehen alles Wirklichen gipfelnder Wende sowohl gegen die Teleologie als auch gegen die Kausal-Mechanik die Frage nach dem Woher der Interpretation? So sind für Nietzsche etwa das Auftreten und die mit Blick auf Vereindeutigung vorgenommene Auslegung eines Gedankens, auch das Nebeneinanderstellen und In-Verbindung-bringen von Gedanken und Bildern sowie das Gedächtnis und die Erinnerung im Grunde rätselhafte Geschehnisse, bei denen wir sicherlich „mehr Zuschauer [. . .] als Urheber" sind. In solchen Interpretations-Geschehen „drückt sich irgend etwas von unserem Gesammtzustande in Zeichen aus". 2 7 Doch kann man den Aufweis liefern, daß und in welchem Sinne wir Nietzsches Philosophieren als ein Bemühen auszulegen haben, der erneut drohenden Metaphysik der Gnosis den Einlaß zu versperren. Zum einen ist hier der mögliche Rekurs auf physiologische Aspekte und auf den ,Leib' als Ort des den Menschen ausmachenden Interpretations-Geschehens zu nennen. Das wertschätzende Auslegen ist selbst „ein S y m p t o m bestimmter physiologischer Zustände". 2 8 Jedoch handelt es sich dabei nicht einfach um einen Biologismus. Zum anderen aber, und im folgenden zu betrachten, kommt in diesem Zusammenhang der Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, vor deren Problematik wir jetzt durch unsere vier Gesichtspunkte (Erhaltung, Teleologie, Auslassung, Interpretation) geführt worden sind, zentrale Bedeutung zu.
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KGW VII 3 38 [1], S. 323 f. K G W VIII 1 2 [190], S. 159.
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VI. Die Wiederkunftslehre ist Nietzsches äußerste Anstrengung, nicht schließlich doch wieder aus der Auslegung alles Wirklichen als gänzlicher Endogenität heraus- und einer erneut drohenden Metaphysik der Gnosis sowie der mit dieser verbundenen Welt-Fremdheit, Welt-Ablehnung und Welt-Verneinung anheimfallen zu müssen. Doch scheint gerade auf dieser Ebene der Erhaltungsgedanke erneut ein Vorrecht zu erlangen, zum einen in Gestalt des Erhaltungssatzes der Kraft/Energie, der Nietzsche zufolge die ewige Wiederkunft „ f o r d e r t " 2 9 , zum anderen im Sinne des Imperativs, all unserem Erleben und Handeln den Stempel der Ewigkeit aufzudrücken, sich so ins Bleiben zu setzen und damit auf ewig zu .erhalten'. Und schließlich scheint es kaum etwas Teleologischeres zu geben als eine kreisförmig identische Wiederkehr aller Ereignisse der diese Welt ausmachenden Geschehensreihe. Mit Hilfe des bisher erarbeiteten Hintergrundes kann jedoch eine Deutung der Wiederkunftslehre gegeben werden, die den Erhaltungsgedanken auch auf dieser Ebene in seinem abgeleiteten Verhältnis zum Erweiterungsund Steigerungsstreben beläßt sowie die Teleologie im Sinne eines Ziel- und Endzustandes bzw. eines Ziel-Progressus gerade destruiert und dabei sowohl die Funktion und den Sinn der Wiederkunftslehre in und für Nietzsches Philosophieren als auch deren Stellung zur neuzeitlichen Rationalität zu bestimmen vermag. Dabei können hier nur einige wenige Momente angesprochen werden. 3 0 In Sachen Erhaltung läßt sich ein Doppeltes zeigen. Zum einen existiert ein bestimmter Zusammenhang zwischen der Wiederkunftslehre und dem neuzeitlichen Erhaltungsgedanken, wie dieser sich in dem auf Leibniz zurückgehenden Erhaltungssatz der Kraft/Energie ausspricht und seit Mitte des 19. Jahrhunderts zum obersten Prinzip aller wissenschaftlichen Naturbetrachtung aufgestiegen ist. Zum anderen aber ist der Erhaltungsgedanke auch auf dieser Ebene als genealogisch abkünftiger Ausdruck des ursprünglicheren Steigerungs- und Auslassungscharakters eines Willen zur Macht anzusehen. Auch hier geht die axiologische der gnoseologischen und ontologischen Dimension voraus, was sich u.a. darin zeigt, daß erst, wie schon Leibniz und Kant gesehen haben, der Erhaltungssatz die Welt als die Eine, in sich und aus sich heraus autonome und autarke Welt konzipieren läßt und überhaupt dem mathematisch-berechnenden Denken zugänglich macht. Und was
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K G W VIII 1 5 [54], S. 209. Zum folgenden sowie zu dem ganzen hier erörterten Zusammenhang vgl. von Verf.: Die Dynamik der Willen zur Macht und die Ewige Wiederkehr. Die Auflösung der neuzeitlichen Rationalität bei Nietzsche, (erscheint 1982).
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,Erhaltung' im Sinne des Stempels der Verewigung betrifft, so ist offensichtlich, daß hier der Steigerungscharakter das eigentliche Movens darstellt. In Sachen Teleologie und Wiederkunftslehre ist zu betonen, daß der Wiederkunftsgedanke jeden Zweck und jedes Ziel gerade ausschließt, gegen jedwede teleologische Ausdeutung der Welt konzipiert ist. So besteht etwa ein zentrales Argument des Wiederkunftsgedankens in der Überlegung, daß (da die Welt keinen endlichen Anfang in der Zeit hat und mithin bereits von Unendlichkeit her ist) ein möglicher Ziel- bzw. Endzustand des Weltprozesses bereits auch erreicht sein müßte. Demgegenüber streitet Nietzsche den Werdecharakter der werdenden Welt energisch heraus. Das Gesamtquantum der der Welt als Welt zur Verfügung stehenden Kraft ist eine feste, keine unendliche Größe. Die Vorstellung einer unendlichen, zu ewiger Neuerung fähigen Kraft ist mit dem Begriff der Kraft unvereinbar. Aber das Wesen der Kräfte ist flüssig, sie können nicht stillstehn, und in ihren Kombinationen und Konstellationen kann es von daher weder einen starren Gleichgewichtszustand noch auch, wegen der Gestalt des Raumes, eine Verflüchtigung geben. So bleibt Nietzsche zufolge nur die Möglichkeit, daß, aufgrund des Kraftcharakters, der Zeit-Unendlichkeit der Welt und der Gesamtgestalt des Raumes, die Geschehensreihen schließlich in sich zurücklaufen und wiederkehren. Die Wiederkunftslehre ist auf diese Weise der dem Mechanismus im Rahmen des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik (deren erster der Erhaltungssatz der Kraft/Energie ist) in Gestalt der Wärmetod-Hypothese gezogenen Konsequenz eines Finalzustandes gerade entgegengesetzt. Dabei ist wichtig zu sehen, daß für Nietzsche der Gedanke des Kreislaufs nicht mit dem „ C h a o s " des Alls im Sinne des Ausschlusses jeder Zwecktätigkeit im Widerspruch steht. Gegenüber der teleologischen Denkweise will Nietzsche gerade die „Unschuld des Werdens" wieder herstellen. Das Werden soll erklärt werden, ohne zu „finalen Absichten Zuflucht zu nehmen". 3 1 Das Werden ist in jedem Augenblick, und zwar ganz aus sich selbst heraus, gerechtfertigt bzw. unabwertbar. Es gibt da weder ein teleologisches Umwillen noch ein irgendwie moralisch-juridisches, gar erlösungsbedürftiges, sündhaftes Schuldigsein. Durch Nietzsches Philosophieren geht vielmehr die Aufforderung zu einer uneingeschränkten Bejahung allen Daseins ohne Abzug und Ausnahme, welches Ja-sagen er unter dem Titel ,Dionysos' und gerade auch in der Wiederkunftslehre zu seinem äußersten Anliegen gemacht hat. Das mit dem Steigerungscharakter und den Kraftauslassungen notwendig verbundene Nichthaltmachen auch vor der Selbstverschwendung, wie dies für das Dionysische als Inbegriff des aus- und überströmenden Lebens- und Kraftgefühls kennzeichnend ist, hat natürlich,
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K G W VIII 2 11 [72], S. 276.
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als Grundbestimmung alles Lebendigen, gar nichts mehr mit der Fessel der ,Selbst-Erhaltung' zu tun. Vor diesem Hintergrund kann nach Maßgabe unserer vier Leitprobleme eine Rekonstruktion und Deutung der Wiederkunftslehre gegeben werden, deren vielleicht wichtigstes Ergebnis zunächst darin besteht, daß eine Tiefendimension zutage gefördert wird, die dem scheinbaren Auseinanderfallen unterschiedlicher Text- und Argumentationsgruppen des Wiederkunftscorpus (Zarathustra vs. Nachlaß; auf die existenzielle Seite des Ubermenschen bezogene vs. wissenschaftlich-theoretisch-empirische Argumentation) immer schon vorausliegt, diese unterläuft und ihrerseits erst durchsichtig macht. Heute hat sich die Tendenz durchgesetzt, die sogenannten .wissenschaftlichen' Argumentationen Nietzsches aus dem legitimen Sinnbereich des Wiederkunftsgedankens auszuschließen. Dagegen hebt sich die von uns vorgeschlagene Deutung nach zwei Seiten hin ab. Dies geschieht zum einen gegenüber der von W. Müller-Lauter eingebrachten und von B. Magnus in seinem ganz der Wiederkunftslehre gewidmeten Buch aufgenommenen, dort breit ausgeführten und mit bestimmten Aspekten analytischen Philosophierens versetzten Deutung der Wiederkunftslehre als, einen zentralen Begriff Heideggers aufnehmend, das existenzielle In-der-Welt-sein des Ubermenschen. Dazu ist auch die von G. Deleuze gegebene Interpretation zu rechnen. 32 Zum anderen ist der Auffassung entgegenzutreten, die Wiederkunftslehre könne nur dann Gültigkeit beanspruchen, wenn sie im Sinne der Wissenschaft,beweisbar' ist. Für Müller-Lauter hat Nietzsche, indem er die Wiederkunftslehre als Theorie vortrage, „den ,wahren' Sinn der Lehre nicht nur verkürzt, sondern verkehrt." 3 3 Und Magnus liefert außerdem noch eine Argumentation, die den endgültigen Ausschluß der wissenschaftlich-theoretisch-empirisch durchsetzten Texte und Argumente Nietzsches aus dem legitimen Deutungshorizont der Wiederkunftslehre erreicht zu haben glaubt. Gegen diese Auffassungen sind u. a. zwei Momente herauszustreiten. 1. Die allein vom Konzept des Ubermenschen herkommende Deutung der Wiederkunftslehre als dessen existenzielles In-der-Welt-sein hat zwar den Vorteil, eine Einheit zu kennzeichnen, die vor aller Auftrennung von Subjekt und Objekt liegt. Doch besteht die Gefahr, daß darin ,Welt', und mit Blick auf Nietzsche müssen wir sagen: bloß, im Heideggerschen Sinne der zum Sein des menschlichen Daseins wesenhaft gehörenden Angewiesenheit auf das Begegnenlassen von Welt vorkommt. Dies aber ist für Nietzsches Lehre und 32
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W . Müller-Lauter: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New Y o r k 1971, S. 159. B. Magnus: Nietzsche's Existential Imperative, Bloomington & London 1978, S. XIII, 142 u . ö . G . Deleuze: Nietzsche et la philosophie, Paris 1962, dt. als: Nietzsche und die Philosophie, München 1976, S. 7 5 - 8 0 . W . Müller-Lauter, a . a . O . , S. 186.
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insbesondere für deren Weltbegriff, für den ursprünglichen Kraftcharakter der werdenden Welt, für dieses „Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte" 34 , deren der Mensch und ein jeder von uns eine bestimmte Ausgestaltung ist, bei weitem zu wenig und führt schließlich mit einer gewissen inneren Zwangsläufigkeit dazu, die vom Kraft- und Weltbegriff, d.h. vom KampfSpiel der Willen-zur-Macht her zu lesenden wissenschaftlich-theoretischen Texte und Argumentationen der Wiederkunftslehre abtrennen zu müssen oder zumindest nicht integrieren zu können. Wenn wir dagegen die ,Welt' und die Wiederkunftslehre vom Vollzugscharakter der Willen-zur-Macht-Organisationen her deuten und rekonstruieren, dann ergibt sich etwa auch ein Zusammenhang zwischen Wiederkunftsgedanke und Ubermensch, dem sich aber gleichwohl ,alle' Texte dieser Lehre fügen. Entscheidend ist dabei u.a. die Auflösung des alten Subjektbegriffs nach zwei Seiten hin. Zum einen als Rückgang hinter die nur scheinbare ,Einheit' des .Subjekts' in die Vielheit der Willen-zur-Macht-Komplexionen und das mit diesen gegebene Interpretations-Geschehen. Zu erinnern ist hier an die von Nietzsche geforderte Betrachtungsweise am „Leitfaden des Leibes", welcher uns, als „eine Vielheit mit Einem Sinne" 35 , eine angemessene Vorstellung von der „Art unsrer Subjekt-Einheit" gibt, als eines Regenten nämlich an der Spitze eines Gemeinwesens, der jedoch zugleich „von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitsteilung" abhängig ist. 36 Zum anderen und imperativisch nach vorn gerichtet wird der Subjektbegriff nach der Seite des Ideals des Ubermenschen hin überboten und aufgelöst. Die Pointe müssen wir dabei darin sehen, daß Nietzsches Philosophieren diese beiden Uberwindungsbereiche des alten Subjektbegriffs in ,einen', freilich äußerst spannungsgeladenen Zusammenhang jocht. Und aus dieser Spannung heraus läßt sich die Wiederkunftslehre in ihrem möglichen Sinn aufschlüsseln. Zentral sind dabei u.a. zwei Momente. Zunächst (a) ergibt sich aus der gänzlichen Endogenität des Willen-zur-Macht-Geschehens (in welchem „jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht" 37 und eine Kraft nichts anderes als ebendieses bestimmte Machtquantum ist) eine Notwendigkeit' allen Geschehens, die nicht exogen ,über' diesem steht, sondern endogen nichts anderes als das jeweils als Wirkung zur Verfügung stehende Kraftquantum selbst meint, welches in die fortwährenden Kraft-feststellungen, die wir Leben heißen, eingebracht wird. An diese innere Welt der Kampf-Spiele der Willen-zur-Macht-Quantationen reicht die kausal-mechanistische Notwendigkeit erst gar nicht heran. Die Mechanistik ist eine bloße Semiotik von 34 35 36 37
KGW KGW KGW KGW
VII 3 VI 1, VII 3 VI 2,
38 [12], S. 338. S. 35, Za I, ,Von den Verächtern des Leibes.' 40 [21], S. 370. S. 31, JGB 22; vgl. K G W VIII 3 14 [79], S. 50.
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Günter Abel
Folgeerscheinungen, und die Teleologie ist, wie schon Spinoza betonte, ein ,asylum ignorantiae'. Dabei ergibt sich aus der Verbindung der endogenen Geschehensnotwendigkeit mit einem für die mechanistische Betrachtungsweise gar nicht erfaßbaren, für alles Lebendige aber gerade grundcharakteristischen Streben nach einem ökonomisch-energetischen Maximalzustand ein entscheidender Zusammenhang mit dem Wiederkunftsgedanken. Verwandlung der Energie in Leben und Steigerung des Lebens zu höchster Potenz zeichnen die ökonomische Entwicklung der Gesamtkraft aus. Diese steigt „bis zu einem Höhepunkt und sinkt von ihm wieder herab in einem ewigen Kreislauf". 38 Sodann (b) ist der Ubermensch als diejenige Ausgestaltung des ,Lebens' aufzufassen, die, selber Wille zur Macht, die Willen-zur-Macht-Verfassung alles Wirklichen, d.h. deren Steigerungs-, Auslassungs- und Interpretationscharakter, explizit ergreift und in einem solch reinen Maße in sich steigert, daß er mit neuen Wertetafeln, mit einer neuen Interpretationsmatrix, sowohl vor die andere, äußere Natur als auch vor die Menschen tritt. Der Ubermensch ist hier derjenige erhöhte Typus, der die Zerreißprobe zwischen dem Imperativ zur äußersten Aufgipfelung einer vorbehaltlosen und uneingeschränkten Bejahung des Lebens im Wollen der ewigen Wiederkehr u n d dem identischen Kreislauf derselben Logik und Unlogik aller Verknotungen der diese Welt ausmachenden Geschehensreihe dionysisch in sich zum Austrag bringt. 2. Das andere hier zu nennende Moment betrifft den wissenschaftlichtheoretischen Aspekt von Nietzsches Wiederkunftslehre. Dessen Triftigkeit wird gewöhnlich mit dem Hinweis darauf zurückgewiesen, daß das Wiederkunftsargument sich weder wissenschaftlich-empirisch noch theoretischlogisch rechtfertigen und beweisen lasse. Doch hat dieser Ausschluß etwas Unbefriedigendes und ist letztlich auch nicht stichhaltig. Es werden dabei in der Regel nämlich zumindest fünf für den Umgang mit Nietzsches EwigemWiederkunfts-Gedanken fundamentale Gesichtspunkte nicht bedacht. Erstens ist herauszustreiten, daß — und dies ist unsere Grundthese — Nietzsches Wiederkunftslehre sich auf das Wie der endogenen Notwendigkeit des diese Welt ausmachenden Willen-zur-Macht-Geschehens bezieht. Damit ist eine Ebene gewonnen, die hinter die vordergründige Gegenüberstellung eines ,kosmologischen' und eines ,ethischen' Sinns dieses „Gedanken der Gedanken" 3 9 in ein ursprünglicheres Einheitsverhältnis zurückgeht, sich dabei aber auf ,alles' Dasein, nicht bloß auf den Menschen und den Ubermenschen, bezieht. Zweitens ist zu betonen, daß die Wiederkunftslehre ein „Gedanke", daß sie nur als Interpretation ,ist'. (Angemerkt sei, daß Nietzsche in Sachen Wille zur Macht immerhin sogar einmal davon spricht, dieser sei das „letzte 38 39
KGW VIII 2 10 [138], S. 201. KGW V 2 11 [143], S. 394.
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Factum", zu dem wir hinunterkönnen. 40 ) Drittens ist darauf aufmerksam zu machen, daß auch die wissenschaftlich-theoretisch durchsetzten Gedankenführungen Nietzsches zur Wiederkunftslehre kein Äewisargument, sondern ein Uberzeugungsargument, ein persuasives Argument darstellen. Viertens ist von grundlegender Wichtigkeit, daß die diesbezüglichen Partien der Argumentation nicht ,mechanistisch', sondern ,dynamisch-energetisch' zu verstehen sind. Dabei bedient Nietzsche sich aus verschiedenen Gründen freilich auch der Mechanistik. Doch ist stets das Verhältnis von , Kraft' im Sinne der Mechanistik und , Kraft' im Sinne der dynamischen Willen-zur-Macht-Quantationen in ähnlicher Weise zu beachten wie bei Leibniz dasjenige zwischen mechanischen, genauer zwischen derivativen und monadischen Kräften. (Der Erhaltungssatz der Kraft/Energie, der in Nietzsches Argumentationen zur Wiederkunftslehre eine bestimmte Rolle spielt, wird übrigens schon von Leibniz auf der Ebene der derivativen und nicht auf der der monadischen Kräfte entfaltet und angesiedelt.) Und fünftens ist herauszustellen, daß, wie alle Wirklichkeits-Auslegung, so auch die wissenschaftlich-theoretische WeltEinstellung, alle Wissenschaft und die von dieser vorgetragenen Gesetzmäßigkeiten vom Charakter des Interpretierens sind und durch Wertschätzungen vorbestimmt und von diesen latent gestützt werden. Letzteres läßt sich etwa gerade auch am Erhaltungssatz der Kraft/Energie zeigen. Wenn wir die Argumente der Wiederkunftslehre, von der Nietzsche selbst ja in der Tat keine befriedigende Darlegung gegeben hat, unter der Optik dieser fünf Gesichtspunkte zu verstehen und zu rekonstruieren suchen, dann lesen sich die zunächst scheinbar rein wissenschaftlich argumentierenden Texte anders eingefärbt, und es ist keineswegs so, daß Nietzsche sich in ihnen dem letzten Wahrheitskriterium der Wissenschaft und der Logik, dem Satz vom Widerspruch, einem Objektivismus oder gar einem Szientismus unterwirft. Vom Vollzugscharakter der Willen-zur-Macht-Komplexionen her können wir so im Rekurs auf den interpretativen Charakter allen Weltauslegens und allen Geschehens selbst diejenige Tiefendimension herauspräparieren, die die unterschiedlichen Aspekte der Wiederkunftslehre erst in ihre spannungsgeladene Differenz setzt. Damit ist zugleich deutlich, daß auch auf dieser Ebene nicht die intransitive und reflexive Selbsterhaltung, sondern die Akkumulation, Steigerung und Auslassung von Kraft den ursprünglicheren Grundcharakter alles Wirklichen und Lebendigen ausmacht. Die Wiederkunftslehre stellt dabei die auf das Seiende im ganzen und im Sinne des Notwendigkeits-Spiels der Willen-zur-Macht sowie ineins die auf die Erhöhung und Stärkung des Typus Mensch im Ubermenschen bezogene äußerste Konsequenz von Nietzsches Philosophieren dar, den erneut auftretenden Lockungen einer Metaphysik der 40
K G W VII 3 40 [61], S. 393.
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Gnosis die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu entziehen. Dabei wird auch kein Schlupfloch mehr offen gelassen, sein Schicksal und seine Verantwortlichkeit, die Moira, die man selber ist, in irgendetwas Vorgegebenes hinein (in ein Ziel, einen Zweck, einen Sinn, eine Wahrheit) „abwälzen" zu können bzw. schuldig, rechtfertigungs- oder erlösungsbedürftig im Sinne der Erlösungsreligionen zu sein. Gefordert ist Dionysos, für den auch die Vergänglichkeit noch Genuß, noch Schaffen, und wie Nietzsche einmal beiläufig notiert, „beständige Schöpfung" 4 1 ist. Diese scheinbar in sich verkehrte und ganz von der Endogenität der Willen-zur-Macht-Auslassungen her pointierte Reminiszenz an die teleo-theologische Weltauslegung des Spätmittelalters und deren Grenzwert in der creatio-continua-Lehre verdeutlicht mit einem Schlage den neuen Horizont und die ganze, mit Nietzsches Philosophieren auf uns gekommene Herausforderung.
41
K G W VIII 1 2 [106], S. 111.
Diskussion Müller-Lauter: Herr Abel ist in seinen sehr einheitlichen, gleichwohl eine Vielzahl einzelner Fragestellungen einschließenden Ausführungen zum Erhaltungsgedanken ausgegangen von einer bestimmten Orientierung dieses Gedankens in der gegenwärtigen deutschen philosophischen Diskussion, die ihre Wurzeln schon in Dilthey hat, aber durch eine Reihe anderer Namen markiert werden kann. Hans Blumenberg und Dieter Henrich wären hier an erster Stelle zu nennen. Die beiden geben in der Differenz ihrer Positionen und Verfahren zugleich auch die historische und methodische Breite der Debatte zu erkennen. Das Problem der Selbsterhaltung oder des Erhaltungsgedankens stellt vor die Frage, die im Zusammenhang des Gesamtthemas dieser Zusammenkunft von Bedeutung ist; eine Frage, die ganz konkret an Herrn Abel zu richten ist: Welche Relevanz haben die Ergebnisse Ihrer Betrachtungen für die Interpretation Nietzsches, speziell für die NietzscheDeutung im zwanzigsten Jahrhundert? Abel: Die gegenwärtig unter den Leitbegriffen Subjektivität und Selbsterhaltung geführte Diskussion über das Thema der neuzeitlichen Rationalität ist wesentlich durch Diltheys Arbeiten über Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation (erstmals 1913 von Georg Misch, zwei Jahre nach Diltheys Tod, ediert) angestoßen und in den letzten Jahren mit Intensität geführt worden. Der Name Nietzsche ist dabei nur am Rand erwähnt worden. Meine Absicht ist nun eine doppelte. Zum einen soll Nietzsche in diese wichtigen Diskussionen eingebracht werden. Zum anderen bin ich davon überzeugt, daß sich, wie eingangs des Vortrags erwähnt, die (freilich nicht als physikalischer, biologischer oder sozioökonomischer Naturalismus mißzuverstehende) Selbst-Erhaltungsproblematik ausgezeichnet als Hintergrundfolie einer Interpretation der Philosophie Nietzsches eignet. Aus deren Stellung zum Prinzip der Selbst-Erhaltung ergibt sich ein Zugang zum Zentrum dieses Denkens, und es kann zugleich dessen Zusammenhang mit der neuzeitlichen Rationalität und deren Entwicklungen bis ins späte 19. Jahrhundert hinein durchsichtig gemacht werden. Was dies, Herr Müller-Lauter, im einzelnen für das Nietzsche-Verständnis bedeutet, habe ich im Vortrag natürlich nur knapp skizzieren können. Ich glaube, daß einzelne Problemkomplexe in Nietzsches Denken aus der vorgeschlagenen Interpretationsrichtung heraus neu zu strukturieren sind. Die Wiederkunftslehre ist ein Beispiel dafür.
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Grundsätzlich ist mir in bezug auf Nietzsches Stellung zur Neuzeit einerseits ein historisches Interesse wichtig. Nietzsche gehört selbst zu den Exponenten und ist zugleich Diagnostiker des neuzeitlichen Bewußtseins. Man sollte weder seine Stellung noch seinen diagnostisch-kritischen Beitrag übersehen, wenn eine Selbstverständigung über die wesentlichen Merkmale der neuzeitlichen Rationalität, eine Diagnose und eine philosophische Konzeption der Moderne intendiert und erreicht werden soll. Andererseits ist ein systematisches Interesse an der Entwicklung von Konzepten humaner Selbsterhaltung wichtig. Auch in dieser Debatte, die noch in den Anfängen steckt, hat Nietzsche einen Beitrag zu leisten. Wenn für die Moderne (aber nicht nur und nicht erst für sie) Selbsterhaltung ein leitendes Motiv ist, und wenn diese Moderne Konsequenzen mit sich gebracht hat, die gerade Nietzsche wie kaum ein anderer gesehen und artikuliert hat (insbesondere die noch kaum geahnten Folgen der Erfahrung des Todes Gottes und der Heraufkunft des Nihilismus), wir also, wenn man so will, in einer dritten Gnosis leben, dann kann von Nietzsche her die Einsicht gefördert werden, daß aus dem Prinzip der Selbsterhaltung keine zureichende Maxime eines zukunftsorientierten Denkens zu begründen ist. In diese gegenwärtige Problematik ist Nietzsche gewissermaßen als Kritiker einzubringen. Er könnte dazu nötigen, einige Akzente anders zu setzen. Außerdem und auf die Nietzsche-Deutung bezogen scheint es mir möglich zu sein, im Lichte der vorgeschlagenen Interpretation einige weitverbreitete Urteile über Nietzsche zu korrigieren. Hier ist vor allem Heideggers Verortung Nietzsches im Kontext der neuzeitlichen Seinsvergessenheit zu nennen. Heideggers Globalverdikt über die neuzeitliche Rationalität als einer, für Heidegger freilich schon aus den Anfängen der Metaphysik überhaupt herkommenden Geschichte des Seinsverlustes qua Selbstermächtigung des Menschen als des vorstellenden Subjekts läßt sich heute sachlich kaum mehr stützen. Die neuzeitliche Rationalität und das neuzeitliche Bewußtsein ist nicht aus der Erfahrung des schrankenlosen Verfügen-könnens, sondern eher aus der Bedrohung durch das Gegenteil hervorgegangen. Das hat Blumenberg im Zusammenhang-seiner These einer humanen Selbstbehauptung gegen einen theologischen Absolutismus des späten Mittelalters, und Henrich im Zusammenhang seiner Arbeiten zu dem vom Cartesianischen Ansatz her für die Neuzeit charakteristischen Ausgangspunkt beim Selbstbewußtsein deutlich gemacht. Und selbst wenn es anders wäre, hätte man heute Grund zu zweifeln, ob Nietzsches Philosophie als die Vollendung eines solchen Bewußtseins angesehen werden darf. Auch darin liegt m.E. eine mögliche Bedeutung dieses Ansatzes für die Frage nach der Aufnahme Nietzsches und nach der Auseinandersetzung mit ihm im 20. Jahrhundert.
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Trillbaas: Von der systematischen Leistung Ihres Referates, H e r r Abel, bin ich sehr beeindruckt. Sie haben einen weiten Bogen von den Ausgangsfragen des neuzeitlichen Denkens bis hin zu den soeben skizzierten aktuellen Fragen der Philosophie gespannt. Freilich muß ich sagen, daß man zwar als alter Systematiker für solche systematischen Leistungen empfänglich ist, aber gleichermaßen auch zum Mißtrauen neigt. Denn die Gefahr ist stets, daß die Systematik sich selbst trägt. U n d auch Ihre Argumente, die Sie für Ihre Sicht der Wiederkunftslehre vorbringen, sind so stimmig und umfassend, daß man den Eindruck gewinnt, sie seien schon vorweg als Stützen Ihrer Thesis konzipiert. Ich war am Schluß Ihres Vortrages etwas ärgerlich, weil Sie, wenn ich recht verstanden habe, zwei Argumentationsreihen für die künftige Erörterung der Wiederkunftslehre gleichsam verboten haben. Sie wollen die bisher gegen die Wiederkunftslehre vorgebrachten Einwände einfach aus der Diskussion ausschließen, weil die Logik Ihres Textes dagegen spricht. Das geht natürlich nicht. Auch alte Argumente können immer wieder vorgebracht werden, und man wird sich dann auch mit ihnen auseinanderzusetzen haben. In Ihrer Erörterung des Wiederkunftsgedankens habe ich dreierlei vermißt: Zunächst die immer wieder gestellte Frage: W o hat Nietzsche diesen Gedanken eigentlich her? Wenn man Ihrem Vortrag folgte, müßte man antworten: Aus der Konsequenz der Problematik, die Sie in großartiger Fülle und Stringenz darin entwickelt haben! Ich glaube, Lou Andreas-Salomé, die ja das erste wirklich fundierte und bedeutende Buch über Nietzsche geschrieben hat und die den Vorzug hatte, mit Nietzsche intime Gespräche zu führen wie keiner sonst auf der ganzen Welt, ich glaube, die auch von Nietzsche so genannte Lou ist es gewesen, die darauf hingewiesen hat, daß der Wiederkunftsgedanke aus einer Verschärfung und Übertreibung des in der Krankheit erfahrenen Pessimismus hervorgegangen ist. 1 Der Nietzsche, der 1882 der Freundin auf einem Zettel mitteilen mußte: „Zu Bett. Heftiger Anfall. Ich verachte das Leben. F . N . " 2 , der konnte zur selben Zeit sein déja-vu-Erlebnis an jenem großen Stein bei Sils-Maria im Oberengadin als Erfahrung seines tiefsten Gedankens auffassen: den Wiederkunftsgedanken, der zum Leben „ j a " sagt, der es noch einmal will, so wie es war und ist. 3 Zu diesem seinem leidvollen Leben will Nietzsche „unersättlich da capo" rufen! Liegt hier nicht eine Wurzel des Wiederkunftsgedankens, nach der genauer zu fragen wäre? — In der Theologie gibt es einen der Wiederkunftslehre ähnlichen Gedanken, die zyklische Bewegung von Weltentstehung und -Untergang. Diese antike Vorstellung der Apokatastasis, die auf pythagoreische und stoische Einflüsse zurückgeht, be1 2 3
Lou Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894. Ebd. 197. Ebd. 202; vgl. dazu auch: JGB 56 und die Nachlaßstelle 11[141] von Anfang August 1881 (KGW V 2, 392).
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zieht sich ursprünglich auf einen kosmischen Kreislauf und wird in der Theologie — z . B . bei Origenes, Gregor von Nyssa u. a. — auf die Erlösungshoffnung des Menschen übertragen. Die Apokatastasis soll die Ewigkeit der eschatologischen Verdammnis bestreiten. Nietzsche kannte solche Vorstellungen gewiß von seinem Religionslehrer Kern in Pforta. In der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung" erwähnt er die Wiederkunftslehre der Pythagoreer — auch das kann man in Lous Werk nachlesen.4 Bei aller Verschiedenheit haben die überlieferten Lehren mit Nietzsches Gedanken eines gemeinsam: Sie stiften ein ganz anderes Schwergewicht als die linearen Vorstellungen des Geschichtsverlaufs. Die lineare Geschichtlichkeit, die irgendwoher kommt und irgendwohin geht, entflieht vor unserem Auge und macht uns selbst nur zu einem Durchgangspunkt. Es gibt also Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsche und der Tradition. Deshalb wiederhole ich meine Frage: Woher hat er seinen Gedanken? Die andern beiden Bemerkungen möchte ich ganz kurz fassen: Beim Gedanken der ewigen Wiederkehr sollte man stets betonen, daß sich hier zwei Extreme berühren: Der Augenblick wird Ewigkeit und die Ewigkeit wird zum lebendigen Augenblick. Es findet eine Auszeichnung des Augenblicks statt. In der ewigen Wiederkehr nehme ich punktuell an der Ewigkeit teil. — Und dann habe ich noch die Frage: Hat Nietzsche das eigentlich selbst geglaubt? Diesen Zweifel kann man immer hegen, wenn jemand den Modus seiner Behauptungen übersteigert. Man muß argwöhnen, daß jemand etwas ganz anderes durchsetzen will, wenn er sich an einen Gedanken klammert. Bei Nietzsches Wiederkunftslehre halte ich eine Suche nach dem eigentlichen Motiv hinter der Aussage für sinnvoll.5 Es ist ja überhaupt auffällig, wie viel er im Modus der Behauptung vorträgt, obgleich er eigentlich nur Gedanken probiert. Ist es nicht auch sinnvoll, in der Wiederkunft einen Probegedanken zu sehen? Abel: Mir liegt es fern, Argumentationen zu verbieten, Herr Trillhaas. Ich wollte nur darlegen, welche Einwürfe gegen die Wiederkunftslehre nach der von mir vorgetragenen Rekonstruktion als nicht mehr triftig angesehen werden können. Die systematische Ausgrenzung eines Arguments soll dessen Geltung einschränken; niemand ist gehindert, es erneut im alten oder in einem anderen Verständnis vorzutragen. Überdies ist es gar nicht meine Absicht, Argumentationen einzuschränken, sondern ich wollte im Gegenteil die von anderen Nietzsche-Interpreten ausgesprochene Einschränkung wieder aufheben. Die von mir genannten Autoren schließen bestimmte Texte Nietzsches aus dem legitimen Deutungshorizont aus, weil sie diese entweder nicht mit der 4 5
Ebd. 199. W . Trillhaas, Seele und Religion. Das Problem der Philosophie Friedrich Nietzsches. Berlin 1931.
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Lehre vom Ubermenschen oder mit ihrer existenziellen Sicht des Wiederkunftsgedankens für vereinbar halten. Im Gegenzug zu diesen Ausgrenzungen möchte ich zeigen, daß, wird die Wiederkunftslehre nicht allein vom Ideal des Ubermenschen, sondern von der Welt der Kräfte, genauer: vom Vollzugscharakter der Willen-zur-Macht her verstanden, eine integrale Interpretation der Funktion und des Sinns dieses Gedankens möglich ist, bei der auch die wissenschaftlich-theoretischen Texte und Argumente unverzichtbar in den Sinncorpus hineingehören. Die Frage nach der Herkunft des Wiederkunftsgedanken ist natürlich außerordentlich interessant. Ich glaube, man kann außer der Apokatastasis noch eine Reihe anderer möglicher Quellen angeben. Sie haben bereits auf die Lehre der Pythagoreer hingewiesen; zu erinnern ist natürlich an Heraklit und an die Weltkreislehren der Stoa. Nietzsche selbst hat hier ja Verbindungen angedeutet. Dann darf man nicht vergessen, daß es auch später viele Theoreme gibt, in denen das Wiederkunftsargument eine Rolle spielt, insbesondere in der zeitgenössischen Diskussion des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es war aber nicht meine Absicht, die historischen und biographischen Wurzeln des Gedankens freizulegen. Hier bedarf es in der Tat noch eingehender historischer Forschung. Doch bin ich ziemlich sicher, daß wir dem Eigentümlichen von ,Nietzsches' Ewigem-Wiederkunfts-Gedanken nur aus dem Grundcharakter und der Anlage seines gesamten Denkens heraus näherkommen. Es gibt eine Reihe von Problemen, vor die Nietzsche aus dem inneren Duktus seines Philosophierens geführt wird und auf die allein eine Welt- und Daseinskonzeption von der Art der Wiederkunftslehre eine befriedigende Antwort zu geben vermag und so gleichsam eine natürliche Konsequenz und den äußersten Horizont von Nietzsches Denken darstellt. Dabei können wir in den antiken Wiederkunftslehren u. a. deshalb keine Analogien sehen, weil Nietzsches Lehre nicht einfach im Sinne der alten Kosmologien verstanden werden darf. So versuche ich, sie aus der inneren Struktur des zuvor Entwickelten zu verstehen und frage, welchen Sinn, welche Funktionsstelle diese Lehre in Nietzsches Philosophieren haben kann. Dabei unterschlage ich keineswegs den Erlebnischarakter des ersten Auftretens dieses von Nietzsche als so ungeheuerlich empfundenen Gedankens beim Spaziergang am See von Silvaplana. Diese Komponente kommt ja auch in den Zarathustra-Texten stark zum Ausdruck. Aber ich bin der Ansicht, daß Nietzsche immer bemüht ist, diesen Gedanken in eine Weltkonzeption einzubringen. Nietzsche entwickelt diesen Gedanken, um, und dies möchte ich als das systematische Motiv festhalten, unter dem Eindruck der Erfahrung des Todes Gottes nicht in die gnostische Situation zurückzufallen. Der Nihilismus kann sehr leicht in eine gnostische Logik hineinführen, die einen Ausweg aus der fremdgewordenen Welt nur durch deren Ablehnung, ja Zerstörung für möglich hält. Die Wiederkunftslehre kann
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diese Konsequenz abwehren, ohne der Diagnose der Gegenwart ihre Schärfe und dem Schaffen am Zukünftigen seine Motivation zu nehmen. Sie lehrt, auch zu dieser so begriffenen Welt „ j a " zu sagen. Nietzsche, so könnte man auch formulieren, will den in der Spannung zwischen Gegenwartserfahrung und Zukunftserwartung bereits angelegten Dualismus, theologisch gesprochen: den Widerspruch zwischen Schöpfergott und Heilsgott vermeiden. Aus dieser Sicht läßt sich auch der wichtige Hinweis auf die Zusammenjochung von Augenblick und Ewigkeit aufnehmen. Wenn Sie mir zugestehen, Herr Trillhaas, daß Nietzsche die Verbindung von Augenblick und Ewigkeit nicht im Sinne des Herausspringens in eine andere Welt versteht, dann können wir uns an diesem Punkt gewiß verständigen. Ihre Frage, ob Nietzsche selbst an die ewige Wiederkunft des Gleichen geglaubt habe, läßt sich wohl nur beantworten, wenn man auf die Bedeutung des Gedankens für sein eigenes Leben sieht. Ob es ihm gelungen ist, die Forderung, die mit diesem Gedanken verbunden ist, aufzunehmen, vermag ich nicht zu sagen. Salaquarda: Meine Frage zielt auf den Problemkreis der Selbsterhaltung und zwar auf Nietzsches Abgrenzung gegenüber Darwin: Wird Nietzsche Darwin eigentlich gerecht, wenn er ihn als einen Theoretiker der bloßen Selbsterhaltung abwertet? Zwar kann er sich auf Ausdrücke wie „preservation", „struggle for life" oder „survival of the fittest" berufen, aber rechnet nicht die evolutionstheoretische Konzeption ursprünglich mit einem Prozeß ständiger Steigerung? Man müßte m. E. zwischen Darwin, dessen Ansatz noch lamarckistische Züge trägt, und dem Neodarwinismus unterscheiden. Während Darwin noch von der Vererbung individuell erworbener Eigenschaften ausging und so ein inneres dynamisches Moment wirksam sein läßt, rechnet der Neodarwinismus ausschließlich mit dem Einfluß exogener Faktoren auf ein gegebenes Erhaltungspotential. Veränderungen erfolgen nur durch spontante Mutationen. Hier reichen in der Tat eine gegebene Bewegung, mechanische Gesetzmäßigkeiten und der Zufall zur Erklärung der Lebensprozesse aus. Hierzu steht Nietzsches dynamisches Modell vom inneren Kampf des Machtwillens gewiß im Gegensatz. Aber besteht diese Opposition auch zu Darwin? Abel: Ich kann Ihren Verdacht nur bestätigen, Herr Salaquarda. Nietzsche wird dem Autor Darwin nicht gerecht. Er benutzt ihn, wie übrigens andere auch, als Folie, um dagegen seine eigene Position klarer profilieren zu können. Darwin ist nicht so einseitig auf das Theorem der Selbsterhaltung zu fixieren. Bei ihm besteht in der Tat noch eine gewisse Verbindung zu Lamarck, mit dessen Betonung der inneren Vitalität des Geschehens ja Nietzsche einiges gemeinsam hat. Auch Spinoza wird von Nietzsche einseitig auf den Erhal-
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tungsaspekt festgelegt. Und den Darwinismus führt er auf eine für die modernen Naturwissenschaften überhaupt kennzeichnende Verwicklung — und zwar eine der „gröbsten" — mit dem „Spinozistischen Dogma" zurück. 6 Das wird weder Darwin noch der Naturwissenschaft noch Spinoza gerecht. Aber damit ist Nietzsches Einschätzung gleichwohl nicht einfach beiseite zu schieben. Daß es auch Spinoza um Mehrung und Steigerung geht, übersieht Nietzsche zwar ebenso wie die spezifische Behauptungsfront, in der sich dieser historisch befindet. Doch Nietzsche versteht sich nicht als ein nach Werkgerechtigkeit strebender Interpret. Es geht ihm um die Ausformung seines eigenen Gedankens, was sich deutlich etwa auch an seinem Verhältnis zu Kant zeigt. Im Problemzusammenhang von Zweck und Zweckmäßigkeit wird er Kant ganz sicher nicht gerecht. Man muß aber zugestehen, daß Nietzsches Einseitigkeit stets etwas Wesentliches hervorhebt. Ich mache zudem die Erfahrung, etwa bei der Lektüre der „Kritik der Urteilskraft" mehr zu verstehen, wenn ich Nietzsches Urteil, mag es auch noch so einseitig sein, daneben halte. Gerhardt: Eigentlich sollte man bei einer zeitlich so knapp bemessenen Diskussion alles Lob für den Redner fortlassen, um sich ganz auf die Kritik und damit auf die sachlichen Anregungen zu beschränken. Aber ich muß doch vorweg sagen, daß mich die Stringenz der Durchführung, die Intergrationskraft der vorgeschlagenen Interpretation und vor allem die systematische Perspektive für die Uberwindung des Selbsterhaltungsapriori außerordentlich beeindruckt haben. Aus einer ganz anders ansetzenden Beschäftigung mit Nietzsches Kritik des „Willens zum Dasein" leite auch ich die Erwartung her, die Verkürzung, die mit der fundamentalistischen Applikation des Selbsterhaltungstheorems verbunden ist, am Leitfaden Nietzsches aufweisen zu können. Wenn ich die verstreuten Bemerkungen Blumenbergs richtig deute, dann sieht auch dieser bedeutende Historiker des Selbsterhaltungsgrundsatzes sowohl in Nietzsches Wiederkunftslehre wie auch in der Funktion der ästhetischen Distanzierung systematische Anhaltspunkte zu einer Relativierung des philosophischen Geltungsanspruchs des Theorems. Zunächst scheint es mir wichtig zu betonen, daß der Gedanke der Selbsterhaltung einem Grundzug in Nietzsches Philosophieren entgegenkommt, nämlich der Zurücknahme transzendenter Begründungsansprüche. Die conservatio sui ist mit ihrer Opposition gegen die aristotelische Teleologie gegen jede Form ideeller Erklärung gerichtet. Sie beruft sich auf ein Gegebenes, auf eine gegebene Bewegung, und anerkennt deren immanente Erhaltungstendenz. Jede weitere Warum-Frage ist damit abgeschnitten. Deshalb ist auch die Frage: „Warum Selbsterhaltung?" sinnlos. Der anti-teleologische Charakter 6
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des Selbsterhaltungstheorems, das Nietzsche m.W. noch nicht als eine Inversion der Teleologie durchschaut — auf diesen quasiteleologischen Aspekt der conservatio sui hat Robert Spaemann hingewiesen — 7 , macht es für Nietzsche philosophisch interessant. Wie sehr er die in der Inversion der Teleologie liegende Tendenz aufnimmt, könnte man gerade an der Wiederkunftslehre zeigen, die ja die Abwendung vom Ziel auf die bloße Bewegung noch einmal verschärft und nur noch den Augenblick zu retten sucht. Vor diesem Hintergrund interessiert mich Nietzsches Einwand gegen die Selbsterhaltung noch etwas genauer. Welche Gründe oder Motive lassen sich anführen? Sie haben, Herr Abel, den Dynamismus der Selbst-Uberwindung des Machtwillens ins Zentrum gestellt. Ich sehe auch keinen gewichtigeren Grund. Aber welche Erfahrung steht bei Nietzsche dahinter? Sind nicht im frühen Werk Positionen entwickelt, in denen das Ungenügen an der Selbsterhaltung bereits präformiert ist? Ich sehe bereits in der frühen Konzeption des „Genius", in der Betonung der künstlerischen Produktivität, der Entladung wie auch der Gestaltung von Kräften eine Opposition zur Selbsterhaltung, die sich ja in der Abwehr von Egoismus und Nützlichkeit zeigt. Aber auch nach der psychologischen Rehabilitierung des Egoismus in Menschliches, Allzumenschliches bleibt eine Akzentuierung von überschießenden Kräften, z . B . in der Liebe, der Phantasie, auch in Maske und Verstellung, die sich mit dem bloßen Willen zum Dasein schwer vereinbaren läßt. Schließlich Nietzsches Bewunderung für alles Große, Individuelle und Distanzierte. Hier ist m. E. präformiert, was dann in der Abwehr bloßer Selbsterhaltung zutagetritt. Damit käme auch ein Grund zum Vorschein, auf den Sie nicht hingewiesen haben: der philosophische Ästhetizismus. Die Erfahrung der Kunst und die Einsicht in die ästhetische Verfassung des Daseins sind es, die Nietzsches Abkehr vom „Willen zum Leben" begründen. Abel: Ihren Ausführungen über die methodische Stellung der Selbsterhaltung im neuzeitlichen Denken und der Überlegung, daß diese dem Anliegen Nietzsches zunächst entgegenkommt, stimme ich zu. Was Ihren Hinweis auf die von Spaemann vorgeschlagene Deutung der Erhaltung als „Inversion der Teleologie" betrifft, so bin ich freilich zum einen nicht davon überzeugt, daß mit dieser Figur das spezifisch Neuzeitliche des Erhaltungsprinzips getroffen ist, und glaube zum anderen, daß Nietzsche gerade auch die quasi-teleologischen Implikate des Selbsterhaltungsprinzips gesehen hat. Als Signal in diese Richtung kann etwa genommen werden, daß er Spinoza an der zitierten Stelle Jenseits von Gut und Böse, 13 „Inconsequenz" vorwirft. Uberhaupt ist Nietzsche in Sachen Teleologie und Restteleologie eine Art Seismograph. Wie 7
R . Spaemann, Reflexion und Spontaneität, Studien über Fenelon, Stuttgart 1963, 53f.
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weit er dies treibt, wird gerade an dem Bereich deutlich, in dem die Teleologie und das Modell der Finalerklärung bis heute am unangreifbarsten scheinen (man denke an Kant und die Aufnahme von dessen teleologischem Erklärungsprinzip des Organischen), am Organismus. Wie schwierig es ist, die AntiTeleologie gerade hier durchzuhalten, zeigt sich z. B. auch daran, daß sich in Nietzsches diesbezüglichen Nachlaß-Aufzeichnungen durchaus teleologisch klingende Redeweisen finden. Doch sind sie eher Ausdruck von Darstellungsproblemen als von sachlichen Zweifeln. Für die Erhaltungsproblematik ist dabei wichtig, daß Nietzsche nicht das Selbsterhaltungsprinzip zunächst aufnimmt und dann in einem zweiten Schritt überbietet (— dies ist die Sicht, die sich ergibt, sobald Nietzsche in die Geschichte des Erhaltungsprinzips gestellt wird —), sondern daß er es von vornherein als abgeleiteten Modus des Steigerungs- und Auslassungscharakters von Kraft versteht und nicht als Prinzip anerkennt. Doch bedeutet dies gerade nicht, daß damit das Phänomen der Selbsterhaltung verschwindet oder geleugnet wird. Selbsterhaltung bleibt als Moment im Lebensprozeß nach wie vor anerkannt. Aber sie wird erst in zweiter Linie, und ich hatte zugespitzt: erst in dritter Linie, nach Selbsterweiterung und nach der Ausbildung von Funktionalität, in Geltung gelassen. Für Ihre Hinweise, Herr Gerhardt, auf Wurzeln der Opposition gegen das Erhaltungsprinzip im frühen Werk Nietzsches und insbesondere in der Erfahrung der Kunst bin ich sehr dankbar. Das Jahr 1881 ist jedoch sowohl für Nietzsches Stellung zum Erhaltungsproblem, als auch, und damit essentiell verbunden, für die entlang der achtziger Jahre erfolgende Ausarbeitung der Grundlehren dieses Philosophierens aus den Gründen, die ich im Vortrag angeführt habe, von einschneidender Bedeutung. Was dabei den Ästhetizismus betrifft, so ist darauf zu achten, daß er in den späten achtziger Jahren einen anderen Sinn hat als in der frühen Zeit, etwa in der Tragödienschrift. Nietzsches Kunstauffassung wird immer physiologischer, und die Artistik ist nicht mehr die gleiche wie in den siebziger Jahren. So muß auch die Ästhetik von dem Kräfte-, und das heißt: vom Willen-zur-Macht-Geschehen her rekonstruiert werden. Uber diese Station komme auch ich dann an den von Ihnen herausgestellten Punkt, daß der Ästhetizismus eine Abkehr vom Selbsterhaltungsapriori impliziert. Da sich aber auch im Artistischen eine bestimmte Stellung zum Problem des Werdens manifestiert, ist zunächst und grundsätzlich zu betonen, daß Nietzsche die Unmöglichkeit gesehen hat, aus dem Selbsterhaltungsprinzip Bewegung, Veränderung, Wechsel, Werden, mithin Geschehen, abzuleiten. Das ist das Kernargument, von dem dann alle anderen abhängen. Der dem Geschehen und allem Lebendigen eigentümliche Grundconatus kann von daher nicht in der Beharrung und Selbsterhaltung bestehen. Das würde nicht nur Veränderung nicht erklären können, sondern auch ein Stillstellen der Prachtentfaltung des Individuums, des ,Typus*
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bedeuten. Dieser letzte Punkt ist natürlich auch für den Bereich der Kunst sehr wichtig, was im dionysischen Schaffen, und nicht im apollinischen ,schönen Schein', der in die Nähe der am Werden Leidenden gehört, seinen Ausdruck findet. Es kommt Nietzsche darauf an, die ursprüngliche Grundverfassung alles Lebendigen, die ursprünglich-aktiven Kräfte gegen die ihnen ständig drohenden Selbst-Verkehrungen (man denke an schlechtes Gewissen, Ressentiment oder asketische Ideale) herauszustreiten, mithin die freilich dionysischtragische Pracht, die mit dem ursprünglichen Lebenscharakter selbst verbunden sein könnte, in gleichsam ,reiner' Gestalt zum Zuge zu bringen. Dem stünde der Erhaltungsgedanke entgegen. Schließlich erinnere ich noch einmal an die Cartesianische Lösung des Erhaltungsproblems auf dem Wege externer creatio. Die Schwierigkeit ist nun die, daß zum einen diese, sagen wir aristotelische, theologische und auch die okkasionalistische Lösung nach dem „Tode Gottes" versperrt ist, und daß zum anderen aus dem intransitiven Erhaltungsprinzip Veränderung und Wechsel, Geschehen also, nicht abzuleiten ist. Daraus folgt: was ursprünglich einmal ein für Gott reserviertes Attribut war, das Aus-sich-heraus-sein, und als Leistung Gottes angesehen wurde, die Erhaltung von Seiendem, sitzt jetzt gleichsam in der immanenten und endogenen Fibratur des Seienden selbst, und zwar notwendigerweise gerade nicht als Erhaltungsconatus, sondern als Steigerungs- und Auslassungscharakter. Dieser Grundcharakter alles Seienden selbst rückt so an die Systemstelle Gottes. Gründer: Ihre Rede von der Fibratur — Sie meinen damit wohl das Kapillarsystem? War das ein Zitat? Abel: Nein, das war kein Zitat. Das ist, wenn Sie so wollen, eine Metapher am ,Leitfaden des Leibes'. Blondel: J'aurais eu plusieurs questions sur l'idée, la théorie du retour éternel, mais celle qui ne vient à l'esprit d'abord, c'est à propos de votre appel à Descartes. Je me demande dans quelle mesure la théorie du retour éternel effectivement n'évoque pas la théorie de la création continuée chez Descartes, dans la mesure où Nietzsche en aurait besoin pour maintenir dans sa philosophie l'identité, la garantie de l'identité d'un sujet, et par conséquent la garantie d'une causalité, qui sinon, manque dans sa philosophie. Ça fait deux problèmes apparemment distincts pour ce qui concerne la création continuée, effectivement cela a rapport — comme vous l'avez dit — avec la conservation; mais c'est aussi la question de la permanence d'identité du sujet. Or — on a d'un côté un Nietzsche qui conteste l'identité du sujet, la permanence de la subjectivité — et de l'autre semble regagner, avec le retour éternel des
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Gleichen, une identité subjective qui était perdue. Cette identité subjective il semble en avoir besoin pour une théorie de l'unité du monde, et d'autre partie la conteste. Il me semble que la théorie du retour éternel est un point aveugle chez Nietzsche dans la mesure où, comme chez Descartes Dieu garantit le déterminisme, de la même façon chez Nietzsche la théorie du retour éternel permet de cumuler la contestation du déterminisme d'une part — et la préservation d'une certaine forme d'identité du monde. Ce qui m'a beaucoup frappé dans Nietzsche c'est la question de savoir s'il peut vouloir promouvoir une nouvelle culture à partir de sa philosophie considérée comme discours idéologique, lui qui conteste l'efficacité ou l'efficience d'un discours idéologique. Or la seule idée qui lui paraisse être déterminante et avoir une certaine causalité par rapport à l'action bien qu'elle ne soit qu'une représentation, c'est celle de l'éternel retour. C'est pourquoi je me demande si cette idée n'est pas une sorte de coup de force spéculatif, un monstre spéculatif (la Méduse!), en tant qu'elle permettrait à Nietzsche de cumuler les contradictoires, l'idée et la réalité et de penser une abolition presque magique du conflit entre idée et réalité, entre liberté et nécessité. Grâce à cette idée, Nietzsche fond ensemble l'identité et la non-identité, d'une part, la causalité du déterminisme et l'antidéterminisme, d'autre part: l'idéalité pure de l'idée et le pouvoir déterminant de la réalité. L'éternel retour, c'est le pouvoir nécessitant de l'idée comme réalité déterminante: un peu comme, chez Leibniz, l'entendement „incline" la volonté „sans nécessiter"! Abel: Ihre Überlegung, daß die Wiederkunftslehre die Creatio-continuaLehre Descartes heraufbeschwören könnte, gibt mir gute Gelegenheit, den für mich in diesem Zusammenhang entscheidenden Punkt zu akzentuieren. Ich habe das Referat mit einem Hinweis auf den Sinn der „beständigen Schöpfung" unter dem Titel Dionysos, für den auch die Vergänglichkeit noch Genuß, noch Schöpfung ist, beschlossen. In diesem Sinne kann der jetzt freilich gänzlich endogen zu denkende ewige Werdecharakter der Welt als eine fortwährende Schöpfung verstanden werden, und insofern die Wiederkunftslehre, die, Nietzsche zufolge, unter den vielen an sich möglichen Welt- und Daseinskonzeptionen einzige ist, die diesem Grundcharakter gerecht wird, ist für mich die Wiederkunftslehre in der Tat Ausdruck einer beständigen Schöpfung'. Aber, und dies möchte ich ganz deutlich herausstellen, dabei handelt es sich gerade nicht mehr um creatio continua im Cartesianischen Sinne einer externen Schöpfung, überhaupt nicht mehr um ein Theologoumenon. Darin sehe ich die Pointe. Nun haben Sie, Herr Blondel, die Creatio-continua-Lehre mit der Identitätsfrage zusammengebracht. Darauf kann ich hier natürlich nur sehr begrenzt antworten, weil dies, wenn ich Sie recht verstanden habe, die schwierige Frage
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nach dem Verhältnis von Erhaltungsgedanke und Selbstbewußtseinsproblematik betrifft. Ich lasse völlig beiseite, wie sich dies bei Descartes verhält und melde zunächst nur Zweifel in bezug auf die Ubertragbarkeit der Cartesianischen Problemlage auf Nietzsches gerade auch mit der Wiederkunftslehre verbundenen Intentionen an. Ebensowenig wie ich glaube, daß sich die Wiederkunftslehre aus dem Erhaltungsprinzip im Sinne einer Erhaltungskausalität rekonstruieren läßt, ebensowenig möchte ich die axiologische Hauptfunktion dieses Gedankens in der Identitätssicherung des Subjekts, in der Fortdauer der Subjektivität sehen. U m die Sinnstelle der Wiederkunftslehre auszumachen, habe ich u. a. die bei Nietzsche vorliegende doppelte Auflösung des alten Subjektbegriffs betont, einmal als Rückgang hinter die Einheit des Subjekts in das plurale Willen-zur-Macht-Geschehen, sodann nach der Seite des Ideals des Übermenschen hin. Diese beiden Bereiche sind zusammenzujochen, und dabei wandelt sich etwa auch der Sinn des Identitäts- und des von diesem her gedachten Weltbegriffs. Mit dem Ubergang in diese Geschehens^bene, in den Vollzugscharakter der Willen-zur-Macht, verlieren auch der alte Kausalitätsbegriff sowie der kausale Determinismus den Sinn, den sie bei Descartes und in der neuzeitlichen Rationalität haben. So wie es für Nietzsche nur Gebilde relativer Dauer (Erhaltung) gibt, so gibt es auch nur Gebilde relativer Einheit (Identität). Identität im strengen Sinne gibt es überhaupt nur in der Logik. Aber in dieser kommt, so Nietzsche, „die Wirklichkeit gar nicht vor". 8 Darüber hinaus ist mit der Ausschaltung der causa finalis auch diejenige der causa efficiens verknüpft, und wir dürfen weder die dem Kampf-Spiel der Willenzur-Macht eigentümliche Notwendigkeit' noch die damit zusammenhängende Wiederkunftslehre mit einem Determinismus über dem Geschehen in Verbindung bringen. Diese Aspekte signalisieren, in welcher Richtung Nietzsche sich von der neuzeitlichen Rationalität gelöst hat. Bei der von Ihnen, Herr Blondel, im Zusammenhang der Identitätsfrage vorgebrachten Vermutung, daß der Wiederkunftsgedanke einen „blinden Fleck" in Nietzsches Lehre darstelle, muß ich auch an den anders gelagerten Einwand von Bernd Magnus denken, der sich dabei auf die Frage der Nichtunterscheidbarkeit zwischen dem Ereignis und seiner Wiederkehr konzentriert 9 . Hier spielt die auf Leibniz zurückgehende Indiscernibilia-Problematik eine wichtige Rolle. Aber ich meine, daß man daraus der Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen keinen Strick drehen kann. Freilich kann ich das hier nicht im einzelnen auseinandersetzen. Müller-Lauter: Was ich von Anfang an befürchtete, stellt sich jetzt leider ein: Zum einen bezieht sich die Diskussion auf das Selbsterhaltungsprinzip so8 9
G D Die .Vernunft' in der Philosophie 3. Vgl. B. Magnus, op. cit., S. 98ff.
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wohl in bezug auf Nietzsche als auch unter dem Aspekt der Wirkungsgeschichte. Zum anderen wird der Wiederkunftsgedanke thematisiert. Wahrscheinlich läßt sich die Debatte auch gar nicht strikt gliedern, nachdem das Referat gezeigt hat, wie weitgehend sich beide Problemkreise überschneiden. Ich möchte mich aber auf das Selbsterhaltungstheorem beschränken und zwei Voten aus der bisherigen Diskussion etwas weiterführen. Herr Gerhardt hat unter Bezug auf die Blumenberg-Henrich-Debatte, wenn Sie mir diesen Ausdruck gestatten, meiner Meinung nach zu Recht gesagt, im Selbsterhaltungstheorem vollziehe sich die Zurücknahme von Begründungsansprüchen in die Immanenz. Er hat damit, wenn ich es richtig verstanden habe, einem Ungenügen an der Reduzierung fundamentaler Fragestellungen Ausdruck verliehen . . . Gerhardt:
Es kann auch ein Lob der Bescheidenheit sein!
Müller-Lauter: Gut, das kann es auch sein. Ich möchte aber auf Nietzsches Stellung als Kritiker der neuzeitlichen Rationalität hinaus. Und hier greife ich Herrn Salaquardas Äußerung zu Darwin auf, wende sie allerdings in meinem Sinne: Wenn Nietzsche schon an Darwin oder an Spinoza, vielleicht auch an Kant, deren Uberschreiten des Selbsterhaltungstheorems nicht erkannt hat, wie ernst müssen wir dann eigentlich seine Kritik nehmen, wenn wir nach der Struktur des neuzeitlichen Denkens fragen? Sein Angriff geht doch gewissermaßen ins Leere. Hätte er die kritisierten Autoren, oder wenigstens Kuno Fischer, genauer gelesen, dann hätte er sich seine Polemik sparen können. Und ein Zweites: Wenn die genannten Theoretiker, also Darwin und Spinoza, vermutlich aber noch andere, das Selbsterhaltungstheorem bereits überschritten haben, dann werden doch auch Blumenberg und Henrich mit ihrer Charakteristik dem Sachverhalt nicht gerecht; dann ist doch offenbar das Prinzip der conservatio sui nicht so kennzeichnend, wie sie behaupten. Bitte verstehen Sie das als Frage, mit der ich auf das Thema unserer Tagung hinlenken will. Abel: Das ist ja eine sehr interessante Wende unserer Diskussion! Ich hatte im ersten Votum schon angedeutet, welchen Sinn es haben könnte, Nietzsche in die gegenwärtig geführte Debatte einzubringen. Die aktuellen Überlegungen zur Selbsterhaltung münden z . T . in Konzepte humaner Selbsterhaltung mit zukunftsbewältigendem Charakter. Ein Ungenügen an der Fundierungsleistung bloßer Selbsterhaltung ist dabei schon vorausgesetzt. Und nun bringen Sie, Herr Müller-Lauter, eine ganz neue und subtile Komponente ins Spiel, indem Sie die historische Prämisse infragestellen. Zugespitzt könnte man sagen: Sie bestreiten, daß die Selbsterhaltung in der Neuzeit überhaupt
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das treibende, das kennzeichnende Moment darstellt. Darauf möchte ich Ihnen folgendermaßen antworten. Zunächst ist zuzugestehen, daß der Erhaltungsgrundsatz nicht bei allen neuzeitlichen Denkern gleichermaßen und in einem einheitlichen Sinne zum Tragen kommt. Bei Spinoza und Hobbes etwa, sowie für die historisch dominant gewordene und ja bis ins späte 19. Jahrhundert als die einzig legitime Version physikalischer Weltauslegung angesehene Galilei-Newtonsche Physik steht er freilich an entscheidender Stelle. Aber seine Bedeutung nimmt bei einigen Autoren merklich ab, so etwa, wenn man Fichte vom Erhaltungsgedanken her thematisieren will, auch bei den ihm nachfolgenden Vertretern des deutschen Idealismus und auch in der Romantik. Das ändert aber nichts daran, daß die Selbsterhaltung für die Entstehung der neuzeitlichen Rationalität, für die Ablösung vom scholastischen Weltverständnis im Spätnominalismus, von konstitutiver Bedeutung ist. Hier halte ich Blumenbergs Interpretationen für überzeugend. Wenn nach erlangter Selbständigkeit sich die Deutungskapazität des Theorems verringert, dann verweist dies auf Entwicklungsfaktoren im neuzeitlichen Denken selbst, die eben auf eine Uberwindung des Ausgangspunktes zutreiben. Diese Überlegung ist zu unterscheiden von derjenigen Henrichs, daß Blumenbergs Theorie der Neuzeit in ihrer Kennzeichnung des weiteren Verlaufs der Moderne deshalb eine „deutlich abgeschwächte diagnostische K r a f t " 1 0 besitze, weil die für die Genese der Moderne wichtigen Fragen nach dem Verhältnis von Himmel und Erde nicht mehr diejenigen sind, die auch für die entfaltete Moderne entscheidend sind. Henrich dient dies zur Betonung des reflexiven Momentes gegenüber der bloß intransitiven Bestimmung der Selbsterhaltung und zur Stützung der These der Einheit von Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein. Nehmen wir diesen Hintergrund einmal an, dann hat Nietzsches Stellung als Kritiker der neuzeitlichen Rationalität mehrere Komponenten. Er kritisiert das für die Genese der Neuzeit grundlegende Moment der intransitiven Selbsterhaltung. Er kritisiert auch die für die entfaltete Moderne kennzeichnende reflexive Form der Selbsterhaltung. Hier ist natürlich auch an seine Kritik der Uberschätzung des Selbstbewußtseins zu verweisen. Und weder geht Nietzsches Kritik ins Leere noch gehen Blumenbergs und Henrichs Charakterisierungen am Sachverhalt vorbei, weil bei den verhandelten Autoren nicht zu verkennen ist, daß, wenn von Steigerung und Mehrung die Rede ist, diese auf der Selbst-Erhaltung als dem primären Prinzip aufruhen. Daß Nietzsche die bereits auftretenden Steigerungsmomente nicht gesehen hat oder nicht hat sehen wollen, bricht seiner Kritik also nicht die Spitze. Soweit ich sehe, gibt es vor ihm keinen 10
D. Henrich, Die Grundstruktur der modernen Philosophie, mit einer Nachschrift: Uber Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung, in: H . Ebeling (Hrsg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankfurt 1976, S. 131.
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Autor, der das Verhältnis von Erhaltung und Steigerung so radikal umkehrt, daß Steigerung und Auslassung den primären, den Status des Grundcharakters alles Seienden bekommt und Selbst-Erhaltung eine bloß abgeleitete Konsequenz tertiärer Art darstellt. Und gerade weil nicht die gesamte Neuzeit monolithisch auf die ,conservatio sui' bzw. auf das ,perseverare in statu suo' festgelegt werden kann, weil in ihrem eigenen Gang bereits und an wichtigen Stellen das Prinzip der Mehrung und Steigerung, verschiedentlich sogar das der Auslassung, anzutreffen ist, wird Nietzsches Stellung in diesem Prozeß so interessant. Er stellt den äußersten Punkt dar; an ihm kann man gleichsam die innere Bilanz und Konsequenz ziehen, insofern nämlich gesagt werden muß, daß (und Nietzsche selbst hat diesen Punkt nicht klar genug gesehen) sowohl die intransitive als auch die reflexive Gestalt der Selbsterhaltung bereits ein in sich potenziertes Geschehen darstellt. Schließlich möchte ich als Antwort auf Ihre Frage, Herr Müller-Lauter, noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam machen. Manfred Sommer hat in einer Arbeit über die „Selbsterhaltung der Vernunft" 1 1 die fundierende Funktion des Erhaltungssatzes in Kants Vernunftkonzeption herausgearbeitet. Das mag als These auf den ersten Blick überraschen, gewinnt aber Plausibilität, sobald die als Funktionshandlung des Einigens aufgefaßte transzendentale Synthesis in der Tat als eine Selbsterhaltungsleistung der Vernunft gelesen werden kann. Das ,Ich denke' schaltet die Gefahr aus, daß sich das Ich in der Vielfalt möglicher empirischer Vorstellungen verliert und auflöst. Der Punkt, der mich dabei interessiert, ist zunächst der, daß es ja einen Brückenschlag zwischen der apriorischen Synthesis und den Möglichkeitsbedingungen von Metaphysik überhaupt gibt. Wenn ich jetzt aber Nietzsche mit dem Gedanken der Interpretativität allen Geschehens ernstnehme, also seinen Anspruch, über eine dem Werden enthobene transzendentale Apparatur hinauszukommen, aufnehme, dann wird auch von dieser Seite her sichtbar, in welcher Weise er im Uberschreiten des Erhaltungsgedankens auch über die Problematik des Transzendentalen hinausgeht und im Perspektivengebrauch die metaphysische Selbsterhaltung der Vernunft, und damit auch die Metaphysik der neuzeitlichen Subjektivität, radikal überbietet. Baier: Am Referat und an der Diskussion wird mir deutlicher als je zuvor, daß man Nietzsche wirkungsgeschichtlich einmal als Problemsteller und zum anderen als Klassiker auffassen kann. Er hat einerseits völlig neue Fragestellungen aufgeworfen, die dann von den einzelnen Disziplinen aufgenommen und ganz unterschiedlich behandelt worden sind. Andererseits aber hat er, wie Herr Abel zeigt, auch Lösungen entworfen, die systematisch 11
M. Sommer, Die Selbsterhaltung der Vernunft, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977.
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tragfähig sein können. In dieser zweiten Form, so scheint mir, ist Nietzsche bisher noch unzureichend beachtet worden, wahrscheinlich weil er als Antisystematiker verrufen worden ist. Ich möchte zwei Problembereiche ansprechen. Erstens: Muß man nicht in einer Zeit, die durch Einsteins Relativitätstheorie gekennzeichnet ist, das Gesetz von der Erhaltung der Kraft reformulieren? Mir scheint, man kann nicht mehr einfach von „ K r a f t " sprechen, sondern muß sowohl die Transformation von Materie und Energie einbeziehen wie auch die Abhängigkeit der Variablen Raum und Zeit. Aus der Sicht der gegenwärtigen Physik ergeben sich dann auch interessante Parallelen zu Nietzsches Wiederkunftslehre; es genügt an das Weltentstehungsmodell des Big Bang zu erinnern, das ja eine pulsierende Expansion und Retraktion des Kosmos annimmt. Mein zweiter Punkt betrifft etwas ganz anderes, nämlich das Verhältnis Nietzsches zu Spinoza, das ja neuerdings in einer Monographie dargestellt ist 1 2 : Mir ist an dieser Arbeit wie auch an Ihrem Vortrag aufgefallen, daß die Vermittlungsleistung Schopenhauers nicht genügend beachtet wird. Es ist ja nicht nur Kuno Fischer, den Nietzsche für Spinoza ausgewertet hat; er kennt Schopenhauers Deutung, derzufolge Spinoza schon die unendliche, in sich kreisende Kreativität Gottes in den Willen hineingenommen hat. Ist hier nicht ein wichtiger Vorgriff auf Nietzsches Wiederkunftsgedanken zu sehen? — Erlauben Sie noch eine Schlußbemerkung, Herr Abel: Ich habe Ihren Ausführungen fasziniert gelauscht, und doch kann mich Ihre Argumentation nicht überzeugen. Naturwissenschaftlich gesehen ist die Welt ein bewegliches Gleichgewicht, ein ,steady State in process*. Dieses Gleichgewicht ist durch den Aufweis von Selbsterweiterung und Selbststeigerung der Willen zur Macht nicht widerlegt. Entscheidend scheint mir die Korrelation von Schöpfung und Zerstörung. N u r im Widerspiel von Schöpfung und Zerstörung läßt sich die Welt als Prozeßgleichgewicht verstehen, in dem Steigerung nur eine Richtung der Bewegung darstellt.
Grau: Ich möchte einen grundsätzlichen Zweifel an Ihrer imposanten wissenschaftlichen Fundierung der Gedanken Nietzsches äußern, Herr Abel. Mir erscheint der ganze wissenschaftliche Interpretationsaufwand inadäquat, wenn man sieht, wie sich Nietzsche selbst gegenüber der Wissenschaft verhält: Erst vergißt er sie im dionysischen Rausch, den man aber bekanntlich nicht lange durchsteht; in der Ernüchterung dann wird die Wissenschaft gebraucht, um Religion, Moral und vieles andere mehr abzubauen; dann läßt sie ihn wieder unberührt, bis er die eigene Lehre findet. U n d schließlich ist ihm die 12
W. S. Wurzer, Nietzsche und Spinoza, Meisenheim a. Gl. 1975.
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Wissenschaft ein willkommener Helfer, sofern sie seine Lehre plausibel und mit anderen Behauptungen vereinbar macht. Ich halte diese Strategie für höchst bedenklich und sehe gerade in ihr, die sich bei allen Ideologien beobachten läßt, ein Kriterium des Willens zur Macht, der — wie es Nietzsche ja explizit fordert — allemal in der Preisgabe des Willens zur Wahrheit gipfelt. Mit ihr nimmt dann das Unglück seinen Lauf, das uns ebenso eine deutsche Physik wie die neuerliche Herleitung von Begriffen und Gesetzen der Physik aus den Bedingungen des Tauschhandels beschert hat. Figl: Im Zusammenhang Ihrer Kritik an Magnus, Herr Abel, haben Sie sich auf Nietzsches Satz berufen, der Wille zur Macht sei das letzte Faktum, zu dem man hinunterkomme. 1 3 Ist das aber, streng genommen, richtig? Ist nicht der Wille zur Macht, ist nicht auch die ewige Wiederkehr Interpretation und damit keine Tatsache? Ich meine, man darf Nietzsche hier nicht wörtlich verstehen, nicht so, als ob seine fundamentalen Thesen Aussagen über unhinterfragbare Fakten wären. Auch nach Müller-Lauters Auslegung muß man, wenn ich nicht irre, von Interpretation sprechen. Wenn das aber zutrifft, kann man dann bei Nietzsche überhaupt von einer Antwort auf die gnostisch gewendete Frage sprechen? Sie haben ja vorhin in einem Diskussionsbeitrag auf die neue gnostische Gefahr aufmerksam gemacht, die aus Nietzsches Diagnose folge, die er aber durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu bannen verstehe. Ich frage mich aber, ob der Standpunkt der Interpretation überhaupt eine derartige Gefahrenabwehr zuläßt. Führt Nietzsches Denken nicht vielmehr in eine Welt, in der es keine letztgültigen Antworten gibt? Taureck: Der Wille zur Macht hat als Psychologikum Plausibilität. Für die ewige Wiederkunft gibt es offensichtlich kein ,Pendant'. Müller-Lauter: Da Herr Abel in seinem Vortrag und nun Herr Figl in seinem Votum auf meine Nietzsche-Deutung Bezug genommen haben, sollte ich mich wohl noch dazu äußern. Wenn ich es richtig sehe, so besteht die Differenz zwischen beiden darin, daß Figl bei der Thematik Wille zur Macht und Interpretation den Akzent auf das Interpretieren setzt, während Abel die Faktizität der Machtquanta betont, jedenfalls soweit er den ,kosmologisch' relevanten Aussagen Nietzsches über die Wiederkunft Gewicht gibt. Ein Dissens besteht hier insofern nicht, als Nietzsche sowohl vom Interpretationscharakter allen Willens zur Macht als auch vom Willen-zur-Macht-Charakter allen Interpretierens sprechen kann. Er tritt nur dann auf, wenn einer der 13
Vgl. Nachlaß 1885: K.GW VII 3, 393, 40[61].
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beiden Aspekte zugunsten des anderen zurückgestellt oder auch nur vernachlässigt wird. Das scheint mir nun in Figls Votum wie in Abels Vortrag in voneinander verschiedener Hinsicht geschehen zu sein. Wenn Figl sogar das Faktum des Willens zur Macht als Interpretament auffaßt, so wendet er, wenn ich es richtig sehe, einen vorgängigen und nichtgebundenen, insofern einen weiteren Interpretationsbegriff an als Nietzsche, was natürlich durchaus legitim ist. Für die immanente Betrachtung gilt aber, daß Nietzsche alles Interpretieren auf Perspektiven faktischer Machtwillen bezieht. Nietzsches Perspektivismus erhebt den Anspruch, kein bloßer Relativismus zu sein: Er unterscheidet zwischen starken und schwachen Willen zur Macht. Gnostisches Weltverständnis oder auch ,Antwortlosigkeit', die Figl als Beispiele genannt hat, sind für Nietzsche Ausdruck eines schwachen Machtwillens; seine Begründung für diese Deutung brauche ich hier nicht auszuführen, sie gehört wesentlich in den Bereich seiner ,Entlarvungspsychologie'. Wenn Figl nach meiner Auffassung die Eingrenzung des Interpretierens auf die faktisch-endlichen Gegensätze, die Nietzsche vornimmt, überschreitet, so muß ich gegen Abel ins Feld führen, daß er in den Passagen seines Referats, in denen er vom Vollzugscharakter der Willen zur Macht her argumentiert, dem Interpretationscharakter der Wiederkunftslehre nicht gerecht wird. Ich spreche bloß von diesem — für Nietzsches „wissenschaftliche" Begründungen der Lehre allerdings entscheidenden — Argumentationsstrang, den Abel von der Endogenität des Willen-zur-Macht-Geschehens zum Ubermenschen als der höchsten Kraftmaximierung führt, die „bis zu einem Höhepunkt" steigt und von diesem wieder herabsinkt „in einem ewigen Kreislauf" 14 . Zu fragen ist hier: Soll es sich hierbei um ein Eintreten als Verstehen dessen handeln, worin man immer schon ist? Ist das Faktische dem Interpretieren auf solche Weise vorgegeben? In diesem Fall hätte Figl soweit recht, als er das Interpretieren gegenüber solcher Faktizität stark macht. Abel hat nun seinerseits der Interpretation zentrale Bedeutung für die Wiederkunftslehre zugesprochen, zuletzt noch in den fünf Gesichtspunkten15, bei denen der innere Zusammenhang zwischen den Aspekten des Faktischen (Kraft oder Energie) und denen der Interpretation noch zu klären wäre. Ist die Wiederkunftslehre nur als Interpretation, dann ist sie nur als Interpretation des Menschen bzw. des Übermenschen. Sie betrifft alles Seiende, darin unterscheidet sich die Deutung der Lehre als In-der-Welt-Sein des Ubermenschen nicht von der Abels. Aber wenn die Wiederkehr nur als Gedanke ist, dann kehrt alles nur ewig wieder, insoweit es im Interpretieren des Menschen bzw. des Ubermenschen als wiederkehrend gedacht wird. Der 14 15
S. o. S. 382. S. o. S. 382 f.
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Stein und das Tier interpretieren zwar nach Nietzsche (Organbildung z . B . ist Interpretation), aber nur der Mensch kann einen Vorgang als ewig wiederkehrend denken. Sollen Faktizität und Interpretation zusammengehören, so sehe ich keine andere Möglichkeit, als die Wiederkunft alles Seienden als menschlich-übermenschliche Perspektive zu verstehen. Diese Perspektive kann viele Darstellungsformen haben; Nietzsche spricht von der langen Geschichte, die dieser Lehre bevorstehe. Abel hat ganz recht, wenn er Kritik daran übt, daß ich in meinem Nietzsche-Buch die theoretischen Begründungen der Wiederkunft als Verkehrung von deren wahren Sinn verstanden habe. Sie gehören (wie ich in Konsequenz meiner Ausführungen zu Nietzsches Verständnis von Interpretation seit 1973 meine) in jene Geschichte hinein: als Versuche, mit den Mitteln der Wissenschaft plausibel zu machen, was am Ende, als Gedanke der Gedanken oder als Religion der Religionen oder als einverleibte Gewißheit, dem künftigen Menschen ein unüberbietbares Selbstund Weltverständnis geben soll. Noch ein Wort zum Gebrauch von Heideggers Bestimmung des In-der Welt-Seins im Zusammenhang der Wiederkunftslehre. Ich bin mir der Problematik der Begriffsübertragung bewußt und habe an der von Abel zitierten Stelle meines Buches auf die zu beachtenden Verschiedenheiten methodischer Art zwischen Heidegger und Nietzsche (die auch materiale Relevanz haben) hingewiesen. Nach wie vor kenne ich keinen Begriff, der das Verstehen des Ubermenschen in seiner Perspektivität wie in seiner Totalität formal besser zu charakterisieren vermöchte, zumal in ihm auch das je-eigene Eingebundensein in ,Welt' angezeigt ist. Daß Heidegger in Sein und Zeit eine inhaltliche Bestimmung des ,Realen' der ,Welt' nicht vornimmt, schien mir ein weiterer Vorzug zu sein. Abel scheint jedoch Heideggers Weltbegriff enger zu sehen als ich. Aber entscheidend für seinen Einwand ist auch hier, daß er die Wiederkunftslehre vom Gegeneinander der faktischen Willen zur Macht her abzuleiten und nicht aus dem Weltverständnis des Ubermenschen heraus zu begreifen sucht. Abel: Die durch die ausführliche Debatte knapp gewordene Zeit erlaubt mir nur noch kurz auf die jetzt angesammelten Beiträge einzugehen. Mit Herrn Baiers Unterscheidung zwischen dem „Problemsteller" und dem „Klassiker" Nietzsche bin ich einverstanden, wenn dabei ausgeschlossen ist, daß Nietzsche in Sachen ,Selbst-Erhaltung' zum .Klassiker' gemacht wird. Was Ihre Frage nach der Reformulierung des Energiesatzes unter den Bedingungen der modernen Physik angeht, so möchte ich hier nur auf zwei Aspekte hinweisen. Zum einen ist zu betonen, daß gerade die Erhaltungssätze von der mit der Relativitäts- und Quantentheorie verbundenen Krise der
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klassischen Physik nicht in ihrer Gültigkeit eingeschränkt worden sind.16 Zum anderen trägt die Art, wie ich in diesen Zusammenhängen von ,Kraft/Energie' gesprochen habe, dem neuen Verhältnis von Materie (Masse) und Energie durchaus Rechnung, und zwar allein schon deshalb, weil Nietzsche in Aufnahme der Kraftlehre von Boskovic in eine Tradition gehört, von der die dann in der speziellen Relativitätstheorie demonstrierte Identität von Masse und Energie sicherlich nicht als überraschend empfunden worden wäre. Auch Raum und Zeit sind für Nietzsches Wiederkunftslehre von grundlegender Bedeutung. Aber ich bin äußerst zurückhaltend in bezug auf mögliche Parallelen zu neueren astrophysikalischen Kosmologien. Im Rahmen der von Ihnen genannten Stichwörter „big bang" und „steady State" erscheinen mir einzelne Aspekte im Verhältnis zu Nietzsches Argumentation sehr interessant. So kann z.B. auch die Urknall-Theorie bisher keine Antwort auf die Frage nach dem Anfang der Welt zu einem endlichen Zeitpunkt geben. Und in der Steady-state-Theorie könnte man, da diese Lehre, umwillen der sich scheinbar gleichbleibenden Durchschnittsdichte des Weltalls, eine ständige Neuproduktion von Materie behaupten muß, eine Übertragung ursprünglich für Gott vorbehaltener Attribute auf das Universum sehen. Die Vorstellung kosmischer Expansion und Retraktion gab es schon im 19. Jahrhundert. Ihre in diesem Zusammenhang vorgebrachte Überlegung, daß es um die „Korrelation von Schöpfung und Zerstörung" zu gehen hat, unterstreiche ich nachdrücklich. Doch wollte ich ja gerade auch zeigen, daß die Steigerung nicht nur eine Richtung ausmacht, sondern daß auch Vergänglichkeit und Zerstörung ihrerseits noch als Steigerung aufzufassen sind. Das scheint mir, wie bereits an der Antwort auf die Frage von Herrn Blondel deutlich wurde, die Pointe der dionysisch-tragischen .beständigen Schöpfung' und der von dieser her geforderten Bejahung der Welt zu sein. Und nun kurz zu Ihrem zweiten Komplex. Den Hinweis auf Schopenhauer als Verbindungsbrücke zwischen Spinoza und Nietzsche kann ich nur verstärken. Wenn Nietzsche an einer Nachlaßstelle17 notiert: „Schopenhauer war wohl ein Gedanke Spinoza's im Herzen geblieben: daß das Wesen jedes Ding's appetitus sei und daß dieser appetitus darin bestehe, im Dasein zu beharren", dann fortfährt: „Dies leuchtete ihm einmal auf und leuchtete ihm so ein, daß er den Vorgang , Wille' nie mehr sorgfältig überdacht hat . . .", dann wird ineins deutlich, daß Nietzsche sich dieser Mittlerstelle Schopenhauers bewußt war, auf welche Weise er dazu aber auf entschiedene Distanz geht und welch grundlegende Bedeutung die Erhaltungsproblematik auch für das Verhältnis Nietzsches zu Schopenhauer hat. 16 17
Vgl. dazu C. F. V. Weizsäcker, Die Einheit der Natur, München 1974, S. 385. KGW V 2, U[307], S. 457.
Diskussion
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Das Votum von Herrn Grau bezog sich in einer sehr pointierten Weise auf Nietzsches Verhältnis zur Wissenschaft. Das sehe ich in der Tat nicht so katastrophal wie Sie, Herr Grau. Im einzelnen wäre zu dieser wichtigen Frage natürlich sehr viel zu sagen, zumal von Ihrem Beitrag her auch die grundsätzliche Problematik des Verhältnisses von Wissenschaft und Philosophie bei Nietzsche in den Blick rückt. Ich möchte lediglich auf drei Aspekte hinweisen. Erstens ist die Wissenschaft aus verschiedenen Gründen selbst rechtfertigungsbedürftig geworden und, obwohl sie ihrerseits axiologisch vor-bestimmt ist und in ihren Konsequenzen sinn-zerstörend wirkt, nicht wert/sinn-schaffend. Zweitens hat Nietzsche gesehen, daß Wissenschaft keine Welt-,Erklärung', sondern auch, wie alle Weltauslegung, vom Wesen des Interpretierens, Interpretation ist. Dem Objektivitätsideal der Wissenschaft ist Nietzsche also nicht verpflichtet, wohl aber ist ihm das Pathos des Erkennens grundeigentümlich. Ich bin übrigens sicher, daß Nietzsche über die „deutsche Physik" seinen galligen Spott ausgegossen hätte. Und drittens möchte ich betonen, daß ich meine eigene Vorgehensweise keineswegs als wissenschaftliche Beweisführung im Sinne axiomatisch-deduktiv oder empirisch-analytisch verfahrender Wissenschaft verstehe. Es geht mir vielmehr um jene Strenge und Triftigkeit, die erforderlich ist, um die systematischen und u.U. tragfähigen Komponenten in Nietzsches Denken freizulegen, von denen auch Herr Baier in seinem Beitrag sprach, und die er bisher noch nicht hinreichend beachtet sieht. Zu Herrn Figl möchte ich sagen, daß ich mit dem Hinweis auf Nietzsches Rede vom Willen zur Macht als dem .letzten Faktum' eigentlich nur den Interpretationscharakter der Wiederkunftslehre herauskehren wollte. Aber Nietzsches Rede meint ja sicherlich kein Faktum-an-sich. So etwas feststellen zu wollen, ist Nietzsche zufolge vielleicht ein „Unsinn". 18 Es geht um einen Sinn von .Faktum', bis zu dem ,wir', d. h. das interpretierende Wesen Mensch, hinunterkönnen. Zu Ihrem zweiten Punkt sage ich: Wenn in Nietzsches Denken eine Antwort auf die neue gnostische Herausforderung steckt — und ich glaube, daß die Wiederkunftslehre seine äußerste Anstrengung in diese Richtung ist —, dann wird der Schlüssel, so meine These, im Wesen des Interpretierens selbst zu finden sein. Wie aber, und damit komme ich zu Herrn Müller-Lauters Ausführungen, soll dies aussehen, wo ich doch eine Deutung der Wiederkunftslehre als existenzielles In-der-Welt-sein zurückweise. Auf Ihren Versuch, Herr Müller-Lauter, Faktizität und Interpretation in ihrer Zusammengehörigkeit aufzuweisen, würde ich gern sehr ausführlich antworten, weil auch ich gerade diesen Punkt für ganz zentral halte. Die Kürze der Diskussionszeit erlaubt nur Andeutungen. Ich weiß nicht, ob von einer 18
K G W V I I I 1, 7[60], S. 323.
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Günter Abel
Position, wie Sie Herr Figl zu vertreten scheint, die Faktizität des Willen-zur-Macht-Geschehens eingeholt werden kann; ich meinerseits sehe aber keine Schwierigkeit, den Interpretationscharakter nicht nur der Willen zur Macht, sondern auch der Wiederkunftslehre, den ich auch im Vortrag betont habe, angemessen zu berücksichtigen, ja er ist mir, wie ich hier nicht näher ausführen konnte, der eigentliche Tiefennenner, der den Sinncorpus der Wiederkunftslehre zusammenhält. Doch ist für mich der Interpretationscharakter der Wiederkunftslehre aufgrund genau derjenigen Überlegung grundlegend, die ich auch gegen die Deutung dieses Gedankens allein vom existenziellen In-der-Welt-sein her vorbringe. Als Basis einer integralen Rekonstruktion und Deutung der Wiederkunftslehre muß m.E. die Welt der Kräfte, und das heißt: der GescÄeÄewscharakter der Willen-zur-Macht-Komplexe, deren auch der Mensch und sein Welt- und Selbstverständnis eine bestimmte Verzweigung, Ausgestaltung und Symptomatik ist, angesehen werden, und von diesen Geschehensvollzügen kann der interpretative Charakter gar nicht abgetrennt werden, weil damit das Geschehen selbst geleugnet, mithin die Welt negiert wäre. Das ist der archimedische Punkt meiner Argumentation. Auf dieser Ebene ist jede Auftrennung nach Faktizität und Interpretation untersagt, weil immer schon überholt, und damit wird sowohl eine positivistisch-wissenschaftliche Fakten-Gläubigkeit als auch, was mir genauso wichtig ist, ein verbindlichkeitsloser Interpretations-Relativismus ausgeschlossen. Nun bringe ich, was hier ebenfalls nur angetippt werden kann, auf dieser Ebene die mit dem Vollzugscharakter der Willen-zur-Macht verbundene endogene Notwendigkeit allen Geschehens entscheidend ins Spiel und denke die ewige Wiederkehr jetzt weder als etwas Faktisch-Vorgegebenes (in keinem Falle also als einen Determinismus über dem Geschehen) noch als etwas bloß im Interpretieren des Menschen bzw. des Ubermenschen Gedachtes, sondern, ganz aus dem Geschehenscharakter der Willen-zurMacht-Vollzüge selbst heraus, als die sich in ihrem Vollzuge endogen selbstkonstituierende Notwendigkeit allen Geschehens. Und insofern die Wiederkunftslehre auf dieser Ebene ineins eine Antwort auf das Problem des Werdens und auf die Frage nach dem Wert des Daseins darstellt, schlage ich in meinem Buch vor, sie als Interpretation der Interpretationen zu charakterisieren und zeige, in welchem Sinne sie von hier aus als die Überwindung sowohl des Nihilismus als auch der erneut drohenden Metaphysik der Gnosis aufgefaßt werden kann. Auch zu Ihren Ausführungen der Bestimmung des In-der-Welt-seins und zu Heideggers Weltbegriff kann ich hier nur andeutungsweise Stellung nehmen. Daß der Begriff des In-der-Welt-seins gewichtige Vorzüge für eine Charakterisierung des ursprünglichen Einheitsverhältnisses von Mensch und Welt hat, möchte ich in keinem Falle bestreiten. Aber ist damit auch schon die
Diskussion
407
Wiederkunftslehre selbst charakterisiert? Der Kürze halber nenne ich vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Faktizität und Interpretation nur einen Gesichtspunkt, der mich an der Heideggerschen Bestimmung, soll diese in einen Zusammenhang mit Nietzsches Wiederkunftslehre gebracht werden, nicht überzeugt. Aus Ihrer Sicht, Herr Müller-Lauter, stellt Heideggers nichtinhaltliche Bestimmung des ,Realen' einen Vorzug dar. Heidegger unterscheidet in Sein und Zeit zwischen der ,Realität', die von dem Seinsverständnis, d.h. vom menschlichen Dasein, abhängig ist, und dem .Realen', welches dies nicht ist. Heidegger möchte damit vor allem verhindern, daß das menschliche Dasein von der Realitätsidee her interpretiert wird. Das ist für Heideggers Anliegen einer Analytik des Daseins nur konsequent. Ich fürchte aber, daß es für Nietzsche gerade nicht charakteristisch ist. Aber wohlgemerkt: Nietzsches Bestimmung des wertschätzend-interpretativen Charakters allen Willen-zur-Macht-Geschehens, nicht also nur des Menschen, als die „einzige Realität" 19 ist dabei natürlich nicht als der von Heidegger zu Recht zurückgewiesene .Realismus' in einem erkenntnistheoretischen oder empirischen Sinne aufzufassen. Es geht um die Welt der interpretativen Kräfte. Eigentlich möchte ich noch einige weitere Gesichtspunkte zu der gerade von Ihnen, Herr Müller-Lauter, angeschnittenen Problematik einbringen. Aber die Diskussionszeit ist ohnehin schon überschritten. Bitte erlauben Sie, daß ich mich einfach auf mein demnächst erscheinendes Buch ,Die Dynamik der Willen zur Macht und die Ewige Wiederkehr' zurückziehe.
19
K G W VIII 3 14[81], S. 53.
JOHANN
FIGL
NIETZSCHE UND DIE PHILOSOPHISCHE HERMENEUTIK DES 20. JAHRHUNDERTS Mit besonderer Berücksichtigung Diltheys, Heideggers und Vorüberlegungen
zur thematischen
Gadamers
Abgrenzung
Um Verbindungslinien zwischen Nietzsche und der philosophischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts aufzeigen zu können, ist es zuallererst nötig, jene Problemebene zu eruieren, auf der überhaupt ein solches Beziehungsverhältnis sachgerecht erörtert werden kann. Die Problemstellung hat dabei einerseits der Tatsache gerecht zu werden, daß es um das Denken Nietzsches geht, dessen Verhältnis zu spezifischen philosophischen Tendenzen seit der Jahrhundertwende untersucht werden soll, und sie hat andrerseits der Absicht zu entsprechen, daß diese Tendenzen die philosophische Hermeneutik dieses Zeitraums repräsentieren sollen. Nach beiden Seiten hin ergeben sich nicht geringe Probleme einer sachgemäßen thematischen Abgrenzung. Im Hinblick auf Nietzsche besteht die Schwierigkeit in der Entscheidung, ob der Bezug der philosophischen Hermeneutik zu seinem Denken nur unter rezeptionsgeschichtlichen Aspekten zu erörtern ist, seien diese expliziter oder impliziter, direkter oder indirekter Art 1 , oder ob er auch auf systematischer Ebene, etwa durch die Herausstellung von sachlichen Parallelen, aufzuweisen ist. Dieses Problem wird im folgenden dahingehend zu lösen versucht, daß zunächst — im gesamten ersten Abschnitt sowie zu Beginn des zweiten — in der Darstellung ausschließlich eine explizit feststellbare Wirklinie des Denkens Nietzsches verfolgt wird; erst in den daran anschließenden Überlegungen wird untersucht, inwiefern zwischen Nietzsches Philosophie und der philosophischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts Zusammenhänge systematischer Art bestehen. Mit dem anderen Pol des hier zu untersuchenden Beziehungsverhältnisses aber ist die weitere Problematik angesprochen, die in der Gewinnung eines präzisen Begriffs dessen, was Hermeneutik des 20. Jahrhunderts heißt, 1
Vgl. R, Werner, ,Cultur der Oberfläche'. Zur Rezeption der Artisten-Metaphysik im frühen Werk Heinrich und Thomas Manns, in: Nietzsche und die deutsche Literatur, hrsg. v. B. Hillebrand, Bd. 2, Tübingen 1978, 84 mit Anm. 4 (Lit. !).
Nietzsche und die philosophische Hermeneutik
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besteht. Eine solche Begriffsbestimmung kann zunächst vom Selbstverständnis jener Theoretiker des Verstehens ausgehen, die ihr eigenes Konzept bewußt als philosophische Hermeneutik von einer bloß geisteswissenschaftlichen Methodologie unterscheiden2. Diesem Selbstverständnis hat Hans-Georg Gadamer in »Wahrheit und Methode' 3 eine auch das hermeneutische Problembewußtsein der Gegenwart noch mitbestimmende Geltung verschafft. Er schließt dabei an Martin Heideggers Analysen des Verstehens in ,Sein und Zeit' an 4 , wobei Verstehen als „die ursprüngliche Vollzugsform des Daseins, das In-der-Weltsein ist" 5 , beschrieben wird. Die Orientierung am existenzialontologischen Begriff des Verstehens hat aber keinesfalls eine vollständige Abwendung von der geisteswissenschaftlichen Methodenreflexion zur Folge, sondern sie bildet vielmehr den Hintergrund für eine gewandelte Sicht derselben, im besonderen der geschichtswissenschaftlichen Hermeneutik, wie der gesamte zweite Teil von ,Wahrheit und Methode' zeigt6. Somit kann gesagt werden, daß auch in jener Reflexionsform auf das Verstehen, die von einer existenzialen Bestimmung des Auslegungsvollzugs zu einer universalen Sicht des hermeneutischen Geschehens zu gelangen beabsichtigt, und die sich selbst als philosophische Hermeneutik versteht, die geisteswissenschaftliche, vor allem in der Gestalt der historischen Hermeneutik ihren Platz hat. Von diesem Vorbegriff der Hermeneutik ausgehend, der von Gadamer bzw. Heidegger präzisiert wurde, und hinter den nicht ohne die Gefahr eines Verlusts für den Problemstand hermeneutischer Reflexion zurückgegangen werden sollte, kann nun der Begriff der philosophischen Hermeneutik, der diesem Referat zugrundeliegt, auf folgende Art definiert werden: Als philosophische Hermeneutik sind jene denkerischen Bemühungen aufzufassen, in denen in systematischer Weise auf das menschliche Verstehen reflektiert wird, wobei dieses als universales anthropologisches Phänomen ausgewiesen wird, das einerseits zur Folge hat, daß sich die Philosophie als ganze als hermeneutisches Geschehen bewußt wird, ohne daß jedoch andrerseits die Reflexion auf die hermeneutischen Prämissen einzelwissenschaftlichen Verstehens ausgeklammert wird. Von einer solchen Begriffsbestimmung her ist es nun möglich, auch philosophische Konzepte des Verstehens hereinzunehmen, die nicht die Prämissen einer existenzialen Ontologie teilen, sondern deren Interesse primär dem Ver2
3
4
5 6
Vgl. H.-G. Gadamer, Einführung, in: Seminar: Philosophische Hermeneutik, hrsg. v. H.-G. Gadamer und G. Boehm, Frankfurt a. M. 1976, 38f. In diesem Beitrag wird nach der 2., durch einen Nachtrag erweiterten Auflage, Tübingen 1965, zitiert ( = Wahrheit und Methode). Hier wird zitiert nach der 14., durchgesehenen Auflage mit den Randbemerkungen aus dem Handexemplar des Autors im Anhang, Tübingen 1977 ( = Sein und Zeit). Gadamer, Wahrheit und Methode, 245. AaO. 162 ff.
410
Johann Figi
stehen der geschichtlichen Ausgestaltungen menschlichen Lebens schlechthin gilt. Einer der bedeutendsten Vertreter einer so verstandenen Geschichtshermeneutik des Lebens ist ohne Zweifel Wilhelm Dilthey, der große Theoretiker der Geisteswissenschaften. Dilthey ist aber nicht allein aufgrund der Tatsache, daß die geisteswissenschaftliche Thematik auch innerhalb einer philosophischen Hermeneutik relevant ist, zu dieser zu rechnen, sondern vor allem wegen der schon bei ihm vollzogenen Ausweitung des Hermeneutikbegriffs zur philosophischen Methode schlechthin7, die seinen Ansatz in nächste Nähe zu demjenigen Heideggers und — unter anderem Aspekt — auch Gadamers bringt. Denn ein fundamentales charakteristisches Kennzeichen des Hermeneutikbegriffs der beiden letzteren Philosophen ist seine Anwendung auf die Philosophie als ganze, so daß sie, wie Otto Pöggeler treffend sagt, „Hermeneutische Philosophie" wird 8 . Mit diesen Bemerkungen ist der Horizont umrissen, der im Titel" mit dem Ausdruck „philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts" angezielt ist. Konkretisiert wird er in dem vorliegenden Beitrag durch die drei genannten Philosophen Dilthey, Heidegger und Gadamer. Nach den bisherigen Ausführungen bedarf es wohl keiner weiteren Begründung, daß hier Heidegger und Gadamer behandelt werden. Hingegen ist Diltheys Bedeutung für die Geschichte der Hermeneutik zwar auch unbestritten, gleichwohl aber steht dieser Denker nicht so sehr im Mittelpunkt der neueren Diskussion, wie die beiden vorhin genannten. Darum sollen kurz die Gründe genannt werden, die maßgeblich dazu beigetragen haben, Dilthey im Rahmen dieses Artikels in besonders ausführlicher Weise zu berücksichtigen. Es ist zunächst einmal die für die folgenden Ausführungen relevante Tatsache zu erwähnen, daß sich dieser Denker mehrfach mit Nietzsche auseinandergesetzt hat, und zwar, was hier spezifisch untersucht werden soll, gerade unter hermeneutischen Gesichtspunkten. Darüber hinaus ist seine unumgehbare, ja bestimmende Bedeutung für die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts anzuerkennen. Gerade der Ansatz Gadamers verdankt sich — wenn auch in der Form kritischer Abhebung — zu einem nicht unwesentlichen Teil den Bemühungen Diltheys 9 . Und Heideggers Beziehung zu diesem Denker ist von ihm selbst hervorgehoben worden: in ,Sein und Zeit' nämlich bezeichnet er es als sein Anliegen, „den Geist des Grafen Yorck zu pflegen, um dem Werke Diltheys zu dienen" 10 . Schließlich aber ist das Gewicht der hermeneutischen Reflexionen 7 8 9
10
Vgl. unten Abschnitt II, 1. Hermeneutische Philosophie, hrsg. von O. Pöggeler, München 1972. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, bes. 205ff.; ders., Kleine Schriften I. Philosophie, Hermeneutik, Tübingen 1967, 3 ff. Heidegger, Sein und Zeit, 404; vgl. O. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1963, 30ff.
Nietzsche und die philosophische Hermeneutik
411
Diltheys an sich der eigentlich bestimmende Grund, ihm innerhalb der Hermeneutik seit Beginn unseres Jahrhunderts eine fundamentale Bedeutung zuzuerkennen und sie entsprechend zu würdigen. Gewisse Anzeichen, wie z. B. das Neuaufleben der Kontroverse um „Verstehen und Erklären" 1 1 , deuten zudem darauf hin, daß das Urteil von-Otto Friedrich Bollnow im Vorwort zur dritten, 1967 erschienenen Auflage seiner einschlägigen Monographie, es habe sich im Hinblick auf Dilthey „vielfach eine gewisse Abneigung und Geringschätzung ausgebreitet" 12 , für die gegenwärtige Situation erfreulicherweise nicht mehr zutrifft, sondern anstatt dessen seine Stellung in der Geschichte der Hermeneutik wieder stärker beachtet wird 13 . Im folgenden soll also das Verhältnis Nietzsches zur philosophischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts am Werk der drei genannten Philosophen Untersucht werden, und zwar, wie schon kurz erwähnt wurde, zunächst unter expliziter, rezeptionsgeschichtlicher, sodann — in einem zweiten Gedankengang — primär unter systematischer Hinsicht. Zum ersten ist zu sagen, daß sich die ausdrückliche und manifeste Wirkung vor allem an der Auseinandersetzung mit jener frühen Schrift dieses Denkers aufzeigen läßt, die nicht nur wegen ihrer methodologischen Relevanz, sondern aufgrund ihrer generellen Tendenz allgemein stark rezipiert wurde, nämlich die zweite Unzeitgemäße Betrachtung ,Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben' (1874); die Wirkung dieser Schrift ist im literaturwissenschaftlichen, geschichtsphilosophischen und theologischen Bereich anzutreffen 14 . Auch im eigentlich hermeneutischen Gebiet wurde ihr großer Einfluß festgestellt, z. B. von n
12 13
14
K.-O. Apel, Die Erklären ¡Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt a. M. 1979, bes. 17ff., 35ff.; vgl. ferner: Neue Versuche über Erklären und Verstehen, hrsg. von K.-O. Apel, J. Manninen, R. Toumela, Frankfurt a. M. 1978. O. F. Bollnow, Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie, Stuttgart 3 1967, 8. Von „Diltheys sich wieder erneuernde[r] Bedeutung" spricht 1970 zu Recht K. Gründer im Vorwort zu der von ihm ab Bd. 15 besorgten Fortsetzung der ,Gesammelten Schriften' Diltheys: Gesammelte Schriften, Bd. 15, VIII; vgl. zur zunehmenden Aktualität dieses Denkers ferner die Urteile von U. Herrmann, aaO. XI, und von H. Johach und F. Rodi im Vorbericht der Herausgeber zu dem 1977 erschienenen Bd. 18 dieser Schriften, aaO. XII mit Anm. 10 (Lit.!). Vgl./. Hermand, Synthetisches Interpretieren, München 1968, 30; E. Kunne-Ibsch, Die Stellung Nietzsches in der Entwicklung der modernen Literaturwissenschaft, Assen 1972; G. Ter-Nedden, Über den Abstraktionsgewinn des historischen und ästhetischen Bewußtseins, in: Propädeutik der Literaturwissenschaft, hrsg. v. D. Harth, München 1973, 258; G. Haeuptner, Die Geschichtsansicht des jungen Nietzsche. Versuch einer immanenten Kritik der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung ,Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben', Stuttgart 1936; M. Fleischer, Die Zeitlichkeit des Menschen. Nietzsches Analyse in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, in: Weltaspekte der Philosophie, hrsg. v. W. Beierwalters und W. Schräder, Amsterdam 1972; K. Brose, Geschichtsphilosophische Strukturen im Werk Nietzsches, Bern u. Frankfurt a. M. 1973; zur theologischen Rezeption vgl. K. Barth, Der Römerbrief, Zürich 2 4 . - 2 5 . Tsd. 1967, bes. den Abschnitt „Vom Nutzen der Historie", 116 ff.
412
Johann Figi
Joachim Wach in seiner dreibändigen Geschichte des Verstehens im 19. Jahrhundert, wo aber zugleich die Maßlosigkeit ihrer im Ansatz als legitim erachteten historismuskritischen Tendenz zurückgewiesen wird 15 . Trotz ihrer allgemein bekannten Ausstrahlung gibt es m. W. keine eigene Untersuchung, die die Rezeption dieser Schrift im einzelnen nachweist. Auch das Verhältnis Nietzsche—Dilthey, das in mehreren Aufsätzen dargestellt wurde 16 , ist nicht primär unter einem geschichtsmethodologischen Aspekt untersucht worden. Die systematische Bedeutung der Philosophie Nietzsches für die Hermeneutik, die im zweiten Abschnitt in ihrem Bezug zu Dilthey, Heidegger und Gadamer dargestellt werden soll, ist ebensowenig näher erörtert, was primär an der Tatsache liegen mag, daß die interpretationstheoretisch eminent bedeutsamen Reflexionen Nietzsches von den großen Theoretikern der Hermeneutik praktisch nicht berücksichtigt und aufgenommen wurden. Am ehesten hat noch Dilthey Nietzsches Verwandlung des Interpretationsbegriffs gesehen, die neuerdings Paul Ricoeur auf die prägnante Formel gebracht hat, daß mit Nietzsche „die gesamte Philosophie Interpretation" 17 , ja, zu einer „Interpretation der Interpretationen" geworden sei 18 . Allein dieses Urteil vermag zu rechtfertigen, daß Nietzsches Bezug zur Hermeneutik des 20. Jahrhunderts auch in Bereichen untersucht wird, wo seine Wirkung nicht mehr explizit faßbar ist, sein Denken jedoch unter systematischem Gesichtspunkt für die hermeneutische Reflexion von größter Relevanz ist.
I. Nietzsches Kritik der Historie — Verhinderung Grundlegung geschichtlichen Verstehens?
oder
1. Diltheys historisch-methodologisches Selbstverständnis als Maßstab seiner Kritik an Nietzsche a) Werk- und zeitgeschichtliche
Vorbemerkung
Noch zu Lebzeiten Nietzsches hat sich Dilthey mit diesem Denker auseinandergesetzt. Er ist sich bewußt, daß Nietzsche einige Jahre nach Ausbruch 15
16
17
18
J. Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Tübingen 1926, 236 Anm. 2. Vgl. W. Mauer, Diltheys Kritik an Nietzsche, in: Berliner Hefte 4 (1949) 458 - 4 6 3 ; / . Kamerbeek, Dilthey versus Nietzsche, in: Studia philosophica 10 (1950) 5 2 - 8 4 ; G. Misch, Dilthey versus Nietzsche. Eine Stimme aus den Niederlanden, in: Die Sammlung 7 (1952) 3 7 8 - 3 9 5 . P. Ricoeur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. M. 1974 ( = suhrkamp taschenbuch Wissenschaft, 76), 38. Ders., Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, 21.
Nietzsche und die philosophische Hermeneutik
413
seines Wahnsinns zu einem Gegenstand der Philosophiegeschichtsschreibung geworden ist. In dem zuerst 1898 im ,Archiv für Geschichte der Philosophie' 19 veröffentlichten Beitrag .Die drei Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts' 2 0 schreibt Dilthey, daß das Interesse an der Geschichte der Philosophie dieses Jahrhunderts immer größer wird, und darin „besonders wirksame Personen wie Comte und seine Schüler, Schopenhauer und seine Verehrer, bis herab zu Nietzsche Gegenstand der Forschung in immer zunehmendem Grade geworden [sind]" 21 . Wie sehr sich auch Dilthey selbst von ihm herausgefordert weiß, und zwar in der zentralen Frage der Bestimmung des Philosophiebegriffs, das zeigt eine Titelnotiz, die sich am Anfang eines Universitätsbogens aus demselben Jahr 1898 befindet und welche lautet: „Zu Begriff der Philosophie. Nietzsche" 2 2 . Die zu diesem Titel gehörenden Notizen verraten die Kenntnis der Spätwerke Nietzsches; so wird z. B. aus der .Genealogie der Moral' und aus Jenseits von Gut und Böse' zitiert. Aber auch Werke aus der mittleren Schaffensperiode (.Menschliches, Allzumenschliches', .Morgenröte', ,Die fröhliche Wissenschaft') sind Dilthey vertraut 23 . Ja, Dilthey geht sogar von der später weit verbreiteten Unterteilung der philosophischen Entwicklung Nietzsches in drei Etappen aus, nämlich von jener des Künstlertums, des Wissenschaftlers und schließlich des wertschaffenden und wertsetzenden Philosophen 24 . Auch in späteren Jahren hat sich Dilthey mehr oder weniger ausführlich über Nietzsche geäußert, so in dem zuerst 1905 erschienenen Werk ,Das Erlebnis und die Dichtung', 2 5 mit dem Diltheys breitere Wirkung einsetzte 26 ; sodann in den erst in den .Gesammelten Schriften' veröffentlichten Fragmenten zu der 1906 erschienenen Jugendgeschichte Hegels' 27 , schließlich in dem 1907 publizierten Beitrag ,Das Wesen der Philosophie' 28 . Dilthey hat sich also in seinen letzten Lebensjahren fast durchgehend mit Nietzsche befaßt. Die erwähnte Tatsache mag teils aus zeitgeschichtlichen Gründen erklärbar sein, aber sie hat zum andern Teil gewiß auch in der Wirkung ihren Grund, die der 19 20 21 22 23
24
25 26
27 28
Siehe Anmerkungen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, 578. AaO. 528 ff. AaO. 528. Siehe Anmerkungen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, 267. Vgl. aaO. 200f.; .Menschliches, allzu Menschliches, ein Buch für freie Geister' (Chemnitz 1878), hat Dilthey in Westermanns Monatsheften, Bd. 48 (1880) 410, rezensiert (jetzt in: Gesammelte Schriften, Bd. 17, 390). Vgl. Gesammelte Schriften, Bd. 8, 199; „das irreführende Drei-Perioden-Schema" stammt nach dem Urteil K. Scblechtas, Nietzsche-Chronik, München/Wien 1975, 119, von L. Andreas-Salomés Buch: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894. W. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, Göttingen "1965, bes. 273ff., 286. Vgl. G. Misch, aaO. (siehe Anm. 16), 379; H. Johach und F. Rodi, Vorbericht der Herausgeber, in: Gesammelte Schriften, Bd. 18, IX. Jetzt in: W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 4, 1 ff., vgl. dazu: Anmerkungen, aaO. 576. Jetzt in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, 339ff., vgl. Anmerkungen, aaO. 427.
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im Wahnsinn gestorbene Philosoph auf Dilthey ausübte. Sowohl der zeitgeschichtliche als auch der biographische Hintergrund machen es verständlich, daß Dilthey 1904 in einer Skizze zu einem Gespräch mit dem Titel ,Der moderne Mensch und der Streit der Weltanschauungen' einen der Teilnehmer Nietzsche „den tiefsten Philosophen der Gegenwart" nennen läßt 29 . Auf die positiven Aspekte des Urteils Diltheys wird im Rahmen dieses Beitrags allerdings erst im zweiten Abschnitt näher einzugehen sein; hier geht es zunächst um den kritischen Aspekt, den dieser durch und durch historisch urteilende Denker aufgrund seiner methodischen Ausrichtung gegenüber Nietzsche mehrmals hervorgehoben hat. b) Nietzsche als Repräsentant eines ahistorischen Subjektivismus Das bevorstehende Ende eines Säkulums und der Beginn eines neuen Jahrhunderts vermag das Verhältnis des Menschen zur Geschichte und im besonderen zur Vergangenheit in mannigfacher Weise zu bestimmen. Nicht zuletzt kann die Faszination des unmittelbar bevorstehenden neuen Zeitabschnitts auch den Wunsch aufkommen lassen, von der Vergangenheit, die als Last erlebt wird, Abschied zu nehmen, um unbeschwert von den gewordenen Bindungen und Uberlieferungen gewissermaßen von vorne anzufangen. Gerade diese Einstellung glaubt Dilthey in der heranwachsenden Generation unmittelbar vor der Jahrhundertwende feststellen zu können; eine Einstellung, die er in enger Verbindung mit der zu seiner Zeit vorherrschenden Vorliebe für das Aktuelle und gegenwärtig Wirksame sieht, worunter auch das bevorzugte Interesse an Nietzsche zu rechnen sei 3 0 . Diese Haltung beruhe ebenso wie die zuerst geschilderte auf einer Geringschätzung der Historie. Doch daran setzt Diltheys Kritik an: eine solche Denkweise muß er von der wesentlichen Mitte seines Denkens, von den methodologischen Prämissen als Historiker her, für „unphilosophisch" erachten, denn das, was der menschliche Geist ist, könne nur durch das geschichtliche Bewußtsein an dem, was er gelebt und hervorgebracht hat, erkannt werden, und „dieses geschichtliche Selbstbewußtsein des Geistes kann uns allein ermöglichen, ein wissenschaftliches und systematisches Denken über den Menschen allmählich zu erarbeiten" 3 1 . Eine Erkenntnis des Menschen ohne historische Forschung ist daher nicht möglich. Pointiert faßt Dilthey seine Position in der These zusammen: „Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte." 3 2
29 30 31 32
Gesammelte Schriften, Bd. 8, 229. Vgl. Gesammelte Schriften, Bd. 4, 528. Ebd. Gesammelte Schriften, Bd. 8, 226.
Nietzsche und die philosophische Hermeneutik
415
Vor dem Hintergrund dieser Auffassung, in der selbst die systematischen Aussagen der Philosophie durchgehend historisch begründet werden, ist seine Kritik an Nietzsche verständlich, da er in ihm den Vertreter eines unhistorischen, ja antihistorischen Erkenntnisideals erblickt. Unzweifelhaft unter Bezugnahme auf das .zweite Stück' der Unzeitgemäßen Betrachtungen, nämlich ,Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben', meint Dilthey, daß Nietzsche von Basel aus, — „in verehrender Nähe zu dem ihm so weit überlegenen Jakob Burckhardt" 33 — „seine Absage an die Historie [schrieb]" 34 . Den Grund für Nietzsches antihistorischen Affekt bzw. für seinen Mangel an geschichtlichem Bewußtsein erblickt Dilthey in dessen extremen introspektiven Subjektivismus, mit dem er das Wesen des Menschen zu erfassen versuchte. Die Absage an die Historie spricht in aller Entschiedenheit „die subjektive und mit sich selbst beschäftigte Art dieses Geistes aus" 3 5 ; „das Aufgeben des historischen Forschens" ist „der Rückzug von der Erkenntnis auf geniale, fragmentarisch sich äußernde Subjektivität" 36 . Wie sehr Nietzsche mit seiner Selbstbeobachtung, durch die er zur Bestimmung des Wesens des Menschen vordringen wollte, entgegen seinem Willen von den historischen Bedingungen neuzeitlicher Vorgegebenheiten abhängig war, dies zeigt eine soziologisch orientierte Analyse Diltheys. Darin versucht er nämlich Grundgedanken von Nietzsches Philosophie, wie den „Ubermenschen", die Herrschaft der Mächtigen und die rücksichtslose Art der Durchsetzung, von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konstellationen der Gegenwart her zu erklären. Nietzsche habe gemeint, von der Geschichte und Gemeinschaft seiner Zeit abstrahieren zu müssen, und geglaubt, „den Kern, das, was den Menschen konstituiert, [. . .] in immer neuer Qual des Brütens über sich selbst packen zu können" 37 . Doch wohin führte das Nachdenken über das eigene Innere, und was hat es gefunden? Die Antwort Diltheys lautet lakonisch: „Eben das, was den heutigen historischen Stand unseres Wirtschaftslebens, unserer Gesellschaft charakterisiert: das .Gefährlich Leben', die rücksichtslose Entfaltung der eigenen Kraft; bloß diesen Ubermenschen hatte ihm die Historie von Eurípides bis zur Renaissance in die Seele gegraben; die großen Züge seiner Zeit sprachen von ihm [. . .]" 3 8 . Und die Entmythologisierung der großen Gedanken Nietzsches ist perfekt, wenn Dilthey meint, Nietzsche „[hätte] auch ganz andere Grundzüge in sich finden und zum Ideal gestalten können" 39 . 33 34 35 36 37 38 39
Gesammelte Schriften, Bd. 4, 528. AaO. 529. AaO. 528. AaO. 529. Ebd. Ebd.; vgl. ebenso Bd. 8, 226. Gesammelte Schriften, Bd. 4, 529.
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Im Horizont des sich selbst als umfassender verstehenden Erkenntnisideals, das die geschichtlichen Gegebenheiten in ihrer Bedeutung beachtet, kann Dilthey das Erkenntnisbemühen Nietzsches als einen über seine eigenen Voraussetzungen nicht aufgeklärten Prozeß beurteilen; als einen Prozeß, der im Subjektiven verhaftet bleibt und sich der historischen Bedingtheit der eigenen Subjektivität nicht bewußt ist. Aufgrund der mangelhaften Methodik mußte auch das Resultat solchen Reflektierens, insofern es auf das Wesen des Menschen abzielte, als ein abstraktes Gegenbild zu den den geschichtlichen Menschen konkret bewegenden Mächten erscheinen. Was Nietzsche generell über die Natur des Menschen sagen zu können glaubt, ist demnach nur die Verallgemeinerung der das Menschentum seiner eigenen Zeit bestimmenden Antriebe. Der Versuch, durch Introspektion die menschliche Natur zu erfassen, erscheint dann nur, wie Dilthey in einer späteren Notiz bemerkt, als „Nietzsches ungeheure Täuschung", die eben der Grund war, daß er „auch die Bedeutung der Geschichte nicht erfassen [konnte]" 40 . Mit den bisher dargelegten kritischen Aussagen ist jedoch nur e i n Aspekt der Nietzsche-Deutung Diltheys erfaßt, und wohl nicht einmal der entscheidende. Denn wesentlicher noch ist jene andere Sicht, die eine positive Linie von Nietzsche zu Dilthey zu ziehen erlaubt, auch wenn Dilthey selbst diesen Schritt nicht vollzogen hat. Gemeint ist die Deutung der Philosophie Nietzsches als einer lebensphilosophischen Position, die das Dasein aus sich selbst interpretiert; durch diese Auffassung der Philosophie Nietzsches wird zugleich aber das vermeintliche ahistorische Bewußtsein dieses Denkers relativiert werden, denn die lebensimmanente Daseinsauslegung versteht Dilthey, wie im folgenden zweiten Abschnitt zu zeigen sein wird, gerade im Gefolge der idealistischen Philosophie, in der Nietzsche seinerseits die Wende zu einer durchgehenden Historisierung des Lebens erblickt 41 . In Fortführung der bisherigen Darstellung soll vorher jedoch die geschichtsmethodologisch relevante Linie bis zu Heidegger und Gadamer weiterverfolgt werden; in ihr werden vollständig neue Möglichkeiten der Rezeption von Nietzsches Kritik der Historie sichtbar, wie es besonderes in Heideggers ,Sein und Zeit' der Fall ist, und dies, obwohl er im Kontext der einschlägigen Überlegungen dem Werk Diltheys, also einem „Gegenspieler" Nietzsches, Geltung verschaffen möchte; aber es sind auch — bei Gadamer — neue Dimensionen der Kritik feststellbar.
40 41
Gesammelte Schriften, Bd. 7, 250. Vgl. K G W VII 3, 162: 34 [73]: „ W a s uns ebenso von Kant, wie von Plato und Leibnitz trennt: wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind h i s t o r i s c h durch und durch. Dies ist der große Umschwung. Lamarck und Hegel - [. . . ] " ; vgl. a a O . 286: 36 [27]: „ D i e Philosophie, so wie ich sie allein noch gelten lasse, als die allgemeinste F o r m der Historie [. . .]'«.
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2. Heideggers existenziale Gründung der Historie in der Geschichtlichkeit des Daseins und seine Bezugnahme auf Nietzsche Das Problem der Geschichte und der Möglichkeit ihres Verstehens hat Heidegger nicht an sich zu klären beabsichtigt, wohl aber waren seine Uberlegungen in ,Sein und Zeit' von dem Interesse getragen, die fundamentalen ontologischen Voraussetzungen geschichtlichen Verstehens zu exponieren. Diese Überlegungen stehen in engstem sachlichen Zusammenhang mit dem Grundanliegen seines frühen Hauptwerkes, nämlich durch die existenziale Analytik „eine Möglichkeit der Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt zu finden" 4 2 . Auf die Ausarbeitung dieser Frage zielen die Ausführungen in ,Sein und Zeit'; um sie überhaupt exponieren zu können, ist aber seinerseits ein Bedenken der Seinsverfassung des das Sein verstehenden Daseins erfordert, die Heidegger im ersten Teil seines nur zur Hälfte geschriebenen Werkes dahingehend zu klären versucht, daß er das Dasein auf seine Zeitlichkeit hin interpretiert, und zwar vom ontologisch verstandenen Sinn der Sorge her 43 . In der Explikation der Zeit vermeint Heidegger den transzendentalen Horizont der Frage nach dem Sein gefunden zu haben, so daß sein ontologischer Entwurf mit Gadamer in der These zusammengefaßt werden kann, daß das „Sein selber Zeit [ist]" 44 . Die Grunddimension der Zeitlichkeit bildet nun auch die Mitte der Reflexionen Heideggers zur Geschichte und Geschichtlichkeit, wie sie sich im vorletzten Kapitel von ,Sein und Zeit' finden: Darin soll nämlich „die Geschichtlichkeit rein aus der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins , deduziert' werden" 4 5 . Es geht somit primär darum, „den ontologischen O r t des Problems der Geschichtlichkeit anzuzeigen" 46 . In indirekter Weise ist damit allerdings das Problem des geschichtlichen Verstehens angezielt. Denn zur Seinsart des Seienden, das geschichtlich existiert, zum Menschen, „gehört wesenhaft Erschließung und Auslegung", so daß daraus „die existenzielle Möglichkeit einer ausdrücklichen Erschließung und Erfassung von Geschichte [erwächst]" 47 . Diese Thematisierung ihrerseits aber „ist die Voraussetzung für den möglichen ,Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften' " 4 8 , wie Heidegger unter Zitierung der berühmten Abhandlung von Dilthey sagt. Insofern es sich aber nur um die Voraussetzung für die Historie 42 43 44 45 46 47 48
M. Heidegger, Sein und Zeit (siehe Anm. 4), 372. Vgl. aaO. bes. den § 65, 323ff. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 243. M. Heidegger, Sein und Zeit, 377, vgl. aaO. 376. AaO. 377. AaO. 376, vgl. insgesamt den § 32, aaO. 148ff. AaO. 376.
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als Wissenschaft handelt49, ist kein unmittelbar wissenschaftsmethodologischer Beitrag beabsichtigt. Heidegger möchte mit seinen Analysen vielmehr die ontologische Möglichkeit einer historischen Methodologie, und zwar vor allem jener, die Dilthey konzipiert hat, vorbereiten50. Im Zusammenhang mit der vorliegenden Themenstellung ist es nun von großem Interesse, daß sich Heidegger beim Aufweis des ,,existenziale[n] Ursprungfs] der Historie aus der Geschichtlichkeit des Daseins" 51 direkt auf Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung bezieht, in der dieser „das Wesentliche über .Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben'" gesagt habe52. Heidegger gibt dabei eine Deutung der darin unterschiedenen drei Betrachtungsweisen der Geschichte, die bekanntlich die monumentalische, die antiquarische und die kritische sind, nach der Nietzsche schon der Sache nach die Gründung der Historie in der Geschichtlichkeit angezielt habe, ohne sie jedoch selbst zu explizieren. Mit Berufung auf den „Anfang seiner B e trachtung' " läßt sich nach Heidegger „vermuten, daß er [seil. Nietzsche, J. F.] mehr verstand, als er kundgab". Im konkreten zeigte sich dies an den genannten drei Arten der Historie, die Nietzsche unterschieden hat, „ohne die Notwendigkeit dieser Dreiheit und den Grund ihrer Einheit ausdrücklich aufzuweisen". Diese geschieht erst in Heideggers Interpretation, nach der „die Dreifachheit der Historie in der Geschichtlichkeit des Daseins vorgezeichnet [ist]", so daß sich zugleich verstehen läßt, „inwiefern eigentliche Historie die faktisch konkrete Einheit dieser drei Möglichkeiten sein muß"; Nietzsches Einteilung ist also „nicht zufällig". Die Deutung Heideggers zeigt dies im einzelnen an den genannten drei Dimensionen geschichtlichen Daseins auf. Als zukünftiges existiert Dasein in der Entschlossenheit, und ist so „wiederholend offen für die ,monumentalen' Möglichkeiten menschlicher Existenz. Die solcher Geschichtlichkeit entspringende Historie ist ,monumentalisch'". In dem ersten Gedanken ist ein weiterer Grundzug desselben angelegt, nämlich das Dasein als gewesenes, denn „in der wiederholenden Aneignung des Möglichen liegt zugleich vorgezeichnet die Möglichkeit der verehrenden Bewahrung der dagewesenen Existenz". In Entsprechung dazu „[ist] als monumentalische die eigentliche Historie deshalb ,antiquarisch'" 53 . Analoges gilt vom dritten Aspekt der Geschichtlichkeit des Daseins, von der Gegenwart, in der sich die Einheit der beiden anderen, nämlich von Zukunft und Gewesenheit, zeigt. Sofern nun aber das Heute „aus dem zukünftig-wiederholenden Verstehen einer ergriffenen Existenzmöglichkeit ausgelegt ist, wird die eigent49 50 51 52 53
Vgl. aaO. 379. Vgl. den Hinweis auf Dilthey, aaO. 377, sowie 385 Anm. 1. AaO. 392 (Überschrift). AaO. 396; die folgenden Zitate finden sich ebenfalls auf dieser Seite. AaO. 396f.; die folgenden Zitate im Text entstammen 397.
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liehe Historie zur Entgegenwärtigung des Heute", d. h. zur „Kritik der ,Gegenwart'". Im ganzen zeigt sich somit, daß die monumentalische Historie zugleich antiquarische ist und beide zugleich kritische sind; alle drei Weisen der Historie aber gründen in der eigentlichen Geschichtlichkeit, deren Grund ihrerseits „die Zeitlichkeit als der existenziale Seinssinn der Sorge [ist]". Heidegger erblickt also in Nietzsche einen Vorläufer des eigenen Bemühens, die Historie in der Geschichtlichkeit des Daseins zu begründen. Seine in ,Sein und Zeit' verfolgten Intentionen sieht er, wenngleich noch nicht ausdrücklich herausgestellt, in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung vorweggenommen. Die hermeneutische Reflexion auf das geschichtliche Verstehen bewegt sich in jenen Bahnen, die in diesem Frühwerk Nietzsches vorgezeichnet sind. Zwar stellt sich angesichts dieser Nietzsche-Deutung selbst die hermeneutische Frage, ob hier nicht Heidegger der Gefahr erliegt, seine eigenen Denkkategorien in den Text Nietzsches hineinzutragen, und dies um so mehr, als jene Begrifflichkeit, mit der er die Dreifachheit des Begriffs der Historie Nietzsches auslegt, seine eigene, ohne und vor dem ausdrücklichen Bezug auf Nietzsche explizierte Position umschreibt54. Trotz dieser interpretationstheoretischen Bedenken aber kann festgehalten werden, daß die Problemstellung der genannten Schrift Nietzsches im Hintergrund der hermeneutisch relevanten Neubesinnung auf die Geschichtlichkeit in Heideggers ,Sein und Zeit' stand55 und deren konkrete Ausarbeitung mitbestimmte. Vermittels dieser Thematik aber steht Nietzsches Werk in engem Konnex mit dem Grundanliegen Heideggers, Sein von der Zeit und Zeitlichkeit her zu verstehen. Und dadurch ist in indirekter Weise eine Verbindung mit dem hermeneu tischen Neuansatz des 20. Jahrhunderts bei der Geschichtlichkeit gegeben.
3. Gadamers Kritik an Nietzsches Verständnis des historischen Horizonts Die Wirklinie von Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung setzt sich auch in jenem hermeneutischen Grundwerk der neueren Philosophiegeschichte fort, das unmittelbar an Heideggers existenziale Bestimmung des Verstehens in ,Sein und Zeit' anschließt, nämlich in Gadamers ,Wahrheit und Methode'. In mannigfachen Zusammenhängen bezieht sich Gadamer auf Nietzsche, die hier aber nicht zu erörtern sind, da sie teils beiläufigen Charakter im Fortgang der eigentlich hermeneutischen Überlegungen dieses 54
55
Vgl. hierzu bes. den gesperrt gedruckten Absatz auf Seite 385, in dem sich der Sache und der Terminologie nach schon jene Ausführungen finden, die die im übernächsten Paragraphen folgende Interpretation der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Nietzsches bestimmen. Vgl. O. Pöggeler, Einführung, in: Hermeneutische Philosophie, aaO., 24.
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Werkes haben 56 . Doch eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Nietzsches Schrift ,Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben' findet sieh an der Stelle, an welcher der Gedankengang in .Wahrheit und Methode' zu einer der zentralen Aussagen des Gesamtwerkes gelangt, nämlich in der Darstellung des ,,Prinzip[s] der Wirkungsgeschichte" vom Horizontbegriff her 57 . Den generellen Rahmen der Erörterung des für Gadamer charakteristischen Ansatzes beim wirkungsgeschichtlichen Prinzip gibt die Geschichtlichkeit des Verstehens ab, und zwar in ausdrücklichem Anschluß an Analysen in Heideggers ,Sein und Zeit'; im besonderen ist es hier die Vorstruktur des Verstehens, also das Problem seiner Zirkelhaftigkeit, bei dessen Erörterung sich Gadamer an Heidegger orientiert 58 . Da der Zirkel des Verstehens, den Heidegger in neuer Weise gedeutet hat, ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens beschreibt, ist er auch im geschichtlichen Verstehen von grundlegender Bedeutung. Hier wirkt er sich in der vorgängigen Wirkung der Uberlieferung auf das verstehende Subjekt aus, so daß „Verstehen als das Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten" beschrieben werden kann; die Sinnantizipation, die unser Verständnis leitet, ist darum „nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Uberlieferung verbindet" 5 9 . Das die verstehende Subjektivität übergreifende Bestimmtsein durch die Uberlieferung kennzeichnet Gadamer näherhin als Wirkung der Geschichte auf den Verstehenden. Seine These lautet, „daß in allem Verstehen, ob man sich dessen ausdrücklich bewußt ist oder nicht, die Wirkung dieser Wirkungsgeschichte am Werke ist" 6 0 . Hermeneutisches Bewußtsein nun zeichnet sich dadurch aus, daß es ein Wissen um diese Wirkungsgeschichte ist. Solches Wissen ist „zunächst Bewußtsein der hermeneutischen Situation", zu der — da es sich bei ihr um einen umgrenzten Standpunkt handelt — „wesenhaft der Begriff des Horizontes [gehört]" 61 . Diesen Begriff und seine hermeneutische Bedeutung charakterisiert Gadamer des weiteren in direkter Auseinandersetzung mit dem Verständnis des geschichtlichen Horizontes in Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung. Es ist vor allem der Aspekt der Geschlossenheit, den er bei Nietzsche und überhaupt an der an ihn sowie an Husserl anschließenden Terminologie kritisiert. Nach Gadamers Auffassung habe näm56
57 58 59 60 61
Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 13 (Bedeutung des Vergessens für das Leben), 59, vgl. 63 und 229 (zum Erlebnisbegriff und dem Einfluß Nietzsches darauf), ferner 118 f. Anm. 3, sowie den wichtigen Exkurs, 472f., gegen Löwiths Kritik an Heideggers NietzscheDeutung; und 503, 510. Wahrheit und Methode, 284 ff. Vgl. aaO. 250 f. AaO. 277. AaO. 285. Ebd. 285 und 286.
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lieh „der philosophische Sprachgebrauch seit Nietzsche und Husserl das Wort verwendet, um die Gebundenheit des Denkens an seine endliche Bestimmtheit und das Schrittgesetz der Erweiterung des Gesichtskreises dadurch zu charakterisieren" 62 . Es sei aber die Frage, ob man bei der Annahme von geschlossenen Horizonten und deren Erweiterungsmöglichkeit, die die Unterscheidung des einer vergangenen Zeit zugehörigen geschichtlichen Horizontes von dem der eigenen Gegenwart voraussetzt, tatsächlich das hermeneutische Phänomen trifft. Bei den Fragen, ob „die Kunst des historischen Verstehens dadurch richtig und zureichend beschrieben [ist], daß man lerne, sich in fremde Horizonte zu versetzen", bzw. ob es „überhaupt in diesem Sinne geschlossene Horizonte [gibt]", erinnert Gadamer „an Nietzsches Vorwurf gegen des Historismus, er löse den von Mythen umschlossenen Horizont auf, in dem allein eine Kultur leben könne" 63 . Die beschriebene Auffassung aber muß gerade von Gadamers Konzept der Wirkungsgeschichte her, in dem er die Bedeutung der Uberlieferung für die Gegenwart betont, als unzutreffend erscheinen, da eine solche Abgeschlossenheit des Vergangenen vom Gegenwärtigen nicht der wahren Situation geschichtlichen Verstehens entspricht. Im Verstehen der Geschichte vollzieht sich nämlich eine „ Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte"6*. Vor dem Hintergrund dieser für Gadamers philosophische Hermeneutik konstitutiven These ist sein Urteil zu verstehen, daß „es keine richtige Beschreibung des historischen Bewußtseins [ist], wenn man mit Nietzsche von den vielen wechselnden Horizonten spricht, in die es sich zu versetzen lehrt. Wer derart von sich selber wegsieht, hat gar keinen historischen Horizont [. . .]" 65 . Es wird also in ,Wahrheit und Methode' die an Nietzsches Sprachgebrauch in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung orientierte Redeweise von der Geschlossenheit sowie von der Vielzahl und dem Wechsel von Horizonten kritisiert, da eine solche das wahrhaft historische Bewußtsein verfehle. Ebenso trifft nach Gadamers Urteil „Nietzsches Aufweis des Nachteils der Historie für das Leben in Wahrheit nicht das historische Bewußtsein als solches, sondern die Selbstentfremdung, die ihm widerfährt, wenn es die Methodik der modernen historischen Wissenschaft für sein eigentliches Wesen hält" 66 . 62
63 64 65 66
A a O . 286. Von der Begrenzung als griechischer Ursprungsbedeutung her deutet auch M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, 573, den Horizontbegriff in dem f ü r seine Nietzsche-Rezeption bedeutsamen Abschnitt „Das praktische Bedürfnis als Schemabedürfnis, Horizontbildung und Perspektive" (ebd. 570ff.). Zur Geschlossenheit des Horizontes bei Nietzsche selbst siehe: UB II, K G W III 1, bes. 247f. Wahrheit und Methode, 287. AaO. 289. Ebd. Ebd., vgl. den., Kleine Schriften, Bd. 1,1,6f., und 103.
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Der zuletzt zitierten Feststellung, die sich übrigens in ähnlicher Weise bei Habermas findet 6 7 , kann im wesentlichen zugestimmt werden, da Nietzsche keineswegs eine Kritik des historischen Verstehens schlechthin angestrebt hat, sondern es nur in seinen zeitgenössischen Ausprägungen, die er für Depravationen erachtete, der Kritik unterzog. O b es allerdings sachgerecht ist, Nietzsches Horizontbegriff als negative Folie für die eigene Definition desselben zu verwenden, mag dahingestellt bleiben, und zwar um so mehr, als sich ja das Anliegen Gadamers, das Weiterwirken der Vergangenheit in der Gegenwart, und somit der Gedanke des existenziellen Betroffenseins durch die Uberlieferung mit einem Grundanliegen von Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung zumindest der Tendenz nach trifft 6 8 . Gleichwohl — und nur dies sollte hier herausgestellt werden — bestimmte die von einem Werk Nietzsches ausgehende Terminologie des Horizonts in entscheidender Weise, wenn auch in der Form kritischer Rezeption, die Darlegung eines der Grundgedanken der neueren philosophischen Hermeneutik mit, nämlich die Beschreibung geschichtlichen Verstehens als Horizontverschmelzung. Nach der Darstellung von fundamentalen Formen der Rezeption Nietzsches unter dem Aspekt der historischen Methodologie kann die in der Uberschrift zu diesem Abschnitt formulierte Frage nochmals aufgeworfen werden, nämlich ob seine Kritik der Historie zur Verhinderung oder zur Begründung des geschichtlichen Verstehens beiträgt, ob sie — um mit Nietzsches eigenen Worten zu sprechen — zum Nutzen oder Nachteil desselben ist. Das Urteil bei bedeutenden Theoretikern der philosophischen Hermeneutik ist widersprüchlich: während Dilthey in Nietzsches Schrift ,Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben' eine Absage an die Historie erblickt und sie somit in entschiedenem Gegensatz zur eigenen Geschichtshermeneutik sieht, erblickt Heidegger in ihr den Vorläufer der Reduktion historischen Verstehens auf die existenziale Geschichtlichkeit; Gadamer wiederum negiert den in ihr verwendeten Horizontbegriff, der auf einem Mißverständnis in der Auslegung vergangener Epochen beruhe. Die Alternative zwischen positiver und negativer Bewertung der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung kann somit nicht von der Rezeptionsgeschichte her entschieden werden; erfordert wäre ein Rückgang auf Nietzsches eigene Aussagen zur historischen Methodologie, wobei diese frühe Schrift auf sein Gesamtwerk zu beziehen wäre, um zu einem sachangemessenen Urteil zu gelangen. Dazu kann die Wirkungsgeschichte allerdings einen wertvollen heuristischen Einstieg bieten, da sie immerhin auch Aspekte an Nietzsches eigenem Denken erkennen läßt, insofern darin implizit in seinem Werk enthaltene Möglichkeiten und Tendenzen durch nachfolgende Deutungen ans Licht kommen können. Die divergenten Wege der Rezeption 67 69
J . Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 2 2 . - 2 8 . Tsd. 1971, 358. Vgl. das Vorwort Nietzsches zu U B II, K G W III 1, 241 ff.
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zeigen so in einer eigentümlichen Dialektik die breit gefächerte hermeneutische Relevanz des frühen Denkens Nietzsches auf. Die dargestellten Modelle vermochten aber noch einen weiteren Aspekt der Rezeption zu erhellen, insofern bei jedem der untersuchten Autoren in aller Deutlichkeit zu erkennen war, daß Nietzsches Position in engstem Zusammenhang, sei er kritischer oder affirmativer Art, mit dem eigenen systematisch-hermeneutischen Ansatz gesehen wurde. Dieses Faktum legt die Vermutung nahe, daß der Bezug zwischen Nietzsche und diesen Repräsentanten der philosophischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts nicht nur in dem spezifischen geschichtsmethodologischen Bereich bedeutsam ist, sondern auch hinsichtlich des allgemeinen hermeneutischen Grundkonzeptes selbst.
II. Interpretation als philosophische Methode Die einleitend gegebene Definition des hier zugrundegelegten Begriffs philosophischer Hermeneutik erfordert nicht allein die Reflexion auf die anthropologischen Prämissen einzelwissenschaftlichen Verstehens, ein Postulat, das in den bisherigen Darlegungen hinsichtlich der historischen Methodologie berücksichtigt wurde, sondern zugleich die Anwendung des hermeneutischen Reflexionsmodus auf die Philosophie insgesamt. Diesem Anliegen, das für das Selbstverständnis der Hermeneutik unseres Jahrhunderts konstitutiv ist, soll nun im Rahmen der generellen Problemstellung des Beitrags nachgegangen werden. Wie ist Nietzsches Bedeutung für den prinzipiellen systematisch-hermeneutischen Ansatz der drei hier behandelten Philosophen zu beurteilen? Lassen sich sachliche Parallelen zwischen Nietzsche, der allgemein als vielfältiger Anreger des Denkens im 20. Jahrhundert gilt, auch in der hermeneutischen Wendung der Philosophie aufzeigen?
1. Nietzsches weltimmanente Interpretation und Diltheys Deutung des Lebens aus ihm selbst Dilthey hat sich mit Nietzsche auf einer noch grundsätzlicheren Ebene als unter dem Aspekt des oben dargelegten Verhältnisses zur Geschichte und ihrer Erforschung auseinandergesetzt und die tragende Bedeutung der Kategorie „Interpretation" für dessen Philosophieren erkannt. In einem als Nachlaß zurückgelassenen Abschnitt zu der 1906 erschienenen Jugendgeschichte Hegels' 69 lesen wir, daß die von Hegel und Schelling zuerst versuchte „Inter69
Siehe oben A n m . 27.
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pretation der Welt aus ihr selber [. . .] zum Stichwort aller freien Geister [wurde]", und diese „in freierer Form von Schopenhauer, Feuerbach, Richard Wagner und Nietzsche als philosophische Methode angewandt [wurde]" 7 0 . Nietzsche führt also die Interpretation als philosophische Methode durch, und zwar in liberalerer Weise als sie im deutschen Idealismus an seinem Höhepunkt gehandhabt wurde. Worin aber bestand nun das Charakteristische des Verfahrens Hegels und Schellings, das Nietzsche weiterführte? Es ist in den Augen Diltheys das Verfahren der Konstruktion, das sich im Gegensatz zur Analyse Kants weiß. Die idealistische Methodik eröffnet schließlich die Möglichkeit, die Weltwirklichkeit allein immanent zu deuten. Denn sie impliziert zunächst den Begriff der Welttotalität in notwendiger Weise: die Grundkategorie ist hier das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen, und zwar in der pantheistischen Sicht, in welcher „jede Jenseitigkeit eines Allgemeinen, von dem das Besondere abhängt [. . .], aufgehoben [ist]" 7 1 . Wenn nun aber Gott und Welt in eins gesetzt werden, dann hat dies gravierende Folgen für die Auslegung der Welt: der Sinn der Welt kann nun nicht mehr aus dem Begriff göttlicher Vollkommenheit abgeleitet werden, vielmehr hat diese neue Weltanschauung „das Universum aus sich selber auszulegen unternommen, sich einsinnend, einfühlend, wie sich der Ausleger zu einem Kunstwerk verhält" 72 . Die Auslegung überschreitet nun nicht mehr die Welt; das unterscheidende Merkmal im Begriff der von Schelling und Hegel geforderten intellektualen Anschauung ist „in der Auslegung der Welt aus ihr selber, unter Ausschluß der transzendenten Vorstellungen" zu sehen 73 . In dieser Linie einer extrem immanentistischen Interpretation der Welt sieht Dilthey die Philosophie Nietzsches stehen, der „die Interpretation der Welt aus ihr selber" eben „in freierer Form" durchführt 74 . Worin diese größere Liberalität und zugleich auch ein grundsätzlicher Unterschied zum deutschen Idealismus besteht, das führt Dilthey näher in der Abhandlung ,Das Wesen der Philosophie' (1907) aus. Darin geht er unter dem Aspekt der Beziehungen zwischen Lebenserfahrung, Literatur und Dichtung auf den Standpunkt jener Denker ein, „welche von der philosophischen Forschung aus selber vorwärtsschreiten und, am System verzweifelnd, das Wissen über das Leben freier, menschlicher begründen und aussprechen wollen" 7 5 . Es ist jene Gruppe, „die von der systematischen Philosophie fortging zu einer subjektiveren, formloseren Art, das Lebens- und Welträtsel aufzulösen" 76 . 70 71 11 73 74 75 76
W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 4, 211. AaO. 209. AaO. 210. AaO. 211. Ebd. Gesammelte Schriften, Bd. 5, 368; vgl. auch 412. AaO. 369.
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Dilthey spricht dieser Gruppe in der Geschichte des menschlichen Geistes eine sehr hervorragende Bedeutung zu. Historisch lokalisiert er sie vor allem an jenen Punkten, an denen „eine Epoche des systematischen Denkens zu Ende gegangen war" 7 7 . Darin vollzieht sich ein Loslösen von der Allgemeingültigkeit, von der begrifflichen Durchdringung der philosophischen Aussagen. Dies war in der stoisch-römischen Philosophie, dann in der Renaissance bei Montaignes essayistischer Philosophie der Fall; „und noch selbstbewußter, härter als Montaigne" wenden sich eine Reihe von Denkern, zu denen Dilthey auch Nietzsche zählt, ab von der systematischen Philosophie, „noch folgerichtiger haben sie jede Verbindung mit Philosophie als Wissenschaft aufgehoben" 78 . Damit ist ein wesentlicher Unterschied zur Philosophie des deutschen Idealismus aufgezeigt. Im Vergleich mit der immanenten Weltauslegung Hegels und Schellings lassen sich somit zwei Aspekte an der Art der Weltinterpretation Nietzsches unterscheiden: gemeinsam verfolgt er mit den idealistischen Philosophen die Tendenz, „daß das Leben aus ihm selber gedeutet werden [soll]" 7 9 ; im Unterschied zu diesen verzichtet er jedoch bewußt auf jede Systematik, auf jeden Totalitätszusammenhang, der vermittels einer allgemeingültigen und alles integrierenden Philosophie metaphysischer Ausprägung hergestellt werden soll. In beiden Tendenzen kommt das von Dilthey rezipierte Bild von Nietzsche seinen eigenen Intentionen nahe: Diltheys Philosophieren kann als Versuch gewertet werden, das Leben aus ihm selbst, ohne metaphysischen Bezug, zu verstehen 80 . Damit wendet er sich zwar nicht, wie es Nietzsche nach seinem Urteil tat, gegen jede Systematik und schon gar nicht gegen die Verbindung der Philosophie mit der Wissenschaft, aber er lehnt von diesem lebensimmanenten Ansatz ausgehend jedenfalls die „metaphysische Kathederphilosophie" und deren Möglichkeiten und Wünschbarkeiten ab; in dieser Kritik an den „leeren Möglichkeiten metaphysischer Konzeptionen" 81 trifft er sich ebenfalls mit Nietzsche. Doch noch entscheidender als die genannten Parallelen ist eine Gemeinsamkeit im prinzipiellen Ansatz des Philosophierens, aus dem die aufgezählten Aspekte sich als Konsequenzen ergeben, nämlich in der Ausweitung des hermeneutischen Verfahrens zur philosophischen Methode schlechthin. Wenn das Leben aus ihm selber zu deuten ist, dann kann die Theorie der Interpretation nicht mehr allein auf geisteswissenschaftliche Phänomene beschränkt werden, sondern sie muß auf die Gesamtheit menschlicher Existenz in ihrer universalen geschichtlichen Weite bezogen werden. Die 77 78 79 80 81
Ebd. AaO. 370, vgl. Bd. 8, 197. Gesammelte Schriften, Bd. 5, 370. Vgl. O. F. Bollnow, Dilthey, aaO. 23 f. Gesammelte-Schriften, Bd. 8, 196.
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Hermeneutik des Lebens, die Dilthey anstrebte, tendiert dann von sich selbst her zu einer Ausweitung des Interpretationsbegriffs; indem „das hermeneutische Verfahren jetzt auf das Leben selbst übertragen [wird]", wird es nämlich „zur philosophischen Methode schlechthin", wie O . F. Bollnow feststellt 82 . Mit diesem Schritt aber, der die Hermeneutik als Methode der Geisteswissenschaften aufsprengt zur Methode der Philosophie insgesamt, ist eine Bestimmung des Hermeneutik- sowie Philosophiebegriffs gewonnen, wie wir sie in vergleichbarer Weise schon in den späten Fragmenten Nietzsches finden. Darin versteht Nietzsche seine Philosophie, die er bringen möchte, wesenhaft als Auslegung 83 . Die zuletzt erwähnte Tatsache ist nicht allein mit Rücksicht auf Dilthey von hohem Interesse, sondern vielmehr noch im Hinblick auf Heidegger und Gadamer. Denn das allgemeine Urteil über die Entwicklung der neueren Hermeneutik lautet, daß erst in Heideggers ,Sein und Zeit' bzw. in Gadamers ,Wahrheit und Methode' die Hermeneutik zu ihrem eigentlichen philosophischen Selbstverständnis gelangt sei, ja, daß erst mit diesen Entwürfen die Philosophie zur Hermeneutik geworden sei. Im folgenden soll darum die Kennzeichnung der Philosophie als Auslegung, wie sie Nietzsche in universaler Weise durchführt, in Begegnung und Unterscheidung mit dem erwähnten existenzial- bzw. sprachontologischen Ansatz des 20. Jahrhunderts erfolgen.
2. Ontologie als Hermeneutik bei Heidegger und bei Nietzsche Während bei der konkreten Thematik der Geschichtlichkeit ein direkter Bezug zwischen Heideggers ,Sein und Zeit' und Nietzsche gegeben ist, ist dies hinsichtlich des ontologischen Gesamtansatzes seines Frühwerkes nicht ohne weiteres nachzuweisen. Zwar hat Gadamer die Vermutung ausgesprochen, daß „der wahre Vorbereiter der Heideggerschen Stellung der Seinsfrage und des Gegenzuges zu der Fragerichtung der abendländischen Metaphysik, den sie bedeutete, [. . .] weder Dilthey noch Husserl sein [konnte], sondern am ehesten noch Nietzsche"; doch fügt er sofort hinzu, daß dies „Heidegger erst später bewußt geworden sein [mag]" 8 4 . Innerhalb dieser Einschränkung aber 82 83
84
O. F. Bollnow, aaO. 24. Zur ausführlichen Begründung dieser These siehe ]. Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale hermeneutische Theorie in den Fragmenten des späten Nachlasses, Diss. phil. Wien 1980, bes. Teil I: „Auslegung des Seins und der Daseinsbereiche". Die Drucklegung dieser Untersuchung, und zwar als Band in der Reihe ,Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung', de Gruyter-Verlag, Berlin/New York, ist vorgesehen. H.-G. Gadamer, 1972, 158.
Wahrheit und Methode, 243; vgl. ders.,
Kleine Schriften, Bd. 3, Tübingen
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hat Gadamer Wesentliches getroffen, wie sich besonders nach Vorliegen des zweibändigen Nietzsche-Werkes Heideggers sagen läßt 85 . Diese Feststellung soll aber hier nicht im Hinblick auf den ontologischen Ansatz als solchen verfolgt werden, sondern konkreter noch, nämlich in bezug auf die Frage, inwiefern die Seinsproblematik bei diesen beiden Philosophen wesenhaft als hermeneutische artikuliert wird, inwiefern also sowohl Heideggers als auch Nietzsches Ontologie methodisch als Hermeneutik angelegt ist. Es geht hier um einen Bezug von primär systematischer und weniger (philosophie-)geschichtlicher Art, der aber gleichwohl von fundamentaler Bedeutung ist, wenn nach dem Verhältnis Nietzsches zur Hermeneutik des 20. Jahrhunderts gefragt wird 8 6 . Meine These lautet dahingehend, daß die hermeneutische Grundlegung der Ontologie, wie sie Heidegger in ,Sein und Zeit' durchgeführt hat, der Sache nach schon von Nietzsche intendiert war, und zwar in den Fragmenten aus der Spätzeit seines Schaffens. Auf die hermeneutische Strukturierung der Frage nach dem Sein zielt Heidegger schon in der einleitenden Exposition dieser Frage ab, wenn er feststellt, daß „Ontologie nur als Phänomenologie möglich [ist]"87. Die phänomenologische Art der Deskription ist aber ihrem methodischen Sinn nach Auslegung, ja, die „Phänomenologie des Daseins ist Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet" 88 . Heidegger führt in diesem Zusammenhang einen weiteren Begriff der Hermeneutik ein, der von einer äußersten Radikalität ist: Denn „sofern nun aber durch die Aufdeckung des Sinnes des Seins und der Grundstrukturen des Daseins überhaupt der Horizont herausgestellt wird für jede weitere ontologische Erforschung des nicht daseinsmäßigen Seienden, wird diese Hermeneutik zugleich ,Hermeneutik' im Sinne der Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung" 8 9 . Es ist somit ein Hermeneutikbegriff gewonnen, der sich mit dem ontologischen Themenbereich schlechthin deckt, der also über die Begrenzung auf die Existenzialität des menschlichen Daseins hinausreicht. Die erwähnte Ausweitung des Begriffs, die m. E. auch in der an Heidegger orientierten hermeneutischen Diskussion, wie sie vor allem durch Gadamer initiiert worden ist, nicht mehr erreicht wurde, ist der Sache nach 85 86
87 88 89
Pfullingen 1961. Da ich im ersten Kapitel der in Anm. 83 genannten Arbeit Nietzsches hermeneutischen Entwurf der Ontologie vor dem Hintergrund der neueren Geschichte der Hermeneutik erörtert und im Zusammenhang damit die angesprochene Problemstellung ausführlicher dargestellt und begründet habe, möchte ich mich im folgenden — sowohl bei Heidegger als auch bei Gadamer — auf eine thesenhaft-abgekürzte Darlegung beschränken. M. Heidegger, Sein und Zeit, 35. A a O . 37. Ebd.
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schon bei Nietzsche vorgezeichnet. Und zwar kann man sich für diese Behauptung auf Aufzeichnungen aus dem späten Nachlaß berufen, die sich aufgrund ihrer besonderen Gestalt und Bedeutung von den sie umgebenden Notizen abheben. Vor allem meine ich hier Titelentwürfe und Konzeptionen von Einleitungen für geplante Werke, wie z. B. die erstmalige Nennung des Titels ,Der Wille zur Macht', aus dessen Untertitel hervorgeht, daß Nietzsche eine .Auslegung alles Geschehens' anstrebte 90 . Die Frage nach dem Sein im ganzen, das nun von der Universalität des Geschehens her verstanden wird, ist im Ansatz als Auslegung, also im Modus der Hermeneutik konzipiert. Aus dem Kontext, vor allem aus dem Entwurf einer — wie erst aufgrund der von G. Colli und M. Montinari besorgten Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches ersichtlich ist — zu diesem Titel gehörenden ,Vorrede' bzw. ,Einleitung' lassen sich die genaueren Konturen der angestrebten Auslegung erkennen 91 . Insgesamt dürfte aufgrund dieses Tatbestandes, der sich darüber hinaus im gesamten späten Nachlaß als fundamental für das Denken Nietzsches erweist, die These als gerechtfertigt erscheinen, daß dieser Philosoph von einem Begriff der Auslegung ausgegangen ist, der sich mit der Ontologie, ja mit der Philosophie im ganzen deckt. In seinem nur Ansatz und Entwurf gebliebenen Denken ist somit der universale Hermeneutikbegriff, der innerhalb der Philosophie des 20. Jahrhunderts in Heideggers Werk ,Sein und Zeit' anzutreffen ist, der Sache nach schon vorweggenommen und in fragmentarischen Ausführungen auch präzisiert worden.
3. Die sprachontologische Wendung der Hermeneutik Gadamers und Nietzsches Kritik der Sprache als bloßes Interpretament Mit der erläuterten These zum Verhältnis Nietzsche—Heidegger ist auch Wesentliches über den systematischen Vergleich der hermeneutischen Konzepte von Nietzsche und Gadamer gesagt. Und zwar wird durch die Aussage, daß sich bei Nietzsche ein die Philosophie als ganze bestimmender Hermeneutikbegriff findet, der Universalitätsanspruch der Gadamerschen Hermeneutik in seiner schließlich doch nur relativen Bedeutung aufgedeckt. Denn dieser Anspruch ist auf der Sprache, also auf einer Basis begründet, die innerhalb des universal-ontologischen Ansatzes Nietzsches nur eine partikulare Funktion hat, die selbst hermeneutisch hinterfragbar ist, und von Nietzsche auch kritisiert wird.
90 91
K G W VII 3, 349: 39 [1]; Näheres in den in Anm. 83 und 86 genannten Arbeiten von mir. Vgl. K G W VII 3, 354f.: 39 [14], und aaO. 355f.: 39 [15].
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Gadamer führt im dritten Teil seines Hauptwerkes die „ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache" durch 92 . Zur Aussage über die fundamentale Bedeutung der Sprachlichkeit gelangte er aus der Einsicht, daß die Erfahrung von jeglichem Seienden sprachlich vermittelt ist; diese Auffassung formuliert er in der These: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache."93 Von der universellen ontologischen Bedeutung der Sprache her gewinnt er schließlich einen Begriff der Hermeneutik, wonach diese „ein universaler Aspekt der Philosophie und nicht nur die methodische Basis der sogenannten Geisteswissenschaften [ist]." 94 Gerade ein solches Konzept einer hermeneutischen Philosophie, das auf der Universalität der Sprache und der Vernunft beruht 95 , ist in Nietzsches Reflexionen über das Auslegungsgeschehen überboten, insofern bei ihm Sprache ebenso wie die Vernunft nur ein Schema, „nur" eine Interpretation ist: „Das v e r n ü n f t i g e D e n k e n ist ein I n t e r p r e t i r e n nach einem Schema, welches w i r n i c h t a b w e r f e n k ö n n e n . " 9 6 Dieses Schema ist die Sprache, und die Notwendigkeit, daß wir „ n u r in der sprachlichen Form denken" 9 7 , weist zugleich auf die Begrenztheit des Denkens sowie der sprachlichen Welterfassung hin. An diesem Hinweis allein, der an anderer Stelle in ausführlicher Weise begründet worden ist, 98 vermag erkannt zu werden, daß die sprachontologisch fundierte Hermeneutik Gadamers nicht jene Radikalität und Weite auszeichnet, die für Nietzsches spätes Denken charakteristisch ist. 99
Zusammenfassung Die Untersuchung repräsentativer hermeneutischer Entwürfe des 20. Jahrhunderts zeigt die starke Präsenz des Denkens Nietzsches, die sich sowohl in der Form der Aufnahme als auch der kritischen Auseinandersetzung wider92 93 94 95 96 97
98 99
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 361 (Überschrift). AaO. 450. AaO. 451. Vgl. aaO. 452. K G W VIII 1, 198: 5 [22], AaO. 197; aus der einschlägigen Literatur zur Sprachkritik Nietzsches seien auswahlweise gen a n n t : / . Simon, Grammatik und Wahrheit, in: Nietzsche-Studien 1 (1972) l f f . , / . Hennigfeld, Sprache als Weltansicht. Humboldt—Nietzsche—Whorf, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 30 (1976) 435 ff.; ]. Albrecht, Nietzsche und das sprachliche Relativitätsprinzip, in: Nietzsche-Studien 8 (1979) 225—244; K. Schlechta, Nietzsche über den Glauben an die Grammatik, in: Nietzsche-Studien 1 (1972) 353ff. Für Gadamer hingegen bedeutet die Tatsache, daß das „Verstehen sprachgebunden [ist] [. . .] keineswegs eine Art Sprachrelativismus" (in: Kleine Schriften, Bd. 1, 111). Vgl. bes. die Kapitel 7, 8 und 9 der in Anm. 83 genannten Untersuchung. Gadamer selbst weist auf die Radikalität des hermeneutischen Ansatzes Nietzsches hin, wenn er sagt, daß mit diesem Denker, und zwar aufgrund seiner grundsätzlichen Bewußtseinskritik,
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spiegelt. Nietzsche wird dabei aber nicht beiläufig rezipiert, sondern stets als Herausforderung und Infragestellung des eigenen systematischen Ansatzes betrachtet. In expliziter Weise kann der differenzierte Rezeptionsprozeß im Bereich der Reflexion über die Bedeutung der historischen Methodologie für das Verstehen abgelesen werden. Da die Frage des geschichtlichen Verstehens sowie der Geschichtlichkeit des Menschen innerhalb der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts zu einer schlechthin bestimmenden geworden ist, ist Nietzsches Wirkung für diese philosophische Disziplin nicht zu umgehen, sondern sie tritt vielmehr an hervorragenden Punkten der philosophischen Erörterung des (geschichtlichen) Verstehens — bei Dilthey und in anderer Weise bei Gadamer — sowie der Geschichtlichkeit — bei Heidegger — in den Mittelpunkt der Problemstellung. Während in dem spezifischen Bereich der Geschichtshermeneutik Nietzsches Wirkung ausdrücklich geworden ist und in den grundlegenden Werken der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts sowohl von Dilthey als auch von Heidegger und Gadamer explizit auf diesen Denker Bezug genommen wird, muß im Hinblick auf das für die philosophische Hermeneutik unseres Jahrhunderts kennzeichnende Selbstverständnis, nämlich daß sie zugleich die Philosophie als ganze grundlegt, allerdings gesagt werden, daß die behandelten Autoren dem Denken Nietzsches in dieser Hinsicht keine bestimmende oder profilierende Bedeutung zumaßen. Zwar erkennt Dilthey Nietzsches Verwandlung des Interpretationsbegriffs zu einer schlechthin philosophischen Kategorie, doch vermag dies in seinen Augen nicht die Differenzen zu ihm hin zu überbrücken. Ebenso hat Heidegger in ,Sein und Zeit' — bis 1927 also — in Nietzsche nicht einen Vorbereiter der eigenen hermeneutischen Bestimmung der Philosophie zu erblicken vermocht: Ähnliches gilt von Gadamers .Wahrheit und Methode', worin Nietzsche ebenfalls nicht als Vorläufer einer hermeneutisch gewendeten Philosophie zur Sprache kommt. Das genaue Studium der Aufzeichnungen Nietzsches — im besonderen aus der Spätzeit seines Schaffens — aber kann zeigen, daß die Grundlegung der Philosophie als Hermeneutik in wesentlichen Tendenzen schon von diesem Denker vorweggenommen wurde. Angesichts dieses Tatbestandes müßte die Frage nach dem Verhältnis zwischen Nietzsche und der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts in rechter Weise so weitergeführt werden, daß überlegt wird, ob die bestimmenden hermeneutischen Entwürfe von Dilthey über Heidegger bis Gadamer nicht durch ein erneutes Bedenken der Ansätze Nietzsches im Bereich der Auslegungsthematik sowohl radikalisiert als auch weiter differenziert werden könnten. „der Begriff der Interpretation [. . .] eine hochreflektierte Bedeutung erlangt": Kleine Schriften, Bd. I, 139; vgl. den., Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1976, 93.
Diskussion Salaquarda: Ich möchte zu einem begrenzten Aspekt und nicht zur ganzen Thematik, deren Reichweite gerade durch das Referat deutlich wird, Stellung nehmen. Sie haben — ich glaube völlig zu recht — gezeigt, Herr Figl, daß Heidegger in Sein und Zeit die drei Weisen der Zeitlichkeit, die Zukünftigkeit, die Gewesenheit und die Gegenwärtigkeit,1 welche die Geschichtlichkeit des Daseins begründen sollen, in einem systematischen Gedankengang entwickelt und nur nebenher auf Nietzsche zu sprechen kommt. Wie anders Heideggers Zugang und philosophisches Interesse aber auch sein mögen: Es ist für mich gerade nach intensiver Beschäftigung mit der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung erstaunlich, wie sehr sich seine drei zeitlichen Bestimmungen der Geschichtlichkeit mit Nietzsches drei Grundformen der Geschichtsbetrachtung berühren. Heideggers kurzer Hinweis auf Nietzsche enthüllt meines Erachtens einen tieferen systematischen Zusammenhang. Ich will kurz begründen, wie ich das meine: Mir scheint, daß Nietzsche in der Ausgangsstellung zunächst von einem undifferenzierten Lebensbegriff ausgeht, aber dann eine entscheidende Differenzierung einführt: Es gibt völlig unhistorisches Leben und es gibt partiell historisches Leben. Auch dieses partiell historische Leben, unseres nämlich, das menschliche Leben bedarf des Unhistorischen. Das Unhistorische ist immer das Vorgängige; es muß bleiben. Wenn, wie in der Historisierung allen Geschehens, die Gefahr besteht, das Unhistorische zu beseitigen, dann wird der Mensch lebensunfähig. Aber eben dadurch, daß das Leben partiell historisch ist, wird es überhaupt menschliches Leben, wird interessant usw. Denkt man diesen Ansatz weiter, dann kommt man, so meine ich, ganz von selbst auf den Begriff der „Geschichtlichkeit", der sich nicht nur auf den jeweiligen Umgang mit der Geschichte, nicht nur auf die Stellung zum Vergangenen, sondern auf die fundamentalen Gestaltungsformen des menschlichen Lebens selbst bezieht. Nietzsches Begriff der „Historizität" hat also von Anfang an eine unmittelbare Verbindung zu dem, was eben heute — nach Heidegger — Geschichtlichkeit im existenziellen Sinne genannt wird. So gesehen bezeichnen auch „monumentalisch", „antiquarisch" und „kritisch" die Grundtypen menschlicher Existenz, die in den drei Stellungen zur Geschichte eben ihren charakteristischen Ausdruck finden.
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M. Heidegger, Sein und Zeit § 74.
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Ich hoffe, daß diese kurze Überlegung erkennen läßt, welchen Zusammenhang ich hier sehe. In der Literatur gibt es m.W. erst einen, leider noch nicht sehr eindringlichen Versuch von Ilse Nina Bulhof 2 , die kategoriale Verbindung von menschlichem Leben und Historizität bei Nietzsche herauszuarbeiten. Bei einer kritischen Analyse dieses Problemfeldes hätte man auch zu berücksichtigen, daß Nietzsche in gewisser Hinsicht weiter geht, als es Heideggers fundamental-ontologische Betrachtung jemals tun könnte: Aus den Weisen der Geschichtlichkeit entwickelt Nietzsche drei Grundtypen des neuzeitlichen Menschen, nämlich den rousseauischen, goethischen und schopenhauerischen Menschen. Diese drei historischen Typen sind nicht ganz identisch mit dem, was er auf der anthropologischen Ebene ausarbeitet, aber sie haben eine sehr starke Affinität zueinander. „Kritisch" und „schopenhauerisch" sind m. E. nahezu gleich, und ziemlich nahe beieinander liegen jeweils der „monumentalische" und der „rousseauische" sowie der „antiquarische" und der „goethische" Mensch. Müller-Lauter: Mein erster Diskussionspunkt bezieht sich auf etwas Allgemeines, über das ich noch nachdenken muß. Vorläufig würde ich es so formulieren: Sie sprechen zum Schluß davon, Herr Figl, daß wir bei Nietzsche die Vorwegnahme von Interpretation als philosophischer Methode überhaupt finden und zwar als Vorwegnahme im Hinblick auf Dilthey, Heidegger und Gadamer. Sie haben zugleich darauf hingewiesen, daß der Interpretationsbegriff von Nietzsche ja sehr viel weiter ist als in der durch diese Namen bezeichneten hermeneutischen Tradition. Das wird besonders deutlich an Ihrer Ausführung zu Gadamers Sprachverständnis im Vergleich zu Nietzsches Auffassung von Sprache. Meine Frage ist, ob — ich will Sie nicht auf das Wort festlegen — man tatsächlich von einer Vorwegnahme sprechen kann oder ob es nicht eben doch so ist, daß das, was sich in der Folge: Dilthey, Heidegger, Gadamer entwickelt, für sich selbst zu sehen ist. Dabei will ich gelegentliche Bezugnahmen, so etwa die mich sehr interessierenden Einsichten Diltheys in Nietzsches Interpretationsverständnis, nicht abwerten und schon gar nicht leugnen. Ist es aber nicht doch etwas ganz anderes, was da in einer ungeheuren Radikalität bei Nietzsche geschieht, als das, was sich auf der Ebene der „philosophischen Hermeneutik" — Sie haben ja dankenswerterweise Hinweise auf die Genese dieser Methode, dieser Philosophie gegeben — vollzieht? Eine zweite Frage speziell zu Sein und Zeit und zu jener Bemerkung über Nietzsche, in der es sinngemäß heißt, der Anfang von Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung lasse vermuten, daß er mehr wußte, als er 2
I. N . Bulhof, Apollos Wiederkehr. Eine Untersuchung der Rolle des Kreises in Nietzsches Denken über Geschichte und Zeit, Den Haag 1969. Vgl. dazu die Rezension von J. Salaquarda in den Nietzsche-Studien 1, 1972, 427ff.
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kundgab.3 Das ist doch zunächst bezeichnend für Heideggers Umgang mit Nietzsche; einerseits nimmt er ihn für eine wesentliche Einsicht in Anspruch, andererseits soll Nietzsche selber gar nicht alles gesagt haben, was er eigentlich wußte; erst Heidegger mußte kommen, um es auszudrücken. Ich sage das nicht ironisch oder polemisch. Es ist ja das von Heidegger selbst zugegebene Verfahren, das sich hier schon im Beginn seines eigenständigen Denkens findet. Ist jene Ausführung wirklich von Gewicht für Heideggers Ansatz? Ich habe Sie, Herr Figl, vorhin so verstanden, als ob Sie überhaupt in Sein und Zeit Hinweise darauf finden, daß da Nietzsche bereits intensiver verarbeitet worden ist. Aber vielleicht habe ich das mißverstanden. Jedenfalls ist die eigentümliche Trias, die die Zeitlichkeit und die Geschichtlichkeit in Heideggers Daseinsanalyse konstituiert, faktisch an vielen Phänomenen aufweisbar; Heideggerisch, daseinsanalytisch, gesprochen: Weil Dasein nur so existiert, daß es als zukünftiges gleichursprünglich gewesenes und eben darin gegenwärtigendes ist, 4 läßt sich diese Dreiheit systematisch vielfältig aufzeigen. Sie gehört so wesentlich zum menschlichen Verstehen, daß wir sie deshalb auch in den philosophischen Analysen der Zeit von alters her herausgestellt finden (ich verweise nur auf Aristoteles und Augustinus). Gerade deshalb darf man sich nicht dazu verführen lassen, die grundsätzliche Differenz zwischen Nietzsches und Heideggers Auffassung der Historie zu übersehen. In der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung wird mit den Begriffen des Unhistorischen und des Uberhistorischen operiert, nach Sein und Zeit ist menschliches Dasein so grundlegend geschichtlich, daß jeder Versuch, daraus auszubrechen, das Eigentliche des Daseins verfehlt. — Blicken wir auf die spätere Entwicklung der beiden Denker, so wird der Abstand zwischen ihnen in dieser Hinsicht noch größer. Nietzsche stellt überall die Gegensätze von Machtquanten heraus. Heideggers Weg führt von der Darstellung der Einheit des Daseins zur Einfachheit des Bezuges von Sein zu Dasein. Historie ist beim frühen Heidegger viel vermittelter herausgestellt worden, als dies bei Nietzsche geschieht. Wir dürfen Heideggers Nietzsche-Zitat in Sein und Zeit nicht überbewerten. Vielleicht ist es nur so, daß sich Nietzsches Trias als besonders geeigneter Beleg für Heidegger anbot. Zu Heideggers damaliger Nietzsche-Kenntnis könnten Sie vielleicht mehr sagen, Herr Figl, und zwar deshalb, weil Sie, wie ich weiß, Löwiths Dissertation bei Heidegger über Nietzsche eingesehen haben. Daraus könnte vielleicht erkennbar werden, ob nicht beim frühen Heidegger in Sachen Nietzsche noch mehr Bewegung gewesen ist als man aus den bisherigen Publikationen weiß. 3 4
Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O . § 76. Vgl. ebd. § 74.
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Baier: Zuerst eine Bemerkung zum Verhältnis Nietzsche-Dilthey. Hier muß man wohl die Mittlerrolle Heinrich von Steins sehen, dessen Werk- und Lebensgeschichte doch einigen Aufschluß sowohl über Nietzsche wie auch über Dilthey gibt. Hier ist leider die Forschung noch nicht weiter gekommen. Vorerst kann man nur auf die schöne Ausgabe von Günter Ralfs hinweisen,5 in der von Steins Werk vorgestellt und die persönliche Beziehung zu Dilthey und zu Nietzsche dokumentiert ist. Aus dem bisher vorliegenden Material ziehe ich den Schluß — man muß ja auch einmal aus Indizien schließen können, sonst ist die Erforschung der Wirkungsgeschichte ja überhaupt nicht möglich —, daß Nietzsche selbst auf Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) reagiert hat und umgekehrt Dilthey auf Nietzsche eingeht und daß sich aus dieser Reaktion — Kamerbeek begreift das nicht so ganz6 — sich so etwas wie ein Streit um die hermeneutische Methode ergeben hat. Es ist offensichtlich ein Disput über die Stellung der Geisteswissenschaften, die Nietzsche bezeichnenderweise die „unnatürlichen Wissenschaften" nennt. Die bisherigen Untersuchungen dieser Beziehung lassen immerhin soviel erkennen, daß man sicher sein kann, bei intensiver Suche noch weitere Aufschlüsse zu erhalten. Dann möchte ich noch eine weitere historische Ergänzung zu dem eindrucksvollen Referat von Herrn Figl machen, der selbst ja den Schwerpunkt auf die systematischen Verbindungen gelegt hat. Ich meine die bisher noch nicht verfolgte Fährte von Nietzsche über Georg Simmel zu Heidegger. Simmeis Denken knüpft ständig Fäden zwischen dem Verstehen des Lebens und dem Verstehen der Geschichte. Sein „individuelles Gesetz" kann sowohl als Kontraformel zu Dilthey wie auch als Vorformel zu Heidegger gelesen werden. Die in der Literatur bereits vertretene Behauptung, Heideggers Hermeneutik des sich selbst auslegenden Daseins folge Simmeis Auffassung vom Leben als einem sich in intelligiblen Formen darstellenden Prozeß, hat einige Plausibilität. Ich will das jetzt nicht weiter ausführen, möchte aber meinen, daß die Aufnahme Simmeis in den Entwicklungsgang der philosophischen Hermeneutik auch wichtige systematische Aufschlüsse erbringen könnte. Zum Schluß eine riskante Frage: Warum hat sich weder Dilthey noch Simmel — und ich würde auch Gadamer, trotz seiner Publizität der letzten Jahre, hinzurechnen —, warum hat sich keiner dieser Hermeneutiker wirklich durchsetzen können? Es ist ganz gewagt, wenn ich darauf — die Schlußbemerkung des Vortrags verschärfend — antworte: Weil sie alle nicht die Radikalität und damit die gedankliche Tiefe Nietzsches erreicht haben. Sie alle haben nämlich Pseudomedien der ,Hermeneusis' entwickelt und nicht das 5
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Heinrich von Stein, Idee und Welt. Das Werk des Philosophen und Dichters. Hrsg. von G. Ralfs, Stuttgart 1940. J . Kamerbeek, Dilthey versus Nietzsche, a . a . O .
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Problem selbst festgehalten. An Dilthey stört es mich immer, wenn er vom Strukturzusammenhang der Seele spricht, der sich dann wieder im Zweckzusammenhang der Kultur darstellt. Uber dieses Medium verfügt die Psychologie als die fundierende Wissenschaft der Geisteswissenschaft. Bei Simmel ist es das Medium der sozialen und kognitiven Interaktionen, die sich bekanntlich zu sozialen und kulturellen Formen herauskristallisieren, worüber wiederum Soziologie und Kulturwissenschaft verfügen. Bei Gadamer ist es ganz eindeutig die Pseudotextur der Sprache als des Mediums, in dem sich die auszulegenden Prozesse als ausgelegte Prozesse schon entfaltet haben. Philosophie als Hermeneutik kommt zu einer Art Kulturgeschäft mit Texten herunter. Ich bin gewiß, daß nur Heidegger die Radikalität Nietzsches erreicht, womöglich überboten hat. Das Medium, in dem sich die auslegenden Prozesse darstellen und verstehen lassen, muß selbst radikal gefaßt werden. Bei Nietzsche geschieht dies mit dem Begriff des Lebens als Willen zur Macht, bei Heidegger mit dem des Daseins in der Seinsverfassung der Selbstauslegung. Leben oder Dasein sind das, worin sich überhaupt die „Substanz" der Welt in ihrer reinen Immanenz ausdrückt. Insofern glaube ich, jede Hermeneutik, die sich wirklich als Methode durchdenkt, braucht einen solchen Konterbegriff als „Substanz" reinster Immanenz. Nietzsche und Heidegger haben je auf ihre Weise einen solchen Begriff, eben eine Fundamentalontologie entwickelt, die die Hermeneutik zu einer wahrhaften philosophischen Methode macht. Alles übrige sind halbverrottete, halb-,säkularisierte' Pseudomorphosen von ehemals philosophischen ,Substanzen* mit — aus anderen Wissenschaften — geborgten Erkenntnis- und Darstellungsmethoden. Ich erspare mir zu sagen, daß auch die Soziologie von einer analogen Pseudomorphose eines Substanzbegriffs ausgeht, nämlich vom sozialen Handeln oder von sozialen Funktionen . . . Figl: Ich möchte gleich bei den Worten von Herrn Baier einsetzen. Ihrer Erwägung, warum die hermeneutischen Entwürfe nicht die Durchsetzungskraft ursprünglichen Philosophierens haben, würde ich wohl zustimmen. Sie haben mit Recht gesagt, die Radikalität Nietzsches werde, mit Ausnahme vielleicht von Heidegger, nicht erreicht. Meines Erachtens besteht diese Radikalität darin, daß im Ansatz Nietzsches nicht allein der Mensch ein auslegendes Wesen ist, sondern schlechthin jedes „Wesen", jede monadologische Existenz legt die Wirklichkeit in einer spezifischen Weise aus. Hier ist also schon ein Auslegungsbegriff konzipiert, der über die Anthropologie hinausgeht und insofern in der Lage ist, die gesamte Ontologie zu fundieren. Dies ist ein Punkt, an dem Nietzsche umfassender und gründlicher die ontologischen Voraussetzungen einer philosophischen Hermeneutik zu bedenken versucht als es vielfach im 20. Jahrhundert der Fall ist.
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Was die philosophische Hermeneutik im engeren Sinne angeht, so wurde ja schon herausgehoben, daß die Wirkung Nietzsches vielleicht deshalb nicht so stark gewesen ist wie sie es verdient hätte, weil sein Konzept der Philosophie als Auslegung nur aphoristisch und fragmentarisch entworfen, nirgendwo systematisch entwickelt worden ist. Gerade weil die Systematiker der Hermeneutik hier einiges unterlassen haben, bleibt für die weiterführende Nietzsche-Deutung noch manches zu tun. Ihre Fährte zu Simmel ist gewiß interessant; aber es müßte noch eine Reihe anderer Spuren verfolgt werden, z.B. auch die zu Max Scheler, wie die zu anderen bedeutenden Vertretern des hermeneutischen Denkens im zwanzigsten Jahrhundert. Warum nicht auch zu Eduard Spranger? Ich glaube aber mit den drei Positionen: Dilthey, Gadamer, Heidegger die wichtigsten genannt zu haben. Vor allen Dingen scheint mir Dilthey doch bedeutsamer für die Grundlegung der Hermeneutik zu sein als beispielsweise Georg Simmel. Zu der von Ihnen angesprochenen Verbindung zwischen Heinrich von Stein, Nietzsche und Dilthey muß gesagt werden, daß die Grundthese von Kamerbeek, die Sie zitiert haben, eigentlich nicht im Blickwinkel meines Referates lag. Ich habe nicht untersuchen wollen, ob Nietzsche Dilthey gelesen oder gekannt hat. Meine Frage lautete: Wie war Dilthey von Nietzsche beeinflußt? Es ging mir also nur um diese eine Rezeptionsrichtung; der andere Aspekt hingegen konnte hier nicht behandelt werden. Zur Ergänzung des Hinweises sei aber bemerkt, daß Heinrich von Stein, der aus dem Wagner-Kreis kam und kurze Zeit Vertrauter Nietzsches war, sich dank Dilthey in Berlin habilitiert hat und dann auch später dorthin berufen wurde. J. Kamerbeek, ein holländischer Geschichtslehrer, hat von Steins Stellung zwischen Dilthey und Nietzsche untersucht und gemeint, daß zwei Aphorismen im 5. Buch der Fröhlichen Wissenschaft, die Aphorismen 355 und 366, eigentlich nur vor dem Hintergrund einer Dilthey-Lektüre Nietzsches verstanden werden können.7 Das sind gewiß hochinteressante Annahmen, die viel für sich haben, aber hier nicht erörtert werden können. Herrn Müller-Lauters Frage, ob man bei Nietzsche von Vorwegnahme der Interpretation als philosophischer Methode sprechen könne oder ob das nicht etwas ganz anderes sei, muß ich als kritischen Einwand akzeptieren. Der 7
FW 355 handelt vom „ Ursprung unsres Begriffs ,Erkenntnis'", und nimmt die Auffassung von der Erkenntnis als einer Rückführung von etwas Fremden auf etwas Bekanntes zum Ausgangspunkt, um von ihr her den wahrscheinlich auf Dilthey zu beziehenden Standpunkt zu kritisieren, es sei „methodisch geboten, von der ,inneren Welt', von den ,Thatsachen des Bewusstseins' auszugehen, weil sie die uns b e k a n n t e r e Welt sei" (KGW V 2, 276). FW 366 ist überschrieben: „Angesichts eines gelehrten Buches", wobei Nietzsche Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften im Auge haben könnte. Dieses Werk erschien 1883; die genannten Aphorismen sind im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft enthalten, das erst in der zweiten Auflage im Jahr 1887 veröffentlicht wurde. Zu Kamerbeek siehe Anm. 16 meines Beitrages.
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Ausdruck „Vorwegnahme" ist teilweise irreführend, weil es tatsächlich nicht dasselbe ist, was Nietzsche und was dann später Heidegger und Gadamer gedacht haben. Ich habe diesen Ausdruck eher aus einer kritischen Tendenz gegenüber dem Selbstverständnis dieser Hermeneutiker gewählt, nämlich um deren Originalitätsanspruch, den Anspruch, erst in ihrem Denken hätte sich Philosophie als Hermeneutik expliziert, zu problematisieren. Sie haben, Herr Müller-Lauter, noch eine Bemerkung im Hinblick auf Sein und Zeit gemacht und die Formulierung erwähnt, in der Heidegger vermutet, daß Nietzsche mehr wußte als er kundgab, ohne sich vor die Notwendigkeit gestellt zu sehen, die Dreiheit von Zukünftigkeit, Gewesenheit und Gegenwärtigkeit und den Grund ihrer Einheit ausdrücklich aufzuweisen. M.E. bestätigt das nur Ihr Bedenken, Heidegger verstehe sich als ein Ausleger, der über den Text selbst hinausgeht. Das ist jedoch an sich nicht illegitim, weil dadurch nicht explizierte Tendenzen eines Textes ausdrücklich gemacht werden können. Damit bin ich schon bei dem Votum von Herrn Salaquarda: Ich glaube auch, daß mit dem Begriff der Geschichtlichkeit tatsächlich etwas auf den Begriff gebracht ist, das Nietzsche selbst, wenn auch nicht ausdrücklich in dieser Terminologie formuliert hat. Insofern hat die Deutung Heideggers ihre eigene Legitimität. Heidegger hat zu zeigen versucht, daß mit dem Versuch einer Grundlegung der Geschichtlichkeit eine Kritik der Historie verbunden ist. In Nietzsche erblickte er in dieser Hinsicht einen Partner desselben Gedankens. In diesem Punkt steht auch Dilthey Nietzsche sehr nahe. Noch eine kurze Bemerkung zur Dissertation von Karl Löwith, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Sie stammt aus dem Jahre 1923 und der Titel der nicht veröffentlichten Studie lautet: „Auslegung von Nietzsches Selbst-Interpretation und von Nietzsches Interpretationen".8 Aus Hinweisen in dieser Arbeit geht hervor, daß sie in Begegnung und Auseinandersetzung mit Martin Heidegger entstanden ist. Dabei wird klar, daß dieser Dr. Martin Heidegger damals in Freiburg sich wohl intensiver mit der Hermeneutik und mit der Interpretationstheorie Nietzsches befaßt hat und doch von einer größeren Kenntnis seines Werkes her gedacht hat als literarisch nachweisbar ist. Ich meine daher, und das wird auch durch das Votum Otto Pöggelers bestätigt,9 daß Heidegger zwar von Anfang an einen engen Bezug zu Nietzsche gehabt, sich aber erst etwa von 1930 bzw. 1936 an mit ihm in Vorlesungen und Publikationen auseinander gesetzt hat. 10
8 9 10
Original in der Universitätsbibliothek der Universität München. Vgl. O . Pöggeler, Einführung in: Hermeneutische Philosophie, a . a . O . 24. Vgl. M. Heideggers Vorwort in: Nietzsche, Bd. 1, Pfullingen 1961, 10.
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Taureck: „Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr's nicht aus, so legt was unter". (Goethe) Ich habe den Eindruck, daß sich auch die Theoretiker der Interpretation, die Vertreter der philosophischen Hermeneutik, nach diesem Wahlspruch gerichtet haben. — Meine Frage ist, ob nicht der entscheidende Unterschied zwischen den drei Hermeneutikern und Nietzsche in einem Rückgriff auf die Tradition formuliert werden kann: Geht nicht die philosophische Hermeneutik von der alten Einsicht aus, daß im voüg, im Geist, das Denkende und das Gedachte eines sind? Von hieraus würde auch die Betonung der Geisteswissenschaften in der Nachfolge Diltheys verständlich; Hermeneutik ist Selbstauslegung des Geistes, der Denkendes und Gedachtes umfaßt. Im Grunde liegt eine neue Form der antiken Geistlehre vor. Nietzsche setzt dagegen zwischen dem Intelligiblen und dem Sensiblen ein ganz anderes Verhältnis. Der Leib ist nunmehr das Primäre und der Geist ist Ausdruck des Leibes. Interpretation entspricht damit bei ihm dem aktiven Lebensvollzug selbst, ist unmittelbare Äußerung des Willens zur Macht. Das als Interpretation zu bezeichnen, ist doch wohl nur in einem metaphorischen Verständnis möglich. Figl: Ich glaube, Herr Taureck, Sie würden der Sache der Interpretation einen schlechten Dienst erweisen, wenn Sie die Leistung der hier behandelten Hermeneutiker auf den zitierten Vers reduzierten. Es ist doch schwerlich zu bestreiten, daß unter dem Titel des ursprünglich primär philologisch verstandenen Begriffs „Interpretation" ein neues Selbstverständnis der Philosophie herausgearbeitet wird. Ihrer Parallelisierung des antiken Geistbegriffs mit dem Terminus der Geisteswissenschaften kann ich nicht zustimmen. Der Begriff der Geisteswissenschaften hat seine eigene Geschichte, die u. a. von John Stuart Mill bestimmt ist, dessen Rezeption im deutschen Sprachraum — vor allem durch die Ubersetzung seines Werkes System der deduktiven und induktiven Logik (1843) — auf die hier besonders stark empfundene Dualität naturwissenschaftlicher und historischer Disziplinen hinführte 11 . Um es gegen Ihren Vorschlag zu pointieren, möchte ich betonen, daß hier spezifisch neuzeitliche Bedingungen ausschlaggebend waren, die sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in szientifischen Interessen, in dem Bedürfnis nach methodologischen Differenzierungen äußerten. Beipflichten muß man freilich Ihrem Hinweis auf Nietzsches fundamentale Neubestimmung des Verhältnisses von Leib und Bewußtsein. Aber warum sollte deshalb Nietzsches Verständnis der „Interpretation" metaphorisch genannt werden? Ich meine vielmehr, daß man in diesem Fall den Wortgebrauch 11
Vgl. H . - G . Gadamer, Art. Geisteswissenschaften, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, 1304ff.
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Nietzsches sehr ernst nehmen muß, um erkennen zu können, inwiefern er das Phänomen der Interpretation in allem Lebendigen vorgegeben weiß. Entschärft man Nietzsches Interpretationsbegriff zur Metapher, dann entgeht einem gerade die Konsequenz, mit der er Leibliches und Geistiges in ein neues Verhältnis zu setzen sucht. Man verstünde letztlich gar nicht, was es heißt, daß überall, wo Leben ist, auch Interpretieren ist und überall dort auch Wille zur Macht. Taureck: Das läßt sich nur vertreten, wenn man eine „sinnliche Interpretation" für möglich hält. Es fragt sich dann aber, was eine solche sinnliche Auslegung sei. Die überlieferte Philosophie hat eine Antwort darauf: Es sind die von der Einbildungskraft erzeugten Vorstellungen. Aristoteles hat dies in „de anima" als tpavxaoia bestimmt, als eine von „verwirklichten Wahrnehmungen ausgehende Bewegung" 12 . Die — von Aristoteles nicht genannte — erotische Anziehung z. B. beruht ja wohl hierauf, d. h. auf der von der Einbildungskraft interpretierten Wahrnehmung. Aristoteles hebt gegen Piaton hervor, daß diese Interpretation sinnlich ist und nicht mit Vermutung verwechselt werden dürfe. So wird deutlich, daß das, was wir bei Nietzsche nur suchen können, in dem Reichtum der überlieferten philosophischen Psychologie begrifflich ausgearbeitet bereits zu finden ist. Figl: O b die zuletzt geäußerte Annahme, Herr Taureck, zutrifft oder nicht, das hängt entscheidend davon ab, wie man den Begriff der „sinnlichen Interpretation" definiert. Mit Bezug auf Nietzsche verstehe ich darunter die Tatsache, daß die Sinne selbst interpretieren; dies nimmt Nietzsche — so überraschend es klingen mag — tatsächlich an, wenn er z. B. von einem Instinkt spricht, der so stark sei, „daß er in allen unseren Sinnesthätigkeiten waltet und uns die Fülle wirklicher Wahrnehmungen (der unbewußten —) reduzirt, regulirt, assimilirt usw." 1 3 Dieses unbewußte sinnliche Regulations- bzw. Assimilierungsverfahren nämlich kann mit Nietzsche generell als Interpretationsprozeß beschrieben werden. 1 4 Die für Nietzsche fundamentale Bedeutung des Ausdrucks „sinnliche Interpretation" besteht somit in einer Auslegung, die die Sinne selbst leisten. Dieses Verständnis einer „sinnlichen Interpretation" ist aber m. W. in der überlieferten philosophischen Psychologie nicht anzutreffen. Zwar gibt es bei Nietzsche selbst eine Verbindung zwischen Psychologie und Hermeneutik, die aber im Sinne der bisherigen Darlegungen in der These Nietzsches gründet, "
13 14
de anima III, 427b 1 0 - 4 2 9 a 10. Nachlaß 1885: K G W VII 3,155, 34[49], Vgl. meine philosophische Dissertation Wien Prinzip".
1980 „Interpretation als philosophisches
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daß unsere Affekte, d. h. die einander widerstrebenden Triebe als Pluralität die Welt auslegen. Vor Nietzsche ist die Verbindung zwischen Psychologie und Interpretation durch die Hermeneutik Schleiermachers vermittelt. Wie Sie wissen, unterscheidet Schleiermacher die psychologische Auslegung von der grammatischen. Beide stellt er gleichrangig nebeneinander. In dieser durch Schleiermacher begründeten Tradition des 19. Jahrhunderts steht Nietzsche, wenn er z. B. vom „Nachfühlen-können, die Impression haben" spricht 15 . Dabei darf aber die kritische Distanz nicht übersehen werden, aus der Nietzsche diese auch der Geschichtswissenschaft zugrundeliegende Methode beurteilt. 16 Das Verhältnis Nietzsches zu Schleiermachers psychologischer Interpretation scheint mir symptomatisch für Nietzsches Beziehung zur Hermeneutik und Philologie des 19. Jahrhunderts überhaupt zu sein, worauf ich nun — als Ergänzung und Abschluß zur gesamten Diskussion — noch hinweisen möchte. Einerseits schließt dieser große Kritiker der Wissenschaft seiner Zeit durchaus an die methodologischen Errungenschaften derselben an, andrerseits aber ist seine ablehnende Haltung gegenüber dem historistischen Zeitgeist, wofür die zweite Unzeitgemäße Betrachtung das bekannteste Zeugnis darstellt, nicht zu übersehen. Die ambivalente Einstellung schlägt sich insbesondere in seinem Urteil über die Philologie nieder; ihr war Nietzsche nicht nur beruflich engst verbunden, sondern sie bildet auch nach Aufgabe der universitären Lehrtätigkeit bis zu den späten Aufzeichnungen einen zentralen Gegenstand seiner Reflexionen. Nietzsches Verhältnis zur hermeneutischen und philologischen Methodik seines Jahrhunderts war selbst schon durch jene Dualität von Aufnahme und Auseinandersetzung geprägt, die das Verhältnis der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts zu ihm kennzeichnen sollte. Wie sich diese affirmative bzw. kritische Form der Rezeption herkömmlicher Methodenlehre in seinem geistigen Werdegang im einzelnen ausgewirkt hat, dies zu untersuchen wäre gewiß eine lohnende Forschungsaufgabe. Sie könnte Nietzsches Stellung im Kontext der Verstehenslehre des 19. Jahrhunderts aufzeigen, und darüber hinaus die Bedeutung seiner nur selten als methodisch-hermeneutisch deklarierten Aussagen innerhalb der Geschichte der Hermeneutik erhellen. Eine Untersuchung solcher Art kann aber hier nur als Desiderat erwähnt werden, und mußte außerhalb der im Vortrag behandelten Thematik bleiben, der die auf Nietzsche folgende Wirkungsgeschichte zu erörtern hatte. Von der Geschichte der Rezeption Nietzsches in der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts her aber stellt sich die Aufgabe einer Darstellung seiner eigenen Analysen und Reflexionen zu diesem Problem in verstärktem Maße, da sie 15 16
Nachlaß 1884: K G W VII 2, 262, 26[424], Nachlaß 1885: K G W VII 3, 228, 35[2],
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zwar einerseits zeigt, daß Nietzsche in wesentlichen Aspekten seiner methodologischen Maximen verstanden und teilweise auch positiv aufgenommen wurde, doch trifft andrerseits auch unzweifelhaft zu, daß dies nur in einem sehr selektiven Ausmaß geschehen ist. Eine erneute und zum Teil auf neue bzw. erstmals manuskriptgetreu edierte Texte beruhende systematische Lektüre und Analyse vermag darum nicht nur dem Werk Nietzsches gerechter zu werden, sondern wohl auch Anstöße und weiterführende Anregungen für die hermeneutische Diskussion der Gegenwart zu geben.
F R I E D R I C H KAULBACH
NIETZSCHES INTERPRETATION DER NATUR
Die folgende Darstellung läßt sich durch den Gedanken leiten, daß Nietzsches Bild von der Natur zugleich immer die geschichtliche Situation widerspiegelt, in die sich der Mensch ihr gegenüber versetzt; Natur ist der Spiegel der geschichtlichen „Grundstellung" (Nietzsche), die sich der Mensch ihr gegenüber gibt. Natur erweist sich auf dem Weg der gedanklichen und praktischen Auseinandersetzung mit ihr als Gegenspieler, ja als Gegen-stand, und dann auch wieder als der nicht objektivierbare, unsere Existenz umfassende Bereich. Der erste Aspekt, unter dem die Begegnung des modernen Menschen mit der Natur im Horizont des Denkens Nietzsches charakterisiert werden soll, mag derjenige der neuzeitlichen Naturwissenschaft seit Kopernikus und Galilei sein. Der Gedankengang führt dann zum Aspekt einer zweiten Situation, in der die Natur ihre Selbständigkeit und Freiheit wieder fordert. Schließlich tritt in einem dritten Abschnitt das Bedürfnis des modernen Menschen nach einer Abstimmung zwischen seiner eigenen Freiheit und der Freiheit der „großen" Natur in den Blick, der er einerseits seine Subjektivität anheimstellt, gegen die er diese aber andererseits wieder einfordert.
I. Zu Beginn ist klarzustellen, daß Nietzsches Absicht nicht in die Richtung einer Ontologie der Natur, erst recht nicht in die einer Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft weist. Bemerkungen in diesen Hinsichten fallen freilich ab: aber Nietzsche richtet primär sein Augenmerk auf die Stellung des modernen Menschen zur Natur und auf die Seinsgestalt, die er sich selbst im Umgang mit dieser gibt. Was die philosophische Beurteilung der neuzeitlichen Naturwissenschaft angeht, so fragt er nach der „Grundstellung", welche der neuzeitliche Mensch in Naturwissenschaft und Technik der Natur gegenüber einnimmt und aufgrund deren er sie theoretisch und praktisch behandelt. Zunächst soll der Blick auf diejenigen Überlegungen und Aussagen Nietzsches gelenkt werden, in denen er in Ubereinstimmung mit Kant das moderne naturwissenschaftliche Bewußtsein im Hinblick auf seine Absicht
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und sein Vermögen der Naturbeherrschung charakterisiert. Das moderne kopernikanische Subjekt hat sich die Freiheit genommen, selbst seine Weltperspektive und den Standpunkt der Beschreibung der Vorgänge im Himmelsraum zu wählen. Dem entspricht der Anspruch des Subjekts, die Rolle des Diktierens und des Vorschreibens der allgemeinen Gesetze der Natur zu übernehmen. Das Subjekt legt sich in dieser Situation eine Natur zurecht, die ich als die „gefesselte Natur" bezeichne, wobei ich mich nicht nur auf kantische Wendungen wie die des „Nötigens" der Natur durch das Subjekt, sondern auch auf solche Aussagen von Nietzsche berufen kann wie die, daß es der Mensch sich zum Zweck setze, die Natur zur Sklavin zu machen. 1 Wenn man dem Begriff „Macht" auch die Bedeutung der Ausübung des Zwanges und der Gewalt gibt, so kann Nietzsche unter dem Thema: „Wille zur Macht" im Sinne Bacons und der Nachfolger die Stellung, die der neuzeitliche Mensch in Naturwissenschaft und Technik der Natur gegenüber einnimmt, so charakterisieren: „Wissenschaft — Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur . . ." 2 Nietzsche deutet die Begriffe und Aussagen der Naturwissenschaft als Symptome für den Herrschaftswillen des Menschen der Natur gegenüber, ebenso wie die programmatischen Erklärungen der Naturforscher, in deren Rahmen Nietzsches Zeitgenosse, der Physiker Kirchhoff, die berühmte Devise ausgesprochen hat, daß es in der Naturwissenschaft darauf ankomme, die Phänomene zu „beschreiben", d.h. sie auf die Sprache der Funktion und Zahl zu bringen. Mit einem Blick auf diese Sprache der modernen Naturwissenschaft, deren Vokabular vorwiegend aus Symbolen besteht, die in ihrer Bedeutung präzisiert sind, sagt Nietzsche: „,Wissenschaft' (wie man sie heute übt) ist der Versuch, für alle Erscheinungen eine gemeinsame Zeichensprache zu schaffen, zum Zwecke der leichteren B e r e c h e n b a r k e i t und folglich Beherrschbarkeit der Natur. Diese Zeichensprache, welche alle beobachteten ,Gesetze' zusammenbringt, e r k l ä r t a b e r n i c h t s — es ist nur eine Art k ü r z e s t e r (abgekürztester) B e s c h r e i b u n g des Geschehens." 3 Daß hier die Mach-Kirchhoffsche Deutung der naturwissenschaftlichen Theorie als einer ökonomisch optimalen Beschreibung anklingt, ist unüberhörbar. 4 Nietzsche holt Devisen der positivistischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in den Zusammenhang seiner eigenen Auffassung in der Weise ein, daß er der Naturwissenschaft den Anspruch verweigert, „absolute" Wahrheiten auszusprechen. Ihren Aussagen sei nur die Rolle zuzubilligen, 1 2 3 4
Vgl. mein Buch: Philosophie der Beschreibung, Köln/Graz 1968, S. 109. K G W VII 2 26 [170], 192 (WM 610). K G W VII 2 26 [227], 207 (GA XIII, S. 84, Aph. 210). In terminologischer Hinsicht ist an dieser Stelle der Gebrauch des Wortes: „erklären" merkwürdig, unter dem Nietzsche, anders etwa als Dilthey bei seiner Gegenüberstellung von Erklären und Verstehen, den Anspruch der Erkenntnis des „Wesens" der Dinge versteht, gegen den Kirchhoff das Programm des Beschreibens zur Geltung gebracht hat.
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dem pragmatischen Willen der Naturbeherrschung zu dienen. Nietzsches eigentümliche Version des Perspektivismus eignet sich dazu, erkenntnistheoretische Thesen des Positivismus zu assimilieren. Dadurch entsteht gelegentlich der Eindruck, als ob sich Nietzsche dem positivistischen Denken von Hume ab bis zu Mach und Comte verschrieben hätte. Man könnte zum Beispiel glauben, Hume sprechen zu hören, wenn Nietzsche sagt: „Jeder Naturvorgang ist uns im Grunde unerklärlich: wir können nur die jedesmalige Scenerie feststellen, bei der das eigentliche Drama sich begiebt. Wir sprechen dann von Kausalitäten, während wir im Grunde nur ein Nacheinander von Ereignissen sehen." 5 Nietzsche unterscheidet sich aber vom Positivismus in vieler Hinsicht: zum Beispiel dadurch, daß er dessen Art und Weise, die Welt als Beziehungszusammenhang auszulegen und sie in der Sprache und in dem Vokabular der exakten Naturwissenschaft zu begreifen und zu beschreiben, nicht als Programm übernimmt. Er deutet dieses vielmehr als Perspektive und reflektiert über den Charakter der Grundstellung desjenigen Bewußtseins, welches sich dieser Perspektive bedient. Wenn der Positivist über die Motivation seines eigenen Programms reflektiert, dann beruft er sich auf Motive, die er als letzte fraglose Zwecke unterstellt, obwohl sie ihrerseits wieder der Rechtfertigung durch ein tieferes philosophisches Denken bedürfen: es sind Zwecke wie Wohlfahrt, Gewinn an Zeit, Energie, Erhöhung der Bequemlichkeit usw. Nietzsche dagegen sieht noch darin eine Frage, ob der Wille zur Herrschaft über die Natur wirklich am Ende der Erhöhung des Lebens dient bzw. dienen will. Er fragt, ob die von der modernen Naturwissenschaft und Technik angestrebte und realisierte Macht über die Natur wahre Überlegenheit, d.h. wahre „Macht" bedeutet. Von hier aus gesehen fragt er, ob maßgebende Kategorien des naturwissenschaftlichen Denkens wie Kausalität, Zahl, Funktion nur Symptome eines Willens sind, der über die Natur Zwang ausüben will, oder ob sie einen Willen zur Macht im Sinne des Uberlegenheitsgefühls anzeigen. Im letzten Falle würde die moderne Naturwissenschaft Perspektiven zur Verfügung stellen, mit Hilfe deren der Wille zur Macht sich eine Welt verschafft, in der er das Glück des Mächtigseins und Herrschens empfinden kann. Nur von dieser Deutung der Macht her kann der Satz verstanden werden, der sich unmittelbar an den erwähnten, an den Positivismus Humes anklingenden Passus anschließt. Während Nietzsche zunächst wie Hume argumentiert hat, daß wir eigentlich nur immer ein Nacheinander, aber niemals ein Deshalb an den wahrnehmbaren Tatsachen der Natur feststellen können, weicht er in dem darauffolgenden Satze vom positivistischen Wege ab. Er sagt hier nämlich, daß sich unser Glaube an die Kausalität nicht unbe5
KGW III 4 29 [8], 233 (GA X , S. 211, Aph. 177).
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dingt auf Erfahrung berufen kann: daß das Nacheinander bei einer bestimmten Szenerie immer wieder eintreten m ü s s e , sei ein „Glaube, der unendlich oft widerlegt wird." 6 Welche Folgerung läßt sich daraus ziehen? Doch nur die, daß wir trotzdem an die Kausalität glauben, weil wir daran glauben w o l l e n . Sofern man den Bedeutungshorizont des Wortes positivistisch und Positivismus so weit zieht, daß er auch die Position Galileis decken würde, der die Naturwissenschaft auf eine Erkenntnis des „Wie", nicht des „Was" im aristotelischen Sinne der Substanz ausgerichtet wissen wollte, rechtfertigt Nietzsche das positivistische Programm der neuzeitlichen Naturwissenschaft im Rahmen des sie begründenden Willens zur Macht. Er stimmt in den Chor derjenigen ein, die es der Naturwissenschaft nicht zumuten wollen, ein selbständiges Wesen von der Art der Substanz in der Natur stehen zu lassen; vielmehr sieht er es im Einklang mit Galilei und der Nachfolger bis auf den heutigen Tag als legitime Aufgabe der Naturwissenschaft an, möglichst exakte Meßergebnisse in Beziehungszusammenhänge zueinander zu bringen und statt Wesensaussagen Gesetzesaussagen zu machen. Die Wissenschaftstheoretiker in der zweiten Hälfte des 19. Jh. waren sich darin einig, daß als zentrale Kategorie im Aufbau der naturwissenschaftlichen Erkenntnis die „Relation" zu gelten habe. Im Einklang damit steht die Aussage Nietzsches: „Wir definiren Naturgesetze als die R e l a t i o n e n zu einem xyz, davon jedes wiederum u n s n u r als R e l a t i o n e n zu andern xyz bekannt ist." 7 Bei Nietzsche wird dem gelegentlich auch die extreme Formulierung gegeben, daß wir es nur mit dem „Schein" zu tun haben, wenn wir schon nicht die Wahrheit über das Wesen der Dinge erkennen können und wollen. Daß der Gegenstand der Naturwissenschaft als Inbegriff von Relationen zu gelten habe, deren Netz der Verstand aus sich selbst heraus spinnt, um die Natur damit einzufangen, ist Thema des folgenden Passus: „Sodann: was ist für uns überhaupt ein Naturgesetz; es ist uns nicht an sich bekannt, sondern nur in seinen Wirkungen d. h. in seinen Relationen zu anderen Naturgesetzen, die uns wieder nur als Relationen bekannt sind. Also verweisen alle diese Relationen immer nur wieder auf einander und sind uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch; nur das, was wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Successionsverhältnisse und Zahlen sind uns wirklich daran bekannt. [. . .] Diese aber produciren wir in uns und aus uns mit jener N o t wendigkeit, mit der die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind, alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen, so ist es dann nicht mehr wunderbar, dass wir an allen Dingen eigentlich nur eben diese Formen begreifen: denn sie alle müssen die Gesetze der Zahl an sich tragen [. . .]" 8 6 7 8
Ibid. K G W III 4 19 [235], 81 (GA X, S. 171, Aph. 150). Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 1, K G W III 2, 379f. (GA X, S. 201).
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Leser, die glauben, aus diesen Sätzen ein Stück Kantianismus herauslesen zu können, seien darauf aufmerksam gemacht, daß man dem nur von einem ungenügenden Kant-Verständnis her, wie es übrigens Nietzsche durch Zeitgenossen wie Helmholtz naheliegen konnte, zustimmen kann. In Wahrheit fällt Nietzsche mit erkenntnistheoretischen Bemerkungen wie der zitierten hinter Kant auf den Standpunkt von Hume zurück. Auf ihn trifft daher auch die Bezeichnung eines „Naturalisten der Vernuft" zu, die Kant auf Hume gemünzt hatte. Die „Notwendigkeit", welche der Verstand über die Dinge der Natur verhängt, um sie auf eine gesetzliche Sprache zu bringen, wird hier der Natur des Verstandes unterstellt. Es ist an die Bemerkung Kants zu erinnern, daß nach der Voraussetzung des „Naturalisten der Vernunft" die Aussage nicht gerechtfertigt werden könnte: „B ist die Wirkung der Ursache A". Vielmehr wäre man nur imstande, den Satz philosophisch zu rechtfertigen: „Ich kann nicht anders als in A die Ursache von B zu denken." Auch ein anderer Einwand ist gegen diese naturalistische Auffassung Nietzsches zu erheben: sie bleibt hinter seiner eigenen Erkenntnis zurück, daß die Perspektiven und ihre kategorialen Implikate, in die wir das Seiende rücken, in denen wir es erkennen und interpretieren, nicht anthropologische Konstanten sind. Sie sind uns nicht von Natur aus angeboren, sondern Ergebnisse unseres eigenen freien Entwurfes, durch welchen wir unserer Stellung zur Welt begriffliche Gestalt geben. Daher sind sie nicht in der Natur des Menschen angelegte Formen des Denkens, sondern in der Geschichte ausgebildete Werkzeuge der Weltauslegung. In den Fragmenten zum Willen zur Macht charakterisiert Nietzsche Grundkategorien wie die der Identität, Kausalität, Zahl usw. als solche Formen des Verstandes, mit denen das Denken der Neuzeit seine eigentümliche Herrschaftsstellung der Natur gegenüber bestimmt. Die Konsequenz dieser Beurteilung der Rolle und der Funktion der Kategorien für die Stellung des neuzeitlichen Menschen zur Natur muß dazu führen, sie als in einer Geschichte der Erkenntnisarbeit herausgebildete Werkzeuge des Denkens zu erkennen. Die Relativierung der Kausalität auf den Erkenntniswillen in seiner geschichtlichen Eigenart kommt in einer Aussage aus den achtziger Jahren in folgender Weise zur Sprache: „Die Wissenschaft hat immer mehr das N a c h e i n a n d e r der Dinge in ihrem Verlaufe festzustellen, so daß die Vorgänge für uns p r a k t i k a b e l werden (z.B. wie sie in der Maschine praktikabel sind) Die E i n s i c h t in Ursache und Wirkung ist damit nicht geschaffen, aber eine M a c h t ü b e r die N a t u r läßt sich so gewinnen. Der Nachweis hat bald sein Ende, und eine weitere Verfeinerung hätte keinen Nutzen für den Menschen." 9
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K.GW V 2 11 [255], 436 (GA XII, S. 4, Aph. 5).
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Der Mensch des neuzeitlichen Denkens und Sprechens über die Natur beansprucht die Stellung der Freiheit ihr gegenüber und die Möglichkeit, seine eigenen Perspektiven der Naturbeschreibung zu entwerfen und zu gebrauchen. Das Subjekt der modernen Naturwissenschaft entscheidet sich für die Perspektive der gefesselten Natur, die dem Willen zur Herrschaft über diese entspricht. Ihre Sprache ist durch die Kategorien der modernen Naturwissenschaft bestimmt. Um die Stellung der Freiheit und der Herrschaft über die Natur zu behaupten, hat sich der neuzeitliche Mensch von ihr distanziert. Das Bemerkenswerte an der dadurch geschaffenen Situation aber besteht darin, daß gerade durch sie in ihm das Bedürfnis lebendig wird, über die geschaffene Kluft hinweg mit neuem Bewußtsein Einheit mit ihr herzustellen. Das geschieht in der Philosophie vor allem auf dem Wege der Ausbildung spezifischer Begriffe des Lebendigen. Durch Denken und Sprechen über das Lebendige zeigt der moderne Mensch, daß er sein ursprüngliches Vertrautsein mit der Natur nicht vergessen hat und daß er sich trotz der durch die Wissenschaft herbeigeführten Entfremdung von ihr der unmittelbaren Zugehörigkeit zu ihr gewiß ist. Dadurch ergibt sich für das philosophische Denken des modernen Menschen ein Motiv, über die Grenzen der gefesselten Natur hinaus zu denken und die „freie" Natur in den Blick zu bringen. 10 Damit ist zugleich ein Umschlag in der Stellungnahme des Menschen der Natur gegenüber gefordert, sofern freie Natur nur demjenigen Subjekt in den Blick kommt, welches sich selbst als ihr zugehörig begreift. Als charakteristisch für diese „Grundstellung" des Menschen zu der ihm noch nicht entfremdeten Natur ist die Weise anzusehen, in der ein antiker Denker wie Aristoteles die „Physis" bestimmt: sie sei der Bereich der Wesen, die in sich selbst den „Anfang", das Prinzip der „Bewegung", wozu auch Wachsen, Bilden und Gestalten zu rechnen ist, haben. Ein so über die Natur sprechendes Subjekt verhält sich ihr gegenüber nicht, wie dasjenige der Neuzeit, als Diktator, sondern als Teilnehmer der großen Vernunft in der Natur, die von sich aus gestaltende und bildende Kräfte ins Werk setzt. Das Programm einer Philosophie der lebendigen, d.h. freien Natur, welches bei Leibniz, Kant und den Nachfolgern ausgebildet wurde, übernimmt demgemäß nicht nur die Funktion einer Berücksichtigung sentimentaler Bedürfnisse der Philosophen gegenüber der lebendigen Natur, sondern repräsentiert den systematischen Anspruch, die durch die Distanzierung des neuzeitlichen Menschen von der Natur hergestellte Kluft zwischen dem Subjekt, seinem Bewußtsein und dem Sein, über welches jenes keine Verfügungsgewalt hat und welches es nicht durch theoretische und praktische Methoden in die Hand bekommen kann, dem es sich vielmehr selbst als 10
Vgl. meine „Philosophie der Beschreibung", Köln/Graz 1968, S. 62 f.
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zugehörig zu verstehen hat, durch einen umfassenden Einheitsgedanken wieder zu schließen. Es ist hier daran zu erinnern, daß beim frühen Schelling und beim Hegel der Jenaer Zeit der Terminus „Naturphilosophie" die Bedeutung der Philosophie überhaupt als des Wissens von der absoluten Identität zwischen dem Ich-Bewußtsein und dem Sein annimmt, welches durch die Natur als den Bereich repräsentiert wird, der, aristotelisch gesprochen, den Anfang seiner Bewegungen in sich selbst hat. Diese Situation, in der das neuzeitliche Denken der Naturphilosophie dem Bedürfnis der Einholung antiker Vorstellungen über die Physis Rechnung trägt, steht Nietzsche klar vor Augen. Die kopernikanische Stellung, die sich der neuzeitliche Mensch der Natur gegenüber gibt, bewirkt, wie Nietzsche erkennt, wohl die Herrschaftsstellung des Menschen ihr gegenüber. Aber der Preis, den er bezahlt, besteht in der Unterdrückung auch seiner „eigenen" Natur, in der Entfremdung von sich selbst und damit in der „Entmenschlichung" der Natur. Nietzsche denkt bei dieser Wendung vor allem daran, daß das freie, unbefangene Leben der Sinne durch die theoretische Anschauung, die von der modernen Naturwissenschaft gefordert wird, verdrängt wird: in der naturwissenschaftlichen Wahrnehmung diktiert der berechnende mathematische Verstand, der Konstruktionsregeln für die Herstellung der Schemata der physischen Wirklichkeit vorschreibt. Der wissenschaftliche Verstand verdrängt das Bilden der freien, die Naturgestalten und -ereignisse nachproduzierenden Phantasie, wenn er z.B. den Ton einer menschlichen Stimme als Luftschwingung mit einer berechenbaren und meßbaren Frequenz begreift. 11 Aus Feststellungen dieser Art ergibt sich die indirekte Aufforderung zur Wiederherstellung des anfänglichen Bezuges zu der uns umfassenden Natur der freien Bildungs- und Gestaltungskräfte. Dieser gegenüber ist nicht die Stellung angemessen, in welcher das Subjekt den konstruierenden, gesetzgebenden Verstand diktieren und herrschen läßt. Vielmehr erhebt die freie Natur den Anspruch, als Natur des Lebens, das wir auch selbst sind, unserer eigenen Sinne, unserer Phantasie und unserer leiblichen Intelligenz anerkannt zu werden. Nicht die Principia mathematica philosophiae naturalis Newtons geben von hier aus gesehen das Stichwort für das gültige Denken der Natur, sondern die Prinzipien der frei bildenden und gestaltenden Naturkräfte, zu denen auch die Einbildungskraft des Menschen gerechnet werden muß. Wie weit auf Nietzsche die naturphilosophischen Prinzipien Goethes einwirken, denen er auch möglicherweise in Schopenhauers einschlägigen Arbeiten begegnet sein könnte, soll hier unberücksichtigt bleiben. Im allgemeinen soll bemerkt werden, daß der Charakter der Begegnung, die sich in Nietzsches 11
KGW IV 2 23 [150], 554 (GA XI, S. 72, Aph. 175).
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Denken mit der freien Natur vollzieht, nicht von dem Gedanken der Harmonie mit ihr beherrscht ist, etwa in dem Sinne, in welchem Goethe davon spricht, daß wir gestaltend die Bildungen der Natur nachzuproduzieren hätten. Nietzsche sieht als Zeitgenosse Darwins hier vielmehr die Situation des Kampfes zwischen Mensch und Natur um die Macht. Neuzeitliche Naturwissenschaft und Technik sowie die diesen entsprechende Grundstellung des Subjekts der gefesselten Natur gegenüber sind von hier aus gesehen der Geschichte dieses Kampfes zwischen Mensch und Natur zuzuweisen.
II. Vom Maßstab des Bildes der freien Natur aus gesehen wird die naturwissenschaftliche Zurechtlegung der Natur am Leitfaden von Kausalität, Beziehungszusammenhang und Zahl, von „Gesetzmäßigkeit" als „falsche humanitäre Auslegung" gekennzeichnet. 12 Statt von der Gesetzmäßigkeit der Natur selbst zu reden, würde das menschliche Subjekt wahrheitsgemäßer eingestehen müssen, daß es diese Natur dadurch in die Hand bekommen hat, daß es sie auf die Sprache der Gesetze gebracht hat. Die Wahrheit ist nicht die Gesetzmäßigkeit der Natur, sondern die durch diese falsche humanitäre Auslegung bewirkte Befestigung von Machtverhältnissen. Dabei regiert die „absolute Augenblicklichkeit des Willens zur Macht". In jedem Augenblick wird ein Machtverhältnis fest-gestellt, d . h . als Zustand der Herrschaft der einen „Monade" über den Komplex der anderen her-gestellt. Auf der höheren Stufe des menschlichen Bewußtseins ist diese Her-stellung zur begrifflichen und verbalen Fest-stellung geworden. Sie gilt aber nur für einen Augenblick in der Geschichte des ewigen Kampfes in der Natur um Macht. ,,[D]iese Feststellung [ist] ein Prozeß, der bei dem Wachsthum aller Betheiligten sich fortwährend verschiebt — ein Kampf, vorausgesetzt, daß man dies Wort so weit und tief versteht, um auch das Verhältniß des Herrschenden zum Beherrschten noch als ein Ringen, und das Verhältniß des Gehorchenden zum Herrschenden noch als ein Widerstreben zu verstehen." 13 Es könnte im Sinne Nietzsches liegen, zwei verschiedene Typen des Willens zur Macht zu unterscheiden, denen auch zwei verschiedene Charaktere der Stellungnahme der Natur gegenüber entsprechen würden. Es gibt den Willenstypus, der, wie das theoretische und technische Subjekt der Neuzeit, Herrschaft über die Natur dadurch gewinnen will, daß es diese entmündigt und sie als Vernunft- und sprachlos, als den Bereich erklärt, der 12 13
K G W VII 3 40 [55], 387 (GA XIII, S. 62, Aph. 153). Ibid.
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einer Gesetzgebung von Seiten des Subjekts bedarf, um überhaupt Gegenstand des Denkens und Sprechens werden zu können. Gegen diese Art der Behandlung der Natur hat z.B. Schelling polemisiert, der es unannehmbar fand, die Natur zu entmündigen und ihr Sprache und Vernunft abzustreiten. Auch Nietzsche gesteht der Natur Selbständigkeit und Vernünftigkeit zu, wenn er sie vor allem als einem Willenstypus gegenüberstehend begreift, der seinen Gegner im Kampfe als seinesgleichen ansieht. Dieser zweite Willenstypus trägt seinen Kampf um die Macht mit der Natur nicht dadurch aus, daß er dieser als einem angeblich Vernunft- und sprachlosen Bereich Fesseln anlegt, sondern in der Weise, daß er sie als seinesgleichen betrachtet und am Ende die Herrschaft über sie als Zustand begreift, in welchem sie zwar selbständig genug ist, zu widerstreben, aber sich doch freiwillig fügt. Dieser Willenstypus würde über die Möglichkeiten des naturwissenschaftlichen und technischen Beherrschens der Natur nicht verzichten, aber er würde eine Technik ausbilden, die von der unserigen dadurch verschieden ist, daß sie den Möglichkeiten des Verfügens über die Natur eine Interpretation gibt, in welcher die Natur nicht zur Erfüllung der Zwecke der Menschen gezwungen werden muß, sondern freiwillig zu ihr beiträgt. Vom Gedanken der Natur als eines Schauplatzes des Kampfes um die Macht her gesehen kommt noch einmal die moderne Galileische Naturwissenschaft in den Blick: sie wird als Strategie begriffen, deren sich der Mensch bedient, um wirkungsvoll im Kampf in und mit der Natur zu bestehen. Sie besteht in einer „Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur". 1 4 Wissenschaft vom Schlage Galileischer Naturwissenschaft ist darauf aus, ,,die[se] S k l a v e r e i d e r N a t u r herbeizuführen". 15 Die Natur, in der Perspektive der modernen Naturwissenschaft begrifflich festgestellt und technisch behandelt, wird jetzt gezwungen, in der Gestalt der Maschine dem Menschen neue Existenzbedingungen zu schaffen. Man wird an enthusiastische Wortführer der Maschinentechnik im ausgehenden 19. Jh. erinnert, wenn man bei Nietzsche liest: „Dann bekommt der Mensch M u ß e : sich selbst a u s z u b i l d e n , zu etwas Neuem Höherem. Neue Aristokratie. Dann werden eine Menge T u g e n d e n überlebt, die jetzt E x i s t e n z b e d i n g u n g e n waren. Eigenschaften nicht mehr nöthig haben, f o l g l i c h sie verlieren." 16 Welche Art von Tugenden soll den Zustand der Beherrschung der Natur herbeiführen, der dann zugleich diese Tugenden, die zu ihm geführt haben, überflüssig machen soll? Es sind die der Arbeitsamkeit, des Gehorchens, der Disziplinierung. Man denkt auch an die Tugenden, die Max Weber bei seiner Analyse des Verhältnisses zwischen Calvinismus und 14 15 16
K G W VII 2 26 [170], 192 (WM 610). K G W VIII 1 5 [61], 211 (WM 953). Ibid.
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Kapitalismus namhaft gemacht hat: bekanntlich hat er als Ursache für die Anhäufung von Kapital die calvinistischen Tugenden des Fleißes, der Sparsamkeit und des Sich-selbst-Versagens jeglichen Genusses als Ursachen angegeben. Nach Nietzsche aber unterwirft der Mensch in Naturwissenschaft und Technik die Natur, um einen weltgeschichtlichen Zustand herbeizuführen, in welchem die genannten asketischen Tugenden nicht mehr nötig sind und daher verschwinden, so daß dem Willen zum Leben Möglichkeiten gegeben sind. Im Sinne des Prinzips der Physis ist es gedacht, wenn Nietzsche gegen die Rede von der „Humanität" den Einwand erhebt, daß hier durch die Vorstellung suggeriert werden sollte, „es möge das sein, was den Menschen von der Natur a b s c h e i d e t und auszeichnet. Aber eine solche Abscheidung giebt es in Wirklichkeit nicht: die natürlichen' Eigenschaften und die eigentlich ,menschlich' genannten sind untrennbar verwachsen. Der Mensch, in seinen höchsten und edelsten Kräften, ist ganz Natur und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich. Seine furchtbaren und als unmenschlich geltenden Befähigungen sind vielleicht sogar der fruchtbare Boden, aus dem allein alle Humanität, in Regungen, Thaten und Werken hervorwachsen k a n n . " 1 7 Das ist auch im Sinne der Naturphilosophie Schellings gedacht und gesagt. Auch wenn sich das menschliche Subjekt in einer transzendentalen Wendung von der „ N a t u r " distanziert, um ihr gegenüber seine Freiheit zu behaupten, erkennt es sich gerade auch vom Standpunkt dieser Freiheit aus als aus der Natur „hervorgewachsen" an. Aber das setzt voraus, daß das Bewußtsein über die Distanzierung von der Natur, die es im Interesse der transzendentalen Freiheit vollzogen hat, und über den Horizont des wissenschaftlichen Bewußtseins und der asketischen Verneinung der Ansprüche des Leibes und der Sinne hinausgegangen ist. Das asketische Ideal der Wissenschaft macht die Unterwerfung des Lebens der Sinne, der Phantasie, der Wahrnehmung, Gestalten, Töne, Farben unter das Gebot theoretischer Vergegenständlichung der Naturdinge zur Pflicht. „ D i e Naturwissenschaft will mit ihren Formeln die Ü b e r w ä l t i g u n g der Naturkräfte lehren". 1 8 Demgegenüber erhebt das Leben und s e i n Wille die Forderung einer Überschreitung des bloß theoretischen Standpunktes im Interesse einer „Vermenschlichung der N a t u r " . 1 9 Es wurde auf eine in sich selbst gegenläufige Entwicklung der modernen durch Naturwissenschaft und Technik bestimmten Kultur hingewiesen: der durch Beherrschung der Natur herbeigeführte kulturelle Zustand des Menschen macht, so wurde gesagt, gerade die Tugenden überflüssig und läßt sie verschwinden, die bei der Gewinnung der Herrschaft des Menschen über 17
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Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, 5. Homers Wettkampf, K G W III 2, 277 (GA IX, S. 273). KGW VII 2 27 [36], 284 (GA XIII, S. 79, Aph. 200). KGW VII 1 13 [20], 487 (GA XIV, S. 280, Aph. 83).
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die Natur notwendig sind: so vermag der zum Herren gewordene Mensch die Natur wieder in Freiheit zu setzen. An diese Bemerkung ist jetzt anzuknüpfen: je beherrschender die Stellung des Menschen der Natur gegenüber wird, um so mehr kann er aus seiner Machtstellung heraus die Zügel lockern: er kann die Natur, auch seine eigene, in Freiheit setzen. So glaubt Nietzsche am späten 19. Jh. insofern einen fortschrittlichen Trend im Hinblick auf die Vernatürlichung des Menschen feststellen zu können, als hier in mehrfacher Hinsicht auf die Entwertung der Moral und die Aufwertung der Natur hingearbeitet wird. Natürlicher sei z . B . unsere erste Gesellschaft geworden, die der Reichen und Müßigen, sofern hier körperliche Vorzüge mehr geschätzt werden: man sei auch neugierig und gewagt geworden. Auch die Stellung zur Erkenntnis zeige einen natürlicheren Zug. Wir haben „den libertinage des Geistes in aller Unschuld, [. . .] wir ergötzen uns am Verbotensten, wir wüßten kaum noch ein Interesse der Erkenntniß, wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu langweilen hätten." Was die Stellung zur Moral angeht, so zeigt sich hier, daß auf der Waage der Schätzung ihre Schale zugunsten derjenigen sinkt, auf der sich die Gewichte der Natur befinden. Eine weitere Grundstellung des Menschen, an der Nietzsche seinem Jahrhundert den Zug der Vernatürlichung glaubt bescheinigen zu können, ist die zu Recht und Politik. „Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht, sich durchzusetzen: wir empfinden alle Rechte als Eroberungen." Es kann vermutet werden, daß Nietzsche hier auf den am Ende des 19. Jh. an Bedeutung zunehmenden Rechtspositivismus anspielt. Auch „unsere Schätzung g r o ß e r M e n s c h e n und D i n g e " sei natürlicher geworden. Anzeichen dafür sei, daß wir die Leidenschaft als ein Vorrecht ansehen. Und was unsere Stellung zur Natur angeht, so ist auch sie „natürlicher" geworden. Wir idealisieren sie nicht mehr in der Perspektive der Unschuld und Schönheit. Vielmehr gewöhnen wir uns daran, sie zu „verteufeln" und zu „verdummen": seitdem fühlen wir uns heimischer in ihr. Und was schließlich auch unsere Stellung zur Kunst angeht, so wird an ihr ein Zug der Vernatürlichung festgestellt: „wir verlangen nicht von ihr die schönen Scheinlügen usw." Der Europäer des 19. Jh. wagt es, sich „seine unbedingte Natürlichkeit d.h. seine Unmoralität einzugestehen". Es gebe Anzeichen dafür, daß sich dieses Wesen weniger seiner Instinkte schämt: er stellt seine Natürlichkeit bzw. Unmoralität ohne Erbitterung fest und zeigt sich stark genug dazu, „diesen Anblick allein noch auszuhalten." 20 Zu bemerken ist teils, daß Nietzsche den Zug zur Vernatürlichung des Menschen des 19. Jh. nicht im Sinne des Rousseauschen „Zurück-zur-Natur" deutet. Er verbindet diesen Entwicklungstrend mit einem Fortschritt in der Zivilisierung: hierin
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KGW VIII 2 10 [53], 148 f. (WM 120).
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stimmt er mit dem kulturphilosophischen Urteil der großen deutschen Philosophen seit Kant überein. Aber das Bild verschiebt sich wieder, wenn angesichts der Natur selbst andere Züge als derjenige der freien und starken Instinkte in den Vordergrund treten. Orientiert man sich z.B. an Zügen der Disziplinierung, der Beschränkung wilder Freiheit der Triebe und Leidenschaften, so findet sich, daß die Natur selbst „moralische" Züge trägt. Sie spricht nämlich nicht dem Laisser-faire das Wort, sondern gibt demjenigen Wesen die Chance des Überlegenseins und der Höherentwicklung, welches seine wilden Affekte zu disziplinieren, zu normieren und zu formen vermag. In „Jenseits von Gut und Böse" heißt es, daß jede Moral im Gegensatz zum Laisser-aller zwar ein Stück Tyrannei gegen die „Natur" sei; das aber könne nicht als Einwand gegen sie gelten, wenn man nicht wieder selbst von einer bestimmten Moral aus dekretieren wollte, daß alle Art von Tyrannei unerlaubt sei. „Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist, dass sie ein langer Zwang ist: um den Stoicismus oder Port-Royal oder das Puritanerthum zu verstehen, mag man sich des Zwangs erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht, — des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus." In ihrer Verblendung sagen sich die Anarchisten von der Bindung an angebliche Willkürgesetze los und wähnen sich damit „frei". „Der wunderliche Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden und Überreden, in den Künsten ebenso wie in den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der ,Tyrannei solcher Willkür-Gesetze' entwickelt hat; und allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, dass gerade dies ,Natur' und ,natürlich' sei — und n i c h t jenes laisser aller! Jeder Künstler weiss, wie fern vom Gefühl des Sichgehen-lassens sein natürlicher* Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der .Inspiration'". Alle bisherigen Formen, Disziplinen, Gesetze des Denkens und Handelns haben sich als Mittel herausgestellt, durch welche „dem europäischen Geiste seine Stärke, seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde". Wer höhere, reichere, überlegene Stufen des Lebens erreichen will, muß sich zusammenraffen und sich eine zum Handeln entschlossene Willensgestalt geben. Die Entschlossenheit, Gradlinigkeit und Konsequenz in der Willensverfassung geht mit einer gewissen Enge und Beschränktheit der Weltperspektive, die hierbei maßgebend ist, einher. In der Beschränkung zeigt sich der Meister des Lebens: sie gehört geradezu zur „Natur" des Lebendigen. Nietzsche fordert auf, jede Moral darauf anzusehen, daß es die „Natur" in ihr sei, „welche das laisser aller, die allzugrosse Freiheit hassen lehrt und das Bedürfniss nach beschränkten Horizonten, nach nächsten
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Aufgaben pflanzt, — welche die V e r e n g e r u n g der P e r s p e k t i v e , und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und Wachsthums-Bedingung l e h r t . " 2 1 Der auf Handeln ausgehende Wille bedarf des Entwurfes einer Welt, in der er sich ein- und auszurichten vermag. Es kann als Gebot für das „Schaffen" von Weltperspektiven durch die metaphysische Phantasie ausgesprochen werden, daß diese so eng zu wählen seien, daß sich Entschlossenheit des Willens herzustellen vermag. Aber auch an diesem Punkte gilt es wieder, zu einer anderen, entgegengesetzten Perspektive des philosophischen Denkens überzugehen. Das Denken, welches dem Leben gerecht werden will, muß über die engen Perspektiven hinausgehen und eine Bewegung des Erweiterns, des Über-schreitens der Grenzen, des Einholens aller erreichbaren Perspektiven leisten, er muß den Zug der „Verengung der Perspektive" durch denjenigen der Ausweitung und Ent-grenzung ergänzen. Jetzt gilt die Devise des Über-schreitens der Grenzen jeder Perspektive, wodurch eine Bewegung gefordert wird, die von Nietzsche auch als „Höher-steigen" des Denkenden beschrieben wird. Es liegt nahe, aus dem Zusammenklang der Motive der Verengung einerseits und des Uberschreitens und des Erweiterns der Perspektiven andererseits die Polarität des Apollinischen und des Dionysischen denkend herauszuhören. Unter dem Aspekt der Polarität von Verengung und Erweiterung der Weltperspektiven beurteilt Nietzsche auch die kopernikanische Wendung, die nach seiner Auffassung ein Symptom für V e r e n g u n g des menschlichen Bewußtseins auf seine beschränkten subjektiven Zwecke darstellt. Sie gibt das Stichwort für eine Ablösung des Menschen von seinen kosmischen Bezügen und eine Verengung auf den Horizont von Moral, Erfüllung der Ansprüche auf Bequemlichkeit, Wohlfahrt, Lebensgenuß. Die berühmten Bemerkungen Kants, die er in dem „Beschluß" seiner Kritik der praktischen Vernunft im Hinblick auf die Situation des modernen Menschen geäußert hat, treten in den Blick, wenn man bei Nietzsche liest, daß „seit Copernikus [. . .] der Mensch aus dem Centrum ins x [rollt]." 2 2 Während Kant vom idealistischen Standpunkt aus durch diese Wendung die Freiheit und unendliche Überlegenheit der Intelligibilität des Subjekts über Natur und Leib ins Werk gesetzt sieht, glaubt Nietzsche in dieser Situation nur den Auftakt für eine geschichtliche Entwicklung zum Nihilismus sehen zu können. Das menschliche Subjekt hat sich aus den Bezügen des Kosmos herausgezogen, um seine Herrschafts- und Freiheitsstellung gegenüber der Natur zu verwirklichen. Aber jetzt ist er nicht mehr Mittelpunkt des Kosmos, sondern eine quantité négligeable: der angebliche überragende und unendliche Wert seiner Intelligibilität ist eine
21 22
JGB 188, K G W V I 2 , U l f . (GA VII, S. 116f.). KGW VIII 1 2 [127], 125 (GA XV, S. 142).
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Täuschung: wenn der idealistische Philosoph zugibt, daß der Mensch als Leib nach der kopernikanischen Wendung in der Tat im Hinblick auf seine „Wichtigkeit" sich „vernichtet" (Kant) sieht, dann bezieht Nietzsche diese Vernichtung auf den ganzen Menschen, der durch seine Leiblichkeit repräsentiert wird. Um seine Bedeutung dem Kosmos gegenüber sich wenigstens einzureden, sieht sich der Mensch, von Nietzsche aus gesehen, gezwungen, mit der Moral gegenüber der Natur wichtig zu tun. 2 3 Philosophische Standpunkte wie der des Subjektivismus und des Idealismus sind Ausdruck für die Situation des modernen Menschen, der sich von der kosmischen, „großen" Natur distanziert hat und sich nun entweder als der Rivale der großen Natur empfindet oder mit einer sehnsüchtigen Liebe die Einheit mit ihr wiederherzustellen versucht. Der moderne Mensch befindet sich in einer Bewußtseinslage, in welcher er dem Anspruch auf die Wichtigkeit seiner Subjektivität, seiner Innerlichkeit, Freiheit und auf die Bedeutung seiner Gefühle und Empfindungen als Anmaßung betrachten muß, wenn er sie unter dem Maßstab der kosmischen Natur beurteilt, die vom Menschen keine Notiz nimmt und über seinen Kopf hinweg in Größe und Gelassenheit ihren Gang geht. Damit ist für das moderne Bewußtsein eine Situation entstanden, in der die „große" Natur eine maßgebende Rolle spielt, auf die jetzt die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll. Dabei tritt eine Stellung des menschlichen Subjekts zur Natur in den Blick, die nicht den Charakter des Beherrschenwollens und des Mächtigseins zeigt, sondern für die Spinoza mit einer Wendung wie der des amor dei intellectualis 24 das Stichwort abgibt. Da Nietzsche diese Situation des modernen Bewußtseins deutlich vor Augen hat, ist er auch in die Tradition der großen Denker einzureihen, die im Blick auf Spinoza und den Spinozismus den verlorengegangenen Bezug zwischen dem menschlichen Subjekt, welches sich gegenüber dem Kosmos verselbständigt hat, und der großen kosmischen Natur wiederherzustellen suchen. Man kann im Hinblick auf diese Aufgabe, die sich philosophisches Denken stellt, geradezu von einem spinozistischen Bewußtsein gegenüber der Natur sprechen.
III. Der Grundcharakter des spinozistischen Bewußtseins der Natur gegenüber kann so gekennzeichnet werden: es besteht für uns menschliche Subjekte kein Grund, unser intelligibles Ich mit seinen Entwürfen, Vorstellungen, seinen Ansprüchen auf Freiheit besonders wichtig zu nehmen, wenn man den 23 24
K G W VII 1 3 [1] 336, 94 (GA X I I , S. 261, Aph. 123). Entspricht dem „amor fati" Nietzsches.
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Maßstab der unendlichen Größe der Gottnatur anlegt. Bei Spinoza wird die Selbstverkleinerung des Menschen, die Nietzsche als notwendige Folge der kopernikanischen Wendung anspricht, greifbar: zugleich werden gedankliche Konsequenzen erkennbar, die zu der philosophischen Aufgabe führen, Freiheit, Subjektivität, Individualität, Autonomie des Subjekts aufzugeben, um sich ganz in die großen kosmischen Bezüge einzufügen und sie als Maßstab der Beurteilung der natürlichen und der menschlichen Welt zur Geltung zu bringen. Die spinozistische Stellung zur Natur begründet im Denken Nietzsches gedankliche Wendungen, an denen charakteristische Züge seines Philosophierens greifbar werden. Die Kritik am Idealismus und an dem von ihm vertretenen Herrschaftsanspruch des Ichbewußtseins gehört ebenso zu diesen Zügen wie sein Bekenntnis zur Notwendigkeit, zum Amor fati und schließlich die Weltperspektive der ewigen Wiederkunft. Zunächst soll unter diesem Aspekt ein Blick auf seine Kritik am Idealismus geworfen werden. Darunter versteht er die Position, in welcher das Ego cogito mit seinen Gedanken, Vorstellungen, Empfindungen die beherrschende Rolle gegenüber dem Seienden übernimmt. Seine Kritik greift vor allem an dem Punkte an, an welchem dieser Anspruch des Ego cogito gegenüber dem Leib erkennbar wird. „Ich denke" wird in berühmten Wendungen des Zarathustra als die „kleine Vernunft" deklariert, die hinter der „großen Vernunft" des Leibes zurückzutreten hat. „ O b die [Ich-]Vernunft bisher im Ganzen mehr erhalten als zerstört hat, mit ihrer Einbildung, alles zu wissen, den Körper zu kennen, zu ,wollen* — ? " 2 S Die Einbildung der Ichvernunft, „Zentrum" unserer Lebensereignisse zu sein, ist unbegründet. Der Leib als „große Vernunft" repräsentiert an uns und in uns die „große N a t u r " , da er unseren unlösbaren Zusammenhang mit dem Kosmos darstellt. Als Züge der großen Natur, die auch am Bild des „großen" Menschen zutage treten, sind solche zu nennen wie der, daß sie sich als umfassender, weitester Horizont zeigt, der eine Unendlichkeit der verschiedensten, einander entgegengesetzten und miteinander um die Herrschaftsstellung im Ganzen kämpfenden Kräfte einigt. Es handelt sich um eine kosmische Einheit von „ M o n a d e n " , die miteinander um Herrschaftsstellungen in der großen Rangordnung des Seienden kämpfen. 2 6 Die große Natur trägt die Physiognomie des dem begrenzten, subjektiven Ichbewußtsein überlegenen Ganzen, Umfassenden und zugleich des „Ewigen". Sie denkt und handelt über die Köpfe der endlichen Subjekte hinweg, die in ihren engen egoistischen Interessen-Horizonten und in der alltäglichen Betriebsamkeit gefangen sind. U b e r diesen Betrieb hinweg geht sie ihren gelassenen Gang mit Notwendigkeit. Sie rechnet 25 26
KGW V 2 11 [132], 388 (GA XII, S. 156, Aph. 309). Vgl. meine Abhandlung über: „Nietzsche und der monadologische Gedanke", NietzscheStudien 8, 1979, 127f.
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nicht mit kleinen, an Maßstäben des einzelnen, engen, individuellen Lebens gemessenen Zeitspannen, sondern mit der großen Zeit, die den Horizont für das Ganze des Werdens, des Entstehens und Vergehens überhaupt abgibt und daher die Ewigkeit in jedem Augenblick vergegenwärtigt. Die große Natur gibt den Horizont für das Geschehen in der kleinen Welt des Menschen ab. Da sie alles Einzelne, Endliche, Werdende und Vergehende umfaßt, ist sie nicht geworden und kann nicht vergehen: ihr eignet Ewigkeit. Der Augenblick des einzelnen Geschehens repräsentiert selbst diese Ewigkeit. Die Perspektive der Betrachtung des Einzelnen sub specie aeternitatis kommt dem Bedürfnis der modernen Seele entgegen, die Betriebsamkeit, Willkür, Enge der subjektiven Perspektive der Alltäglichkeit zu überwinden und sich in die Dimension der großen Natur auszuweiten. Nietzsche interpretiert einmal den Tod in diesem Horizont so: „Grundfalsche Werthschätzung der e m p f i n d e n d e n Welt gegen die t o d t e . Weil wir sie sind! Dazu g e h ö r e n ! Und doch geht mit der Empfindung die O b e r f l ä c h l i c h k e i t , der Betrug los: was hat Schmerz und Lust mit dem w i r k l i c h e n Vorgange zu schaffen! — es ist ein Nebenher, welches nicht in die Tiefe dringt! Aber wir nennen's das I n n e r e und die todte Welt sehen wir als ä u ß e r l i c h an - grundfalsch! Die ,todte' Welt! ewig bewegt und ohne Irrthum, Kraft gegen Kraft! Und in der empfindenden Welt alles falsch, dünkelhaft! Ein Fest sei es, aus der Welt des engen, falschen Ichbewußtseins in die der großen Natur überzugehen. Weil dies durch den Tod geschieht, deshalb spricht Nietzsche in diesem Zusammenhang von der „todten Welt", die wir betreten, wenn wir aus dem Leben, dem Inbegriff der inneren Bewegungen, der Empfindungen, der „Innerlichkeit" gehen. Der Tod wird als Ubergang in den Bereich der „Ewigen Gesetze" verstanden, wo es „keine Lust und keinen Schmerz und Betrug giebt." Das Leben als Geschichte subjektiver Empfindungen und vorübergehender Vorstellungen wird, in der Perspektive der großen Natur betrachtet, durch den Tod überwunden, der einen Ubergang zur „Ewigkeit" darstellt. Darunter darf nicht ein jenseitiges Leben verstanden werden, sondern die Zugehörigkeit zur großen Natur. In Goethes vom Spinozismus berührter Lyrik tritt diese metaphysische Stimmung in den Versen entgegen: „. . . Ach, ich bin des Lebens müde, was soll aller Schmerz und Lust? Süßer Friede komm, ach komm in meine Brust . . ." Die Perspektive der großen Natur erlaubt es, unser Dasein, das durch die Enge unseres subjektiven Bewußtseinshorizontes bestimmt ist, von einem überlegenen und gelassenen Standpunkt aus zu beurteilen. In der darauf beruhenden Kritik der Empfindung und ihrer Subjektivität wird dieser der ihr angemessene Stellenwert gegeben. In einer radikalen Kritik an der „Innerlichkeit" bezeichnet Nietzsche diese paradoxerweise „als die äußerliche Seite des Daseins [. . .], als ein Versehen des Seins, ein Abenteuer. Es dauert dafür kurz genug! Laßt uns diese Komödie durchschauen und so genießen! [. . .] Wir
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werden ganz w a h r , wir vollenden uns. Der T o d ist u m z u d e u t e n ! Wir v e r s ö h n e n ( u n s ) so mit dem Wirklichen, d. h. mit der todten W e l t . " 2 7 Diese Versöhnung hat den Charakter der Ausweitung des subjektiven Bewußtseins in die Dimension der kosmischen Natur. Sofern der Tod als der Augenblick in unserer Lebensgeschichte aufzufassen ist, in welchem sich das Bewußtsein in diese kosmische Dimension ausdehnt, wird er unter dem Aspekt des Dionysischen gedeutet, was in den Sätzen durchklingt: „ D i e Natur lieben! Das Todte wieder verehren! Es ist nicht der Gegensatz, sondern der Mutterschooß, die Regel, welche mehr Sinn hat als die Ausnahme: denn Unvernunft und Schmerz sind bloß bei der sogenannten,zweckmäßigen' Welt, im Lebendigen." 2 8 Der spinozistischen Stellung zur Natur, die der modernen Seele auf den „ L e i b " geschrieben ist, entspricht eine besondere Art von Naturempfindung. Natur wird als Welt der Ruhe und Gleichmäßigkeit der Vorgänge und Ereignisse, die sich mit Notwendigkeit vollziehen, verstanden. In der modernen Seele befindet sich ein Reichtum, eine Differenziertheit und Vielfältigkeit, die in ihr das Bedürfnis erwecken, sich an die Betrachtung der schlichten, einfachen Entwicklungsformen und Gestaltungen der Natur hinzugeben. In „Menschliches, Allzumenschliches" begegnet der Passus: „Je reicher jetzt der Mensch sich innerlich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, um so gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur; wir Alle erkennen mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung für die moderne Seele, wir hören den Pendelschlag der grössten Uhr mit einer Sehnsucht nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unser selbst erst kommen k ö n n t e n . " 2 9 In dieser Zeit spielt auch noch die dem Kenner der Antike geläufige Polarität von Thesis und Physis eine Rolle, wenn Nietzsche das menschliche Leben als von der Notwendigkeit des Herkommens, der Satzungen bestimmt anspricht und das Bewußtsein des darin befangenen Subjekts so zu erklären vermag, daß diesem die Natur als Reich der Freiheit, der Willkür, der höheren Macht erscheinen muß, „ja gleichsam als eine übermenschliche Stufe des Daseins, als G o t t . " 3 0 Nimmt die Natur vor dem subjektiven Bewußtsein in dieser Stellung deshalb das Bild der Größe an, weil sie als Reich der Freiheit erscheint, so argumentiert Nietzsche in späteren Jahren in einer anderen Weise. D a ist es das Individuum, welches im anarchischen Sinne die Freiheit in der Bedeutung der Willkür verkörpert. Es sehnt sich in dieser Situation danach, in 27 28 29
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KGW V 2 KGW V 2 MA I 111, Thema der Ibid.
11 [70], 366 (GA X I I , S. 229, Aph. 498). 11 [125], 384 (GA, ibid.). K G W IV 2, 113 (GA II, S. 122). Diese Überlegung weist deutlich auf das spätere ewigen Wiederkehr voraus.
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dem kosmischen Horizont der Notwendigkeit der großen Natur aufzugehen. In dieser Situation bietet die Natur nicht mehr das Bild der Enge und „Dummheit", sondern das der Weite. Natur gibt jetzt die Bürgschaft für Echtheit und Wahrheit ab und steht insofern im Gegensatz zum subjektiven Bereich der Täuschung und des Scheines. Gegen Schopenhauer ist es gerichtet, wenn Nietzsche sagt, daß nicht die Natur uns, die Individuen, täusche und ihre Zwecke durch unsere Hintergehung fördere, sondern daß sich die Individuen alles Dasein nach ihren subjektiven, falschen Maßen zurechtlegen. „Wir wollen damit recht haben und folglich muß ,die Natur' als Betrügerin erscheinen. In Wahrheit giebt es keine individuellen Wahrheiten, sondern lauter individuelle I r r t h ü m e r — das Individuum selber ist. ein I r r t h u m . " 3 1 Gegen das ego cogitans des neuzeitlichen Menschen ist es hier gerichtet, wenn Nietzsche verlangt, daß man aufhören solle, sich als ein auf einen fingierten Thron gesetztes Ego zu fühlen. „Den Egoismus als I r r thum einsehen! Als Gegensatz ja nicht Altruismus zu verstehen! Das wäre die Liebe zu den anderen vermeintlichen Individuen! Nein! Uber ,mich' und ,dich' hinaus! Kosmisch empfindenl"32 Das ist die Sprache des Dionysos: Sie fordert auf, über den Horizont des individuellen Bewußtseins hinauszugehen und sich in die Dimension des Ganzen der Natur, des Umfassenden und „Ewigen" auszuweiten. Durch den Gebrauch der dionysischen Perspektive überschreitet das Bewußtsein enge, egoistische Horizonte und überwindet die Falschheiten subjektiven Denkens und Wollens, es wird „wahr". Die Natur, die in dieser Perspektive in den Blick kommt, stellt eine Verbindung zwischen dem apollinischen Prinzip der Gestaltung, Individualisierung und Beschränkung und dem dionysischen Charakter der Ausweitung dar. Kosmisch empfinden: d.h. jeden Augenblick des Lebens in der Perspektive des Umfassenden, Ewigen zu sehen, die Willkürlichkeiten und Falschheiten des Ichbewußtseins durch die Notwendigkeit der ewigen Natur aufzuheben. Man sieht: der Gedankengang zielt auf das Lehrstück von der großen Natur als dem Inbegriff des Immerwiederkehrenden ab. Die Devise, man solle „kosmisch empfinden", betrifft auch Denken und Wollen: sie fordert dazu auf, das Seiende in der Perspektive des Kosmischen auszulegen, wobei die Dinge, mit denen man es zu tun hat, zu „wahren Dingen" werden. Die dionysische Forderung beinhaltet, die engen Perspektiven des bürgerlichen Lebens, die Hochschätzung des Besitzes, des Ansehens usw. zu überschreiten und an den durch die große Natur gesetzten Maßstäben Denken und Handeln zu messen. Dadurch, daß wir uns in den kosmischen 31 32
KGW V 2 11 [7], 340f. (GA XII, S. 128). Ibid., 341 (GA XII, S. 129).
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Zusammenhang versetzen, verschaffen wir uns die wahren Urteilsmaßstäbe. Wir bilden in uns eine Verfassung des Denkens aus, in der die „ B i l d e r d e s D a s e i n s " aus uns wachsen. 33 Die Aufforderung an das Subjekt, sich bei seiner Beurteilung des Seienden und bei den Beratungen zum Handeln in den kosmischen Zusammenhang zu versetzen, um die rechten Maßstäbe zu gewinnen, nimmt die Gestalt der Devise an: Interpretiere das Seiende und deine Zugehörigkeit zu ihm in der Perspektive der ewigen Wiederkehr. Dann werden sich deinem Erkenntniswillen die wahren Bilder des Daseins zeigen und du wirst zu den entsprechenden Entscheidungen bei deinem Handeln kommen. Du wirst das Leiden in der Welt in dieser Perspektive als unabänderlich, als weder durch die eigene noch durch die Schuld Gottes verursacht und als mit eherner Notwendigkeit kommend und gehend interpretieren. Du wirst zu einer letzten großen Anstrengung des Schaffens vom Sinn dieses Leidens herausgefordert werden. Du selbst sollst diesem ewigen Kommen und Gehen einen Sinn dadurch verleihen, daß du es annimmst, für alles dankbar bist und die im Seienden herrschende Notwendigkeit liebst. Die Sinnlosigkeit im notwendigen Kommen und Wiederkehren verwandelst du in Sinn. Der Gedanke der großen Natur und ihres Wiederkehrcharakters schließt eine Antinomie zweier entgegengesetzter Motive ein: einerseits erfüllt er das Bedürfnis des modernen Menschen nach Anschluß an die kosmische Natur, andererseits verbindet Nietzsche mit ihm die Aufgabe, dem Anspruch des modernen Subjekts auf Freiheit und Überlegenheit über die Natur gerechtzuwerden. Einerseits soll der Gedanke der spinozistischen Stellung des modernen Menschen zur großen Natur genüge tun, der danach strebt, sich von der Subjektivität und Individualität zu entlasten, andererseits aber besteht der Wille, diese Entlastung selbst auf dem Wege der Individualität und der Freiheit zu vollziehen. Sein großes Prinzip der Befreiung, des Freiwerdens zu sich selbst und zu immer wiederholtem Hinausschaffen über sich wird dann wesenlos, wenn sich das Individuum ganz der Natur preisgibt und sich vorbehaltlos der dionysischen Bewegung des Sichauslieferns an den großen tänzerischen Rhythmus der ewigen Wiederkehr überläßt. Zu den durch den Widerstreit dieser heterogenen Motive sich stellenden Problemen passen die Bemerkungen in „Menschliches, Allzumenschliches": „ N e u t r a l i t ä t d e r g r o s s e n N a t u r . — Die Neutralität der grossen Natur (in Berg, Meer, Wald und Wüste) gefällt, aber nur eine kurze Zeit: nachher werden wir ungeduldig. ,Wollen denn diese Dinge gar nichts zu u n s sagen? Sind w i r für sie nicht da?' Es entsteht das Gefühl eines crimen laesae majestatis humanae." 3 4 33 34
K G W V 2 11 [21], 348f. ( G A XII, S. 130, Aph. 249). MA II, WS 205, K G W IV 3, 280 ( G A III, S. 304f.).
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Der Anspruch des zu seinem eigenen Sein und dessen Möglichkeiten des Schaffens ja-sagenden Willens ist mit einer unbedingten Hin-gabe an die große Natur nicht vereinbar. Das Individuum sieht die Aufgabe, sich selbst auf dem Wege über die Natur in höherer Gestalt wiederzugewinnen. Die Schwäche und Müdigkeit des modernen Menschen kann auch in dessen Bedürfnis Ausdruck finden, sich an die große Natur ganz zu verlieren. „So gehen auch die Menschen in die große Natur, nicht um sich zu finden, sondern um sich in ihr zu verlieren und vergessen. Das , A u ß e r - s i c h - S e i n ' als Wunsch aller Schwachen und Mit-sich-Unzufriedenen." 3s Der Mensch findet sich selbst dadurch, daß er seine subjektive Enge und Beschränktheit überschreitet, indem er sich in der Perspektive der großen Natur beurteilt und versteht. Um sich in dieser aber nicht zu verlieren, sondern sich auf dem Umweg zu ihr zu finden, macht er sich bewußt, daß er es ist, der diese Bewegung des Sich-selbst-findens durch Sich-selbst-überwinden vollzieht. S e i n e Freiheit darf nicht der Freiheit der Natur geopfert werden. Andererseits findet er sich nur auf dem Wege über die Natur. Er kann sich nur aus der Enge und Alltäglichkeit seines subjektiven Bewußtseins und aus dessen Falschheit befreien und sich davon erlösen, wenn er seinem Denken und Entscheiden die umgreifende Dimension des Kosmos und dessen Notwendigkeit, das „Fatum" als Maßstab zugrundelegt. Aufgrund der Widersprüchlichkeit der miteinander streitenden Ansprüche der Freiheit im Sinne der Selbstherrlichkeit der Subjektivität und Individualität einerseits und der Freiheit im Sinne der Ausweitung des Bewußtseinshorizontes in die Dimension des Kosmos andererseits ergibt sich für das philosophische Denken die Aufgabe, die scheinbar entgegengesetzten Prinzipien der individuellen Freiheit und des Schaffens — Nietzsche rechnet dieser Seite auch den „Zufall" zu — und der über die Köpfe der Individuen hinweg sich verwirklichenden Notwendigkeit der großen Natur zu vereinigen. In einem Entwurf aus der Zeit der Entstehung des Zarathustra ist zu lesen: „Seligpreisung sub specie aeterni . . . Höchster Fatalismus, doch identisch mit dem Zufalle und dem Schöpferischen (keine Werthordnung in den Dingen, sondern erst zu schaffen)." 3 6 Folgende Interpretation dieses scheinbaren Paradoxes schlage ich vor: Man würde der menschlichen Freiheit und der Möglichkeit des Schaffens, welches in erster Linie Schaffen von Weltperspektiven ist, dann keine Chance geben, wenn man in der Welt einen schon vorhandenen Sinn, eine „Wertsetzung" annehmen 35 36
KGW VII 1 7 [145], 299 (WM 941). Das Zitat ist die korrigierte Fassung einer Stelle in der Großoktavausgabe (XIV, S. 301, Aph. 113). Dort heißt es in der Klammer: „Keine Wiederholung in den Dingen . . . " . Montinari hat hier verbessert: „Keine Werthordnung in den Dingen . . . " (KGW VII 2 27 [71], 292). Die in der GA verbundenen Teile: „Seligpreisung sub specie aeterni." und: „Höchster Fatalismus . . . " , finden sich in der KGW nicht in einer Notiz. Vgl. aber KGW VII 3 16 [49], 540.
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würde. Wir müssen die Welt als sinn-loses Geschehen ohne Endziel annehmen, welches von der Notwendigkeit des Fatums bestimmt ist, um uns selbst allein als die Quelle alles Sinnes erweisen zu können. Daher ist es nötig, daß wir das Weltgeschehen nicht teleologisch, sondern nach dem Modell der ewigen Wiederkehr auslegen. Wir verwandeln die Sinn-losigkeit in Sinn dadurch, daß wir in Freiheit die Welt des ewigen Wiederkehrens zu der unserigen machen und im Sinne des Amor fati Stellung zu ihr nehmen. Nietzsche macht mit seinem „Lehrstück" von der ewigen Wiederkehr das Experiment, die Stellung der Freiheit zum Schaffen von Weltperspektiven mit derjenigen zu vereinigen, in welcher sich das moderne Bewußtsein spinozistisch der Notwendigkeit der großen Natur anheimstellt. Aber im Unterschied zu Spinoza versteht Nietzsche die große Natur als Entwurf, dessen der moderne Mensch bedarf. Der Anspruch der Freiheit und des Schaffens soll dadurch erfüllt werden, daß die Welt der ewigen Wiederkehr als Entwurf und als dem Willen zum Leben dienliche Perspektive bewußt wird. Auf diese Weise zeigt sich der Mensch als „Rivale" der großen Natur dieser gewachsen. Von diesem Standpunkt aus kann Nietzsche auch noch von der „Überwältigung der Vergangenheit" sprechen. 37 In dem Augenblick, in welchem der Mensch das Fatum in freier Liebe als die von ihm gewollte Notwendigkeit begreift und übernimmt, hat er die äußersten Möglichkeiten der Menschheit verwirklicht und einen Stand in seiner Geschichte gewonnen, für den gilt: „Sobald der M(ensch) v o l l k o m m e n der W a h r h e i t ist, b e wegt er die g a n z e N a t u r . " 3 8 Wie sich der Mensch von der Notwendigkeit der Natur befreit, die er zugleich liebt, so macht er sich vom „Drachen" des „Ich war" (vgl. Zarathustra) frei, sofern er die Vergangenheit und die mit ihr gegebene Notwendigkeit als selbst g e w o l l t und als in ihrer Notwendigkeit geliebt versteht und behandelt. Dann erweist er sich nicht mehr nur als Objekt des aus der Vergangenheit her sich notwendig ereignenden Geschehens, sondern behauptet die Stellung der Freiheit dieser gegenüber, sofern er sie dadurch in die Hand bekommt, daß er ihr einen Sinn gibt und sie interpretiert. Geschichtliche Vergangenheit und Natur vermag der Mensch zu bewegen, wenn er sich als Sinngebender, Sinnschaffender und Interpretierender erweist; wenn er dadurch „vollkommen der Wahrheit ist", daß er die Aufgabe des Schaffens von Maßstäben erfüllt. Abschließend soll zur methodischen Seite dieser Interpretation der Auslegung der Aspekte, die sich bei Nietzsche von der Natur zeigen, gesagt werden: Sie macht nicht den Versuch, den Natur b e g r i f f Nietzsches erkenn-
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K G W VII 1 16 [49], 540f. (GA X I V , S. 301, Aph. 113). Vgl. auch mein Buch „Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie", Köln/Wien 1980. K G W VII 1 16 [39], 538 (GA X I V , S. 293).
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bar zu machen oder ihn „dialektisch" zu entwickeln: das wäre dem Denkstil Nietzsches nicht angemessen. Vielmehr sollte berücksichtigt werden, daß man der eigenen Methode Nietzsches nur dann gerecht wird, wenn man auch in der Interpretation einen gedanklichen Weg geht, auf dem man immer wieder von anderen, einander heterogenen Perspektiven, ihren Maßstäben und Sprachen Gebrauch macht. Nietzsche wählt zwar die Perspektive der Welt, die dem jasagenden Willen eigentümlich ist. Aber der Maßstab dieser Perspektive ist nicht eindeutig, sondern zeigt sich als Horizont, der selber wieder einen Inbegriff offener, perspektivischer Möglichkeiten umfaßt. Diese können einander widersprechen und geben die Stationen eines gedanklichen Weges ab, den das philosophische Denken zu durchlaufen hat, um nicht bei einem einseitigen Bild der „ S a c h e " stehen zu bleiben. Jede der Perspektiven ist dazu geeignet, zur Herstellung eines sich in Bewegung befindlichen spannungsreichen Bildes der Sache beizutragen. Rückblickend mag resümiert werden, daß an dem Weg dieser Interpretation drei Etappen unterschieden wurden. In jeder von ihnen wurde im Anschluß von Aussagen Nietzsches eine Situation der Naturbegegnung des modernen Menschen charakterisiert, aus der sich ein eigentümliches Bild von der Natur ergibt. Zunächst wurde die „gefesselte" Natur in den Blick gerückt, die sich der Mensch der neuzeitlichen Naturwissenschaft und Technik gegenüberstellt. Nietzsche deutet die Stellung des modernen Subjekts der Natur gegenüber als diejenige, die einem bestimmt gearteten Willen zur Macht eigentümlich ist. Er stellt die Situation der Herrschaft über die Natur auch in eine Perspektive, in welcher erkennbar wird, daß der Mensch zugleich auch selbst Objekt der Unterdrückung wird. Das wird einsichtig, wenn man daran denkt, daß die Sinne in der Situation der modernen Naturwissenschaft und Technik unter das Diktat des konstruierenden Verstandes gestellt werden. Dadurch wird das Denken dazu herausgefordert, den ursprünglichen Lebensbezug des Subjekts zur Natur auf neuer Stufe wiederherzustellen, den dieses dadurch abgeschnitten hat, daß es die Natur, statt sich als Lebewesen innerhalb ihres Bereiches zu verstehen, zum Objekt der Berechnungen und der technischen Verfügung gemacht hat. Jetzt wird ein Stand des philosophischen Denkens erreicht, von dem aus die „freie N a t u r " in den Blick tritt, die der „ P h y s i s " als des Bereiches der selbständigen Bildungen und Gestaltungen. Nietzsche interpretiert diesen Bereich als Schauplatz des Kampfes der lebendigen Wesen um die Macht, wobei auch das Stellungnehmen des Menschen der neuzeitlichen Naturwissenschaft in ein neues Licht gerückt wird: die ihr gemäße Weltauslegung und die entsprechende Stellung des Subjekts der Natur gegenüber werden als Strategie des Menschen im Kampfe mit der Natur interpretiert. In diesem Zusammenhang tritt auch die Doppeldeutigkeit in der Bewertung der Moral in den Blick, die mit der Naturwissenschaft und Technik unter dem
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Aspekt ihres asketischen Charakters beider auf einen gemeinsamen Nenner gebracht wird. Sie erweist sich einerseits als lebens- und naturfeindlich, sofern es ihr auf Unterdrückung der Sinne, des Leibes usw. ankommt. Andererseits zeigt sie sich wieder als Verbündete der Natur, die selbst nicht von Anarchie, von Laisser-aller wissen will, sondern in der dasjenige Leben seine höchste Gestalt erreicht, welches sich diszipliniert und sich zusammenrafft. Ein weiterer Gegensatz heterogener Maßstäbe und Motive zeigt sich in der Polarität zwischen entschiedener Gestaltung des Lebens einerseits, für die auch Enge und „Dummheit" in Kauf genommen werden und der unermeßlichen Erweiterung sowie des Hinausgehens über die Grenzen enger Horizonte andererseits. Beide Aspekte, derjenige der Konzentration einerseits und des der Weite verpflichteten Ubergangs über die Grenzen andererseits begegnen auf dem Gedankengang, den das Denken über die „große Natur" geht. Die Polarität zwischen den Standpunkten des Apollinischen und des Dionysischen tritt im Umkreis der spinozistischen Stellung des modernen Bewußtseins der Natur gegenüber in den Blick. Auch hier wieder verläuft der Weg des Denkens zwischen heterogenen Motiven, zwischen der dem modernen Bewußtsein eigentümlichen Neigung, auf Freiheit und Individualität zugunsten der Hingabe an die „große Natur" zu verzichten und dem Anspruch, als „Rivale" dieser Natur ihr gegenüber sein Selbst-sein zu gewinnen. Im Lehrstück von der ewigen Wiederkehr wird die Spannung zwischen den Motiven der Freiheit zum Schaffen und der Bereitschaft des Individuums ausgetragen, sich in den Horizont kosmischer Bezüge zu stellen.
Diskussion Taurede: Der Vortrag rückt Nietzsches Auffassung der Natur in die Perspektive der neuzeitlichen Philosophie und der modernen Naturwissenschaft. Das ist für sich schon ein neuer Aspekt, der von der herkömmlichen Betrachtung abweicht. Löwith z. B. sieht Nietzsche hauptsächlich vor dem Hintergrund antiker Positionen. Gerade nachdem Sie, Herr Kaulbach, einen anderen Akzent gesetzt haben, interessiert mich, wie Sie Nietzsches Stellung zur antiken Naturphilosophie beurteilen. Dann sprachen Sie von einem doppelten Sinn in Nietzsches Auslegung des Gesetzes als Macht: Einmal als die Macht des Menschen über die Natur und zum andern Mal als die Macht der zu sich seihst kommenden Natur. Dabei betonten Sie, Kant habe diese Unterscheidung durch die Abgrenzung der „Erscheinung" vom „Schein" differenzierter gefaßt als Nietzsche, der ja, wie wir wissen, die Grenzziehung nicht anerkannt hat. Aber kommt nicht durch Ihre Deutung des Doppelaspekts des Gesetzes als Macht die von Ihnen vermißte Differenzierung auch bei Nietzsche vor? Liegt nicht auch bei Nietzsche eine ähnliche Subtilität vor wie bei Kant, wenn er eine adaequatio zwischen der Macht des Menschen und der Macht der Natur unterstellt? Eine dritte Frage: Sie sagen, Nietzsches Kritik gegen Spinoza sei gegen den Idealismus gerichtet. Ist es nicht aber so, daß der gesamte Deutsche Idealismus als ein Ringen mit Spinoza zu begreifen ist? Sind nicht z. B. Schellings Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit als Suche nach einer Antwort auf die spinozistische Herausforderung zu verstehen? Hier also bezieht der Idealismus sein Selbstverständnis aus der Abgrenzung gegenüber Spinoza. Um so mehr muß Ihre Zuordnung überraschen. Würden Sie, Herr Kaulbach, sagen, daß Nietzsche die Frage des Deutschen Idealismus wieder aufnimmt, aber zu einer ganz anderen Antwort vorantreibt? N u n noch zu einem Punkt, den ich im Vortrag am interessantesten fand: Nietzsche, so hieß es, hebe den Vorrang der Innerlichkeit auf und führe damit die Umkehrung der Metaphysik herbei. Der Tod bezeichne nun kein Geheimnis mehr, sondern sei eine bloße Empfindung. Ich habe Zweifel, ob man so eindeutig behaupten kann, Nietzsche sei aus der Innerlichkeit herausgetreten. Bei Heraklit finden sich Äußerungen, denen Nietzsche m. W. nicht widersprochen hat, z. B. „mich selbst habe ich durchforscht" oder „Auch wenn du jeden Weg gehst, kannst du gehend die Grenzen der Seele nicht erschließen: So tief ist ihr
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Sinn." 1 . Haben Einsichten wie diese nicht stets eine große Wirkung auf Nietzsche gehabt? Gegenpositionen zu dieser Sicht lassen sich überhaupt nur schwer ausmachen, vielleicht im Mythos, vielleicht auch in den eleusinischen Mysterien, in der Nacht von Eleusis. Würden Sie, Herr Kaulbach, glauben, daß Nietzsches Abwendung von der Innerlichkeit sich aus diesen Quellen speist? Nietzsche kannte natürlich die Mysterienkulte. In Ernst Bertrams Nietzsche-Buch gibt es ein ganzes Kapitel über „Eleusis" 2 . Eine ganz andere Quelle wäre freilich auch noch in Giacomo Leopardi zu sehen. Nietzsche schätzte Leopardis Gedicht „L'infinito", dessen Schlußzeile er im letzten Aphorismus der Morgenröte übernimmt: Die „Luft-Schiffahrer des Geistes" treibt die Sehnsucht hinaus auf das offene Meer und ihr Schicksal könnte sein, an der Unendlichkeit zu scheitern.3 Kaulbach: Ich begrüße diese Fragen. Die erste Frage fordert mich auf, Nietzsches Stellung zur Antike zu klären. Es ist ja an Nietzsches Denkgeschichte auffallend und merkwürdig, daß ein an der Antike geschulter und an ihr orientierter Denker die entschiedene Wendung zur positivistischen Gegenwart vollziehen kann, wie es in Nietzsches „zweiter" Epoche der Fall ist. Wenn Sie, Herr Taureck, mich nun fragen, wie sich dieser Ubergang bei Nietzsche vollzieht, und ob er dabei seine Herkunft aus der griechischen Welt vergessen hat, dann muß ich vorweg auf die hier anwesenden Experten in der Entwicklungsgeschichte des Nietzsche'schen Denkens verweisen. Ich selbst kann mich nicht zu diesen Experten zählen. Ich möchte aber einen Punkt hervorheben: Auch für die positivistische Wendung in Nietzsches Denken gibt es antike Vorbilder, etwa bei den Sophisten. Das positivistische Naturverständnis der Neuzeit läßt sich durchaus als eine moderne Version des homomensura-Satzes der Sophisten interpretieren. Hier, so glaube ich, brauchte Nietzsche seine Herkunft aus dem antiken Milieu nicht zu vergessen. Nur findet in der Moderne eine unglaubliche Zuspitzung und Radikalisierung der Positionen statt. Zur Beantwortung der zweiten Frage muß ich an die Kritik des Wesensbegriffs erinnern, mit der die neuzeitliche Wissenschaft einsetzt. Die Gefahr, die mit der Bestreitung der Wesenserkenntnis philosophisch droht, liegt in der nunmehr anscheinend allein offenbleibenden Alternative: Wenn sich das Wesen der Dinge nicht mehr erkennen läßt, dann betrifft alle Erkenntnis nur den Schein. Um diese Konsequenz zu vermeiden, differenziert Kant zwischen
1 2 3
Vgl. Heraklit, Frag. (Diels) 101 u. 45. (Übers, hier: Taureck) E. Bertram. Nietzsche, Versuch einer Mythologie, Berlin 1918, 341 ff. Vgl. M 575; Leopardis Gedicht schließt: „Così tra questa Immensità s'annega il pensier mio: E il naufragar m'è dolce in questo mare."
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„Schein" und „Erscheinung". „Schein" ist nur subjektiv, „Erscheinung" ist objektiv, und zwar im Hinblick auf ein „Etwas", das in der Erscheinung „erscheint". Diese begriffliche Subtilität findet sich bei Nietzsche nicht, weder in seiner Kant-Kritik noch in seinen eigenen Überlegungen zur Erkenntnisleistung des Menschen. Es ist aber zuzugeben, daß in seiner Perspektivismuslehre, nach der sich der Wille zur Macht eine bestimmte Perspektive verschafft, das bloß subjektive Verständnis des „Scheins" ebenfalls überwunden ist. Unter Bedingungen des Perspektivismus kann dann eine ganze Erkenntnisrichtung, wie z.B. die neuzeitliche Naturwissenschaft selbst, als Ausdruck eines Willens zur Macht angesehen werden. Ihre dritte Frage halte ich für sehr bedeutsam. Die Geschichte des neuzeitlichen Spinozismus ist noch nicht geschrieben. Sie wäre außerordentlich aufschlußreich für die Entwicklung des europäischen Denkens, insbesondere seit Gotthold Ephraim Lessing. Es gibt keinen großen Denker im Ubergang zum neunzehnten Jahrhundert, der sich nicht intensiv mit Spinoza auseinandergesetzt hätte. Es war durchaus meine Absicht, Nietzsche in die Tradition dieser philosophischen Auseinandersetzung zu stellen. Bedeutsam ist es, den Denkcharakter eines der hier in Frage kommenden Philosophen auch an der Art seiner Kritik an Spinoza zu studieren. Nietzsche wird in der Abgrenzung gegenüber Spinoza gewiß nicht zum „Idealisten". Seine Ausgangsposition ist im Gegenteil dezidiert antiidealistisch. Hier also ist er Spinoza besonders nahe. Ich habe versucht zu zeigen, wie seine grundsätzliche Stellung zur Natur derjenigen Spinozas entspricht. Gleichwohl lassen sich Nietzsches Dynamismus oder seine Kritik an der Selbsterhaltung schärfer ins Auge fassen, wenn man sie im Kontrast zu Spinoza betrachtet. Man darf eben nicht übersehen, daß die Idealisten an Spinoza ganz andere Seiten kritisieren als Nietzsche. Ihrem Vorschlag, schon Heraklit als einen ganz frühen Vertreter einer Philosophie der Innerlichkeit anzusehen, stehe ich kritisch gegenüber. Zumindest möchte ich zu bedenken geben, daß Nietzsche in diesen Zusammenhängen immer nur vom modernen Menschen spricht und damit eine Innerlichkeit meint, die auf dem Boden der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie erwachsen ist. Taureck: Die christliche Innerlichkeit! Kaulbach: Ja, aber ich denke auch an eine philosophische Version der Innerlichkeit. Ich meine diejenige, die auf die Seite des idealistischen ego, des ego cogitans, zu setzen ist. Darin ist die sich wichtig nehmende Subjektivitätsmoral gegenüber der Wirklichkeit ebenso eingeschlossen wie die Willkür bloßer Bewußtseinspositionen, die Natursentimentalität ebenso wie die Verfügung über die Natur, als sei sie leblos und tot. In diesem Zusammenhang
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ist die Unendlichkeit der Seele als Subjektivität und ihre Freiheit zu denken, woran Heraklit nicht gedacht haben kann. Allerdings bin ich Ihnen für den Hinweis auf die eleusinischen Mysterien dankbar. Hier sehe ich auch eine Verbindung zu Nietzsche. McGinn: Two years ago at a meeting of the American Philosophical Association I heard a paper which argued that Nietzsche's subjectivist philosophy was partly responsible for the exploitation of nature characteristic of the twentieth century. I take strong exception to this claim and would like to refute it by examining certain facets of Nietzsche's thought. In the early period, under the influence of Schopenhauer, nature, as much as the human being, is seen as an expression of the same underlying force (Will) as is the exploiter. Just as attempting to exploit another person is a fruitless denial of the fact that both are objectifications of the same underlying force, similarly with someone who exploits nature. So there is a philosophical basis in early Nietzsche's thought for arguing against the crude exploitation of nature as ultimately self-defeating and as arising out of blindness to the underlying unity of all existents. In the middle period the free spirit's project is a never-ending attempt to attain comprehensive knowledge of „allernächste Dinge" of this world. This endeavor comprises „die fröhliche Wissenschaft." This project necessarily involves an enormous amount of experimentation and investigation of nature (as well as of culture) in order to acquire that knowledge. But it would not, I think, involve or justify exploitation of nature, e. g., reduction of nature to a point where it could no longer serve as a rich, inexhaustible laboratory for the free spirit's inquiries. Thus, this strain of Nietzsche's middle-period thought would argue against arrogant actions toward nature, e. g., eliminating an endangered species, in the name of some mere zeitgemäße, allzuzeitgemäße
Projekt. I now turn to the late Nietzsche: There is no doubt that the Will to Power can be expressed in great technological projects that dominate nature, e. g., the Aswan Dam in Egypt. Such projects might well be occasions for realizing Nietzschean „Selbst-Uberwindung." The attempt to dominate nature by controlling the weather, to take another example, would probably qualify as an expression of the Will to Power, but Nietzsche might well have looked askance at such an undertaking as being in tension with the „grosse Ökonomie des Lebens" in which he continued to believe. Another aspect of his mature thought suggests that he might have favored nonexploitative human actions toward nature: Just as with human relationships, those in whom the Will to Power was strong would avoid succumbing to behavior toward nature which was merely „Beherrschung" or „Ausbeutung." Only those with a weak Will
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to Power would engage in crude exploitation of nature, e. g., to satisfy artificial needs concocted by bourgeois society. The most relevant quote from Nietzsche's late writings which speaks to the question of his attitudes toward nature is from the third essay of Zur Genealogie der Moral, section 9: „Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit." It cannot be emphasized enough that Nietzsche's conception of the Will to Power does not imply that a kind of Hobbesian state of nature inevitably exists between one human being and another. N o r does it imply that crude domination or exploitation of nature is the inevitable or natural mode of relationship between man and nature. Preservation or enhancement rather than exploitation of nature might well be the prerogative of those in whom the Will to Power is strong. Kaulbach: In Ihren Ausführungen sehe ich eine sehr willkommene Ergänzung. Einer These, die Nietzsche mit seiner angeblichen Subjektivitätsphilosophie für die Ausbeutung der N a t u r verantwortlich macht, muß man energisch entgegentreten. Hier scheint mir ein ganzes Nest von Irrtümern zu liegen. Man muß freilich sehen, daß dort, wo Nietzsche die moderne Technik kritisiert, keine Natursentimentalität im Spiele ist. Es geht Nietzsche nicht darum, die N a t u r als solche in Schutz zu nehmen. Er kritisiert an der technischen Naturbeherrschung, daß sie die nihilistische Situation vertuscht, daß sie das Nichts sozusagen vergessen macht. In dieser Verdrängung dokumentiert sich eben keine Stärke, keine Macht, sondern eine Ohnmacht des Menschen. Baier: Mir bereitet schon seit langem Nietzsches Verhältnis zu Rousseau Schwierigkeiten. Ich wäre Ihnen dankbar, H e r r Kaulbach, wenn Sie mir einige Aufklärung geben könnten. Nietzsches Ablehnung des Wegbereiters der französischen Revolution, des „ersten modernen Menschen" mit dem Kanailleninstinkt der Gleichheit 4 , ist ja offenkundig. Wenn aber von Rousseaus Naturverständnis die Rede ist, dann wiederholt Nietzsche nur die bekannte Formel von der „Rückkehr in die N a t u r " , ohne sich näher auf Rousseaus Schriften einzulassen. Man vernimmt nur Klischees. Hat er vielleicht Rousseau gar nicht gelesen? Auf etwas ganz anderes bringt mich eine schöne Stelle bei Theodor W. Adorno in einer Betrachtung über Sils-Maria. 5 Er vergleicht da die nackten 4 5
Vgl. G D Streifzüge eines Unzeitgemäßen 48. T. W. Adorno, Sils-Maria, In: Parva aesthetica, O h n e Leitbild, In: Gesammelte Werke 10,2, Frankfurt a . M . 1977, 326-330.
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Gesteinsmassen in den Hochtälern der Engadiner Alpen mit Schutthalden der modernen Industrie. Die Natur, so heißt es sinngemäß, gleiche hier den vernutzten Resten industrieller Produktion. Nietzsche, so wird unterstellt, habe sich in dieser Landschaft nur wohlfühlen können, weil er die Natur selbst nur als gewalthaft auszubeutendes Material begriffen habe. In meinen Augen ist das eine Invektive, die aus Adornos Ablehnung von Nietzsches Spätwerk resultiert. Ähnliche Abwehrstellungen gibt es auch bei anderen Vertretern der Kritischen Theorie, z. B. bei Alfred Schmidt. Dem haben Sie, Herr Kaulbach, Nietzsches Ansicht der „großen Natur" entgegengestellt. Diese Natur steht nicht unter dem Erkenntnisblick, unterliegt nicht dem Handlungs- und Ausbeutungszwang des modernen Menschen. Sie entspricht eher dem, was in den mythischen Landschaftsschilderungen hervortritt; Karl Jaspers hat dies in einem schönen Kapitel über „Nietzsches Mythik" herausgearbeitet. 6 Ist diese von Adorno nicht zur Kenntnis genommene Auffassung der Natur nicht doch ein elementarer Schritt Nietzsches über Kant hinaus? Der Nötigungsbegriff, den die Transzendentalphilosophie von der Natur entwickelt und den sie stets in Verbindung mit den Zwecken unseres technischen und moralischen Handelns sieht, dieser aus pragmatischen oder praktischen Imperativen folgende Nötigungsbegriff der Natur wird doch von Nietzsche überwunden. Das führt mich auf einen letzten Punkt, auf die bürgerlichen Maschinentugenden, die Sie, Herr Kaulbach, sehr konsequent — auch in der Konsequenz Ihres eigenen Philosophierens — entwickelt haben. Nietzsche deckt auf, daß die bürgerlichen Tugenden der Leistung und der Alltagspflichten die Maschinerie des politischen, ökonomischen und kulturellen Systems in Bewegung halten. Ein Gedanke Max Webers ist hier vorweggenommen; freilich bin ich gar nicht sicher, ob Max Weber die entsprechenden Stellen des Spätwerks gekannt hat. Neben diese Einsicht Nietzsches muß man aber stets seine Forderung nach einer Naturalisierung des Menschen halten. Auch auf der bürgerlichen Maschinentugend liegt noch der Schatten des toten Gottes. Erst wenn die Natur „entgöttlicht" ist, kann die Vernatürlichung der Moral und damit die Naturalisierung des Menschen beginnen 7 . So kommt auch Nietzsche von einer Kritik der unter technisch-moralischen Zwängen stehenden Gesellschaft zum Gegenbild einer befreiten Natur, in der der homo natura zum homo naturatus wird. Ich muß aber gestehen, daß mir dieser Übergang stets wie ein Sprung in eine geradezu kosmische Utopie erscheint. Wenn ich zu begreifen versuche, wie er sich vollziehen könnte, fehlt mir ein Zwischenglied. Vielleicht ist es in dem von Nietzsche aufgenommenen orientalischen Spruch: „Das Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter" zu 6 7
Vgl. K. Jaspers, Nietzsche, Berlin 2 1947, 368 ff. F W 109
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suchen8. Das würde bedeuten, eine Natur, in der sich der Mensch vernatürlicht hat, ist immer noch eine, in der auf Hierarchie, bewaffnete Herrschaft und Schutz nicht verzichtet werden kann. Aber ich sage: vielleicht; wie das Zwischenglied beschaffen sein könnte, bedürfte näherer Untersuchung.
Kaulbach: Schwierige Fragen stellen Sie mir da, Herr Baier! Nietzsches Rousseau-Verständnis scheint mir stark durch die Kritik geprägt zu sein, die bereits die deutschen Klassiker, z. B. Schiller, an Rousseau geübt haben. Deshalb erscheint mir auch Nietzsches Rousseau-Kritik nicht originell; RousseauKenner werden sie gewiß als nicht angemessen ansehen. Das „Zurück-zurNatur" ist ja stets als Devise eines Ausbruchs aus der Zivilisation und ihrer Konventionen sowie als Verheißung eines arkadischen Glücks verstanden worden. So versteht auch Nietzsche Rousseaus Programm, und er kritisiert daran — um es auf die kürzeste Formel zu bringen — die geschichtslose Naturauffassung. Was er selbst z. B. unter dem Titel „Unschuld des Werdens" begreift, das nimmt dagegen bewußt die geschichtliche Situation des Menschen auf, sucht ihr nicht durch Flucht zu entkommen, sondern will sie in der gelungenen Herrschaft überwinden. Der Bemerkung Adornos über die pngadiner Alpentäler scheint mir doch eine gewaltsame Nietzsche-Deutung zugrunde zu liegen. Nietzsche hat in den großartigen Gletschermoränen keine Industriegeröllhalden gesehen. Dieser Vergleich ist ihm nicht einmal unbewußt gekommen. Ich sehe hier auch nicht das Bild einer vernutzten Natur, sondern eher die vernutzte Phantasie Adornos — und zwar vernutzt durch den Marxismus. Die Hochalpen waren für Nietzsche ein Symbol der gewaltigen, über alles Menschliche hinausgehenden kosmischen Natur und damit genau das Gegenteil alles dessen, was der Mensch aus der Natur macht. B l o n d e l : Très brièvement: Je voudrais confirmer ce qu'ont dit Monsieur Kaulbach et Monsieur Baier sur Rousseau. Celui-ci récuse très vigoureusement l'idée d'un retour à la nature; Rousseau dit explicitement dans son livre „Rousseau juge de Jean Jacques": Le retour à la nature „ne ferait que substituer le brigandage à la corruption". Et c'est pourquoi il est très étonnant que - sauf Kant — tout le dixneuvième siècle ait interprété Rousseau dans le sens du „Retour à la nature!". Kaulbach: Vielen Dank, Herr Bestätigung meiner Vermutung.
8
Blondel!
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Vgl. Nachlaß Frühjahr 1884,25[3]; KGW VII 2, 6 und Herbst 1885/86,2[ 19]; K G W VIII1, 73.
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Müller-Lauter: Aus Zeitgründen möchte ich mich auf eine Bemerkung beschränken: In Ihrer Darstellung der Kritik Nietzsches an der Innerlichkeit haben Sie, Herr Kaulbach, mit Recht die Bedeutung des Nachlaßfragments herausgestellt, in dem gefordert wird: „Der Tod ist umzudeuten! Wir versöhnen (uns) so mit dem Wirklichen d.h. mit der todten Welt." 9 Erstaunlich ist daran vor allem der auch von Ihnen hervorgehobene Festscharakter dieser Versöhnung. Nietzsche sagt, es sei ein „Fest", aus dieser Welt in die tote Welt überzugehen. Erstaunlich ist weiterhin, daß ihm in dieser Passage die unorganische Welt als das Höchste und Verehrungswürdigste gilt,- insofern darin noch keine Vielheit von Perspektiven gegeben ist. Obwohl auch das Unorganische ,wahrnimmt', hat es eine konstante Perspektive, die seine ,Identität' garantiert, welche freilich auch nur eine ,Quasi-Identität' sein kann, bleibt Nietzsche sich selbst treu. Alles Organische unterscheidet sich vom Unorganischen dadurch, daß es niemals in dessen Weise sich selbst gleich ist. Ich habe einmal ausgeführt, daß Nietzsche sich mit dieser Bevorzugung des Unorganischen dem von ihm sonst kritiserten traditionellen Wahrheitsverständnis nähert. 10 — Die Hochschätzung des Toten und die Einschätzung des Todes als eines Festes weisen aber darüber hinaus. Kaulbach: Die Bezugnahme auf das Fest lenkt den Blick sogleich auf Dionysos. Das dionysische Prinzip benennt die Bewegung der Horizonterweiterung. Die dionysische Verfassung bezeichnet einen Idealzustand, in dem die Vielheit der Perspektiven, der Kulturen und Philosophien gleichsam eingeholt ist in einen umfassenderen Horizont. Damit ist auch die Überwindung der Vielheit als Grundthema in Nietzsches Denken angesprochen. Die Vielheit der Perspektiven in einer umfänglicheren Sicht zu überwinden, scheint mir ein leitendes Motiv zu sein, das sich auch in diesem Nachlaßfragment durchsetzt. Freilich möchte ich betonen, daß sich Nietzsche dabei nicht auf einen absoluten Standpunkt stellt; es ist nicht die eine, die alles umspannende Perspektive gesucht. Auch für den Perspektivengebrauch gilt der Schlußvers in Hölderlins „Lebenslauf": „Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,/ Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern,/ Und verstehe die Freiheit,/ Aufzubrechen, wohin er will." Im Anschluß an diesen Vers habe ich an anderer Stelle ausgeführt11, daß es Nietzsche in der freien Verfügung über Weltperspektiven nicht um ihre objektive „Wahrheit", sondern um ihre „Bedeutsamkeit" für das Leben geht.
9 10 11
Vgl. Nachlaß F r ü h j a h r - H e r b s t 1881, 11[70]; K G W V 2, 366. W . Müller-Lauter, Nietzsches Lehre v o m Willen zur Macht, Nietzsche-Studien 3, 1974, 38 f. Vgl. F . Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/Wien 1980, 159ff.
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Montinari: Zur Diskussion über das Nachlaßfragment möchte ich nur ergänzend auf den Dithyrambus „Die Sonne sinkt" hinweisen. Heiterkeit ist des Todes „heimlichster, süßester Vorgenuß"; „Wunsch und Hoffen ertrank,/ glatt liegt Seele und Meer". Hier wird deutlicher, was mit dem „Fest" gemeint ist und welche Elemente sich „versöhnen". Die Rousseau-Rezeption Nietzsches wäre ein interessantes Arbeitsfeld, sowohl im Hinblick auf die frühe als auf die spätere Zeit. Schopenhauer dürfte auch hier ein wichtiger Vermittler sein, aber ebenso Eugen Dühring; in den späten Jahren dann einige französische Autoren. — Zur Debatte über das Verhältnis zu Spinoza möchte ich nur die Formel „Chaos sive natura" in Erinnerung bringen. 12 Im Übrigen besteht mein Beitrag aus zwei Zitaten, die sich unmittelbar auf unsere Diskussion beziehen. Das erste stammt aus der Zeit, in der Nietzsche Notizen zu seinem Projekt „Der Wille zur Macht. Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens" macht: „Wie naiv tragen wir unsere moralischen Werthschätzungen in die Dinge z. B. wenn wir von Naturgesetzen reden! Es möchte nützlich sein, einmal den Versuch einer völlig verschiedenen Ausdeutungsweise zu machen: damit durch einen erbitterten Widerspruch begriffen werde, wie sehr unbewußt unser moralischer Kanon (Vorzug von Wahrheit, Gesetz, Vernünftigkeit usw.) in unserer ganzen sogenannten Wissenschaft regirt. — Populär ausgedrückt: Gott ist widerlegt, aber der Teufel nicht: und alle göttlichen Funktionen gehören mit hinein in sein Wesen: das Umgekehrte gieng nicht!" 1 3 Das zweite nimmt zum Begriff der „Erscheinung" Stellung, auf den sich der erste Diskussionsbeitrag bezog. Dieser Text wurde in die Sammlung des Willen zur Macht nicht aufgenommen; er stammt auch aus den Sommermonaten 1885 und trägt den Titel: „gegen das Wort,Erscheinungen"': „Schein wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge, — das, dem alle vorhandenen Prädikate erst zukommen und welches verhältnismäßig am besten noch mit allen, also auch den entgegengesetzten Prädikaten zu bezeichnen ist. Mit dem Worte ist aber nichts weiter ausgedrückt als seine Unzugänglichkeit für die logischen Prozeduren und Distinktionen: also „Schein" im Verhältniß zur „logischen Wahrheit" — welche aber selber nur an einer imaginären Welt möglich ist. Ich setze also nicht „Schein" in Gegensatz zur „Realität", sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginative „Wahrheits-Welt" widersetzt. Ein bestimmter Name für diese Realität wäre „der Wille zur Macht", nämlich von
12 13
Nachlaß Frühj. - Herbst 1881, 11[197]; K G W V 2 , 417. Nachlaß Aug. - Sept. 1885, 39[14]; KGW VII 3, 355.
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Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen ProteusNatur aus." 14 Kaulbach: Durch diese Zitate sehe ich mich gänzlich bestätigt, Herr Montinari. Ihr Wert liegt nicht zuletzt darin, daß sie den skeptischen Grundton Nietzsches hören lassen. Skepsis herrscht bei Nietzsche sowohl gegenüber einer absoluten Perspektive als auch gegenüber der wissenschaftlichen Rationalität. Wenn man Nietzsches Formel „Chaos sive natura" zitiert, sollte man allerdings hinzusetzen, daß der Begriff „Chaos" nicht abwertend gemeint sein muß. Ich erinnere nur an die berühmte Zarathustra-Stelle: „Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können." 15 Reschke: Ich möchte noch einmal auf den Anfang der Diskussion, auf Nietzsches Verbindung zum antiken Naturverständnis, zurückkommen. Ich persönlich glaube, daß sich Nietzsches Naturauffassung begreifen läßt als originäre Amalgamierung antiker Vorstellungen mit der modernen Naturerfahrung — und damit auch mit den Gefahren, die der Natur aus der modernen Zivilisation erwachsen. Betonen möchte ich den originären Charakter dieser Verbindung. Gleichwohl gibt es eine Reihe von ideellen Vermittlungen, die auf Nietzsche zuläuft. Eine besondere Stellung hat darin wohl das Werk eines Vertreters des deutschen Idealismus, den Nietzsche sehr geschätzt hat und den er auch gut kannte, nämlich Friedrich Hölderlins. Zu Hölderlins vermittelnder Stellung zwischen der Antike und Nietzsche möchte ich nur zwei Hinweise geben: Erstens scheint mir der Zusammenhang von Naturauffassung und Mythos im sogenannten „ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus", als dessen Mitautor Hölderlin auch von der Forschung anerkannt wird, in enger Beziehung zu Nietzsches Naturbegriff zu stehen. Zweitens ist Hölderlins Ausgangsfrage, wie er sie etwa in der Vorrede zum Hyperion formuliert, von der Problematik einer Subjekt-Objekt-Dialektik bestimmt. Er will die Zerrissenheit des Menschen, die Trennung von der Natur überwinden. Dabei ist das antike Wort vom Iv Kat Jiäv leitend, und zwar sowohl für die künstlerische wie auch für die intendierte philosophisch-theoretische Lösung, die ja in den Begriff einer ästhetischen Natur und damit in den Begriff des Schönen selbst ausläuft. Vielleicht geht diese ästhetische Wendung weniger in Nietzsches Richtung, aber Hölderlins späte kulturgeschichtlichen Perspektiven, die Fragmente über Religion und die Vorstellung vom Werden im
" Nachlaß Aug. - Sept. 1885, 40[53]; KGW VII 3, 386. 15 Za I Vorrede 5.
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Vergehen lassen Berührungspunkte mit Nietzsche erkennen. Die Forschung hat m . E . diese Zusammenhänge bislang zu wenig berücksichtigt.
Kaulbach: Ihre Bemerkung, Frau Reschke, entspricht meiner Intention, die Tradition sichtbar zu machen, in der Nietzsches Denken steht. Die Verbindung zu Hölderlin sehe ich auch, aber ich würde ebenso wie Sie die Originalität Nietzsches gerade in dieser Beziehung betonen. Anders als Hölderlin erkennt Nietzsche nicht nur die Gefahren der modernen Zivilisation, sondern er bedenkt auch deren große Möglichkeiten. Sogar der technokratisch eingestellte Mensch hat im Rahmen einer neuen Aristokratie eine Zukunft. U m es einmal drastisch zu sagen: Gewisse Aussagen Hölderlins erscheinen aus Nietzsches Perspektive als ewiges Gejammer über die verlorene Götterwelt. Das aber stellt die wichtige Verbindung zwischen beiden Denkern nicht in Frage. Figl: Herr Montinari hat soeben aus jenem Nachlaß-Fragment zitiert, in dem Nietzsche mit dem Gedanken einer von den Naturwissenschaften völlig verschiedenen Ausdeutungsweise der Natur experimentiert. Damit sind die bestehenden Naturwissenschaften selbst bloß als eine der möglichen Deutungsweisen der Natur charakterisiert; sie geben keine „Erklärung", sondern nur eine Art kürzester Beschreibung. Darauf hat Ihr Referat, Herr Kaulbach, sehr deutlich hingewiesen. Die modernen Naturwissenschaften erklären nicht, sondern sie interpretieren. Ich sehe hier eine hochinteressante Parallele zu Diltheys Unterscheidung zwischen erklärenden Naturwissenschaften und auslegenden Geisteswissenschaften. Das wäre im einzelnen zu untersuchen; ich will darauf jetzt nicht näher eingehen. Für unseren Zusammenhang viel wichtiger erscheint mir die Frage, ob nicht Nietzsche durch seine These, alle wissenschaftlichen Erkenntnisse - auch die Erkenntnisse der Physik beruhten auf Interpretation, die von Dilthey beschriebene Differenz zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften überwindet? Die Wissenschaft überhaupt wäre damit durch eine hermeneutische Struktur gekennzeichnet, und man könnte Nietzsches Denken als den entschiedenen Versuch ansehen, das positivistische Verständnis der Naturwissenschaften hinter sich zu lassen. Kaulbach: Ihr hermeneutisches Interesse, Herr Figl, lenkt Sie auf einen wichtigen Punkt. Ich würde mit Ihnen vermuten, daß Nietzsches Interpretationsprinzip mit einem Ansatz verbunden werden kann, der Naturund Geisteswissenschaften umfaßt. Man muß dabei allerdings zwei Schwierigkeiten bedenken: Erstens versteht Nietzsche die Kategorien der modernen Naturwissenschaften als Symptome eines ganz bestimmt gearteten Willens zur Macht, einer Macht über die Natur, die ich als „gefesselt"
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bezeichne. In den Kategorien legt sich damit ein bestimmtes Verhältnis selbst aus, d.h. die modernen Naturwissenschaften sind Auslegungen einer bestimmten Naturauslegung des Willens zur Macht — Selbstauslegungen also, die sich freilich selbst nicht richtig verstehen. Erst Nietzsche glaubt diese Interpretation einer Interpretation transparent zu machen. Dies betone ich, um deutlich werden zu lassen, daß sich Nietzsches Primat der Interpretation nicht auf einen methodologischen Vorschlag reduzieren läßt. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der unterschiedlichen Verwendung des Wortes „erklären". Bei Dilthey bezeichnet „Erklären" das Verfahren der modernen Wissenschaft, eben das Unternehmen des szientifischen Verstandes, der die Naturerscheinungen auf die Sprache der Kausalität zu bringen versucht. Insofern steht „Erklären" dem „Verstehen" gegenüber, nicht jedoch dem „Beschreiben". Bei Gustav Robert von Kirchhoff z.B. sind Erklären und Beschreiben synonym. 16 Nietzsches Sprachgebrauch weicht von dieser Terminologie ab. Wenn er z.B. davon spricht, daß wir das Wesen der Natur nicht „erklären" können, dann ist hier sowohl das „Begreifen" wie auch das „Verstehen" gemeint. Eine Untersuchung in der von Ihnen angedeuteten Richtung müßte auf terminologische Diskrepanzen dieser Art genau achten. Gerhardt: Wesentlich an Ihrem Referat, Herr Kaulbach, scheint mir die Gegenüberstellung zweier Grundtypen der Naturbeziehung, zweier Grundstellungen des Menschen zur Natur. In Ihrer Darstellung wird deutlich, daß „gefesselte" und „freie" Natur sich bei Nietzsche nicht ausschließen. Indem gezeigt wird, daß die in der Neuzeit bestimmende Form verfügender Rationalität auch nur eine Äußerungsform des Willens zur Macht darstellt, die sich nicht aus dem Zusammenhang der „großen Natur" herauslöst, erscheint Nietzsches Denken als ein Vermittlungsversuch zwischen beiden Typen. Sie werden nicht „dialektisch" zu einer neuen Einheit gebracht, sondern ihre Einheit besteht geradezu in ihrer Polarität. Als zwei Perspektiven oder, wie es auch hieß, als zwei Bewegungen der Konzentration und der Ausweitung gehören sie in der Entfaltung des Lebens zusammen. Der Vortrag hat dies am Lehrstück der ewigen Wiederkunft deutlich gemacht. Mir scheint, daß damit nur eine Variante der Vermittlung, wenn auch die letzte und umfassendste, genannt ist. Meines Erachtens kann man nicht erst die Bejahung der Endlichkeit in kosmischer Perspektive, sondern auch schon die früheren philosophischen Entwürfe Nietzsches als Vermittlungsversuche, als Grenzgänge zwischen Antike und Moderne ansehen. Sowohl im frühen Begriff des Lebens wie in dem der Kunst, in dem Gespann von Dionysos und Apoll oder auch in der Figur des Zarathustra, ist Nietzsches Anstrengung erkennbar, „freie" und 16
Vgl. F. Kaulbach, Philosophie der Beschreibung, Köln/Wien 1968, 52ff.
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„gefesselte" Natur, historisch gesprochen: Antike und Moderne, wie zwei Enden eines Bogens zusammenzuspannen. Bezogen auf unsere Diskussion möchte ich dazu drei Hinweise geben: Erstens auf Nietzsches Begriff der Interpretation, der Ausdeutung und Erklärung zusammenfaßt: Interpretation umgreift den Doppelaspekt der Bestimmung aus dem verfügenden Machtwillen und der Anvermenschlichung der Dinge. Nach außen gerichtete Benennung der Gegenstände und ihre Einverleibung, deren Geschichte in den Metaphern und Metonymien nachvollzogen werden kann, werden verbunden. — Auf einen zweiten Komplex bringt mich Herrn Baiers Frage nach dem vermittelnden Glied zwischen der Gegenwart und der versöhnten oder befreiten Zukunft, nach dem „Paradies im Schatten der Schwerter": Hier wäre es falsch, nach einem historischen Zwischenstadium zu suchen; die Bedingung des Paradieses sind einerseits die Schwerter selbst; sie liegt andererseits aber in einer menschlichen Leistung, die in der Dialektik von Befehl und Gehorsam zum Ausdruck kommt. Baier: Das ist keine Dialektik im Sinne von Marx! Gerhardt: Sie haben ganz rpcht. N u r weil ich versuche, im Telegrammstil zu sprechen, hat sich als Kürzel die „Dialektik" eingestellt. Man sollte das Wort vermeiden, weil es Nietzsche nicht um eine Entwicklungslogik, sondern um vitale Bedingungen unter dem Primat einer ästhetischen Form zu tun ist. Treffender ist, vom „Zusammenspiel" oder vom „Widerspiel" der Kräfte zu reden. In Nietzsches Augen ist die menschliche Natur zwischen Polen ausgespannt, sie braucht das Widerspiel von Befehl und Gehorsam. Sie kann deswegen das Glück nur im momentanen Aushalten der Gegensätze finden, nicht aber in der Beseitigung von Widersprüchen und Widerständen. — Der dritte Hinweis bezieht sich auf die Funktion der Kunst. In der Geburt der Tragödie und dann wieder mit dem Auftritt Zarathustras ist sie das Formgesetz des Spannungsbogens. In ihr figuriert immer schon die Einheit der Gegensätze. Denken wir nur an die Zaratbustra-Stelle vom Ubergang der Macht in die Schönheit: „Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt in's Sichtbare: Schönheit heisse ich solches Herabkommen." 1 7 Ich meine, hier wird anschaulich, wie sich in der ästhetischen Präsentation der Macht, damit auch der Anstrengung, der Disziplin oder der Herrschaft, der Übergang zur „freien" Natur, zu einer sich selbst genießenden Gegenwart vollzieht. — So viel nur, um anzudeuten, wie tief der von Ihnen, Herr Kaulbach, vorgetragene Gedanke in Nietzsches Denken verwurzelt ist.
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Za II Von den Erhabenen.
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Kaulbach: Wenn ich das Telegramm richtig entschlüssele, dann bin ich sehr dankbar für diese Bemerkungen. Wenn man Ihre letzten Bemerkungen zusammennimmt, Herr Gerhardt, dann könnte man fragen, ob Nietzsche nicht eine neue Art der Technik, eine künstlerische Technik, im Auge hat, die keinen Zwang, kein Diktat mehr impliziert und der Natur frei folgt. Das könnte eine Technik sein, in der sich der Mensch frei vollendet. Vielleicht kann man das von Ihnen genannte Widerspiel von Befehl und Gehorsam, in dem ja ein Moment freier Anerkennung mitgedacht ist, in diese Richtung als eine Reduktion des äußeren Zwanges deuten. Ich schlage hier vor, zwei Verfassungen des Willens zur Macht in seinem Verhältnis zur Natur zu unterscheiden. Demnach könnte man die jetzige Technologie als Symptom eines schwachen Willens zur Macht, der es nötig hat zu zwingen, interpretieren. Ein starker Wille zur Macht müßte dagegen so herrschen, daß die Natur ihm von selbst folgt. Dem entspräche dann auch eine andere Idee der Technik. Aber das ist vielleicht eine Utopie. Salaquarda: Ich fasse mich jetzt ganz kurz: Die Verbindung, die Sie, Herr Kaulbach, zwischen Spinozas Begriff des „amor intellectualis dei" und Nietzsches „amor fati" hergestellt haben, wird auch durch die Monographie von William S. Wurzer über Nietzsche und Spinoza18 bestätigt. Was Sie systematisch exponiert haben, hält also nicht nur einem eindringenden Vergleich statt, sondern läßt sich auch in der Denkgeschichte Nietzsches bestätigen: Erst nach der ausdrücklich von Nietzsche im Jahr 1881 festgehaltenen Einsicht in den Begriff des „amor dei" stoßen wir auf die Formulierung „amor fati". Ganz knapp soll auch meine Bemerkung zu dem von Herrn Müller-Lauter aufgenommenen merkwürdigen Nachlaß-Fragment vom Frühjahr — Herbst 1881 sein. Merkwürdig scheint mir diese Stelle wegen des Wahrheitsverständnisses, das hier offenbar zugrunde liegt. Die darin angesprochene Todesproblematik jedoch scheint mir mit anderen Aussagen Nietzsches gut vereinbar. Herr Montinari hat schon auf den Dithyrambus „Die Sonne sinkt" hingewiesen; die Weisheit des Silen: „Das Allerbeste ist . . . nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich — bald zu sterben." 19 gehört hierher; oder auch die vielen Stellen, in denen vom freien Tode die Rede ist. Hier ist der Einfluß Schopenhauers, der ja auch die Weisheit des Silen, wenn auch mit engegengesetzter Absicht, zitiert 20 , zu spüren. Nietzsche 18 19 20
William S. Wurzer, Nietzsche und Spinoza, Meisenheim a. Gl. 1975, 249ff. u. 254ff. G T 3. Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, I, § 63. Schopenhauer zitiert eine Version des Spruches von Calderon: „Denn die größte Schuld des Menschen / Ist, daß er geboren ward." Nach Schopenhauer äußert sich im Selbstmord ein starker Lebenswille, der nur auf
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versucht in der Problematik des Selbstmords immer wieder über Schopenhauer hinauszukommen und zu einem Gedanken des freiwilligen Abschieds in der Fülle des Lebens vorzustoßen. Nun aber noch zu meinem zentralen Punkt, der die Thematik Ihres Referates, Herr Kaulbach, betrifft: Sie haben verschiedene Naturbegriffe in ihrer geschichtlichen Abfolge, insbesondere den aristotelischen und den kantischen, benannt und zu Nietzsches Denken in Beziehung gesetzt. Dabei wurden zwei unterschiedliche Motive des Menschen, das Sich-anvertrauenWollen und das Beherrschen-Wollen, deutlich, die sich beide auch bei Nietzsche finden. Insofern nimmt Nietzsche die Tradition der Naturphilosophie auf. Es fehlt dagegen völlig ein Naturverständnis, dessen Rolle im europäischen Denken doch ganz erheblich gewesen ist und vermutlich noch ist, nämlich Natur als Gegensatz, als Widerpart des Geistes. Insbesondere in der christlichen Tradition begegnet uns die Natur als das bloß Stoffliche und damit Minderwertige, ja als das Böse. Von einem solchen Verständnis, das auch in Schopenhauer noch fortwirkt, hat sich Nietzsche schon in der Geburt der Tragödie freigemacht. In dieser Hinsicht ist er schon immer „Spinozist" gewesen. Deswegen kann er bei der Begegnung mit Spinozas Denken 1881 auch ausrufen: „Ich hatte einen Vorgänger!" 21 Bei Spinoza findet er eine philosophische Bestätigung seiner von jeder moralischen Wertung freien Ansicht der Natur: Sie mag grausam sein, es mag Schlechtes darin sein, aber „böse" ist sie nicht! Diese Einstellung Nietzsches zur Natur war in Ihrem Vortrag, Herr Kaulbach, ständig präsent. Indem man sie ausspricht, wird vielleicht in der knappsten Form deutlich, in welchem Zusammenhang sein Naturbegriff mit seiner Moral- und Kulturkritik steht. McGinn: Auf ein Motiv für Nietzsches Achtung vor der Natur, insbesondere der organischen Natur, möchte ich noch hinweisen: Immer wieder spricht er von der Fähigkeit der Natur zur Selbsterneuerung. Die Häutung der Schlange ist die Metapher, die er dafür gern verwendet. 22 Insofern gibt die Natur dem Menschen bereits das Beispiel für seine eigene Aufgabe, die er nicht in Trägheit, sondern in der Selbst-Uberwindung erfüllt. Kaulbach: Ergänzend zu meiner Antwort auf das von Herrn McGinn Gesagte möchte ich doch noch meinem Zweifel demgegenüber Ausdruck geben, daß der Gedanke der Ausbeutung der Natur durch den modernen
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widrige Lebensbedingungen stößt. Folglich stehen das eigentliche Motiv (Wille zum Leben) und die Ausführung (Vernichtung des Lebens) in Widerspruch; somit ist die Tat sittlich ausgeschlossen. Vgl. Nietzsches Brief an Franz Overbeck v. 30. 7. 1881. Vgl. FW 26 und M 573.
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Friedrich Kaulbach
Menschen für Nietzsche eine große Bedeutung gehabt haben soll. Denn Nietzsche hat andererseits wieder viel übrig für die Herrschaft des Menschen über die Natur: Freilich müßte sie einen anderen Charakter haben, als er der modernen Technik eigentümlich ist. Zum Beispiel müßte sie auch noch Herrschaft über die Technik selbst bedeuten. Zu dem von Herrn Baier Gesagten möchte ich noch nachtragen, daß auch bei Kant außer der Vorstellung der gefesselten Natur, die er als die Natur der Naturwissenschaft darstellt, eine freie Natur zur Geltung kommt, wie etwa diejenige der lebendigen Erscheinungen. Diese freie Natur nimmt bei ihm zugleich auch gelegentlich Züge der „Erhabenheit" an, sofern kosmische Dimensionen in den Blick kommen: z . B . der „gestirnte Himmel über m i r " , im Verhältnis zu dem ich mitsamt meiner subjektiven, mikrokosmischen Innenwelt eine quantité négligéable bin. Der Übergang vom Standpunkt der gefesselten Natur, wie ich sie nenne, zur „freien N a t u r " ist ein immer neu sich stellendes Problem, das mindestens von Leibniz an von den großen Denkern verschieden, je nach ihren philosophischen Ansätzen, begründet und vollzogen worden ist. Es darf als ein Manko der heutigen Naturphilosophie angesehen werden, daß dieses Problem im allgemeinen nicht auf dem Niveau gestellt und beantwortet wird, welches ihm von der Tradition her vorgezeichnet wird. Das Zwischenglied, das Sie, Herr Baier, bei Nietzsche suchen — ich würde von Uber-gang sprechen — könnte bei ihm in dem Gedanken gesehen werden, daß Macht und Herrschaft in ihrer „eigentlichen" Form das Beherrschte nicht unter den Zwang des Schwertes setzt, sondern es freiläßt (Notwendigkeit, so betont er, ist nicht gleich Zwang). Die „ g r o ß e " Vernunft ist nicht die, welche sich vom Standpunkt der modernen Subjektivität und ihrer „Freiheit" aus die Natur unterwirft, sondern sie ist in unserer „ N a t u r " selbst, im „ L e i b " zu suchen. Herrn Gerhardts wichtiger Bemerkung stimme ich zu, daß sich Nietzsche nicht radikal gegen die technische Verfügung über die Natur wendet, sondern von ihr verlangt, daß sie in das Programm des rechtverstandenen Willens zur Macht zu integrieren sei, welches sich an der freien Natur und den Ansprüchen und Rechten der Leiblichkeit, der „Unschuld" des Werdens, der zwanglosen Notwendigkeit usf. orientiert, wobei auch der künstlerischen Produktion ein Raum zu geben ist. Sie sprechen, Herr Gerhardt, mit Recht von Grenzgängen zwischen Antike und Moderne, die bei Nietzsche von früh an begangen werden: wobei mir auch die Einholung des Geschichtsprinzips im modernen Sinne wesentlich zu sein scheint. Im Sinne meines Vortrages möchte ich auf den Gedanken einer „zweiten", geschichtlichen Natur hinweisen, der z . B . auch an der Betonung des „Ich b i n " gegenüber dem „Ich will" bzw. „Ich soll" greifbar wird. Diese zweite Natur ist die vom Standpunkt der Geschichte her verstandene freie Natur. Ihrer Bemerkung, daß das von Herrn Baier gefragte „Zwischenglied" nicht als geschichtlicher Ubergang, sondern als Ubergang
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zwischen Prinzipien wie Zwang und freie Notwendigkeit — vergleiche den ästhetischen Zustand — zu verstehen ist, stimme ich zu. Herrn Salaquarda möchte ich antworten: Für die Bestätigung des von Ihnen über die Stellung Nietzsches zum Tod Gesagten scheint mir vor allem der Abschnitt in Zarathustra: „Vom freien Tode" sich anzubieten. Im Vortrag kam es mir auf den Gedanken an, daß der Tod von Nietzsche insofern als Fest gedeutet und gefeiert wird, als er in ihm die Möglichkeit der Ausweitung der perspektivischen Horizonte in die Dimension der „großen" Natur sieht. Im gelungenen Tode vollenden wir eine Lebensgeschichte und stellen sie dadurch als eine für die ewige Wiederkunft reife Gestalt des Lebens her. — Was das angeblich „Böse" in der Natur angeht, so könnte es sich in theologischen Aussagen finden: Aber ist in solchen dann nicht immer gemeint, daß das Böse, sofern es sich in der Natur findet, nicht in dieser selbst angelegt ist, sondern durch die menschliche Tat des Abfalls von Gott in sie gekommen ist, so daß die Heilsgeschichte auch die Natur übergreift? Was die Philosophie angeht, so wird in ihr kaum eine „böse" Natur vertreten: Blicke ich z.B. auf Kants Begriff des radikalen Bösen hin, so fällt mir seine Betonung der moralisch indifferenten Stellung der Natur auf: Nicht die natürlichen „Neigungen" sind böse: Vielmehr besteht das wurzelhaft Böse in einem „Geistigen", nämlich in dem „Hang" des Menschen zur Perversion in der Rangordnung zwischen Pflicht und Neigung, d.h. im Hang zur Bevorzugung der Neigung vor der Pflicht als Bestimmungsgrund. Was von hier aus gesehen den Stellenwert angeht, den Nietzsche dem Begriff der Natur in einem antimoralistischen Programm überträgt, so scheint mir seine Position derjenigen Goethes analog zu sein, der einmal nach anerkennenden Worten über die jakobische Philosophie geäußert hat, daß man gleichwohl mit so einem „bißchen Moral" keine „große Weltansicht" aufbauen könne.
K U R T RUDOLF FISCHER
NIETZSCHE, F R E U D U N D DIE HUMANISTISCHE P S Y C H O L O G I E
Zur Diskussion steht Nietzsches Bedeutung für die Psychologie des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn man seinen Einfluß auf die Literatur — und damit, auf die literarisierende Psychologie — mit seinem Einfluß auf die Psychologie vergleicht, so scheint Nietzsche als wirkungsgeschichtlich eher unwichtig. Aber wie Nietzsche für die politischen Anschauungen des Nationalsozialismus und für die „Wissenschaftliche Weltanschauung" des Wiener Kreises verwendbare Ideen bereit gestellt hat, so hat er dies auch für die Psychologie getan. 1 Tiefenpsychologie und Humanistische Psychologie können als Weiterführung einer in Nietzsches Schriften auffindbaren, vorgesehenen und vorhergesehenen Alternative für die Problematik des modernen Menschen angesehen werden. Er war seiner Zeit voraus, „Prophet einer neuen Ära". So hat Henri F. Ellenberger Nietzsche in seinem Werk Die Entdeckung des Unbewußten vorgestellt. 2 Freud wird da als Erbe dargestellt, denn bei ihm finden sich manche Ideen Nietzsches. Diese sind also für die Psychologie von rezeptionsgeschichtlicher und ideengeschichtlicher Bedeutung. Im folgenden sollen I. Ähnlichkeiten Nietzsches mit Freud und seiner Psychoanalyse — Bemerkungen über Jung und Adler werden vorausgeschickt — und II. der Humanistischen Psychologie aufgezeigt werden, und dann III. soll noch kurz die Möglichkeit einer nietzscheschen Psychologie erwogen werden. Aber zuerst noch eine terminologische Bemerkung über den Ausdruck „Psychologie" wie er hier gebraucht wird, beziehungsweise gebraucht werden soll. Die Psychologie umfaßt in unserem Zusammenhang nur die Psychoanalyse und die Humanistische Psychologie (und verwandte Strömungen wie z. B. die Daseinsanalyse), die sich mit der erlebenden Person befassen und sich um diese bemühen. Auch die Psychiatrie kommt hier in Betracht, soweit sie 1
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Uber die Beziehungen von Nietzsches Ideen zum Nationalsozialismus siehe mein „ N a z i s m as a Nietzschean Experiment", Nietzsche-Studien, Band 6, 1977, S. 116—122, und zum Wiener Kreis siehe mein „Is Nietzsche a Philosopher?" Buckneil Review, Volume XVIII/Winter 1970, N u m b e r 3, S. 117-130, und auch O . Neurath et al, Wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis, Wien 1929. Bern 1973. Relevant ist der erste Band S. 173-385.
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nicht als ein Teilgebiet der ausschließlich naturwissenschaftlich orientierten Medizin angesehen wird, sondern als Heilungsdisziplin, so etwa wie sie Claude Steiner definiert: „Psychiatry is the art of soul healing". 3 Dabei kann, aber muß es sich nicht um eine politische Aktivität handeln. Ausgeschlossen ist die im engeren Sinne wissenschaftliche, also die szientistische Psychologie wie sie an Universitätsinstituten vorgetragen und in ihren Laboratorien experimentell bestätigt wird. In der Bildungssprache, im Volksmund der Intelligenzia sozusagen, entspricht unser Verständnis eher dem, was man unter Psychologie oder unter einem Psychologen versteht: jemanden der Menschenkenntnis hat und sich und anderen bei seelischen und zwischenmenschlichen Problemen helfen kann.
I. Freud wird allgemein als der weitaus bedeutendste, richtungsgebende moderne Psychologe anerkannt. Er steht aber Nietzsche nicht so nahe wie zwei seiner engen Mitarbeiter: Carl Gustav Jung und Alfred Adler. Jung, dessen Bildung nach eigener Aussage von Nietzsche beeinflußt wurde, hat ihn als für seine Arbeit wesentlichsten Autoren an erster Stelle notiert und hat sich mit ihm immer wieder beschäftigt. In den Jahren 1934 bis 1939 hielt er sogar Seminare ab, in denen er — übrigens auf englisch — Also sprach Zarathustra kommentierte. 4 Wie Nietzsche räumt Adler dem Leben den Vorrang über das Bewußtsein ein. Aber Nietzsches „Wille zur Macht" ist nicht Adlers „Streben des Menschen nach Überlegenheit". Zumindest spielen diese beiden Grundtriebe andere Rollen. Wo das Streben nach Überlegenheit „leitende Idee eines Lebensstiles wird", sagte Adler, „entstehen Neurose und Geisteskrankheit". 5 Nichtsdestoweniger gibt es Parallelen: für Nietzsche sowohl als auch für Adler ist der Mensch ein unvollkommenes Wesen, er leidet an einem Minderwertigkeitsgefühl. Adler ist sich seiner Nähe zu Nietzsche bewußt. In seinem Buch Uber den nervösen Charakter schreibt er, „daß Nietzsches Wille zur Macht und Wille zum Schein [vieles] von unserer Auffassung umfassen." 6 Und Manes Sperber, „ein leidenschaftlicher Nietzsche-Leser", erkennt, als er Adler be3 4
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In The Radical Psychiatric, Jerome Agel (Hrsg.), New York 1971, S. 3. Uber Nietzsche und Jung siehe besonders Friedrich Nietzsche, Du sollst der werden, der du bist. Psychologische Schriften, Gerhard Wehr (Hrsg.), München 1976 und Peter Seidmann, „Die perspektivische Psychologie Nietzsches", Die Europäische Tradition, Heinrich Balmer (Hrsg.), München 1976, Band I des fünfzehnbändigen Gesamtwerkes Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Dieter Eicke (Hrsg.) München. Siehe Seidmanns Abschnitt über „Nietzsche und Adler", in op. cit. S. 437. 1912; Frankfurt am Main 1972, S. 32.
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gegnet, in ihm ,,eine[n] Nachfahre[n] des Entlarvungspsychologen Nietzsche". 7 Freud und seine engsten Anhänger aber lehnten Adler, den sie unter dem Einfluß von „Nietzsches metaphysischer Machtphilosophie" sahen, ab, weil Adler nur den Aggressionstrieb anerkannte, aber nicht den Liebestrieb. Dazu kommt noch der sozialistische Einschlag der „Individualpsychologie" Adlers. Nach dieser liegt ja die Selbstüberwindung des Menschen in seiner Annahme des Gemeinschaftsgefühls. Für die Rezeption Nietzsches bei Freud ergibt sich folgendes Bild, beziehungsweise folgende Problematik: Freud erkennt Nietzsche an und schätzt ihn sehr; absichtlich liest er ihn nicht, denn er will seine Unabhängigkeit bewahren; und doch ist Freud sich nicht sicher, daß nicht manche seiner Neuschöpfungen auf seiner „Kryptomnesie" beruhen. Zum Beispiel findet Freud seine dualistische Theorie, mit ihrer Annahme des Todestriebes als „gleichberechtigten Partner neben den in der Libido sich kundgebenden Eros" bei der Lektüre des Empedokles vor und in diesem Sinne bestätigt. Er schreibt: Ich opfere dieser Bestätigung gerne das Prestige der Originalität, zumal da ich bei dem U m f a n g meiner Lektüre in früheren Jahren doch nie sicher werden kann, o b meine angebliche N e u s c h ö p f u n g nicht eine Leistung der Kryptomnesie w a r . 8
In der „Selbstdarstellung" führt Freud aus, daß er „Nietzsche, den anderen Philosophen", — der eine war Schopenhauer gewesen — „dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in erstaunlicher Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, gerade darum lang gemieden [habe]"; — denn, so fährt er fort, „an der Priorität lag mir ja weniger als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit." 9 Er achtet Nietzsche außerordentlich. Das sechsundfünfzigste der Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung berichtet, daß Freud Nietzsche nie zu studieren vermochte: z u m Teil wegen der Ähnlichkeit, die seine intuitiven Erkenntnisse mit unseren mühseligen Untersuchungen haben, und zum anderen Teil wegen des inhaltlichen Reichtums seiner Schriften, der ihn bei Versuchen zur Lektüre nie über 1/2 Seite hinauskommen ließ. 1 0
Noch wesentlicher für die Einschätzung Nietzsches durch Freud und noch extremer ist eine andere an demselben Abend des 28. Oktober 1908 gemachte Bemerkung: „Eine solche Introspektion wie bei Nietzsche wurde bei keinem Menschen vorher erreicht und dürfte wahrscheinlich auch nicht 7 8
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Siehe Gerhard Wehrs Einleitung, „Nietzsche als Tiefenpsychologe," in op. cit. S. 19. Sigmund Freud, Gesammelte Werke, hrsg. von Anna Freud und Willi Hoffer, Frankfurt/M. 1968, im folgenden GW. „Die endliche und die unendliche Analyse", GW VI. „Selbstdarstellung", GW V. Band II, Herman Nunberg und Ernst Federn (Hrsg.) Frankfurt am Main 1977, S. 28.
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mehr erreicht werden." 1 1 In seiner Biographie weist Ernest Jones darauf hin, daß Freud diese Bemerkung des öfteren gemacht habe und bezeichnet sie als — da vom Entdecker des Unbewußten kommend — ein schönes Kompliment: „Nietzsche habe eine tiefere Selbsterkenntnis gehabt als je ein Mensch vor ihm oder nach i h m . " 1 2 Dies war wohl nicht als Voraussage gemeint, als ein Wahrscheinlichkeitsurteil darüber, daß niemand je Nietzsche an Selbsterkenntnis übertreffen würde! Was Freud mit seiner Bemerkung aussprechen will, ist, daß eine stärkere Introspektion, ein mehr an Selbsterkenntnis dem Menschen nicht möglich ist. Größere Selbsterkenntnis würde die Grenzen des Menschenmöglichen überschreiten. Könnte Nietzsche nach Ansicht Freuds mit seiner Selbstanalyse zu weit gegangen sein? Uber das Thema Prioritätsproblematik bei Freud im allgemeinen hat der Soziologe Robert Merton eine Untersuchung angestellt. Er konnte bei Freud Ausdruck einer Sorge um Priorität bei hundertfünfzig Anlässen feststellen. 13 Vielleicht wich Freud auch gerade deswegen Nietzsche aus, weil er mit dessen Ideen als Student gut bekannt gewesen sein muß. Denn als Student gehörte Freud dem „Leseverein der deutschen Studenten Wiens" an. 1 4 Eine ganze österreichische Studentengeneration war von den Idealen und der Praxis des Liberalismus enttäuscht worden und wandte sich Schopenhauer, Wagner und Nietzsche zu. Der „Leseverein" verfaßte sogar einen Brief an Nietzsche. In diesem wurde die Schrift über Schopenhauer als Erzieher besonders erwähnt und die Vereinsmitglieder drückten ihre Anhänglichkeit und Ergebenheit aus. 1 5 Nietzsche war in der geistigen Atmosphäre Wiens präsent, besonders unter den liberalen Studenten. Kann also, wie Ilse Grubrich-Simitis in ihrer Einleitung zu einem von ihr herausgegebenen Band Freud schreibt, „die Psychoanalyse noch immer in einer in der Wissenschaftsgeschichte wohl einmaligen Ausschließlichkeit die Leistung eines Mannes bezeichnet werden"? 1 6 Manche von Freuds Ideen finden sich bei Nietzsche, und Freud war sich dessen bewußt. Freud war aber der erste, der durch ihre Anwendung heilen konnte und heilte. Als Psychiater, als Seelenarzt hat er die Psychoanalyse zu einer Behandlungstechnik ausgebildet. Wie Bruno Bettelheim in einer Lehrveranstaltung an der Universität Chicago im Herbst 1970 betonte, wird man in der Z u k u n f t die von Freud entwickelte Behandlungstechnik wohl mehr 11 12 13
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Ebd. Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bern 1960, Band II, S. 405 f. „The Ambivalence of Scientists," in Sociological Ambivalence and Other Essays, N e w York 1976, S. 38. Siehe William McGrath, Dionysian Art and Populist Politics in Austria, New Häven and London 1974, S. 247. Siehe William J. McGrath „Student Radicalism in Vienna", Journal of Contemporary History, 2 (1967) S. 193. „Selbstdarstellung" Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1971, S. 7.
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als Beitrag zu der Kultur unseres Jahrhunderts schätzen als seine Metapsychologie, aber doch weniger als die brillanten psychologischen Beschreibungen seiner Krankengeschichten. Die Behandlungstechnik wurde im weiteren Verlauf der Entwicklung der Psychoanalyse verfeinen und modifiziert und an die gesellschaftlichen Gegebenheiten angepaßt. Oder es wurde versucht, die Gesellschaft zu verändern. Das aufrührerische Element in der Psychoanalyse kann in ihren Anfängen noch bemerkt werden. Aber im weiteren historischen Verlauf ergibt die Alternative „ A n p a s s u n g " oder „Veränderung" eine Spannung in ihrer Gegenüberstellung durch die historische Interpretation der Freudschen Psychoanalyse als konservativen Liberalismus oder als (untergründigen) revolutionären Radikalismus. Die erstere dieser beiden Positionen wird von Carl E. Schorske in seinem Essay „Politik und Patrizid in Sigmund Freuds Traumdeutung" und von William McGrath in seinem Essay „Freud as Hannibal: The Politics of the Brother B a n d " bezogen. 1 7 Freud wird als unpolitisch dargestellt. Nach Schorske ist die große Blütezeit der liberalen Kultur des Wiener Fin-de-siecle, dessen prominentester Vertreter sicherlich Freud geworden ist, damit zu erklären, daß die Monarchie dem deutschen und jüdischem Bürgertum keine Möglichkeit bot sich politisch adäquat zu betätigen. Dieses Bürgertum sublimierte seine Kräfte in eine Hochkultur. Schorske formuliert die Situation, in der sich die Träger dieser Kultur befanden, scharfsichtig als eher mit als von ihrer Klasse entfremdet. 1 8 Die zweite Position — Freud als untergründiger Revolutionär und die Psychoanalyse als Instrument der Revolution — vertreten Stanley Rothman und Philip Isenberg in ihren Essay „Sigmund Freud and the Politics of Marginality". 1 9 Freud will die Macht des Systems unterminieren. Als Mitglied einer Randgruppe will er die Kategorien zerstören, welche die Randgruppe als verschieden und minderwertig definieren. Es handelt sich hier um nichts geringeres als die Grundannahme der europäischen Christenheit, daß es eine Sphäre höherer Geistigkeit und Moral gibt, die völlig unabhängig von der Triebstruktur ist: In arguing that all of culture rested on reaction formations to basic libidinal impulses and hence was epiphenomenal, Freud was effectively contributing in key ways to the undermining of the basic assumptions of the culture within which he wrote, i. e., European Christian culture, both aristocratic and bourgeois. 2 0 17
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Schorskes Essay ist auf deutsch in Wort und Wahrheit (1973) S. 355—371 abgedruckt, McGraths Essay in Central European History (March 1974), S. 3 1 - 5 7 . Siehe Schorskes Fin-de-siecle Vienna. Politics and Culture N e w York 1980, „Introduction", S. X X V I I : „ M o s t of the pioneering generation of culture-makers who appear in these studies were alienated along with their class in its extrusion from political power, not from and against it as a ruling class". Central European History, Vol. VII/1, März 1974, S. 5 8 - 7 7 . E b d . S. 59.
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N i e t z s c h e h ä t t e d i e b e i d e n P a r t e i e n in d e r K o n t r o v e r s e g e m e i n s a m e A n n a h m e , d a ß d e r B e s i t z v o n M a c h t d e n M e n s c h e n b e s t i m m t , geteilt. E r m e i n t , daß die U n t e r d r ü c k u n g , — also der N i c h t b e s i t z v o n M a c h t , — den J u d e n d a z u verholfen habe, große geistige P r o d u k t e z u schaffen ( M 205). Ein weiterer A s p e k t der Beziehung F r e u d - N i e t z s c h e u n d damit
auch
N i e t z s c h e s B e z i e h u n g zur P s y c h o l o g i e dieses J a h r h u n d e r t s ergibt sich, wenn m a n b e d e n k t , d a ß 1. F r e u d in N i e t z s c h e e i n e n P h i l o s o p h e n s a h , u n d d a ß 2 . P h i l o s o p h i e f ü r F r e u d eine F o r m des W a h n s i n n s darstellte. ad 1: N a c h d e m Freud feststellt, daß er „ i n früheren J a h r e n " wenig „ G e s c h m a c k an der Lektüre philosophischer A u t o r e n " hatte, fährt er fort: D e n hohen Genuß der Werke Nietzsches habe ich mir dann in späterer Zeit mit der bewußten Motivierung versagt, daß ich in der Verarbeitung der psychoanalytischen Eindrücke durch keine Erwartungsvorstellung verhindert sein wolle. D a f ü r mußte ich bereit sein — und ich bin es gerne — auf alle Prioritätsansprüche in jenen häufigen Fällen zu verzichten, in denen die mühselige psychoanalytische Forschung die intuitiv gewonnen Einsichten des Philosophen nur bestätigen k a n n . 2 1 ad 2: D i e Philosophie selber lehnt er ab. Sie gibt keine nützliche Stütze für die Lebensführung, ja sie ähnelt dem Wahn: Ich bin überhaupt nicht für die Fabrikation von Weltanschauungen. D i e überlasse man den Philosophen, die eingestandenermaßen die Lebensreise ohne einen solchen Baedeker, der über alles A u s k u n f t gibt, nicht ausführbar finden . . . Wir wissen genau wie wenig Licht die Wissenschaft bisher über die Rätsel dieser Welt verbreiten konnte; alles Poltern der Philosophie kann daran nichts ändern, nur geduldige Fortsetzung der Arbeit, die alles der einen Forderung nach Gewißheit unterordnet, kann langsam Wandel schaffen. Wenn der Wanderer in der Dunkelheit singt, verleugnet er seine Ängstlichkeit, aber er sieht darum um nichts heller." . . . die Wahnbildung der Paranoiker zeigen eine unerwünschte äußere Ähnlichkeit und innere Verwandtschaft mit den Systemen unserer Philosophen. 2 3 D i e N e u r o s e n zeigen einerseits auffällige und tiefreichende Ubereinstimmungen mit den großen sozialen Produkten der K u n s t , der Religion und der Philosophie, andererseits erscheinen sie wie Verzerrungen derselben. M a n könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn, ein Zerrbild eines philosophishen S y s t e m s . 2 4 U n d zuletzt noch aus einem Vortragsabend der Psychoanalytischen Vereinigung: „ F R E U D bemerkt, daß es sich bei der Metaphysik um eine Projektion sogenannter endopsychischer Wahrnehmungen h a n d e l e . " 2 5 I n ihrer E i n s c h ä t z u n g d e r P h i l o s o p h i e ,
der klassischen Tradition
der
P h i l o s o p h i e als W a h n s i n n ( F r e u d ) o d e r I r r s i n n ( N i e t z s c h e ) , h e r r s c h t O b e r -
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„Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung", GW X . Siehe Fußnote 16. „Hemmung, Symptom und Angst", II. Teil, letzter Abschnitt, GW XIV. Aus der Vorrede zu Theodor Reiks Buch über Probleme der Religionsphilosophie, S. 327. Totem und Tabu, II. Abschnitt, vorletzter Absatz, GW IX. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, op. cit., Band I, S. 141.
GW XII,
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einstimmung. 26 Freud sieht nach seinem ahistorischen, naturwissenschaftlichen Modell in der Philosophie einen animistischen, oder mythologischen, noch lebendigen Restbestand einer vorwissenschaftlichen, ja vorreligiösen Weltanschauung. 27 Nietzsche sieht sich und sein Denken und die Philosophie historisch. Die Philosophie war nicht Irrsinn, — sie ist es nur jetzt, und nach dem Tode Gottes muß sie es sein. Zwischen Irrsinn und seiner „Philosophie" sieht Nietzsche eine wesentliche und notwendige Verknüpfung. 28 In der Fröhlichen Wissenschaft bestimmt er als [die] größte Gefahr [der Menschheit] de[n] ausbrechendefn] Irrsinn — das heißt eben das Ausbrechen des Beliebens im Empfinden, Sehen und H ö r e n , de[n] Genuß in der Zuchtlosigkeit des K o p f e s , die Freude am MenschenUnverstände. Nicht die Wahrheit und Gewissheit ist der Gegensatz der Welt der Irrsinnigen, sondern die Allgemeinheit und Allverbindlichkeit eines Glaubens, k u r z das Nicht-Beliebige im Urteilen. U n d die größte Arbeit der Menschen bisher war die, über sehr viele D i n g e miteinander übereinzustimmen und sich ein Gesetz der Übereinstimmung aufzulegen — gleichgültig, o b diese Dinge wahr oder falsch sind. Dies ist die Zucht des K o p f e s , welche die Menschheit erhalten hat; — aber die Gegentriebe sind immer noch so mächtig, daß man im G r u n d e von der Zukunft der Menschheit mit wenig Vertrauen reden darf. (FW 76)
Nietzsche führt weiter aus, daß „bei feineren Köpfen [. . .], Künstlerfn] und Dichter[n]. . . eine förmliche Lust am Irrsinn ausbricht," und daß es „der tugendhaften Intellekte bedarf [. . .]. Wir anderen sind die Ausnahme und die Gefahr [. . .]. Nun, es läßt sich wirklich etwas zugunsten der Ausnahme sagen, vorausgesetzt, daß sie nie Regel werden will." Wenn man noch den berühmten Aphorismus „Der tolle Mensch" (FW 125) hinzuzieht, so ist der Hintergrund skizziert, der für das Verständnis von Also sprach Zarathustra wesentlich ist und damit auch für Nietzsches Spätphilosophie, oder wie er sie nennen würde, seine „Philosophie". Am 7. April 1884 schrieb Nietzsche an Overbeck, daß er sich „nunmehr entschlossen [habe], die nächsten fünf Jahre zur Ausarbeitung meiner ,Philosophie' zu verwenden, für welche ich mir durch meinen Zarathustra eine Vorhalle gebaut habe." In dieser „Philosophie" wird die Ausnahme zur Regel und muß sie zur Regel werden, denn: wenn wir es waren, die unseren Vater getötet haben, und wir erkennen, daß unser Vater, unser Gott auch von uns geschaffen worden war — wie der „tolle Mensch" berichtet — dann ist wahnsinnig werden, toll sein, eine adäquate, eine normale Reaktion. Aus diesem Doppelmord, Vatermord und Kindesmord, gibt es 26
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Auf den Aufsatz von Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld „Philosophie als Wahnsinn bei Sigmund F r e u d " Wissenschaft und Weltbild 29 (1976), S. 57-80 sei hingewiesen. Siehe Totem und Tabu, III. Abschnitt, vorletzter Absatz unter (1), GW I X . Siehe mein Aufsatz „ I s Nietzsche a Philosopher?", op. cit., (besonders S. 126ff.), dessen Ausführungen ich hier folge.
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keinen Ausweg: Trost wird so sehr gebraucht wie er unerhältlich ist. Es wird ein „double bind" erzeugt, der zur totalen Sinnlosigkeit führt, „Sinn" in seiner existenziellen Bedeutung gebraucht. „Die Abwesenheit von Sinn ist der Schrecken des existenziellen N i c h t s . " 2 9 Damit sind wir bei einer F o r m des Wahnsinns, der Schizophrenie, deren Auftreten durch die Doppelbindungstheorie erklärt wird. Hier ähnelt aber Nietzsches kosmische Diagnose Konzeptionen der Humanistischen Psychologie, bzw. der Antipsychiatrie, auf die später noch zurückgekommen werden soll. Jetzt sollen noch einige der „Ahnungen und Einsichten" Nietzsches den „mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse" gegenübergestellt werden, mit denen sie sich, nach Freud, decken sollen. Auf sie verweist auch Mitchell Ginsberg in seinem Essay über „Nietzschean P s y c h i a t r y . " 3 0 Man vergleiche 1. „Das Unbewußte" Freuds, und seine Beziehung zu der Natur des verdrängten Materials, und Zarathustras „abgründige Gedanken aus meiner Tiefe"; Heil mir! Heran! Gib die Hand ha! Lass! Haha! Ekel, Ekel, Ekel wehe mir! (Za III, Der Genesende — 1) 2. „Die Verdrängung" Freuds und Nietzsches: „ ,Das habe ich getan,' sagt mein Gedächtnis. ,Das kann ich nicht getan haben', — sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich — gibt das Gedächtnis nach." (JGB 68) 3. Verinnerlichung, Freuds Annahme, aus Die endliche und die unendliche Analyse, „daß auf dem Weg der Entwicklung vom Primitiven zum Kulturmenschen eine sehr erhebliche Verinnerlichung, Einwärtswendung der Aggression stattfindet", und Nietzsches Erklärung: „Alle Instinkte, welche sich nicht nach außen entladen, wenden sich nach innen — dies ist das, was ich die Verinnerlichung des'Menschen nenne." (GM 11,16) 4. Zum Thema Sublimierung Freuds Erklärung in „Zur Einführung des Narzissmus", daß „Sublimierung ein Prozess an der Objektlibido [ist] und darin besteht, daß sich der Trieb auf ein anderes von der sexuellen Befriedigung entferntes Ziel wirft; der Akzent ruht dabei auf der Ablenkung vom Sexuellen," mit Nietzsches Hinweis auf „jene Zahllosen, welche Liebe vermissen [. . .], namentlich aber die Menschen der sublimierten Geschlechtlichkeit, haben im Christentum ihren Fund gemacht." (MA II 95) 5. Zum Thema Projektion: Freuds Bemerkung in seiner „Metapsychologischen Ergänzung zur Traumlehre": Es ist dem Individuum wertvoll, daß es ein solches Kennzeichen der Realität besitzt, welches gleichzeitig eine Abhilfe gegen sie bedeutet, und es wollte gerne mit ähnlicher Macht gegen seine oft unerbittlichen Triebansprüche ausgestattet sein. Darum wendet es solche Mühe daran, was ihm von innen her beschwerlich wird, nach außen zu versetzen, zu projizieren, mit Nietzsche: Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eigenen Gott [. . .] es projiziert seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken
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Siehe Paul Watzlawik, Janet H. Bevin, Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation, Bern 1969, S. 247. Nietzsche: A Collection of Critical Essays, Robert C. Solomon (Hrsg.), New York 1973.
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kann [. . .] wenn ein Volk zugrunde geht [. . .], dann muß sich auch sein Gott verändern. (AC 16) 6. Zum Thema des „Ich": Freuds „Das Ich und das Es", wo „das Bewußtsein als meine [meine Unterstreichung] Qualität des Psychischen angesehen wird, die zu anderen Qualitäten hinzukommen oder wegbleiben mag" und „auch das Ich im eigentlichen Sinne sein kann", und die Ausführungen über die Funktion des Vorbewußten, die Antwort auf die Frage „Wie wird etwas vorbewußt?" — „Durch die Verbindung mit den entsprechenden Wortvorstellungen", mit Das sogenannte „Ich", wo Nietzsche sagt, daß wir als Beobachter und Handelnde „nicht das [sind], als was wir nach den Zuständen erscheinen, für die wir allein Bewußtsein und Worte — und folglich Lob und Tadel — haben; wir verkennen uns [. . .]. Unsere Meinung über uns aber, die wir auf diesem falschen Weg gefunden haben, das sogenannte „Ich", arbeitet fürderhin mit an unserem Charakter und Schicksal." (M 115) 7. Freuds Entdeckung „daß die Entstehung der Neurosen meist überdeterminiert ist, daß mehrere Momente zu dieser Wirkung zusammentreffen müssen" (261) und, daß er „es sehr bemerkenswert findet [. . .] wie häufig ein Symptom mehrfach determiniert, überbestimmt ist" (294) (aus „Zur Psychotherapie der Hysterie") mit Nietzsches Bemerkung: „Diese Liste ist gewiss nicht vollständig; ersichtlich ist die Strafe mit Nützlichkeiten aller Art überladen." (GM II 14) 8. Freuds Ausführung — im vorletzten Abschnitt von „Warum Krieg" — „Vielleicht führt [die Kulturentwicklung] zum Erlöschen der Menschenart, denn sie beeinträchtigt die Sexualfunktion in mehr als einer Weise [. . .]. Vielleicht ist dieser Prozess mit der Domestikation gewisser Tierarten vergleichbar; ohne Zweifel bringt er körperliche Veränderungen mit sich [. . .], die mit dem Kulturprozess einhergehenden Veränderungen sind auffällig und unzweideutig. Sie bestehen in einer fortschreitenden Verschiebung der Triebziele und Einschränkungen der Triebregungen," mit Nietzsche, (GD, Die ,Verbesserer' der Menschheit, 2) „Wer weiß, was in Menagerien geschieht, zweifelt daran, daß die Bestie daselbst verbessert' wird. Sie wird [. . .] durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger zur krankhaften Bestie. — Nicht anders steht es mit dem gezähmten Menschen, den der Priester verbessert' hat." 9. Zum Thema des Kontrastes zwischen einem Quantum psychischer Energie und der besonderen Art ihrer Entladung wären zu vergleichen die letzten beiden Abschnitte der Arbeiten Freuds über „Die Abwehrpsychosen" mit Nietzsche: [. . .] an den psychischen Funktionen [ist] etwas zu unterscheiden (Affektbetrag, Erregungssumme), daß alle Eigenschaften einer Quantität hat [ . . . ] — etwas das der Vergrößerung, Verminderung, der Verschiebung und der Abfuhr fähig ist [. . .]. Man kann diese Hypothese, die übrigens bereits unserer Theorie des „Abreagierens" (Vorläufige Mitteilung 1893) zugrunde liegt, in demselben Sinn verwenden, wie es der Physiker mit der Annahme des strömenden elektrischen Fluidums tut. Die erste Art Ursache ist ein Quantum von aufgestauter Kraft, welches darauf wartet, irgendwie, irgendwozu verbraucht zu werden; die zweite Art ist dagegen etwas an dieser Kraft gemessen ganz Unbedeutendes, ein kleiner Zufall zumeist, gemäß dem jenes Quantum sich nunmehr auf eine und bestimmte Weise „auslöst": Das Streichholz im Verhältnis zur Pulvertonne. (FW 360) 10. Freuds Auffassung des Traumes, wie sie in der Traumdeutung zum Ausdruck kommt, als eine bestimmte Äußerung des Menschen, mit Nietzsches Bemerkung, daß „unsere Träume, [. . .] unsere Erlebnisse oder Erwartungen oder Verhältnisse mit dichterischer Kühnheit und Bestimmtheit [umschreiben]". (MA II, WS 194)
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II. Die Humanistische Psychologie, man kann sie auch als eine Bewegung auffassen, begann in den sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten parallel zu, und in Verbindung mit der Studentenrevolution. Als Bewegung wird" sie auch „Human Potential Movement" genannt. Sie hat auf Europa, wo sie einige ihrer geistigen Wurzeln hat, übergegriffen. Die Humanistische Psychologie und das „Human Potential Movement" wurde auch als „die dritte Kraft" bezeichnet. Frank Goble hat ein Buch dieses Titels geschrieben, das sich mit einem der beiden Hauptvertreter der neuen Richtung, Abraham Maslow, beschäftigt — der andere ist Carl Rogers. 3 1 Es handelt sich um eine dritte Kraft oder eine dritte Partei, neben dem Behaviorismus und der Psychoanalyse. Der Behaviorismus hat den Menschen als durch Konditionierung bestimmt aufgefaßt. Die Psychoanalyse sieht den Menschen als von Trieben kontrolliert. Die Humanistische Psychologie stellt den Menschen als freies Wesen vor. 3 2 Die folgenden vier Thesen, von der Gesellschaft für Humanistische Psychologie formuliert, geben einen Begriff von dem Kernstück dieser psychologischen und lebensphilosophischen Anschauung. 1. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die erlebende Person. Damit rückt das Erleben als das primäre Phänomen beim Studium des Menschen in den Mittelpunkt. Sowohl theoretische Erklärungen wie auch sichtbares Verhalten werden im Hinblick auf das Erleben selbst und auf seine Bedeutung für den Menschen als zweitrangig betrachtet. 2. D e r Akzent liegt auf spezifisch menschlichen Eigenschaften wie der Fähigkeit zu wählen, der Kreativität, Wertsetzung und Selbstverwirklichung — im Gegensatz zu einer mechanistischen und reduktionistischen Auffassung des Menschen. 3. Die Auswahl der Fragestellungen und der Forschungsmethoden erfolgt nach Maßgabe der Sinnhaftigkeit — im Gegensatz zur Betonung der Objektivität auf Kosten des Sinns. 4. Ein zentrales Anliegen ist die Aufrechterhaltung von W e r t und W ü r d e des Menschen, und das Interesse gilt der Entwicklung der jedem Menschen innewohnenden Kräfte und Fähigkeiten. In dieser Sicht nimmt der Mensch in der E n t deckung seines Selbst, in seiner Beziehung zu anderen Menschen und zu sozialen Gruppen eine zentrale Stellung e i n . 3 3
Die Humanistische Psychologie, „die ,Human-Potential'-Idee besteht aus einer Mischung des existentiellen Ansatzes (mit dem unmittelbaren Erlebnis als Prüfstein) und der grundlegenden amerikanischen Ideologie, in der daran
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Die Dritte Kraft, Ölten 1979. Siehe auch die Kurzfassung meines Vortrages über „Transaktionsanalyse", Zentrum, Mitteilungen des Internationalen Kulturzentrums, Nr. 3/April 1979. Charlotte Bühler, Melanie Allen, Einführung in die Humanistische Psychologie, Stuttgart 1973, auf S. 7 aus der Broschüre der „Association for Humanistic Psychology" abgedruckt.
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geglaubt wird, daß der Mensch perfektioniert werden könne." 3 4 Sie besteht aus verschiedenen, einander ähnlichen Richtungen und Ansätzen. Der gerade zitierte Joel Kovel hat in seinem Buch Kritischer Leitfaden der Psychotherapie außer Freud und den analytischen Richtungen noch sieben andere „post-analytische Therapien und die ,Human Potential'-Bewegung" angegeben. 35 Aber es gibt noch mehr, und diese nicht-behavioristischen und nichtpsychoanalytischen Therapien sind nicht nur als Therapie gedacht. Die Humanistische Psychologie wendet sich an Kranke und Gesunde, bestreitet in manchen ihrer Formen den Unterschied zwischen Krankheit und Gesundheit, minimalisiert ihn in anderen, oder wendet ihr Hauptinteresse besonders den gesunden, hochwertigen menschlichen Erlebnissen und Lebensformen zu. Und nun zu einigen Beispielen von Aspekten und Lehrstücken der Humanistischen Psychologie, die sich schon bei Nietzsche vorfinden: Sie sind willkürlich herausgegriffen. 1. Man betrachte den von Eric Berne, dem Begründer der Transaktionsanalyse, eingeführten Begriff der „Spiele", — er kommt im Titel des Bestsellers Games People Play36 vor. Von diesen „ G a m e s " sagt Fritz Wandel in seinem der schulpädagogischen Anwendung der Transaktionsanalyse gewidmeten Buch Erziehung im Unterricht, daß mit ihrer Theorie der ,Spiele' als destruktiven Formen des zwischenmenschlichen U m g a n g s mit einer allgemeinen Lebensphilosophie die T A in die Tradition der großen psychologischen Philosophie des 19. Jahrhunderts [. . .] tritt [. . .]. Man vergleiche etwa das folgende Zitat Friedrich Nietzsches mit dem, was bisher über .Spiele' und das elementare menschliche Verlangen nach Strukturierung der Zeit und Beseitigung von Langeweile und Sinnlosigkeit gesagt w u r d e . 3 7
„Spiele" sind, um es einfach auszudrücken, „die Folge von Einzelinteraktionen, die mit [. . .] einem trügerischen Trick verbunden sind." Es handelt sich um eine Kompensation des eigenen Unwertgefühls; dieser Unwert wird dann einem anderen zugeschoben. „Spiele" sind eine der Weisen des Menschen, die Zeit zu vertreiben. Nietzsche formuliert dieses Phänomen in der Fröhlichen Wissenschaft wie folgt: D e n k e ich an die Begierde, etwas zu tun, wie sie die Millionen Europäer fortwährend kitzelt und stachelt, welche alle die Langeweile und sich selbst nicht ertragen können, — so begreife ich, daß in ihnen eine Begierde, etwas zu leiden, sein muß, um aus ihrem Leiden einen probablen G r u n d zum T u n , zur Tat herzunehmen. N o t ist nötig! [. . .] daher die vielen falschen, erdichteten, übertriebenen „ N o t s t ä n d e " aller möglichen Klassen und die blinde Bereit34 35 36 37
Joel Kovel, Kritischer Leitfaden zur Psychotherapie, Frankfurt am Main 1977, S. 120. Ebd. S. 5 f. Auf deutsch übersetzt als Spiele der Erwachsenen, Reinbek bei Hamburg 1970. Stuttgart 1977, S. 132.
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Willigkeit, an sie zu glauben. Diese junge Welt verlangt, von außen her solle — nicht etwa das Glück — sondern das Unglück kommen oder sichtbar werden; und ihre Phantasie ist schon voraus geschäftig, ein Ungeheuer daraus zu formen, damit sie nachher mit einem Ungeheuer kämpfen könne. Fühlten diese Notsüchtigen in sich die Kraft, von innen her sich selber wohlzutun, [. . .] so würden sie auch verstehen, von innen her sich eine eigene, selbsteigene Not zu schaffen. (FW 56) 2. Die Bioenergetik ist eine auf Wilhelm Reich und seinem Werk basierende, körperorientierte, gegenwärtig viel praktizierte Therapie. In ihr wird der Körper mit seinen Reaktionen und Gefühlen in den Mittelpunkt der Behandlung gestellt. Verbales und Soziales wird minimalisiert. Wolf E . Brüning beschreibt die Bioenergetik wie folgt: Die wichtigste Verbesserung [. . .] besteht darin, daß Löwen uns lehrt, wie wichtig es ist, den Patienten buchstäblich auf die Beine zu stellen, das Erleben seiner selbst zu verwurzeln in seiner körperlichen Realität, d. h. ihn zu erden. Dieses Erden (Grounding), Wurzelschlagen in der Realität der eigenen Körperlichkeit und Sterblichkeit entwickelt sich in der Therapie durch bewußte Teilnahme an einer Vielzahl von Übungen, die Löwen entwickelte, um das Individuum wieder in Kontakt mit sich selbst zu bringen. 38 Man vergleiche dieses Stück Theorie und die Praxis der Bioenergetik mit Nietzsches Bemerkung in „ W a r u m ich so gute Bücher schreibe", aus Ecce h o m o (§ 5): Die Circe der Menschheit, die Moral, hat alle psychologica in Grund und Boden gefälscht — vermoralisiert — bis zu jenem schauderhaften Unsinn, daß die Liebe etwas „Unegoistisches" sein soll . . . Man muß fest auf sieb sitzen, man muß tapfer auf seinen beiden Beinen stehen, sonst kann man gar nicht lieben. 3. Abraham Maslow hat die theoretischen Grundlagen der Psychologie „der dritten K r a f t " gelegt. E r warnt davor, sich nur auf die Schwachen zu konzentrieren und nur den Kranken helfen zu wollen: Vielleicht räumt uns diese Psychologie der Gesundheit mehr Möglichkeiten ein, unser Leben zu kontrollieren, zu verbessern [. . .] kranke Individuen machen ihre Kultur kranker und gesunde Individuen ihre gesünder. Die Verbesserung der individuellen Gesundheit ist ein Weg zu Schaffung einer besseren Welt. 3 9 E r weist auf „Seinswerte" hin, die nicht in der Wiedergutmachung eines Defizits bestehen. Sie kommen aus dem Uberfluß. Das klingt wie Nietzsches Zarathustra: 38
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„Das Werk von Wilhelm Reich und seinen Nachfolgern", in Band III der Reihe „Die Psychologie des 20. Jahrhunderts," Freud und die Folgen, II, Dieter Eicke (Hrsg.), Zürich 1977, S. 422. Psychologie des Seins. Ein Entwurf, München 1973, S. 23.
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Kurt Rudolf Fischer Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zuviel gesammelt hat [. . .] Ich möchte verschenken und austeilen (Za, Vorrede 1).
Einer der „Seinswerte" ist die „Seins-Verspieltheit"; Sie ist überschäumend wie Reichtum oder Uberfluß [. . .]. Sie enthält eine gewisse Qualität des Triumphs, manchmal vielleicht auch der Erleichterung. Sie ist gleichzeitig reif und kindlich. Sie ist schließlich utopisch, eupsychisch, transzendierend in jenem Sinne, den Marcuse und B r o w n beschrieben haben. Man könnte sie auch nietzscheanisch n e n n e n . 4 0
Zentral in der Humanistischen Psychologie ist die Aufforderung zur Selbstverwirklichung. Maslow widmet sein zehntes Kapitel der „Kreativität bei selbstverwirklichenden Menschen", also der Kreativität die auf das Leben des Menschen angewandt wird und nicht auf seine Produkte: „Offenbar gibt es eine Tendenz alles kreativ zu tun: Haushalt, Unterricht usw." 4 1 Dieser Tendenz ist auch das neunte Kapitel der Entwicklung der Persönlichkeit, „Ansichten eines Therapeuten vom guten Leben: Der voll sich entfaltende Mensch" des anderen führenden Theoretikers der Humanistischen Psychologie, Carl R. Rogers, gewidmet. 42 „Offenheit für die Erfahrung" ist ein Hauptmerkmal des Entwicklungsprozesses. 43 Auch bei Nietzsche finden wir, was vielen Lesern bei ihm wie auch bei der Humanistischen Psychologie als Kern eines rücksichtslosen Egoismus erschien: „Du sollst der werden, der du bist." Hier handelt es sich um die Antwort auf die Frage, „Was sagt dein Gewissen?" aus der Fröhlichen Wissenschaft (§ 270), und sie wurde auch als Haupttitel von dem Herausgeber eines Bandes ausgewählter psychologischer Schriften Nietzsches verwendet. 44 4. Frederick S. Perls ist der Begründer der Gestalttherapie. 45 Diese ähnelt in manchen Konzeptionen den Anschauungen Nietzsches. Wie Nietzsche hält Perls das Bewußtsein für schwach, jedenfalls für viel weniger stark und weniger wichtig als Freud. Unbewußt gebliebenes Material verliert nach Freud seine (bestimmende) Kraft, wenn es bewußt wird. Nach Perls wirkt das Bewußtsein des Früheren und seine Verbalisierung nicht heilend. „What we say is either lies or bullshit," — „Die wirkliche Kommunikation liegt jenseits der Sprache." 4 6 Nietzsche bezeichnet das „Bewußtsein" als „ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ". (GM II, 16) 40
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Ebd. S. 121. Die Hinweise sind auf Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft und Norman Browns Zukunft im Zeichen des Eros. Ebd. S. 143. Stuttgart 1973. Ebd. S. 121 f. Friedrich Nietzsche, Du sollst der werden, der du bist, Psychologische Schriften, op. cit. In Das Ich, der Hunger und die Aggression, Stuttgart 1978, setzt er sich von Freud ab. Gestalt-Therapie in Aktion, Stuttgart 1974, S. 61.
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Nach der Gestalttherapie hat jeder Teil des Ich seine Berechtigung. Keiner darf verteufelt werden. Alle müssen wieder zusammen kommen, — integriert werden. Man vergleiche Nietzsche: „In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Teil von sich als Gott an und hat dazu nötig, den übrigen Teil zu diabolisieren" (MA I, 137). Schließlich kann die Richtung, in die sich Perls' Gestalttherapie entwickelt hat, vom Einzelpatienten zur Gruppe, von da zum längerfristigen Aufenthalt im Esalen-Camp und zuletzt zum dauerhaften Zusammenleben im Kibbuz (in Kanada) in Verbindung mit Nietzsches Ansicht gebracht werden, daß es, paradox formuliert, keine Person gibt: 47 Ehemals nämlich glaubte man an „die Seele", wie man an die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte: [. . .] „ I c h " ist Bedingung, „denke" ist Prädikat und bedingt [. . .]. Nun versucht man, [. . .] ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei: „denke" Bedingung, „ I c h " bedingt (JGB 54). Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie: wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzung der Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Vernunft, zum Bewußtsein bringen [. . .]; das glaubt ans „ I c h " , ans Ich als Sein, ans Ich als Substanz [. . .] (GD, Die .Vernunft' in der Philosophie, 5).
5. Zu der allermodernsten psychotherapeutischen Tendenz gehört es, den Patienten in die Familie zu stellen, ja noch andere Bezugspersonen hinzuzunehmen, den „tribe", — die ganze Sippschaft. Diese Therapie wird von dem Psychiater Ross V. Speck getrieben und heißt „social network Intervention". Es handelt sich da oft um bis sechzig Personen, um die Großfamilie, vermehrt um andere Schlüsselpersonen, die sich mit ihren „schwarzen Schafen" beschäftigen müssen. 48 Zugrunde liegt der Wahl dieser therapeutischen Methode die allgemeine Diagnose, daß Machtverhältnisse innerhalb einer Gruppe die Krankheit des Patienten (Schizophrenen) verursacht haben, und daß ein neues, anderes Gleichgewicht wieder hergestellt werden muß, um den Patienten zu heilen. Diese Sicht, in der der Einzelne als total mit seiner Familie, mit seiner gesellschaftlichen Welt verwoben, dargestellt wird, — Mitchell Ginsberg macht im letzten Abschnitt von „Nietzschean Psychiatry" darauf aufmerksam — entspricht der Nietzsches. In ihr ist der Mensch determiniert und frei: Niemand ist dafür verantwortlich, daß er überhaupt da ist, daß er so und so beschaffen ist, daß er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird [. . .]. Aber es gibt nichts außer dem Ganzen! (GD, Die vier großen Irrtümer, 8) 47 48
Siehe Hendrick M. Ruitenbeek, Die neuen Gruppentherapien, Stuttgart 1974, S. 51. Siehe Robert A. Harper, The New Psychotherapies, Englewood Cliffs, N. J., 1975, „Social Network Intervention", S. 22ff.
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Der Fatalist — Du mußt an das Fatum glauben, — dazu kann die Wissenschaft dich zwingen. Was dann aus diesem Glauben bei dir herauswächst — Feigheit, Ergebung oder Großartigkeit und Freimut — das legt Zeugnis von dem Erdreich ab, in welches jenes Samenkorn gestreut wurde; nicht aber vom Samenkorn selbst, denn aus ihm kann alles und jedes erwartet werden. (MA II, V M 363) Türkenfatalismus. [. . .] Die Torheiten des Menschen sind ebenso ein Stück Fatum wie seine Klugheiten: auch jene Angst vor dem Glauben an das Fatum ist Fatum. Du selber, armer Ängstlicher, bist die unbezwingliche Moira, welche noch über den Göttern thront, für aljes, was da kommt [. . .]; in dir ist alle Zukunft der Menschen-Welt vorherbestimmt, es hilft dir nichts, wenn dir vor dir selber graut. (MA II, WS 61)
III. Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches sind des öfteren dargestellt worden, vor allem — unter diesem Titel — von Ludwig Klages. 49 Da lesen wir über Nietzsches „Grundthema: Selbsttäuschung", über „die nächsten Dinge, die Uberzeugungskraft des Erfolges, vom Auszeichnungsverlangen, der ,Nächstenliebe', der Selbstüberwindung, dem Lebensneid, der Psychologie des Christentums" und über andere Themen, deren Behandlung durch Nietzsche Gemeingut der Gebildeten wurde. In den Vereinigten Staaten hat Walter Kaufmanns seit drei Jahrzehnten immer wieder aufgelegtes Buch Nietzsche, Philosopher, Psychologist, Antichrist den Psychologen vermittelt, besonders im 7. Kapitel, „Morality and Sublimation", im 8. Kapitel, „Sublimation, Geist, and Eros", und im 9. Kapitel, „Power versus Pleasure". 5 0 Auch Nietzsches verschiedene systematische Ansätze sind skizziert worden, z. B. von Richard Schmitt, der aber glaubt, daß Nietzsches außerordentliche Vorliebe für den Aphorismus die innere Koherenz seiner Theorie verdeckt; Schmitt versucht, diese Theorie zu rekonstruieren. 51 In Nietzsches Psychologie scheint mir aber eine ähnliche Situation vorzuliegen wie in seiner Philosophie. Wären die Aphorismen nur ein Produkt willkürlicher Vorliebe, dann wäre an der Wichtigkeit der in ihnen ausgedrückten 49
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51
Ludwig Klages, Die Psychologischen Errungenschaften Nietzsches, Zweite Auflage, Leipzig 1930. Im Vorwort merkt Klages an, daß sein „erster (zweistündiger) Vortrag über Nietzsches psychologische Errungenschaften [. . .] 1919 [. . .] stattfand". Princeton, N . J . , 1950, 1956, 1968 und 1974. Die von Walter Kaufmann im 7. Band der Nietzsche-Studien (1978) erschienene Darstellung von „Nietzsche als der erste große Psychologe" (S. 2 6 2 - 2 7 5 , und die anschließende Diskussion, bis S. 2 7 5 in dem Sonderband über Friedrich Nietzsche und das 19. Jahrhundert) stand mir bei der Vorbereitung meines Referates nicht zur Verfügung. Sie enthält für mein Thema relevantes Material, z. B . die Vorstellung Nietzsches als Begründer der „psycho-history". Siehe mein „Is Nietzsche a Philosopher?" op. cit.
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Gedanken zu zweifeln und Nietzsches Psychologie zusammen mit seiner Philosophie nicht ernst zu nehmen. Und dann wäre auch Nietzsches Selbsteinschätzung nicht ernst zu nehmen: — Daß aus meinen Schriften ein Psychologe redet, der nicht seinesgleichen hat, das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter Leser gelangt — ein Leser, wie ich ihn verdiene, der micht liest, wie gute alte Philologen ihren H o r a z lasen. Die Sätze, über die im G r u n d e alle W e l t einig ist, [. . .] erscheinen bei mir als Naivitäten des Fehlgriffs [. . .] (EH, W a r u m ich so gute Bücher schreibe 5)
Die neue, noch nie dagewesene Situation, in der Nietzsche die Geistigkeit der Tradition rekonstruiert, ist am besten mit dem Wort „Gott ist tot" ausgedrückt und motiviert auch in der Psychologie eine noch nie dagewesene Veränderung. Wenn Nietzsche ernst genommen wird, dann muß Form und Selbsteinschätzung seiner Psychologie ernst genommen werden. 52 Vor allem: „Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen" (JGB 23). Es fehlen metaphysische und theologische Gründe und Begründungen. Karl Jaspers glaubt in seiner Allgemeinen Psychopathologie Freud und die Psychoanalyse dafür verantwortlich machen zu können, daß Nietzsche nicht als (verstehender) Psychologe, zur Geltung kam. Die „Psychoanalyse [. . .] hat die unmittelbare Auswirkung des eigentlich Großen (Kierkegaard und Nietzsche) in der Psychopathologie verhindert und ist mitschuldig an der geistigen Niveausenkung der gesamten Psychopathologie." 53 Schon vorher schreibt Jaspers: Als geistesgeschichtliches
logie.
Phänomen ist die Psychoanalyse
Popularpsycho-
W a s auf den Höhen der wirklichen Geistesgeschichte Kierkegaard und Nietzsche getan haben, wird hier in den Niederungen vergröbert und verkehrt noch einmal getan, dem tiefen Niveau der Durchschnittlichkeit und der großstädtischen Zivilisation entsprechend. Gegenüber der wahren Psychologie ist sie ein Massenphänomen [. . .] 5 4
Freud hat sich aber bewußt auf ein Niveau begeben, daß er für niedriger und daher für fundamentaler hielt. In einem Brief an Ludwig Binswanger schreibt er: „Ich habe mich selbst immer auf den Boden und das Fundament des Gebäudes bechränkt. Sie behaupten, daß man, indem man seinen eigenen Standpunkt ändert, auch das obere Stockwerk sehen kann, in dem solche Arten erlesene Gäste wie die Religion, die Kunst usw. sich aufhalten [. . ,]" s s
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In „Is Nietzsche a Philosopher?" op. cit. habe ich zu zeigen versucht, warum Nietzsches Selbsteinschätzungen nicht als größenwahnsinnig aufzufassen sind. Sechste Auflage, Berlin 1953, S. 300. Ebd. Zitiert nach Hendrick M. Ruitenbeek, Die neuen Gruppentherapien, op. cit. S. 19 f.
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Es ist müßig zu diskutieren, wer recht hat. Fest steht, daß sich die Freudsche Psychoanalyse und ihre weiteren Entwicklungen eher auch in „das obere Stockwerk" begeben haben, und daß tatsächlich die „Durchschnittlichkeit der städtischen Zivilisation" von ihr angezielt wurde. Mit den körperorientierten, nichtverbalen Therapien und mit dem Sensitivity-Training sollten später noch — von Jaspers her unvorstellbare — Niederungen erreicht werden. Man denke nur an die „Nude Group Therapies", — mit nackten Teilnehmern. Aber besonders wichtig war bei Freud, daß eine Technik ausgearbeitet worden war, eine Technik, die später bei anderen Therapien modifiziert werden sollte. Auch wenn eine bestimmte Technik — und bestünde sie nur aus Übungen, oder gar nur auf unstrukturierter Selbsterfahrung — da war, dann war es doch so, daß Erfahrungen gemacht wurden und Gefühle erlebt wurden, und daß nicht über Gefühle und Erlebnisse gesprochen oder gar geschrieben wurde. Freud war bescheiden. In seiner Studie „Zur Psychotherapie der Hysterie" berichtet er (im letzten Absatz), er habe seinei) Kranken, wenn sie ihn darauf aufmerksam machten, daß er selbst zugegeben habe, ihr Leiden hänge wahrscheinlich mit ihren Verhältnissen und Schicksalen zusammen, geantwortet: „[. . .] Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln." Freud war ein Kind des Wiener Fin-de-siecle. In seiner Schrift über „Die endliche und unendliche Analyse" (III) zitiert er Nestroy: „Ein jeder Fortschritt ist nur immer halb so groß, als wie er zuerst ausschaut." (Man vergleiche das Nestroy-Motto vor einem der Werke dessen, der für die Philosophie das getan hat, was Freud für die Psychologie tat, vor Ludwig Wittgensteins Philosophische Untersuchungen: „Uberhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.") Aber die amerikanischen Verhältnisse der sechziger Jahre waren andere. Die radikalen Studenten wollten sich nicht in den von bürgerlichen Vorstellungen bestimmten Rahmen der orthodoxen Psychoanalyse pressen lassen, — sie wollten keine Anpassung, — die Bürger mit ihrem Wohlstand wollten sich verwirklichen, ihren „Human Potential" gerecht werden, — beide wollten vielerlei sein, sich in vielen Erfahrungen und Aktionen verwirklichen, — der orthodoxe Analytiker hätte es „ausagieren" genannt. Nun sollte man innerhalb der TherapieWorkshops in Esalen z. B. „ausagieren", sich verwirklichen und lernen, sich zu verwirklichen. Der Gruppentrainer als Ubermensch, als Weg zum Ubermenschen! „Wir dürfen mit uns selber experimentieren! Ja die Menschheit darf es mit sich!" (M 501) Das was Heinrich Schipperges als „Nietzsches . . . komplettes Zarathustra-Programm" vorstellt, „nämlich: ,die große Weihung des neuen ArztPriester-Lehrer-Wesens, welches dem Ubermenschen vorangeht' (GAK XII, 245. 327), ,eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern' (JGB 203)," -
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ist dieses Experiment nach Nietzsche absurder oder erfolgversprechender als es andere Experimente waren? 56 [. . .] die Notwendigkeit solcher Führer, die erschreckliche Gefahr, daß sie ausbleiben oder mißraten und entarten könnten — das sind unsere eigentlichen Sorgen und Verdüsterungen [. . .] ( J G B 2 0 3 ) .
Wenn das Experiment gelingt, dann wird ein „Buch zum Denken" nur von dem geschrieben werden, der sich gefragt hat, „ob es irgendeinen Wert hätte, jemanden zu einem richtig denkenden und schließenden Wesen zu machen, wenn es nicht gelungen ist, ihn vorher zu einem richtig empfindenden zu machen". (WB 5)
56
Am Leitfaden des Leibes. Zur Anthropologik 1975, S. 149.
und Therapeutik
Friedrich Nietzsches,
Stuttgart
Diskussion Montinari: Ich möchte zwei historische Anmerkungen zum Verhältnis Nietzsche — Freud machen: Unter der sogenannten „Wiener Adresse", die Nietzsche als Glückwunsch zu seinem Geburtstag am 15. Oktober 1877 von einem Kreis junger Verehrer aus Wien erreichte, fehlt der Name Sigmund Freuds. Unterzeichnet ist der Brief von Studenten, die später eine Rolle in der Geschichte Österreichs gespielt haben, von Max Gruber, Victor Adler, Sigmund Adler, Heinrich Braun, Engelbert Pernerstorfer und Seraphin Bondi. Ich glaube, alle haben mit der österreichischen Sozialdemokratie zu tun gehabt. Der Anstifter der Glückwunschadresse war der junge Wagnerianer und Dichter Siegfried Lipiner, später ein Obskurant, ein Jude, der zum Antisemiten wurde. Nietzsche hatte dessen umfängliches Gedicht „Entfesselter Prometheus" zunächst mit Begeisterung aufgenommen, hat auch einige Briefe mit ihm gewechselt, sich später aber von dem zudringlichen Verehrer abgewandt. Lipiner bemerkt in seinem Begleitschreiben zu dem „CollectivBrief", er hätte noch mehr Unterschriften sammeln können, wenn er nicht so strenge Maßstäbe angelegt hätte. Offenbar also war Nietzsche nicht nur in diesem kleinen Zirkel bekannt. Es ist demnach gar nicht ausgeschlossen, daß Freud schon damals von Nietzsche gehört hat. Nietzsche war übrigens von diesem Glückwunsch gerührt, aber auch sehr betroffen, weil er darin als Anhänger Wagners, von dem er sich ja gerade gelöst hatte, angesprochen wurde. In einer zwei Jahre später niedergeschriebenen Notiz „Wann ich geweint habe" hält er fünf Anlässe fest: An erster Stelle steht „Commune", womit sicher der angebliche Brand des Louvre gemeint ist, und an letzter Stelle heißt es: „Adresse aus Wien Geburtstag". 1 Eine andere Verbindung zwischen Nietzsche und Freud, die über Lou Andreas-Salomé, scheint mir weniger bedeutsam. Nicht, weil Lous Urteil nicht zählte, im Gegenteil! Ihr philosophisches und vor allem ihr psychologisches Urteil ist von hohem Wert. Denken Sie nur an ihre Bemerkung über Nietzsche, den „Sado-Masochisten an sich" — eine Bemerkung, die übrigens zeigt, wieviel Freudsche Psychologie schon in den Tautenburger Gesprächen zwischen Nietzsche und der klugen Lou in der Luft lag. 2 Ich meine aber, Sigmund Freud war nicht auf Lou angewiesen, um etwas über Nietzsche zu erfahren. Als sie zum Wiener Schülerkreis stieß, war Freud 1 2
Vgl. K G W IV 3, 441; die „Wiener Adresse"ist abgedruckt in: K G B II 6/2, 737f. Vgl. L. Andreas-Salomé, In der Schule bei Freud, hrsg. v. E. Pfeiffer, Zürich 1958.
Diskussion
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mit Nietzsches Werk und wohl auch mit Zügen seiner Person längst vertraut. Denn man kann davon ausgehen, daß auch er die Briefe gelesen hat, die Josef Paneth über seine Begegnungen mit Nietzsche im Winter 1883/84 aus Nizza an seine Verlobte in Wien schrieb. Diese Briefe waren von vornherein für einen größeren Freundeskreis gedacht, der offenbar über Nietzsche informiert werden wollte. Daß Freud zu diesem Kreis gehörte, ist verbürgt. In der „Traumdeutung" erwähnt er seinen „Freund Josef" ausdrücklich. Später hat er gegenüber Arnold Zweig davon gesprochen, daß ihm Josef Paneth die ersten Eindrücke von Nietzsche vermittelt habe. 3 Baier: Man müßte von Ihrem Vortrag, Herr Fischer, zu den Ausführungen über die Kritische Theorie eine Brücke schlagen. Herr Maurer hat ja sehr treffend gezeigt, wie der Marxismus der frühen Frankfurter Schule von Perspektiven Nietzsches durchkreuzt wird. Man könnte nun diese These erweitern und sagen: Es ist nicht allein Nietzsche gewesen, der hier ein Theorieprogramm durchkreuzt hat, sondern es war, freilich noch viel wirksamer, auch Sigmund Freud. Habermas hat das m.E. sehr schön zum Ausdruck gebracht, indem er sich im Schlußkapitel von Erkenntnis und Interesse mit dem Titel .Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie' sowohl mit Freud als auch mit Nietzsche beschäftigt hat 4 . Die eigentliche Aufgabe für die Rezeptionsgeschichte der Kritischen Theorie besteht m.E. darin, dieses Ineinander von Nietzsche und Freud herauszuarbeiten. Dann wüßte ich gern, ob Sie uns Näheres über die Rolle, die Otto Gross als Mittler zwischen Freud und Max Weber gespielt hat, sagen können? Otto Gross ist ein Schüler Freuds, der auch in Franz Pfemferts „Aktion" geschrieben und sich dort u. a. auf den Anarchismus Nietzsches berufen hat. Wir wissen erst durch das Buch von Martin Green, „The Richthofen-Sisters" 5 , welche Bedeutung Gross für den Kreis um Max Weber gehabt hat. Fischer: Ich bedaure, Herr Baier. Mir ist zwar der Name Otto Gross geläufig. Ich weiß auch, daß er in der Schule Freuds eine Rolle gespielt hat, aber ich habe mich mit ihm nicht beschäftigt. Blondel: I have first a technical question, about the word „ausagieren", which you used at the end of your lecture. I don't think Freud or anyone of 3 4 5
Vgl. Freuds Brief an A. Zweig v. 11.5. 1934. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1968, 332 ff. M. Green, The von Richthofen Sisters, The Triumphant and the Tragic Modes of Love, N e w York 1974 (dt.: Else und Frieda, die Richthofen-Schwestern, München 1980). Neuerdings auch E. Hurwitz, O t t o Gross. Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung, Zürich und Frankfurt 1979.
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his „orthodox" disciples ever used that expression, which seems to imply that the mere acting out, i.e. free satisfaction of the drives might have in itself a curing effect and even replace a classical cure. On the contrary, all the phrases describing that kind of „free" fulfilment (such as agieren, abreagieren, Durcharbeitung, etc., but not „ausagieren") imply that they are not free, but induced by neurosis, as its mere offsprings (Abkömmlinge). Insofar, they can't cure a neurosis that they simply express. The concept agieren (translated as „acting out") and the broader concept acting out (used as such in its English form even in French and German circles as a specific technical term, though Freud never used it: see Laplanche's and Pontalis's Wörterbuch der Psychoanalyse) are properly used to describe what happens to the patient mostly during a psychoanalytical cure: not only are they repetitive expressions of the unconscious and repressed affects, i.e. of the neurotic conflicts, but, contrary to the transference (which is supposed to have a curing effect), they take place outside the cabinet of the psychoanalyst. Was your „ausagieren" a German translation of the original „acting out", or a retranslation of the „agieren" (translated as „acting out")? Can it be applied to people who don't want to have anything to do with a psychoanalytic cure? Fischer: „Acting out" is the translation of „ausagieren". Yes, indeed, it happens outside the cabinet of the analyst. But in the new theories you are requested to act. If you have a kind of tendency to act, then you should act. If you feel aggressive, then you should attack somebody, for instance. This is a kind of acting out. Freud would have been much against it. His intention was to work through the emotions and the materials of memory. „Acting out" or „working through" — Gestalt therapy or traditional psychoanalysis! But there are therapists who use both techniques. Blondel: My second point — just a question, and not a questioning or a putting to question! — is about your general approach to Freud and Nietzsche. It seems to me that, in defining both Nietzsche and Freud as psychologists, you perhaps restricted Nietzsche to the general view of Freud as essentially a mere therapist. If one on the contrary agrees to take Freud's metapsychological and even philosophical insights into account, I believe Nietzsche and Freud might have still more points in common, in spite of their attacks on philosophy and especially on metaphysics. If one rejects their similar attempts at a philosophical questioning, how can one explain the fact that Freud decided to ignore Nietzsche's works, in order to preserve his own feeling of priority? Did you restrict yourself to the psychological aspects for methodological or for theoretical reasons?
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Fischer: I don't think I have defined Nietzsche as a psychologist. I have stressed the psychological aspect. With Nietzsche it is obviously not psychology as taught by departments of psychology that is under discussion. I am not blaming Nietzsche, I rather would blame the departments of psychology for doing what they are doing, if that made sense. I placed Freud into the bourgeois framework of fin-de-siècle Vienna. But Nietzsche cannot be that easily located within a social framework. Nonetheless I don't think I have defined either Freud or Nietzsche as mere psychologists, I only considered them as psychologists in the context of my paper. Blondel: That is what I mean, just that! I therefore repeat my question: Don't you think that if one considered them both as philosophers there might be more points in common? Fischer: Indeed both, for instance, said that philosophy was a form of insanity. They both agree in considering philosophy an expression of madness. At this point there is a high degree of consent between Nietzsche and Freud. I frankly admit that I don't know, that I have not much of an inkling of what is meant when philosophy is talked about in the abstract, in general. If you had said „intellectual history" or „history of ideas" I would have known what you meant. I frequently have a queasy feeling when someone uses the expression philosophy. And Nietzsche puts that word in quotation marks, when he refers to his philosophy. Blondel: Indeed Nietzsche did write {Jenseits von Gut und Böse 11) that philosophy „has a right to quotation marks" : but that applied to — the German philosophy of his time! Why then did he talk about new „philosophers" and „philosophers of the future" (ebd., 42 and 210—213) Ich zitiere: „Was ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es nicht zu lehren ist: man muß es „wissen", aus Erfahrung, — oder man soll den Stolz haben, es nicht zu wissen." (JGB, 213). Anyway, almost all great philosophers in the past themselves said that philosophy has something to do with insanity: among many others Plato in Theaetetus, Descartes in the Discours de la méthode, Hume in the introduction to Treatise of Human Nature, and Kant in the preface to the second edition and in the Introduction of the Kritik der reinen Vernunft, to say nothing of many others after them! They might well be right, but, in any case, that doesn't prove that they are not philosophers — on the contrary! My intention is by no means to snub psychology, but only to suggest that, for Nietzsche and Freud, psychology (as the science of what happens in the individual psyché) might be a starting-point or, so to speak, the reduced image of a philosophical
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issue — exactly in the same way as for instance for Plato, the political putting of the question in the Republic was intended as an aggrandizement of the theory of the individual psyché (or soul). When I mention the word „Philosophy" about Nietzsche and Freud, therefore, I certainly do not mean any kind of metaphysical concepts, but just the fact that we find in both their works not only a Weltanschauung (which would be neither exceptional nor remarkable!), but a very firm and constant trend of thoughts towards the elucidating not only of what man is, but more generally speaking, how the problem of culture {Kultur) can be put, what are its bases and principles ( t r e i b e n d e Element) and how its difficulties and apories might be solved. Both Nietzsche and Freud use the word Kultur, and that is their philosophical problem. N o w , there might exist some points in common, which seem to me to lead further than the principles of the individual psychological investigation. This is a vast question, and a capital one too for our time. May I briefly stress some philosophical similarities (for a further research, see Jean Granier's essay in Nietzsche-Studien, Band 8, 1979: Le statut de la philosophie selon Nietzsche et Freud) ? I don't want to reject, but to extend philosophically your previous remarks about the psychological analogies, inasmuch as Nietzsche's insights, at least, cannot be simply considered as restricted to the field of psychology. Is it insane and/or philosophically relevant to consider man as „das kranke Tier par excellence" (Zur Genealogie der Moral III 13 und Antichrist 14), as Nietzsche puts it — which is also Freud's view? What does that mean, if one agrees that Nietzsche at least (if not Freud too!) cannot be suspected here to be just in search of paying patients?! This fundamental statement or (philosophical) principle of theirs needs a philosophical justification: at least, you can't simply admit it on mere psychological grounds — whatever your therapist would love you to do according to that dogmatic statement! And what if the question at stake on the ground of that assumption is das Ungehagen in der KULTUR or die Genealogie (i.e. medical diagnosis!) der
MORAL? As far as the method is concerned: it strikes me that, in spite of Freud so-called „scientific" purpose, their methods of diagnosis, of study and observation and eventually their „remedies" (philosophically speaking, i.e. as regards not only the individual but the whole of culture) are very similar. First, just as Freud tries to do with his patients and the Kultur, Nietzsche writes that his purpose in relation to the idols and the Umwertung aller Werte is „aushorchen", and very much like Freud, he presents himself as someone („Psychologe" in the wider sense and „Rattenfänger") „vor dem gerade Das, was still bleiben möchte, laut werden muß" (Götzendämmerung, Vorwort). And there is something in the aphoristic style and movement of Nietzsche's
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writings that reminds one of the course of a cure: they need a „third ear" or „Ohren noch hinter den Ohren". Secondly, as Freud did with the Entstellungsprozesse and the Abwehrmechanismen, Nietzsche extends to culture as a whole some concepts that first applied to the individual psychology (Projektion, Verneinung, Verleugnung, Assimilieren, Einverleibung, Idealisierung, Schuldgefühl, Trieb, Kräfte, Verinnerlichung, Entladung etc.). Many terms are identical and we even find the same comparison of the world of Triebe with politics. Der asketische Priester plays the same role as the Überich in displacing the aggressive drives in the Ressentiment; even dreams are considered as a way towards understanding the various changes of the Triebbewegungen in culture (vgl. Morgenröte 119). For both, it is the same Instinkt (the structural principle of which is the Wille zur Macht or the Entstellungsprozesse) that works throughout the various levels and aspects of psyche and culture: the Ideal (art, morality, philosophy) originate on the same Libido (or Instinkte) as sex and war for instance. And both consider themselves as Interpreten, that read and listen to culture as a Text, which they view as a Symptom or Zeichensprache der Affekte. Lastly, it seems to me that their analyses go beyond the psychological, i.e. individual putting of the problem: for, as Zur Genealogie and Das Unbehagen show, especially with the concepts Herde, Überich, their problem is precisely that the individual and society oppose each other, as desire (Wunsch, Begierde) opposes the principle of Verinnerlichung, of Selbstlosigkeit, of Selbstverleugnung, of Entsagung and Versagung. Hence the possible attempt to compare Freud's Ananke with Nietzsche's amor fati. On the contrary, psychology in itself can but ignore that opposition, and it either artificially isolates the individual as a pure abstraction or tries to adapt him to the existent so-called „rules" or „laws" of society: in that sense, I'm afraid most of the pretendedly liberating „acting outs" might as well be expressions, not only of the individual, but of the neurotic desires that society has imposed on the individuals. But if these problems have been solved by psychology, then I readily agree to consider Nietzsche and Freud as something else as philosophers! If not, then I do acknowledge that one actually has to be „insane" (i.e. a philosopher!) to dare face that kind of problems. And Nietzsche did eventually turn insane, didn't he? Fischer: Vielen Dank, Herr Blondel. Die Punkte, die sie nun aufführen, liegen meinen Interessen näher, aber wenn Sie einfach nur von „Philosophie" sprechen, dann bin ich argwöhnisch. Ich weiß oft nicht, was jemand mit diesem Begriff eigentlich meint. Ich denke dabei gewöhnlich an die große Tradition des abendländischen Denkens von Piaton und Aristoteles bis zu Kant und
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Hegel. Aber die von Ihnen angedeuteten Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Konzeptionen der Kultur oder die Parallelen im methodischen Ansatz zwischen Nietzsche und Freud sehe ich auch, und ich halte sie auch für außerordentlich wichtig. Hier liegen bedeutende Aufgaben für eine vergleichende Forschung. Ich habe mich in meinem Vortrag ganz bewußt nicht auf dieses Gebiet vorgewagt. Mir lag an der Betonung der therapeutischen Dimension in der Beziehung Nietzsche-Freud. Baier: In diesem Zusammenhang sollte man auch den Aufsatz Nietzsche und Freud der beiden Bulgaren Christo Dimitrov und Assen Jablenski erwähnen. Er ist in der „Zeitschrift für psychosomatische Medizin und Psychosomatik" 6 erschienen und stellt die Verbindungen zwischen Freuds Metapsychologie 7 und dem her, was man wohl mit guten Gründen die Metapsychologie Nietzsches nennen kann. Der Aufsatz ist, nebenbei bemerkt, ein sehr schönes Indiz dafür, daß man sich auch im Ostblock sehr ernsthaft mit Nietzsche beschäftigt, wenn auch, wie hier, im geschützten Winkel der Psychiatrie. Gerhardt: Man merkt Ihren Formulierungen über die Philosophie an, daß Sie die Philosophen in der Runde provozieren wollen, Herr Fischer. Aber es würde jetzt zu weit führen, Ihre Einschränkung des Begriffs auf einen abgeschlossenen Bestand der Uberlieferung zu diskutieren. Hier muß die Gegenerklärung ausreichen, daß ich in der Philosophie gewiß mehr sehe als nur eine Geschichte des Denkens von Piaton bis Kant. Im übrigen steht bei jeder Beschäftigung mit Nietzsche der Begriff der Philosophie in Frage; eben darin liegt bereits ein wesentliches philosophisches Interesse in der Auseinandersetzung mit ihm. Nichts könnte deutlicher machen als gerade dieses Interesse, daß nicht nur bei Nietzsche, sondern auch nach ihm noch philosophische Fragen zu stellen sind. Im Anschluß an Ihr Referat würde ich lieber Ihr Verständnis von der Psychologie problematisieren. Haben Sie in Ihrem Vergleich die Psychologie nicht zu sehr auf die Perspektive der Individualpsychologie eingeschränkt? Mir scheint, daß man — insbesondere dann, wenn man Parallelen in den Werken Nietzsches und Freuds herausarbeiten will — den Standpunkt einer bloß auf das Individuum bezogenen Psychologie überschreiten muß. Herr Blondel hat 6 7
Jg. 13, 1967, S. 282-298. Zu dem von Freud selbst gelegentlich gebrauchten Begriff der Metapsychologie vgl. z. B. „Zur Psychopathologie des Alltagslebens", Kap. XII (Freud, Gesammelte Werke, Bd. IV, 287f.). Freud spricht da von der Metaphysik und von den Religionen als einer in die Außenwelt projizierten Psychologie und schließt die Bemerkung an: „Man könnte sich getrauen, die Mythen vom Paradies und Sündenfall, von Gott, vom Guten und Bösen, von der Unsterblichkeit u. dgl. in solcher Weise aufzulösen, die Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen." (Ebd. 288).
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ja mit seinen Hinweisen auf die psychologischen Analysen der Moral oder der Kultur auf Gemeinsamkeiten aufmerksam gemacht, die m.E. gerade aus psychologischer Perspektive nicht übersehen werden dürften. Figl: Zur Diskussion über die philosophischen Perspektiven der Freudschen Metapsychologie möchte ich auf die Arbeiten von WuchererHuldenfeld hinweisen. Herr Fischer hat einen Aufsatz dieses Autors zitiert und sich wohl auch in dem soeben geäußerten Urteil über die Philosophie darauf gestützt8. In seinen zahlreichen philosophischen Arbeiten über Freud hat er auch mehrfach auf das Verhältnis zu Nietzsche Bezug genommen. Unter diesem Gesichtspunkt verdienen insbesondere die Thesen eine große Beachtung, daß Freud die Willensmetaphysik Schopenhauers und Nietzsches synthetisierte und weiterführte, sowie daß er Nietzsche in seinen moralkritischen Intentionen sehr nahe kommt und ihm entscheidende Anregungen verdankt haben dürfte. 9 Reschke: Ich habe nur eine Anmerkung, die das Monitum von Herrn Gerhardt verstärkt: Wie wenig die individualpsychologische Fragestellung und der therapeutische Aspekt für sich ausreichen, um die Psychoanalyse Freuds angemessen zu beurteilen, lassen Hermann Glasers Seelenbilder einer Epoche erkennen. 10 In dieser Studie über Freud und das 20. Jahrhundert zeigt sich die große Bedeutung der Kulturanalyse für die theoretische Konzeption der Lehre Freuds überhaupt. Schon thematisch liegt hier eine beachtenswerte Nähe zu Nietzsche vor. Fischer: Ihre Einwände, Frau Reschke und Herr Gerhardt, sind sicherlich berechtigt. Das Studium der Kultur hat eine wichtige Funktion in den Lehren von Nietzsche und Freud. Nietzsche verdanken wir zahlreiche Anregungen auf diesem Feld. Mir ist dabei sogar besonders wichtig, daß uns Nietzsche hier auch praktische Anregungen gibt, vielleicht sogar Alternativen bereitstellt, die uns helfen, die Misere der Gegenwart und die Verzweiflung zu überwinden. Aber das alles betrachte ich nicht mit den Augen des Akademikers, der sich bloß für den Vergleich, für die Aufzählung von Gemeinsamkeiten oder Unterschieden interessiert, sondern ich setze da an, wo das Akademische aufhört, wo Geist und Körper zur leiblichen Einheit kommen, wo die Realisierung des 8 9
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S. S. 488, Anm. 26. A. K. Wucherer-Huldenfeld, Sigmund Freud als Philosoph, in: Wissenschaft und Weltbild 21 (1968) 171 ff., bes. 185f., bzw., ders., Zur Genealogie der Moral bei Sigmund Freud, in: Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie 22 (1974) 132ff., bes. 134. H. Glaser, Sigmund Freuds Zwanzigstes Jahrhundert. Seelenbilder einer Epoche. Materialien und Analysen. München u. Wien 1976.
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Ubermenschen beginnt. Zu der von Nietzsche eröffneten Perspektive gehört ja selbst die Uberwindung des bloß wissenschaftlichen Interesses. In den Universitäten und in einem bloß auf die Theorie ausgerichteten Studium werden Gefühle beiseite gedrängt. Leben, lebendiges, volles Leben kommt dort doch gar nicht vor. Man kennt es nur in seinen negativen Auswirkungen, in Magengeschwüren und anderen Gebrechen. Diesem sogenannten akademischen Leben hat sich Nietzsche widersetzt. Deshalb ist er mir wichtig. Deshalb liegt mir auch daran, nicht noch eine weitere theoretische Studie über Kultur und Kulturanalysen vorzulegen. In der Perspektive derartiger Studien ist Nietzsches Ubermensch nicht zu finden. Aber in der humanistischen Psychologie, in der aktiven Arbeit mit dem Menschen, in den Bemühungen, die leibseeliche Einheit des Menschen wiederherzustellen, ist vielleicht ein Experiment zu sehen, daß in die Richtung des Ubermenschen gehen könnte. In diesem Sinn ist der Gruppentrainer dem Ubermenschen möglicherweise näher als jeder andere. Diese Gruppentrainer treten doch oft auf wie kleine Cesare Borgias, wie Immoralisten: gemein und egoistisch. Übrigens, Herr Gerhardt, ich verstehe auch unter Uberlieferung der philosophischen Tradition mehr als Beschäftigung mit ihrer Geschichte. Zu ihr gehört Beschäftigung mit der Lösung oder Auflösung ihrer Probleme. Taureck: Für die altmodische Fragen, die ich jetzt stelle, Herr Fischer, mögen Sie mich vorab entschuldigen. Meine erste Frage betrifft die Rolle Alfred Adlers in dem Komplex Nietzsche-Freud. Ist Adlers Individualpsychologie in Ihrem Vortrag nicht zu kurz gekommen? Man kann in gewisser Hinsicht doch sagen, Adler habe enger an Nietzsche angeschlossen als Freud. Ich erinnere nur an die Aufnahme des Machtwillens bei Adler. Überdies habe ich gehört, daß Adler inzwischen in Amerika mehr gilt als Freud. Meine zweite Frage ist sehr speziell: Die in der Psychiatrie ja doch wesentliche Unterscheidung zwischen Psychose und Neurose — findet die sich eigentlich schon in irgendeiner Form bei Nietzsche? Ich weiß, daß insbesondere der Begriff der Neurose in der Psychiatrie umstritten ist und kenne aus Gesprächen mit Medizinern die Schwierigkeiten einer genauen Abgrenzung. Aber wenn wir einmal die fundamentale Differenz in der Verursachung annehmen, nach welcher die Psychose als ein endogenes somatisches Geschehen angesehen wird, die Neurose dagegen keine somatische Ätiologie hat: läßt sich dann bei Nietzsche eine analoge Unterscheidung ausmachen? Immerhin hat die Unterscheidung zwischen Geisteskrankheiten nach inneren und äußeren Ursachen eine lange Geschichte. Man könnte von der assyrischchristlich-gnostischen Tradition, die eine geistige Ursache, ein moralisches Verschulden annimmt, sprechen und davon die Hippokratische Tradition abheben, in der wenigstens zum Teil körperliche Ursachen vermutet werden. Bei
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Hegel z. B. sind beide Erklärungsrichtungen verknüpft11, und es wäre interessant, auch bei Nietzsche auf Spuren dieser Unterscheidung zu stoßen. Dann würde ich gern noch etwas über den Komplex der „Scham" wissen. Bei Nietzsche hat die Scham ja doch eine wichtige Funktion 12 . Bleibt davon bei Freud oder bei Adler irgend etwas erhalten? Fischer: Auf Ihre letzte Frage, Herr Taureck, kann ich leider nur wenig antworten. Die Rolle der Scham habe ich weder bei Nietzsche noch bei Freud genauer verfolgt, aber ich kann sagen, daß sie von beiden als repressiv aufgefaßt wurde. Damit kann die Scham aber auch höheren, das Uberindividuelle betreffenden Zielen dienen. Alfred Adler soll in meinem Referat zu kurz gekommen sein! Ich habe betont, daß Adler unter dem Einfluß Nietzsches gestanden hat und daß seine Analyse des nervösen Charakters Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht viel verdankt. Aber über mein Auswahlkriterium hat doch der Vortrag keinen Zweifel gelassen. Ich habe gesagt: „Freud wird allgemein als der weitaus bedeutendste, richtungsgebende moderne Psychologe anerkannt." Weil man dies so einschätzt, weil man Freud für den größeren Psychologen, für den größten seit Aristoteles hält, habe ich ihn ausgewählt. Dieses Urteil genügt mir. Ob dies so ist, daß dies so ist, will ich in diesem Zusammenhang gar nicht begründen. Freud erscheint als der Größere, und Adler ist sein Schüler. Er sitzt auf der Schulter des Lehrers. Deshalb habe ich ihn hier in den Mittelpunkt gestellt. Wenn man nun aber Adlers Begriff des Machtwillens zum Vergleich heranzieht, wie Sie es vorschlagen, Herr Taureck, dann muß man doch sogleich den großen Abstand von Nietzsche hervorheben. Machtwille und Machtgefühl haben bei Adler eine andere Funktion als bei Nietzsche. Der Wille zur Macht, wie ihn Zarathustra lehrt, ist etwas Positives, etwas, das zur Entfaltung kommt und kommen soll. Bei Adler gilt er dagegen als ein Defekt, der therapiert werden muß. Das hat mit Nietzsche nur noch wenig zu tun. Mit der Frage nach der Unterscheidung zwischen Neurose und Psychose führen Sie uns auf ein weites Feld. Wie umstritten ist doch diese Unterscheidung in der Psychiatrie und wie sehr auch in und durch die Humanistische Psychologie! Auch über Freuds Verwendung dieser Termini läßt sich
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Enzyklopädie § 408. „Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Rätsel und bunte Ungewißheiten versteckt hat." (FW, Vorrede; Schlechta II, 15, die Stelle fehlt übrigens in Schlechtas Index). Ich vermute, daß Nietzsche im Ausgang von Aristoteles, der die Scham nicht als Tugend, sondern als 116605 - also als Leibhaftes - denkt (Eth. Nie. IV, cap. 15), eine Möglichkeit sah, Vernunft und Sittlichkeit des Leibes zu formulieren. Die Platonische Definition der Scham als „Furcht vor dem Verlust des guten Rufes" («pößog &öoi;tag Definitiones 416, 1 vgl. Leges 6 4 7 a - b ) scheint er dabei zu meiden!
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streiten. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob sich bei Nietzsche Ansätze zu einer vergleichbaren Unterscheidung finden Baier: Karl Jaspers Allgemeine Psychopathologie enthält einen interessanten Exkurs über Nietzsche. Ein Hinweis auf die Unterscheidung zwischen Neurose und Psychose bzw. auf die beiden Erklärungstypen der Geisteskrankheiten findet sich dort nicht. Jaspers war Nietzsche-Kenner genug und überdies ein vorzüglicher Psychiater. Er hätte bestimmt vermerkt, wenn Nietzsche eine ähnliche Unterscheidung entwickelt hätte. Müller-Lauter: Ich möchte mich auf ein Thema beschränken, obgleich Ihr Vortrag, Herr Fischer, eine ganze Reihe interessanter Diskussionspunkte enthält. In dem von Ihnen herausgestellten Parallelismus zwischen Nietzsche und Freud wäre auch das Problem der Selbsterkenntnis zu nennen. Nach Freud ist Nietzsche auch insofern — ja sogar vor allem deshalb — ein großer Psychologe, als er in unübertreffbarer Weise sich selbst erkannt hat. Hier also liegt eine von Freud selbst hervorgehobene Gemeinsamkeit, vielleicht aber auch der Ansatz zu einer folgenreichen Differenz. Denn es ist ja so, daß Nietzsche, zumindest von einer bestimmten Zeit an, sich gegen jede Intention auf Selbsterkenntnis gewandt hat. Er hielt sie nicht nur für kaum möglich, sondern vor allem für gefährlich, ja für schädlich. Es geht ihm ausdrücklich darum, sie zu vermeiden. In Nietzsches Verständnis führt der Versuch der Selbsterkenntnis, z. B. die Selbstreflexion im Sinne einer Selbstbespiegelung, jedenfalls zu einer Schwächung des Selbst. Meine These ist nun die: Nietzsche ist insofern tatsächlich ein großer Psychologe, als er über die sich eröffnenden Möglichkeiten von Selbsterkenntnis, damit auch der psychoanalytischen Erkentnismöglichkeiten, hinausgesehen hat und noch deren Gefahren ins Auge gefaßt hat. Nietzsches psychologischer Blick drang bereits zu Gefahren vor, die heute nach der sprunghaften Entwicklung einer mit Hilfe der Selbsterkenntnis arbeitenden Psychotherapie nicht mehr zu übersehen sind: Die ständig auf das Selbst zurückgebogene Erkenntnis läßt den Einzelnen nicht nur sehr leicht therapiebedürftig erscheinen, sondern er bedarf dann in der Tat auch sehr bald der Therapie. Diese gegenwärtige Erfahrung hat Nietzsche bereits psychologisch vorweggenommen. Ist er in diesem Punkt nicht ein größerer Psychologe als Freud? Oder hatte Freud selbst auch ein Bewußtsein oder eine Ahnung von den Gefahren der Selbsterkenntnis, — etwa wenn er sich der Analyse durch den Schüler C. G. Jung immer wieder entzog, die er doch gewünscht hatte? — Eine kritische Sicht der Selbsterkenntnis läßt vielleicht auch jene Gruppentrainer, die Sie, Herr Fischer, mehr oder weniger ernsthaft als Übermenschentypen in unserer Zeit angesprochen haben, in einem anderen Licht erscheinen. Sie erfüllen eher die Funktion, die Nietzsche dem asketi-
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sehen Priester zugeschrieben hat, d. h. sie sind diejenigen, die den Fortgang des Willens zum Nichts nur verlangsamen, während sie vorgeben, zur Gesundheit und zur Fruchtbarkeit zu führen. Das Kranksein im Sinne Nietzsches bekämpfen sie so wenig, daß sie auf ihre Weise krank machen. Der asketische Priester gewinnt seine Überlegenheit in der Herde, also inmitten der Schwachen, durch das Geltendmachen eines restriktiven Selbstbezugs, in dem die Selbsterkenntnis eine zentrale Rolle spielt. Salaquarda: In direktem Zusammenhang mit dem Problem der Selbsterkenntnis möchte ich noch einmal kurz auf Nietzsches und Freuds Verhältnis zur Philosophie zurückkommen. Es ist doch aufschlußreich, daß Freud vor allem in seiner späteren Zeit, z. B. in Die Zukunft einer Illusion, die Religion als eine Illusion bezeichnet. Wenn man weiß, daß Freud Religion und Metaphysik nahe nebeneinander gestellt hat, dann wird auch die Parallele zu Nietzsche offenkundig, der ja den Illusionscharakter der Metaphysik immer wieder hervorgehoben hat. Beide sehen unerfüllbare Wünsche als die eigentlichen Triebkräfte hinter Religion und metaphysischer Philosophie an. Den Zusammenhang mit dem Problem der Selbsterkenntnis sehe ich nun bei den beiden darin, daß sich ihr theoretisches Interesse nicht auf den mangelnden Wahrheitsgehalt der Illusion konzentriert, sondern sie fragen, wie man mit dieser Einsicht fertig wird. Freud plädiert dafür, die Erkenntnisansprüche zurückzuschrauben und bescheidener zu werden. Hier kommt er Nietzsches Skepsis sehr nahe. Wer die Illusion durchschaut, der muß dieses Wissen auf sich nehmen und bescheidener werden. In dieser kollektiven Selbsterkenntnis, in der Erkenntnis der menschlichen Grundsituation sehe ich also Gemeinsamkeiten. Freilich habe ich Selbsterkenntnis hier in einem viel weiteren Sinn gebraucht als Herr Müller-Lauter. Seine Frage nach der psychologischen Selbsterkenntnis bekommt aber vor dem Hintergrund der beide Denker verbindenden Skepsis eine schärfere Kontur. Zweitens möchte ich Ihrer Einschätzung Alfred Adlers widersprechen, Herr Fischer. Bei aller Anerkennung der Originalität der Leistung Freuds wird man doch zugeben müssen, daß Adlers Werk in der Entwicklung der Psychoanalyse und der psychoanalytischen Techniken eine große Rolle gespielt hat. Denken Sie nur an einen heute so einflußreichen Schriftsteller wie Erich Fromm. Ohne den Einfluß Adlers sind dessen Positionen gar nicht zu verstehen. Auch Freud selbst ist von Adler nicht unabhängig, so deutlich er sich im Kern auch von dessen „Individualpsychologie" abgesetzt hat. Für den Vergleich mit Nietzsche ist dieser zentrale Differenzpunkt freilich sehr interessant, denn er betrifft das Verhältnis zur Teleologie. Freud hat jede Annahme einer Zielgerichtetheit organischer oder psychischer Prozesse strikt abgelehnt. Hier war Adler anderer Meinung. Wir wissen von Lou Andreas-
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Salomé, die anfangs sowohl den Kreis um Adler als auch den Schülerkreis um Freud besuchte, wie groß die Spannungen in dieser wissenschaftstheoretisch bedeutsamen Frage zwischen beiden Männern waren. 13 Lou ist in diesem Punkt, wenn man so will, Nietzsche treu geblieben und hat sich für Freud entschieden. Auch Adlers Psychologie des Machtgefühls würde ich anders beurteilen als Sie, Herr Fischer. Wenn ich seine Konzeption richtig verstehe, so geht er doch von einer grundlegenden anthropologischen Bestimmung des Menschen als eines mit Mängeln und Schwächen versehenen Wesens aus. Hierbei kommt er jüngeren anthropologischen Aussagen bereits sehr nahe. Im Machtwillen sieht er nun die Antriebskraft, welche die Mängel kompensieren kann. Insofern gibt auch Adler dem Machtstreben eine positive Aufgabe. Man kann daher nicht sagen, er behandele den Machtwillen wie einen Defekt, der am besten ganz wegtherapiert werden sollte. Die Therapie des Machtstrebens bezieht sich doch lediglich auf Verzerrungen und Fehlentwicklungen, die z.B. bei mangelnder sozialer Einbindung auftreten. Wenn aber der Wille zur Macht als ganzer fehlte, dann wäre der Mensch nicht mehr lebensfähig. Der Wille zur Macht gehört somit notwendig zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen. Sieht man es so, dann wird man nicht bestreiten können, daß hier zumindest eine interessante Parallele zu Nietzsches Lehre vorliegt.
Fischer: Adler und Nietzsche, Herr Salaquarda, das wäre ein Thema für sich. Es gibt viele Berührungspunkte. An Adler stört mich einiges. Er scheint den Dingen nicht genügend auf den Grund zu gehen. Er akkomodiert sich. Wo er wichtig ist, da liegt er auf dem Weg zur Humanistischen Psychologie, auf dem Weg, der von der Freudschen Psychoanalyse zur Gruppentherapie führt, ja zur Selbsthilfe, denn diese ist ja die langfristige Konsequenz der Entwicklung, die vom auf der Couch liegenden Patienten zum Klienten, zum Gruppenmitglied einer Selbsthilfegruppe führt. Die Frage von Herrn Müller-Lauter erscheint mir sehr wichtig, und ich kann sie nur zu einem Teil beantworten. Die in der Frage zugrunde gelegte Einschätzung der Rolle der Selbsterkenntnis in der Psychoanalyse beruht, glaube ich, auf einem Mißverständnis, wenn Selbsterkenntnis mit Selbstbespiegelung gleichgesetzt wird. Bloße Selbstbespiegelung wird sowohl von Freud als auch von der Humanistischen Psychologie abgelehnt. Man könnte sogar formulieren, daß der wesentliche Fortschritt jeder Therapie gerade darin besteht, daß man von Selbstbespiegelung zu einer Verbindung mit seinem eigenen Gefühl kommt, "to get in touch with oneself", wie das so schön auf 13
Lou Andreas-Salomé, Mein Dank an Freud. Offener Brief an Prof. S. Freud zu seinem 75. Geburtstag, Wien 1931.
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englisch heißt. Wenn man die Psychoanalyse oder überhaupt die nicht-medikamentösen Therapien insgesamt als eine Art Selbstbespiegelung ansieht, dann gibt man zu erkennen, daß man sie sozusagen nur von außen beurteilt. Von innen her, aus der Perspektive des Therapeuten oder Klienten gesehen, sind es gerade Selbstbespiegelung und Selbstdarstellung, die auf schmerzhafte Weise abgebaut werden müssen. Inwieweit man dann noch sagen kann, Nietzsche habe sich mit seiner Einschätzung der Selbsterkenntnis als der größere Psychologe erwiesen, wäre zu prüfen. Ihrem sehr interessanten Vergleich des Gruppentrainers mit dem asketischen Priester müßte man im einzelnen nachgehen, Herr Müller-Lauter. Gerhardt: Nachdem Herr Salaquarda schon die notwendige Korrektur zur Rolle des Machtwillens bei Alfred Adler angebracht hat, möchte ich nur noch an eine Parallele in der Selbsteinschätzung der beiden Theoretiker, Nietzsche und Freud, erinnern. Auch auf den interessanten Mittelteil des Vortrags, in dem Sie, Herr Fischer, die einzelnen von Nietzsche ausgehenden Anregungen aufführen, möchte ich jetzt nur mit der Bemerkung eingehen, daß man wohl noch genauer benennen müßte, was hier direkt von Nietzsche übernommen wurde, bei welchen Entdeckungen wenigstens der Anteil Nietzsches bewußt war und was sich dem Zeitgeist der Jahrhundertwende verdankt. — Freud hat in seiner kurzen Betrachtung über Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse von den drei schweren Kränkungen der menschlichen Eigenliebe gesprochen. Die erste, die kosmologische Kränkung erfolgt durch die Erkenntnis des Nikolaus Kopernikus, der die narzißtische Illusion von der bevorzugten Stellung der Erde im Kosmos zerstört. Die biologische Kränkung geht von Darwin aus, der die Sonderrolle des Menschen unter den Lebewesen infrage stellt. Die dritte Kränkung ist psychologischer Natur. Sie wird von Freud als die empfindlichste bezeichnet, weil hier das menschliche Ich selbst zu Fall kommt und das Bewußtsein seine beherrschende Stellung verliert. Diese Kränkung wird von der Psychoanalyse ausgesprochen, und es ist unschwer zu sehen, in welche Ahnenreihe Freud sich stellt. Freud reklamiert diese dritte schmerzhafte Selbstaufklärung des Menschen aber nicht für sich allein. Er sagt, die Psychoanalyse habe den folgenschweren Schritt der Entthronung des Ichbewußtseins nicht zuerst gemacht. Und nun erwartet man den Namen Nietzsches. Aber dieser Name wird nicht genannt, sondern es fällt nur der Schopenhauers. Schopenhauer, so heißt es, habe den unbewußten Willen thematisiert und die Bedeutung des Sexualtriebes herausgestellt. Aber gerade nach dieser Begründung und nach allem, was wir von Freud wissen, ist es undenkbar, daß er in diesem Zusammenhang nicht an Nietzsche gedacht hat. In jedem Fall gibt die von der Psychoanalyse gezogene Traditionslinie in die Wissenschafts- und Philosophiegeschichte der Parallele zwischen Nietzsche und
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Freud eine historische Dimension. Nietzsche und Freud stehen gemeinsam an einer neuen Stufe der Selbstaufklärung der Menschheit, vollziehen gemeinsam einen weiteren, einen schmerzhaften und doch nicht ohne Hoffnung gesetzten Schritt der Selbsterkenntnis der Gattung. Die wissenschaftsgeschichtliche Parallele erleichtert vielleicht aber auch die Urteilsbildung über die Differenz zwischen Nietzsche und Freud. Wir brauchen nur zu fragen, ob Nietzsche sich mit einer so bescheidenen Ahnenreihe zufrieden gegeben hätte. Man muß schon sehr weit zurückgehen, um auf jemanden zu stoßen, dessen Werk Nietzsche hätte fortsetzen wollen. Im übrigen dominiert bei Nietzsche der Gestus der Umkehr. Er bestimmt sich als Antipode Piatons. Selbst auf Zarathustra beruft er sich als auf einen Verkünder der Wende. Freud ist hier nüchterner. Er hat sich klaglos in der Immanenz eingerichtet und beschränkt sich auf eine Aufgabe. Wenn man liest, mit welcher Energie, mit welcher Besessenheit er sich darum kümmert, daß es nur ja eine große Aufgabe ist, dann kann man den Eindruck gewinnen, Freud, der gänzlich auf die Positivität des Daseins bezogene Arzt und Lehrer, entspreche einem Menschentyp, den Nietzsche für die Zukunft gefordert hat. Sobrevilla: Ihr Referat, Herr Fischer, war für mich durch die Fülle des Materials und der Beobachtungen beeindruckend; in methodischer Hinsicht möchte ich aber Bedenken anmelden. Sie wollten zunächst Ähnlichkeiten zwischen Nietzsche, Freuds Psychoanalyse und der von Ihnen genannten Humanistischen Psychologie aufzeigen, zum Schluß haben Sie dann die Möglichkeiten einer „nietzscheschen Psychologie" erwogen. Was die Ähnlichkeiten angeht, so halte ich Ihre Belegversuche für fragmentarisch und fragwürdig. Wenn Sie z. B. auf die Bioenergetik zu sprechen kommen und meinen, das ähnele Nietzsches Bemerkung in Ecce homo (Warum ich so gute Bücher schreibe 5): „Man muß fest auf sich sitzen, man muß tapfer auf seinen beiden Beinen stehen, sonst kann man gar nicht lieben", so ist der Vergleich doch wohl schief, oder ist jedenfalls unzureichend begründet; denn Nietzsche meint offensichtlich mit „auf sich sitzen" und „auf seinen beiden Beinen stehen" etwas Metaphorisches und nichts Somatisches. Angesichts Ihrer Bemerkungen über die Möglichkeit einer „nietzscheschen Psychologie" sehe ich zwei Gefahren: Die eine für die Philosophie ist die Reduktion von Nietzsches Ansätzen auf Psychologie überhaupt. Zwar hat Nietzsche streckenweise, besonders in der zweiten Periode seines Schaffens, seine Philosophie als Psychologie bezeichnet, aber sicher nicht in demselben Sinn, in dem man heute Psychologie versteht. Für die Psychologie dagegen ist die Gefahr, daß Nietzsches „Grundbegriffe" von der Forschung bis heute nicht eindeutig gemacht werden konnten, wie diese Tagung zur Genüge gezeigt hat, z. B. eben der Begriff des ,Ubermenschen'. Wenn man nun Nietzsches
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Philosophie für die Psychologie nützlich machen möchte, in welchem Sinne soll man denn seine „Begriffe" nehmen? Und da einige von ihnen, wie gerade der ,Übermensch', so viel Unheil früher gestiftet haben: würde man nicht bei der Operationalisierung von Nietzsches „Begriffen" in Psychologie und Psychotherapie die Patienten erheblichem und voraussehbarem Schaden aussetzen? Und daß Sie, Herr Fischer, an eine solche Anwendung denken, geht klar aus Ihrem Referat hervor, in dem Sie den „Gruppentrainer als Ubermensch, als Weg zum Ubermenschen" auffassen. McGinn: I would like to make a comment on Nietzsche's psychological influence in another area of modern life: industry. Nietzsche is indirectly exercizing a growing influence in certain industrial circles through his concept of the basic force of life (i. e., the Will to Power). In several places in Also Sprach Zarathustra the idea is put forth that life is something which wants to create beyond itself, to overcome itself, (e. g., Book 1/4 and Book 11/12) This is tantamount to saying that the tendency toward self-overcoming is an inherent one, eine organische Neigung. This idea seems to have been taken over and reformulated by the influential American psychologist Abraham H. Maslow. 14 Maslow claims that there are „grundlegende menschliche Bedürfnisse", basic human needs: physiological needs, security and survival needs, „belongingness" needs, „esteem" needs, and finally — and here we see Nietzsche's influence — „self actualization" needs (Selbstverwirklichungsbedürfnisse). (Maslow quotes Nietzsche on „Becoming what one is.") The most important point Maslow makes about self-actualization is that it is instinctoid, like the will to Power, and not a product of socialization. The portraits Maslow presents of self-actualizing individuals recall Nietzsche's Notion of „grosse Gesundheit." The connection to American industry comes about through the industrial psychologist Douglas McGregor, a scholar strongly influenced by Maslow's theory of basic human needs. McGregor formulated what he called „Theory X" and „Theory Y" 15 , alternative theories of human nature associated with different management strategies for dealing with problems of worker motivation in industry. In the traditional theory, Theory X, workers are seen as needing to be firmly controlled and in need of strong discipline and authority, as being forever on the verge of rebellion. Theory Y, McGregor's Maslow-influenced view, assumes that at bottom workers yearn to grow and develop their potential and will do so if given the chance. Here we sense faint echoes of Nietzsche's idea of self-overcoming, his notion of life-as-a-force14
15
Abraham H . Maslow, Motivation and Personality (Harper and Row: New York, 1970), 2nd edition. Douglas McGregor, The Human Side of Enterprise (McGraw-Hill: New York, 1960).
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Kurt Rudolf Fischer
which-wants-to-grow-beyond-itself. As a result of the favorable reception of Theory Y in some progressive circles of American industry various kinds of „worker enrichment programs" have been developed, offering education and other opportunities for creative development within the Company setting. Fischer: Ihre vielen wichtigen Anregungen sind so beschaffen, daß man sie nur mit neuen Referaten beantworten könnte. Besonders gilt das für die mehrfach angesprochene Rolle Alfred Adlers, für das Problem der Selbsterkenntnis, für die Kulturpsychologie und erst recht für den ganzen Komplex der Beziehungen zur philosophischen Tradition. Ich erinnere an den ersten Satz von Walter Kaufmanns Referat bei der letzten Tagung: „Nietzsche sah sich als den ersten großen Psychologen, aber diese Seite von Nietzsche ist weitgehend ignoriert worden, vor allem von den Philosophen." 16 Auf diesen Teilaspekt mußte ich mich beschränken, und dies ist bereits mehrmals von mir angeführt worden. Dies betone ich abschließend auch gegenüber Herrn Sobrevilla, der mich vor zwei Gefahren in der Verbindung des „Ubermenschen" mit dem Gruppentrainer warnt. In meiner Beschränkung auf die psychologische Perspektive sollten Sie keine Reduktion der Philosophie auf Psychologie im althergebrachten Sinn beargwöhnen. Im gegebenen Zusammenhang bemühe ich mich, die psychologischen Probleme zu erkennen und überlasse den Philosophen die philosophischen Fragen, wenn es solche gibt. Auch die zweite Gefahr, daß ich Nietzsches weiten Begriff des Ubermenschen unzulässig verenge, braucht nicht heraufbeschworen zu werden. Ich meine doch etwas sehr Einfaches, nämlich daß der Weg zum Ubermenschen nur betretbar wird, wenn es gelingen sollte, Intellekt, Geist, Seele, Körper, Gefühl und Wille und was man noch da anführen könnte, zu vereinen. Der Mensch muß richtig und wahrhaft fühlen lernen, und dann kann er auch wesentlich zu denken beginnen. Daß dieses Experiment mit Gefahren verbunden ist, darüber besteht kein Zweifel, und wie sollte es auch anders sein. Und wenn ich die Möglichkeit einer Verbindung von Fühlen und Denken im Gruppentrainer sehe, dann besteite ich diese Gefahr keineswegs. Ich habe meinen Vergleich — wie richtig bemerkt — nicht ohne, aber jedenfalls auch nicht nur mit Ironie angestellt. Auf die Möglichkeit zur Veränderung des Bewußtseins unter Einbeziehung der Bedürfnisse eines gesunden Leibes möchte ich hinweisen. Im Gruppentrainer, beziehungsweise in dem erfolgreich (gruppen)therapierten Menschen — ich denke da auch besonders an die körperorientierten Therapien, an Wilhelm Reich, an Alexander Löwen und an John Pierrakos, die in Verbindung mit Nietzsche ja weit wichtiger wären als Alfred Adler — sehe ich eine Möglichkeit leib-seelischer Einheit oder eine Verbesserung des Zwistes 16
Nietzsche-Studien 7, 1978, S. 261.
Diskussion
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zwischen Körper und Seele. Ich denke hier an einen großen Schritt, der zu machen wäre, von einem Schritt in eine utopische Gesellschaft — manche Gruppentherapeuten haben ja geglaubt, daß dieser Schritt nur innerhalb und mit einer neuen Gesellschaft zu machen wäre, z.B. hat Perls zuletzt einen Kibbuz gegründet und auch Esalen in Kalifornien lag ja ein solches, oder ein ähnliches Prinzip zugrunde —, in der es u.a. keine Ausbeutung des eigenen Körpers mehr gibt. Ob es eine solche Gesellschaft einmal geben wird, ob sich unsere Gesellschaft in diese Richtung bewegt oder nicht, daß weiß ich nicht. Nietzsche hat schon, wie später Freud, wie Werner Ross in seiner NietzscheBiographie vermerkt, das „Bewußtsein . . . nicht mehr als Erkenntnisstation, sondern als Gefängnis" betrachtet. 17 Dies möchte ich abschließend gerade vor Ihnen, vor Universitätsprofessoren, hervorgehoben wissen.
17
Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart 1980, S. 373.
ERIC BLONDEL
VOM N U T Z E N U N D N A C H T E I L DER SPRACHE FÜR DAS VERSTÄNDNIS NIETZSCHES: NIETZSCHE U N D DER FRANZÖSISCHE STRUKTURALISMUS
„ D e r f r a n z ö s i s c h e [Genius] verdünnt, vereinfacht, logisirt, putzt auf." ( K G W VIII 2, 9 [5]) „Frankreich [hat] immer eine meisterhafte Geschicklichkeit gehabt [. . .], auch die verhängnisvollen Wendungen seines Geistes in's Reizende und Verführerische umzukehren [. . . ] " (Jenseits von Gut und Böse § 208)
Der sogenannte Strukturalismus gilt noch immer in Frankreich als das endgültige Wort auf dem Gebiet der Philosophie und der Interpretationsmethode. Aber bezeichnet dieses viel verwendete Wort einen einzigen Begriff? Gibt es im strengen Sinne strukturale Interpretationen der Texte Nietzsches? Was sollen die sogenannten strukturalistischen Lektüren Nietzsches bedeuten? Was bringen sie Neues? Und mit besonderer Rücksicht auf Nietzsche, ist der Strukturalismus eine neue Interpretationsmethode, eine Philosophie oder eine Ideologie? Und in welchem Maße wird hier Nietzsche vielleicht als Strukturalist „zurechtgemacht", d. h. umformuliert und übersetzt, um für eine philosophische Problematik einzustehen, welche, sein Prestige benutzend, sich auf dem Markt einstellen und ihre Schwächen als philosophisch und wissenschaftlich schlecht fundierte Ideologie verbergen möchte? In diesem notwendig begrenzten Rahmen will ich historisch und erkenntnistheoretisch die Grundzüge dieses „Strukturalismus" skizzieren, um seinen Bereich und seine Grenzen für die Interpretation der Philosophie Nietzsches und die Lektüre seiner Texte philosophisch zu diskutieren.
I. 'Was heißt „struktural"* Strukturale Analyse und Strukturalismus
überhaupt
Paradoxerweise gibt es in Frankreich keine streng strukturale Interpretation von Nietzsches Texten, außer vielleicht als Skizzen in sehr begrenzten Bereichen. Das Wort „Strukturalismus" beruht also auf einem Mißverstehen
Vom Nutzen und Nachteil der Sprache
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des Begriffs Struktur und wurde tatsächlich von den mass media geprägt. Statt einer wirklichen Anwendung der strukturalen Analyse, findet man hier in der Tat sogenannte strukturalistische Interpretationen Nietzsches, d. h. Arbeiten, die man richtiger teils als Semiologie, teils als philosophische Übertragung der Postulate der strukturalen Wissenschaften bezeichnen sollte1. Aber was heißt „struktural"? A. Im weiteren Sinn könnte man jede Analyse eines Werkes (oder irgendeines anderen Gegenstandes) als struktural bezeichnen, die eine Struktur, d. h. ein Netz innerer Verhältnisse in ihm erscheinen läßt, welche bestimmte Elemente miteinander verbinden.2 Es bleibt aber hervorzuheben, daß im Wort „Struktur" (im Unterschied zu anderen Wörtern wie z. B. Form, Gestalt, Ordnung, Zusammenhang usw.) einbezogen ist, daß die Natur dieser Elemente fast immer für ihren Wert im Rahmen des Systems bzw. der Struktur gleichgültig ist, und daß die Struktur a) a minimo die Idee der bloßen Betrachtung innerer, logischer, rein begrifflicher Verhältnisse bezeichnet; b) in den meisten Fällen für eine unbewußte, verborgene oder heimliche Architektur (von Begriffen, aber öfter noch von Bildern, Zeichen, Metaphern usw.) steht. Beispiele dafür: die „Logik" des Unbewußten bei Freud, das System der Sprache (langue) bei Saussure, die Verwandtschaftsregeln bei LéviStrauss, die Metaphorik bei einem Dichter. c) dasjenige ist, was den Elementen ihren Sinn, ihren Wert, ihren begrifflichen Inhalt verleiht, ganz abgesehen davon, was sie an sich bedeuten mögen. Nun wurde in Frankreich in den letzten zwanzig Jahren das Wort „Struktur" 3 in ziemlich verschiedenen Bedeutungen gebraucht, die man auf folgende Weise einteilen kann:
1
Man könnte also andere Arbeiten, die nicht strukturalistisch genannt worden sind und in der Tat semiologisch-philosophisch sind, ebensogut als „struktural" bezeichnen, insofern sie die Grundrisse einer semiologischen Struktur einiger Metaphern bei Nietzsche entwerfen: z. B. G. Bachelard: „Nietzsche et le psychisme ascensionnel", in L'air et les songes (5. Kap.); E. Blondel: „Nietzsche: la vie et la métaphore" (Revue philosophique de la France et de l'Etranger, 1971, 3) (übersetzt ins Englische als „Life as Metaphor", in: The New Nietzsche, New York 1977, S. 1 5 0 - 1 7 5 ) ; und „Les guillemets de Nietzsche", in: Nietzsche aujourd'hui?, Band 2, Paris 1974.
1
Martial Gueroult (Descartes selon Vordre des raisons), Victor Goldschmidt (Les dialogues de Platon. Structure et méthode dialectique), Jean Granier (Leproblème de la vérité dans laphilosophie de Nietzsche), unter anderen, wollten mit dem Wort Struktur darauf hinweisen, daß sie sich nur mit der inneren, begrifflichen, synchronischen Architektonik des Denkens Descartes', Piatons oder Nietzsches und nicht mit der historischen Entwicklung ihres Denkens beschäftigten. Das Wort Struktur wurde oft verwendet in den Versuchen, semiologische Systeme verschiedener Art zu bilden: z. B. in den Werken von Bachelard oder später von Jean-Pierre Richard, Jean Rousset und Jean Starobinski („psychanalyse des éléments", „critique
3
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B. Streng genommen und im engeren Sinn nennt man struktural eine Analyse wie die von Lévi-Strauss in der Anthropologie (ich beschränke mich hier auf das zur Erklärung des Nietzsche-Strukturalismus Nötige). 1. Diese strukturale Analyse (Les structures élémentaires de la parenté; Anthropologie structurale) geht von den Arbeiten Saussures und Jakobsons in der Sprachwissenschaft aus, und zwar zeigt sie in den Gesellschaften, die sie untersucht, Systeme von Beziehungen zwischen Elementen auf, die, ähnlich wie die Phoneme in der Phonologie, an sich keine natürliche bzw. immanente Bedeutung besitzen, sondern in differentiellen Oppositionen stehen und nur Sinn tragen, insofern sie sich von einem Gegenelement absetzen. Man bezeichnet als Struktur das System der Regeln der Opposition der Elemente, das das Funktionieren einer Gesellschaft, einer Sprache, eines Textes im Besonderen, das einer Kultur im Allgemeinen willkürlich (arbitraire) bestimmt. Nach Lévi-Strauss wird nämlich die Gesellschaft, soweit es sich um Verwandtschaftsbeziehungen handelt, ebenso wie die Sprache, nicht von Gesetzen regiert, die man in den notwendigen Bestimmungen der Geschichte oder der Natur (sei sie biologisch oder psychologisch verstanden) finden kann, sondern sie strukturiert sich gemäß bestimmten, aber nicht natürlich begründeten, also „kulturellen" Austausch- oder Kommunikationsbeziehungen, die denen der Sprache vergleichbar sind. Deren Elemente, an sich ganz inhaltlos, entnehmen ihren Wert (valeur) lediglich dem System, an das sie gebunden und in dem sie entgegengesetzt sind, gemäß einer sozusagen willkürlichen Ordnung, d. h. hier einer Ordnung, die von keiner Natur oder keinem Sinn außerhalb des Systems bestimmt wird. 4 Mit diesem wichtigen Begriff „Willkürlichkeit", den sie aus der Analogie mit der Sprache („arbitraire du signe") ableitet, definiert die strukturale Analyse das, was sie (in Gegensatz zum Begriff Natur) „culture" nennt, nämlich das, was an sich keinen Sinn, keine Natur, keine Essenz, kein Sein besitzt. Den Elementen eines Kultursystems (Gesellschaft, Sprache, Text usw.) wird ihr Sinn notwendig wenngleich in Abhängigkeit von ihrer eigenen biologischen, physiologischen Natur aus purer Konvention
4
thématique", „structures littéraires"), von André Green oder Charles Mauron (psychoanalytische Literaturkritik und -Philosophie), von Lucien Goldmann (marxistische Literaturkritik), oder von Roland Barthes (Studien über die semiologischen Systeme der Literatur oder der Gesellschaft sprachwissenschaftlicher, psychoanalytischer und marxistischer Art). Auch diese Arbeiten orientieren sich noch mehr an der Synchronie als an der Diachronie. Aber im Gegensatz zu den vorher erwähnten Versuchen, beschäftigen sie sich nicht mit Begriffen, sondern mit Zeichen, Metaphern und Bildern. Nicht ihre Natur bzw. Essenz, sondern die Einrichtung des Systems bzw. der Struktur ist die „Ursache" der Bedeutung der Elemente: die Struktur fungiert wie Spinozas Deus als causa
immanens
(vgl. Eth., I, 18).
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(artefact) und nicht von irgendeiner Essenz der Dinge, sondern von dem besonderen Zusammenhang des Systems verliehen. Jedes Element wird in jedem anderen Zusammenhang einen anderen Sinn bekommen. Umgekehrt nennt man isomorphisch die Systeme, welche eine ähnliche Struktur haben, obwohl sie ganz verschiedene Elemente umfassen. Von daher ist folgendes Prinzip oder Merkmal für die strukturale Analyse kennzeichnend: die Möglichkeit der isomorphischen Übertragung der Struktur oder, besser gesagt, des Systems der Sprache (z. B. bei Lévi-Strauss) auf die Gesellschaft, eine Übertragung, die die Gleichwertigkeit der verschiedenen Austauschsysteme (von Gütern, Frauen, Mitteilungen) postuliert. Von daher kann man die mögliche Fruchtbarkeit einer formalen Wissenschaft annehmen, die weder äußerliche Ursachen, noch eine historische Entwicklung für die Untersuchung ihrer Gegenstände nötig hat, und sie nur als geschlossene Mengen von Zeichen, bzw. Bezeichnenden bestimmen will, deren Wert von ihrer Verbindung oder Entgegensetzung mit anderen abhängt und also für alle möglichen Arten von Systemen gelten soll. 2. Traditionell, aber fehlerhaft, nennt man strukturalistisch die freilich sehr verschiedenen Arbeiten Foucaults, Althussers, Lacans und Derridas und, in bezug auf unser bestimmtes Thema, einige Interpretationen Nietzsches von deren Anhängern. Strukturalisten nennt man sie, insofern sie nach dem Modell der strukturalen Sprachwissenschaft und Anthropologie die Begriffe des „Subjekts", des „Seins", der „Natur", der „Eigenheit" (propre) mehr oder weniger philosophisch in Frage stellen. Die Nietzsche-Interpreten (die wir von nun an trotz der terminologischen Ungenauigkeit als „Strukturalisten" bezeichnen werden) beanspruchen, die Philosophie Nietzsches von der Metaphysik bzw. von aller Ontologie zu „befreien", oder wenigstens abzukoppeln. Zunächst wollen sie die existentiellen (d. h. psychologischen, biographischen oder sogar marxistisch-historischen) Interpretationen Nietzsches, aber auch die rein begrifflichen, philosophischen Interpretationen (die für sie fast immer als „ontologisch" und „metaphysisch" gelten, insofern sie einen beständigen Sinn im Werke Nietzsches hervorheben) ausschalten. Deshalb liegt ihnen daran, Nietzsches Philosophie (oder besser gesagt seine „Texte") einerseits semiologisch zu studieren und andererseits (was für sie wichtiger ist) zu „dekonstruieren" (déconstruire), mit Hilfe der Modelle der strukturalen Analyse stricto sensu. Zum Zwecke dieser Kritik der Hauptbegriffe der „Metaphysik", knüpfen sie Nietzsches Kritik der Metaphysik an einige Begriffe der strukturalen Analyse und an die Freudsche und die Mansche Kritik der Moral, der Philosophie und der Ideologie an und benutzen dazu die Lektüren Saussures, Lévi-Strauss', Freuds und Marx', die Derrida, Lacan und Althusser vorgelegt haben. So ist das Werk Nietzsches als ein System von Zeichen „willkürlichen" Werts gebildet, ähnlich dem System der Sprache
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bei Saussure 5 oder dem metaphorischen Prozeß bei Jakobson und der Strukturen der Verwandtschaft bei Lévi-Strauss (oder, genauer gesagt, ähnlich der Rhetorik des Unbewußten bei Lacan, dem Spiel der „différance" bei Derrida und den Produktionsprocessen der „Theorie" von Marx bei Althusser). Mit einem Wort: da die oben genannten Lektüren sprachwissenschaftlich inspiriert sind, wird zum Beispiel Nietzsches Theorie der Triebe als Produktionssystem der Bezeichnenden umgelesen, weil die Kräfte nur als Bezeichnende erkennbar sind und, gleich den Zeichen der Sprache, keine Natur, kein Bezeichnetes an sich haben 6 . Die Strukturalisten glauben, durch jene wissenschaftlichen (strukturale Analyse) und diese antimetaphysischen bzw. antirationalen Modelle (Freud, Marx, Nietzsche und ihre sprachwissenschaftliche Interpretation) die Metaphysik der Essenz (Natur), die Illusion des Seins, die Ideologie des Subjekts und die von ihnen ontologisch genannten, d. h. die substanzifierten Inhalte der Philosophie Nietzsches ausgeräumt und die Dekonstruktion der Metaphysik in seiner Philosophie vorbereitet zu haben. Was die Semiologie betrifft, kann man sofort sagen, daß dieser interessante und erneuernde Entwurf leider kaum durchgefühlt wird, denn die sog. Strukturalisten, welche die Beiträge der historisch-kritischen Methode als durchaus metaphysisch und konservativ, als antiquiert betrachten, lesen ihren Nietzsche in mehr oder weniger genauen Ubersetzungen und kennen die deutsche Sprache, Kultur und Geschichte nicht immer genügend — wofür die Philologie sich manchmal an ihnen grausam gerächt hat 7 . Aber wie entwickelt sich in der Tat das Verhältnis der Strukturalisten zur strukturalen Analyse, und was ist ihr Beitrag für eine Nietzsche-Interpretation? Vorausgesetzt, daß das Wort Strukturalismus legitimiert ist, die Orientierungen und die methodologischen Entscheidungen einiger in der Tat sehr verschiedener Arbeiten zu bezeichnen, und ihre mehr oder weniger enge Filiation mit der strukturalen Sprachwissenschaft oder Anthropologie zu bestimmen, kann man doch wenigstens einige gemeinsame Züge unterstreichen und methodologische oder philosophische Postulate markieren, die den Strukturalismus als solchen charakterisieren. 1. Man betrachtet den Gegenstand als System (Menge von Elementen, deren Wert hervorgeht aus den Korrelationen, die diese Elemente nach bestimmten Identitäts- bzw. Differenzregeln eingehen). 5
6
7
Freilich ist Saussure selbst in bezug auf seine Theorie des Bezeichneten oft von den Strukturalisten kritisiert worden. Daher der polysemische Gebrauch der Wörter „ v a l e u r " (Wert), „ p u l s i o n " (Trieb), „ t r a v a i l " (Arbeit) bei den Strukturalisten. Vgl. R . R o o s , „Règles pour une lecture philologique de Nietzsche", in: Nietzsche aujourd'huif Paris 1973, Band 2, S. 283ff.
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2. Man nimmt seine Geschlossenheit an. 3. Man nimmt den Isomorphismus der Korrelation an. Woraus sich für die strukturalistische Theorie folgende Prinzipien ergeben, die sie aus dem phonologischen System und der allgemeinen Linguistik ableitet: a) Willkürlichkeit des Zeichens: in jedem isomorphischen System, in dem das Zeichen eingeschrieben wird, wird es einen verschiedenen Wert erhalten, ganz abgesehen von irgendeiner Natur oder irgendeinem möglichen Kausalverhältnis. Das ist die strukturalistische, linguistische Übertragung des Willens zur Macht. b) Daher kann der Strukturalismus die tatsächlichen Kausaherhältnisse (seien es Verhältnisse zu einer spezifischen inneren Natur, Verhältnisse zu bestimmten äußeren Elementen, insbesondere aber zeitliche Verhältnisse) ersetzen durch logische Verhältnisse innerhalb der gegebenen Systeme, die einer nur binären Logik gehorchen. c) Man besteht auf der Priorität des synchronischen Zustandes eines Systems gegenüber der Diachronie seiner aufeinanderfolgenden Zustände. d) Da die strukturale Analyse aus der Sprachwissenschaft stammt, wird der Strukturalismus, der isomorphischen Anwendung folgend, besonders methodologisch den Primat der Sprache behaupten, insofern sie als Modell der semiologischen Systeme überhaupt gilt, die der Strukturalismus zu bilden versucht. Jedes bezeichnende System wird also als eine „Sprache" betrachtet werden, wird sogar eine Sprache sein, und die methodologischen Begriffe werden der Sprachwissenschaft entlehnt. Daraus ergeben sich zwei fundamentale Begriffe, mit deren Hilfe der Strukturalismus ein doppeltes Spiel treibt: a) Er prahlt mit der Wissenschaftlichkeit und glaubt, die Philosophie (die er als „Metaphysik", als „Ideologie" überall mit Verachtung und insgeheim mit phobischer Furcht bekämpft) überwunden zu haben. So wird z. B. die Freud'sche Psychoanalyse „sprachwissenschaftlich" von Lacan übersetzt und umformuliert — mit Hilfe einiger Begriffe Hegels und Heideggers und der Linguistik Jakobsons. Das ist die Hegeische Seite des strukturalistischen Janus. ß) Mit der Willkürlichkeit des Zeichens, mit dem sogenannten „flottierenden" Signifikanten (le signifiant flottant) 8 und dem Isomorphismus beansprucht der Strukturalismus, dank dem Formalismus, die Wissenschaft wiederum in Frage zu stellen und ineins damit die Metaphysik, die Philosophie, die dann bei dieser Gelegenheit als Wissen von der Natur, den Essenzen und den Ursachen dargestellt wird. (In diesem Zusammenhang pointiert man das Spiel, die Entstellungen des Unbewußten und der Phantasie, wie sie die 8
Das Wort „flottant" bedeutet auch „schwankend": vielleicht mag man es selbst für die Grammatik und die philologischen Kenntnisse einiger Strukturalisten verwenden.
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Psychoanalyse untersucht hat. Meiner Meinung nach handelt es sich in den meisten Fällen um „wilde Psychoanalyse"). Das ist sozusagen die phantastische, Hamletsche Seite des Janus: hinter einer Art Aufklärung die Romantik. Jetzt kann man verstehen, auf welchem Fundament der sog. „Strukturalismus" aufgebaut ist. Insofern aber diese Theorie die Postulate der isomorphischen Übertragung übernimmt und selbst als „philosophische" Übertragung der strukturalen Wissenschaft bezeichnet werden kann, setzt sie sich der Gefahr der Ideologie aus. Das heißt zunächst, daß der Strukturalismus, indem er die impliziten philosophischen Postulate der strukturalen Analysen stricto sensu ins philosophische Feld einbringt, jenseits des wissenschaftlichen Feldes die philosophische Gültigkeit der heuristischen Prinzipien der strukturalen Analyse durchsetzt und damit unter den Namen Struktur oder System unbewußt metaphysische Begriffe wie Gott, Subjekt, Natur, Sein und die metaphysische Rationalität des Systems nolens volens in die Interpretation Nietzsches wieder einführt. Außerdem ist dem Strukturalismus die Wissenschaftlichkeit (wenigstens als Prinzip der Kritik der Metaphysik) absolutes Prinzip, insofern er sich der strukturalen Analyse bedient und die „Theorie" aufwertet: doch nur Prinzip, und nicht Grundlage seiner analytischen Praxis. Die Regeln der strukturalen Methode werden in die Philosophie Nietzsches grundsätzlich hineingelesen, aber sie werden selten für Nietzsches Texte fruchtbar gemacht. Das heißt, daß das Prinzip des Isomorphismus zur unbewußten Strategie einer generellen Exponierung der Wissenschaftlichkeit (wohlgemerkt nicht der Wissenschaft) in die Philosophie und zur Bedingung der Reduktion ihrer auf eine bloß sprachliche Problematik wird. Demgegenüber beschränkte sich die wissenschaftliche strukturale Methode in ihrer Wirksamkeit, Fruchtbarkeit und Strenge innerhalb ihrer eigenen Grenzen, und sah von der philosophischen Anwendung ihrer Prinzipien jenseits ihres Gegenstandsbereiches ab. Durch das absolute Prinzip der Wissenschaftlichkeit ist der Strukturalismus immer schon in die metaphysische Rationalität verstrickt — insbesondere mit dem noch spinozisch-hegelschen Isomorphismusprinzip —, obwohl er sie zu entschädigen glaubt, indem er die Phantasie und die Willkürlichkeit andererseits (z. B. durch eine psychoanalytische Semiologie) anruft. Wenn aber die Semiologie philologisch, d. h. wissenschaftlich fraglich und deshalb gescheitert ist, so bleibt zu fragen, „ o b er überhaupt noch Etwas in den Händen hat" 9 . Diese Begriffe und methodologischen Entscheidungen findet man mehr oder weniger in dem, was Strukturalismus genannt zu werden pflegt: ideologisch mag man ihn deshalb nennen, weil er diese Prämissen der Wissen9
E H , Warum ich ein Schicksal bin § 8.
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Schäften als philosophische Prinzipien hypostasiert, sie aber dann nicht Philosophie nennt, sondern Wissenschaft. Obwohl er sich als „Dekonstruktion" aller Metaphysik vorstellt, verwechselt er auf metaphysische Weise die „Phänomena" der wissenschaftlichen Analyse mit dem „An-Sich" der Texte Nietzsches, die er untersucht, und nimmt die metaphysischen Postulate der Rationalität und des logischen Systems (die er doch zu kritisieren beansprucht) wieder auf. Paradoxerweise wird hier ein metaphysisches Modell, das der Systemswissenschaft, der Kommunikationstheorie und der Informationstheorie, im Grunde der Kybernetik dazu gebraucht, um die Metaphysik der „Eigenheit" umzuwerfen: da dieses Modell für die Herrschaft über die Natur, das Denken und die Sprache das cartesianische, also metaphysische Modell des cogito als Prinzips des Willens voraussetzt, scheint die Metaphysik nicht in großer Gefahr zu sein. 10 Was ist aber Nietzsche geschehen, der, im Dienst dieser Destruktion der Metaphysik, in das strukturalistische Geschäft verwickelt worden ist?
II. Der Strukturalismus und die Interpretation Nietzsches Der französische Strukturalismus schob sich in den Vordergrund des französischen intellektuellen Lebens, als der Nachkantianismus (Brunschvicg) und die Phänomenologie circa 1960—1965 allmählich ihre beherrschende Stellung verloren 11 . Nach den Strukturalisten (wie auf andere Weise nach Heidegger) hat sich Nietzsche ausschließlich mit der Metaphysik, d. h. ihrer Überwindung beschäftigt und diese Uberwindung durch einen neuen Begriff der Sprache formuliert. Kurz gesagt: es gäbe bei Nietzsche kein Sein, keine Natur, Essenz, Substanz, d. h. es gäbe kein Bezeichnetes, die Theorien und die Texte Nietzsches seien das Modell einer beständigen sprachlichen Destruktion des Sinnes durch die sog. Willkürlichkeit des Zeichens, und darin bestehe seine Umwertung der Werte der metaphysischen Moral. Ein zentraler Begriff des Werkes Nietzsches ist der Begriff Interpretation. Mit diesem Problem als Ausgangspunkt, bedienen sich die Strukturalisten des Nietzscheschen Prestiges als eines kritischen Philosophen und Dichters und beuten die Aura von Unvernunft aus, die ihm seine Krankheit verlieh, zum Zwecke einer Destruktion der Metaphysik und auch der Philosophie überhaupt, die, flüchtig definiert, schließlich um so leichter miteinander verwechselt werden. Aber was bedeutet hier „Metaphysik"? Leider wird dieses 10
11
Vgl. V. Descombes, Le Même et l'Autre. Quarante-cinq ans de philosophie française (1933— 1978), Paris 1979, S. 123-124. Idem.
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Wort zu oft ohne strenge Bestimmung des Begriffes von den sog. Strukturalisten verwendet: der Ausgangspunkt ist die Bestimmung des Wortes bei Nietzsche (die dualistische Metaphysik der platonisch-christlichen Moral), aber das Wort wird mit anderen Begriffen verquickt, nämlich der Philosophie als Ideologie bei Marx, der Philosophie und der Religion bei Freud und der Philosophie überhaupt bei den Wissenschaftlern und auch den Laien. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Philosophen von Piaton bis Hegel ohne jeden Unterschied als mystische Idioten betrachtet werden oder als Fanatiker der Unterdrückung, die das Glück nicht hatten, Marx und Nietzsche zu lesen, oder sich einer psychoanalytischen Kur zu unterziehen. Denn der Hintergrund des Strukturalismus ist die technokratische Aufwertung der sog. Wissenschaftlichkeit, die (unbewußt konservative) Kritik der Philosophie, die populäre und neo-romantische Idee einer notwendigen Zerstörung der Metaphysik und aller Moralsysteme als verschleierter ultraplatonischer Hinterwelten und Uberichkonstruktionen. Im Namen des Leibes, der Befreiung der Sexualität, im Namen einer Kritik der Uberlieferung und jeder Art Unterdrückung 1 2 kommen unter der Fahne des Strukturalismus, dank dem Isomorphismusprinzip, verschiedene Tendenzen zusammen, die sich als neue Lektüren vorstellen und tatsächlich aus der Wiederlektüre von in den 60iger Jahren neuerlich entdeckten oder wiederentdeckten Werken entstanden: insbesondere die Freudsche Psychoanalyse, von Lacan sprachwissenschaftlich „revidiert", Marx, von Althusser „theoretisch" und anti-anthropologisch wiedergelesen, Heidegger, von Derrida literarisch und „grammatologisch" wiederaufgenommen und bearbeitet. In diesem Rahmen aber widmen sich die strukturalistischen Studien über Nietzsche besonders einer Theorie der „Textualität", zum Zweck der Befreiung des Bezeichnenden vom Diktat des Sinns und der Destruktion der „metaphysischen" Begriffe: Sein, Essenz, Natur, Sinn, usw., die immer wieder als Abkömmlinge eines verborgenen grundlegenden metaphysischen Begriffes: le propre (das Eigene, das Eigentliche, die Eigenheit) denunziert werden.
A. Das Neue am Strukturalismus Die Orientierung dieser Interpretationen ist vielleicht überraschend, und ihr Beitrag in bezug auf Nietzsche mag ein wenig gering erscheinen. Aber im 12
Als polizeiliche Unterdrückung gelten freilich für die Strukturalisten auch die Angaben der Philologie und der Geschichte — vermutlich deshalb, weil sie die Willkürlichkeit des Zeichens (lisez: der Interpretation) leider oft hemmen! Was heißt eigentlich „Willkürlichkeit" stricto sensu? Dieser Begriff wird niemals philosophisch untersucht. Vgl. R. Roos ( a . a . O . ) und die darauf folgende Diskussion seines Vortrags in Cerisy.
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Vergleich mit der Nietzsche-Tradition der Jahre vor dem Krieg bringen sie freilich etwas Neues. Worin bestehen nun die „Entdeckungen" der strukturalistischen Arbeiten, die sich mit Nietzsche befassen, vor dem Hintergrund der französischen philosophischen Diskussion? a) Man wird aufmerksamer gemacht auf die „Textualität" des Werkes Nietzsches, auf seine stilistische Spezifität im Vergleich mit anderen philosophischen Werken, in welchen fast nur der begriffliche Inhalt zu betrachten ist. Das ist eine Folge der linguistischen Orientierung und der isomorphischen Vergleiche mit Freud13 und Marx im Hinblick auf ihre Interprétations- und Entzifferungsmethode für die Kritik der Metaphysik, der Moral und der Ideologie überhaupt. Diese textuelle Orientierung bleibt freilich mehr eine programmatische Theorie als eine wirksame Praxis. b) Folglich werden Nietzsches Gedanken von den klassischen philosophischen Modellen losgelöst, in welchen das Bezeichnende vor dem eindeutigen Bezeichneten letzten Endes zurückweichen muß. Man betont die Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit der Texte Nietzsches im Gegensatz zu Interpretationen, die stärker (aber manchmal ungewiß) auf dem spekulativen Inhalt bestehen, und die die Strukturalisten als „metaphysisch" betrachten, insofern sie einen eindeutigen und logischen Diskurs Nietzsches rekonstruieren. Trotz aller Übertreibungen und Verstellungen (die Strukturalisten benutzen und schreiben dasjenige ab, was sie kritisieren14), scheint mir diese methodologische Entscheidung philosophisch richtig und wichtig: die Texte Nietzsches sind so nämlich wiederentdeckt worden als Kampfplatz von zu interpretierenden Mächten; man liest sie nicht länger mehr als bestimmte und endgültige Äußerungen, die nur zu begreifen und zu wissen wären. Das ist die Konsequenz der Willkürlichkeit des Zeichens. c) Dann werden die oft groben Interpretationen fragwürdig, die einen Inhalt des Denkens Nietzsches hervorbringen, ohne je das Perspektivische bei ihm zu berücksichtigen. Der Strukturalismus ficht also (und so steht er im Gegensatz zur Existentialphilosophie, zu einer existentiellen Form der Psychoanalyse und schließlich zu einer Theorie des „Gelebten") Interpretationen an, die zum Beispiel auf der Behauptung eines Verhältnisses zwischen „Herrn Nietzsche" und seinen Texten, zwischen seinem Leben und seinem Denken gründen. Mit einem Wort: der Strukturalismus stellt das interessante Problem der philosophischen Identität Nietzsches als Verfassers seiner Schriften, d. h. er trennt das Bezeichnende „Nietzsche" von der lebenden Person, insofern sie 13
14
Nietzsche und Freud, in einer nicht-strukturalistischen Perspektive untersucht, vgl. J. Granier, „Le statut de la philosophie selon Nietzsche et Freud", Nietzsche-Studien 8, 1979 und E. Blondel, „ödipus bei Nietzsche", Perspektiven der Philosophie, Band 1, 1975. Insbesondere die Begriffe der Interpretation Graniers (Le problème de la vérité dans la philosophie de Nietzsche, Paris 1966).
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einen fraglichen Begriff darstellt, und mit dieser sozusagen sprachwissenschaftlichen Epoche der Biographie und der Geschichte, gibt er den Texten (insbesondere den sogenannten autobiographischen) und dem Gedanken ihre Vielfältigkeit zurück. So werden z. B. den Namen Kant, Piaton, Schopenhauer, Wagner, Christus, Luther eine unerwartete Polysemie und eine sonderbare Einheit zugeschrieben: sie erscheinen als Bezeichnende, die, im Kräftesystem der Texte Nietzsches wiedereingeschrieben, einen jeweils verschiedenen Wert erhalten können, und nicht zuletzt den Wert „Nietzsche" (Vgl. z. B. das berühmte Wort: „Schopenhauer - lisez Nietzsche"). Was heißt also „Nietzsche"? Ist er ein Mensch, ein Autor, ein Name? Und ist er nicht als solcher der Name eines bestimmten Schriftencorpus und der Kampfplatz von gegeneinanderspielenden Mächten? Diese Orientierung ist die Konsequenz aus der These der Geschlossenheit des Sprachsystems, der linguistischen Perspektive und der Betonung der Synchronie. Vorteilhaft ist hier, daß man die philosophischen wie auch außerphilosophischen kausalen Verbindungen des Wahnsinns Nietzsches mit seinen Schriften nicht mehr empirisch, psychologisch untersuchen und also theatralisch aufladen kann. Vermieden werden auch die Interpretationen, die die Entwicklung des Denkens Nietzsches durch die Ideengeschichte eindeutig, kausal (und manchmal idealistisch) erklären und die wichtige umformende Wiederaufnahme der Themen und der Einflüsse bei Nietzsche verkennen (daher eine neue Art Philosophiegeschichte); darüber hinaus die soziologisierende oder psychologisierende Historie des Denkens Nietzsches.
B. Skizze einer Kritik Aber, nachdem „Nietzsche" (mit Gänsefüßchen) zuvor reduziert wurde auf eine nur biographisch zu entschlüsselnde Essenz, wird er jetzt einzig in den unter dem Namen „Nietzsche" versammelten Texten auffindbar, er repräsentiert bloß ein Bezeichnendes, das nichts bezeichnet, als eine unendliche und unbestimmte Vielheit . . . anderer Bezeichnende! Unerhörte, aber vielleicht metaphysische und leere Polysemie des neuen JtoXvTgoJiog Nietzsche auf dem offenen Meer des Textes! Das Bezeichnende „Nietzsche" ist nicht nur eine textuelle Erscheinung (die freilich für uns die einzige Realität des Nietzsche „an sich" ist), sondern vielleicht bloß ein dialektischer Schein, oder genauer noch, eine Berkeleysche „idea", in dieser doch wohl idealistischen Sprachwelt des Strukturalismus. Dieser Welt aber fehlt nur die göttliche Einheitsmacht. Und da die semiologische Struktur auch fehlt, die die Rolle Gottes wissenschaftlich spielen könnte, findet man hier eine sprachliche Übertragung des Todes Gottes. Besteht der Tod Gottes wirklich darin, daß der eigene Sinn
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fehlt? Die Strukturalisten glauben es jedenfalls, und für sie ist dann der Tod Gottes und der Untergang des Menschen ein Verschwinden der Bedeutung oder, möchte man in Ermangelung einer Semiologie fast sagen, die pure Bedeutungslosigkeit. Ist das wirklich der Gegensatz zur Ideologie, zur Metaphysik? Und selbst wenn man hier eine semiologische Struktur bzw. ein semiologisches System annähme, so könnte es bloß als eine Umwandlung des metaphysischen Subjekts, d. h. der Natur und der Eigenheit, als ein Gemisch von Sein und Nicht-sein erscheinen, wie das Hegeische Substanz-Subjekt. Hier liegt der Kern der strukturalistischen Interpretation Nietzsches: die Nietzschesche Kritik des metaphysischen Begriffs Sein wird umgelesen, um als Prinzip des Lesens im Sinne einer Gleichwertigkeit des Seins (bzw. des Textes) und des Bezeichneten zu fungieren. Sein und Sinn in eins vernichten die Strukturalisten 15 . Unter dem Vorwand einer angeblichen Interpretation oder „Lektüre" wird Nietzsches Philosophie in der Tat benutzt, um einer „strukturalistischen" Philosophie zu dienen, d. h. einer Reduktion aller philosophischen Probleme auf die Sprache und einer von der strukturalen Analyse inspirierten Kritik der oben genannten Begriffe der „Metaphysik". So können die Strukturalisten mit einer Klappe zwei Fliegen auf einmal schlagen — oder sollte man sagen: einen Zirkelschluß vollziehen? — : eine Theorie der Lektüre Nietzsches als Umwertung oder Umwerfung aller Bezeichneten entfalten, und dann sie Nietzsche zuschreiben, um sich davon zu überzeugen, daß er die gleichen Feinde bekämpft wie diejenigen, die der Strukturalismus ins Visier nimmt: Subjekt, Essenz, Sein, Natur, Eigenheit! Kein Wunder also, wenn die zwei Momente des Unternehmens zusammenfallen, unter der Bedingung, daß die Texte Nietzsches nur richtig ausgelegt werden, d. h., daß sie nichts definitiv bezeichnen — bis auf das Faktum, daß es auch nichts zu bezeichnen gibt. Folglich müssen sich die strukturalistischen Lektüren auf eine Theorie der Lektüre, auf eine Theorie des Denkens Nietzsches begrenzen, ohne je eine Praxis der Interpretation geleistet zu haben. Hier könnte man die folgenden Worte Nietzsches in einem leicht differierenden Sinn zitieren: „Ich halte eine gewisse Art, die Augen aufzuschlagen, an ihnen nicht aus". Nietzsche betreffend hat man hier eine buchstäblich nihilistische, idealistische Theorie, die in einer beständigen Verleugnung befangen ist: Verleugnung des Inhalts, Verleugnung der auslegenden Praxis, Verneinung der anderen Interpretationen 16 , Verleugnung des genealogischen „Realismus", Verleugnung des Stoffes des Textes, der immer 15 16
Vgl. dagegen die Thesen Graniers. Hier sieht man die Grenzen des Willkürlichkeitsprinzips. Aus welchem Grund können die Strukturalisten ohne Parteilichkeit andere Lektüren Nietzsches als „phänomenologisch" oder „existential" verurteilen? (Vgl. die reaktive Kritik S. Kofmans an Graniers Thesen in ihrem Buch: Nietzsche et la métaphore) Die Willkürlichkeit des Zeichens gilt nur für die eigentlichen
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mehrdeutig bleibt, dasjenige überschreitend, was in ihm ausgesprochen ist oder was er in einem künftigen anderen Systemzusammenhang bezeichnen könnte. Übrigens wäre zu fragen, wie diese Theorie mit dem strukturalistischen Versuch eines semiologischen Systems Nietzsches verträglich ist: alle Systeme sind stricto sensu willkürlich gebaut 17 . Kurz: der Text bedeutet nichts an sich, denn er mag alles bedeuten, was man will (ausgenommen das, was die angeblichen „Metaphysiker" hineinlesen), so daß man den Stil, den gedanklichen Zugriff, die Typologie dieser Theorie betreffend, das nachzulesen hat, was Nietzsche über die Philologie der Theologen seiner Zeit im Abschnitt 52 des Antichrist schreibt. Charakteristisch für diese Bewegung, in genealogischer Hinsicht, ist nämlich die reaktive und phobische Verleugnung des Bezeichneten, die Ersetzung der Texte durch ein Ensemble von theoretischen Bezeichneten, deren Inhalt (in beständigen Wiederholungen und in einer durch das Geschwätz einer kleinen Pariser Gemeinde geprägten Sprache) auf folgende Weise zusammengefasst werden kann: es gäbe keinen Inhalt in Nietzsches Denken, vielmehr behaupte er, daß kein Bezeichnetes an sich existiere. Hier wird deutlich, wie sich ein oft großer spekulativer Mangel, die Verleugnung der Texte Nietzsches und die minimale Auslegungspraxis zu dem verbinden, was der Beobachter als eine Phobie vor dem bestimmten (besonders deutschsprachigen und historischen) Sinn 18 , als eine obsessive Verdrängung bestimmen möchte — eine Diagnose, die sich aus dem sprachlichen Ritus und der Unfähigkeit, sich der Realität der Texte zu stellen, legitimiert. Die Arbeiten, die hier zu nennen sind, wären die von Pautrat (Versions du soleil. Figures et système de Nietzsche, Paris 1971) und von Derrida {La question du style, Paris 1974), die zum einen methodologisch der Semiologie verpflichtet sind: allzulange blieb der spezifische Stil Nietzsches unbeachtet, als ob etwa die Untersuchung der Metaphorik seiner Texte zum Verständnis seiner Philosophie nichts wesentlich Neues beitragen könne. Zum zweiten — und darin besteht ihr Vorzug, wie ihre Zweideutigkeit — beanspruchen beide, die einfache Interpretation Nietzsches, die Philosophiegeschichte, die bloße Wiederholung und Erklärung bekannter Thesen in Richtung einer philosophischen Erneuerung hinter sich zu lassen. Was Pautrat betrifft, so scheint mir sein Buch noch von Derridas Arbeiten zu abhängig zu sein. Es macht den
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(darf man das Wort gebrauchen?) Strukturalisten, und sie ist negativ, reaktiv aufgeladen: benutzt man einige verdächtige Wörter, so wird man als Metaphysiker, als Reaktionär, fast als abergläubisch und ketzerisch gebrandmarkt. Vgl. Zur Genealogie der Moral I, § 10! Der Nachteil (man könnte boshaft sagen: die Bedingung) dieser Befreiung der Willkürlichkeit des Zeichens ist oft das Verkennen der philologischen Angaben. Die strukturalistische Interpretation unterscheidet sich von der strukturalen Analyse auch dadurch, daß sie willkürliche Zeichen dort sieht, wo sie ihre historische Bedeutung bloß nicht kennt. Jedenfalls sollte sie wenigstens bestimmen, in bezug auf was Nietzsche seine Bezeichneten umwertet. Man denkt natürlich an Hegels Kritik der schönen Seele.
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Eindruck, hier diene die Interpretation Nietzsches einzig der Durchsetzung eigener philosophischer Intentionen: Nietzsche wird das Exempel, mit dem die Entwürfe Derridas illustriert werden. Doch findet man in diesem Buch scharfsinnige Analysen einiger Texte Nietzsches (z. B. des „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde", in Götzendämmerung), sehr kluge semiologische Variationen über einige Metaphern, und ein Nuancieren der bekannten aber dogmatischen These Deleuzes über den Gegensatz Hegel — Nietzsche. Pautrats Arbeit ist ein wohl kluges, gebildetes Buch, das für ein neues Lesen Nietzsches mehr hätte beitragen können, wäre es weniger den Phantasmen seines Verfassers unterworfen gewesen. So wird das Paradoxon der französischen strukturalistischen „Interpretationen" Nietzsches schließlich sichtbar: obwohl sie wörtlich auf dem Lesen und dem sprachlich Bezeichnenden bestehen, kann man niemals (ausgenommen im Buch Pautrats) eine wirkliche Lektüre Nietzsches finden. Nach der Lektüre der Veröffentlichungen von S. Kofman {Nietzsche et la métaphore, Paris 1972), J.-M. Rey (L'enjeu des signes. Lecture de Nietzsche, Paris 1971) z. B. bleibt nichts als nur immer wieder das Leitmotiv, bzw. das Signifikat, das von der Unmöglichkeit eines eindeutigen Signifikates Nietzsches spricht — was vielleicht um so enttäuschender ist, als man doch Bachelards Vorbild folgend auf erneuerten und sichereren semiologischen und psychoanalytischen Fundamenten möglicherweise ein semiologisches, wirklich strukturales System Nietzsches bilden könnte! Statt dessen hat man phantasierte Variationen 19 und „patchwork" über diese oder jene Metapher (z. B. bei S. Kofman, Derrida und spitzfindiger bei Pautrat), die darin bestehen, daß man eine isolierte Metapher auswählt, sie entwickelt und sie mehr oder weniger psychoanalytisch kommentiert, bis sie so oft willkürlich das ganze „Bezeichnete" des Werkes Nietzsches bezeichnet und bestimmt hat. Niemals jedoch wird ein tatsächlich strukturales System gebildet, d. h. die Relationen entfaltet, die eine kodifizierte Menge von Signifikanten in eine spezifische Struktur eingehen lassen bzw. unterhalten 20 . Strukturale Interpretationen Nietzsches gibt es 19
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In dieser Hinsicht ist diese Methode der Collage sehr ähnlich der Kompilation z . B . Würzbachs oder der Sammlung des angeblichen „Wille zur Macht" Buches. Die Strukturalisten, ohne den historischen Hintergrund der Metaphern oder die historischen Abwandlungen der Wörter zu kennen, tragen Elemente synchronisch zusammen, die diachronisch einen verschiedenen Sinn tragen (z. B. Texte aus den Jahren 1873 und 1888). Das ist, was ich in meiner Arbeit „Nietzsche. La vie et la métaphore" (a. a. O . ) versucht hatte. (Es ist merkwürdig, daß Derrida dieser Arbeit viel „entlehnt" hat, ohne sie je zu erwähnen: noch ein Beispiel strukturalistischen Wiedereins'chreibens!). Meiner Meinung nach ist diese semiologische „Strukturation" der Metaphern möglich, vorausgesetzt a) daß man den semantischen Wert der Metaphern für eine Einbildungskraftsphilosophie Nietzsches berücksichtigt; b) daß man nicht vergißt (im Gegensatz zu Derrida), daß Nietzsche, als Genealoge, im Text selbst auf einem sozusagen „Außerhalb des Textes", d. h. auf einer nicht bloß spekulativen bzw. sprachlichen Realität, auf einem (nicht erkennbaren, sondern wirklichen) „ A n -
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nicht: die strukturalistischen Theorien sind programmatische Theorien, deren Programm kaum ausgeführt ist. Trotzdem wirft der französische Strukturalismus, als solcher, auf Grund und trotz dieser paradoxen Situation, das Grundproblem der Interpretation Nietzsches auf, fragt nach seinem Verhältnis zur Metaphysik. Da die strukturalen und semiologischen Studien an anderen Objekten (beispielsweise bei der Untersuchung von Sprache, Verwandtschaftssystemen, ökonomischen Tauschsystemen) fruchtbar und sehr innovativ waren, andererseits der Strukturalismus aber nicht hält, was er verspricht, wird es beinahe unmöglich 1. Nietzsches Werke wie vorher zu lesen, und es fällt schwer, 2. die strukturalistischen Lektüren Nietzsches ernst zu nehmen, d. h. sie überhaupt als Arbeiten strukturaler Methode anzuerkennen, geschweige denn sie für philologisch korrekt und philosophisch revolutionär zu halten. Übrigens bleibt zu fragen, ob der Charakter des Nietzscheschen œuvre eine strukturale Analyse zuläßt. Kann man letztlich die Philosophie Nietzsches auf ein relativ beharrendes System zurückführen? An sich sind die Absichten des Strukturalismus legitim, insofern er den „Inhalt" nicht von der Sprache Nietzsches trennen will. Der Stil der Texte Nietzsches ist keineswegs rhetorisches oder künstlerisches Ornament, sozusagen das Alibi ihrer Inhalte, sondern er schließt in sich die ganze Bedeutung des Denkens Nietzsches ein. Andererseits, verwirft man den systematischen Nietzsche, so sollte man doch mit Mißtrauen den ästhetischen Spielen, dem Impressionismus begegnen, der, weit davon entfernt, dem Perspektivismus die Treue zu halten, vielmehr ausgewählte Aspekte in Nietzsche petrifiziert. Ästhetizismus in der NietzscheInterpretation steht in einer Konstellation mit Terrorismus und Faschismus, will mir scheinen. Als Versuch, ein System zu bilden, kann der Strukturalismus von dieser Gefahr bewahren. Aber er gerät auch wieder in eine neue Form des Ästhetizismus, wenn er den Text von der bezeichneten Realität idealistisch trennt. Gegenüber diesen Versuchen sollte man den Moralisten Nietzsche nicht vergessen, der die Kultur als eine unzertrennliche textliche und körperliche Ganzheit unterstreicht und nach ihrem Wert fragt. A. Es muß hier zweifellos zugestanden werden, daß es keinen eindeutigen Nietzsche-Diskurs gibt, a) weil mit einer solchen Behauptung und ihren Folgerungen Nietzsches Text abgeschafft, d. h. nicht mehr gelesen wird, sondern zusammengefaßt, besieh" jenseits des Zeichens bestehen will. Der Strukturalismus ist eine neue F o r m der Versuchung des Idealismus: eines Idealismus der littera (man könnte fast sagen: der Letter), also eines Literatsidealismus: als ob die ganze Welt nur ein T e x t wäre . . . Die Strukturalisten sind die Peter Schlemihl der Philosophie: ihre angeblich marxistischen und nietzscheschen Tendenzen sind ganz gewiß beschränkt.
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grifflich übersetzt und umgestaltet: so unterschätzt man den Text in seiner polysemischen Wiederholung, semantischen Bewegung, in seiner sozusagen zitternden Bedeutung, in seinem Machtspiel. b) weil, selbst wenn man die Reihenfolge der Diskursteile logisch rekonstruieren könnte, mit diesem logischen und vernünftigen Inhalt der Philosophie Nietzsches nur eine entweder verfehlte Metaphysik oder eine Übermetaphysik gewonnen wäre, d. h. entweder eine Philosophie, die nicht in der Lage ist, sich selbst zu begründen, weil jede Begründung immer schon Perspektive, Interpretation unter anderen wäre (in diesem Falle ist jeder begründende Meta-Diskurs von vornherein unterbunden); oder eine Philosophie, wie z. B. die Schopenhauersche, die die Grenzen der kritischen Philosophie dogmatisch überschreitet, indem sie ein An-sich, eine totalisierende Essenz der Welt: den Willen zur Macht behauptet. Kurz: hat Nietzsche die Metaphysik überwunden und wenn ja, wie hat er sie überwunden, oder verbleibt er im Rahmen der Metaphysik? Das ist die Grundfrage, die der Strukturalismus noch einmal und auf seine Weise gestellt hat, ohne sie freilich gründlich genug beantwortet zu haben. Sicher bleibt nur, daß eine Rekonstruktion der Philosophie Nietzsches als Sequenz logischer Sätze, die dann noch umfassender als die Philosophie Descartes' oder Kants wäre, vergißt, daß Nietzsche die Metaphysik umzuwerfen vermeinte. B. Aber die Bezeichneten, den spekulativen Gehalt der Philosophie Nietzsches umwerfen, seine Umwertung also auf ein freies und vielleicht leeres Spiel der Bezeichnenden zu reduzieren und damit die Uberwindung der Metaphysik der bloßen Vernichtung der Semantik und Grammatik, oder richtiger noch, einem Nietzscheschen Babel 21 oder Finnegan's Wake anzugleichen, das ist lediglich eine Perspektive und dazu eine theoretische und deshalb möglicherweise idealistische. Idealistisch insofern hier eine „Philologie" betrieben und lanciert wird, die genau das, was die Nietzschesche Genealogie nicht-sprachlich, nicht-spekulativ noch umfaßt: den Leib, die Physiologie nämlich, skotomisiert. Hier wird Nietzsche noch einmal idealisiert, d. h. der in Nietzsche sich austragende Kampf zwischen Philologie und Genealogie wird vergessen. Will man das Versäumnis der Strukturalisten, die Betrachtung des Nietzscheschen Werkes als eines geschlossenen Systems von Elementen, deren jeweilige Bedeutung den jeweiligen Korrelationen entspringt, in die jene Elemente eingeschrieben sind, will man also dieses Verfahren selber genealogisch verfolgen, kann man zwei Momente isolieren:
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Der Mensch also ist auch tot, als Herr über seine eigene Sprache: nur ist der Täter Gott, wie in Babel, nicht zu finden. Ist es der Nihilismus der Strukturalisten selber?
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1. Die referentielle, wertschätzende, beinahe existentielle Absicht mancher Texte Nietzsches wird vernichtet. Stoßrichtung hierbei sind die Übertreibungen existenzialisierender Interpretationen Nietzsches. Nietzsche wird dann in das formale Spiel der Kultur der Strukturalisten, gesehen als ein absolutes System, eingefädelt. 2. Das hängt wiederum genealogisch mit den gesellschaftlichen und ideologischen Positionen der Verfasser strukturalistischer Theorien zusammen, denen es nicht darum geht, mit Nietzsche die aktuellen und dringenden Probleme des Bildungswesens, der politischen und moralischen Praxis zu thematisieren: Byzanz oder der letzte Mensch? Nur formal wird jedenfalls die Struktur der gegenwärtigen französischen, europäischen Gesellschaft (sei sie als technisch oder als kapitalistisch betrachtet) bekämpft — so wird sie also theoretisch, strukturalistisch, technokratisch geschützt! Den Moralisten, d. h. den Philosophen, den Moral- und Kultur-Kritiker und -Schätzer Nietzsche zu eskamotieren, bedeutet eine weitere Idealisierung, die ihn von den Kräften trennt, die sein Werk motivieren und seinen Schätzungswillen antreiben. Gibt es nicht in unserer Zeit bestimmte Figuren des Nihilismus, die mehr als pure Zeichensysteme willkürlichen Sinnes darstellen und gefährlicher als „flottierende Signifikanten" sind? Denn Willkürlichkeit bedeutet gewiß politisch und ökonomisch etwas ganz anderes als linguistisch — und ihre Vertreter wälzen nicht nur Bücher . . , 2 2 . Eindringlicher noch gefragt: inwiefern ist die Betrachtung von Nietzsches Schriften als einem formalen Spiel von Bezeichnenden nicht ein Symptom des intellektuellen Herdentieres, jenes Gelehrten also, der nur durch das geschlossene System lebt und nur in einem System sich gesichert weiß und sich in der Verwerfung der Realität, in der Vernichtung aller unabhängigen Werte einschließt, so daß er sich über den absoluten Wert der Struktur, bzw. der „reinen" Werte seiner Moral täuscht? Wenn Nietzsche jedoch die Metaphysik «Verwinden wollte, so kritisierte er sie weniger ihrer selbst willen, als vielmehr, weil er in ihr den Grund der falschen Autonomie der Kultur und Moral, ihrer vermeintlichen Unabhängigkeit von der Realität erkannt hatte. Warum klingt das Wort „Realität" (so wie „Natur", „Sinn" usw.) denn den strukturalistischen Ohren als Schimpfwort — wie das Wort „Welt" den Christen? Ist der Verdacht nicht begründet, daß sie die Notwendigkeit der Realität, den amor fati, eine härtere Realität als die der Sprache weglügen wollen?
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Vgl. E H , Warum ich so klug bin § 8: „ D e r Gelehrte, der im Grunde nur noch Bücher ,wälzt' — der Philologe mit massigem Ansatz des Tags ungefähr 200 — verliert zuletzt ganz und gar das Vermögen, von sich aus zu denken. Wälzt er nicht, so denkt er nicht. E r a n t w o r t e t auf einen Reiz (— einen gelesenen Gedanken), wenn er denkt, — er reagirt zuletzt bloss n o c h . " Das strukturalistische System und seine Verfasser wälzen Signifikanten — und sie . . . walzen sogar mit ihnen . . . Fin-de-siecle Philosophie . . .
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III. Nietzsche zwischen Realismus und Idealismus: der „sprachliche Transzendentalismus" Nietzsche hat permanent eine neue Kultur zu begründen versucht, er wollte eine neue Art Mensch schaffen: genau unter dieser Perspektive hat er die Metaphysik als geschlossenes und idealistisches System angegriffen und umzuwerfen versucht. Zu diesem Zwecke hat er sich der Schopenhauerschen These vom Willen zum Leben bedient, bis er erkannte, daß er vermittels ihrer hinter den kantischen Kritizismus zurückfiel, in den, meiner Terminologie nach, übermetaphysischen Dogmatismus. Deshalb nimmt er Zuflucht bei a) den Aphorismen seiner moralkritischen Schriften, als einer zerbrochenen Rede; b) der kritischen, „fröhlichen" Wissenschaft; c) den metaphorischen Sequenzen. Er muß jedoch bald anerkennen, daß die Rationalität eine neue Form des Idealismus darstellt. Mit Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral beginnend, bindet er seinen Versuch eines metaphorischen Systems an den Leib, als Ursprung der Wertschätzungen und als Bestimmungsursprung eines imaginären bzw. dichterischen Verhältnisses zur Realität. Der Rationalität wird dann eine philologische Praxis substituiert: philologisch, insofern die Kultur (Moral, Philosophie, Wissenschaft, Ideal) als Text konstituiert ist (fast gemäß einem kantischen Modell), als Text, den Nietzsche semiotisch liest, insofern jener Text die Interpretation des Leibes ist. Andererseits bedient sich der Nietzsche der letzten Periode auch der Metaphern der Medizin und der Physiologie, um den genealogischen Diskurs zu begründen. Jene Metaphern, philologisch dargestellt, projizieren einen Leib als Ursprung des Textes und der Auslegung jenseits des Textes (yeveoic, xoü Xöyou). Daher ist Nietzsche aber in seinem anti-metaphysischen Versuch sozusagen an zwei Fronten gefährdet: 1. Einerseits, weil er die Metaphysik und die Moral philologisch kritisiert und auslegt. Denn die Philologie bleibt noch an den Idealismus des Bezeichnenden gebunden, und der Philologe als solcher versucht, die Mehrdeutigkeit jedes Textes zu minimieren. Die Philologie droht also, den Text als Kampfplatz von Willen zur Macht vergessen zu machen und ihn auf seine bloße Materialität zu reduzieren, die der Philologe verteidigen will, so weit, daß er sie schließlich verdinglicht. 2. Andererseits setzt sich Nietzsche, indem er in philologicis die Sprache der Physiologie verwendet, der Gefahr aus, daß seine Philosophie durch den medizinischen Realismus entstellt wird, zum Biologismus gerät, der einen Leib an sich auf dem Hintergrund eines transformierten Schopenhauerschen Modells verdinglichend supponiert.
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Nietzsche aber scheint einen anderen Weg eingeschlagen zu haben: er bildet den physiologischen Diskurs in einen philologischen Diskurs um. Es ist erstaunlich, wie Nietzsche in der letzten Periode diese beide Diskurse miteinander verbindet: er spricht nicht vom. Leib (als endgültigem Ursprung der Wertschätzungen) so, als ob er eine empirische, biologische Realität wäre, als ob er ein Gegenstand wäre, der, wie in der Metaphysik, eingesehen, angeschaut oder theoretisiert werden könnte, sondern Nietzsches Texte stellen ihn als einen zu lesenden, zu entziffernden, auszulegenden, bzw. zu interpretierenden Text vor, so daß die Philologie als Transzendentales des genealogischen-physiologischen Diskurses über das unbekannte An-sich des Leibes figuriert (wohl gemerkt also weder Realität noch pures Zeichen, reiner Schein). Im Zwischenraum des Realismus eines körperlich Bezeichneten und des Idealismus des reinen Textes entfaltet Nietzsche meiner Meinung nach einen physiologisch-philologischen Diskurs Kantischer Prägung, insofern man nicht selten den Eindruck gewinnt, der Leib verhalte sich zum Text wie das Dingan-sich zur Erscheinung, und die Semiotik des Textes wie das Transzendentale zur Erfahrung. Der Leib scheint, der Logik von Kantischen Ding-an-sich und Erscheinung folgend, wenn nicht die Ursache (wie bei Kant), so doch zumindest den Ursprung des Textes, die „grosse Vernunft" des Textes zu bezeichnen23. Hat Nietzsche also tatsächlich die Metaphysik in einer Weise überwunden, daß er sie in Gefahr bringen könnte? Will Nietzsche der Metaphysik gegenüber nur den Leib vorschieben, dann müßte sich seine Philosophie im stummen Realismus der Physiologie vollenden (das mag der philosophische Sinn seines Wahnsinns sein). Oder will er im Gegenteil als Interpret des Textes, des Leibes, als Philologe gelten, bliebe er demnach dem theoretischen, grammatischen, logischen Idealismus unterworfen? Welche Form des Diskurses ist Nietzsches Philosophie? Verbleibt sie innerhalb der Metaphysik oder steht sie jenseits und außerhalb ihrer? Ist Nietzsche also letztlich ein Ubermetaphysiker oder ein Dichter, was in beiden Fällen bedeuten würde, daß er ebenso unschuldig wie unschädlich wäre? Denn stünde er außerhalb der Metaphysik, könnte er sie nicht schädigen; hätte er eine Übermetaphysik ausgebildet, eine Metaphysik größeren Umfangs also, so unterminierte er seinen anti-metaphysischen Impetus. 23
Selbstverständlich soll man die Unterschiede zu Kant nicht verkennen: insbesondere gibt es natürlich bei Nietzsche keine transzendentale Deduktion der philologischen „Kategorien", d. h. keine Begründung derselben durch irgendeine Vernunft, die wie bei Kant als ein Absolutes betrachtet würde. Im Gegenteil wird diese Rolle von den historischen, naturgeschichtlichen Sprachkategorien gespielt (Vgl. J G B , §§ 16, 2 0 ; G M , Anmerkung zur 1. A b handlung). U n d gibt es überhaupt eine mögliche Rechtfertigung der Behauptung, daß der Leib der „ U r s p r u n g " der Moral und der Kultur ist, also eine Rechtfertigung der Ersetzung des Kantischen Vorrangs der Wissenschaft durch die genealogische Interpretation?
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Die Frage nach der Stellung von Nietzsches Denken stellt sich am klarsten auf der Ebene der Sprache, was der französische Strukturalismus mit Recht betont. Aber gerät man mit der Sprache nicht wieder in die Metaphysik zurück? Diese Frage gilt in besonderem Maße für die Nietzsche-Interpretation. Gründlicher noch gefragt: muß man nicht anerkennen, daß Nietzsche die Sprache der Metaphysik, die Sprache als Metaphysik nur mit Hilfe eben dieser Sprache bekämpfen, angreifen kann (d. h. mit ihren Wörtern, um einige zu nennen: Sein, Werden, Ursache, Wirkung, Ursprung, Wahrheit, Lüge, Täuschung)? Sonst wäre seine Philosophie unsinnig oder philosophisch inadaequat. Von diesem Dilemma her wird man besser begreifen können, warum Nietzsche eine so besondere Sprache spricht: eine freilich mißglückte, verfehlte, hinkende, zerbrochene, verdoppelte Sprache, die weder metaphysisch noch antimetaphysisch ist. Eine wirklich zweideutige Sprache, die mit Notwendigkeit den grammatischen, d. h. metaphysischen Gesetzen folgt, indem sie diese Gesetze vor sich her schiebt, zweideutig auch in ihren metasprachlichen Positionen, etwa, um ein Beispiel zu nennen, im Gebrauch der Gänsefüßchen (wie Nietzsche ihn so oft praktiziert, wenn er von der Moral und dem metaphysischen Ideal spricht 24 ) oder im parodistischen Ton, der so viele seiner Aphorismen durchklingt. Vielleicht ist gerade diese sozusagen mißglückte Sprache der „Erfolg" Nietzsches: er suchte eine neue Art Sprache. Vielleicht hat er sie in dieser zweideutigen Sprache gefunden, einer Sprache, die sich nicht an den sog. Gesetzen der Syntax, der Grammatik und Logik orientiert, sondern dem nachgeht, was Nietzsche rätselhaft den „Leitfaden des Leibes" nennt; d. h. an einem Unbekannten, das als ,Regeln' der Einbildungskraft mehr in den Texten Nietzsches wirkt als diejenigen der Sprache, a fortiori als diejenigen des reinen, geschlossenen, logischen Systems. Wenn die Strukturalisten richtigerweise die Frage nach der Stellung Nietzsches zur Metaphysik als Problem der Sprache gestellt haben, so hat sie jedoch die einseitige Betonung der Sprache an sich, dieses vielleicht beschränkten Metaphysik-Problems und des logisch-geschlossenen Systems in eine Sackgasse getrieben. Ist die „Willkürlichkeit" nicht die falsche Bezeichnung für Einbildungskraft und Leibesleitfaden? Jenes aus der Einbildungskraft sich herstellende, spezifische Verhältnis zur Welt, das Nietzsche der metaphysischen Rationalität entgegensetzen wollte, sollten wir jetzt, so mein Vorschlag, diskutieren, freilich im Bemühen, die zwei von mir skizzierten Aspekte des Idealismus, will sagen: das freie Spiel mit reinen Worten, wie den groben, biologischen Realismus, zu vermeiden. (Deutsche Ubersetzung vom Verfasser und Martin Bauer) 24
Vgl. meinen Versuch: „Les guillemets de Nietzsche. Philologie et généalogie", a . a . O .
Diskussion Abel: Dieser anregende und gedankenreiche Vortrag, Herr Blondel, wifd uns viel zu diskutieren geben, sowohl über Nietzsche als auch über den Strukturalismus. Vielleicht dient es der Gliederung unserer Aussprache, wenn ich noch einmal die Etappen der Darstellung, so wie ich sie aufgenommen habe, hervorhebe. Am Anfang stand die Erläuterung des strukturalistischen Verfahrens, eine Antwort auf die Frage: Was ist eigentlich eine strukturale Analyse? Dann folgte die Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Nietzsche-Interpretation. Hierbei haben Sie, Herr Blondel, sehr anschaulich gemacht, daß der Strukturalismus durchaus eine neue Perspektive des Nietzsche-Verständnisses eröffnet. Zugleich aber haben Sie eine interessante Kritik gegen diese Art der Interpretation formuliert. Drittens schließlich haben Sie Ihr eigenes Nietzsche-Verständnis vorgetragen, das Sie zwischen Realismus und Idealismus ansiedeln und als einen „sprachlichen Transzendentalismus" vorgestellt haben. In diesem Teil spielten die Leibproblematik und die Uberwindung der Metaphysik eine Rolle. Doch mehr möchte ich zur Eröffnung und zur möglichen Gliederung der Diskussion nicht sagen. Akiyama: Ich bin der Ansicht, daß die strukturalistische Nietzsche-Interpretation in Frankreich sehr willkürlich verfährt. Ich erinnere nur an Jacques Derridas Auslegung im Anschluß an Nietzsches Nachlaß-Notiz: „ich habe meinen Regenschirm vergessen" 1 . Diese Interpretationen sind zwar gut geschrieben, aber inhaltlich . . . ? Derrida macht viele Andeutungen und hat vielleicht auch etwas sehr Spezielles im Sinn. Aber philologisch erscheint mir seine Analyse ungenau. Wie beurteilen Sie, Herr Blondel, diese Interpretationen im Hinblick auf ihren inhaltlichen Zusammenhang mit Nietzsche? Blondel: Vous avez fait allusion à un texte (je dis bien un „texte"!) maintenant devenu célèbre de Derrida, intitulé Nietzsche et la question du style.2 Dans sa première partie ce texte essaie d'approcher la question nietzschéenne dans son ensemble, à l'aide de la métaphorique de la femme. A cette occasion je dois dire qu'une grande partie des analyses métaphoriques sur le thème de la femme dans ce texte de Derrida est 1 1
Vgl. Nachlaß Herbst 1881: 12[62]; K G W V 2 , 485; J. Derrida, La question du style. Paris 1974 In: Nietzsche aujourd'hui?, Paris, 1973, Band 1.
Diskussion
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empruntée (sans mon aveu et sans aucune indication de source: je vous laisse deviner le signifiant qui se rapporte sans flotter au signifié de cette opération !!) à un essai que j'avais publié moi-même sur le même thème deux ans auparavant. 3 Dans la deuxième partie de ce texte, Derrida évoque la question de l'interprétation. Cette question est liée à la précédente de la façon suivante. En français, le „style" désigne la façon d'écrire, mais le style peut aussi évoquer le stylet, le poinçon avec lequel on perce un corps et imprime une marque sur un corps (pointe, plume, poignard, éperon, etc.). O n peut alors entrer dans le champ métaphorique de tout objet pointu, devant lequel la femme, qui risque ainsi de subir des assauts ou des marques, doit se garder (ou s'offrir en se gardant) derrière des voiles (on joue sur l'ambiguïté de ce mot, qui peut signifier Segel ou Schleier . . .) et qui porte sein {Brust) ou Seing {Unterschrift). Vous voyez le procédé d'association, qui fait souvent penser aux comptines des enfants ou aux charades: le stylet, le style, la pointe, l'éperon, la trace {Spur) sont allègrement mis en brochettes, et l'on voudrait nous faire croire que c'est ainsi que procède la psychanalyse et que telle est la logique qui détermine la pensée de Nietzsche et sert de „loi" à son interprétation. A partir de là, Derrida cite, comme exemple, un texte de l'époque de la Fröhliche Wissenschaft (Nachlaß): „Ich habe meinen Regenschirm vergessen" ( K G W V 2, 12[62]). Sur cet exemple, Derrida pose la question de l'interprétation, soulignant qu'il pourrait y avoir une infinité d'interprétations de ce fragment, sans qu'on puisse décider de la bonne: entre autres celle qui assimilerait le parapluie à un objet pointu (pointe, phallus) et engagerait un discours sur la sexualité (et les voiles); ou encore, le parapluie est le symbole du professeur allemand, que Nietzsche a fini par oublier d'être. Il y a encore une hypothèse explicative plus simple et un peu scatologique, que je ne citerai pas ici. Et caetera! Derrida explique donc ce que j'ai essayé de présenter comme une des thèses fondamentales de ce qu'on appelle „structuralisme": qu'un texte de Nietzsche tel que celui-ci peut avoir une infinité d'interprétations, selon le contexte - et surtout, comme c'est en l'occurrence le cas, quand il n'y a pas de contexte —, aucune n'étant en droit interdite; et que ce texte est exemplaire a) de la thèse de Nietzsche sur le caractère infini de l'interprétation, b) du traitement qu'on peut appliquer aux textes de Nietzsche. C'est un excellent principe que d'appliquer aux textes de Nietzsche ses propres thèses: mais cela fait cercle vicieux, car comment extraire cette thèse de Nietzsche de l'infini des interprétations possibles de son œuvre? Là aussi, il faut respecter l'arbitraire! Et Derrida a renchéri sur l'arbitraire pour le faire apparaître comme nécessaire. Cela peut paraître arbitraire, mais, du point de
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In: Revue philosophique de la France et de l'Etranger, Paris, 1971, N r . 3. Les deux textes ont été traduits dans le recueil The New Nietzsche, ed. and introd. by D . Allison, N e w York, 1977.
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vue de ceux qu'on appelle „structuralistes", l'arbitraire est précisément ce que Nietzsche a voulu réintroduire dans la philosophie. Et si vous parlez d'inexactitude philologique, ils vous diront que vous succombez à la métaphysique et que vous en illustrez l'aspect répressif et policier. Outre ces libertés avec la philologie, enfin, ce qui suscite et aggrave votre étonnement, sans doute, c'est que Derrida, dans son propre style (et je ne parle pas des „réinscriptions" que sont les traductions de ce texte!) pratique le même jeu de réinscription plurivoque des signifiants de son propre texte, qu'il fait lui-même flotter: or, cela a surtout de l'effet et du sens dans la logique et dans le système de la langue et de la culture françaises. Ainsi „voiles", „sein/seing", „il n'a pas plu" (es hat nicht geregnet/ es hat nicht gefallen), „perdre l'ancre/perdre l'encre" (den Anker verlieren oder lichten/ die Tinte auslaufen lassen), etc. C'est ainsi que Lacan dit qu'il „père sévère/ persévère" (verharrt/ (als ein) strenger Vater) et le dit parce que pour lui l'inconscient est une question de langage. Mais cela se rattache à une tradition populaire française du jeu de mots — dont il faut bien dire que Nietzsche n'a donné que peu d'exemples, et pas toujours excellents: „Gorgon-Zola", par ex. (KGW V 2, 12[2])! Lassen Sie mich noch auf deutsch hinzufügen, Herr Akiyama: Derrida will mit der Analyse des Satzes mit dem Regenschirm gerade demonstrieren, daß auch Nietzsches Text willkürlich verfährt. Die Willkür der Interpretation soll auf die Willkür des Interpretierten verweisen. Auf diese Weise wird gezeigt, daß es keine „richtige", keine allein zutreffende Interpretation gibt. Taureck: Vous avez parlé de la possibilité de voir un sens dans l'interprétation structurale de Nietzsche. A mon avis il faudrait donner et expliquer un exemple par lequel on pourrait montrer le côté affirmatif de cette interprétation. Je crains que parler de ,l'arbitraire' et du ,signifiant flottant', ne laisse voir qu'un déficit de connaissance de la langue allemande chez les exégètes français de notre philosophe. Quelle est votre opinion sur ce problème? Je voudrais ajouter un autre point, à savoir le rôle de la fantaisie dans Nietzsche que vous venez d'aborder. Vous affirmez que, si c'est la fantaisie qui est l'origine de toutes les interprétations que l'homme fait, ce serait elle qui constituerait le fond de l'attitude anti-métaphysique de Nietzsche. Je voudrais mettre en lumière que, dans Nietzsche, on cherche en vain une théorie explicité de la fantaisie (ou imagination) comme vous la proposez. Chose curieuse, c'est dans le traité d'Aristote sur l'âme qu'on la trouve: Aristote n'accepte pas l'opinion de Platon selon laquelle la (pavtaoia soit une combinaison entre une perception et une conjecture, (cf. Sophiste 264/b, Philebe 39bsq.). Il la définit au contraire comme ,un mouvement naissant d'une perception réelle' (KÎVTIOIÇ ÎIJÏÔ tfjç aioOfjoeœç xfjç KCIT' èvéQyeiav yeyvoi.iévT] de anima 429a 1 sq.) Voilà
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la réfutation de la notion trop intellectuelle de la fantaisie si chère à Nietzsche! Imaginons l'homme réduit à cette fantaisie: Fera-t-il la béte ou simulera-1-il l'intelligence? Blondel: Premier point: les exemples de structures sémiologiques possibles. Je ne peux ici qu'indiquer à partir de quels thèmes on pourrait développer tel ou tel système structural ou sémiologique possible. C'est ce dont je me suis occupé dans certains de mes travaux — notamment dans celui auquel Derrida m'a emprunté certains éléments (sans doute en fonction de la logique de la réinscription!). Ainsi, Nietzsche explicite la Vie en développant la métaphorique de la féminité, conçue comme apparence, comme vêtement et fard, comme apparaître évanescent, par opposition à un „ewig Weibliches" métaphysique que l'on pourrait découvrir sous les vêtements, derrière les apparences. C'est la cohérence de cet enchaînement métaphorique que j'avais essayé jadis de retrouver dans mon essai „Nietzsche: la vie et la métaphore". J'etudie actuellement le rôle et le développement des métaphores dont Nietzsche fait usage pour présenter le „Zusammenspiel der Triebe" en tant que les „Triebe" sont le fondement de l'Idéal comme sémiotique. Nietzsche leur applique, d'une manière très systématique (mais peut-être pas structurale), une métaphorique de la digestion et de l'assimilation: intégration, incorporation, absorption, paresse (Trägheit) ou facilité de l'Einverleibung, etc. Or, à cette séquence succèdent, selon une certaine logique métaphorique, d'autres ensembles de métaphores: politiques (domination, compromis, dictature, obéissance, lutte) et philologiques (interprétation, signe, sémiotique, etc). Ce qui est remarquable, cependant, c'est que Nietzsche ne semble pas pouvoir englober ses séquences métaphoriques dans un système sémiologique clos, et qu'on peut au contraire trouver la règle du débordement et de l'ouverture des métaphoriques l'une sur l'autre. Maintenant, votre deuxième question: l'arbitraire n'est plus une notion philosophique, mais la fausse liberté d'une pratique vide et idéaliste de la lecture s'il correspond à l'effacement, dans la réalité du texte, des données philologiques. Sur ce point, je me permets de vous renvoyer à l'exposé de Richard Roos. Règles pour une lecture philologique de Nietzsche4. Si Roos s'oppose à l'arbitraire de l'interprétation structuraliste, c'est en germaniste philologue, qui ne confond pas le principe général et métaphysique de l'arbitraire du signe et l'arbitraire de l'interprétation. En effet, l'interprétation concerne toujours un texte donné ici et maintenant, constitué en corpus: là* l'arbitraire revient à dissoudre le texte, et l'idiotisme (une langue subjective, privée) est en effet la conséquence de cet arbitraire. J'ajoute qu'il y a idiotisme 4
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en ce sens que les structuralistes français transposent Nietzsche dans leur système culturel français sans faire état des règles de transposition et, comme disent les linguistes, de transformation, qui reposent parfois sur des erreurs ou des approximations dans les traductions. Je sais bien qu'un texte — Nietzsche le savait aussi bien que Platon — n'appartient pas toujours seulement à l'auteur et à l'histoire qui l'ont produit, et qu'il est libre de la liberté de l'orphelin. Seulement, la liberté de l'interprétation structuraliste me paraît souvent conduire plus à simplifier, réduire et, à la limite, dissoudre le texte qu'à l'amplifier. Le structuralisme plaque le principe général de l'arbitraire du signe sur un texte qui est un corpus de parole à tel moment: c'est de l'anhistoricisme. Sous prétexte de ne pas enfermer le texte dans une interprétation vraie, cela le conduit au chaos, au nihil: „ça ne signifie rien en soi". Certes. Mais le texte est justement la limitation de ce chaos, il est une pluralité relative d'interprétations possibles. Et cela nous conduit à votre troisième question, sur l'imagination: entre l'arbitraire du signifiant et la métaphysique du signifié, l'imagination, comme le schème kantien, joue entre le concret empirique et le concept et elle joue entre pluriel et singulier. Elle joue donc sur un matériau, sur lequel et à partir duquel elle exerce sa liberté. Ainsi du texte de Nietzsche. Ainsi du poète, qui ne peut jouer qu'avec et à partir d'un état de langue qu'il pratique et connaît (sans quoi il ne pourrait pas l'exploiter!). C'est à partir du signifiant „ s p i n - " et des homophonies, puis des apparentements métaphoriques que Nietzsche joue sur „Spinne", „ S p i n o z a " , „spinnen" pour en arriver beaucoup plus au „Blutsauger" qu'à . . . la mère castratrice . . . La liberté de l'imagination est donc réglée par certaines structures culturelles (C'est pourquoi on ne peut plus guère lire Nietzsche sans notes explicatives). Mais l'arbitraire de l'interprétation conduit à se placer hors de ces structures, hors du corpus, hors du temps, au niveau, non pas de l'énoncé de parole, mais du système en quelque sorte intemporel, comme si on pouvait en même temps, devant un texte, lui attribuer l'arbitraire intemporel du système et le soustraire aux règles de différence du système dans lequel il s'inscrit sans se confondre avec lui. C'est pourquoi j'estime qu'il y a double jeu: on affirme l'arbitraire, qui vaut au niveau global du système, et on refuse de se situer en lui (où précisément il n'y a pas d'arbitraire). O r , la situation intellectuelle française est telle qu'entre l'inflation de la métaphysique de la scientificité et son revers, l'arbitraire de l'interprétation, il est difficile de trouver une place pour une réflexion sur l'imagination et son rôle chez Nietzsche. J'ai parlé de l'imagination dans mon exposé pour voir comment Nietzsche conçoit, d'une façon très générale, le rapport de l'homme au monde: ce rapport n'est ni intellectuel, ni sensible, me semble-t-il, et il est plutôt de l'ordre de l'interprétation imaginative. Cependant, cela ne le réduit pas au corps biologique, puisque, pour Nietzsche, le
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corps est bien plutôt un ensemble interprétatif fonctionnant selon des régies de l'imagination. Quelles sont ces règles? Nietzsche en parle en des termes qui font plus penser à 1' „Entstellung" freudienne qu'à des concepts ou à un arbitraire absolu (qui signifierait la mort). Bachelard a bien vu que Nietzsche est un penseur de l'imagination: et, s'il est poète en même temps que philosophe, quelles sont les règles qui font que chez lui l'imagination est au service de la pensée philosophique? Abel: Im letzten Teil Ihres Vortrags, Herr Blondel, haben Sie gesagt, die Kultur sei als Text aufzufassen, und zwar als ein Text, der die Interpretation des Leibes ist. Auch Nietzsche verstehe, ja „lese" den Leib auf eine semiologische Weise. Im Anschluß daran haben Sie Nietzsche attestiert, er vermeide zwei in diesem Zusammenhang naheliegende Gefahren. Er erliege weder der Gefahr einer philologischen Petrifizierung noch falle er in einen bloßen Naturalismus zurück. Dies gelinge Nietzsche, weil er den „physiologischen Diskurs" in einen „philologischen Diskurs" umbilde. Das finde ich sehr interessant, aber meine Frage ist: Gibt es denn bei Nietzsche überhaupt noch einen Unterschied zwischen einem Text und einer Interpretation? Und wenn ja: Was ist der Sinn dieses Unterschiedes? Blondel: Est-ce qu'il y a une différence entre le texte et l'interprétation chez Nietzsche? Est-ce la votre question? Abel: Ja, das ist meine erste Frage. Eine zweite bezieht sich auf Ihr Verständnis des Begriffes „transzendental". Wenn das Verhältnis von Leib und Text dem Kantischen Verhältnis von Ding an sich und Erscheinung entspricht, was kann dann, beim Ubergang in die gänzliche Interpretativität, der Transzendentalismus bedeuten? Den starken Sinn, den er bei Kant hat, kann er m.E. unter diesen Bedingungen nicht mehr behalten. Meine dritte Frage hängt mit den ersten beiden zusammen: Ihr Konzept eines „sprachlichen Transzendentalismus" versucht, wenn ich richtig verstanden habe, auch die Sprache am Leitfaden des Leibes zu denken. Leib und Sprache treten in ein alles andere fundierendes Verhältnis. Aber in eben diesem Verhältnis zwischen Leib und Sprache sehe ich bei Nietzsche einen kritischen Punkt. So spricht er etwa davon, daß sich in der Sprache die „Grundirrtümer der Vernunft" versteinert haben. 5 Mich interessiert vor allem, ob bei der von Ihnen anvisierten Verbindung zwischen Leib und Sprache noch ein spezifischer Sinn von Sprache erhalten bleibt? — Schließlich
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G M I 13.
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noch eine Frage zu Nietzsches Uberwindung der Metaphysik, Herr Blondel. Impliziert die These, Nietzsche habe die Metaphysik überwunden und verwunden, daß er aus der Grammatik herausgesprungen ist? Jeden ordinarylanguage-Philosophen würde diese Voraussetzung an die Decke gehen lassen. Und in der Tat: Stehen wir nicht auf der Ebene der Sprache erneut vor dem Problem der Metaphysik? Vorausgesetzt, das Problem der Metaphysik bleibt so lange bestehen, wie wir sprechen: eine sprachliche Widerlegung oder Uberwindung der Metaphysik ist dann gar nicht möglich. Kann Nietzsche unter dieser Prämisse die Metaphysik überhaupt widerlegt haben? Blondel: Vous aussi, vous ne posez que des questions difficiles. Mais je vais tâcher d'y répondre le plus brièvement possible. D'abord la différence entre texte et interprétation. Pour Nietzsche, un texte ne saurait être réduit à un signifié conceptuel unique: il n'y a pas de texte qui ne soit susceptible d'une interprétation. Pas de texte „en soi", qu'on pourrait abstraire de ses interprétations (par opposition à la conception métaphysique de l'univocité du signifiant, illustrée par exemple par la proposition mathématique, qui, par postulat, se met hors interprétation). Cela implique une pluralité d'interprétations, donc la possibilité d'une déviance par rapport à une relation bi-univoque signifiant-signifié. O r , Nietzsche à la fois propose une libération plurielle des interprétations du texte (contre la métaphysique de l'essence) ET la répression de cette déviance, de cette licence, qui est le fait, selon lui, des théologiens-moralistes. A mon avis, sa revendication de l'infinité des interprétations fait seulement pièce au dualisme métaphysique: en un mot, la nature n'est pas le système des concepts, mais l'impossible somme des perspectives (retour de Kant à un Leibniz sans Dieu). Or, de quel droit Nietzsche peut-il, sans contradiction, défendre le texte contre les interprétations abusives des théologiens, s'il a effectivement affirmé l'infinité des interprétations possibles? S'il n'y a pas inconséquence de Nietzsche, qu'est-ce qui, dans le texte, peut permettre de régler l'interprétation entre le singulier et l'infini, entre 1' „Erklärung" et la dissolution ou, pour parler comme Platon, entre l'eidos unique et l'émiettement sophistique (nihiliste), bref, entre ce que Nietzsche appelle „philologie" et ce qu'il nomme „philosophie"? Nietzsche a-t-il réfléchi et résolu cette antinomie? Il y a en tout cas de nombreuses occurrences de cette phrase: „Das ist Interpretation, nicht Text" {Jenseits 22; vgl. KGW VIII 3, 15[82] u. [89]) Si le texte n'est pas une essence, il est au moins une matière. Inversement il y a des interprétations qui, par rapport au texte, ne sont rien: par exemple les interprétations morales du texte du monde (vglJenseits 108: „Es gibt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen") (vgl. auch K G W VIII 1, 7[60]). Il se pourrait même que la pensée de Nietzsche soit la tension
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non résolue entre ces deux termes antinomiques, comme le suggère Heinz Wismann dans Nietzsche et la philologie6. Or, un texte (en particulier un texte de Nietzsche), comme l'indique l'étymologie, c'est une texture, un tissu: en l'occurrence, c'est un corpus de signifiants dont le signifié est relativement réglé synchroniquement par un état des différences dans la langue. Mais c'est aussi un procès de production de nouvelles relations inédites entre les signifiants et entre les signifiés. C'est un état et un principe de mouvement des signes. Oublier l'état par rapport auquel jouent les variations, c'est un peu faire un usage transcendantal des catégories, dans la mesure où cela revient à négliger l'espace et le temps de l'expérience (l'état dans lequel s'inscrit le texte et les relations internes du corpus). Selon moi, c'est faire de la métaphysique, je l'ai déjà dit: c'est se situer hors de l'histoire, désincarner les signifiants par rapport au système dans lequel ils jouent, c'est prendre l'attitude suprahistorique globale qui ne vaut qu'en dehors de l'événement de parole. C'est transformer la parole en abstraction se situant en dehors du système: c'est donc hypostasier le système, comme un absolu métaphysique. Car seul le système est arbitraire: la parole, elle, ne l'est pas. Le structuralisme pratique un dualisme système-parole, il les sépare métaphysiquement, comme être et néant, selon le Platon du Sophiste, sont arbitrairement séparés. En ce sens, les structuralistes sont des parménidienshéraclitéens tout à la fois, et selon le point de vue — tout comme les sophistes étaient l'un et l'autre selon que cela les arrangeait. Oublier le rapport de la parole (les textes de Nietzsche) au système, c'est de la sophistique nihiliste: avec pour conséquence le subjectivisme solipsiste: „je" dispose du texte, le sujet est l'instance libre de l'interprétation. Si ce n'est pas de la métaphysique . . . Au contraire, il me semble que, pour Nietzsche, c'est d'abord, mais pas uniquement, le texte, comme texture, qui est constitutif du sens, et c'est dans la relation avec cette structure et l'organisation pulsionnelle du lecteur que se constitue l'interprétation. Ignorer l'histoire qui structure le texte et le lecteur, c'est proprement ce que Nietzsche (ainsi que Marx) appelle l'idéalisme. Sinon, en quoi le structuralisme se distinguerait-il de la théologie et son système prétendu arbitraire (comme le Dieu de Descartes) du Dieu créateur? Enfin, il y a une différence (qu'il faut reconnaître) entre la transposition dans un autre temps (le nôtre) ou une autre culture (par exemple française) et la réinscription: cette dernière est transhistorique, l'autre est historique. Que penseriez-vous, surtout ici! d'une traduction arbitraire? Deuxième point: le transcendantal. Mon recours à cette notion kantienne est à usage „régulateur" et non „constitutif, justement: il ne vaut que dans certaines „limites". Il vise à situer le rapport texte-interprétation, et, par 6
In: Nietzsche aujourd'hui?, Bd. 2.
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corollaire, le rapport entre le corps et la culture (puisque celle-ci en est l'interprétation). Et on précicerait mieux le rapprochement en passant par le chaînon Schopenhauer. Je veux dire seulement ceci: pour Kant, le phénomène n'est que phénomène de la chose en soi et, surtout, le phénomène n'est pas la chose en soi ni une pure apparence (Erscheinung se distingue de Ding an sich et de Schein). D'une façon analogue, chez Nietzsche, la culture (morale, Idéal etc.) est un langage qui interprète le corps, une sémiotique interprétative du corps — c'est ce que signifie la notion de généalogie — et 1°) nous ne connaissons pas le corps en soi, mais seulement par ses interprétations dans la culture, donc indirectement, il n'est pas un An-sich accessible indépendamment de ses interprétations dans l'idéal, la culture, qui à la fois l'expriment et le travestissent; 2°) en revanche, la culture n'est pas un pur langage, c'est une Zeichensprache, c'est le corps et les organisations pulsionnelles en tant qu'ils s'expriment et se masquent dans ce langage. Autrement dit, il n'y a pas d'intuition extra-linguistique du Leib, mais le Leib ne peut pas être réduit à un jeu combinatoire de signifiants: en ce sens, Nietzsche est plus kantien que schopenhauérien, et il n'est ni réaliste (intuitif), ni une sorte de structuraliste berkeleyen pour qui le réel se réduirait aux signifiants-idées-choses. Poursuivre l'analogie plus loin serait toutefois erroné: en particulier, comme vous l'avez souligné avec pertinence, ce „transcendantal" n'a pas le sens fort qu'il revêt chez Kant, car il ne fonde pas l'objectivité du Gegenstand, mais l'interprétativité en général, c'est-à-dire le lien, le rapport du corps au langage, mais un rapport qui est à la fois de proximité (sémiotique, Symptomatologie, Zeichensprache . . .) et d'errance (Moral, heilige Lüge, Ideal, etc.), d'unification (le symptôme exprime singulièrement la pluralité conflictuelle du corps) et aussi de travestissement. Et puis, je l'ai suggéré précédemment, où se situerait donc la déduction: dans le corps ou dans le langage comme constituant le principe de l'interprétation? Il y aurait tout au plus, comme dit Kant, simple „exposition", (Erörterung), constatation de l'interprétativité. Et enfin, je crois que Nietzsche, destituant la raison (dérivée), se fierait plutôt à l'imagination transcendantale et que, de ce fait, au lieu d'un fondement qui rendrait possible une déduction (le corps comme Leitfaden ou le texte du monde constituant alors une sorte d'urspriinglichsynthetische Einheit der Apperzeption), Nietzsche constitue un cercle, qui est la conséquence de son monisme: la culture interprète le corps mais le corps lui-même est un ensemble interprétatif, voire un texte. C'est pourquoi la physiologie se réduit pour lui à une philologie en acte, à une philologie incarnée: là, je suis d'accord avec le structuralisme et son insistance sur le langage. Seulement, Nietzsche affirme, un peu comme Kant, qu'il y a une réalité du texte qui résiste à l'interprétation, un „An sich" (il emploie l'expression, comme Kant) que nous ne pouvons pas saisir autrement que par
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le langage, bien qu'il ne soit justement pas un langage (de même que le phénomène ne recouvre pas la chose en soi). La différence, c'est la volonté de puissance, qui fait que le signe est avec les autres signes dans un rapport non seulement de différence logique, mais d'opposition dynamique. Et c'est peut-être en ce sens que les Herrschaftgebilde pulsionnelles sont le sol généalogique de la culture. Votre question sur l'inadéquation du langage est difficile. Nietzsche en effet ne cesse d'affirmer que les moyens du langage sont impropres pour exprimer ce qui ressortit au devenir. Cela confirme ce que je viens d'évoquer sur l'impossibilité de réduire la réalité du corps et de la culture au langage. Le langage fige, et surtout il enferme le réel dans les filets de la grammaire: en cela, il est le père de l'erreur. Mais Nietzsche propose précisément de se servir du langage pour le forcer à dire ce qu'il ne dit pas ou dit malgré lui, pour le déchiffrer selon d'autres rapports que ceux qu'il croit imposer. Tel est selon moi le sens du mot „sémiotique" dont se sert Nietzsche dans Götzendämmerung (Die „Verbesserer" der Menschheit, § 1) pour qualifier le discours moral: „Das moralische Urteil ist insofern nie wörtlich zu nehmen: als solches enthält es immer nur Widersinn. Aber es bleibt als Semiotik unschätzbar". La généalogie est l'art de faire dire au langage ce qu'il veut taire en le lisant selon d'autres rapports, selon un autre Leitfaden. C'est ce que j'ai tenté de montrer en étudiant le Vorwort de Götzendämmerung.7 Dans la manière qu'a un langage de masquer la réalité, on peut entendre comment le corps se cache, comment la réalité se manifeste: „welches Entzücken für einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat, — für mich alten Psychologen und Rattenfänger, vor dem gerade Das, was still bleiben möchte, laut w e r d e n m u ß " . Naturellement, cette philologie de l'écoute a d'autres règles, méthodes et critères que ceux de la grammaire et de la métaphysique: la nouveauté de Nietzsche me paraît justement résider dans le dévoilement de ces méthodes généalogiques et philologiques (la „psychologie"). Et cela implique que Nietzsche commence par rompre avec la conception métaphysique d'une correspondance directe signifiant-signifié. Seulement — et c'est votre quatrième question — cela se retourne contre Nietzsche. Quel langage parle-t-il, et comment doit-on le lire, lui? S'il parle, son langage est métaphysique par sa grammaire (et, d'autre part, on ne s'est pas privé de le lire comme un symptôme, principalement pour le discréditer!). Dans cette mesure, il ne sort de la métaphysique qu'en claquant la porte, après l'avoir cultivée et en la laissant indemne. Tel est le sens des interprétations qui font de Nietzsche un simple émigré, soit en tant que poète, soit par la folie finale: en tant que tel, il n'aurait jamais fait de mal à une seule mouche 7
Vgl. „Götzen aushorchen", à paraître in: Perspektiven der Philosophie.
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métaphysique. Au contraire, Nietzsche, selon moi, en tant qu'il parle, tient forcément un discours de nature métaphysique: mais il le tient d'une manière ambiguë. Il s'exprime avec les concepts de la métaphysique (p. ex. „Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist. . . " : KGW VIII 3,14[80]), mais il met en œuvre par son écriture des processus qui bougent et travaillent par rapport à ce langage (cf. par ex. KGW VIII 2, 9[91]): glissements métaphoriques, guillemets. Il ne signifie pas seulement, il produit et fait se mouvoir les signifiants en y introduisant des rapports de force: ses textes sont des ensembles de signes, mais aussi des Herrschaftsgebilde, ils sont signes et volonté de puissance. Et c'est pourquoi on ne peut pas les réduire à des signifiés, même pluriels mais au fond seulement les lire, c'est-à-dire en suivre le mouvement, le travail, qui rend toujours douteux leur „contenu" métaphysique. „Wahrheit ist somit nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, — sondern etwas, das zu schaffen ist (. . .) ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen, nicht ein Bewußtwerden von etwas, das „an sich" fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den „Willen *ur Macht" " (Ebda). Gerhardt: Meine Absicht war auch, nach der Ubertragbarkeit des Verhältnisses von Ding an sich und Erscheinung zu fragen. Aber darauf haben Sie, Herr Blondel, soeben schon geantwortet. Sie nehmen im Grunde die Metaphorik des Bestimmens, des Verfügens oder Beherrschens, mit der man die Leistung der Kategorien des Verstandes beschreiben kann, zum Ansatzpunkt Ihrer Analogie. Das ist in der Tat eine Parallele, die man weiterdenken kann. Der Sinn der Kantischen Unterscheidung wird damit freilich nicht voll getroffen. Doch ich möchte das hier nicht weiter vertiefen, sondern lieber einen anderen Punkt ansprechen. Sie haben, wie ich finde, sehr überzeugend gezeigt, Herr Blondel, daß der Strukturalismus bei seinem bloßen Rückzug auf den Text in eine idealistische Isolation zu geraten droht. Wer aber auch bei Nietzsche eine derartige Beschränkung auf den Text auszumachen versuche, der lasse den Moralisten Nietzsche außer acht. Das möchte ich unterstreichen und ergänzen. Nicht nur Nietzsche als der Moralist, als der vom Anspruch der Moralität ausgehende Kritiker der herrschenden Moral, sondern auch der Zeitkritiker und der politische Visionär Nietzsche ist über die bloße Textebene immer schon hinaus. Er spricht intentional, will auf eine Bedeutung, auf einen Sinn und auf Handlungen hinaus. Am stärksten aber scheint mir in Nietzsches Ästhetizismus, oder sagen wir: bei dem Künstler Nietzsche, die ausschließliche Textreferenz verlassen. So sehr auch alles Denken, jede Begründung, Rechtfertigung und Auslegung sprachlichen Charakter haben und somit auch mehrdeutig sein mag: der dionysische Rausch oder der apollinische
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Bilderfunken eröffnen eine andere Dimension. Lust, Leid und aller sinnlicher Eindruck haben eine vorsprachliche „Bedeutung", die erst im ästhetischen Akt, in dem, was Nietzsche das Schaffen nennt, einen Sinn erzeugen. Der ästhetische Erzeugungsakt der (jeweiligen) Welt wäre im übrigen jene Systemstelle, an der ich eine transzendentale Problematik bei Nietzsche vermuten würde.
Blondel: Sur le transcendental: on ne peut en parler pour Nietzsche sans précautions et réserves. Mais il ne faut pas oublier que Nietzsche se réclame de Schopenhauer, lequel se proclamait kantien. En ce sens, Nietzsche, avec la généalogie, affirme que la réalité du discours de l'idéal, son origine, c'est le corps comme volonté de puissance (comme la chose en soi était chez Schopenhauer le Wille zum Leben). Mais ce discours, pour Nietzsche, s'il peut être illusoire, n'est pas ontologiquement une illusion, comme chez Schopenhauer qui présentait les Erscheinungen du Wille comme Schein. L'idéal, pour Nietzsche, n'est pas un Schein, mais une Erscheinung du corps en soi, auquel on n'a jamais accès direct sans passer nécessairement par le langage (chez Kant, pas d'intuition hors de l'espace et du temps): c'est en ce sens que le langage me paraît jouer le rôle d'un transcendantal (interprétatif et philologique) chez Nietzsche. Il marque des limites. Inversement, le corps ne se réduit pas aux phénomènes linguistiques, comme le voudraient les structuralistes (de même Kant ne confond pas l'en-soi avec son Erscheinung). Pour ces derniers, le „corps", l'inconscient, c'est un ensemble de signifiants: „ça parle" ((das) Es wird gesprochen). Also: die psychoanalytische Kur, so sagen die Strukturalisten (Lacan), die haben nicht die Absicht, Sie zu heilen, sondern nur Ihren Diskurs „zurückzuorganisieren": das scheint mir ein wenig teuer für solch ein geringes Resultat! C'est pourquoi je suis en total accord avec ce que vous avez dit sur l'„autre dimension", la „vorsprachliche Bedeutung", sur l'intentionnalité, le sens, la volonté référentielle de Nietzsche. Vous ouvrez des voies de réflexion sur l'art, que je n'ai fait qu'esquisser en parlant de l'imagination. Que Nietzsche, par l'art, dépasse le plan du texte, c'est ma conviction, et cela empêche de réduire le moraliste et le philosophe de l'art à la question, à mon avis assez secondaire, de la métaphysique: à cet égard, il est remarquable qu'une telle réduction conduit les structuralistes à ignorer une immense partie de l'œuvre (notamment Menschliches, Allzumenschliches et Morgenröte), où Nietzsche tient un discours référentiel sur la culture, la morale, l'art et ne s'intéresse pas aux questions métaphysiques du langage et du signifiant pur. Je ne puis qu' acquiescer à vos propositions en me réjouissant de constater que je ne suis pas le seul à élever des objections sur l'exploitation „structuraliste" de Nietzsche.
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Figl: Ihre Kritik an den strukturalistischen Interpretationen, Herr Blondel, hat mich in vielen Punkten überzeugt, besonders darin, daß die, sagen wir, „idealistische" Konzeption eines für sich seienden Textes für eine inhaltsbezogene Interpretation nicht als fruchtbringend angesehen werden kann. Der historische Sinn wird beim strukturalistischen Umgang mit den Texten nicht gebührend akzeptiert. Aber ich möchte doch gern die Frage aufwerfen, ob sich nicht im Werk Nietzsches selbst Anhaltspunkte finden, die die strukturale Methode bestätigen können. In Orientierung an den Ausführungen des Referates möchte ich einige Punkte nennen, die, von Nietzsche herkommend, die strukturalistische Methode sozusagen positiv bestätigen. Ich erinnere an den bekannten Ausspruch in Ecce homo: „Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften." 8 Das kann hier nur als Indiz für Nietzsches Anspruch gewertet werden, ein Werk ohne biographischen Bezug zum Autor aufzufassen. Ein solcher Anspruch ist hermeneutisch zweifellos legitim. Hier wird die Autonomie des Textes behauptet, wird gefordert, den Text nur als Text, unabhängig von den Lebenszusammenhängen, aus denen er hervorgegangen ist, zu lesen. Durch die Objektivierung der Schrift wird eine Distanz zu ihrem Urheber hergestellt. Der Autor kommt nicht mehr vor, und der Inhalt, das, was gesagt wird, steht für sich. Hier ist doch offensichtlich eine Parallele zum strukturalistischen Ansatz gegeben. — Nun komme ich zum zweiten Punkt. Blondel: Darf ich zunächst auf den ersten Punkt eingehen? Vielen Dank. Je suis entièrement d'accord avec vous qu'il y a beaucoup d'affirmations de Nietzsche qui cherchent à isoler le texte des conditions biographiques. Et notamment la constante insistance de Nietzsche sur le texte qui doit être respecté en lui-même par le philologue, c'est un des points capitaux de la façon de penser de Nietzsche. — Je pense notamment à la préface du Gai Savoir où Nietzsche dit: „Aber lassen wir Herrn Nietzsche!" (Laissons-là Monsieur Nietzsche!), et je pense aussi à un aphorisme de Morgenröte 119 qui, de la même façon que les structuralistes, insiste — à propos de l'explication du rêve —, sur l'impossibilité de faire toujours rigoureusement correspondre un corrélat réel dans le corps à l'interprétation (s'opposant ainsi à une sorte de réalisme de l'inconscient). Nietzsche dit: Il y a plusieurs explications du rêve, et derrière le rêve et les images du rêve, il pourrait y avoir telle ou telle ou telle interprétation; mais, dit-il, il pourrait n'y avoir aucune interprétation — derrière, il se peut qu'il n'y ait rien. Je peux seulement vous renvoyer à ce texte, et je crois qu'il ne faudrait surtout pas confrondre (c'est la deuxième partie de ma réponse) le contenu avec la vérité biographique de Nietzsche. Je crois que 8
EH Warum ich so gute Bücher schreibe.
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ce sont deux choses différentes, et il est important que les études structuralistes aient fait la différence. Mais Nietzsche dit aussi: „Jede grosse Philosophie ist eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires" {Jenseits 6). Figl: Das zeigt ja eine größere Ubereinstimmung zwischen uns, Herr Blondel, als ich aufgrund Ihres Referates angenommen habe. Nun zu dem zweiten Problemkreis. Während ich soeben die Loslösung vom Autor betrachtete, spreche ich jetzt die Ablösung von den inhaltlichen Bezügen an. Der Strukturalismus bestreitet ja den Verweisungsbezug über die Textimmanenz hinaus. Auch hier findet sich in Nietzsches Denken ein analoger Ansatz. Auch bei Nietzsche sehe ich die Tendenz, den Text zu einem orientierungs- und verweisungslosen, und damit letztlich zu einem inhaltsleeren Phänomen zu machen. Sie ist m.E. in der Diagnose des Nihilismus oder in der Sinnproblematik schlechthin aufweisbar. Wenn aller Sinn nur aus Projektionen hervorgeht, wenn jede Interpretation nur von Menschen hineingelegt ist und auch beliebig wieder herausgenommen werden kann, dann frage ich mich, ob hier nicht zumindest der heuristische Hintergrund für die strukturalistische Textauffassung gegeben ist. Ein Text hat demnach entweder keinen Sinn oder er hat unzählig viele „Sinne". In beiden Fällen gibt es keinen eindeutigen Sinn. Blondel: C'est bien cela en effet que disent les structuralistes et il est vrai qu'on trouve chez Nietzsche des propositions de ce genre, qui énoncent ce qu'est le nihilisme. „Derselbe Text erlaubt unzählige Auslegungen: es gibt keine „richtige" Auslegung" (GA XIII, S. 69, § 171 ; vgl. KGW VIII 1, 7[60]). Reste à savoir s'il le prend à son compte. En tout cas, il demeure en partie vrai que les structuralistes rendent à Nietzsche ce qu'ils lui ont emprunté, mais „enrichi" de tout l'appareil de l'analyse structurale, qui, en tant que telle, est nihiliste. Donc, le structuralisme, c'est l'analyse structurale greffée sur certaines affirmations de Nietzsche: cela permet de conférer un statut philosophique à l'analyse structurale (ce qui est contraire à l'intention de cette dernière), l'objectif étant de montrer, contre Heidegger, que Nietzsche a ruiné la subjectivité comme source constitutive du sens et de faire disparaître tout „être". Et inversement, cela permet de donner une caution scientifique à Nietzsche (qui n'en aurait peut-être pas voulu!). Tout de force: „nietzschéiser" la science et rendre „scientifique" la pensée de Nietzsche. Or, précisément, la science étant nihiliste, pour Nietzsche, il s'agit d'un cercle nihiliste. Le Nietzsche des structuralistes c'est le Nietzsche nihiliste: dans cette mesure, cela correspond à une vérité nihiliste de Nietzsche, et je suis loin de penser que le structuralisme est entièrement aberrant par rapport à Nietzsche. Cependant, je crois que Nietzsche n'a voulu le nihilisme que pour libérer
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l'interprétation, pour l'ouvrir, non pour retourner à une pensée du chaos. C'est le sens de certains de ses procédés comme le Gedankenstrich (il pensait donner ce titre à un de ses ouvrages) qui, souvent après un „oder", ouvrent le texte sur la multiplicité du Versuch. Et Nietzsche est-il inconséquent quand, par ailleurs, il blâme les théologiens de leur „unverschämte Willkürlichkeit der Auslegung", de leur „Possenspiel" (vgl. Morgenröte 84, Antichrist 52)? En tout cas, ce Nietzsche-là est censuré par les structuralistes. En outre, la seule idée de „Wille" témoigne chez lui d'une intention référentielle (Verweisung), sans laquelle il pourrait être totalement assimilé au nihilisme. Pour Nietzsche, le nihilisme est l'effacement de la référence, le rien du vouloir:" (er) lieber will noch das Nichts wollen als nicht wollen": il est nihiliste de vouloir que le texte ne veuille rien dire, et de l'exclure ou de le séparer de la volonté hors du texte. Le nihilisme que Nietzsche récuse aboutit à s'enfermer dans un texte hors de la réalité et dépourvu de sens (de là sa critique de Flaubert). Ainsi, pour les structuralistes, le sens résulte, non du corps, mais du contexte, et le corps n'est guère qu'un texte: dénégation idéaliste à l'usage et à l'image des intellectuels qui ne savent que faire de leur corps! Si Nietzsche a effectivement donné des gages au nihilisme structuraliste, c'est, je crois, en tant que nihiliste actif (et non passif). „Das sind meine Feinde: die wollen umwerfen und sich selber nicht aufbauen. Sie sagen „alles das ist ohne Wert" und wollen selber keinen Wert schaffen" (Musarion XIV, S. 39). Ce „Schaffen" (qui nous choque un peu par son côté prophétique) n'est possible que si on commence par détruire (sans s'y arrêter) l'unicité métaphysique du sens. Et si Nietzsche veut multiplier les interprétations et les perspectives, ce n'est pas pour restituer le chaos, mais pour restaurer l'énigme du monde et du texte. Ce mot d'énigme revient souvent, Nietzsche lui oppose la simplification mensongère: mais l'énigme ne recouvre pas le défaut de sens. Et enfin, en tant qu'il se présente comme un „Schaffender", Nietzsche renvoie toujours à un effet de ses écrits sur le lecteur, il suppose en cela une référence extra-textuelle, ce qui implique que ses écrits ont une intention et que ce n'est pas de sa faute si le lecteur n'y comprend rien! „Wenn diese Schrift irgend Jemandem unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht, so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht notwendig an mir. — Sie ist deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, daß man zuerst meine früheren Schriften gelesen und einige Mühe dabei nicht gespart hat (. . .). Was zum Beispiel meinen „Zarathustra" anbetrifft, so lasse ich Niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann tief entzückt hat . . ." (GM Vorrede 8). Figl: Erlauben Sie noch eine letzte Frage: Nach der Ankündigung des Themas hatte ich eigentlich einen Vortrag erwartet, der die Einflußlinien auf-
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zeigt, die zwischen Nietzsche und dem französischen Strukturalismus verlaufen. Mindestens in einem weiteren Punkt sehe ich eine so deutliche Parallele, daß ich nach dem Rezeptfonszusammenhang fragen möchte. Nietzsches Kritik des Subjektbegriffs scheint mir schon stark auf die Destruktion der Subjektivität vorauszuweisen, die ja, global gesprochen, zum Kennzeichen strukturalistischer Methodik oder, wie Sie sagen, strukturalistischer Ideologie geworden ist. Auch hier muß eine Erinnerung an jene Stellen genügen, in denen von der „Scheinexistenz" des Subjekts die Rede ist: „Der Fehler steckt in der Hineindichtung eines Subjekts."9 Seit Descartes wird, so Nietzsche, ein ständiges Attentat auf den alten Seelenbegriff geführt. Man versuchte, die überlieferte Bedingtheit des Prädikats durch das Subjekt umzukehren und fragte, ob nicht das Denken die Bedingung des „Ich" sein könne. Nicht das „Ich" denkt, sondern das „Ich" wird durch eine anonyme Macht gedacht. Hier liegt doch eine deutliche Parallele zum strukturalistischen Ansatz. Aber ich möchte gleich hinzusetzen: An dieser Stelle zeigt sich auch ein bedeutsamer Unterschied, in dem Nietzsches Radikalität sichtbar wird! Nietzsche kommt zu seiner kritischen Einschätzung der Subjekt-Prädikat-Relation gerade auf der Basis einer durchdringenden Sprachkritik, während der Strukturalismus die Sprache im Grunde als eine gegebene Macht akzeptiert. Mich würde interessieren, ob Sie diesen Zusammenhang ähnlich beurteilen, Herr Blondel. Blondel: Je suis tout à fait d'accord avec votre manière de présenter les choses. — Je reprends plusieurs points précis. En ce qui concerne l'influence de Nietzsche sur certains structuralistes, elle est certaine. Mais je me suis borné à parler des structuralistes qui traitent de Nietzsche. Si l'on considère par exemple Foucault — bien que Foucault n'ait pas ou très peu parlé de Nietzsche lui-même-l'influence de Nietzsche sur Foucault est fondamentale. La notion d'archéologie doit beaucoup notamment à la notion de généalogie: c'est visible dans dans le seul texte que Foucault a écrit sur Nietzsche: Nietzsche, La généalogie, l'histoire10. Pour ce qui concerne les influences, il faut savoir que la plupart des structuralistes sortent d'une époque qui, en France, a été déterminée successivement par le néo-kantisme et par l'existentialisme, et que le structuralisme est en France un mouvement très spécifique dû à la re-lecture premièrement de Freud et deuxièmement de Nietzsche. C'est-à-dire que le structuralisme est un phénomène qui, en France, cherche à faire une synthèse entre Marx et les „maîtres du soupçon" comme a dit Ricoeur, c'est-à-dire Freud et Nietzsche. C'est sur le point de concordance apparent entre ces divers penseurs, que les structuralistes fondent notamment cette négation de la sub» Nachlaß Herbst 1 8 8 5 - 1 8 8 6 : 2[ 142]; KGW VIII 1, 135 oder vgl. : JGB 54. În: Hommage à Jean Hyppolite, Paris, 1971.
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jectivité, c'est-à-dire — comme vous l'avez très justement dit — qu'ils reprennent la théorie de Nietzsche sur l'origine grammaticale de la notion de „ s u j e t " et de la notion d'action, et caetera. A cela s'ajoute la soudaine irruption, brutale parce que très tardive, de la linguistique et la re-traduction de Freud par Lacan; c'est-à-dire que dans le fond le structuralisme est — comme vous l'avez fort bien dit — une destruction du sujet, de la subjectivité — ou comme on l'a dit à l'époque: un décentrement du sujet. Mais est-ce que pour autant la subjectivité a été supprimée? — Je ne le crois pas. J e pense à l'essai de M. Miiller-Lautér sur Heidegger qui montre que la société (et de même l'inconscient et le texte) peut fonctionner comme lieutenant du „ s u j e t " : La subjectivité se trouve encore dans la langue telle que les structuralistes la déterminent, dans la mesure où la langue elle-même est le sujet déterminant, même si — comme dit Lacan — la langue s'appelle „l'Autre". A partir d'une notion du sujet qui était „le même", les structuralistes passent à une notion de la langue qui sera „ l ' A u t r e " dominant la subjectivité individuelle. Et mon avis est que, premièrement, il y a dans le structuralisme des résurgences de l'hégélianisme: La langue fonctionne exactement comme le Geist chez Hegel. C'est une subjectivité totalisante, la langue (même si elle inclut la différence, l'altérité, comme chez Hegel). Deuxièmement, la pensée des linguistes, dont s'inspire le structuralisme et dont s'inspire notamment Lévi-Strauss, c'est la pensée technique des ingénieurs. C'est la pensée de la théorie de la communication. Jakobson se fonde sur la Mitteilungstheorie. Et ce n'est pas avec cette pensée de la technique de la communication que l'on peut abolir la subjectivité — ce n'est pas avec cette théorie/pensée de la communication, de la maîtrise de la nature, de la maîtrise des messages (la réception des messages), de la cybernétique — „kybernein" auf Griechisch meint regierer — ce n'est pas avec une pensée du gouvernement que l'on peut détruire la métaphysique cartésienne. C'est au contraire le retour de la métaphysique cartésienne. Dans ces conditions, je suis d'accord avec vous que, en apparence, les structuralistes se sont réunis sur la contestation de la notion de subjectivité; mais pour ce faire, ils se sont servis premièrement — inconsciemment — du modèle hégélien; deuxièmement — plus consciemment — du modèle métaphysique de type cartésien que l'on trouve dans la cybernétique et la théorie linguistique de la communication. J'ajouterais que le renvoi de déterminations à la société comme le sujet de la langue est encore un nouvel avatar de la subjectivité. C'est-à-dire que la question de la subjectivité est déplacée sur la langue. Elle existe toujours, si du moins on admet qu'il n'y a pas d'autres types de subjectivité que ceux du sujet personnel, du ego cogitans. E g o cogitans c'est aussi Deus.
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Abel: Die von Nietzsche, freilich nicht nur sprachkritisch, ermittelte Umstellung des Verhältnisses von ,Ich' und ,denke', die er als Reaktion auf Descartes und den Cartesianismus zu beobachten glaubt, ist auch schon von Lichtenberg gesehen und mit anti-cartesianischem Akzent betont worden. Lichtenberg zufolge sollte man nicht ,Ich denke', sondern ,es denkt' sagen, so wie man sagt ,es blitzt'. Das Ich sei darin „praktisches Bedürfnis". 11 Diese These, das möchte ich hier nur einflechten, hat dann in unserem Jahrhundert eine Aufnahme etwa auch in Wittgensteins Vorlesungen der dreißiger Jahre 12 gefunden, und sie spielt in den Diskussionen des Person-Begriffs sowie der Body-Mind-Problematik in der analytischen Philosophie eine wichtige Rolle. Daran wird, so denke ich, auf andere Art deutlich, welch interessante und diffizile Probleme mit Nietzsches Ansatz verbunden sind. Salaquarda: Ich habe eine Bemerkung direkt zur Diskussion. Aus meiner Sicht bedarf die zweite Frage von Herrn Figl der Korrektur; zumindest sollte man die Aussage, nach Nietzsche habe ein Text entweder unendlichen oder gar keinen Sinn, konkreter fassen. Wie Herr Figl richtig betont hat, entsteht diese Alternative zwischen unendlichem oder gar keinem Sinn im Rahmen der Nihilismusdiagnose Nietzsches. Sie gilt daher für den umfassenden Text „Welt". Wenn ich Nietzsche richtig verstehe, ist die Deutungssituation bei konkreten, also bei den einzelnen Texten, die wir jeweils vor uns haben, ganz anders. Sie haben einen bestimmten oder bestimmbaren Sinn, und zwar gerade insofern man sie als Text eines jeweiligen Leibes verstehen kann. Wenn Nietzsche etwa einen neutestamentarischen Text auslegt, so wird m.E. nicht die Voraussetzung unendlich vieler Sinnvarianten gemacht, sondern die Sinnoder Deutungsmöglichkeiten sind durchaus endlich. Da gibt es z.B. den exoterischen Sinn erster Stufe, wie er vom christlichen Laien aufgenommen wird, und den zweiter Stufe, den der Theologe ermittelt; dann wird man noch einen esoterischen Sinn unterscheiden können, wie ihn der Blick des entlarvenden Psychologen erfaßt, der darin beispielsweise eine Logik oder Semiotik eines Leibes oder die Konkretisierung eines Machtwillens erkennt. Vielleicht lassen sich noch einige andere Sinndimensionen benennen. Aber im großen und ganzen, so glaube ich, sind damit die möglichen Interpretationen des neutestamentlichen Textes ausgeschöpft. Von einem unendlichen Sinn kann man also nicht sprechen, solange nicht die Welt selbst als ein Text vorgestellt wird. In diesem Sinn stimme ich auch der von Herrn Blondel exponierten Beziehung zwischen Leib und Sprache zu: unter konkreten Bedingungen ist auch die Beziehung bestimmbar. 11 12
G . Chr. Lichtenberg, Gedanken. Eine Auslese, Weimar 1950, S. 30. Uber Wittgensteins Vorlesungen berichtet G. E. Moore, Wittgenstein^ Lectures in 1 9 3 0 - 3 3 , in: Mind L X I V , S. 13f.
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Figl: Da möchte ich gleich widersprechen, Herr Salaquarda. Es ist genau der konkrete Sinn, von dem Sie hier in Abgrenzung vom Sinn der Welt sprechen, der von Nietzsche dem Sinnlosigkeitsverdacht unterworfen wird. Es ist durchaus der einzelne Text, für den ich die Alternative — entweder unendlicher oder gar kein Sinn — aufgestellt habe. Und im Hinblick auf den einzelnen Text habe ich auch die Parallele zum strukturalistischen Ansatz zu ziehen versucht. Müller-Lauter: Zu der Kontroverse zwischen Herrn Figl und Herrn Salaquarda möchte ich eine Äußerung Nietzsches beisteuern. Sie findet sich im Aphorismus 374 der Fröhlichen Wissenschaft: „Die Welt ist uns . . . noch einmal ,unendlich* geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst." Die Möglichkeit unendlicher Interpretationen innerhalb der Welt, also nicht bloß der Welt als ganzer, kann nach dieser Aussage nicht abgewiesen werden. Im Grunde ist aber doch mehr gesagt, denn der ganze Aphorismus hat die Uberschrift „Unser neues Unendliches", was noch dadurch radikalisiert wird, daß Nietzsche auch noch die Möglichkeit ganz anderer Auslegungscharaktere einräumt. Alles Dasein, so wird erwogen, könnte auslegendes Dasein sein. Über die unendliche Vielzahl dieser möglichen Auslegungsarten aber vermag der Mensch gar nichts zu sagen, weil er aus seiner „Ecke", wie es bei Nietzsche heißt, gar nicht heraus kann, und weil er nicht um die „Ecke" sehen kann. Doch selbst dieser eingeschränkte Standort läßt noch genügend Sichtmöglichkeiten, um die Unendlichkeit der Perspektiven und Interpretationen innerhalb der menschlichen Welt und damit, wie ich meine, auch in bezug auf einzelne Texte zu behaupten. Nur auf den ersten Blick erscheinen die Deutungsmöglichkeiten z.B. eines biblischen Textes begrenzt. Eine Einteilung der Interpretationsmöglichkeiten, z.B. in Stufen, ist selbst wieder Interpretation, wobei gilt, daß derartiges Interpretieren zum ,In-der-Welt-sein' des Menschen notwendig gehört. So ist Nietzsches Theologiekritik selber nur auf der Basis eines vorgängigen interpretativen ,Hineinsteckens', Zusammenfassens, Auswählens usw. möglich. Jede Ubereinstimmung von Interpretationen ist nach Nietzsche Vordergrund, letztlich nur Ubereinstimmung im ,Machtkampf' gegen Dritte. „Einer hat immer Unrecht: aber mit Zweien beginnt die Wahrheit", heißt es in einem anderen Aphorismus (Nr. 260) der Fröhlichen Wissenschaft. Sicherlich hat jeder von uns schon die Erfahrung gemacht, daß die zeitweilige Ubereinstimmung mit anderen in dem Maße schmolz, als man sich aufeinander richtete. Je tiefer man dabei hinabdringt, um so deutlicher treten die Divergenzen zutage. Nach Nietzsche jedenfalls kann es so wenig zwei — im Grunde — übereinstimmende Interpretationen geben, so wenig selbst ein in
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sich beständig bleibendes Interpretieren durch mich, der ich selbst Wandel bin, so wenig z.B. die chemischen Qualitäten ihm zufolge ,gleich' bleiben. Nietzsches Rückführung von Einheit auf Vielheit kann nicht irgendwo Halt machen, weil sonst die destruierte Subjektivität oder Substantialität doch wieder neue Gültigkeit beanspruchen würde. Daher muß er die Unendlichkeit der interpretierenden Machtwillen postulieren. Wenn jedes Kraftzentrum von sich aus die ganze Welt konstruiert 13 , und mit ihr jedes besondere Seiende, z.B. jeden besonderen Text, so wird mit der je faktischen Endlichkeit jeder Interpretation die Unendlichkeit der möglichen Interpretationen behauptet. Nietzsches ,neues Unendliches' der Interpretationen steht freilich in Unvereinbarkeit zu seinen kosmologischen Beweisbemühungen um die Wiederkunftslehre, die von der Endlichkeit der Kräfte ausgehen.14 Um so unvermeidlicher erscheint es mir, diese Lehre als menschlich-übermenschliche Interpretation aufzufassen, die keine von dieser lösbare ,Gültigkeit' hat. Figl: Ich glaube, man kann in einer detaillierten Analyse des Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft aufzeigen, daß dieses von Ihnen, Herr Müller-Lauter, zitierte „neue Unendliche" genau an die Stelle Gottes, also an die Stelle des „alten" Unendlichen tritt. 15 Das läßt sich im einzelnen aufzeigen, und die ganze von Eugen Biser explizierte Metaphorologie der Gott-ist-totProblematik 16 steht in engem Zusammenhang mit der von mir erwähnten Ablösung der einen Interpretation durch eine Vielfalt möglicher Interpretationen. Blondel: Il me semble que vos conceptions, M. Figl et M. Salaquarda, s'opposent comme celles que Nietzsche lui-même présente. Les termes dans lesquels M. Figl présente le statut du texte singulier selon Nietzsche me semblent justes pour un certain Nietzsche. L'hypothèse de M. Salaquarda distinguant entre les limites relatives de l'interprétation pour le texte singulier et l'interprétation illimitée pour le texte du monde me paraît très intéressante. Mais, en citant la Fröhliche Wissenschaft, M. Müller-Lauter a bien souligné que, si Nietzsche parle de l'infini des interprétations, c'est à l'intérieur du monde, sans qu'on puisse avoir une vision globale, de l'extérieur, „um die Ecke", d'un texte du monde passible en droit d'une infinité d'interprétations. Là, il me semble que ce n'est plus seulement une question d'ordre " 14
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Nachlaß Frühjahr 1888: 14[186]; K G W VIII 3, 165f. Vgl. W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, B e r l i n - N e w York 1971, 180f. Vgl. z.B. den Titel des unmittelbar vorangehenden Aphorismus 124: „Im Horizont des Unendlichen". E. Biser, Gott ist tot. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins, München 1962, 42 ff.
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philologique. Le monde est un texte susceptible d'une infinité d'interprétations parce que précisément le concept de monde serait celui qui ramasserait l'ensemble infini des perspectives qui le constituent — ce qui est impossible: „Ein Ding wäre bezeichnet, wenn an ihm erst alle Wesen ihr „was ist das?" gefragt und beantwortet hätten. Gesetzt, ein einziges Wesen, mit seinen eigenen Relationen und Perspektiven zu allen Dingen, fehlte: und das Ding ist immer noch nicht „definirt" (KGW VIII 1, 2[ 149]). Cela vaut a fortiori pour le monde. L'erreur d'interprétation des moralistes et métaphysiciens est alors moins philologique que philosophique, puisqu'elle consiste à faire valoir un point de vue singulier de ce monde pour un point de vue totalisant sur l'ensemble du monde. 17 Le monde est alors une infinité de textes et c'est dans le détail qu'il y a erreur philologique d'interprétation, tandis que la confusion d'une perspective avec cet „hölzernes Eisen" qu'est la totalité des innombrables perspectives est proprement philosophique. Or, la vie, comme volonté de puissance est à la fois singularité et pluralité des perspectives. C'est pourquoi il me paraît que Nietzsche ne pouvait pas trancher entre le respect du texte et la liberté de l'interprétation: il est pris entre la „Wiederkäuung" et la nécessité de „mit etwas fertig zu sein". Le texte capital sur ce point est le § 22 de Jenseits: Nietzsche dit d'une part: „Das ist Interpretation, nicht Text", mais il termine en disant ceci sur son Interprétation personnelle: „Gesetzt, daß auch dies nur Interpretation ist — und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? — nun, um so besser. — „Mais je ne crois pas qu'on puisse réduire cette tension: elle me paraît définir non seulement le problème de la lecture de Nietzsche, mais la pensée de Nietzsche lui-même, prise entre deux pôles. Ce n'est pas une pensée contradictoire, mais une pensée de la tension, voire de l'écartèlement entre la „philologische Rechtschaffenheit" et la philosophie comme perspectivisme et interprétation. Je crois que Nietzsche n'a jamais pu les approcher l'un à l'autre. Je pense à une étude de Heinz Wismann: Philologie et philosophie chez Nietzsche.18 Nietzsche est toujours philologue contre les philosophes — et philosophe contre les philologues. C'est, dit Wismann, le supplice de la roue (das Rädern). Et toute pensée ou interprétation de Nietzsche qui ignore cette tension est forcément métaphysique. Sobrevilla: In bezug auf Ihr Referat, Herr Blondel, habe ich ein zweideutiges Gefühl: Ich bin zwar letztlich mit der Kritik an den sogenannten „strukturalistischen" Interpretationen Nietzsches einverstanden, aber mir genügen die Gründe nicht, welche Sie hier vorgetragen haben. 17 18
GD Das Problem des Sokrates 2; Moral als Widernatur 5. In: Nietzsche aujourd'hui?, Band 2. Paris 1973.
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Ihr Referat besteht aus zwei Teilen: zunächst einer Darstellung und Kritik der erwähnten Interpretationen, dann einem eigenen Vorschlag zur Interpretation Nietzsches. Dieser Vorschlag dürfte eigentlich in der Kurzform, in der Sie ihn hier unterbreitet haben, nicht diskutiert werden. Ich möchte aber im Vorbeigehen sagen, daß Sie sich einiger Begriffe und Themen bedienen, welche eben von den sogenannten Strukturalisten stammen: da war z.B. der Begriff des Textes oder das Thema der Spannung zwischen Körper und Text, welche in eine zweideutige Sprache ausmünde — wobei anzumerken wäre, daß dieses letztere Thema kein privates Thema der sogenannten Strukturalisten ist; es wurde in Frankreich schon früher behandelt, z.B. von Pierre Klossowski, nicht gerade einem Strukturalisten. Blondel: Erlauben Sie einen Einwurf: Ich muß das als strukturalistisch bezeichnen, was als strukturalistisch gilt, nicht, was strukturalistisch ist. Wenn ich über die strukturalistische Nietzsche-Interpretation in Frankreich spreche, muß ich mich an das halten, was unter diesem Namen bekannt ist. Sobrevilla: Ich spreche von den „sogenannten" Strukturalisten, weil es im Grunde genommen eine strukturalistische Philosophie nicht gibt, und der einzige Philosoph, dem vielleicht das Attribut „strukturalist" zukäme, ist Michel Serres. Dies hat Vincent Descombes in seiner Darstellung über quarante-cinq ans de philosophie française sehr treffend ausgeführt. Derrida, Pautrat, Sarah Kofman und Jean-Michel Rey würden sich selbst wohl nicht als Strukturalisten bezeichnen. Dabei ist es richtig, daß sie einen großen Teil ihres begrifflichen Instrumentariums von de Saussure übernommen, oder besser gesagt, kritisch übernommen haben — es genügt in diesem Zusammenhang, allein an die Kritik von Derrida an de Saussure und an Lévi-Strauss zu erinnern. Und es ist auch richtig, daß man diese Philosophen gewöhnlich für Strukturalisten hält, aber das ist eben irreführend. Ihre Kritik ist auch deswegen ungerecht, weil sie sich nicht auf die Ebene der Vernunft, sondern die der Reflexion begibt, also, weil sie in das Feld der „Strukturalisten" nicht eindringt und mit ihnen dort diskutiert, sondern von außen her. So berührt Ihre Kritik eigentlich gar nicht die Sache, um die es den „Strukturalisten" geht, und diese könnten Ihre Einwände schlicht ignorieren — hoffentlich werden sie es aber nicht tun, sondern eine Antwort in den Nietzsche-Studien erscheinen lassen. Sie haben die Voraussetzungen der „strukturalistischen" Nietzsche-Interpretationen eigentlich gar nicht diskutiert. Diese finden sich explizit in dem großen Buch von Jacques Derrida, De la Grammatologie19, wo der Autor 19
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Nietzsche als den wahren Uberwinder der Metaphysik darstellt — im Gegensatz zu Hegel, Husserl und Heidegger. Danach hat Nietzsche dazu beigetragen, das Bedeutende von seiner Dependenz oder seiner Ableitung vom Xôyoç und vom Begriff der Wahrheit zu befreien. Derrida empfiehlt in jenem Text, Nietzsche im Geist Heideggers auszulegen, aber zugleich will er, daß der Interpret über Heidegger hinausgehe und einen anderen Typus von Lektüre versuche; daß er weniger auf den Inhalt, dafür aber mehr auf die Form des Textes achte. Da, nach Derrida, die Sprache nicht nur eine Leistung des Subjektes ist, sondern dieses transzendiert — die Sprache spricht, wie Heidegger sagt —, darf man erwarten, daß eine Uberwindung der Metaphysik in Nietzsches polysemischer, metaphorischer und nicht dem Xôyoç unterworfenen Sprache stattfindet — unabhängig davon, was das Subjekt Nietzsche gewollt hat. In diesem Geist haben Pautrat, Sarah Kofman und Rey Nietzsche interpretiert, und, ich denke, mit beachtlichen Ergebnissen, die eine eingehendere Diskussion verdienen. Diese hätte man von Ihrem Referat erwartet und nicht eine so pauschale Kritik. Eine Interpretation von Nietzsche aufgrund seiner Texte ist nicht dasselbe wie eine idealistische Interpretation. Eher könnte man die „strukturalistische" Interpretation, weil sie das Bedeutende und nicht das Bedeutete hervorhebt, als „materialistisch" bezeichnen. Aber Derrida und seine Schüler stehen, zumindest der Intention nach, mit ihren Ansätzen jenseits von Idealismus und Materialismus. Schließlich: auf jeden Fall ist die Tatsache zu begrüßen, daß es hier auf deutschem Boden zu einem Gedankenaustausch über die französischen „strukturalistischen" Nietzsche-Interpretationen gekommen ist. Denn die Nietzsche-Forschung hat bis heute unter einem gewissen Provinzialismus gelitten. Die deutschen Nietzsche-Interpretationen nahmen die französischen nicht genug zur Kenntnis, diese wiederum die italienischen nicht und diese die angloamerikanischen nicht, usw. — mit großen Ausnahmen selbstverständlich, denn die maßgebenden Arbeiten, wie diejenigen von Löwith, Kaufmann, Heidegger, Müller-Lauter usw. wurden berücksichtigt. Anders geschieht es seit langem mit den Kant- oder Hegel-Interpretationen. Glücklicherweise scheint sich eine intensivere Diskussion in der Gegenwart auch zwischen den verschiedenen Nietzsche-Interpretationen anzubahnen. Blondel: Je suis très content que vous soyez intervenu, que vous m'ayez corrigé, et, en exposant un autre point de vue que le mien, que vous ayez parlé de mon injustice. Je suis parfaitement conscient des limites et du caractère perspectiviste de mon exposé: il y a une foule de livres sur le „structuralisme", je n'ai fait qu'exposer un point de vue pour le faire apparaître comme problème philosophique.
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Je crois l'avoir dit d'emblée: la dénomination „structuraliste" est fausse quant au sens, mais elle désigne faussement la réalité d'une direction relativement spécifique de pensée. Vous dites que c'est l'interprétation de Derrida dans De la grammatologie qui fonde théoriquement l'unité de pensée des „structuralistes". Soit dit en passant, je connais bien ce livre pour l'avoir entendu sous la forme d'un cours de Derrida. Mais, s'il est vrai que Derrida ne se reconnaîtrait pas dans cette dénomination (pas plus qu'Althusser, Foucault et bien d'autres, que néanmoins on ne laisse pas d'appeler „structuralistes"), quelle dénomination faudrait-il utiliser ou forger puisque vous admettez qu'il y a là une certaine tendance distincte? Faute de temps, il me faut choisir parmi les nombreux points que vous avez évoqués. Je ne répondrai que sur la question du matérialisme. Par paradoxe, j'ai parlé d'idéalisme à propos de cette „école", en pensant surtout au sens nietzschéen du terme (mais, comme beaucoup de structuralistes se réclament du marxisme et invoquent Althusser, il y aurait aussi paradoxe ou provocation à parler d'idéalisme au sens marxien du mot). Or, le mot de „matérialisme" n'est pas chez Nietzsche l'antonyme de ce qu'il nomme idéalisme. Je pense donc que vous prenez ici ce mot plutôt au sens marxien. S'il y a quelque chose de commun entre ce que Nietzsche et Marx appellent idéalisme, c'est l'illusion qu'a la pensée d'être indépendante de ce qui la détermine (corps ou rapports sociaux de production dans la praxis), de se produire elle-même en niant ce qui la conditionne (vie et corps). On dira donc anti-idéaliste (généalogique) ou, si vous voulez, „matérialiste'! (au sens marxien) une pensée qui se réfère à son autre, à ses conditions de déterminations en dehors de la pensée: le travail, le corps, la matière, l'histoire, la volonté de puissance, les affects. Or, il me semble que le structuralisme enferme le signe e le texte, les isole, et projette l'ordre de la synchronie en absolu, ce qui a pour résultat, souvent, d'en effacer l'historicité (la parole) et les rapports de force (transformés en relations différentielles des signifiants sans principe dynamique de la différence). En ce sens, c'est la philologie qui a pour tâche de référer le sens à la matière et à l'histoire du texte qui, comme l'expérience chez Kant et la praxis chez Marx, est temporel, singulier, historique, et rappelle la pensée, les signes, l'idéalisme et le structuralisme à ce qu'ils ont tendance à oublier: la pratique et la matière du texte, révélatrices du corps et du travail historique qu'il désigne ou dont il est le symptôme. Il faudrait appeler matérialiste une pratique effective, philologique de l'interprétation, qui tiendrait compte à la fois de la matérialité des signifiants (la musique, Pautrat l'a montré, a une énorme importance chez Nietzsche et je crois qu'elle est pour Nietzsche ce par quoi le corps se manifeste dans le texte lui-même) et des processus historiques de production qui sous-tendent les lois de leur substitution. Or, cette pratique est souvent défectueuse ou fait défaut
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chez certains représentants de cette „école": et cela me paraît la conséquence nécessaire de l'idéologie structuraliste qui, posant l'arbitraire du signe sub specie aeternitatis (seul point de vue où il vaut) oublie le texte comme „parole" et lui donne une histoire possible ou fictive au lieu d'une histoire réelle (celle des états de langue successifs). Le texte n'est pas un système comme la langue: c'est un ensemble qui s'inscrit dans un état de langue. Il est vrai qu'on gagne beaucoup à l'envisager comme système: mais il faut payer le prix en idéalisme, ou plutôt en matérialisme théorique, abstrait, anhistorique. Et il ne suffit pas d'utiliser des termes marxiens ou marxistes pour être lavé de tout soupçon d'idéalisme! Tout ce que vous avez dit mériterait discussion. Mais le temps nous manque, et je vous remercie de votre intervention, notamment en ce qui concerne l'importance de la collaboration entre les chercheurs sur Nietzsche dans les divers pays. Il faut rendre hommage à cet égard aux Nietzsche-Studien et aux éditeurs responsables de leur publication. Reschke: Unmittelbar nach Ihrem Vortrag, Herr Blondel, wollte ich Zweifel an Ihrer Darstellung im ersten Teil äußern. Mir schien, daß Sie die Gemeinsamkeiten zwischen den französischen Strukturalisten zu stark herausgestellt haben und so der Eindruck einer zu großen Homogenität entstehen kann. Tatsächlich gibt es ja beachtenswerte Unterschiede zwischen den einzelnen Vertretern. Die Diskussion aber hat meinen Eindruck korrigiert; Ihre Ausführungen lassen nun erkennen, daß der französische Strukturalismus in sich differenziert ist. Ihre kritischen Einwände haben mich beeindruckt und im großen und ganzen überzeugt. Sie sind für mich vor allen deshalb von Interesse, weil es innerhalb der marxistischen Ästhetik, zumindest in der D D R , eine ganz auffallende Neigung zur Aufarbeitung zeichentheoretischer, semiotischer und linguistischer Methoden gibt. Die Anwendbarkeit dieser Methoden auf philosophische Fragen steht hierbei im Vordergrund. Es ist daher für mich von besonderer Aktualität, wenn Sie die Grenzen eines dieser Verfahren aufzeigen und die Bedingungen seiner Anwendbarkeit kritisch reflektieren. Daß solche Überlegungen am Beispiel Nietzsches entwickelt werden, hat einen zusätzlichen Reiz, weil sich die marxistische Ästhetik in der D D R gerade anschickt, Nietzsche als Forschungsgegenstand zu erschließen. Blondel: Oui: ce que j'ai présenté des structuralistes était forcément bref et schématique et, plutôt que de présenter un „survey" ou un exposé de détail ou un résumé général, j'ai choisi de dégager les principes théoriques qui pouvaient donner lieu à une problématique philosophique. Car il ne s'agit pas seulement d'une méthode de commentaire de Nietzsche, mais d'une idéologie dont il est intéressant de mettre en évidence, pour les discuter, les postulats
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philosophiques implicites. C'est d'ailleurs ce qui distingue le structuralisme français en tant que tel: l'enjeu philosophique. Par ailleurs, ce que l'on distingue sous ce terme générique et approximatif se caractérise (à la différence d'autres mouvements de pensée inspirés par l'analyse structurale) par l'importance accordée à Marx, Nietzsche et Freud. Le structuralisme français, c'est (il ne faut jamais l'oublier) la jonction entre l'analyse structurale et les tentatives pour assurer l'unité idéologique entre les trois membres de cette célèbre „troïka": et on appelle structuralisme (par opposition avec l'herméneutique: Ricoeur, par exemple) l'essai pour les lire à l'aide de l'analyse structurale (Lacan pour Freud, Althusser pour Marx, et caeteri pour Nietzsche!) et pour les accorder sur le fond d'une philosophie ou d'une idéologie dérivée de certains apports de l'analyse structurale. C'est pourquoi il y a beaucoup de différences que j'ai dû passer sous silence et, pour montrer l'unité de ce mouvement sur la base ci-dessus mentionnée, j'ai dû renoncer à prendre des exemples d'interprétation des textes de Nietzsche: celui-ci, en effet, dans ce mouvement, est à la fois principe de la théorie et objet de son application. Or, les textes de Nietzsche servent beaucoup plus à justifier, lus d'une certaine manière, la théorie générale, la „philosophie" structuraliste qu'à illustrer l'application de cette théorie. Il en est de même pour Marx: c'est un certain marxisme, une certaine lecture, dite „structuraliste", de Marx (Althusser) qui est invoquée dans certaines lectures „structuralistes" de Nietzsche. L'unité des concepts (pratique, production, etc.) passe par les hypothèses de lecture et d'interprétation structuralistes de ces deux auteurs: rien d'étonnant qu'ils semblent dire la même chose, puisqu'ils étaient au préalable „convertis" au structuralisme. C'est pourquoi, quand je dis que l'interprétation structuraliste de Nietzsche est idéaliste, je prends ce terme au sens nietzschéen (en tâchant de le distinguer du sens marxien, malgré certaines analogies). Mais les structuralistes, en vertu du principe de l'isomorphisme (qui est une confusion des signifiés sur la base de l'identité des signifiants), cherchent à identifier le sens marxien et le sens nietzschéen du mot: ils peuvent donc se dire marxistes en même temps que „nietzschéens", mais c'est peut-être sur la base d'une certaine forme d'idéalisme „structuraliste". François George a, d'un point de vue marxiste, fait la même objection à l'interprétation de Marx par Althusser 20 . Si la pratique fait défaut et si la théorie est idéaliste, c'est peutêtre dû aux présupposés du „structuralisme", cela n'engage pas Nietzsche ni Marx. Or, de même que la généalogie est l'essai pour référer le texte et les signifiants au corps et à la volonté de puissance comme à autre chose que des signifiants, de même je crois qu'un matérialiste (marxiste) au sens strict est celui qui s'occupe, ,,en dernière instance", des rapports sociaux de production, 20
Vgl. „Lire Althusser" in: François George: Souvenirs de la maison Marx, Paris 1980.
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de la praxis et de l'histoire en tant qu'ils conditionnent les systèmes. Et, quand on prend le système pour un absolu, on sait ce qui arrive et ce que Marx en pensait — de même pour Nietzsche. Je ne trouve jamais ou presque jamais cette analyse de l'infrastructure du système ou sa généalogie chez les structuralistes français, et je crains que le marxisme, à la faveur du jeu du signifiant pur, ne soit chez eux qu'un système, donc plus un alibi théorique qu'une pratique réelle d'affrontement de la réalité (y compris celle des textes). J'en perçois des signes dans l'oubli des conditions de production historique des textes de Nietzsche: comme s'il ne fallait pas répondre à certaines interprétations qui croient que le marxisme consiste à traiter Nietzsche de „philosophe de l'impérialisme capitaliste", comme si la seule réponse à des lectures de style stalinien était le système, lequel n'est jamais loin du système concentrationnaire. C'est le capitalisme et son pendant dogmatique, le stalinisme, qui ont intérêt à laisser croire que le capital n'est jamais qu'un système de signifiants purs. Et cela me paraît tout aussi peu marxien que nietzschéen. Si je suis injuste en parlant d'idéalisme, tant pis, ou tant mieux! Mais je ne puis m'empêcher de songer à ce que représente Kafka dans In der Strafkolonie: quand on transgresse la loi de clôture du système de signifiants „purs", c'est alors qu'on apprend — mais il est déjà trop tard — que le signifiant n'est pas si „ p u r " que cela, que son signifié est le sang — et on l'apprend sur sa propre peau. Nietzsche ne le contredirait pas, qui écrit: „Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, daß Blut Geist ist. Es ist nicht leicht möglich, fremdes Blut zu verstehen : ich hasse die lesenden Müssiggänger. Noch ein Jahrhundert Leser — und der Geist selber wird stinken". 2 1
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Za I Vom Lesen und Schreiben.
BERNHARD TAURECK
NIETZSCHES EINFLUSS AUF DIE LYRIK Ein Beitrag zur philosophischen
Ästhetik
Mißt man einen Künstler an dem Gelingen seines Werkes, so ist der Künstler Nietzsche Lyriker. Die Musik, die er sehnlich zu komponieren hoffte, scheint ihm allein in der Form der Liedkomposition gelungen zu sein, d. h. in der der Lyrik verwandtesten Form. 1 Der Philosoph Nietzsche entfaltet allerdings nur in seinem Erstlingswerk, „Die Geburt der Tragödie", eine Lehre vom lyrischen Kunstwerk, das er als das Wesen der Tragödie versteht. Die lyrischen Dichter, die sich Nietzsches Gedanken zur Ästhetik produktiv in der Gestaltung ihrer Gedichte aneigneten — zu ihnen gehören Hofmannsthal, Rilke, G. Heym, Benn —, haben sich jedoch nicht auf „Die Geburt der Tragödie" beschränkt, sondern legten ihrem Schaffen meist die gereifte Ästhetik des Philosophen zugrunde. Deshalb ist es angemessen, in den folgenden Betrachtungen zu Nietzsches Kunstlehre und ihrem Einfluß auf die Lyrik erstens „Die Geburt der Tragödie", zweitens die Ästhetik im Zusammenhang mit Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht und drittens schließlich die Aneignung beider Ansätze in einzelnen Gedichten zu behandeln. Es ist das Ziel der gesamten Betrachtung, Nietzsches Ablösung von der überlieferten metaphysischen Deutung des Schönen als ein philosophisch unbewältigtes Problem zu begreifen, das zugleich der Kunst (der Lyrik) die eigentümliche Möglichkeit gibt, Modernität und Schönheit zu vereinigen.2
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Vgl. hierzu auch C . P. Janz, Nietzsche-Biographie Band I, München 1978, 599f. Unter .Modernität' wird hier das Bewußtsein der Beziehungslosigkeit von Sinnlichem und Intelligiblem verstanden. Nietzsche deutet diesen Zustand als das Wissen vom Tode Gottes = Nihilismus. Für die Beurteilung der modernen bildenden Kunst hat bekanntlich H . Sedlmayr jene Bestimmung der Modernität zugrunde gelegt, allerdings mit dem Ziel, die Unmöglichkeit einer Verbindung von Modernität und Kunst darzulegen. (H. Seldmayr, Verluste der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Salzburg 9 1976).
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I. Die Kunst zwischen Metaphysik und Psychologie In seinem Erstlingswerk setzt Nietzsches Denken mit der Gleichung Kunst = Metaphysik ein. Die Kunst ist dementsprechend nicht eine Weise neben anderen, wie das Wahre oder Gute sich zeigt, sondern es wird gesetzt, daß das, was ursprünglich ist, nur als Kunst sich zeigt. Deshalb nennt Nietzsche das ursprünglich Seiende den „Urkünstler der Welt" (GT 5, SA I, 40), d. h. die Welt wird als das Werk eines Gottes betrachtet, der ausschließlich als Künstler wirkt. Nietzsche behandelt nun unter der Voraussetzung jener Gleichung Kunst = Metaphysik die beiden Fragen, 1. weshalb Gott Künstler ist und 2., in welcher Weise das Kunstwerk das göttliche Wesen zeigt. 1. Weshalb ist Gott ausschließlich Künstler? Nietzsche antwortet auf diese über die Berechtigung seiner Gleichung entscheidende Frage einerseits mit einer Auslegung des Fragmentes B 52 (Diels) von Heraklit Atöbv jtaig ecru jtaí^cov JieaoBÚaiv' Jiouööq f| ßaoiXT]ir|: Das Aufbauen und Zerstören sei „Urlust" der „weltbildenden Kraft" (132). In der Schrift „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" heißt es: „der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andere Welten ins Leben". (SA III, 376) Der zwecklos weltbildende voüg des Anaxagoras bezeichne ebenfalls die ág/rí als Künstler, so daß diese Betrachtungsweise als die „letzte Lösung oder Auskunft" der Griechen zu nehmen sei. (aaO, 410) Nietzsches eigene Antwort ist deshalb mehr Auskunft als Lösung: Gott ist Künstler, weil es ihm Lust bereitet, und das Wirken als Künstler bereitet ihm Lust, weil er Künstler ist. Die Frage, weshalb Gott Künstler ist, wird abgewiesen wie von der Metaphysik die Frage nach Grund oder Beweis der aQxf|. Nietzsche antwortet jedoch andererseits: Das „Wahrhaft-Seiende" oder „Ur-Eine" sei das „Ewig-Leidende", das die Kunst zu seiner „Erlösung" brauche. (GT 4, 32) Nietzsche nennt diese Begründung, mit der er Schopenhauers Deutung der Kunst als Befreiung des Menschen von der Qual des in ewigem Mangel an Befriedigung bestehenden Willens („Die Welt als Wille und Vorstellung", III. Buch) auf das göttliche Wesen überträgt, eine „metaphysische^) Annahme" (GT 4, 32). In Wahrheit ist diese Antwort aber nicht metaphysisch, sofern die Metaphysik sich dagegen verwahrt hat und durch diese Negation Metaphysik ist, daß das Erste unvollkommener sei als das, was es hervorbringt. Nietzsches Antwort, daß das Erste der Kunst eines anderen bedarf, um sich dadurch von seinem Leiden zu erlösen, ist vielmehr eine psychologische Antwort. Sie besagt, daß die Gleichung Metaphysik = Kunst nicht ursprünglich ist, d. h. daß das Leiden des Einen das Erste und wesensverschieden von der Kunst ist. Die Kunst erhält in der psychologischen Deutung die Stellung eines Mittels, während sie in der metaphysischen, sich
Nietzsches Einfluß auf die Lyrik
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auf die Vorsokratik berufenden Auskunft Nietzsches als Ausdruck vorgestellt wird. Beide Antworten widerstreiten einander. Die psychologische Deutung nimmt aber nicht etwa die Verengung der Metaphysik auf das Ästhetische zurück, sondern negiert die Metaphysik überhaupt. 2. Es wird sich zeigen, daß Nietzsche einen ähnlichen Widerstreit bis in sein Spätwerk aufrecht erhält. Er tritt in der ,Geburt der Tragödie' selbst in dem Gegensatz hervor, der zwischen der Existenzweise der Kunst und ihrem Ursprung aufbricht. Die Existenzweise der Kunst faßt Nietzsche in dem Gegensatz des Dionysischen und des Apollinischen zusammen. Dieser Gegensatz ist keine begriffliche Kennzeichnung, sondern eine Sammelbezeichnung für drei verschiedenartige Gegensätze, nämlich a) dem Gegensatz von Rausch und Traum, b) dem der Individuation und ihrer Auflösung und c) der absoluten Wahrheit und ihres wahren Abbildes. Diese Gegensätze ähneln einander in der Weise, daß die Bestimmtheit der Endlichkeit und Individualität, des Abbildes und auch des Traumes — dem Nietzsche in der ,Geburt der Tragödie', eben insofern er Schein ist, die „maßvolle Begrenzung" (GT 1, 23) und „Vollkommenheit" (GT 2, 25) zuspricht — den Grundzug des Kunstwerkes angeben sollen: Das Kunstwerk ist Maß, aber Maß des Maßlosen. Es ist, mit Nietzsches vieldeutigeren Sammelnamen bezeichnet, Erscheinen des Dionysischen in der Form des Apollinischen. Die drei Gegensätze sind von Nietzsche nicht psychologisch gedeutet. Auch Traum und Rausch werden eher durch die Individuation (Traum) und ihre Auflösung (Rausch) denn als Bewußtseinsbewegungen aufgefaßt. Nietzsche verwendet zudem in „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" und in „Menschliches, Allzumenschliches" ,Traum' im wirklich psychologischem Sinn, nämlich als eine Welt, die „bunt unregelmäßig" und „folgenlos unzusammenhängend" sei (SA III, 319) oder einen „Zustand der Unvollkommenheit" darstelle (MA I 12, SA I, 463). Der Rausch zählt in der ,Geburt der Tragödie' nur als das, was er erschließt, und dies ist „eine mystische Einheitsempfindung". (GT 2, 25) Versteht man die drei Gegensätze im Ausgang von Nietzsches angegebener Heraklitdeutung und dem Gegensatz Wahrheit-Abbild, so explizieren sie die Gleichung Kunst = Metaphysik. Es gibt in der ,Geburt der Tragödie' jedoch noch einen vierten Gegensatz, der ebenfalls mit den Namen von Dionysos und Apollon bezeichnet wird, nämlich den des Ursprunges der Kunst aus dem Wissen über ein an sich entsetzliches Dasein (GT 3, 30; G T 7, 48f.) Diese Erklärung des Kunstursprunges als für das Leben notwendigen Scheines bildet die theoretische Basis der ,Geburt der Tragödie'. Sie ist offenkundig psychologisch im Unterschied zu ihrer Übertragung auf das Eine, das
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sich in der Kunst vom Leiden befreie. Psychologisch ist diese Erklärung in dem Sinn, daß ihr Gegenstand nicht das dem Erkennen zugängliche Sein (hier die Entsetzlichkeit des Daseins), sondern seine Umdeutung durch das Bewußtsein (hier die Kunst) bildet. 3 Durch diese Erklärung würden Nietzsches Betrachtungen erst zur „ästhetische(n) Wissenschaft" (GT 1, 21), die er zu liefern beabsichtigt, während einer Identifikation von Kunst und Metaphysik die Kunst nicht zum Gegenstand werden kann. Es fragt sich, ob dieser Widerstreit auf die Bestimmung des Kunstwerkes übergreift. Er soll es nicht tun. Nietzsche denkt das Kunstwerk mit Hilfe der drei nicht-psychologischen übrigen Gegensatzpaare. Sein Gegenstand ist dabei diejenige Kunst, in der der Gegensatz des Maßes und des Maßlosen besteht, und in welcher er nicht, wie in seiner Deutung der bildenden Kunst und der Epik, zugunsten des Maßes aufgegeben ist. (GT 5, 38; GT 17, 93; G T 2 2 , 120) Eine solche Kunst ist wesentlich Lyrik, und die äschyleische und sophokleische Tragödie ist laut Nietzsche nichts anderes als Lyrik „in ihrer höchsten Entfaltung." (GT 5, 37) Nietzsches Bestimmung der Lyrik geht von der bisherigen Ästhetik seit Piaton 4 überlieferten Subjektivität' des Lyrikers und des Gedichtes aus, um sie umzudeuten. Sein Ergebnis lautet: Der Lyriker „ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und produziert das Abbild dieses Ur-Einen als Musik [. . .] Seine Subjektivität hat der Künstler bereits in dem dionysischen Prozeß aufgegeben [. . .] Das ,Ich' des Lyrikers tönt [. . . ] aus dem Abgrunde des Seins". (GT 5, 37) Und: „Insofern aber das Subjekt Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subjekt seine Erlösung im Scheine feiert." (GT 5, 40) Die Ichhaftigkeit des lyrischen Gedichtes ist hiernach wesentlich nicht Ausdruck der empirischen Individualität des Dichters, sondern, wie Nietzsche ausdrücklich mit dem zuletzt zitierten Satz gegen Schopenhauers psychologischen Begriff der Lyrik (als Mischzustand von Affekten und reiner Erkenntnis) hervorhebt: Sie ist Ausdruck des Seins des metaphysischen Einen, in welchem die empirische Ichheit des Dichters als Voraussetzung seines Dichtens untergegangen ist. Das lyrische Gebilde ist die Schönheit, in welcher das metaphysische Eine sich erlöst. So jedoch wird Nietzsches Negation jeder psychologischen Deutung der lyrischen Subjektivi3
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Die Psychologie definiert sich deshalb selbst als „die Wissenschaft von der subjektiven Welt des Menschen und der Tiere." (H. Rohracher. Einführung in die Psychologie. München, Berlin und Wien "1978, 108). In den Dithyramben finde sich vornehmlich ein „durch ein Künden des Dichters selbst geschehendes Sprechen" (öl' d.nayyt'kiac, ainov TOÜ itoirixoC), hält Piaton in Politeia III, 394 c fest.
Nietzsches Enfluß auf die Lyrik
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tat selbst absolut psychologisch in dem erwähnten Sinn der Psychologisierung der ÄQX'H- Nicht der Mensch schafft sich die Kunst, um sich von dem Leiden zu befreien, sondern der Gott. Nietzsche nennt in der .Geburt der Tragödie' die Erklärung der Kunst als Leidensbewältigung durch den Schein „tragische Erkenntnis" und „tragische Weltbetrachtung" (GT 15, 87; G T 17, 95). Die Tragik von Nietzsches Ansatz ist aber vielmehr der Widerstreit zwischen der eine Kunsttheorie als Theorie ermöglichenden psychologischen Erklärung des Kunstwerkes und der im Kunstwerk aufleuchtenden Schönheit, die durch das Gegensatzgefüge TraumRausch, Individuation und deren Auflösung und Wahrheit-Abbild bezeichnet ist. Das psychologische Erklären bestimmt allseitig die Begründung der Kunst, aber es begründet an keiner Stelle die Schönheit.
II. Schönheit und Machtwollen im Widerstreit In „Menschliches, Allzumenschliches" glaubte Nietzsche diesen Widerstreit dadurch lösen zu können, daß die in der ,Geburt der Tragödie' angelegte Negation der Metaphysik zugleich als Negation der Kunst zugunsten der Wissenschaft gefaßt wird. (Vgl. MA I 220 u. 222, SA I, 577 u. 581 f.) Erst in seinem Spätwerk dringt Nietzsche zu einer philosophischen Bestimmung dessen vor, das in „Menschliches, Allzumenschliches" das wissenschaftliche Erkennen und im Erstlingswerk das Bereitstellen der Kunst zum Ertragen des Leides hieß: Beides ist jetzt Betätigung des Willens zur Macht. Dieses Wollen ist Nietzsches Fassung einer ursprünglichen Beziehung von Dasein und Wesen, und Nietzsche verneint, daß es neben dem Willen zur Macht noch Existenz oder darauf bezogenes Erkennen gibt. Zugleich aber erscheint wiederum die Anschauung der Schönheit der Kunst. Sie ist nicht durch den Willen zur Macht hervorgebracht. Es ist die Frage, wie Nietzsche mit diesem Widerstreit des Willens zur Macht und der Kunstanschauung verfährt. Von der bisherigen Forschung sind weder der Widerstreit der Schönheitsanschauung und des Willens zur Macht noch die beiden im folgenden zu bestimmenden Ansätze zu einer Lösung erfaßt worden. Die Mannigfaltigkeit der verstreuten Bemerkungen Nietzsches über Kunst und Schönheit werden jedoch alle als Beiträge zu diesem Lösungsversuch begreifbar. (Es versteht sich fast von selbst, daß — bei der Eigentümlichkeit des Nietzscheschen Philosophierens — beide Lösungen erst durch die Auslegung sichtbar werden, nicht aber von Nietzsche explizit dargestellt wurden.) Der deutlichste Beleg für die dem Willen zur Macht widersprechende Anschauung der Schönheit findet sich in „Also sprach Zarathustra" II, „Von den Erhabenen": „Unerringbar ist das Schöne allem heftigen Willen. [. . .] Mit
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lässigen Muskeln stehen und mit abgeschirrtem Willen: das ist das Schwerste [. . .]. Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt ins Sichtbare: Schönheit heiße ich solches Herabkommen." (SA II, 374) Schönheit als angeschaute Vollkommenheit besteht unabhängig vom Willen. Ist aber das Wesen der Welt der Wille zur Macht, so wäre die Schönheit etwas Wesenswidriges. Was wird als schön angeschaut? Ist es nicht möglich, die Schönheitsanschauung und den Willen zur Macht in ein Verhältnis gegenseitiger Angemessenheit zu bringen? 1. Nietzsche bedenkt eine Lösung, indem er eine solche Angemessenheit von dem Schönen angibt, das sich durch die Kunst zeigt. Kunst ist dabei zu verstehen nicht nur als das was die Schönheit anschaubar enthält, sondern ebenso was sie hervorbringt. Weder die Bestimmung der Kunst als anschaubares Werk allein noch als Schaffen allein, sondern die Angemessenheit des der Anschauung zugänglichen Werkes an das Schaffen ist für Nietzsche Gegenstand der Ästhetik. (KGW VIII 3 14 [170], 148f.) Kunst ist überhaupt die von der Ästhetik zu bestimmende Angemessenheit des ,Vollkommen-machens' und ,Vollkommen-sehens' (KGW VIII 1 8 [1], 335). Schönheit als vollkommene Anschauung nennt Nietzsche Macht. (KGW VIII 1 7 [3], 266; G D , Streifzüge eines Unzeitgemäßen 9, SA II, 995; Za s.o.) Der Mensch „verwandelt" in der Kunst „die Dinge, bis sie seine Macht widerspiegeln — bis sie Reflex seiner Vollkommenheit sind." (GD, aaO.) Schönheit sei „das höchste Zeichen von Macht", weil das von dem Künstler gebändigte Entgegengesetzte ohne Gewalt gehorcht. (KGW VIII 1 aaO.) 5 Hiernach ist der wollende Künstler und nur er Urheber der Schönheit. Das Schöne wäre Entelechie des Willens zur Macht, d. h. Angemessenheit des Willens an sich selbst in seiner Betätigung. Das aber widerspricht Nietzsches Lehre vom Machtwillen, für den es grundsätzlich keine Entelechie gibt. Wenn Nietzsche behauptet, die Kunst zeige am deutlichsten, was der Wille zur Macht sei (KGW VIII 1 2 [130], 127), so ist stattdessen zu sagen, daß sie es (in seiner eigenen Ausführung) am wenigsten zeigt. In seiner eigenen Kunst hat Nietzsche seiner Lösung des Schönen der Kunst eine tiefere Fassung verliehen als in seinen eigenen Reflexionen. In dem Gedicht „Nach neuen Meeren" (FW, Lieder des Prinzen Vogelfrei, SA II, 271), das mit dem Wollen anhebt und mit der das lyrische Ich anblickenden Unendlichkeit schließt 5
Nietzsche gewinnt mit dieser Lösung zugleich ein Kriterium der Beurteilung von Kunst. Diejenige Kunst nämlich, die, statt die Schönheit gewaltlos und tyrannisch hervorzubringen, gewaltsam und tyrannisch vorgeht, ist nicht mehr ursprüngliche Kunst. Nietzsche rechnet die moderne Kunst seiner Zeit und speziell die Wagnersche Musik zu dieser nicht ursprünglichen, tyrannischen Form. (KGW VIII 2 10 [25], 136; 10 [37], 139) Die Schwäche dieser Kunst sei es ferner, daß sie Zeugen, Publikum brauche (NW, SA II, 1041), während die Vollkommenheit der angeschauten Macht keine Zeugen nötig habe. (NW, SA II, 1042; G D , SA II, 997).
Nietzsches Einfluß auf die Lyrik
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„ N u r dein Auge — ungeheuer Blickt michs an, Unendlichkeit!"
steht das Wollen nicht im Verhältnis der Verursachung zur Vollkommenheit („Unendlichkeit"), sondern im Verhältnis des Offenbarens. Dem Wollen offenbart sich das Schöne. In der „Klage der Ariadne" geschieht das Sichoffenbaren des Schönen als Q u a l und Schmerz. 6 Erst der verzweifelnden Ariadne wird der Gott „in smaragdener Schönheit sichtbar" ( D D , SA II, 1259), aber der Anblick des Schönen und seine Bejahung wird erst möglich durch seine Verneinung: „ M u ß man sich nicht erst hassen, wenn man sich lieben soll? . . . "
2. Der Ansatz, das Schöne als Wirkung des Willens oder als Offenbaren der Vollkommenheit für den Willen im Kunstwerk zu denken, verbleibt immer noch im Umkreis Schopenhauers, nämlich in dem von Schopenhauer nicht geklärten Widerspruch einer vom Wollen befreiten Anschauung, die zugleich durch den Willen hervorgebracht wird. Im Gegenzug gegen Schopenhauer dominiert in Nietzsches Spätwerk ein anderer Ansatz, der besagt, daß das Schöne gar nicht ursprünglich in der Kunst liegt, sondern in der Natur. Der Gegenstand der Ästhetik ist hiernach die Natur, sofern sie die vollkommenen Anblicke enthält oder hervorbringt. Betrachtet die Ästhetik besonders die Leiblichkeit des Menschen, sofern sie zur Empfindung des Schönen gelangt, so ist die Ästhetik Physiologie. (NW, SA III, 1041). Die in der ,Geburt der Tragödie* als künstlerische Mächte ( G T 2, 25) bezeichneten Gegensätze des Apollinischen und Dionysischen werden dementsprechend jetzt mit Naturgewalten' verglichen. ( K G W VIII 3 14 [36], 27) Es wäre naiv, Nietzsche eine Ersetzung der überlieferten Ästhetik durch naturwissenschaftliche Physiologie und damit die absurdeste Vergewaltigung des Schönheitsproblems zuzusprechen. Vielmehr bemerkt Nietzsche gegen Schopenhauers Lehre von der Schönheit als Erlösung vom Willen: „Irgend jemand widerspricht dir, ich fürchte, es ist die Natur. Wozu gibt es überhaupt Schönheit in Ton, Farbe, Duft, rhythmischer Bewegung in der Natur? was treibt die Schönheit heraus? [. . .] Keine geringere Autorität als die des göttlichen Plato [. . .] hält einen andern Satz aufrecht: daß alle Schönheit zur Zeugung reize — daß dies gerade das proprium ihrer Wirkung sei, vom Sinnlichsten bis hinauf ins Geistigste . . . " ( G D , Streifzüge eines Unzeitgemäßen 22, SA II, 1003) Nietzsches Kunst-Physiologie schließt also im Gegenzug 6
Zutreffend bemerkt Karl Reinhardt, hier k o m m e ein Schicksal als „Tragik widersprüchlicher Gewalten" zu Wort. (Nietzsches Klage der Ariadne. Frankfurt 1936, 5). Reinhardt bemerkt allerdings nicht, daß dieser Dithyrambus den Widerspruch des Willens und der Schönheitsanschauung löst bzw. sichtbar werden läßt.
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gegen Schopenhauer (und seine Mißdeutung Piatons) an die Platonische Deutung der (piaiq durch den Willen zur Zeugung (eqoos) an: tCkt8LV ¿Jtt0u|xei f|(iö)v f| cpuoig. (Symposion 206 c) Indem Nietzsche den Ursprung des Schönen statt in die Kunst in die als Willen zur Zeugung verstandene Natur setzt, erscheint, wie bei Piaton, der Rang der Kunst herabgesetzt. Das Kunstwerk ist im günstigen Fall Ausdruck einer starken Natur. Die Schönheit, wie sie in der Dichtung aufscheint, ist „Dichter-Erschleichnis" und „das ,Unvergängliche' — das ist" heißt es, (Goethe umkehrend) „auch nur ein Gleichnis". (Za II, Von den Dichtern, SA II, 382) Bei Piaton ist das Schöne zwar von der Zeugung und der Begierde zum Zeugen aus bestimmt, aber es ist zugleich begriffen als die Vollkommenheit des Anblickes; es ist das ¿Qacfiicotatov, weil es das ¿Ktpavecrcatov ist. 7 Bei Nietzsche heißt es: „Wo ist Schönheit? Wo ich mit allem Willen wollen muß". (Za II, Von der unbefleckten Erkenntnis, SA II, 379) Schönheit ist hiernach die Notwendigkeit des Zweckes, die offensichtlich nicht im Begriff des Willens liegt. Nietzsche definiert auch die Kunst durch diese Notwendigkeit: „Dies Verwandeln-müssen ins Vollkommne ist — Kunst." (GD Streifzüge eines Unzeitgemäßen 9, SA II, 995) Nietzsche kehrt also auch in diesem entscheidenden Punkt Piaton nicht — wie man meinen würde — um, d. h. faßt nicht die Schönheit als Wirkung des Strebens, sondern dieses als Wirkung der Schönheit. Sollte in dem ersten Ansatz die Schönheit Entelechie des Machtwillens sein, so erscheint sie in diesem Lösungsversuch als durch das Streben der Natur nicht bewirkbare Vollkommenheit der Anschauung, die das natürliche Streben mit Notwendigkeit in Tätigkeit versetzt. 8 Folglich wäre die Schönheit ein neues, in der Lehre vom Machtwillen selbst nicht liegendes Prinzip und diese Lösung im ganzen der Nietzscheschen Philosophie eine petitio principii. 9 7
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Aristoteles präzisiert: £ju6u(iTiTÖv nfcv yctQ tö cpaivöfievov KOXÖV, ßot)Xr)TÖv öe jiqcütov xö öv KaXov ÖQEYÖ|ie9a öe öiöti öokei (täMiov f| öokeE öioti ÖQeyöuEÖa. (Metaphysik A 1072 a 27ff.). Daß — laut Piaton — der Anblick das Streben erregt, wodurch schließlich-das Wahre als solches erfaßt wird, läßt erkennen, daß es im philosophischen Ansatz Piatons nicht reicht, dem Erkennen allein die Erschließung des Seienden zuzusprechen, sondern daß das Wollen hinzutreten muß. Auch in diesem Ansatz liegt ein Kriterium zur Beurteilung von Kunst: Die eigentliche Kunst folgt aus der natürlichen Stärke, die schlechte aus deren Mangel. (KGW VIII 7 [16], 14 [119], 2 [114], 9 [112], 9 [166], 11 [312]). Heideggers Auslegung von Nietzsches Ästhetik im Zusammenhang des Willens zur Macht, in welcher Nietzsche philosophisch in angemessener Weise ernst genommen, d. h. in Beziehung auf die metaphysische Uberlieferung gesetzt und gesehen wird, ist darin vordergründig geblieben, daß Heidegger die ,Kunst als Stimulans des Lebens' als Nietzsches „Hauptsatz über die Kunst" (Nietzsche I, Pfullingen 1961, 91) auffaßt. Weil Heidegger übersah, daß der Wider-
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Es wird deutlich, daß beide Wege zur Lösung der Entgegensetzung des Machtwillens und der schönen Anschauung der Vollkommenheit den Widerstreit nicht lösen, sondern verstärken. Es ist jedoch das Große an Nietzsches Kunstlehre, daß er die Schönheit nicht dem Prinzip des Machtwillens opfert, ebenso wenig wie er zuvor die Kunst durch psychologisches Erklären entwertete. In dem Maß wie für Nietzsche Religion, Moral und Erkenntnis die Selbständigkeit gegenüber dem Prinzip des Willens zur Macht verlieren, gewinnt die Schönheit der Kunst oder Natur an Bedeutsamkeit. Daß die in der Kunst aufscheinende Schönheit als „Gegenbewegung" gegen den Verlust der wigen Wahrheiten (Nihilismus) (KGW VIII14 [168], [170]) gewertet wird, setzt voraus, daß die Schönheit nicht Wahrheit ist. Aber auch indem Nietzsche die Kunst .Schein' und ,Lüge' nennt (KGW VIII 3 17 [3], 318f.), ist für ihn jener Widerstreit nicht gegenstandslos, denn es ist ein Schein, der die Wahrheit aufzuwiegen vermag. 10 Wenn er bekennt: „Uber das Verhältniß der Kunst zur Wahrheit bin ich am frühesten ernst geworden: und noch jetzt stehe ich mit einem heiligen Entsetzen vor diesem Zwiespalt." (KGW VIII 3, 16 [40] 7, 296), so ist die Bedeutsamkeit des Schönen das nicht entschleierte Beharrliche, das ihn mit der metaphysischen Uberlieferung verbindet. Es ist nicht mein Thema, eine Entscheidung über die Wahrheit des Schönen zu fällen, sondern es sollte der Nietzsches Ästhetik bestimmende Zwiespalt sichtbar werden. Dieser Zwiespalt bezeichnet die Modernität der Nietzscheschen Lehre vom Schönen, indem er aus der Uberlieferung erwächst. Die Vorgeschichte des Zwiespaltes sei deshalb noch angedeutet. Sie ist gekennzeichnet durch die bei Nietzsche zugleich auftretenden beiden Extreme, die Kunst und die Anschauung des Schönen einerseits als unwahr, andererseits als die absolute Wahrheit zu denken. Jenes geschieht bei Piaton, dieses unternahm Schelling am Schluß seines .Systems des transzendentalen Idealismus' von 1800. Es ist kurz zu zeigen, daß beide Lehren die sinnliche Anschauung des Schönen philosophisch nicht bewältigen. Liegt der Grundzug der Platonischen Philosophie in der Bestimmung der vollständigen Erkennbarkeit eines einfachen, eigenständigen und beharrlichen Seins (tö JtavTeX.ä>5 öv jiavxeXöjg y v w a T ^ v '• Politeia 477 a, Phil'ebos 51c, 53 c, 58a) und der Intellektualität dieses Erkennens, so erfaßt dementsprechend das sinnliche Anschauen kein wahres Sein. Deshalb ist Kunst für Piaton nicht
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streit des Machtwillens und des Schönen der verborgene Sachverhalt bei Nietzsche ist, ist ihm zugleich entgangen, daß die Kunst, als Stimulans des Lebens aufgefaßt, bloß eine Form seiner Lösung ist und zudem noch Piaton ausdrücklich bestätigt. Denn: „ w i r h a b e n d i e K u n s t , damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn." (KGW VIII 3 16 [40] 6, 296).
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nur unwahr, weil sie nur ein Bild des an sich nicht wahren sinnlichen Anblickes liefert, sondern sogar schlecht, weil sie über ihre Unwahrheit hinwegtäuscht. Dieser Folgerung aber widerspricht einerseits, daß Piaton selbst den sinnlichen Anblick des Lichtes und der Sonne zum Aussprechen des Intelligiblen für geeignet erklärt, und daß er andererseits der Kunst unsterblichen Ruhm zuspricht. (Symposion 209c) Die Durchführung des philosophischen Grundgedankens, die zur Wahrheitslosigkeit der Anschauung führt, wird gestört durch die Bejahung der Anschauung. Piaton suchte die Lösung in einer Vermittlung des Erkennens mit dem Begehren und Wollen durch den £Qü)g, die sich Nietzsche aneignet. Dieser Weg setzt aber voraus, daß der Zugang zur Wahrheit nicht mehr allein im Erkennen liegt. Schellings Ästhetik im ,System des transzendentalen Idealismus' von 1800 entspricht Nietzsches erstem Lösungsversuch. Zum ersten Mal in der Philosophie wird hier der Versuch unternommen, die Kunst als das Absolute zu denken. Schelling gesteht zu, daß das Schaffen des Künstlers und die Vollkommenheit des schönen Werkes sich widersprechen. (Sämtl. Werke, Stuttgart und Augsburg 1858 I, 3, 614) Er behauptet jedoch, dieser Widerspruch löse sich dadurch auf, daß die Kunst die Subjektivität des Künstlers und die Objektivität des Werkes als absolute Einheit und als das Absolute selbst ausdrücke. Es gelingt ihm aber nicht, diese Lösung zu begründen. Die Objektivität des Kunstwerkes soll Objektivität der intellektuellen Anschauung sein (625), d. h. die subjektive Identität des Denkens und Seins soll zugleich in der sinnlichen Anschauung existieren, weil sonst nicht gewährleistet sei, daß die intellektuelle Anschauung „nicht auf einer bloß subjektiven Täuschung beruhe". (625) Die Begründung für die Gleichheit der Subjektivität (als intellektueller Anschauung) mit der Objektivität (als sinnlich anschaubarem Kunstwerk) bleibt aber bloß eine petitio principii bei Schelling: Sie besteht darin, daß die Kunst eben allgemein als Objektivität der intellektuellen Anschauung anerkannt sei. So treten bei Schelling die Subjektivität und die Anschauung in dem Maße auseinander, in welchem sie identisch gesetzt werden. Dem philosophischen Grundgedanken (der intellektuellen Anschauung) widerspricht die sinnlich anschaubare Vollkommenheit der Kunst. Bei Piaton sollte die Kunstschönheit das Unvollkommene sein gegenüber dem Intelligiblen, erwies sich aber für ihn selbst vollkommener als ihr Begriff. Bei Schelling sollte sie vollkommener sein als die Subjektivität und dennoch mit dieser unzertrennlich verbunden, erwies sich aber von dieser getrennt. Indem Nietzsche von der — in sich verschiedenen — Uberlieferung der Metaphysik, gegen die er sich mit der Lehre vom Willen zur Macht kehren möchte, den philosophisch unbewältigten Begriff der Schönheit übernimmt, löst er sich von der Uberlieferung ebenso sehr wie er ihr treu bleibt. Ent-
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cheidend ist, daß auch er diesen Begriff nicht philosophisch bewältigt, obwohl er sich von der metaphysischen Vorherrschaft des Intelligiblen löst. Es scheint angesichts dieses Ergebnisses die Folgerung möglich, daß Nietzsche, indem er das Prinzip des absoluten Erkennens, wie es bei Piaton und Schelling vorliegt, preisgibt, auf die Schönheit und die Kunst verlagert, und somit, wie er es ja selbst mit der ,Geburt der Tragödie' beabsichtigte, das Absolute der Metaphysik als Ästhetik beibehält. Diese Folgerung gilt jedoch insofern nicht, als sie verdeckt, daß die Überlieferung bereits auf die Anschaulichkeit des Schönen als ein sich ihrem Ansatz entziehendes absolutum gesoßen ist. Nietzsche brauchte das Absolute nicht erst auf die Schönheit zu verlagern, sondern griff diese in ihrer von der Uberlieferung nicht bewältigten Unbedingtheit auf. Daß er mit seinen Lösungsversuchen in metaphysische Bahnen einbiegt, besagt per definitionem ebenfalls keine Verlagerung der Metaphysik.
III.
Die Aneignung von Nietzsches Ästhetik durch die Lyrik
Gegenstand der weiteren Untersuchung ist die Aneignung 11 des Widerstreites zwischen der Preisgabe der allgemeinen Metaphysik und dem Bestehen der Schönheit in Nietzsches Ästhetik. Zu diesem Zweck werden Gedichte der vier Lyriker Hofmannsthal, Rilke, Georg Heym und Benn 12 allein im Hinblick auf ihre Bewältigung dieses Widerstreites ausgelegt. Daß der Widerstreit der Nietzscheschen Ästhetik von den Dichtern selbst erfahren wurde, wird an den einzelnen Gedichtsbeispielen aufgezeigt. Es wird vorausgesetzt, daß eine lyrische Bewältigung des Widerstreites einzigartig ist, und daß sie das Widerstreitende selbst unter die Form des Schönen bringt. Dieses einzelne Gelingen kann selbst nur noch Gegenstand eines einzelnen Geschmacksurteiles sein, das folglich zu der philosophischen Aussage über den Gehalt eines Gedichtes hinzutritt.
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Jeder Einfluß ist, auf der Seite des Beeinflußten, entweder Aneignung oder Bewertung. Im Fall Nietzsches sind seine zahlreichen Bewertungen in Gedichtform äußerlich bejahend oder Verneinend und — mit der Ausnahme des Georgeschen Nietzsche-Gedichtes von 1900 — künstlerisch wertlos. Die kürzlich erschienene Dokumentation der Nietzsche-Rezeption in der deutschen Literatur kann nicht als Zusammenstellung der Nietzsche-Aneignungen gelten, da sie nur explizite Bezüge (d. h. Texte, in denen Nietzsches Name oder Werk erscheint) zusammenstellt, die naturgemäß eher Bewertungen zeigen. Die eigentlich produktiven Aneignungen Nietzsches lassen sich nicht in einer derartigen Dokumentation aufweisen. Vgl. Nietzsche und die deutsche Literatur, hrsg. von B. Hillebrand, 2 Bände, München 1978. Soweit ich sehe, wirkt Nietzsche im Ausland mehr auf die Epiker und Dramatiker (Shaw, de Montherlant, Malraux, Camus). Daß d'Annunzio sich Nietzsche aneignet, hat seiner Lyrik keine mit den hier besprochenen Dichtern vergleichbare Gültigkeit verschafft.
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Ich beginne mit zwei Beispielen für die Aneignung von Nietzsches Ästhetik des Lyrischen aus der ,Geburt der Tragödie': Rilkes Sonett 1,3 der ,Sonette an Orpheus' und Hofmannsthals frühes Jugendgedicht „Erlebnis". E I N Gott vermags. Wie aber, sag mir, soll ein Mann ihm folgen durch die schmale Leier? Sein Sinn ist Zwiespalt. An der Kreuzung zweier Herzwege steht kein Tempel für Apoll. Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr, nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes; Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes. Wann aber s i n d wir? Und wann wendet er an unser Sein die Erde und die Sterne? Dies i s t s nicht, Jüngling, daß du liebst, wenn auch die Stimme dann den Mund dir aufstößt, — lerne vergessen, daß du aufsangst. Das verrinnt. In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch. Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.
Wie Nietzsche in der , Geburt der Tragödie' die Schopenhauersche Herleitung der Lyrik aus der Bewältigung des Wollens und Wünschens zugunsten eines Begriffes vom Lyriker zurückwies, der seine empirische Individualität abgelegt hat, so weist Rilke dem „Gesang" der Dichtung einen anderen Ursprung als Begehren oder Lieben oder der Begegnung zweier Herzen zu. Dieser Ursprung, der erst in der letzten Zeile zu Wort kommt, ist eigentümlich leer: „Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind." Rilke übernimmt von Nietzsche zwar die Gleichung Metaphysik = Kunst, aber abstrahiert von jenen Gegensätzen, durch welche Nietzsche diese Gleichung deutete: Daß das Ich des Lyrikers ein Abbild des wahren Seins bilde und daß das Sein sich selbst in der Lyrik zu erlösen suche. Was bei Rilke übrig bleibt, ist die in den ersten beiden Zeilen ausgesprochene Unzugänglichkeit des Schönen. Das Sonett gibt eine negative Ästhetik; es läßt sich nicht auf das Schöne ein, dessen es sicher zu sein angibt. Indem es auf diese Weise dem Widerstreit Nietzsches entgeht, bleibt es zugleich leer und im Ton unerträglich prätentiös. Es findet sich auch nicht in eine bestimmende Form, sondern stört seine Metrik und Rhythmik durch zusätzliche Hervorhebungen (Z. 8 und 10) und verwendet ein maniriertes Enjambement vom ersten zum zweiten Terzett. Das zweite Beispiel: Hugo von Hofmannsthals Erlebnis Mit silbergrauem Dufte war das Tal Der Dämmerung erfüllt, wie wenn der Mond Durch Wolken sickert. Doch es war nicht Nacht. Mit silbergrauem Duft des dunklen Tales
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Verschwammen meine dämmernden Gedanken, U n d still versank ich in dem webenden, Durchsichtigen Meere und verließ das Leben. Wie wunderbare Blumen waren da, Mit Kelchen dunkelglühend! Pflanzendickicht, D u r c h das ein gelbrot Licht wie von Topasen In warmen Strömen drang und glomm. D a s G a n z e War angefüllt mit einem tiefen Schwellen Schwermütiger M u s i k . U n d dieses wüßt ich, Obgleich ichs nicht begreife, doch ich wüßt es: D a s ist der T o d . D e r ist Musik geworden, Gewaltig sehnend, süß und dunkelglühend, Verwandt der tiefsten Schwermut. A b e r seltsam! Ein namenloses H e i m w e h weinte lautlos In meiner Seele nach dem Leben, weinte, Wie einer weint, wenn er auf großem Seeschiff Mit gelben Riesensegeln gegen A b e n d A u f dunkelblauem Wasser an der Stadt, D e r Vaterstadt, vorüberfährt. D a sieht er D i e Gassen, hört die Brunnen rauschen, riecht D e n D u f t der Fliederbüsche, sieht sich selber, Ein Kind, am U f e r stehn, mit Kindesaugen, D i e ängstlich sind und weinen wollen, sieht Durchs o f f n e Fenster Licht in seinem Zimmer — D a s große Seeschiff aber trägt ihn weiter, A u f dunkelblauem Wasser lautlos gleitend Mit gelben, fremdgeformten Riesensegeln.
Dieses frühe Jugendgedicht (Erstdruck 1892) ist wohl das einzige lyrische Werk, das den von Nietzsche bestimmten Vorgang des Versinkens des empirischen Iches und sein Wiederhervortreten seelisch werden läßt. Aber es ereignet sich nur die Auflösung der Individualität; die Gegensätze TraumRausch und Eines-Abbild fehlen. Auch der Gegensatz des Bewußtseins der Entsetzlichkeit des Daseins und ihrer Bewältigung durch die Kunst als Schein fehlt. Er ist ersetzt durch den Gegensatz von Vertrautheit und Fremdheit. Hofmannsthal eliminiert Nietzsches metaphysische Deutung des Verlustes des empirischen Iches im Einen und ersetzt sie durch eine glaubwürdigere Psychologie als die Nietzschesche. Den dionysischen Verlust des Lebens und die Umkehrung, daß der Tod gesteigertes Leben („Musik", „süß und dunkelglühend") wird, begleitet das empirische Ich mit dem Schmerz des .Heimwehs'. (Z. 19) Durch dieses Zurückbeziehen des lebendigen Todes auf das empirische Leben gewinnt der Vorgang der dionysischen Entgrenzung sein Geheimnis, das sich weder in den Widerstreit von Metaphysik und Psychologie (Nietzsche), noch in eine Bestimmung des Todes als höchster Bejahung des im Leben
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unbefriedigten Willens verflüchtigt. Die letztgenannte Deutung des Todes gab Baudelaire in den Schlußstrophen seines 1859 erschienenen und den Abschluß der späteren „Fleurs du M a l " (1861 und 1868) bildenden Gedichtes „ L e v o y a g e " . 1 3 Von diesen beiden Strophen dürfte Hofmannsthal im übrigen, neben Nietzsches Ästhetik, die poetische Umdeutung des Todes als des das Menschendasein steigernden Seemannes Charon und des Schiffes übernommen haben. Ich k o m m e jetzt zur Besprechung der lyrischen Aneignung der Ästhetik in Nietzsches Spätwerk und fahre mit Hofmannsthals „ L e b e n s l i e d " fort: Lebenslied Den Erben laß verschwenden An Adler, Lamm und Pfau Das Salböl aus den Händen Der toten alten Frau! Die Toten, die entgleiten, Die Wipfel in dem Weiten,14 Ihm sind sie wie das Schreiten Der Tänzerinnen wert! Er geht wie den kein Walten Vom Rücken her bedroht. Er lächelt, wenn die Falten Des Lebens flüstern: Tod! Ihm bietet jede Stelle Geheimnisvoll die Schwelle; Es gibt sich jeder Welle Der Heimatlose hin. Der Schwärm von wilden Bienen Nimmt seine Seele mit; Das Singen von Delphinen Beflügelt seinen Schritt: Ihn tragen alle Erden Mit mächtigen Gebärden. Der Flüsse Dunkelwerden Begrenzt den Hirtentag! Das Salböl aus den Händen Der toten alten Frau 13
O Mort, vieux capitaine, il est temps! levons l'ancre! Ce pays nous ennuie, ô Mort! Appareillons! Si le ciel et la mer sont noirs comme de l'encre, N o s cœurs que tu connais sont remplis de rayons! Verse-nous ton poison pour qu'il nous réconforte! Nous voulons, tant ce feu nous brûle le cerveau, Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu'importe? Au fond de l'inconnu pour trouver du n o u v e a u !
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In der Steinerschen Ausgabe findet sich - sinnwidrig - ein Gedankenstrich an der Stelle des Kommas nach dem Erstdruck in Zeile 6.
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L a ß l ä c h e l n d ihn v e r s c h w e n d e n A n Adler, L a m m und Pfau: E r lächelt d e r G e f ä h r t e n . — Die schwebend unbeschwerten A b g r ü n d e und die Gärten D e s Lebens tragen i h n . 1 5
Der Bezug auf den Widerstreit von Macht und Schönheit in Nietzsches späten Gedanken zur Ästhetik kann diesem einzigartig geglückten Gedicht eine verbindlichere Auslegung verschaffen als bisher möglich war. Die ,alte Frau' dürfte die metaphysische und religiöse Überlieferung bedeuten. Sie ist gestorben und vergangen und hinterläßt das Salböl als etwas religiös Heiligendes. Diese Uberlieferung bleibt hinsichtlich ihrer selbst unausgesprochen; sie ist tot und zählt nur noch als Quelle des Uberlieferten. Die Mächte der Gegenwart, an die der Erbe das Uberlieferte ,verschwendet', sind als „Adler, Lamm und Pfau" verbildlicht. Der ,Pfau' symbolisiert dabei die Schönheit. Uber das, was ,Adler' und ,Lamm' bezeichnen, herrscht unter den Auslegern jedoch keine Einigkeit. Man hat auf Zarathustras Adler und Schlange verwiesen, ohne allerdings auf diese Weise etwas Bestimmtes zu erklären. 16 Eine genaue Entsprechung ergibt sich erst, wenn man die Symbolik Hofmannsthals mit der Symbolik Nietzsches vergleicht, die Nietzsche an einer Stelle der „Genealogie der Moral" für den Willen zur Macht verwendet hat: Im zweiten Teil, Nr. 13 dieser Schrift (SA II, 789) spricht er von den „großen Raubvögeln" als ein „Quantum Kraft [. . .] Trieb, Wille", das sich als „ein Herrwerden-Wollen", als ein Uberwältigen-Wollen" äußert, d. h. Wille zur Macht ist. Die Gegenstände, an denen sich der in den Raubvögeln verbildlichte Machtwille äußert, sind in demselben Bilde die Lämmer: Die großen Raubvögel holen „sich kleine Lämmer". In dem Dithyrambus „ N u r Narr! Nur Dichter!" erscheint der Wille zur Macht nicht nur als Raubvogel, sondern als „Adler" selbst symbolisiert und sein Opfer wiederum als „Lämmer". (SA II, 1239ff.) Das adlerhafte Dasein wird vom Dichter jedoch bloß ersehnt-. Nietzsche spricht auf dichterische Weise aus, daß Künstlertum und Kunst dem Machtwollen widerstreiten. Das Gedicht bestätigt also den dargelegten Widerstreit zwischen Machtwollen und Schönem. 15 16
Erste Veröffentlichung in .Wiener Rundschau' 15. 11. 1896 S. 11/12. Zur Deutung des .Lebensliedes'durch die Germanistik vgl. P. G . Klussmanns Beitrag in: H . v. Hofmannsthal, Wege der Forschung C L X X X I I I , Darmstadt 1968, 2 2 4 - 2 5 4 und ebenso die weitere, dort diskutierte Literatur. Klussman erwägt zur Deutung der Tiere „Adler, L a m m und P f a u " eine Fülle möglicher christlicher, orientalischer und antiker Assoziationen. Er verweist auch auf die symbolischen Tiere Zarathustras, aber der mögliche Bezug auf Nietzsches Philosophie und Ästhetik im ganzen ist ihm entgangen.
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Daß Hofmannsthal mindestens seit 1891 Nietzsche sehr genau gelesen hat, ist bekannt. 1892 plante er sogar, ein Drama über die Girondisten zu schreiben, dem er den Titel ,Wille zur Macht* geben wollte. 17 Es hindert also nichts, die wiederkehrende Zeile „An Adler, Lamm und Pfau"
als einen Gegensatz zwischen Machtwillen und Schönheit zu verstehen. Es ist dieser Gegensatz aber der aufgewiesene Widerstreit der Ästhetik Nietzsches. Hofmannsthals Zeile nimmt diesem Gegensatz die Schärfe eines Widerstreites. Indem er die Symbole des Machtwollens mit dem Schönheitssymbol als Aufzählung formuliert, kann er beides durch die verbindende Konjunktion „und" gewaltlos zusammenfügen. Auch metrisch und rhythmisch ist das Wort „Pfau" ungetrennt von den beiden anderen Tieren, weil es betont ist und nur durch eine Senkung, wie zwischen „Adler" und „Lamm" von der letzten Hebung entfernt ist. Der Wille zur Macht ist allerdings nur in dieser wiederkehrenden Zeile symbolisch ausgesprochen; in der Durchführung ist er durch das „Leben" ersetzt, das „Tod" und „Abgründe" birgt. So wie die Zeile, die den Widerstreit des Machtwillens und der Schönheit gewaltlos mildert und zu einem Schweben über ihm verändert, entfaltet sich das gesamte Gedicht als ein Schweben, als eine tänzerische Leichtigkeit der Bejahung des Schönen angesichts der Abgründe: „Die schwebend unbeschwerten Abgründe und die Gärten Des Lebens tragen ihn."
Der „Erbe" ist die über dem Widerstreit von Schönheit und Machtwollen schwebende Gestalt. Es ist ein Schweben zwischen den beiden von Nietzsche versuchten Lösungen: Einerseits die Schönheit als Entelechie der Wille zur Macht seienden Weltbeschaffenheit, andererseits die das Streben erregende Anschauung. Beides bejaht und verneint das Gedicht zugleich: 1. Den Erben „tragen alle Erden" mit „mächtigen Gebärden" — sein Empfinden des Schönen ist die Vollendung der an sich mächtigen Erde.
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Vgl. H . Steffen, Hofmannsthal und Nietzsche. In: Nietzsche und die Deutsche Literatur, Bd. 2 Forschungsergebnisse, 4 ff. Im .Salzburger Großen Welttheater' (1922) läßt Hofmannsthal die Allegorie der weltlichen „Schönheit" sich mit der politischen „Macht" ohne Hindernis verbinden, eben weil er hier die Voraussetzung der Metaphysik teilt, nach welcher Macht und Schönheit kontingent sind und das höchste göttliche Seiende unaffiziert von ihm existiert. In der letzten Fassung des ,Turmes' (1927) - dieses Drama ist die Ausführung des in der Jugend geplanten Stückes ,Der Wille zur Macht' — besiegt der Machtmensch Olivier den Sigismund, der das wahre und schöne Menschentum verkörpert.
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Zugleich ist die Erde Tod und Abgrund; dem Erben begegnet die Schönheit trotz der Negativität der Erde. 2. Ein Bienenschwarm oder der Gesang von Delphinen „nimmt seine Seele mit" oder „beflügelt seinen Schritt" — die angeschaute Schönheit erregt sein Streben. Zugleich strebt er nicht, sondern: „Es gibt sich jeder Welle Der Heimatlose hin."
Hofmannsthal ist dem Zwiespalt von Machtwollen und Schönheit in Nietzsches Ästhetik nicht ausgewichen, sondern hat ihn unter die Form des Schönen gebracht. Daß er für den Willen zur Macht dabei das den Tod und Abgrund bergende Leben einsetzt, geschieht nicht im Widerspruch zu Nietzsche, für den ,Leben' wesentlich, wie bekannt ist, die schaffend-zerstörende Bewegtheit des Willens zur Macht ist. — An dieser Stelle ist ein Hinweis auf den sogenannten Chandos-Brief Hofmannsthals (1901/02) angebracht, in welchem der Bruch mit der metaphysischen Ästhetik und die veränderte Stellung des Schönen in der Nachfolge Nietzsches im Erleben eines Dichters sich vollzieht, das philosophisch bislang noch nicht ausreichend gewürdigt ist. 18 Chandos erschien vor dem Verlust seiner Weltsicht „das ganze Dasein als eine große Einheit" (Prosa II, ed. Steiner, 10), und die Anschauung eines Bestimmten erschien ihm als Gleichnis. Nach dem Eintreten des Bruches fürchtete er sich vor Piaton, und zwar „vor der Gefährlichkeit seines bildlichen Fluges" (13). Er befand sich — zumal in seinem Leben als Dichter — ursprünglich auf dem Boden der Platonischen Lehre vom Schönen als Abbild des Intelligiblen.19 Diese Deutung des Schönen geht ihm verloren. An ihre Stelle tritt die vom Intelligiblen gelöste Anschauung als ein Sich-Aufdrängen: „Mein Geist zwang mich, alle Dinge [. . .] in einer unheimlichen Nähe zu sehen". (13) Aber das auf diese Weise Angeschaute gewinnt auf unerklärliche Art von sich aus 18
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Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie 1, Frankfurt 2/1964, 17ff. versteht die unerklärliche Schönheit der von der metaphysischen Deutung befreiten Anschauung als ursprüngliches Staunen und als ein „Grundfragen". Diese Deutung verfehlt den Geist des Chandos-Briefes in doppelter Weise: 1. Sie übersieht, daß es Hofmannsthal nicht um ein Staunen überhaupt, sondern um ein unerklärliches Gefühl des Schönen geht, und 2. übersieht sie, daß diese Unerklärlichkeit den Verlust der metaphysischen Deutung der Schönheitsanschauung voraussetzt. Es gibt zwei weitere Belege, daß Hofmannsthal Chandos als platonischen Metaphysiker einführt, dem der Piatonismus verloren geht: 1. Chandos wollte eine Apothegmensammlung mit dem Titel „Nosce te ipsum" verfassen — eine Anspielung auf ein Hauptmotiv der antiken Philosophie. 2. Er empfindet „ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ,Geist', ,Seele' oder .Körper' nur auszusprechen". (11 f.) Diese drei Wörter bezeichnen das Hypostasengefüge im Neuplatonismus und in der Scholastik.
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„ S e i n " (16), „Unendlichkeit" (16) oder eine „die ganze Welt durchwebende Harmonie" (17). Das Unerklärliche erfährt Chandos dabei als das Unaussprechliche. Das Angeschaute zeigt von sich aus eine Vollkommenheit, die Sprache und Begriff nicht mehr auszusagen fähig sind. Hofmannsthal teilt also mit Nietzsche sowohl die Ablösung der Schönheitsanschauung von ihrer metaphysischen Deutung als Abbild des Intelligiblen, als auch den auf rätselhafte Weise übrig bleibenden Schönheitscharakter. Während Nietzsche jedoch nach Erklärungen dieses bleibenden Charakters der Schönheit suchte und dabei die Unerklärlichkeit verdeckte, drängt diese sich dem Dichter als solche auf. 2 0 Ich komme als nächstes Beispiel zu den beiden Schlußstrophen von Georg Heyms „ A n das M e e r " : Ewiges Meer, im Land der Morgenfrühen Gewiegt von Winden, wie ein Gott so rein, Und wenn der Wolken große Städte ziehen Im Abend in verwelkter Himmel Schein, O Meer, ich grüße deine Ewigkeiten, Das unter träumenden Gestirnen wallt, Verlorner Wandrer, in die Nacht zu schreiten, Ich, wie ein Horaruf, der schnell verhallt.
Diese Strophen geben eine hymnische Anrufung der Erhabenheit und Schönheit des Meeres, vor der der Anrufende selbst nichtig ist. Sie zeigen deshalb einen Zwiespalt zwischen der Anschauung des Schönen und Erhabenen und dem Wissen des Menschen von seinem eigenen Dasein. Das angeschaute Schöne erregt in dem Menschen nicht mehr ein Streben, ihm gleich zu werden, sondern das Bewußtsein seiner unabänderlichen Ungleichheit mit dem Angeschauten. An die Stelle einer von der Metaphysik verschiedenen Deutung für den Zwiespalt, die Nietzsche vorschwebte, setzt der Dichter als Zeichen seiner Mutlosigkeit und der Nichtbewältigung des Zwiespaltes das „ich g r ü ß e " . 2 1
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H . Steffen behauptet, in Hofmannsthals Werk sei von Anfang an ein ästhetisch vermitteltes Gleichgewicht eines Widerspruches von Leben und Geist wirksam. Im Fall des Chandos bestehe es zwischen dem Wünschen des Chandos nach Vereinigung mit allem Seienden und der gesteigerten Lebenswirklichkeit, in die er im Zustand des Ergriffenwerdens gerät. H o f mannsthal weise hiermit der erkenntnisverneinenden Lebensbejahung Nietzsches einen Platz zu, übernehme sie also nur teilweise. (Vgl. Schopenhauer, Nietzsche und die Dichtung H o f mannsthals. In: Nietzsche-Werk und Wirkungen, hrsg. von H . Steffen, Göttingen 1974, 6 5 f f . ) Es ist fraglich, ob der frühere Zustand des Chandos nur Verlangen oder Sehnsucht war. In jedem Fall verkörpert dieser Geisteszustand die überlieferte metaphysische Ästhetik und darf nicht verengt als eine beliebige Stimmung angesehen werden. Zum Beleg der Nietzsche-Kenntnis H e y m s vgl. G. Martens, Nietzsches Wirkung im E x pressionismus. In: Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 2, 35ff.
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Jetzt zur Bestimmung und Bewertung einiger Stellen aus Rilkes ,Duineser Elegien'. Dieser Gedichtzyklus ist durchdrungen von dem Thema des Verlustes der Schönheit und der Frage nach ihrer Wiedergewinnung. Der Verlust des Schönen: „ . . . U n d jene, die schön sind, o wer hält sie zurück? Unaufhörlich steht Anschein auf in ihrem Gesicht und geht f o r t . " (2. Elegie, Frankfurt 1966, 4 4 6 )
Und: „ . . . Denn das eigene H e r z übersteigt uns noch immer wie j e n e . 2 2 U n d wir können ihm nicht mehr nachschaun in Bilder, die es besänftigen, noch in göttliche Körper, in denen es größer sich m ä ß i g t . " (2. E . , 4 4 8 )
Dieses Klagen über den Verlust der griechischen Schönheit — worin die Elegien eigentümlich gelingen — besagt den Verlust der Anschauung des Schönen als Folge des Verlorengehens seiner metaphysischen oder mythischen Deutung. Vermutlich soll mit den „besänftigenden Bildern" die Platonischmetaphysische23 und mit der Einheit von Steigerung und Mäßigung in den „göttlichen Körpern" die mythische Schönheitsdeutung gemeint sein. Die Möglichkeit einer Wiedergewinnung der Schönheit erscheint in der neunten Elegie: „ . . . zu sagen so, wie selber die Dinge niemals innig meinten zu sein." (474)
Diese Steigerung des Seins durch das Sagen des Dichters tritt dann als ein Rühmen hervor, das Rilke als ein Unsichtbarmachen versteht: „. . . Und diese, von Hingang lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich, traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu. Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn H e r z e n verwandeln." (475)
Dieses Rühmen als Verändern in das Unsichtbare erscheint schließlich als Entelechie der Natur, die Rilke, wie Nietzsche, „Erde" nennt: „ E r d e , ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehn? — Ist es dein Traum nicht, einmal unsichtbar zu sein? — E r d e ! unsichtbar! Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag? E r d e , du liebe, ich will." (476)
Ebenso wie Rilke in dem besprochenen Sonett 1,3 von den Nietzscheschen Gegensätzen von Sein und Abbild und Leiden und Erlösung aus der , Geburt 22 23
Gemeint sind die beherrschten' Griechen, die auf attischen Stelen anschaubar waren. (II, 447f.) Vgl. Symposion 206d: „Wenn das Zeugungslustige dem Schönen naht, wird es sanft." (ötav (AEV KaXci) jtQooneXä^r) TÖ KVOÜV, iXernv xe yivveTai.)
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der Tragödie' abstrahiert, so sieht er hier von dem Zwiespalt .Verlust der metaphysischen Ästhetik — Beibehaltung des Schönen' ab. Er entfernt sich von Nietzsche und hält auch das Schöne für verloren. Der Anspruch der Elegien wird jedoch selbst philosophisch, sobald die Dichtung das Schöne zu stiften beansprucht. Das hierzu notwendige Prinzip soll nicht die Willkür des Dichters, sondern die Entelechie, der „Auftrag" der Erde sein. Das entspricht dem zweiten Lösungsversuch Nietzsches. Im Unterschied zu Nietzsche will Rilke das Schöne jedoch nicht erklären, sondern stiften, und ferner ist die Natur von Rilke nicht bestimmt. Weil von der Erde nichts anderes gesagt wird als daß sie Auftrag zum Rühmen sei, kann die Stiftung des Schönen nicht geschehen. Rilkes Berufung auf die Erde bleibt leer. Die Beschwörung des Wortes ,unsichtbar' bestätigt diese Folgerung. Rilke will aussprechen, daß die Dinge, indem sie unsichtbar werden, innerlich gemacht und als solche verstärkt werden. Aber ebenso bedeutet „unsichtbar" die Negation der Anschauung, d. h. der Möglichkeit der Existenz des Schönen. Mit der Berufung auf das Unsichtbarmachen gerät Rilke, der den Zwiespalt und die Gegensätze der Nietzscheschen Ästhetik unbeachtet läßt, selber in einen Zwiespalt. Aber er kann deshalb nicht beanspruchen, Nietzsches Ästhetik bereichernd fortgeführt zu haben, da ja sein Zwiespalt bloß den Gegensatz des Anspruches auf Stiftung von Schönheit und das Unerfülltbleiben dieses Anspruches besagt. 24 Abschließend einige Bemerkungen zu Gedichten von Gottfried Benn. Im Unterschied zu Rilke, Heym und Hofmannsthal hat Benn sich ausdauernd über die Ästhetik Nietzsches gebeugt und ihren Zwiespalt folgerichtig auszutragen versucht. Seine Einsicht lautet: Das Schöne ging zusammen mit seiner metaphysischen Deutung verloren, aber es kehrt wieder. Das wiederkehrende Auftreten des Schönen geschieht jedoch zufällig, und das Schöne erscheint flüchtig. Somit wird für Benn Gegenstand der Lyrik, was für Hofmannsthal in dem Brief des Lord Chandos den Verzicht auf Dichtung begründen sollte, nämlich die Schönheit einer Anschauung, die, getrennt von allen Bezügen zur überlieferten Begrifflichkeit, sich aufdrängt. Es ist die Schwäche der Bennschen Lösung, daß sie mehr die Möglichkeit dieses Schönen nennt, anstatt es sich ereignen zu lassen. Ich bespreche drei Beispiele und gehe dabei vom Schlechteren fort zum Besseren und Gelungeneren. Das erste Beispiel bildet die vierte Strophe von „Verse" (1941): Zwei Welten stehn in Spiel und Widerstreben, allein der Mensch ist nieder, w e n n er schwankt, er kann v o m Augenblick nicht leben, 24
Vgl. eine entgegengesetzte Deutung bei E. Heller, Rilke und Nietzsche. In: Nietzsche — Drei Essays. Frankfurt 1964.
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obwohl er sich dem Augenblicke dankt; die Macht vergeht im Abschaum ihrer Tücken, indes ein Vers der Völker Träume baut, die sie der Niedrigkeit entrücken, Unsterblichkeit im Worte und im Laut. (Ges. Werke I ed. Wellershoff, Wiesbaden 1960, 195)
Der Gegensatz von „Macht" und „Vers" soll hier zur Verkündigung der Überlegenheit der Schönheit bewahrenden Dichtkunst dienen. Der Gegensatz von Macht und Schönheit Nietzsches wird umgedeutet durch eine Verengung des Machtbegriffes auf politische Macht, und die politische Macht erscheint nur in der Form eines Mißbrauches, „im Abschaum ihrer Tücken". Nur durch diese Abschwächung des philosophischen Machtbegriffes erscheint die Kunstschönheit im Widerstreit von Macht und Schönem überlegen. Die Dichtkunst aber vermag wegen der Schlechtigkeit ihres Gegners nicht eine wirkliche Stärke zu zeigen. Ihre „Unsterblichkeit im Worte und im Laut" ist nur die Armut einer Selbstaussage statt einer Selbstbetätigung. 25 Das zweite Beispiel: EIN WORT Ein W o r t , ein Satz —: aus Chiffren steigen erkanntes Leben, jäher Sinn, die Sonne steht, die Sphären schweigen und alles ballt sich zu ihm hin. Ein W o r t — ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ein Flammenwurf, ein Sternenstrich — und wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und Ich. (I, 208)
Die Dichtkunst erscheint als empfangende Sinnstiftung im All. Der Sinn erfüllt sich dabei als schöne Anschauung, als „ein Glanz, ein Flug, ein Feuer". An sich herrscht aber nicht das Licht des Schönen, sondern ein Dunkel, das von dem Schönen zufällig und flüchtig erhellt wird. Die Konsequenz aus Nietzsches Ästhetik, die hier zu Wort kommt, ist das angesichts des allgemeinen Sinnverlustes unverfügbare Auftreten des Schönen. Aber das Schöne tritt selbst nicht auf; vielmehr wird nur seine Möglichkeit benannt. Das Gedicht weicht dem sich ereignenden Schönen aus und wird Ausdruck der Fragwürdigkeit des Schönen. 25
Aus der stark von Heideggers Nietzschedeutung abhängigen Darstellung des Verhältnisses Benn — Nietzsche von B. Hillebrand geht hervor, daß Benn dem Kunstwerk ein ewiges Wesen zusprechen wolle. Dies gilt auch für das Gedicht „Verse". Von dieser Ansicht Benns muß jedoch seine gelingende Lyrik unterschieden werden. (Vgl. B. Hillebrand, Ästhetik und Auftrag. Zur Kunsttheorie von Benn und Nietzsche, München 1966. Und neuerdings: ders., Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 2, 185-211.)
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Ich kenne nur ein Gedicht Benns, in welchem das Auf- und Abtreten des Schönen nicht erwogen, sondern Ereignis wird. Es ist das im Aufbau mit ,Ein Wort' übereinstimmende Gedicht ,Welle der Nacht": WELLE DER NACHT Welle der Nacht — Meerwidder und Delphine mit Hyakinthos' leichtbewegter Last, die Lorbeerrosen und die Travertine wehn um den leeren istrischen Palast, Welle der Nacht — zwei Muscheln miterkoren, die Fluten strömen sie, die Felsen her, dann Diadem und Purpur mitverloren, die weiße Perle rollt zurück ins Meer. (I, 198)
Dieses Gedicht wird im einzelnen geheimnisvoll bleiben, weil es Mythos, Geschichte und Symbol in eine Form bringt. Es wagt mit den ersten beiden Zeilen eine mythische Assoziation, nämlich das Erscheinen des Hyazinth. Es nennt einen geschichtlichen Ort, „den leeren istrischen Palast", d. h. wohl jenen unmittelbar an den adriatischen Strand gebauten Palast Diokletians, in welchem dieser nach seiner Abdankung lebte. (Daß dieser Palast etwa 300 km südlich von der istrischen Halbinsel liegt, macht den Bezug auf das Palatium Diocletiani nicht unwahrscheinlich, sondern die Angabe assoziativ.) Es endet mit zwei Symbole nennenden Zeilen, nämlich dem „Diadem" und „Purpur" als Symbolen der kaiserlichen Macht und der ,weißen Perle' als Zeichen des Schönen. Eine lebendige Form entsteht durch die Präposition „mit", die in der ersten Strophe das mythische Auftreten des Hyazinth trägt. Die zweite Strophe wird dadurch zu einem eigenen Gebilde, daß das „mit" die Verbalbildungen „miterkoren" und „mitverloren" entstehen läßt. Die drei Stellen, an denen das „mit" erscheint, enthalten den Sinn des Gedichtes: Der erste, den Hyazinth einführende „mit" weist auf jenen Hyazinth, von dem Ovid (Metamorphosen X, 162—219) berichtet, er sei bei dem Versuch, einen von Apollon im Wettkampf geschleuderten Diskus aufzuheben, tödlich verletzt worden, als der Diskus bei seinem Aufprall auf den Boden, den Hyazinth im Gesicht treffend, zurückgeprallt sei. Apollon, der den Hyazinth seiner Schönheit wegen liebte, überwand seine Trauer über den Tod seines geliebten Jünglings, indem er ihn im Gesang verherrlichte und in die jeden Frühling wiedererblühende mit seinem Namen benannte Blume verwandelte. In dieser Sage, der Benn erst durch das weitere Gedicht eine Deutung gibt, erscheint die Schönheit als Opfer der Kraft und als Zerbrechlichkeit. Dies deutet der Dichter um in die symbolische Aussage des „miterkoren" und „mitverloren": Die durch „Diadem" und „Purpur" symbolisierte Macht
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existiert nur solange, als das Schöne anwesend ist. Die Macht ist mit dem Schönen „mitverloren". Beides kommt aus einem zufällig fruchtbaren Dunkel, der „Welle der Nacht". Ebenso tritt aus dem Dunkel der Muschel die Perle hervor. 26 Die Umdeutung des Mythos wird dabei zur Umdeutung der metaphysischen Ästhetik: Denn im Mythos erscheint das Schöne als das Zerbrechliche, dem die Metaphysik die Deutung verlieh, daß das Schöne, solange es nicht mit dem Wahren gleich sei, Privation des Wahren sei, d. h. vergänglich und nur in einer Hinsicht schön, in anderer aber häßlich sei. (Z. B. Symposion 211 a: JtQÖg [iev xö KaXöv, JtQÖg öe t ö ato^öv). Stattdessen sagt der Dichter Benn im Bewußtsein von Nietzsches Ästhetik: Die Flüchtigkeit des Schönen ist nicht Privation, sondern entspringt in der ursprünglichen Zufälligkeit des Weltgeschehens. Verstehen wir dieses kleine Gedicht in dieser Weise, so erhebt es den Zwiespalt von Machtwollen und Schönheitsanschauung der Nietzscheschen Ästhetik in ein mythisches Ereignis dieses Zwiespaltes selbst. Der Zwiespalt ist jenes Dunkel der „Welle der Nacht", die Macht und Schönheit ebenso aufscheinen wie untergehen läßt. Soweit die Betrachtung über die Aneignung des inneren Widerstreites von Nietzsches Ästhetik durch die Lyrik. Es wurde deutlich, daß in der Lyrik durchaus eine produktive Aneignung dieses Widerstreites geschieht. Der Dichtkunst scheint eine neue Möglichkeit des Schönen eröffnet, und sie eröffnet sich selbst eine solche, sofern das Schöne nicht mehr als Abdruck der Idee verstanden ist, wie es die deutsche Klassik und Romantik voraussetzte. Uber diese Entwicklung ist im ganzen der Entwicklung der Kunst noch nicht entschieden, d. h. es ist unentschieden, ob sie tragfähig und der Uberlieferung gewachsen ist. Es könnte, wie die Entwicklung der Kunst in den letzten 30 Jahren nahelegt, mit dem Verlust der Idee auch die Schönheit preisgegeben und der von Nietzsche vorausgesagte Nihilismus in der Kunst bestimmend werden. Nietzsches Lösungsversuche sind, weil philosophisch nicht haltbar, nicht geeignet, dies zu verhindern. Die Lyriker haben auf ihre eigene Stimme gehört. Aber dabei trat ein Gegensatz hervor: a) Solange der Widerstreit von Machtwollen und Schönheit festgehalten wurde, gelangen zumindest zwei Gedichte: Einmal jener Schwebezustand zwischen Macht und Schönheit in Hofmannsthals , Lebenslied', zum anderen die Flüchtigkeit des Schönen und der Macht in Benns „Welle der Nacht", b) Sobald jener Widerstreit nicht mehr zugrundegelegt wurde, entstand der Anspruch auf Neuschöpfung des Schönen durch die 26
H . Friedrich behauptet, die „ P e r l e " sei in dem Gedicht „durch nichts vorbereitet". E r übersieht also die Proportionalitätsanalogie ,Bewegtes Dunkel : Schönes = Dunkel der Muschel : Perle'. Vgl. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1968, 160.
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Dichtung, der selber in den Zwiespalt von Anspruch und Nichterfüllung in Rilkes ,Duineser Elegien' mündet. Es zeigt sich also, daß die Lyrik der philosophischen Ästhetik nicht selber die Lösung des philosophischen Problems verschafft, daß sie es jedoch zu individualisieren und in Anschauungen umzubilden vermag, von denen die philosophische Ästhetik nur die Möglichkeit angeben kann. Daß jenen Widerstreit lyrisch zu gestalten wirklich gelingt, scheint die eigentliche Chance und die Modernität der Lyrik zu sein, über die sie jedoch ebensowenig verfügt wie die früheren Dichter über die Eingebung.
Diskussion Reschke: Ich möchte gegen die Gundthese Ihres Beitrags Einspruch erheben, Herr Taureck. Sie sprechen einmal von dem tragischen Widerstreit zwischen zwei kunsttheoretischen Ansätzen, zwischen der psychologischen Erklärung des Kunstwerks und der philosophischen Erfassung der im Kunstwerk aufleuchtenden Schönheit. Nietzsche, das ist doch Ihre These, komme über eine psychologische Erklärung des Kunstwerks gar nicht hinaus. In Verlängerung dieser These sagen Sie, Nietzsche begründe an keiner Stelle die Schönheit und sein Versuch, den Schönheitsbegriff von Metaphysik zu befreien, sei gescheitert. Dieses Scheitern ist dann, wenn ich Sie richtig verstanden habe, ein typisches Zeichen der Moderne. Dies alles möchte ich ebenso in Frage stellen wie Ihre Schlußthese vom prinzipiellen Widerstreit zwischen Schönheit und Machtwillen. Wie ist denn z.B. der Zusammenhang von Modernität und Schönheit zu sehen? Ich persönlich glaube — das ist freilich ganz subjektiv —, daß die Brisanz der Ästhetik Nietzsches sowohl im Hinblick auf die philosophische Tradition als auch für die gegenwärtige Kunstauffassung in einer Verdächtigung aller tradierten Schönheitsauffassungen besteht. Nietzsches Verdächtigung ist in seiner großen und keineswegs ausdiskutierten These enthalten, das Dasein lasse sich überhaupt nur ästhetisch rechtfertigen. Hier scheint mir der Kernpunkt seiner Ästhetik zu liegen. Und hier wäre gleichermaßen nach dem zugrunde liegenden Begriff des Ästhetischen und nach der spezifischen Modernität der Konzeption zu fragen. Natürlich kann und muß man dabei auch nach Traditionsbeständen fragen, wie Sie es, Herr Taureck, z.B. in Hinblick auf Schelling angedeutet haben. Man wird auch nach dem Verhältnis zur platonischen Idee des Schönen fragen müssen. Aber im Vordergrund steht doch zunächst der Bruch mit der Tradition, Nietzsches Entfernung vom deutschen Idealismus, etwa von Hegels Konzeption des Kunstschönen als des sinnlichen Scheinens der Idee. Gleichzeitig mit diesem Abstand von der philosophischen Uberlieferung fällt dann Nietzsches Nähe zur Kunst der Moderne auf. Ich kann hier den Namen Baudelaires nur als Stichwort nennen; es bietet sich ja auch an, da Sie über Nietzsches Beziehung zur Lyrik gesprochen haben. Wenn ich nur an das Wort vom „großen Scheusal" in den „Blumen des Bösen" denke, dann sehe ich eine direkte Parallele dieser poetischen Konzeption mit der philosophischen Intention Nietzsches.
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Dann habe ich noch eine Bemerkung zu den Polaritäten von Traum und Rausch sowie von Individuation und Auflösung von Individuation zu machen, wobei mir unklar geblieben ist, wie Sie in diesem Zusammenhang auf das dritte Gegensatzpaar von absoluter Wahrheit und wahrem Abbild kommen. Nach meiner Auffassung sollte man von Gegensätzen nur solange sprechen, als man Nietzsches Intention hervorhebt, diese „Gegensätze" zu überwinden. Individualität — Sie haben von Individuation gesprochen — und ihre Auflösung werden im Kunstraum, im Raum des ästhetischen Erlebens, auf originäre Weise zusammengeschlossen. In der Geburt der Tragödie heißt es an einer Stelle, die Kunst sei der einzige Raum, in dem unter modernen Bedingungen Subjektivität und Objektivität noch zusammenzuschließen seien. Zur Illustration verweist Nietzsche auf das Märchen, das in der Lage sei, die Augen nach innen zu wenden, um sich so selbst anzuschauen. 1 Hier zeigt sich, daß Nietzsche die Gegensätze verbinden will und nach einer — wenigstens momentanen — Identität von Subjekt und Objekt sucht. Figl: Im zweiten Teil Ihres Referates, Herr Taureck, haben Sie über den Einfluß Nietzsches, den angenommenen Einfluß der Ästhetik Nietzsches auf einige Beispiele aus der Lyrik der Jahrhundertwende und des 20. Jahrhunderts gesprochen. Gewiß, das wissen Sie am besten, hätte man hier noch eine Reihe anderer Lyriker nennen können, wie beispielsweise Michael Georg Conrad, Paul Heyse oder auch Detlev von Liliencron, Richard Dehmel oder Georg Trakl. Sie haben sich auf Hugo von Hofmannsthal und Gottfried Benn beschränkt, weil Sie glauben, bei beiden Dichtern eine Auseinandersetzung mit dem von Ihnen konstatierten Widerspruch zwischen Ästhetik und Machtgefühl erkennen zu können. Ich sehe in diesem Verfahren einige Probleme. Um nur eines zu nennen: Es kann kein Zweifel sein, daß beide, Hofmannsthal wie Benn, Nietzsche sehr gut gekannt haben und daß sie sich auch mit Nietzsches Ästhetik auseinandergesetzt haben. Neuere Arbeiten zum dichterischen Werk der genannten Autoren aber zeigen, daß Nietzsches Einfluß als sehr vermittelt anzusehen ist. Nietzsche wurde von beiden weniger als Philosoph, sondern als Verkünder eines neuen artistischen Lebensgefühls rezipiert. N u n haben Sie, Herr Taureck, die Problemstellung aber gerade auf eine philosophische Auseinandersetzung hin zugespitzt. Meine Frage ist nun, ob Sie auch unabhängig davon eine Parallele unter formalen Gesichtspunkten erkennen können. Läßt sich z.B. Nietzsches Perspektivismus, den man ja ebenfalls zu den Elementen eines ästhetischen Lebensgefühls rechnen kann, nicht nur als inhaltliche Aussage, sondern auch, etwa bei Benn, als Formgesetz der Lyrik feststellen? 1
GT 5, K G W III 1, 43 f.
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Sobrevilla: Sie haben Ihrem Vortrag, Herr Taureck, den Titel: .Nietzsches Einfluß auf die Lyrik' gegeben. Was verstehen Sie hier unter „Einfluß"? Außerdem ist mir nicht klar, wie Sie die Auswahl der Lyriker begründen. Warum diese Lyriker und nicht auch andere, die man ja leicht nennen könnte; Herr Figl hat einige aufgezählt. Aber ich muß die Frage nach den Kriterien noch erweitern: Warum gerade diese Gedichte der von Ihnen ausgewählten Dichter? Und schließlich: Warum diese Auswahl innerhalb der Gedichte? Das haben Sie alles offengelassen, und ich habe nicht den Eindruck, daß Ihre inhaltlichen Ausführungen die methodischen Fragen implizit mitbeantworten. In der Art Ihrer Interpretation scheint mir im übrigen die Gefahr einer einseitigen Gesprächsführung zwischen Philosophie und Dichtung zu liegen. Das Gespräch könnte verarmen, wenn man insbesondere Gedichte nur von ihren begrifflichen Gehalten her auslegt. Die Kunstwerke überhaupt müssen auch von der Philosophie aus sich selbst heraus verstanden werden. Gedichte etwa über die zuvor in sie möglicherweise eingebrachten Vorstellungen und Begriffe zu erschließen, halte ich für ein einseitiges Verfahren, das man nur in Verbindung mit anderen Interpretationsweisen einsetzen kann. Sie haben sich m.E. ganz auf die einseitige Auslegungsform beschränkt. Abel: Der Widerspruch zwischen dem Machtgedanken und der Schönheit bei Nietzsche, wie Sie ihn sehen, Herr Taureck, tritt m.E. nur dann auf, wenn man zu sehr am alten, d. h. am klassischen Schönheitsideal orientiert bleibt. Das scheint mir in Ihren Überlegungen der Fall zu sein. Gegen Ihre Interpretation möchte ich die Behauptung stellen, daß Nietzsches Verständnis des Kunstwerkes und der Ästhetik in ihrer Weite, die ja nichts mit der neuzeitlichen Auffassung von Ästhetik im Sinne etwa psychologischen Erlebens, einer Entlastung vom Daseinsdruck oder einer Ergänzung und Bereicherung des Lebens zu tun hat, sich durchaus in naturphilosophischer und physiologischer, genauer: in einer als Morphologie des Willen-zur-MachtGeschehens zu entfaltenden Perspektive begründen läßt. Freilich steht eine solche Darstellung vorerst noch aus. Nietzsche zufolge ist bereits die in unseren Augen gemeinhin als passiv verstandene Betrachtung von Kunstwerken ein aktives Geschehen, ein Ausströmen von Machtgefühl. Sogar also auf dieser Ebene ergibt sich ein Zusammenhang mit der Lehre vom Willen-zur-Macht, der dann natürlich im Aspekt des dionysischen Schaffens entscheidend ist. Der Schönheitsbegriff Nietzsches — und das ist charakteristisch für die Schriften der achtziger Jahre und tritt im späten Werk immer stärker in den Vordergrund — leitet sich nicht von der schönen Anschauung, nicht von der klassischen Schönheitserfahrung her, sondern er steht im Zusamcharakterisierten Geschehen des menhang mit dem durch Notwendigkeit
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Willens zur Macht. Das Notwendige ist, wie es in der Bestimmung des Amor fati heißt, zugleich als das Schöne an den Dingen aufzufassen. Darin steckt eine Umwertung gerade auch in Sachen Kunst, Schönheit und Ästhetik. Nach meiner Meinung vollzieht Nietzsche in diesem Versuch einer Neubestimmung auch des Schönen mehr als bloß eine Umkehrung vorangegangener Auffassungen. Insofern sehe ich die von Ihnen, Herr Taureck, gezogene Verbindungslinie Platon-Nietzsche ganz anders. Dies bestätigt sich auch an der von Frau Reschke genannten Parallele zur französischen Lyrik. Neben Baudelaire (den man von Nietzsche her freilich noch unter den Nihilismus rechnen muß!) ließe sich z.B. auch noch Lautréamont nennen. Bei beiden wird das Verhältnis von ,schön' und .häßlich', von ,gut' und ,böse' in seiner bis dahin überlieferten Form radikal aufgelöst. Es erscheint mir daher höchst zweifelhaft, in diesen Versuchen eine Orientierung an der .klassischen' Auffassung des Schönen zu vermuten. Müller-Lauter: Im Anschluß an die methodischen Bedenken von Herrn Figl und Herrn Sobrevilla möchte ich fragen, Herr Taureck, ob Sie „Einfluß" überhaupt so verstanden haben, wie die Beiträge es unterstellen. Wenn ich Sie richtig verstehe, setzen Sie „Einfluß" nicht gleich „Rezeption", denn Sie untersuchen ja genau besehen gar nicht Nietzsches „Wirkung auf . . . " oder seine „Aufnahme bei . . .". Ihr Vortrag ließe sich eher unter den Titel „Nietzsches Denken als möglicher Deutungshorizont moderner Lyrik" stellen. Würden Sie damit einverstanden sein können? Gründer: Auch ich habe erhebliche Einwände, Herr Taureck, insbesondere gegen die Gleichsetzung der Frage nach dem Schönen mit der bei Nietzsche doch ganz anders gelagerten Frage nach der Kunst. Zumindest muß man überlegen, ob „Schönheit" und „Kunst" bei Nietzsche überhaupt noch in jener Beziehung stehen, die für die Uberlieferung ganz fraglos gegeben war. Wenn man das Thema so grundsätzlich aufnimmt, wie Sie es getan haben, dann sollte allerdings auch Nietzsches großes Paradigma der Kunst erörtert werden. Ich meine Werk und Person Richard Wagners, der zeitlebens für Nietzsche bestimmend blieb. Am Anfang seines Schaffens steht das emphatische „Ja" zu Wagner, dann folgt, bis zum Ende sich verschärfend, das schroffe „Nein". Der Wandel und die Kontinuität in Nietzsches Einstellung gegenüber Wagner ist für Nietzsches Kunstverständnis von eminenter Bedeutung. Dies gilt, so meine ich, auch für die Lyrik. Montinari: Ich habe nur eine kurze Frage zu Ihrer Nietzsche-Interpretation, und zwar wüßte ich gern, wie Sie zwei in Nietzsches Spätwerk wichtige Aussagen mit Ihrer Deutung verbinden, Herr Taureck. Nietzsche spricht
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mehrfach von der „Physiologie der Kunst", und er bestimmt im Anschluß an Stendhal das Kunstwerk als eine „promesse de bonheur". Wie würden Sie diese Kennzeichnungen in Ihre Deutung einordnen? Taureck: Es wird nützlich sein, daß ich verdeutliche, was ich unter Modernität und was ich unter dem Schönen verstehe: Modernität ist das Bewußtsein der Beziehungslosigkeit des Sinnlichen und des Intelligiblen. Die moderne Kunst ist deshalb insofern modern zu nennen, als sie von diesem Bewußtsein getragen wird. Die Gegenwart des Intelligiblen im Sinnlichen wie sie — ein Beispiel für alle — in den Schlußzeilen von Goethes Sonett „Mächtiges Uberraschen" zu Wort kommt „Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben." ist speziell in der modernen Lyrik nicht mehr vorhanden: „Es ist ein Licht, das in meinem Mund erlöscht" lautet eine Zeile Trakls. Unter dem Schönen verstehe ich eine Vollkommenheit des Angeschauten, wobei ich offen lasse, in welcher Hinsicht die Vollkommenheit ausgesagt wird. Eine Definition der Schönheit — im Unterschied zum Schönen — müßte auch das Vollkommensein bestimmen. Ich habe nun im ganzen nichts anderes versucht, als nach dem Definiens der Vollkommenheit des Angeschauten bei Nietzsche und in einigen durch ihn begreifbaren Gedichten zu suchen. Was ist dieses Definiens bei Nietzsche? Ist es die Subjektivität des Selbstbewußtseins, das eine Identität mit der Objektivität, wie Sie, Frau Reschke, sagen, „wenigstens momentan" erreicht? Ich erblicke in Nietzsches ,Willen zur Macht' durchaus eine Entfesselung der neuzeitlich verstandenen Subjektivität, aber ich behaupte zugleich, daß diese Subjektivität nicht der Ort der Schönheit sein kann. Dies möchte ich kurz an dem Verhältnis zeigen, in welchem sich Nietzsches Ansatz zur Ästhetik Kants befindet. Kant versteht Schönheit als subjektive Form der Subjekt-Objekt-Identität, die als Ubereinstimmung von Sinnlichkeit und Verstand gedacht ist. Diese Form heißt subjektiv im Unterschied zu der objektiven Ubereinstimmung Sinnlichkeit-Verstand vermittelst des Schematismus der Begriffe. Im ästhetischen Urteil aber schematisiert die Urteilskraft, wie Kant sagt, ohne Begriff. (Ich brauche hier nicht weiter auszuführen, daß gerade dieser Ansatz später — besonders von Gadamer in Wahrheit und Methode - getadelt worden ist.) Wie ist nun Nietzsches Stellung zu diesem Ansatz? Nietzsche streicht die bei Kant ja noch gegebene objektive Erkenntnismöglichkeit der Erfahrungsgegenstände weg. Wie wir aus seiner Kritik des tradierten Wahrheitsbegriffes wissen, entfällt bei Nietzsche die Ubereinstimmung von Begriff und Gegenstand. Damit aber entfällt für Nietzsche zugleich die Möglichkeit, eine
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subjektive Subjekt-Objekt-Identität im Sinne Kants als Ästhetik beizubehalten. Denn wenn es keine Objektivität geben kann, kann es auch keine subjektive ( = unbegrifflich vorgestellte) Objektivität geben. N u n gehe ich noch einen Schritt weiter als ich in meinem Referat gehen wollte: Wenn bei Nietzsche nicht mehr die — wie bei Kant — Subjektivität Definiens der Schönheit sein kann, so ist zu sagen, daß mit der Objektivität auch die Subjektivität preisgegeben ist, wenn anders ,Objektivität' wesentlich die Bedeutung des von dem cogito me cogitare Vorgestellten hat. Nietzsche hat diese Konsequenz gewußt und gewollt, und er glaubte, daß sich, was Schönheit heißt, erst unter der Voraussetzung der preisgegebenen Subjektivität zeigt. Aber wie bestimmt sie sich dann? Darauf weiß er keine befriedigende Antwort, gelangt aber einmal, wie ich dargelegt habe, in die Nähe Piatons, was bedeutet: Die Schönheit definiert sich gar nicht durch die subjektiv erfaßte Wahrheit, sondern weil das Wahre von sich aus sich in der Anschauung zeigt, antwortet der Mensch durch die Lust des Nachstrebens (Eros). Soweit eine grundsätzliche Bemerkung, die zugleich eine A n t w o r t zu den Ausführungen von Frau Reschke enthält. N u n noch einige Worte zu den übrigen Fragen und Bemerkungen: Zunächst zu Herrn Figi: Von einem „Formgesetz", das die Lyriker aus Nietzsches Perspektivismus ableiteten oder intuitiv entnahmen, würde ich nicht sprechen. Daß aber der bei Nietzsche vorliegende Widerstreit des Machtwollens und der Schönheit mit sprachlicher Meisterschaft besonders von Hofmannsthal und Benn umgesetzt ist, meinte ich gezeigt zu haben. Dann zu Herrn Sobrevilla: Das Aus-sich-selbst-Verstehen von Kunstwerken — Schellings ,Selbsterklärung der Mythologie', Lévi-Strauss' ,mythische Mythenerklärung' und Leo Spitzers Methodik in Ehren — scheint mir umgekehrt selbst ein einseitiges Verfahren. Ich habe diese Beispiele ausgewählt, weil ich — z . T . durch Kontrast — zeigen wollte, was ich durch analytisches Anwenden von Philosophie nie hätte zeigen können: dichterisches Gelingen im Geiste einer der Philosophie entstammenden, die Kunst aber wesentlich betreffenden Problematik. Sie hätten recht, wenn ich mich auf solche Machwerke wie das — bei Hillebrand Bd. 1, 72 abgedruckte — Gedicht „ L y r i k " von Paul Boldt bezogen hätte. Dann nämlich hätte ich einen im Lehrgedichtton dogmatisierten Nietzsche vor mir gehabt und hätte im analytischen Urteil bleiben können. Ferner zu Herrn Abel: Sie wiederholen, Herr Abel, Nietzsches These von der Notwendigkeit des Schaffens aus dem Willen zur Macht, deren Gültigkeit ich bezweifelt habe, ohne Gegengründe zu nennen. 2 Wenn Sie Nietzsches 2
Die Frage nach der Notwendigkeit der Kunst kann ich hier nicht systematisch beantworten. Ich verweise auf meinen Versuch „Die Notwendigkeit der Kunst: Fragestellung und die
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Ästhetik in der Auflösung des konträren Gegensatzes von Schön und Häßlich in der französischen Lyrik — Hugo Friedrich zeigt ja etwas davon in Die Struktur der modernen Lyrik auf — bestätigt sehen, so bekräftigen Sie, was ich zum Definiens der Schönheit als Antwort auf Frau Reschke gesagt habe: Daß die Subjektivität keine Definiens der Schönheit ist, daß also, m.a.W., angesichts der radikalisierten Subjektivität des Willens zur Macht auch das Schöne untergegangen wäre. Nietzsches ausdrückliche, Goethe wiederholende Wendung gegen alles Romantische und zum Klassischen — z. B. auch zu Pierre Corneille und gegen Shakespeare — gibt dagegen doch wohl Anlaß genug, ihn nicht auf die Preisgabe des KaXöv festzulegen. Herr Müller-Lauter hat in der Tat die Umschreibung für das angegeben, was ich beabsichtigt habe: Nietzsche als ein Horizont der Deutung von Lyrik. Ich bin dankbar für diese Formulierung, weil sie den Horizont von dem von ihm Umschlossenen — der Lyrik — abheben läßt. Bei Herrn Gründers Frage habe ich dagegen Zweifel: Eine Beziehung zwischen Schönheit und Kunst soll in der Uberlieferung zwanglos bestanden haben, Herr Gründer? Ich sehe nicht, wie in Piatons Staat, aus dem die Künstler zugunsten des wahrhaft Schönen hinausgeworfen werden, eine fraglose Beziehung zwischen Kunst und Schönem bestanden haben soll. Ferner: Dem JA zu Wagner entsprechen in meiner Deutung Nietzsches die Gegensätze aus der Tragödienschrift, während die beiden Lösungsversuche des Widerstreites Wille zur Macht-Schönheit Kriterien implizieren, Wagners Kunst zu verneinen. Schließlich zu Herrn Montinari: Die „Physiologie" der Kunst habe ich bereits eingeordnet: Sie gehört in den zweiten Ansatz zur Lösung des Widerstreites, in welcher das Schöne als Physis gedacht werden soll. Die „promesse de bonheur" gehört ebenfalls in diesen Ansatz. Ich möchte Ihre Frage zum Anlaß nehmen, um auf eine, soweit ich sehe, bisher unbeachtete Besonderheit der Bedeutung dieser Schönheitsdefinition einzugehen. Bekanntlich führt Nietzsche die Stendhalsche Schönheitsdefinition an (GM III 6), um sie gegen Kants und Schopenhauers Wirkungsästhetik auszuspielen. Er zitiert und übersetzt jedoch falsch bzw. absichtlich verändernd. Bei Stendhal heißt es in einer Fußnote zu Kapitel XVII von De l'amour: „La beauté n'est que la promesse du bonheur." Deutsch: „Die Schönheit ist bloß das Versprechen des Glücks.", wobei Stendhal „promesse" hervorhebt, um in der Verbindung mit „ne . . . que" die Abschwächung der Schönheit gegenüber dem wirklichen Glück zu betonen. Bei Baudelaire kehrt diese Definition der Schönheit übrigens als nicht gekennzeichnetes Zitat wieder, wobei das Antwort Heideggers". In: Wissenschaft und Weltbild 1, 1972, auf den mir Heidegger am 2. Mai 1972 mit einer liebenswürdigen Karte antwortete.
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abschwächende „ne . . . que" fehlt, die „promesse" aber hervorgehoben bleibt: „la beauté est surtout la promesse du bonheur" 3 . Nietzsche dagegen sagt „promesse de bonheur", hebt also den Gesamtausdruck abzüglich des „ne . . . que" hervor, und statt des vollen Teilungsartikels „ d u " setzt er „de". Er übersetzt: „das Schöne verspricht Glück." Ich führe all dies an, Herr Montinari, weil die von Ihnen erfragte Einordnung der Stendhalschen Formel auf diesem Wege in viel genauerer Weise möglich ist als ohne sie. Der Unterschied zwischen Stendhal und Nietzsche ist der, daß Stendhal die Schönheit neuplatonisch — ob nun absichtlich oder unabsichtlich, ist bei dem philosophisch vielseitigen, aber konfusen Stendhal offen 4 — versteht, und daß Nietzsche dagegen die Stendhalsche Formel wieder echt platonisch umdeutet. Stendhal meint: Schönheit ist nicht Glück, sondern kündigt es bloß an. Ebenso war z.B. für Plotin das Schöne nur die Hülle des Höchsten. Nietzsche meint: Mit dem Schönen ist unzertrennlich die Gewißheit der Eudaimonia gegeben. Ebenso war für Piaton das Schöne die Anwesenheit des Guten im Lebewesen und das Höchste auch das eigentlich Schöne. 5 Nietzsche sagt, wie Piaton, ,das Schöne' statt der „beauté" bei Stendhal und wendet die Abschwächung Stendhals — ähnlich wie Baudelaire — durch Weglassen des „ne . . . que" zur Verstärkung der Einheit von Schönem und Eudaimonie um. Anstelle der nominalen, abschwächenden Fügung „promesse" setzt er das verbale „verspricht", um die Unzertrennlichkeit KaXov— ei>ôai[iovia kundzugeben. Stendhals Formel ist Neuplatonismus tourné à la mode, Nietzsches Verdeutlichung dagegen echter Piatonismus.
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Oeuvres compl., ed. Le Dantec et Pichois, Gallimard 1961, 472. Vielleicht erscheint es manchem abwegig, im 19. Jh. noch von Einflüssen Plotins zu sprechen. Man bedenke aber, daß die Malereibewegung der Nabis in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts bei Paul Serusier durchaus als Heilslehre konzipiert war, und zwar unter ausdrücklicher Berufung u. a. auf Plotin, (vgl. W. Haftmann, Malerei im 20. Jh., München s 1976, 48ff.). Ich bestreite nicht, daß man auch schon bei Piaton selbst eine Differenz von KCtXöv und dyaööv erblicken kann. Im „Symposion", Nietzsches Haupttext, sind jedoch beide gleich. Plotin jedenfalls scheidet deutlich das Hen ab von dem Schönen: Schon in 1,6 und — besonders hart - in V,5,12. Zur Diskussion vgl. T. A. Szlezäk, Piaton und Aristoteles in der Nuslehre Plotins. Basel und Stuttgart 1979, 25f.
ROBERT E . MCGINN
V E R W A N D L U N G E N V O N NIETZSCHES Ü B E R M E N S C H E N IN D E R LITERATUR DES MITTELMEERRAUMES: D ' A N N U N Z I O , MARINETTI U N D KAZANTZAKIS I.
Einleitung
Kein anderer Denker hat einen so umfassenden Einfluß auf die westliche Literatur des 20. Jahrhunderts ausgeübt wie Friedrich Nietzsche. Ich werde mich hier mit nur einem Aspekt dieses Einflusses beschäftigen: mit der literarischen Aufnahme des Ubermenschen, dem Ideal eines höheren, wertvolleren Menschentypus des späten Nietzsche. Ich werde mich weiterhin auf ausgewählte Werke von drei Autoren des Mittelmeerraumes mit ganz verschiedenen Ubermenschbegriffen konzentrieren, und zwar d'Annunzio, Marinetti und Kazantzakis. Ich werde die hervorstechenden Eigenschaften der von ihnen geschaffenen Nachfolger des Nietzscheschen Ideals beschreiben und vergleichen und aufzeigen, inwiefern ihre literarischen Helden dem Nietzscheschen Prototyp gleichen und inwiefern sie anders sind. Am Ende meines Beitrages will ich versuchen, die großen Unterschiede in Nietzsches literarischer Nachfolge zu erläutern.
II. D'Annunzio: Die Entstehung des Übermenschen durch die Wollust des Todes Obwohl bereits sein früherer Roman „Trionfo della Morte" 1 (1894) einen Nietzscheschen Einfluß aufweist, so finden wir doch in Gabriele d'Annunzios „Le Vergini delle Rocce" 2 aus dem Jahre 1895 das ausgeprägteste Bild des Ubermenschen des Mittelmeerraumes dieses Autors. Claudio Cantelmo, der Abkömmling einer alten, vornehmen Aristokratenfamilie, ist entsetzt darüber, wie das moderne Rom verschandelt wird durch die „Gewinnsucht" 3 aller 1 2
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Gabriele d'Annunzio, Prose di Romanzi, Bd. I (Mondadori: Verona, 1955). Prose di Romanzi, Bd. II (Mondadori: Verona, 1955). Obwohl die folgenden Zitate aus d'Annunzio auf deutsch gegeben werden, verweisen die Seitenzahlen auf die italienische Originalausgabe. 431.
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Klassen, und insbesondere durch die vielen häßlichen Baustellen, die die geheiligte römische Landschaft verunzieren. Als er jedoch in die römische campagna kommt und Leonardos Porträt seines Vorfahren Alessandro Cantelmo betrachtet, fühlt er sich berufen, dafür zu sorgen, daß die großen Leistungen seiner römischen Vorfahren nicht in Vergessenheit geraten, sondern daß sie gepflegt und bewahrt werden. Die Betrachtung der Aquädukte in der römischen campagna veranlaßt ihn, auf eine „fortschrittliche und freiwillige Individualisierung des römischen Idealtypus" 4 hinzuarbeiten, eine unerläßliche Vorbedingung für die Uberwindung der Dekadenz, das Wiederaufblühen des „heroischen Willens", 5 und die Wiederbegründung „eines römischen Reiches". 6 Claudio stellt sich eine dreiteilige Lebensaufgabe: „Mache dein Wesen mit aufrechten Methoden zur vollkommenen Integrität des römischen Typs; verbinde die reinsten Wesenszüge deines Geistes und schaffe die tiefste Vision deiner Welt in einem einzigen, höchsten Kunstwerk; [und] bewahre den ideellen Reichtum deiner Rasse und deiner eigenen Erfahrungen in einem Kind, das, unter der Anleitung seines Vaters, diese erkennt und sie sich zu eigen macht, so daß er für wert befunden wird, . . . nach höheren Dingen zu streben." 7 Er verläßt also Rom und begibt sich zu seines Vaters liebstem Aufenthaltsorte auf dem Lande. D o n blickt er erwartungsvoll dem Zusammentreffen mit seinen Jugendfreunden, insbesondere mit drei anscheinend heiratsfähigen Töchtern der Familie Montaga, einer jetzt verarmten Aristokratenfamilie von den zwei Teilen Siziliens, entgegen. Von da an beschreibt das Werk Claudios merkwürdige Beziehungen zu den drei Schwestern, Massimilla, Anatolia und Violante, und deren Einfluß auf seine Nietzschesche Aufgabe. Als er den Palast in Trigento betritt, empfindet Claudio ein durchdringendes Gefühl des Todes. Massimilla ist im Begriff, in ein Kloster zu gehen, Anatolia hat sich damit abgefunden, ihre geisteskranke Mutter pflegen zu müssen, und Violante, eine auffallende Schönheit, wurde als Kind Zeuge, wie der Bourbonenkönig Francisco in einem blutigen C o u p gestürzt wurde. Aufgrund des Gestanks der nicht begrabenen Toten ist Violante von Düften und Gerüchen besessen und hat eine Geruchsempfindlichkeit, die, wie Anatolia meint, sie umbringt. Der erste Gedanke Claudios ist, sich vor dieser vermodernden Welt zu schützen, aber sein innerer „ D ä m o n " 8 versichert ihm, er sei stark genug, und er solle sich diesem Erlebnis öffnen, indem er sagt, daß Claudio sein „Schicksal" 9 nur in der „Überreichlichkeit des
4
414.
5
416.
6
Ibid.
7
430. 444. 447.
8 9
Verwandlungen von Nietzsches Ubermenschen
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L e b e n s " 1 0 erfüllen kann. Diese Nietzschesche Spannung besteht durch das ganze Werk hindurch. Obwohl Claudio von Zeit zu Zeit versucht, seinen „Reichtum über diese ganze A r m u t " 1 1 hinweg auszuschütten und ihr neues Leben zu geben, so läßt er sich doch „von der Reichlichkeit durchdringen". 1 2 Seine unmäßige Phantasie idealisiert und „verklärt" 1 3 ständig die Taten und Worte der Frauen, so daß diese seinem E g o schmeicheln. Seine Versuche, die drei Jungfrauen, einzeln und zusammen, für seine historische Aufgabe zu gewinnen, scheitern schmählich. Alle drei widersetzen sich seinen Bestrebungen und lehnen seine Heiratsanträge ab. Was ist nun d'Annunzios Absicht? Präsentiert er uns Claudio als einen gescheiterten Ubermenschen? Keinesfalls, denn d'Annunzio ist hier der Meinung, daß der potentielle Ubermensch nur dann bislang unbekannte Aspekte seines versteckten Selbst entdecken kann, wenn er sich dem breiten Spektrum des Perversen, des Exotischen und des exquisit Wollüstigen öffnet. Von dieser Erfahrung mit der einst großen, sterbenden Welt der drei Frauen war Claudio mehr begeistert als von den Ruinen der berühmten römischen Städte. Zum Beispiel, „einmal erhob das Gefühl des Todes meine Seele so sehr und machte sie leidenschaftlich, daß alle Erscheinungen reflektiert wurden, als wären sie von Poesie transfiguriert. In der Herrlichkeit der Frühlingsluft erschienen mir jene schwachen Geschöpfe „wunderbar traurig" wie die Frauen in dem Traum der Vita Nuova". 14 Claudio erinnert sich an die Seite, auf der Dante seine Seele in Bewegung bringt und „sie auf die Höhen traurigen Deliriums führt, indem er sich Beatrice tot vorstellt und ihre Anmut durch einen Grabesschleier betrachtet." 1 5 Er fragt dann auf rhetorische Weise: „Ist die Kraft einer unaussprechlichen Vollkommenheit nicht aus einer ähnlichen Einbildung zu mir gekommen?" 1 6 Diese innere Entwicklung des Individuums befähigt ihn, an der „stufenweisen Erhebung eines bevorrechteten Standes an einer idealen Lebensform" 1 7 teilzuhaben. Dieser Stand wird „die Herde wieder zum Gehorsam führen". 1 8 Ohne Freiheitsgefühl und mit dem angeborenen Bedürfnis, ihre Handgelenke „in Fesseln" 1 9 zu halten, wird die Herde eine Gemeinschaft von „Sklaven bleiben". 2 0 Eine solche aristokratische Gesellschaft wird „die Schönheit
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Ibid. 442. 504. 463. 483. Ibid. Ibid. 421. Ibid. 422. 421-422.
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schützen" 21 und die Herrlichkeit des alten Rom wiederherstellen. Wollust durch den Tod ist also eine conditio sine qua non für die Entstehung und die Entwicklung eines d'Annunzioschen Übermenschen.
III.
Marinetti: Der Übermensch als Futurist
Man kann sich kaum einen augenfälligeren Kontrast zu d'Annunzios quasi nekrophiler Welt der Schauer vorstellen als den, den Filippo Tommaso Marinetti, die treibende Kraft des Futurismus, präsentiert. Marinetti ist allgemein bekannt als der Autor von „Manifeste de Fondation du Furturisme" 22 (1909). Obwohl ein allgemeiner Nietzschescher Einfluß in diesem Manifest auszumachen ist, so ist doch der spezifischere und durchdringendere Einfluß des Nietzscheschen Ubermenschen in Marinettis allegorischem Roman „Mafarka le Futuriste" 23 aus dem Jahre 1910 enthalten. Mafarka, ein riesiger afrikanischer König, hat sich ein persönliches Reich geschaffen. Er verachtet Frauen so sehr, daß er seinen Sohn und Nachfolger Gazourmah ohne die Hilfe und Mitwirkung einer Frau gezeugt hat. Das zentrale, theoretische Kapitel dieses Werkes ist das neunte, das sogenannte „Discours Futuriste de Mafarka". 24 In diesem Kapitel wird die Ubermenschlichkeit à la Marinetti klar beschrieben. Mafarka hat sein Dorf verlassen und hat die Herrschaft über seine Untertanen freiwillig aufgegeben. Aber seine Schlachtgefährten suchen ihn auf und bitten ihn, zurückzukehren und seine Herrschaft wiederaufzunehmen. Aber er weigert sich standhaft. Eine wichtigere Aufgabe wartet: „Je veux me surpasser en créant, avec le seul effort de mon cœur, une jeunesse plus radieuse que la mienne, une jeunesse immortelle!" 25 Wie es sich für einen guten Ubermenschen gehört, schilt er zunächst seine Mannen, weil sie nicht den Wunsch empfinden, ihn zu töten, um dann an seinen Platz zu treten. Dann verkündet er, daß er ein „constructeur des oiseaux mécaniques" 26 geworden sei: „Je construis et j'enfante mon fils, oiseau invincible et géant qui a des grandes ailes flexibles, faites pour embrasser les étoiles." 27 Marinetti bringt also seinen Glauben an einen quasi Nietzscheschen Futurismus zum dichterischen Ausdruck: Selbstüberwindung zur Erreichung höherer Lebensformen durch die Entwicklung des Willens und durch die todesmutige Beziehung zur 21 22
23 24 25 26 27
419. Siehe Marinetti: Selected Writings, R. W. Flint, Hrsg. (Ferrar, Straus, Sc Giroux: New York, 1971-72), 3 9 - 4 4 . (Sansot: Paris, 1909). Ibid., 2 0 7 - 2 2 1 . Ibid., 208. Ibid., 211. Ibid.
Verwandlungen von Nietzsches Ubermenschen
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dynamischen Technik, z. B. mit den damals neuen Leistungen des bemannten Fluges, hier symbolisiert durch den „oiseau mécanique". Als seine Bittsteller von einem Sturm bedroht werden, warnt er sie und sagt, sie sollten sich zurückziehen, aber sie verachten die Gefahr, denn sie haben ihre Lektion gelernt, und sie verbleiben bei ihm und betrachten sein nobles Antlitz. Dies veranlaßt Mafarka, seine Meinung zu ändern, und er betrachtet sie jetzt als seine Brüder und ruft aus: „Vous devez croire en la puissance absolue et définitive de la volonté, qu'il faut cultiver, intensifier, en suivant une discipline cruelle, jusqu'au moment où elle jaillit hors de nos centres nerveux et s'élance par delà les limites de nos muscles, avec une force et une vitesse inconcevables . . . Nous pouvons ainsi façoner tout ce qui nous entourne et rénover sans fin la face du monde." 2 8 Marfarka bringt den Wunsch, etwas zu schaffen, das über einen selbst hinausgeht, in bezug zu einem grundlegenden, universellen Phänomen: „Chacun de nous reçoit de l'univers une incessante lumière et s'enrichit parfois de souvenirs et de sensations recueillies dans son pèlerinage, durant les infinies transformations que sa matière immortelle a traversées.' " 2 9 Diesem Prinzip liegt Mafarkas neue „religion de la Volonté exteriorisée et de l'Heroïsme quotidien" 30 zugrunde. Das heißt also, daß der Marinettische Ubermensch bestrebt ist, etwas Schönes zu schaffen in jeder Minute seines Lebens durch „des actes de volonté impétueuse" 3 1 , ein Risiko nach dem andern eingehend und ständig den Tod herausfordernd. „C'est ainsi que s'embelliront les existences futures, où de nouvelles formes vivantes vivront la joie redoublée de nos vies formidables . . . Gare à celui qui laisse vieillir son corps et se flétrir son esprit!" 3 2 Diese Rede bewegt einen seiner jungen Bewunderer derart, daß er, um seinem Meister zu zeigen, daß er sich nicht vor dem Tode fürchtet, auf das Bugspriet eines Schiffes klettert, die Arme ausbreitet, abspringt und von einer scharfen Felsspitze aufgespießt wird. Mafarka ist gebührend beeindruckt. In diesem „roman africain" 33 finden wir also mehrere Motive, die wir auf „Also sprach Zarathustra" zurückführen können: das Projekt der Selbstüberwindung und das absichtliche, bewußte Streben nach höheren Lebensformen und der damit verbundene Kult der Jugend, des Willens und des gefahrvollen Lebens. Die spielerische, zärtliche Seite Zarathustras und die Fähigkeit zur Selbstkritik, die im letzten Paragraphen von „Jenseits von Gut und Böse" beschrieben wird, eine Fähigkeit, die unerläßlich ist für die unbedingte Hingabe Ibid., » Ibid., 3 0 Ibid. 3 1 Ibid., 3 2 Ibid. 3 3 Ibid., 28
215. 216. 217. iii.
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an die Selbstüberwindung, fehlen allerdings in Marinettis Porträt. Marinettis Held ist ungestüm, robust, ein Mann der Tat, besessen von einem starken, disziplinierten Willen. D'Annunzios Held ist dagegen ein Mann mit fieberhafter Phantasie und hyperromantischer Empfindsamkeit, gehemmt, introvertiert und insgeheim besitzgierig. D'Annunzios Ubermensch wird vor allem von dem historisch bedingten Wunsch, vergangener römischer Größe neues Leben einzuhauchen, getrieben, wohingegen Marinettis Ideal auf ein ewiges, futuristisch orientiertes metaphysisches Prinzip des organischen Wachstums gegründet ist: immer höhere Lebensformen werden erzeugt durch Lebenszyklen, Tod, Wiedergeburt; Zyklen, die vom menschlichen Willen entschieden beeinflußt werden. Der Wille von Marinettis Helden wird gestählt durch die Herausforderung des Todes im Eingehen von Risiken, wohingegen der träge Umgang mit exquisiten lebenden Toten ein wollüstiges Experiment der Selbstentblößung für den d'Annunzioschen Helden darstellt. Aufgrund des eben Dargestellten mag der Marinettische Held einer bekannten Karrikatur des Nietzscheschen Ubermenschen ähnlicher sein, aber er ist dennoch anders in einem weiteren Aspekt. Immer wieder klingt es an in dem Werk, daß alle Menschen das Potential haben, am ,,1'Heroïsme quotidien" teilzuhaben: „Enfin, me voilà tel que je voulais être: voué au suicide et prêt à l'enfantement du dieu que chacun porte dans ses entrailles!" 34 (Unterstreichungen vom Verfasser) Andererseits betont d'Annunzio, daß „Blut" („Sangue" 35 ) der wichtigste bestimmende Faktor des individuellen Potentials ist. Im Lichte dieser Verschiedenheiten überrascht es nicht, daß Marinetti d'Annunzio heftig angreift, in einer Art, die an die Kritik des späten Nietzsche an Wagner erinnert: „Gabriele d'Annunzio muß mit allen Mitteln bekämpft werden, denn er hat mit seiner großen Geschicklichkeit uns die vier geistigen Gifte, die wir für immer abschaffen wollen, eingeflößt: 1) die kränkliche, sehnsüchtige Poesie der Entfernung und der Erinnerung; 2) romantische Sentimentalität, voller Mondschein, die bewundernd aufschaut zu dem Konzept der Frauenschönheit; 3) Obzession mit Wollust, mit dem Dreieck des Ehebruchs, dem Salz des Inzest und der Würze der christlichen Sünde; 4) die professorenartige Leidenschaft für die Vergangenheit und die Antike, und die Sammlermanie." 36 Mit der Abschaffung dieser und anderer „Gifte der unerschöpflichen Lebenskraft . . .[und der] Unterbrechung unserer mächtigen körperlichen Elektrizität", sah Marinetti eine „unberechenbare Zahl menschlicher Verwandlungen" 3 7 voraus. Er erklärte: „Ohne ein Lächeln, Flügel schlafen in
34 35 36 37
Ibid., 219. d'Annunzio, Prose di Romanzi, Bd. II, 543. Marinetti: Selected Writings, 68. Ibid., 91.
Verwandlungen von Nietzsches Übermenschen
603
d e m Fleisch der M e n s c h e n . " 3 8 A l s o ist d e r E i n f l u ß v o n N i e t z s c h e s Ideal des Ubermenschen offensichtlich.39
IV.
Kazantzakis:
Der
Übermensch
als sozial verantwortlicher
des Lehens
im
W i e aus seiner A u t o b i o g r a p h i e seinem
Denken
tiefgreifend
von
Zelebrant
Diesseits
h e r v o r g e h t ist N i k o s
Nietzsche
beeinflußt
Kazantzakis worden.40
in
Seine
A u f n a h m e u n d V e r w a n d l u n g v o n N i e t z s c h e s Ideal des U b e r m e n s c h e n ist a m deutlichsten ersichtlich in „ A l e x i s Z o r b a s " 4 1 ( 1 9 5 2 ) . W i e bereits gesagt, die K r i t i k des jungen d ' A n n u n z i o an der italienischen Gesellschaft seiner Z e i t g r ü n d e t e sich u. a. auf die Z e r s t ö r u n g ihres p h y s i s c h e n u n d geistigen E r b e s d u r c h kapitalistische G i e r , die einebnenden A u s w i r k u n g e n der D e m o k r a t i e u n d den M a n g e l an nationalistischer politischer F ü h r u n g . M a r i n e t t i e m p ö r t e sich ü b e r die l ä h m e n d e n W i r k u n g e n des „ p a s s e - i s m e " 4 2 ,
der den t e c h n o -
logischen W a n d e l , der eine Gesellschaft v o n futuristischen
Ubermenschen
gebären k ö n n t e , i m Z a u m e hielt. K a z a n t z a k i s hielt d e r m o d e r n e n Gesellschaft entgegen,
d a ß das gegenwärtige
L e b e n z u abstrakt sei u n d i m m e r
mehr
intellektualisiert w e r d e , u n d daß es seine V e r b i n d u n g z u r E r d e u n d z u den N a t u r i n s t i n k t e n verliere. D e r gebildete m o d e r n e M e n s c h , ein leidenschaftsloser B u d d h a , „ s i t z t in äußerster E i n s a m k e i t u n d zerlegt die M u s i k in s t u m m e ,
38 39
40 41
42
Ibid. In seinem polemischen Werk „Contro i professori" bestreitet Marinetti mit großem Nachdruck, ein Anhänger von Nietzsches Übermenschen zu sein. Sein Versuch, zu beweisen, daß sein futuristischer Mensch in radikalem Gegensatz zu Nietzsches Ideal steht, fußt jedoch auf zwei nachweislich falschen Behauptungen: einmal, daß der Übermensch des späten Nietzsche im wesentlichen das große Interesse des jungen Philologen Nietzsche an den alten Griechen ausdrücke, und daß Nietzsche, im Gegensatz zu Marinetti, eine Rückkehr zum Heidentum und zur Mythologie des griechisch-römischen Altertums ersehnt habe. Dabei ist Marinettis Ideal in diesem polemischen Werk genauso offensichtlich von Nietzsches Gedankengut beeinflußt worden wie die Mafarka-Gestalt. Der respektvolle Hinweis auf den „großen deutschen Philosophen" in „Contro" verleitet zu dem Schluß, daß Marinetti in gewisser Hinsicht um Nietzsches wegweisenden Einfluß auf sein Denken wußte. Andrerseits aber dürfte Marinetti die Tatsache, daß der junge Nietzsche von den alten Griechen besessen war, dazu benutzt haben, ihn als einen verderbten „passatista" darzustellen. Aus diese Weise konnte Marinetti seine Behauptung, daß das futuristische Ideal und die futuristische Einstellung neuartig seien, verteidigen und gleichzeitig sein Vorurteil gegen die Akademiker wegen ihrer „professorenartigen Leidenschaft für die Vergangenheit" festigen. Vgl. „Contro i Professori", in: Teoria e Invenzione Futurista (Mondadori: Milano, 1968), S. 262-266. Report to Greco (Bantam: New York, 1966), 430. Zorba the Greek (Simon & Schuster: New York, 1952). Obwohl die folgenden Zitate auf deutsch gegeben werden, verweisen die Seitenzahlen auf diese englische Ubersetzung der griechischen Originalausgabe. Marinetti: Selected Writings, 55.
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mathematische Gleichungen". 43 Der Roman stellt diese Misere des modernen Menschen aus der Perspektive des Kretaner Schriftstellers dar, den Zorba „Boss" nennt. Er ist in seine Heimat zurückgekehrt, nachdem er beschlossen hatte, zu versuchen, seinen Lebensstil zu verändern und den direkten Kontakt mit wirklichen, lebenden Menschen zu suchen. Seine künstlerisch-intellektuelle Einstellung zum Leben steht in einem starken Spannungsverhältnis zu der Zorbas, eines feurigen mazedonischen Arbeiters, den er eingestellt hat, um ihm beim Betrieb des von ihm gepachteten Braunkohlenbergwerks in einem primitiven Dorf auf Kreta behilflich zu sein. Boss und Zorba sind Antithesen. Im größten Teil des Werkes ist Boss ein Asket des Geistes, bestimmt vom Intellekt, dem ein starker élan vital fehlt. Er ist unfähig, auf Impulse des Instinkts zu reagieren, er tendiert zur Einsamkeit, überintellektualisiert alltägliche Erlebnisse und hat eine intellektuell-ästhetische Einstellung zu den Problemen des Lebens. Wie Zorba sagt, Boss fehlt die „Narrheit". 44 Zorba hingegen ist die Personifizierung der vielen übermenschlichen Eigenschaften. Er hat „die Zeit in sich selbst .überwunden' " 4 S , ist also jenseits von Nationalismus. 46 Im allgemeinen, steht er „so weit über den zeitgenössischen Ereignissen", daß sie für ihn nur „veralteter Quatsch" sind. 47 Er schätzt sehr das, was Nietzsche „die nächsten Dinge" 48 des täglichen Lebens nannte, sei es nun das Aroma einer frischen Zitrone49, der Anblick spielerischer Delphine50, oder der „wunderbare grüne Stein", den er entdeckt. 51 Wie das Löwenkind in „Also sprach Zarathustra", so ist Zorba in seiner Einstellung zur Welt „unverfälscht" und „ursprünglich". 52 Er betrachtet die Welt immer so, als sähe er sie zum erstenmal. Er ist ein Kind, das ständig wiedergeboren wird, dessen ganzer Körper trainiert ist und dessen Sinne wach sind. Er kommt von der Erde, ein Exemplar der Nietzscheschen „großen Gesundheit". 53 So kann er das Leben im Diesseits kennerisch und trotzend genießen, das Leben mit seinen unabwendbaren Tragödien des Leidens (z. B. der alten, einsamen Madame Hortense), der „Ungerechtigkeit" 54 (z. B. die Enthauptung der jungen, attraktiven Witwe Sourmelina), und des Todes (z. B. von
43
« 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
Zorba the Greek, 134. Ibid., 301. F W 380. Zorba the Greek, 2 2 6 - 2 2 7 . Ibid., 17. M A II, W S 16 und M 44. Zorba the Greek, 17. Ibid. Ibid., 305. Ibid., 51. F W 283. Zorba the Greek, 247.
Verwandlungen von Nietzsches Ubermenschen
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Zorbas dreijährigem Sohn). Er ist intensiv präsent in dem, was er tut und kann sich der guten Ausführung einer Aufgabe voll widmen, sei es Arbeit, Schlaf, Tanz oder ein Kuß. Er ist ein Amoralist, der seine Freiheit sehr schätzt, aber anerkennt, daß manche Menschen tröstende Illusionen brauchen. Er ist leidenschaftlich, wird aber nicht von seinen Leidenschaften beherrscht und glaubt an eine Variante von Nietzsches „Lebe gefährlich!" 55 : „Das Leben ist schwierig. Der Tod nicht. Leben — weißt du, was das bedeutet? Es bedeutet, den Gürtel zu lockern und sich nach Schwierigkeiten umzusehen." 56 Er meint, daß es der Zweck von Mensch und Materie sei, „Freude zu schaffen". 5 7 Zorba ist ein „Genie des Herzens", über das Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse" 5 8 so bewegend geschrieben hat. Das Leben zusammen mit ihm gibt Boss schließlich Energie, bricht ihn auf, taut ihn auf, erneuert ihn sich selbst gegenüber und enthüllt viel Gold, das bisher unter Eis, Schlamm und Sand versteckt war. Schließlich hat Zorba den Geist der Schwere überwunden und kann nun mit Leichtigkeit zwischen den Perspektiven tanzen; er nimmt schwerwiegende Dinge leicht und scheinbar unwichtige Dinge todernst, seien es nun Sinneseindrücke, Beziehungen, Riten oder seine Arbeit. Also scheint Zorba Kazantzakis' Idealbild des Edlen zu sein. Aber sein Ideal ist eigentlich eine Art Synthese zwischen dem apollinischen Boss und dem dionysischen Zorba, das im Roman selbst durch Boss' guten Freund, den kretanischen Aristokraten Stavridhakis, kurz dargestellt wird. Stavridhakis war in den Kaukasus gegangen, um bei der Rettung von Tausenden von griechischen Landsleuten, die von den Russen und Kurden bedroht wurden, zu helfen. Boss' Bemerkungen über seinen Freund und seine Korrespondenz mit ihm zeigen einen engagierten Intellektuellen, durchaus fähig, umsichtig zu handeln, als die Verkörperung eines ausgewogenen Verhältnisses von Leidenschaft, Intelligenz und Disziplin, jener Kombination von Eigenschaften, die zu verkörpern Boss sich so sehnlich wünscht. Stavridhakis ist die Verkörperung des Themas seines Lieblingsbildes, nämlich Rembrandts „Krieger", 5 9 das ihn zu mutigen Handlungen und Taten veranlaßt (vgl. Claudio Cantelmo). Er hat die Charakterzüge, die Boss am tiefsten berühren: „Einigkeit, ein festes Ziel und einen konstanten Wunsch." 6 0 Die Verschmelzung des dionysischen Willens und der Selbstdisziplin, repräsentiert im feurigen bäuerlichen Tänzer Sifakas, war für Kazantzakis zwar notwendig, aber nicht ausreichend. Hinzukommen müssen noch ein erhöhtes intellektuelles Bewußtsein der Absurdi55
56 57 58
59 60
FW 283. Zorba the Greek, Ibid., 272. JGB 295. Zorba the Greek, Ibid., 199.
101.
44.
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tat und der tragischen Schönheit des Lebens und ein leidenschaftlicher sozialistischer Wunsch, unnötiges menschliches Leiden zu erleichtern. Boss und Zorba, im Hegeischen Sinne, sind beide in Stavridhakis aufgehoben. Boss behauptet, es gäbe drei Menschenarten: die, deren Sorge sich nur auf das eigene Leben beschränkt, sei es medioker oder außergewöhnlich; die, die es sich zum Ziel setzen, „nicht ihr eigenes Leben zu leben, sondern sich um das Leben aller Menschen zu kümmern — sie meinen, alle Menschen seien eine Einheit und bemühen sich, die Menschen aufzuklären, sie so sehr zu lieben, wie sie können und ihnen Gutes zu tun; und schließlich gibt es diejenigen, die versuchen, das Leben des ganzen Universums zu leben — alles, Mensch, Tier, Baum, Stern, wir sind alle eins, wir sind alle eine Materie, die in denselben schweren Kampf verwickelt ist . . . nämlich die Materie in Geist zu verwandeln." 6 1 Kazantzakis' höherer Mensch bemüht sich, auf drei Ebenen zu leben: gleichzeitig Egoist, tragischer Humanist und evolutionärer Mystiker. Es ist erstaunlich, daß sich drei so verschiedene Versionen des „höheren Menschentypus" von dem Nietzscheschen Prototyp herleiten. D'Annunzio gestaltet den Ubermenschen in einen Wollüstigen um. Die Ideen der Selbstüberwindung und des „gefährlich Lebens" verwandeln sich bei ihm in eine kontinuierliche Entwicklung des inneren Lebens der Einbildung und des Gefühls, eine Entwicklung, die dadurch erreicht wird, daß man sich der verführerischen Atmosphäre geistigen Verfalls und des Todes hingibt. Claudio ist durch seine oben erläuterte dreifache Aufgabe und seinen Dämon stark von d'Annunzios Nietzsche-Verständnis geprägt, aber die Faszination, die Tod und Erlösung für ihn haben, erinnert an den starken Wagnerschen Einfluß. Marinetti reduziert Nietzsches Ideal auf einen lärmenden, herrschsüchtigen Menschen ohne Innerlichkeit, für den Gewalttätigkeit, Eigenwilligkeit und Selbstkontrolle charakteristisch sind. Den Weg der Selbstüberwindung beschreibt Marinetti mit Vorliebe als ein gefahrvolles Sich-Einlassen auf neue technische Gegenstände, z. B . Flugzeuge, Autos und Waffen. Diese Gegenstände und der Umgang mit ihnen können nach Marinettis NietzscheVerständnis die Menschheit dazu anspornen, die geistig und physisch schwächeren Kräfte der Anziehung und Trägheit zu überwinden. In den Worten Giovanni Listas: „Par un acte de volonté Marinetti fait de la machine le piédestal du surhomme f u t u r . " 6 2 Kazantzakis hat dagegen Nietzsches Ideal nicht durch eine Reduktion verändert, sondern eher durch die Hinzufügung einer weiteren Dimension. Zur existenziellen Verherrlichung des Alltagslebens im Diesseits hat Kazantzakis, wie Camus in „ L a Peste", die Dimension eines selbstkontrollierten, mutigen 61 62
Ibid., 278. Giovanni Lista, Hrsg., Marinetti
et le Futurisme
(L'Age d'Homme: Lausanne, 1977), 16.
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und humanistischen politischen Aktivismus hinzugefügt, der sich im nie endenden Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit für die Mitmenschen manifestiert. Dies reflektiert den tiefen dauernden Einfluß Lenins, der Kazantzakis in den zwanziger Jahren prägte.
V. Erläuterung der Unterschiede Ein nationalistischer Lüstling, der mit Verfall und Tod umgeht; ein technologischer Futurist; ein politisch engagierter, existentieller Zelebrant des Lebens im Diesseits — offenbar eine „jahrmarktbunte" Sammlung von Verwandlungen. Im Hinblick darauf möchte ich eine Erklärung für die Unterschiede in der Aufnahme von Nietzsches Übermenschen unterbreiten. Zunächst hat die Kompliziertheit und die polemische und intensiv poetische Art von Nietzsches Beschreibungen seines Ideals eine Vielzahl von Modellen erzeugt, besonders im Lichte der verschiedenen kulturellen Interessen unserer Autoren. Zweitens ist Nietzsches Ideal in bemerkenswertem Grade ein adverbiales Ideal, daß, grob gesagt, das „Wie" des Lebens betrifft. Es beschreibt, wie man leben soll: gefährlich, mutig, intensiv, authentisch, freudig; es beschreibt nicht spezifisch, was man tun soll. Daher kann man sich eine Reihe von Idealen vorstellen, die gleichgeartet sind in ihrem adverbialen Charakter, wie auch immer andersgeartet die Umstände, der Lebensstil und ihre charakteristischen Handlungen sein mögen, und die daher scheinbar als Nietzschesche Ideale qualifiziert sind. Drittens, und dies ist vielleicht am wichtigsten, eine Verwirrung darüber, was Nietzsche mit seinem Willen zur Macht meinte, hat die Autoren dazu verleitet, ihre von Nietzsche inspirierten Helden äußerst unterschiedliche Konzepte von menschlicher Stärke verkörpern zu lassen, was von unseren drei Autoren wie auch von vielen anderen illustriert wird. Nietzsches Ausführungen zum Willen zur Macht, die veröffentlicht wurden, zeigen, daß seine allgemeinste Auffassung ein Modell ist, das ich einmal das „Energie-Anhäufungs-und-Absonderungsmodell" nennen möchte, das im zweiten Teil „Zur Genealogie der Moral" am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Kurz, der Ausdruck „Wille zur Macht" ist eine Abkürzung für einen komplizierten organischen Prozeß, in dem u. a. verfügbare Lebensenergie langsam gespeichert wird, und der schließlich „Spannungen" 6 3 und „Druck" 6 4 hervorruft. Daher besteht die Notwendigkeit einer periodischen „Absonderung" oder „Entlüftung", 6 5 sei sie nun physisch oder psychisch, innerlich oder äußerlich. Aber, je nachdem, wie stark diese Kraft in 63 64 65
GM I 11. GM II 16. JGB 13 und 208.
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einem bestimmten Menschen ist, verändert sich ihre charakteristische Ausdrucksweise-. diejenigen, in denen die Kraft am schwächsten ist, das heißt, die Energiearmen, versuchen zu dominieren und zu herrschen (z. B. durch eigennützige Schöpfung und Verbreitung ihrer vermeintlich allgemeingültigen Wertsysteme); diejenigen, in denen die Kraft etwas stärker ist, versuchen eine nicht dominierende „Formgebung" 66 (z. B. Versuche, dem eigenen Charakter einen gewissen Stil zu verleihen); und diejenigen, in denen die Kraft am stärksten ist, das heißt, die Energiereichen, zeigen spontane, widerstandlose Absonderungen von überflüssiger Energie in Form von „schenkenden"67 Verhaltensweisen (z. B. Großzügigkeit). Diese Analyse von Nietzsches Willen zur Macht steht in direktem Bezug zur bekannten Kontroverse zwischen der sogenannten „sanften" und der sogenannten „harten" Nietzscheschen Interpretationsschule.68 Sie beweist, glaube ich, daß jene Kommentatoren irren, die behaupten, daß der Wille zur Macht letzten Endes bloß ein Antrieb zur Beherrschung und zur Herrschaft ist. Ich ende mit zwei Fragen. Zunächst: müssen wir im Lichte der oben beschriebenen Divergenz schließen, daß Nietzsches Ideal des Ubermenschen so unbestimmt ist, daß es eine offenstehende Einladung zur Verwirrung und zum Extremismus war (und vielleicht noch ist), oder waren viele Nietzsche lesende Romanschriftsteller so sorglos und skrupellos, daß sie die Verantwortung für diese Situation übernehmen müssen? Zweitens: wenn, wie ich meine, die letzte Behauptung plausibler ist, kann Nietzsches Ideal des Ubermenschen nach weiterer Klärung in der zeitgenössischen Literatur oder sogar im zeitgenössischen Leben eine nützliche Rolle spielen oder ist es in der gegenwärtigen, technologischen Gesellschaft bloß zu einem bezaubernden Anachronismus geworden?69
66 67 68
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GM II 12 und 18. Za I, Von der schenkenden Tugend. Siehe, z. B., Conor Cruise O'Brian, „The Gentle Nietzscheans," New York Review of Books, 5 November 1970, 1 2 - 1 6 . Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Ulrike E. Lieder, Stanford University, besorgt. Für ihre Hilfe bei der Ubersetzung von später hinzugefügten Passagen bin ich Ernst Behler und Jörg Salaquarda zu Dank verpflichtet.
Diskussion Müller-Lauter: Sie haben uns ein sehr anregendes Referat dargeboten, Herr McGinn. Es ist sehr interessant zu hören, wie vielfältig sich das Verständnis des Übermenschen ausprägen kann. Die fast bis zur Unbestimmtheit gehende Vielfalt begrifflicher Erörterungen des Ubermenschen findet offenbar im Reichtum literarischer Gestaltungen ihre Entsprechung. Die Frage nach dem philosophischen Gehalt des Begriffs bekommt damit noch einen stärkeren Akzent. Mit Recht schließt Ihr Vortrag mit der Forderung nach einer näheren Bestimmung des Ideals des Ubermenschen. Und dazu benötigen wir eine — sagen wir — Phänomenologie des Willens zur Macht . . . McGinn:
Oder eine Typologie!
Müller-Lauter: Ja, so könnte man auch sagen: eine Typologie des Ubermenschen auf der Grundlage einer Phänomenologie des Willens zur Macht. Zwei Momente traten in den Ausführungen bereits deutlich hervor: die Anhäufung oder Ansammlung von Kraft und deren Auslassung — das Verströmen von Kraft. Die philosophische Relevanz dieses letzten Moments hat Herr Abel in seinem Referat ja herausgestellt. Auch das Auslassen der Kraft ist nicht auf bloß eine Bedeutung festgelegt; es kann sich z.B. als Schenken oder auch als Uberwältigen zeigen. Insofern ist auch in den einzelnen Momenten wieder Vielfältiges gegeben. — Nach dieser kommentierenden Bemerkung habe ich nun noch eine Frage zu Marinetti, bei dem ja das Technische, die Faszination durch die Technik, eine ganz entscheidende Rolle spielt. Darauf hat Giovanni Lista hingewiesen, und auch die im Vortrag erwähnten hohen Erwartungen an den bemannten Flug, für den der oiseau mécanique symbolisch ist, lassen dies erkennen. Da Marinetti zugleich aber alle Menschen in die Möglichkeit einbezieht, übermenschlich zu werden, ist die Frage: Bleibt er bei diesem allgemeinen Anspruch, alle Menschen dem hohen Ziel entgegenzuführen, oder verfährt er so wie Nietzsche in seinen späten Nachlaßnotizen und weist den mediokren und niederen Menschen einen Platz im technischen Unterbau zu? Macht er sie letztlich alle zu Beherrschern der technischen Maschinerie oder versetzt er sie auf unterschiedliche Rangpositionen in einer technisch-funktionalen Hierarchie, über die dann doch nur wenige, die eigentlichen Ubermenschen, herrschen?
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McGinn: It is strange but Marinetti, later associated with Mussolini and the fascists, seems, at the time of Mafarka at least, to have held the rather democratic-sounding belief that all individuals have the potential to achieve creative self-transformation. This I infer from the fact that Mafarka speaks of ,,1'enfantement du dieu que chacun porte dans ses entrailles." (my emphasis) More specifically, Marinetti, while deeply indebted to Nietzsche in many ways, held the distincly un-Nietzschean belief that the great mass of individuals living in the great twentieth-century industrializing cities could, through interaction with modern dynamic technology, achieve a kind of Nietzschean self-overcoming. Salaquarda: Sie meinen, die Technik vermasst nicht, sondern sie hilft, über die Masse hinaus zu kommen. Zumindest könnte die Technik nach Marinetti diese Funktion haben. McGinn: Yes. Marinetti's view is that modern man's dynamic technology is the best available means for spurring the individual to overcome the temptation to „Trägheit", a temptation made stronger by the „passéiste" cities of traditional European culture. Blondel: Thank you for your exposé. Besides, I think the most interesting interpretations (and perhaps the most adequate) are the literary ones. But: One might say that at least the first interpretations — the interpretations of d'Annunzio and Marinetti — are possible on the ground of a dualistic interpretation of Nietzsche. That is to say that they seem to separate man himself in two parts: in body and spirit! And they seem to have interpreted the will to power as the attempt at a kind of „Vergrößerung" of the body to the detriment of the spirit. It seems to me that the will to power is organically and corporally, bodily interpreted, in contrast with Nietzsche's monistic view, I should say, and in contrast for instance with the way in which Thomas Mann in Tod in Venedig interprets Nietzsche — with regard to the relationship between body and mind, body and spirit. Reschke: Ich habe nur eine kurze Frage zu Kazantzakis. Er hat Buddha, Christus und Lenin als die drei ihn am meisten faszinierenden Gestalten bezeichnet und hat, soweit ich weiß, Christus selbst zur literarischen Figur gemacht.1 Sie haben die Christus-Gestalt bei Kazantzakis nicht erwähnt. Würde aber nicht möglicherweise gerade an der Darstellung dieser Figur ein Zusammenhang mit der Konzeption des Ubermenschen und seiner Rezeption 1
N. Kazantzakis, Die letzte Versuchung, Berlin 1975.
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in der Dichtung erkennbar werden? Könnte nicht, überspitzt formuliert, Christus selbst als der Ubermensch auftreten? Fischer: I was impressed by the way you carried through the idea of the „Ubermensch" of the three authors, but particularly impressed by your questions at the end. I should like to consider that we undercut Nietzsche if we wish to determine what the „Ubermensch" is. Because I think it is part of the determination of the „Ubermensch" not to be determined — that we shall have to experiment, that we shall have to create. Nietzsche puts emphasis on the creativity of man, and therefore we should accentuate that the conception of the „Ubermensch" is necessarily not determined. We cannot ask whether an author has confused the issue, or has presented us with a dangerous alternative. The dangerous alternative may be the important one; that is quite possible, and if I had to decide between a „hard" and a „soft Nietzsche" in may reading, I would be a hard Nietzschean. However, I don't think, that decision needs to be made. There is not only a „Cäsar mit der Seele Christi", but also a „Christus mit dem Körper Casars". When this is realized, the disturbing dualism will disappear. McGinn: For Professor Blondel: I agree that the Übermenschen of both d'Annunzio and Marinetti presuppose a stark dualism. This is reflected in the structure of my paper. The Übermensch of Kazantzakis is a kind of synthesis of d'Annunzio's inner-oriented, geistige conception and Marinetti's extroverted, corporeal conception. Nietzsche's own conception embraced all aspects of human being: intellectual, spiritual, emotional, physical, and sensual. In this respect both d'Annunzio and Marinetti distorted and reduced (or grossly misunderstood) Nietzsche's own conception, one which became more complex over time. Although Kazantzakis grafted a socialist component onto his ideal, one in which selected features of both Boss and Zorba are aufgehoben, it is far closer to Nietzsche's comprehensive, integrative — if you will: monistic — ideal of the Übermensch than are the heroes of Marinetti and d'Annunzio. Blondel: It's on this dualistic conception of Nietzsche that most fascist interpretations of Nietzsche are based and it seems to me that the insistence on the body is a kind of way to interpret this dualistic view of Nietzsche. It's just an inversion of the idealistic insistence on the spirit: both are equally metaphysical. McGinn: To Professor Reschke: I cannot agree that the influence of Jesus is an important one in Kazantzakis' image of the Übermensch. Although Jesus,
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like Buddha and Lenin, was an inspiration to Kazantzakis in his personal spiritual struggle, Jesus is conceived as an ascetic who accepts suffering to atone for the sins of others and to secure for them eternal life. Such a posture is fundamentally alien to both the hero of Zorba the Greek and to the this-worldly concerns and commitment to violent struggle of Kazantzakis' invisible Übermensch in that work: Stavridhakis. Gründer: Schon während des Referates von Herrn McGinn und auch jetzt in der Diskussion ist eine eigentümliche Heiterkeit über uns gekommen. Das liegt nicht nur daran, daß sich die Tagung dem Ende nähert, sondern auch am Thema. Es kann kein Zweifel sein, das Thema, der Ubermensch und seine literarische Rezeption, ist ernst. Und trotzdem stellt sich bei uns dieser Ernst nicht ein. Das hat m.E. seinen Grund darin, daß alle Versuche, aus dem fin-desiècle herauszukommen, dessen haut-goût beibehalten. Sie werden die Stimmung der Zeit, der sie zu entkommen suchen, nicht los. Und wir sind heute weit davon entfernt, das historisieren zu können, und deshalb finden wir es komisch. Taureck: You spoke from Alexis Zorbas as a „Löwenkind" with the reference to Also sprach Zarathustra. I don't know this „Löwenkind" in Nietzsche's work. I only know the three periods of mankind which are symbolically called: „Kamel", „Löwe", „Kind". What do you mean with this „Löwenkind"? Grau: Ich sehe mich durch ihre Ausführungen, Herr McGinn, sehr bestätigt. Ihre Beispiele und ihre Schlußüberlegungen haben deutlich gemacht, welche Gefahren im Begriff des Ubermenschen, nicht zuletzt durch seine Unbestimmtheit, enthalten sind. Ihr Vortrag legt mir daher eine Empfehlung nahe, mit der ich auch schon die Diskussion über meinen Vortrag hätte schließen können: Wir sollten erst einmal Mensch werden, ehe wir an den Übermenschen denken. Den Ubermenschen können wir uns dann schenken. Montinari: Ich möchte mich auch zu Ihrer letzten Frage äußern, Herr McGinn. Ich finde, man kann Nietzsches Konzept des Ubermenschen nicht vor die Alternative „nützliche Rolle" oder „bezaubernder Anachronismus" stellen. Ja, ich muß gestehen, daß mich jeder Versuch einer Aktualisierung Nietzsches in dieser Hinsicht sehr skeptisch macht. Nietzsche selbst gibt auch keinen Anlaß, den Ubermenschen in irgendeinem Sinn aktuell oder konkret zu machen. Was wir bei d'Annunzio, Marinetti und Kazantzakis vorfinden, das ist eine Weiterentwicklung, ein Weiterdenken und Weiterphantasieren auf der Basis der Wirkung Nietzsches, die aber Nietzsches Philosophie selbst schon
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zurückgelassen hat. Kazantzakis scheint mir persönlich dabei der akzeptabelste Entwurf gelungen. Aber auch hier muß man die Trennungslinie gegenüber Nietzsche sehr deutlich ziehen. Man darf die literarische Wirkung Nietzsches nicht mit Nietzsche selbst verwechseln. Auf Nietzsche selbst bezogen kann man dann fragen, was er mit dem Ubermenschen meint. Und hier ist für mich der entscheidende Punkt, daß es Nietzsche um die Bejahung des Ubermenschen geht. Er will zu ihm ebenso „ja" sagen können wie zur ewigen Wiederkunft des Gleichen. Dieser Zusammenhang zwischen den beiden Grenzvorstellungen des Ubermenschen und der ewigen Wiederkunft ist von außerordentlicher Bedeutung für das Verständnis Nietzsches. Aus dem Gewicht, das die Stellung zum Ubermenschen für den Begriff des Ubermenschen selbst hat, kann man auch ersehen, daß der Ubermensch gar kein Projekt zu sein braucht, welches es zu realisieren gilt. McGinn: I find Professor Gründer's comment very interesting. I would like to think that the laughter in response to the descriptions of d'Annunzio's and Marinetti's so-called Übermenschen reflects our recognition of the fact that they are nothing less than grotesque caricatures of Nietzsche's richer notion of a „höherer Menschentypus." About the lion and the child, Professor Taureck: My feeling is that for Nietzsche the lion symbolizes the „freier Geist", and that Nietzsche uses the expression „Löwenkind" to suggest that the „free spirit" is aufgehoben in the ,,child"-Übermensch. As for the will-to-power's bearing on this, it can develop to a point where it is expressed in ,,lion"-like ways. On rare occasions it can grow even stronger and come to be expressed in ,,child"-like ways, i.e., in Übermenschliche Weisen. If a person achieves or becomes something akin to a higher form of human being, that person does not thereby lose the ,,lion"-like ability to be „hard." Rather that person will gain the ,,child"-like ability to dance between perspectives and yet retain the ability to impose upon him(her)self — or, if necessary, upon the environment — some „leonine" form of discipline. As I suggested in my paper, the will to power can be expressed in a variety of ways, depending on tits level of development in a particular person; but the „child"-Übermensch possesses the richest repertoire of options for expressing this organismic drive, including those characteristic of the „lion." Thus in this sense too the Übermensch is a „Löwenkind." To Professor Grau: I think we should not make too strong a distinction between Mensch and Übermensch in Nietzsche. After all, Nietzsche himself explicitly criticized those who interpreted his ideal as a superhuman kind of being. Übermenschlichkeit for Nietzsche is a distinguished form of Menschlichkeit. Where you say that perhaps Nietzsche meant that one must first become a Mensch before attempting to become a Übermensch, I would prefer
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to say that for Nietzsche the road from Mensch to Übermensch („child"), via the intermediate stages of „camel" and „lion", involved undergoing a sequence of metamorphoses, each of which issues in a new level of development of the human spirit. Finally, my response to Professor Montinari: I believe that one of Nietzsche's central concerns was the lack of Vorbilder of human excellence in modern society, particularly with the demise of prescriptive myth (e.g., as embodied in classical Attic tragedy and in religion) and with the trivialization and vocationalization of modern education. Nietzsche's ideal of the Übermensch was intended (at least in part) to rectify this situation, as was, by the way, his middle-period ideal of the „freier Geist." (On the back of the original edition of Die Fröhliche Wissenschaft Nietzsche had printed: „This book marks the conclusion of a series of works by Friedrich Nietzsche whose common goal is to erect a new image and ideal of the free spirit." [emphasis in original]) In fact Nietzsche's concern with ideals of human excellence is evident even as early as Die Geburt der Tragödie where there appears the embryonic ideal of „der griechische Kulturmensch." There is, I submit, a continuous line of development in Nietzsche's ideal of human excellence: from „der griechische Kulturmensch" and the individual „longing to become reborn as saint and genius" (UB III, SE 3) of the early period, to the more complex middle-period ideal of the „freier Geist", to the even more complex late-period ideal of the Übermensch. Nietzsche projected this latter ideal with the hope that, inter alia, it would help human beings avoid complete socialization into the timely, mediocre, materialistic, nationalistic society of his day. I would therefore respectfully disagree with Professor Montinari to the extent that he is suggesting that Nietzsche's mature ideal has no specifiable content. I believe that it does and that it, along with its early- and middleperiod predecessors, was intended by Nietzsche to serve what he regarded as a vital socio-cultural function: providing a model of human excellence which could spur some human beings to struggle continuously against bourgeois society and to devote themselves to never-ending growth, thus contributing to the „Erhöhung des Typus ,Mensch'." ( J G B 257)
PETER K Ö S T E R
NIETZSCHE-KRITIK U N D NIETZSCHE-REZEPTION IN D E R T H E O L O G I E DES 20. J A H R H U N D E R T S
„Moderne Theologie ist ein trauriges Zerstörungswerk und sonst nichts; ob traurig oder lustig, nur als Zerstörungswerk ist die moderne Theologie überhaupt etwas." Franz Overbeck „Nietzsche verführt [. . .] seine Gegner dazu, an ihm ebenso vorbeizureden wie er es an ihnen tut." Emanuel Hirsch „Kennzeichen einer guten Theologie ist, daß sie eine gute Philosophie bis aufs Blut reizt." Dietrich Bonhoeffer „Nietzsche hat viel zu tief mit dem innersten Gehalt des religiösen Problems selber gerungen, um nicht durch seine reine und scharfe Antithese den Rück- und Umschlag in das Religiöse selbst am stärksten zu bewirken." Ernst Troeltsch
Der Versuch, den Spuren theologischer Nietzsche-Kritik und NietzscheRezeption in unserem Jahrhundert nachzugehen, stößt von vornherein auf Hemmnisse von derart grundsätzlicher Bedeutung, daß sie das Unternehmen gleich zu Beginn ins Stocken bringen könnten. Theologische Kritik an Werk und Person des Philosophen Friedrich Nietzsche ist ohne Schwierigkeiten vorstellbar, theologische Nietzsche-Rezeption im Grunde um so weniger. Bei einiger Besinnung auf das Problem müßte man die Frage stellen, ob nicht schon der Begriff einer „theologischen Nietzsche-Rezeption" einen Widerspruch in sich darstelle. Und wollte man diese Frage bejahen, dann läge es nahe, sich auf Nietzsche selbst zu berufen. In seinen Augen stellt der „Theologe" einen Typus vor, der unvermeidlich in einem schiefen, verfälschten, ja unredlichen Verhältnis zu seiner Zeit und zum Christentum selbst steht. „Wie ein Theologe heute ein gutes Gewissen bei seiner Christlichkeit haben kann, ist mir unverständlich und unzugänglich; aber es giebt genugsam gutes Gewissen bei ihm — es scheint mit dem „guten Gewissen" nicht viel auf sich
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zu haben." 1 Das im Umtrieb der Theologie zu beobachtende, zuweilen allzu „gute Gewissen" liefert für Nietzsche keine Legitimation und schon gar keinen Gegenbeweis zu seiner Kritik, daß hier gewissermaßen ein Metier daraus gemacht wurde, Unhaltbares zu halten, das „Unmögliche" zu behaupten und eine (Schein-)Lebendigkeit des unaufhaltsam absterbenden Christentums vorzutäuschen. Wie ein „Abzeichen" hat Nietzsche dem Theologen folglich das „ Unvermögen zur Philologie"angeheftet2; - Philologie verstanden als die Fähigkeit, „Thatsachen ablesen [zu] können, ohne sie durch Interpretation zu fälschen, ohne im Verlangen nach Verständniss die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren. [. . .] Die Art, wie ein Theolog, gleichgültig ob in Berlin oder in Rom, ein ,Schriftwort' auslegt oder ein Erlebniss, einen Sieg des vaterländischen Heers zum Beispiel unter der höheren Beleuchtung der Psalmen Davids, ist immer dergestalt kühn, dass ein Philolog dabei an allen Wänden emporläuft." 3 Sollte nicht diese ironisch beleuchtete „Kühnheit" alle Maße sprengen, wenn es um das Verständnis eines Philosophen geht, der das Christentum und seine Theologie definitiv für moribund erklärt? Mit der Konsequenz freilich, daß solche Auslegung bestenfalls als Kuriosität zu betrachten wäre und daß der Versuch, das Ausgelegte zu „rezipieren", doch wohl an innerer Unmöglichkeit scheitern müßte. Gibt es also überhaupt einen ernstlichen und ernstlich zu untersuchenden Umgang christlicher Theologie mit dem Denken Nietzsches? Sollen „Kühnheiten" und Theologenkunststücke von der bezeichneten Art vermieden werden, dann nur in der Weise, daß Nietzsches Angriff die Theologie dazu nötigt, in Dialog und Rezeption einen Prozeß radikal vertiefter Selbstbesinnung in Gang zu setzen. Die Schlauheit, mit der „die Fliege, die nicht geklappt sein will", sich „am sichersten auf die Klappe selbst" setzt (Lichtenberg), wäre hier am Ende kein guter Ratgeber. Sachlich mag die Konfrontation mit Nietzsches Denken auf Entscheidungen hinauslaufen, die allein in den Bahnen des akademischen Disputs weder getroffen noch auch nur legitimiert werden können. I. Erste
Orientierung
Angesichts so prinzipiell sich stellender Fragen kann der hier vorgelegte Versuch einer ersten Orientierung — es existieren nach meiner Kenntnis kaum Untersuchungen auf diesem Gebiet — nur seine Ungesichertheit und Begrenztheit betonen. Was in den Formen der Interpretation, These und Kritik vorgebracht wird, wäre in seiner Absicht dann verstanden, wenn es als 1 2 3
Nachlaß Juni-Juli 1885, 36 [54]; KSA 11, 572. A C 52; KSA 6, 233. A.a.O.
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notwendig bescheidene Anfrage und Gesprächsanregung aufgenommen würde. Auswahl und Einschränkungen mehrfacher Art waren dabei unumgänglich4. Als Prinzip galt darin eher die Suche nach dem Exemplarischen als das Ziel historischer Vollständigkeit. Der vorliegende Versuch setzt außerdem mehr darauf, die rezeptionstheoretischen Probleme an konkreten Beispielen und damit freilich in größerer Kompliziertheit sich zeigen zu lassen, als eine umfängliche, sicher mögliche und notwendige Theorie theologischer Nietzsche-Rezeption zu entwickeln. Die Nietzsche-Rezeption könnte ja auch verstanden werden als Bewährungsprobe für das im Bereich der Theologie und Philosophie vielfach abgehandelte Grundsatzproblem des Verhältnisses beider. Freilich fragt es sich, in welchem Maße ein auch durch Philosophen nicht problemlos zu rezipierendes Denken wie dasjenige Nietzsches (die philosophische Nietzsche-Rezeption gibt davon ein Bild5) bereits im Verständnis dessen, was da als „Philosophie" bezeichnet ist, mitgedacht sein konnte. Damit soll nur dies gesagt sein, daß es sich auf einem nach meiner Kenntnis bisher unerforschten Gebiet empfiehlt, zunächst einige Phänomene kennenzulernen und gewissermaßen erste Orientierungspflöcke einzuschlagen. 1. Ziele der Spurensuche Es geht um die Suche nach den oft verwehten Spuren von Nietzsches Einfluß auf die christliche Theologie im deutschen Sprachraum. Viele Faktoren tragen dazu bei, diese Suche zu erschweren. Die Art, wie Nietzsche verstanden und zitiert wurde, trägt oft alle Zeichen des Zufälligen. Vieles bleibt Ornament, gelegentliche Reminiszenz, Anrufung einer Autorität womöglich gerade an einer schwachen Stelle, die mit einem „Nietzschewort" verdeckt wird. Nietzsche ist in der Theologie des 20. Jahrhunderts immer auf irgendeine Weise präsent, oft sehr vage und mißverständlich, selten in einläßlicher Kenntnisnahme. Dieser Eindruck kann nicht verwundern, wenn man die 4
U m einiges zu nennen: Behandelt sind nur Publikationen des deutschen Sprachraumes und auch dort nur theologische Publikationen (nicht also philosophische Bücher zu vergleichbaren Themen). Alle theologischen Veröffentlichungen sind gleichsam exemplarisch genommen; es handelt sich nicht um eine Untersuchung der Nietzsche-Rezeption im Gesamtwerk eines Theologen (da öffnet sich ein weites Feld für zukünftige Erforschung). Mit einem Wort: es wird eine Schneise durch die theologische Literatur geschlagen, und vieles mußte dabei unberücksichtigt bleiben. Uber Auswahlprinzipien läßt sich immer streiten, außerdem kann man über das sachliche Gewicht der jeweiligen Beschäftigung eines Theologen mit Nietzsche zu ganz verschiedenen Urteilen kommen. Dies alles ist von vornherein zugestanden.
5
Vgl. dazu Alfredo Guzzoni (Hrsg.): 90 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption. Meisenheim/Glan 1979. — Nietzsches Einfluß auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts wird vom Herausgeber (vgl. Vorwort S. X) eher gering eingeschätzt.
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Konfusionen, Widersprüche und Umschwünge der allgemeinen Wirkungsgeschichte, verschärft durch die nicht zufällige Misere der Textbereitstellung, bedenkt. Heidegger hat im Blick auf diesen Umgang mit Nietzsche vom „Lärm, der um ihn herumsteht" 6 gesprochen, wobei natürlich in solchen Sätzen die Überlegung mit aufgegeben ist, welches Licht der bezeichnete Sachverhalt auf das mit so viel lautem Mißverstehen aufgenommene Werk zurückwirft. Im Blick steht nicht Nietzsche als „Bildungsinhalt" oder als Anlaß und Hintergrund bürgerlicher Ekstasen. Rezeption im strengeren Sinn wäre eine Aufnahme von Nietzsches Denken in den eigenen Horizont in der Form, daß in Bejahung und Verneinung das eigene Denken in verändernde Bewegung geriete. Wiederum müßte die Rückfrage dahin gehen, ob sich nicht im vielfachen theologischen Interesse, das mehr ist als bloße Replik auf heftige Attacken, ein in Nietzsches Werk angelegtes „Sinnpotential" (Jauß) entfalte und folglich die Erforschung der Rezeptionsgeschichte erhellend für Nietzsches Denken selbst zu werden vermöchte. Die These ist alt, daß gerade Nietzsches sich ständig verschärfende Christentumsgegnerschaft auf eine „heimliche" Affinität hindeute, ja daß er durch seine überaus heftige Polemik ein Exempel statuiere, wie „ernst" das Christentum zu nehmen sei. Demnach hätte Nietzsche dem vergehenden Christentum im genauen Gegensinn zu seiner eigenen Prognose geradezu Hilfestellung geleistet. Wie es sich damit auch verhalten mag, auf jeden Fall ergeben sich in diesem Zusammenhang methodologische Probleme, die in dieser Zuspitzung der literaturwissenschaftlichen Erörterung wohl fern liegen. Vereinfacht gesagt, negiert im Verhältnis Nietzsche — Theologie der eine Partner (Nietzsche) den anderen, und man könnte von da aus fragen, ob denn eine Position in irgendeinem vernünftigen Sinn die Verneinung ihrer selbst „rezipieren" kann. Bedeutet Rezeption nicht auch, sich selbst in ein positives Verhältnis zum Rezipierten zu stellen? Kann Theologie hier aufnehmen, ohne sich selbst aufgeben zu müssen: wenn nämlich Rezeption auch ein Sicheinlassen auf die Position des Rezipierten einschließt? Insbesondere die Theologen, das zeigt unser Uberblick, haben viel Mühe darauf verwendet, den Gegensatz nicht als derart ausschließend erscheinen zu lassen, ohne damit — trotz aller Geschäftigkeit — die Frage nach der Möglichkeit von theologischer Nietzsche-Rezeption im strikten Sinn gültig beantworten zu können. Um zu einer solchen Antwort zu kommen, müßte allerdings zuvor Nietzsches Denken in seinem Sinn, in seiner Tiefe und letzten Intention geklärt sein. Das ist so wenig der Fall, daß in jeder theologischen Auseinandersetzung mit Nietzsche jeweils zugleich eine bestimmte Nietzsche-Interpretation konstatiert werden kann. Häufig findet man diese Interpretationen dann als Medium 6
Martin Heidegger-.
Nietzsche. Band 1. Pfullingen 1961. S. 12.
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der Selbstverständigung benutzt. Nietzsche wird zur Maske oder zum Gewährsmann ganz anders begründeter Positionen; und mit der geläufigen Meinung, daß der widersprüchliche Philosoph Nietzsche beinahe beliebig zitierbar sei, wird nicht selten die Möglichkeit verdeckt, daß die Theologie in Nietzsches Denken immerhin einer radikalen Infragestellung ihrer Legitimität und ihrer Möglichkeit gegenüberstehen könnte. — Diese freilich noch sehr allgemein angesprochene Existenzbestreitung gewinnt ihre eigentliche Schärfe nicht allein durch Nietzsches Argumentation, sondern im wesentlichen aus der generell prekären Situation des Christentums, zu der Nietzsche in gewissem Maße beigetragen haben mag, deren Phänomen und Interpret er aber auch ist. Nietzsche selbst hat diesen Vorgang mit der wirkungsvollen Parole vom „ T o d e G o t t e s " zu fassen gesucht. Eine umfassende Suggestion aus gesellschaftlicher Tendenz und Denkgeschichte kommt darin überein, daß es mit dem Christentum zuendegehe. In der geschichtswirksamen Überzeugtheit vom Ende des Christentums ist — jedenfalls in Europa — der verschärfende Kontext gegeben, in dem man eine theologische Nietzsche-Rezeption sehen muß. Ihr „Sitz im Leben" ist eine Krisis des Christlichen, die in ihren Ursachen kaum zureichend erfaßt werden kann. So unzulänglich das hier auch geschehen mag, im Grunde müßte jede Untersuchung der theologischen Nietzsche-Rezeption (ob nun im strikten Sinn oder in der Form eines wie immer gearteten Einflusses) jenen „Sitz im Leben" beständig vor Augen haben. Es ist nicht leicht, dies so zu tun, daß man nicht in ein pseudosoziologisches Gerede gerät. In unserem Zusammenhang konnte in den gelegentlichen Versuchen der orientierenden Schematisierung nur ganz vorsichtig versucht werden, an der Nietzsche-Rezeption einige Grundstellungen und -gesten abzulesen, durch die größere Gruppen von Theologen, aus gutem Grund konfessionell geordnet, charakterisierbar sind. Auch die Frage nach den zähen Klischees des Nietzscheverständnisses, nach den immer weiter überlieferten Nietzschebildern hat letztlich keine Wertung im Sinn, sondern die Hinweisfunktion solcher Klischees auf die kirchliche und gesellschaftliche Eingebundenheit der Theologien. Jene Zähigkeit ist nicht einfach Folge von Trägheit des Denkens, sondern Ausdruck sich durchhaltender Interpretationsinteressen. So spiegelt sich in den Wandlungen des Nietzschebildes auch die innere Situation der Theologie angesichts der Krise des Christlichen ab.
2. Der Beginn bei Franz Overbeck Unübersehbar beginnt die Geschichte der theologischen Nietzsche-Rezeption mit einer „Singularität" (Troeltsch): mit dem Kirchenhistoriker Franz Overbeck. U n d es zeigt sich das merkwürdige Faktum, daß viele der zunächst
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allgemein gestellten Fragen sich sogleich in Nietzsches unmittelbarer U m g e b u n g in der Person eines höchst problematischen Theologen konkretisieren. Daher muß im Vorübergehen auf Person und Position Overbecks wenigstens ein kurzer Blick geworfen werden, ohne daß daraus eine ausführliche Auseinandersetzung werden kann. Immerhin bleibt Overbeck im Schatten Nietzsches präsent für die spätere Theologie, und wäre es nur in dem Sinn, daß er wie ein Menetekel über die theologische Versuchung zur indiskreten Okkupation Nietzsches das Wort vom „Parasitenwesen der T h e o l o g i e " 7 gestellt hat. Der Blick auf Overbeck ist darum so aufschlußreich, weil er im singulären Konnex der dauernden Freundschaft mit Nietzsche ein Zeichen setzt für die Problematik einer Wechselbeziehung von theologischem und philosophischem Denken: so entschieden, daß die Frage gestellt werden konnte, ob nicht das Exempel Overbeck bereits hinreichend demonstriere, daß eine strikte Nietzsche-Rezeption für den Theologen selbst einen Verstehenshorizont voraussetzt, der in letzter Konsequenz dessen eigene theologische Existenz prinzipiell und biographisch als unhaltbar decouvriert. Zugespitzt könnte man weiterfragen, ob dann nicht der Beginn der theologischen Nietzsche-Rezeption sogleich die Prognose und den Vollzug ihres Endes einschließe. Zwei Merkmale sind in diesem Zusammenhang bei aller biographischen Kontingenz beachtenswert: einmal Overbecks Eigenständigkeit (er ist der Ältere; er bringt seine Idee des finis Christianismi und die Prädisposition zum theologischen Außenseitertum bereits nach Basel mit8) und seine — in der eigenen Position mitgegebene — Offenheit für Nietzsches Christentumskritik. Die sehr zögernd in Gang gekommene Bearbeitung von Overbecks Nachlaß und der verstreuten Schriften zeigt mit wünschenswerter Klarheit, daß Overbecks Position in wesentlichen Stücken „fertig" war, als er mit fünfunddreißig Jahren mit Nietzsche zusammentraf; daß aber andererseits diese Stellung so geartet war, daß er für ein Verstehen bis hin zur „Horizontverschmelzung" (Gadamer) geradezu prädestiniert erschien. Das „Zwillingspaar" der Streitschriften von 1873 muß somit als öffentliches Symptom eines sachlich viel weiter reichenden Konsenses gelten. Mit seinem Part, der Schrift zur „Christlichkeit unserer heutigen Theologie" 9 , stellte sich Overbeck bewußt in ein theologisches Niemandsland. Will sagen: in eine Distanz zu allen wesentlichen Tendenzen und Schulen der zeitgenössischen Theologie. Aus dieser gewagten Perspektive konnte er nicht nur deren Inkonsequenzen und Gefahren überschauen; seine Polemik erwuchs darüber hinaus von vornherein durch den versuchten Nachweis ihrer notwendigen Destruktivität aus einer prinzipiellen und generellen Absage an die Theologie als ganze, und Overbecks spätere Schriften und Nachlaßauf7
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Zitiert in: Carl Albrecht Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft. Band 1. Jena 1908. S. 219. Vgl. dazu Rudolf Wehrli: Alter und Tod des Christentums bei Franz Overbeck. Zürich 1977. - Ferner: Arnold Pfeiffer, Franz Overbecks Kritik des Christentums. Göttingen 1975. Franz Overbeck: Uber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. 3. Aufl. Darmstadt 1963. [Fotomechanischer Nachdruck der 2. Aufl. Leipzig 1903.]
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Zeichnungen haben diesen einmal gewählten Beweisgang stets n u r entschiedener legitimieren wollen. D i e Prämissen seiner A r g u m e n t a t i o n bleiben dabei in ihrer Einfachheit kontinuierlich beständig und nahezu unbefragt. E r s t eine spätere theologische Diskussion hat sie aus anderen M o t i v e n aufzunehmen und freilich auch — zumindest historisch — zu relativieren v e r m o c h t . In knapper Zusammenfassung gesagt: der Gedankengang setzt ein mit der historisch lautenden These von einem ältesten Christentum, dessen „weltflüchtiger Glaube" 1 0 streng auf die entschieden temporale Eschatologie im Sinn der sogenannten „Naherwartung" festgelegt wird. Ist damit ein Maßstab für das wahre „Wesen des Christentums" 1 1 gesetzt, so entscheidet das Verziehen jener Parusie im Grunde bereits darüber, daß die nachfolgende Geschichte des Christentums — ungewollt, wie sie ursprünglich sein muß — als Prozeß einer fortschreitenden Verweltlichung 12 den defensiv (vor allem im Mönchtum) geführten Kampf um eine Transponierung des Ursprünglichen mit einer notwendigen Niederlage ausgehen sieht. Das Ende des Christentums ist unvermeidbar. Es befindet sich nach Overbecks Ansicht im Zustand der Verwesung, und gerade die „moderne Theologie" liefert ihm den deutlichen Beweis für diese Behauptung. Theologie erscheint in Overbecks Überlegung von vornherein als „Satan der Religion" 1 3 . Sie vertritt das autonome „Wissen" in radikaler Diastase zum „Glauben", dem — von seiner eschatologischen Fixierung her und in unbefragter Setzung — jeder mögliche Bezug zum Denken abgesprochen wird. Theologie ist rationale Wissenschaft, ermangelnd eigener Erkenntnisprinzipien 14 , folglich muß ihre Vermengung mit dem Glauben Unredlichkeit zeitigen und auf Destruktion hinauslaufen. Selbst das Projekt einer „profanen Kirchengeschichte", das Overbeck sich vorgesetzt hatte, hätte nichts anderes erbringen wollen als den „Nachweis des finis Christianismi" 1 5 . Erstaunlich bleibt daran allerdings eine verborgene Inkonsequenz: wenn Overbeck legitim gegen den Widersinn des Versuchs (insbesondere der liberalen Theologie) polemisiert, die Zukünftigkeit oder gar den Vorrang des Christentums „rein historisch" nachweisen zu wollen, dann erscheint die Vorstellung, der Gegenbeweis des finis Christianismi werde gleichfalls historisch (durch „profane Kirchengeschichte") geleistet werden können, als unbegründbar. Wenn der Lebensfunke des siechen Christentums jener irrationale Glaube sein sollte, dann wäre ein Nachweis seines Endes ebenso unmöglich wie überflüssig. Gleicherweise muß auch Overbecks historische These vom Glauben der „ältesten Christen" nicht nur der exegetischen Uberprüfung unterliegen, sie wird in ihrer Bedeutung ohnehin erst dann zu würdigen sein, wenn sie neben ihrer Begründungsfunktion auch als Konsequenz und Instrument der Idee des finis Christianismi gesehen wird. Sie erscheint damit keineswegs relativiert, vielmehr gewinnt sie in dieser Perspektive noch an Bedeutung als Indiz der prekären Situation der Theologie, so wie Overbecks gesamte Theologenexistenz dafür ein nicht zu übersehendes Frage-Zeichen errichtet. Auf diesen Punkt hat später dann Karl Barth 10 11
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Overbeck, Christlichkeit, S. 85. Trotz seiner Polemik gegen Harnack kann auch Overbeck es nicht vermeiden, eine solche Wesensaussage in historischem Gewand zu machen. . Vgl. a.a.O. S. 34. Franz Overbeck: Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie. Hrsg. v. C. A. Bernoulli. 2. Aufl. Darmstadt 1963. S. 13. Vgl. Christlichkeit, S. 34. Overbeck, Christentum und Kultur. S. 289.
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verwiesen, als er (am Ende aber doch wohl mißverstehend) Overbeck z u m Repräsentanten „unerledigter Anfragen an die heutige T h e o l o g i e " 1 6 und zu einer Art Purgatorium der zukünftigen Theologie ernennen wollte. Ein theologischer „ H i m m e l " ist freilich jenseits dieses Reinigungsortes nicht zu erkennen. —
Zwei Feststellungen bleiben nun in unserem Zusammenhang von Bedeutung: 1. Mit vollem Bewußtsein repräsentiert Overbeck selbst ein mögliches Dilemma theologischer Existenz im 20. Jahrhundert. Seine Theologie- und Christentumskritik zwar macht ihn zum Außenseiter, hindert ihn aber nicht, in irgendeinem Sinn „ T h e o l o g e " zu bleiben, auch wenn er später über manche darin zu vermutende Inkonsequenz ausführlich Rechenschaft ablegt 1 7 . Was ihn hält und zugleich von Nietzsche unterscheidet, ist seine grundsätzliche Bejahung der historischen Wissenschaft. Wissenschaft bleibt für Overbeck höchster Zweck und wird nirgends Instrument eines revolutionären Veränderungswillens. Ihm fehlt im Gegensatz zu Nietzsche die Vision des Neuen: er hat diesbezüglich Nietzsches Weg mit Skepsis begleitet. 2. Finis Christianismi ist Overbecks Formel für denselben kulturkritischen Befund, der bei Nietzsche in der Parole vom „ T o d G o t t e s " zur Sprache kommt. Der Unterschied liegt darin, daß Overbeck der feindselige. Kampfeswille abgeht 1 8 , der Nietzsche zum immer entschiedeneren Gegner des Christentums werden läßt und der die Kehrseite einer positiven, bei Overbeck erst recht fehlenden Entschlossenheit zur Entfesselung und tiefgreifenden Veränderung des Menschen darstellt. Dieser „doppelte Mangel" wird von Karl Löwith gerade als „Overbecks menschlicher und wissenschaftlicher V o r z u g " gewertet, insofern hier die Position des „wirklich entscheidenden Gegensatz e s " zum Christentum mehr als bei „leichtfertigen" Formen des Atheismus erreicht sei 1 9 . Jener ernsthafte Atheismus aber begleitet nun wie ein Schatten die Theologie des 20. Jahrhunderts, nicht nur von außen sie bedrängend, sondern als eine Gefährdung, die sie von innen auf eine äußerste Probe stellt.
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Karl Barth'. Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie, in: ders., Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vorträge. Band 2. Zollikon-Zürich 1928. S. 1—25. Barth findet dort die „dialektische" Formel, die das Problem freilich nicht löst: „Ein Theologe, der gerade nicht Theologe sein will, könnte möglicherweise, wenn das Unmögliche möglich werden sollte, ein sehr guter Theologe sein." (S. 23). Vgl. Einleitung und Nachwort zur 2. Aufl. der „Christlichkeit", a. a. O. S. 1—20. 148-217. Ferner: Franz Overbeck, Selbstbekenntnisse. Hrsg. v. E. Vischer. Basel 1941. In einer Nachlaßaufzeichnung stellt Overbeck fest, ihm fehle „jeder Stachel eines ernsten Christen- oder Religionshasses". (Christentum und Kultur, S. 289). Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1964. S. 417.
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Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption
II. Widerspruch und Wirkung im Bereich der katholischen
Theologie
Franz Overbecks Versuch einer Situationsanalyse des Christentums und seiner Theologie, aufgrund der frühen Absageschrift nur zögernd und fragmentarisch zur Kenntnis genommen 20 , konnte erst durch Nachlaßpublikationen jenseits des ersten Weltkrieges 21 auf eine rezeptionswilligere, historisch erschütterte und von der liberalen Tendenz sich abwendende Theologenschaft treffen. Bei allem höchst respektablen Engagement spielen diese Vorgänge sich vornehmlich im akademischen Rahmen ab. Die moderne „Sache mit Gott" (Zähmt) erscheint als Sache des professoralen Disputes. Eine ernsthafte Diagnose des finis Christianismi würde diesen Rahmen notwendig überschreiten und ekklesiologische sowie kirchensoziologische Überlegungen einbeziehen müssen. Sie hätte, wie es bei Ernst Troeltsch und Dietrich Bonhoeffer beispielhaft geschieht, die vielfach verdrängte kirchliche und gesellschaftliche Einbindung der Theologie ins Auge zu fassen und somit die konkreten christlichen Kirchen als jene Realität des gelebten Christseins, die nicht mit herrischer Geste gewissermaßen zur Konkursmasse der Geschichte geschlagen werden kann. Die Tatsache also, daß die hier versuchsweise vorgenommene Gliederung in die theologische Nietzsche-Rezeption katholischer und evangelischer Provenienz auf die Prägekraft historischer Einbindungen verweist, muß darum nicht am Sachgehalt jener Rezeptionsformen zweifeln lassen, sie ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck einer geschichtlichen Wirklichkeit. „Leben" oder „Tod" des Christentums entscheiden sich hier, in solcher Bindung. Hier ist jene Verfassung zudem greifbar und auch akzeptiert, in anderen Regionen hingegen wird ihr Vorhandensein, wenn schon nicht geleugnet, so doch selten zum Thema gemacht.
Folglich hieße es, ganze Dimensionen des Christentums nicht zur Kenntnis zu nehmen, wollte man die Debatte um die in Nietzsche und Overbeck repräsentierte „Anfrage" (um ein Lieblingswort mancher Theologen zu verwenden) nur theologiegeschichtlich, nur als Angelegenheit von theologischen Staatsbeamten sehen. Eben in diesem Kontext bietet die katholische Theologie der rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung eine interessante, bisher fast ungenützte Perspektive 22 . Ihr Prinzip der ekklesialen Einbindung, vor allem aber ihre geschichtlich bedingte, vom hypertrophen Eigendasein der konfessionellen Lebensräume um die Jahrhundertwende determinierte Situation lassen für die katholische Theologie Dasein und Diagnose Overbecks wie im „toten Winkel" geschehen. Wie es denn generell ein Kennzeichen der Nietzsche-Rezeption darstellt, daß ganze Autorengruppen sich gegenseitig nicht zur Kenntnis nehmen, vom „inneren" Dialog gar nicht zu reden. Findet 20
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Vgl. Overbecks eigene Besprechung der Resonanz seines Büchleins: Christlichkeit S. 148-167. Die bedeutendste: „Christentum und Kultur" erschien erstmals 1919. Im gleichen Jahr publizierte Karl Barth seinen „Römerbrief". Eine Ausnahme bildet die Untersuchung von Richard Schaeffler: Die Wechselbeziehungen zwischen Philosophie und katholischer Theologie. Darmstadt 1980.
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also eine Auseinandersetzung mit dem „evangelischen Theologen" Overbeck meines Wissens im katholischen Bereich nicht statt, so wird der „atheistische Philosoph" Friedrich Nietzsche hingegen zunächst und vor allem als der Widersacher und Feind ins Auge gefaßt. Um dies zu verstehen und nicht einfach nur als Banausentum beiseite zu schieben, müssen einige Anmerkungen zur höchst eigentümlichen historischen Situiertheit dieser Theologie vorangeschickt werden.
1. Zur Situation der katholischen Theologie um die Jahrhundertwende und im zwanzigsten Jahrhundert Die Frage nach dem Beitrag des Dialogs von katholischer Theologie und zeitgenössischer Philosophie zu stellen, bedeutet also nicht, eine unangemessene konfessionsspezifische Perspektive ins Spiel zu bringen. Vielmehr wird als Faktum zu beachten sein, daß es die Theologie, die dann Nietzsches Denken rezipiert oder kritisiert, in dieser Einheit geschichtlich gar nicht gibt. Auf der anderen Seite stehen sodann nicht allein „die Theologen" als Vielzahl von Individuen, aus deren Reihung sich schließlich eine Theologiegeschichte ergibt. Der Philosoph Richard Schaeffler hat in seinen erst kürzlich erschienenen Untersuchungen zu den „Wechselbeziehungen zwischen Philosophie und katholischer Theologie" 23 den auch für den Dialog mit der Philosophie relevanten konfessionsspezifischen Denkansatz 24 überzeugend herausgearbeitet. Sein eher theologiegeschichtlicher Blickwinkel hat allerdings erneut das Faktum unterbewertet, daß theologische Positionen auch in ihre historische Situation hineingestellt werden müssen. In geraffter Form: der Katholizismus hat im 19. Jahrhundert vor dem traumatischen Hintergrund der französischen Revolution sich in jener Form regeneriert, deren grundlegende Erscheinungsweisen noch für den größten Teil des 20. Jahrhunderts beherrschend blieben und erst in den 60er Jahren eine gewisse Modifizierung zuzulassen begannen. Einerseits in der Frontstellung gegen die Aufklärung, die Säkularisierung und damit gegen Revolution und bürgerlichen Liberalismus sich fixierend, auf der anderen Seite einen gesellschaftlichen „Turm" durch Mobilisierung und Formierung des sog. „Kirchenvolkes" bildend, hat der Katholizismus insbesondere in Mitteleuropa das Merkmal der abgeschlossenen Geschlossenheit ausgebildet. Aus ihm u. a. resultiert die der hochgeschätzten, auch administrativ verteidigten Innenstabilität dienliche Tendenz zur Durchsetzung einer uniformen theologia sive philosophia nostra (Neu-„Scholastik"). Mit ihr gegeben ist zugleich aber auch die tiefreichende Kluft zwischen katholischer Theologie und zeitgenössischer Philoso-
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Richard Schaeffler, a . a . O . Vor allem das Interesse der katholischen Theologie an einer Erneuerung der ontologischen Fragestellung; a . a . O . S. 17ff.
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phie 25 . Schaeffler hat gezeigt, daß insbesondere die kritische Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants de facto als Symptom (und Ursache?) der wachsenden Distanz zur Moderne verstanden werden muß. D. h. mit dem Namen Kant ist die entscheidende Frontstellung zur neuzeitlichen Philosophie bezeichnet, und die Rolle, die eine theologische Auseinandersetzung mit Nietzsche hier spielen konnte, wäre auch als Variation oder Verschärfung in diesem Kontext zu würdigen 26 .
Dort also, wo unsere Frage nach dem Stellenwert theologischer Nietzsche-Rezeption einsetzt, also zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ist durch die Vorentscheidungen des 19. Jahrhunderts eine tiefgehende Diastase von katholischer Theologie und zeitgenössischer Philosophie zu verzeichnen. Es spielt die sogenannte Modernismuskrise 27 , auf deren Höhepunkt die Bewertung des kantischen Denkens (ob recht verstanden oder nicht) als „falsche Philosophie" 28 steht. In diesem Komplex von religiös fundierter Kulturdistanz und Kulturdefizit 29 kann eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Nietzsche nur in der Form apologetischer Abwehr eines Christentumsfeindes geschehen. Gab es Zugeständnisse zeit- und selbstkritischer Art - etwa, daß Nietzsche dem „schwächlichen Christentum" (Lötz) des 19. Jahrhunderts entstamme —, dann konnte das nicht bedeuten, daß Nietzsches Position in irgendeinem Sinn als diskutabel zu akzeptieren gewesen wäre. Nietzsches Denken galt als fremd, absonderlich und feindlich gesonnen. Es entsprach aber der apologetischen Zielsetzung auch, daß nach Spuren gesucht wurde, wie in Nietzsches Werk sozusagen wider Willen, implizit, eben doch sich Bindung an Christliches, an „Göttliches" etc. durchsetzen mußte. Wie folglich dieser krasseste Christentumsgegner möglicherweise Zeugenfunktion im positiven Sinn unfreiwillig, von seiner anerkannten Wahrhaftigkeit genötigt, übernehmen konnte. Daß sich solche Versuche oftmals auf Traktätchenniveau bewegen (es wäre doch eine rezeptionsgeschichtlich eigens zu beachtende Tatsache, daß die Nietzsche-Literatur überhaupt auch aus einer bedeutenden Zahl von Traktätchen, Pamphleten etc. besteht), ist für denjenigen kein zu mißachtendes Phänomen, der die unkontrollierte Wirkung von Verstehens- und Denkklischees mitbedenkt. Rezeptionsgeschichte mag aus dieser Perspektive auch als die Summe der kolportierten Mißverständnisse eines bedeutenden Werks erscheinen, nicht nur als Entfaltung von dessen „Sinnpotential" (Jauß). Jene Klischees besitzen die bemerkenswerte Eigenheit, in recht engem Konnex 25
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Nicht: Kluft zwischen Theologie und Philosophie überhaupt! Vorausgesetzt ist dabei eine der Theologie nahestehende (christliche) Philosophie, insbesondere als Ontologie. Vgl. dazu: H. Vorgrimler/K. van der Gucht (Hrsg.): Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert. Band 1. Freiburg (u. a.) 2 1970. Dort bes. S. 2 6 9 - 3 6 3 : „Die Philosophie im 20. Jahrhundert". Bzw. Antimodernismusstreit, vgl. Schaeffler S. 60ff. Schaeffler, S. 61, zitiert: Acta Sanctae Sedis 40 (1907) 636. Die Klage über das Bildungsdefizit, gleich wie man es - im Kontrast zu bürgerlichem Kulturpathos — beurteilt, geht durch das 20. Jh.: von Hermann Schell (vgl. Schaeffler S. 77) bis zu neueren Publikationen.
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zur ausgesprochen fach-theologischen Nietzsche-Rezeption zu bleiben. Das heißt: die Schemata der — nennen wir sie — „niederen" Nietzsche-Rezeption kehren in der theologischen Literatur (das ist natürlich nicht „konfessionsspezifisch") wieder bzw. werden dort produziert; auch eine Form der „Wechselbeziehung". Zum Teil wird man der theologischen Nietzsche-Rezeption bis auf den heutigen Tag nachsagen können, daß sie sich in nicht selten klischeehaften Grundmöglichkeiten bewegt.
2. Die Mißverständnis-Theorie Aus diesem bisher gänzlich unbeachtet gebliebenen Bereich, der darum auch unerforscht ist, nenne ich einige der geläufigsten Verstehensschemata, wie sie aus Kleinschriften, Predigten, Bistums- und Sonntagsblättern etc. bis hin zur populären Nietzsche-Literatur zu ermitteln sind. Es mag erlaubt sein, anekdotisch die Erinnerung an manche Prediger aufzufrischen, die früher nicht selten den sächsischen Namen Nietzsche mit gedehntem Zischen, lautmalerisch eingesetzt für etwas Scharfes, Gefährliches und Gottesleugnerisches, über die stummen Gemeinden hinwegstreichen ließen. Nietzsche fungierte da zuweilen als die personifizierte, verdammenswerte Gottlosigkeit, viel häufiger aber als homiletischer Gewährsmann in dem Sinne, daß er als bekannter Gottesfeind nicht umhin konnte, in seiner respektierten rigorosen Redlichkeit und Denkschärfe bestimmte Inhalte, auf die es dem Prediger ankam, anzuerkennen. So zum Beispiel die Bedeutung und den Rang des Alten Testaments; ferner das Dasein eines „unbekannten Gottes" (Klischee: Nietzsche, der „Gottsucher" oder „Religiöse" gerade in der Gottlosigkeit); weiterhin: Nietzsche als den leidenden Christentumskritiker, der die Christen zur Selbstbesinnung mahnen kann. Hinzu treten einzelne dicta probantia moralischer und lebenskundlicher Art, die Parole von der „Treue zur Erde" so gut wie Zarathustras Wort „Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen!" (Za II, Von den Priestern. KSA 4,118.)
Wollte man skizzenhaft eine orientierende Ubersicht der genannten Grundmöglichkeiten theologischer Nietzsche-Rezeption entwerfen (mutatis mutandis auf den gesamten Bereich der Theologie anwendbar), dann müßte man von einer zunächst recht einfach anmutenden, aber für die Interpretation höchst folgenreichen Alternative ausgehen. Sie besteht darin, daß Nietzsche entweder das von ihm bekämpfte Christentum im wesentlichen mißverstanden oder es — ebenso in wesentlichen Merkmalen — verstanden hat. Natürlich findet man beide Auffassungen in vielfachen Variationen, zuweilen auch eine unterschiedlich gewichtete Verbindung beider. Nehmen wir zunächst die Mißverständnis-Theorie. Sie eröffnet (etwas pauschal gesagt) wiederum mehrere Möglichkeiten:
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1. Nietzsche hat das Christentum mißverstanden aufgrund seiner Herkunft, seiner Areligiosität von Anfang an, aus Unkenntnis insbesondere des Katholizismus 30 , irregeleitet durch den Einfluß Schopenhauers 31 , oder auch schlicht in „psychologisch rätselhafter" Aggressivität 32 , die am Ende — aus innerer Widersprüchlichkeit — geradezu in die Konsequenz des Wahnsinns münden muß. 2. Nietzsche hat das Christentum geradezu legitimer Weise mißverstanden, weil es ihm sowohl in protestantischer als auch in katholischer Spielart irgendwie pervertiert, verbürgerlicht, sentimentalisiert, schwächlich etc. entgegentrat. Von dieser These her können Autoren unschwer ihre Christentumskritik des 19. Jahrhunderts etablieren 33 , zugleich aber auch über Nietzsches Christentumspolemik sagen, sie bekämpfe eine Karikatur 34 oder einen Popanz. Es zeigt sich rasch, daß in den Varianten der Mißverständnis-Theorie die Versuchung zu interpretatorischer Beliebigkeit in mehrfacher Weise droht, zumal in der Verknüpfung mit einem anderen, weit verbreiteten Klischee von Nietzsche als einem „dissoziierenden" Denker 35 , bei dem man mit Zitaten gewissermaßen „alles" belegen könne. Die Beliebtheit der These resultiert nicht zuletzt aus ihrem Sicherungseffekt. Indem man in Nietzsches Werken mannigfaches Mißverstehen des Christlichen im Detail nachweist (und dieser Nachweis ist möglich), salviert man das Christentum als ganzes. Sei es apologetisch im bereits (unter Punkt 1) dargestellten Sinn, sei es aber auch kritisch, sofern eine Diagnose der Perversionen in die Forderung einer möglichen Purifizierung („Reform") mündet. Aber damit nicht genug. In der Mißverständnis-Theorie verbirgt sich die Möglichkeit zur christlichen Okkupation als das eigentlich verlockende Element. Es handelt sich um den immer wieder offen oder verborgen gehegten Gedanken, Nietzsche habe im Grunde (letztlich, trotz aller Mißverständnisse 30
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Vgl. etwa: Josef Hofmiller-. Nietzsche. In: Süddeutsche Monatshefte 29 (1931/32) S. 7 4 - 1 3 1 , bes. S. 129. Ferner: Georg Siegmund, Nietzsche. Der „Atheist" u. „Antichrist". Paderborn "1946, S. 180. So Werner Schöllgen in dem übrigens lesenswerten Aufsatz: Friedrich Nietzsche und Thomas von Aquin als Deuter christlicher Lebensideale, in: Theologie und Glaube 35 (1943) 61—73; dort bes. S. 66. Dazu vgl. Hans Gallwitz, Friedrich Nietzsche als Erzieher zum Christentum, in: Preußische Jahrbücher 83 (1896) 324—347. Nicht nur folgt Gallwitz einem Schema, das Overbeck schon bei J. Kaftan rügt (Bernoulli I, S. 219): Nietzsche als „Erzieher zur Theologie"; man findet hier auch den rührenden Satz: „Es bleibt ein psychologisches Rätsel, wie in Nietzsche, dem Studiosus der Theologie und Philologie, dem Vorsitzenden (!) des Bonner akademischen Gustav-Adolf-Vereins, der Geist des „Antichrists" hat die Herrschaft gewinnen und behaupten können." (S. 339) Dieses Element findet sich auch im Exkurs zu Nietzsche bei Karl Barth, KD III, 2, (Mensch und Mitmensch S. 1 7 - 3 5 ) ; vgl. Anmerkung 196. K. Barth z.B., a.a.O. S. 34. Vgl. Eugen Biser: Antwort auf Peter Köster, in: Theologische Quartalschrift 153 (1973) 166. Biser spricht dort von der „dissoziierenden Wirkung Nietzsches, der in seinem Selbstwiderspruch immer wieder zu antagonistischen Interpretationen verlockt und doch erst im bewußten Gegenzug zu dieser frustrierenden Tendenz wirklich verstanden werden könnte". Der Rede vom „Gegenzug" möchte man sich wohl assoziieren.
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oder gerade in ihnen) genuin christliche „Anliegen" oder Gedanken vertreten36. Theologischer Nietzsche-Rezeption und Nietzsche-Kritik wüchse von da her die Aufgabe zu, jenes christliche Fundament freizulegen, sei es zum Zweck der Selbstbesinnung oder auch der Selbstbestätigung, insofern damit eine tiefere Harmonie auf dem Grunde heftigster Polemik greifbar würde. Das Argument, gerade die sich ins Maßlose steigernde Bekämpfung des Christentums sei ein Indiz für die verborgene „theologische" Affinität von Nietzsches Denken — insofern auch es davon lebe, diesen Gegner zu bekämpfen (vgl. MA 1, 531. KSA 2,326) — ist ja sehr früh aufgetreten und besitzt manchen Anhalt in Nietzsches eigenen Hinweisen. Nur eben sollte hier die Fixierung auf den radikalen Widerspruch, das durchgängig Negative der Affinität nicht überspielt werden. Denn erst von dort aus könnte dann ohne Okkupationsgelüste gefragt werden, wie eine ins Extrem vorgetriebene, den direkten Widerspruch in größter Entschiedenheit suchende und aus ihr das Äußerste wagende Affinität zu beurteilen wäre.
3. Uberblick und Beispiele Der erste Blick auf einen Teilbereich der theologischen Nietzsche-Rezeption hat sogleich zu typologischen Reflexionen führen müssen. Es sollen aber, verbunden mit einem notwendig unvollständigen Uberblick, zwei charakteristische Exempel etwas genauer noch betrachtet werden. Es gehört ja zur Eigenart der katholischen, insbesondere der aus scholastischer Tradition stammenden Theologie, daß sie den Versuch unternehmen kann, Nietzsche
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Beispiele dafür, beliebig ausgewählt: Gallwitz a . a . O . : „Was Nietzsche .moralinfreie Tugend' nennt, ist nichts Anderes als der Glaube im Gegensatz zur Werkgerechtigkeit, der in der Liebe thätig ist." (S. 326) — Franz Xaver Kiefl (Katholische Weltanschauung und modernes Denken. Regensburg 1922) nennt „Nietzsches neue Gütertafeln heimlich christlich" (S. 171 ff.); an anderer Stelle setzt er hinzu: „Das Tragische aber ist, daß Nietzsche die Mißverständnisse direkt beabsichtigt." (S. 177). Georg Picht: Nietzsche „versteht seine philosophische Erfahrung als eine Praxis, die jenem Evangelium entspricht, das dann vom Christentum, sobald es zur Herrschaft kam, nach seiner Deutung verraten worden ist" (Antwort von Georg Picht, in: Theologie — was ist das? Hrsg. v. Georg Picht und Enno Rudolph. Stuttgart, Berlin 1977. S. 317). — Bernard Lauret: „für uns befindet sich die Antwort Nietzsches im Bereich der christlichen Botschaft und ihrer Radikalität" (Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. München 1977. S. 227). Bernhard Welte: „In Nietzsches Rede vom Ubermenschen spricht der Mensch, ohne es zu wissen, ,im Traume', von Gottes Gnade. Er spricht von dem, was in der christlichen Theologie auch Über-Natur genannt wird. In diesem Sinne ist die Rede, wie in Trunkenheit und Wahnsinn gesprochen, doch eine christliche Rede." (Nietzsches Atheismus und das Christentum. Darmstadt 1958. S. 62).
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unter der vorausgesetzten Möglichkeit einer philosophia christiana 37 ausdrücklich auf philosophischem Felde zu entgegnen. Bei Johannes B. Lötz geschieht dies u. a. aus der für die „Scholastik" ( = Neu-Scholastik/Thomismus) bedeutend gebliebenen ontologischen Perspektive 38 , bei Bernhard Welte aus der Nähe zur Existenzphilosophie. Dies mögen ohne Wertung (denn andere Autoren wären ebenso zu bedenken) die beiden Beispiele sein. Doch zunächst ein kurzer Uberblick. Es ist leicht zu erkennen, welch ein weiter Weg zurückgelegt werden mußte bis zu einer eindringenden, sachlichen Würdigung Nietzsches im Bereich der katholischen Theologie. Wenn ich recht sehe, setzt dieses Gespräch im deutschen Sprachraum erst gegen Ende der 20er Jahre 3 9 , vor allem dann in den 30er Jahren ein. Dabei findet man kaum eine Publikation nach 1933, in der nicht auf die eine oder andere Weise die Betroffenheit vom Nationalsozialismus eine Rolle spielte: sei es, daß Nietzsche als einer seiner geistigen Verursacher verstanden, oder sei es, daß der Versuch unternommen wurde, in der Auseinandersetzung Nietzsche gegen den Nationalsozialismus in Front zu bringen und ihn diesem sozusagen als Gewährsmann zu entwinden. Charakteristisch dafür ist ein Buchtitel wie dieser: „Meister Eckhart und Nietzsche. Ein Vergleich für die Gegenwart." 4 0 Solche komparativen Gegenüberstellungen Nietzsches mit „christlichen Denkern" (insbesondere: Kierkegaard, Thomas von Aquino, Meister Eckhart [s.o.], Dostoevskij usw.) erfreuten sich großer Beliebtheit. In einmaliger Reihung findet man sie vor in Hans Urs von Balthasars dreibändiger „Apokalypse der deutschen Seele" 4 1 . Dieses umfängliche Werk zum Beispiel ist auf jeden Fall Zeugnis einer ungewöhnlichen Belesen- und Belehrtheit, bei der der spätere Leser jedoch durch die „Technik" der allseitigen Verknüpfung, des assoziativen Sehens von Parallelen, des „Sich-erinnert-Fühlens-an-vielerlei" von dem unbehaglichen, aber begründbaren Eindruck nicht freikommt, daß man an manchen Stellen doch so genau nicht nachprüfen dürfe. Es wird 37
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Als definierte Lehre im 1. Vatikan. Konzil vorgelegt mit dem zentralen Satz, die Kirche lehre „Deum, rerum omnium principium et finem, naturali humanae rationis lumine e rebus creatis certo cognosci posse" (DS 3004). Vgl. Schaeffler, S. 2 2 - 3 0 ! Um die Wende von den 20er zu den 30er Jahren erreichte die Beschäftigung mit Nietzsche ohnehin einen Höhepunkt, kulminierend etwa 1935ff. in den Werken von Jaspers, Löwith und in Heideggers Vorlesungen (publiziert 1961). Josef Bernhart: Meister Eckhart und Nietzsche. Ein Vergleich für die Gegenwart. Berlin 1934. (die Aktualisierung einer Untersuchung aus dem Jahr 1930 [Schlechta/Reichert Nr. 1482]). Bernhart zieht eine Linie von M. Eckhart zu Nietzsche mit der Tendenz zur „Vergottung des Menschen" (S. 24). Diese Bewegung sei „theoretisch möglich" und „historisch konsequent erfolgt" (a. a. O.). Er zieht daraus den gegenwartsbezogenen Schluß: „Mehr als die Führer und Geführten in Europa erkennen, liegen in diesem scheinbar lebensfernen Bereiche die Quellen der Ereignisse, die heimlich und unheimlich über uns kommen." ( a . a . O . ) Hans Urs von Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen. 3 Bände. Salzburg, Leipzig 1937—39.
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nicht verfehlt sein 4 2 , dieses Buch, neben anderen vergleichbaren Werken, auch als Dokument einer für die katholische Theologie charakteristischen Grundstellung zu verstehen. Denn in Sprache und kombinatorischer Methode erweckt es den suggestiven Eindruck des tiefdringenden, umfassenden Verstandenhabens. So als besäße der katholische Theologe gewissermaßen die Kenntnis des zentralen „weltanschaulichen" Konstruktionsgeheimnisses der neuzeitlichen Kultur-, Philosophie- und Literaturgeschichte," von dem her die Verhältnisse sich geistvoll, „ t i e f " und allseitig auseinanderlegen und kombinieren lassen. In einem sprachlichen Gestus, der Einflüsse Rilkes, der Romantik und der deutschen Mystik verrät und übrigens zeittypisch ist, werden alle ergriffenen Elemente, darunter dann auch zentral solche der Nietzscheschen Philosophie, gewissermaßen in einen „Seele" genannten Innenraum gezogen, in dem sie sich dem prinzipiell gefärbten Uberlegenheitsbewußtsein dieser Theologie 4 3 in ihrem wahren Wesen „enthüllen" müssen. Diese Haltung der Superiorität kann, von der individuellen Komponente abgesehen, auch als Reflex jener Kulturdistanz des Katholizismus erscheinen, die sich selbst im Besitz des kritischen Schlüssels zur Moderne glaubt und besonders aus umfassender Kennerschaft Verfehltes diagnostizieren will. Die Gefahr des präsumtiv überlegenen Standpunktes besteht dann freilich in einer sterilen Esoterik, die im Einschlagen des „Weges nach innen" vor allem der bereits erwähnten abgeschlossenen Geschlossenheit des Katholizismus eine Legitimation verschafft. Für diese „Schau von innen her" wird Nietzsche in der Zusammen- und Gegenstellung zu Kierkegaard sodann, wie es in charakteristischer Sprache lautet, zum „großen Flammenzeichen, aufgerichtet im Dunkel der Jahrhundertmitte: Brennender Mensch als Ineinsschlagen von Höllenflamme und Himmelsflamme" 4 4 . Die Diagnose lautet auf „ H o c h m u t " , aber so, daß diese existentielle superbia transparent sein soll für Transzendenz. Eine vergleichbare Grundstellung, deren Applikation auf Nietzsche dann jeweils im einzelnen zu erforschen wäre, findet man bei Theologen wie Erich P r z y w a r a 4 5 , T h e o d o r Steinbüchel 4 6 und — in Frankreich auf eigenen und doch verwandten Wegen gehend — Henri de L u b a c 4 7 . Zu letzterem sei angemerkt, daß es einen bemerklichen, 42
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An dieser Stelle kann ich nur eine Andeutung machen; es ergibt sich hoffentlich die Gelegenheit zur genaueren Analyse im Kontext der katholischen Nietzsche-Rezeption. Hinter ihrer „alles verstehenden" Darstellungsweise steht im übrigen eine höchst konservative theologische Dogmatik. Hans Urs v. Balthasar, a . a . O . , Band 1. S. 733. Zu E. Przywara vgl. R. Schaeffler, a . a . O . S. 4 2 - 5 9 . Wenigstens der Titel seiner einflußreichsten Abhandlung sei hier genannt: Theodor Steinbüchel, Die Philosophie Nietzsches, ihre geistesgeschichtliche Situation, ihr Sinn und ihr Wirken, in: Zeitschrift für deutsche Geistesgeschichte 2 (1937) 6 1 - 1 7 2 . 2 5 1 - 2 8 5 . Henri de Lubac-. Le drame de l'humanisme athée. Paris 1943 (deutsch: Die Tragödie des Humanismus ohne Gott. Salzburg 1950). — Auch diese Interpretation verdient eine eigene Würdigung. Anregungen aus ihr hat insbesondere Eugen Biser bezogen.
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auch politisch fundierten Unterschied macht, ob sich ein deutscher Theologe in jenen Tagen Nietzsche zuwendet oder ob sich ein französischer Theologe mitten im Krieg (im Jahr 1941 ff., der Entstehungszeit des Buches) mit der in Nietzsche verkörperten deutschen Tradition auseinandersetzt; ganz abgesehen von der Weite des Blicks bei einem Mann, dessen Einfluß bis in die Atheismustexte des 2. Vatikanischen Konzils hinein Öffentlichkeitsbedeutung gewonnen hat 4 8 . Manche der Publikationen aus der Zeit des Nationalsozialismus erfuhren nach 1945 aus veränderter historischer Situation Neuauflagen oder ergänzende Bearbeitungen. So der Traktat von Georg Siegmund: Nietzsche, der „Atheist" und „Antichrist" (Paderborn 4 1946), in dem man viele der früher genannten Schemata recht eindrucksvoll versammelt findet. Gleichfalls gehören hierher Publikationen von Theodor Steinbüchel 49 und Hans Pfeil 50 , sowie, um die Linie auszuziehen, die Arbeiten von Johannes B. Lötz und Bernhard Welte. Einen gewissen Abschluß dieser Entwicklung brachte im Jahr 1962 dann das Nietzsche-Buch von Eugen Biser 5 1 . Sein über geraume Zeit geradezu „kanonisches" Ansehen (Biser wurde häufig zitiert, aber von einem Weiterdenken im katholischen Bereich konnte in den sechziger Jahren kaum die Rede sein) beruht unter anderem darauf, daß es das zentrale Interesse katholischer Theologie an Nietzsches „Atheismus" und an der Rede vom „Tod Gottes" in kundiger Darstellung zusammenfaßte. Sich mit den Problemen einer genauen NietzscheInterpretation zu beschäftigen, war das Interesse katholischer Theologen sonst nicht. Wenn auch ein Hauptargument von Bisers textgeschichtlicher und textanalytischer Beweisführung anfechtbar bleibt 52 , so wird er doch mit sachlichem Recht Nietzsches Proklamation des Gottestodes in den historischen, über Heine und Kant zurückführenden Zusammenhang mit dem Gottesbegriff von Anselms ontologischem Argument gestellt haben. Uberzeugender gelingt Biser die systematische Durchdringung der mit der historischen These angezeigten philosophischen und theologischen Fragestellungen zur Situation des „christlichen Bewußtseins" angesichts seiner radikalen Infragestellung. Spätere Publikationen Bisers haben diese Gedankengänge weiter verfolgt und verbessert. In vielen Bereichen repräsentiert Biser, verglichen mit seinen Vorgängern, einen bedeutenden Niveaugewinn. Er versucht, auf das Legitime an Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins abzuheben, ohne damit, wie manche Autoren vor ihm, auf vorschnelle Besitzergreifung bedacht zu sein. Zur These von den „positiven Implikationen" 5 3 findet er sich am Ende dennoch veranlaßt, auch wenn er sie mit erheblicher Zurückhaltung nur zuläßt und vorsichtig bedenkt. Auf die theologische Lieblingsvorstellung, daß Nietzsches umfassende Negation im 48
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Vgl. die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes", Nr. 19—21, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl.: Das zweite Vatikanische Konzil. Ergänzungsband 3. Freiburg 1968. S. 3 3 7 349. — Und ferner dazu: Karl Rahner, Zur Lehre des II. Vatikanischen Konzils über den Atheismus, in: Concilium 3 (1967) 1 7 1 - 1 8 0 . Th. Steinbüchel: Nietzsche. Eine christliche Besinnung. Stuttgart 1946. H. Pfeil: Friedrich Nietzsche und die Religion. Regensburg 1949. - Später vom gleichen Verfasser: Von Christus zu Dionysos. Nietzsches religiöse Entwicklung. Meisenheim/Glan 1975. E. Biser: „Gott ist tot". Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins. München 1962. Zur Auseinandersetzung mit Biser vgl. Peter Köster, Nietzsches Beschwörung des Chaos, in: Theologische Quartalschrift 153 (1973) 1 3 2 - 1 6 3 . - Ferner Hans Küng: Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit. München 1978; bes. S. 413. Eugen Biser-. (Artikel:) Nietzsche, in: Religionskritik von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. v. K.-H. Weger. Freiburg 1979. (Herderbücherei. 716) S. 2 4 1 - 2 4 7 .
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„Umschlag in das dionysische J a " schließlich „der Gottesfrage aufs neue Raum" 5 4 gebe, will er aber doch nicht Verzicht leisten 55 .
4. Johannes B. L ö t z und Bernhard Welte Es leuchtet ein, daß für eine theologische Position der unbedingt festgehaltenen (letzten) Ubereinstimmung von Glaube und Vernunft Nietzsches radikale Bestreitung des Christentums zur Aufforderung wird, die Vernunftlegitimation, die historische Erklärbarkeit und die anthropologischen Konsequenzen einer geschichtswirksamen „Anti-Christlichkeit" zu bedenken. Die erleichternde These von der möglichen „Neuentdeckung G o t t e s " 5 6 bzw. der sogenannten „Gottesfrage" sieht sich freilich der weit über Overbeck hinausgreifenden 57 Entschlossenheit Nietzsches gegenüber, bis in die letzten Verästelungen auch der Möglichkeit und Gegebenheit einer „Gottesfrage" (etwa als „anthropologischem F a k t u m " oder „religiösem Apriori") den Weg zu verstellen 5 8 . Diesem Willen zu unbedingter Gegnerschaft trägt, um darauf einen Blick zu werfen, Johannes B. L ö t z in einer sehr beachtlichen Weise Rechnung. In der Abhandlung zum „Entwurf einer Ontologie bei Friedrich Nietzsche" 5 9 sucht er zunächst zu einem ontologischen Verständnis von Nietzsches Grundgedanken (als solche faßt er: den Ubermenschen, die ewige Wiederkunft des Gleichen und das Dionysische 60 ) vorzudringen, um zugleich in Nietzsches Einseitigkeiten und Verkürzungen — gemessen an der durch den Glauben belehrten „scholastischen Synthese" — gewissermaßen eine negative Zeugenschaft Nietzsches 61 dingfest zu machen. Eine gewisse Affinität im Denken des Absoluten, dessen ausschließliche Zurücknahme in die „Innerweltlichkeit" 62 Lötz auf den Einfluß Kants zurückführt 63 , wird eben in dieser Modifikation zur Begründung einer radikalen Gegnerschaft: „Von allen antichristlichen Ontologien ist diejenige Nietzsches die antichristlichste, weil sie in ihrem Ansatz dem Christentum am nächsten kommt und darum sich freilich auch am entschlossensten dagegen wendet." 6 4 E. Biser: „Gott ist tot", S. 293. Zur Kritik vgl. Reinhard Margreiter-. Ontologie und Gottesbegriffe bei Nietzsche. Zur Frage einer „Neuentdeckung Gottes" im Spätwerk. Meisenheim/Glan 1978. (MzphF 160) Dort bes. S. 1 4 0 - 1 5 4 . 5 6 E. Biser, „Gott ist tot", S. 292. 5 7 Overbeck spricht immerhin noch vom „augenscheinlichen Gegebensein" der Frage. 5 8 Vgl. R. Margreiter, a . a . O . , S. 154. 5» In: Scholastik 2 0 - 2 4 (1949) 1 - 2 9 . 6 0 Lötz, a . a . O . S. 12, 13 u. 16. 6 1 Vgl. a . a . O . S. 29. 6 2 A . a . O . S. 25. 6 3 Vgl. a . a . O . S. 24: die „kantische Grenzziehung" gilt als wesentliche Ursache für die Entleerung des Göttlichen. - Vgl. dazu ferner Schaeffler, a . a . O . S. 17ff., 32, 133f., 140. 6 4 A . a . O . S. 25. 54 55
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Glaubt Lötz in dieser Abhandlung noch, Nietzsches Denken — mit gehöriger Korrektur natürlich — insofern philosophisch „einrahmen" zu können, als er ihm einen latenten Verweis-Charakter zugesteht, so kommt er in der späteren Schrift: „Zwischen Seligkeit und Verdammnis" 65 zu einer entschiedeneren, nun als ausgesprochen „theologisch" verstandenen Grenzziehung. Lötz versucht, Nietzsches Denken dort einen Ort zuzuweisen, wo eine Theologie des mystischen „Aufstiegs zu Gott" 6 6 von der „Phase des dichtesten Dunkels oder des Nihil" 6 7 spricht. Im Kontext einer Theorie der Meditation (entwickelt in ständigem Blick auf ein theologisches Verständnis der transzendentalen Erfahrung 68 ) ist aber festzuhalten, daß Nietzsche als Exponent einer „gottfernen Zeit" 6 9 nach Lötz vor jener Grundentscheidung verharrt, für die das Nichts als ein „erstes Sichzeigen" 70 Gottes zur Krisis, zur Forderung der unumgänglichen Wahl zwischen Glauben und Unglauben werden muß 71 . Theologisch gesehen, stehen wir hier vor einem nicht unbedeutenden Problem. Die Rückhaltlosigkeit, mit der Nietzsche seine Entscheidung für den Unglauben bedacht, expliziert und vollzogen hat; die Tatsache ferner, daß er von der „Geburt der Tragödie" an 72 bis zu den Werken seiner letzten Zeit, insbesondere im „Antichrist", die ihm aus der „Kirchensprache" wohlbekannten Titulaturen der Wider-Göttlichkeit samt ihren geschichtlich wirksamen Implikationen umwertend auf sich bezogen hat 73 , kann für die theologische Nietzsche-Rezeption die Gefahr der Grenzüberschreitung zum theologisch unerlaubten Gerichtswort in sich tragen 74 . So entschieden dann
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74
Johannes B. Lötz: Zwischen Seligkeit und Verdammnis. Ein Beitrag zu dem Thema: Nietzsche und das Christentum. Frankfurt/M. 1953. A . a . O . S. 58. A . a . O . S. 59. Genaueres dazu bei Schaeffler, a . a . O . S. 214ff. Lötz, a . a . O . S. 58. A . a . O . S. 61. Darum ist es m.E. ungenau, wenn E. Biser („Gott ist tot", S. 110, A. 18) anmerkt, Lötz skizziere eine zeitgemäße theologia negativa „im Hinblick auf Nietzsche". Was Heidegger (Nietzsche, Band 2. Pfullingen 1961. S. 348) „Theologie" nennt, dürfte von Lötz nicht unkorrigiert akzeptiert werden können. Die Tendenz ist hier schon in aller Klarheit erkennbar: in der Parallelität des bejahten Frevels als griechischer Vorstellung mit der „aktiven Sünde" aus semitisch-christlicher Begrifflichkeit, wobei beide im neu interpretierten Prometheusmythos verknüpft erscheinen. Goethes Hymnus bereits hat die Verbindung der Vorstellungsbereiche antizipiert. Vgl. dazu den Artikel „Antichrist" in: Theologische Realenzyklopädie. Band 3. Dort bes. S. 43—50 den von Jörg Salaquarda verfaßten 5. Abschnitt zur „philosophischen" Aufnahme des Titels. Merkwürdigerweise ist der negativ „heilsgeschichtliche" Beiklang des Titels (den Nietzsche sicher „schockierend" bedacht hat) bei Salaquarda nicht beachtet. Insbesondere für die katholische Theologie liegt hier ein Problem, da sie die Rolle des vernünftigen Bewußtseins hoch veranschlagt. Soll sie Nietzsche beim Wort nehmen? Hat sie überhaupt Kriterien, die bewußte atheistische Entscheidung ohne Ausflüchte ins Implizite ernstzunehmen und dennoch sich keinen Richterspruch anzumaßen?
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betont werden mag, das Wort von der „Verdammnis" als Konsequenz schuldhaft fixierter aversio a Deo sei nicht auf Nietzsche „persönlich", sondern auf eine „objektive Daseinsgestalt"75 speziell seines Werkes bezogen, so kompliziert gestaltet sich dann doch die Vermeidung des verbotenen Richtens76 sowie der Versuchung, im Kontext prinzipieller Zeitkritik in Nietzsche so etwas zu sehen wie den ävÖQomoq xfjg dvojiiag (2 Thess 2,3), also den Menschen der (immoralistischen) Gesetzwidrigkeit. — In dieser spezifischen Problemstellung zeigt sich vermutlich auch eine bezeichnende Begrenztheit der katholischen Perspektive. D e r Respekt vor der atheistischen Grundentscheidung und der unvermittelte Schluß auf die personale Verankerung „theoretischer" Positionen, verbunden mit der gewohnten Abbiendung des Geschichtlichen, erschwert ihr eine Unterscheidung von „Gottlosigkeit" und „ A t h e i s m u s " , wie sie der evangelischen Theologie durchaus geläufig ist 7 7 . Die besonders in den Traktätchen wuchernde Neigung zu Schuldsprüchen bleibt auf jeden Fall eine anmaßliche Unsitte, die jeden vernünftigen Dialog verhindern muß.
Vor diesem Hintergrund wird klar, daß der Theologe und Religionsphilosoph Bernhard Welte sehr wohl gewußt hat, wogegen er 1958 in der bemerkenswerten Einleitung zu seiner Abhandlung über „Nietzsches Atheismus und das Christentum" 78 Stellung bezogen hat: „Es ist auch ein ganz spezielles christliches Anliegen, Nietzsche und seinen Atheismus in aller Besonnenheit auf sein in ihm vielleicht verborgenes wahres Wort hin zu prüfen. [. . .] Wir müssen als Christen den Versuch wagen, das wirkliche und positive Wort Nietzsches zu vernehmen und zu verstehen, und nicht nur seine vielen polemischen und ungerechten Gegenworte. Und wir müssen es zunächst ganz einfach zu verstehen suchen, in seinem Sinn und in seinen Gründen. Nur so sind wir auch als Christen mit der geistigen Wirklichkeit Nietzsches im Kontakte des Gespräches, aus dem wir die Frucht einer Einsicht auch in Sachen des Christentums erhoffen dürfen." 79 Ein deutliches Plädoyer wider das moralisierende Banausentum und für die intensive Bemühung um das Verstehen. Das Wagnis der Nietzsche-Interpretation müsse, wie Welte geradezu programmatisch hinzusetzt, unternommen werden „um der philosophischen Gemeinschaft des Geistes willen, die nie ganz abreißen darf, und um des Christentums willen, das sich durch Nietzsche in eine neue Frage gestellt sieht und zugleich von seinem Ursprung her in die Weisung, auch dem 75 76
77
78 79
Lötz, a . a . O . S. 10. Lötz schreibt: Nietzsches Werk zeige „mit wachsender Unerbittlichkeit einen Menschen, der sich dem Ruf Gottes versagt, an dem sich das furchtbare Wort erfüllt: ,Die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht.' (Joh 3, 19)." (a.a.O. S. 61) Man findet sie sehr bedachtsam formuliert bei Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens. Band 1. Tübingen 1979. S. 1 7 6 - 1 7 9 . Bernhard Welte: Nietzsches Atheismus und das Christentum. Darmstadt 1958. Welte, a . a . O . S. 11.
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großen Infragesteller in offener und denkender Bruderschaft des Geistes zu begegnen." 80 An dieser Stelle kann natürlich nur skizzierend auf Weltes eigentliche Nietzsche-Deutung eingegangen werden. Die angerufene philosophische Gemeinschaft des Geistes verbindet Welte vor allem mit Martin Heidegger; in diesem Fall ist sein Büchlein so etwas wie Replik und theologische Weiterführung von Heideggers berühmtem Aufsatz in den „Holzwegen". Im Mittelpunkt steht auch hier die Frage nach dem Sinn des Wortes „Gott ist tot", aber für die katholische Theologie doch insofern in einer neuen Akzentuierung, als es Welte um die Geschichtswirksamkeit des Gottesglaubens 81 und um die historische Erfahrung seiner schwindenden Uberzeugungskraft geht: also, wie Welte formuliert, um das „Totgewordensein Gottes in der Zeit" 82 . In dieser spezifischen Form des Atheismus sucht Welte nach einem positiven Sinn, gewissermaßen nach dessen fundamentalontologischer Transparenz für positive Grundaussagen über den Menschen in seinem Geschaffenund Begnadetsein durch Gott. Zu diesem Zweck stellt sich Welte resolut auf den Boden der Definition des Daseins, die Heidegger in „Sein und Zeit" formuliert 83 , und von dessen Verständnis des Willens zur Macht. „Daseinswille", von dort her gedeutet, erscheint dann nicht nur als „Wurzel" des Gottestodes als der radikalen Konsequenz neuzeitlichen Autonomiedenkens, sondern auch als eine schlechthin positive Gewilltheit. Daseinswille ist Seinsbejahung des Menschen, der freilich vom genannten Ansatz her fraglos und ohne Blick für die von Nietzsche gedachte Destruktion als Individuum verstanden wird. In der Absage an Gott, so sieht es Welte, wird etwas unbedingt Positives gewollt, und dieses Positive ist nichts anderes als der „Gott" im Menschen. Hier wäre dann allerdings, das Nietzsche-Verständnis betreffend, einiges K r i tische anzumerken. Nicht allein ist in der Auslegung des Willens zur Macht und des Dionysischen das gewollte Zugleich von Negation und A f f i r m a t i o n , Wille zum Nichts und Wille zum Leben, ganz zum „Positiven" hin verschoben, so daß von dort her recht massiv eine „religiöse" Deutung um sich greift 8 4 . V o r allem auch w i r d die hölderlinsche Rede v o m „ G o t t " im Menschen in theologischer Eintragung als Reflex der Gottesebenbildlichkeit des Menschen interpretiert. Welte erkennt nicht, daß jener „ G o t t im Menschen" eine Seinsverfassung bezeichnen könnte, die das personale Einzelsein des Menschen destruiert, daß also hier nach Nietzsches Willen nicht ein
80 81 82 83
84
Welte, a.a.O. S. 12. Welte, a.a.O. S. 17. A.a.O. Martin Heidegger: Sein und Zeit. 9. Aufl. Tübingen 1960. S. 42: „Das Seiende, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, verhält sich zu seinem Sein als seiner eigensten Möglichkeit." - Dazu Wehe, a.a.O. S. 25ff. Vgl. Welte, a.a.O. S. 33ff.
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eingeschaffenes „Inbild" 8 5 sich durchsetzt, sondern im Grunde dessen präzise Negation. Darin gerade liegt die unerhörte Radikalität von Nietzsches Nicht-Wollen Gottes, daß es diesen Gott unbedingt auch in seinen „Schatten" zu negieren sucht. Selbst das sich (als Selbstmißverständnis der imago Dei) „göttlich" wollende Dasein wäre durch den impliziten Rekurs auf Kreatürlichkeit noch ein solcher Schatten. Die letzte Konsequenz von Weltes Ansatz hingegen erkennt man in seiner Deutung des Ubermenschen: auch dies ein Begriff der Seinsbejahung, die hier eine „Vollendung der menschlichen Verhältnisse" 86 und jenes Eintreten des Menschen in die Fülle seiner Vollendung entwirft, die nach Welte nur von Gott gegeben werden kann: „Das reine Übermenschliche wird dann verständlich als die reine Gnade . . ." 8 7 . In dieser Auslegung des „Über" auf Transzendenz hin steckt eine Kritik an Nietzsches „Worten der Gewaltsamkeit" über das, „was seinem Wesen nach keine Gewalt duldet" 88 . Das soll sagen: Welte unterstellt Nietzsche die Absicht, im Ubermenschen die Vollendung des Menschen als reines, Mensch und Gott einendes Geschenk zu denken — eine Intention, die den Übermenschen (wie es in christlicher Interpretation bis auf den heutigen Tag immer wieder geschieht) ganz „natürlich" an die Seite Jesu von Nazareth stellt. Damit eliminiert er gerade den charakteristischen Grundzug der totalen Selbstmächtigkeit, welche in ihrer Fülle als („zerstörender") Blitz aus der Wolke Mensch (!) bricht, und versteht ihn sozusagen als Trübung der Idee. Mit anderen Worten ausgedrückt, auch wohl in klarerer Gedankenführung, erkennt man hier in der Methode die Ubereinstimmung z . B . mit H a n s Urs von Balthasar und somit einen charakteristisch katholischen Anspruch auf den überlegenen Deutungshorizont. Was bei Nietzsche noch sich verwirrt und trübe ausnimmt, das soll innerhalb dieses Horizonts „in seiner Reinheit und inneren K o n s e q u e n z " 8 9 wahrgenommen werden können. „ E s ist angesichts des großen Gedankens Nietzsches (sc. vom Ubermenschen) die Pflicht der Mitdenkenden, in dem nicht zu Ende geformten Körper dieses Gedankens die Unentschiedenheit zu klären und von dem höchsten Bezüge alle Gestalten des schaffenden Verfügens fern zu halten als etwas, was immer nur ein allzu Menschliches ergäbe, [. . .] niemals aber die reine H ö h e der segnenden Vollendung, um die es Nietzsche im Grunde g e h t . " 9 0 Man steht also hier vor einer F o r m der Rezeption, die Nietzsche positiv würdigen will und sein Denken behandelt wie ein Unvollkommenes, das sinnvoller Weise durch die Klärung im theologischen Horizont zu dem „ i m G r u n d e " Gemeinten hingeführt werden soll. „Reinigung und Scheidung" sind die Voraussetzung dafür, daß „ d a s Christliche" an Nietzsches Denken herausgearbeitet werden kann 9 1 . Mitdenken wird so freilich doch zum Umdenken, ehe noch das 85 86 87 88 89 90 91
Welte, a. a. O. S. 36. Welte, a.a.O. S. 61. A.a.O. A.a.O. S. 60. A.a.O. A.a.O. Vgl. a.a.O. S. 60f.
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Verstehen auf einen Punkt gebracht ist, von dem aus die Theologie sich mit Gedanken konfrontiert sähe, die für die Einordnung in christliche Horizonte deren eigenes Überdenken voraussetzen.
III. Überlegungen zur Rezeption und Kritik im Bereich der evangelischen Theologie Gilt von der Provinz der katholischen Theologie in Mitteleuropa die — zumindest für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zutreffende — Feststellung, daß sie sich, eingebunden in eine abgeschlossene Kirchengemeinschaft und das religiöse, soziale und kulturelle Phänomen des zu sich selbst entschlossenen Katholizismus, nolens volens in einer historisch zu begreifenden Isolierung verwahrt, so repräsentiert ihr gegenüber in betontem Kontrast die evangelische Theologie die andere Form der Defensive: in voller öffentlich-akademischer Geltung. Vom eigenen Selbstbewußtsein her, latente Bedrohung freilich ahnend, steht sie auf der Höhe der Zeit, zugleich diese, als historische Konsequenz der Reformation, mit auf die eigene Verantwortung nehmend.
1. Adolf von Harnack Daß sich Overbecks heftigste Polemik gegen Adolf von Harnack richtet, ist kein Zufall. Er betrachtete ihn als die zeitgerechte Inkorporierung eines protestantisch-liberalen Kulturpathos, dem er — mit Nietzsche diesen Verdacht schon in den 70er Jahren teilend — gerade in dessen enger Verflochtenheit mit der politischen Reichsideologie die Diagnose stellt. Man wird nicht sagen können, daß die Biographie Harnacks 92 bis zum Jahr 1918 diese Zuordnung widerlegt. Mag es gewiß in Overbecks Notizen nicht „gerecht" zugehen 93 , er wird sachlich hier zu Recht den Antipoden ausgemacht haben 94 . Dessen Werk und öffentliche Geltung mußten dann, wenn man von der Prämisse des finis Christianismi et theologiae ausgeht, geradezu dem Verdikt der Scheinblüte und der kaschierten Hohlheit anheimfallen. Mit dem rückwirkenden Effekt, daß ein solcher „umwertender" Verdacht Overbeck selbst — nach Perspektive und Publikationsform seiner Schriften, angefangen mit dem 92
93
94
Agnes von Zahn-Hamack: Adolf von Harnack. Berlin 1936. Dort bes. S. 294—355, sodann S. 443 ff. Vgl. Troeltschs Rezension der von C. A. Bernoulli edierten Nachlaß-Kompilation: „Christentum und Kultur" (Basel 1919) in: H Z 26 (1920) S. 279ff. Die verschiedenen „Schul"-Orientierungen, denen Overbeck (F. Chr. Baur) und Harnack (A. Ritsehl) sich verbunden wußten, sind eher Symptom als Ursache des Gegensatzes.
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„ S c h r i f t c h e n v o n 1 8 7 3 " — in e i n e P o s i t i o n d e r A b s e i t i g k e i t v e r s e t z t , d e r e n k u r z w ä h r e n d e A u f h e b u n g m i t d e m E n d e d e s e r s t e n W e l t k r i e g e s er n i c h t m e h r erlebte, die i h m v o n da an aber einen ehrenvollen R a n d p l a t z sichert95. F ü r den G a n g der evangelischen Theologiegeschichte bleibt O v e r b e c k (abgesehen v o m Intermezzo der Barth'schen Ernennung z u m Purgatorium und Repräsentanten „ u n e r l e d i g t e r A n f r a g e n " ) eine „ S i n g u l a r i t ä t " ( T r o e l t s c h ) u n d a u c h als s o l c h e im Schatten Nietzsches. D i e meisten Versuche, jene Geschichte für das 20. Jahrhundert zu schreiben 9 6 , präsentieren eine eindrucksvolle Linie bedeutender Professoren; auch der Pfarrer aus Safenwil konnte dem akademischen Sog bekanntlich (weil er wirken wollte) nicht entgehen. Gilt nun die Universität vornehmlith als der O r t , an dem die „ M o d e r n i t ä t " und wissenschaftliche Zeitgenossenschaft des Christentums auch als Grundlagenfrage und Methodenstreit der Theologie zur Debatte stehen, so generalisiert sich das Problem für das 19. und 20. Jahrhundert unter dem Stichwort des Verhältnisses zur „ K u l t u r " . „ K u l t u r " : teils skeptisch betrachtet (aber ganz radikale Skepsis findet man auch bei Overbeck nicht), teils als Q u e l l e von Hochgefühl. „ K u l t u r " : in wesentlichen Voraussetzungen der nicht in Frage gestellte Inbegriff eines modernen Selbstbewußtseins und darum offen auch für nicht bedachte Entwicklung und unkontrollierten Gebrauch. Overbeck und Harnack demonstrieren auf der einen Seite einen fundamentalen K o n sens ( z . B . in ihrem Verständnis der [speziell historischen] Theologie als Wissenschaft), auf der anderen Seite einen tiefgreifenden Gegensatz in den leitenden Absichten. F ü r Harnack — und darin folgt ihm die lange Reihe der Theologen des 20. Jahrhunderts — gilt der Imperativ, daß Kultur und Christentum keinen ausschließenden Gegensatz darbieten können und dürfen 9 7 , sie sind in vor allem historischer Erkenntnis zusammen zu denken, und dies gewiß nicht im Sinne einer bloßen A k k o m o d i e r u n g und rein als Kapitulation des Christentums. Daß die versuchte Synthese am Ende gerade darauf doch hinauslaufen könnte, das bleibt jene begleitende Frage, die Overbeck für sich längst und von vornherein — und den Legitimationsmöglichkeiten in der Kirchengeschichte nachspürend — in bejahendem Sinn beantwortet hatte. Die
Folge
des
genannten
Gegensatzes
waren
wohl
die
bedeutende
F r e m d h e i t u n d D i s t a n z , mit der H a r n a c k die Kritik aus B a s e l 9 8
aufnahm.
B e s o n d e r s aufschlußreich f ü r seine Perspektive, die O v e r b e c k u n d N i e t z s c h e wohl
95
96
97
98
zusammenstellt,
aber
Nietzsche
als d e n u m
die
Jahrhundertwende
Zur frühen Diskussion darüber, ob die Overbeck-Rezeption K. Barths ernsthaft genannt werden könne, vgl. Hans Schindler: Barth und Overbeck. Gotha 1936 (Reprint: Darmstadt 1974. Reihe Libelli 335.), bes. S. 116f. Die zusammenfassende theologiegeschichtliche Forschung kommt auch hier erst langsam in Gang. Erfolgreich popularisierend: Heinz Zähmt, Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert. München 1966. — Als Sammelwerk: Martin Greschat (Hrsg.), Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. 2 Bde. Stuttgart (u.a.) 1978. (Urban-Taschenbücher. 284 u. 285.) Im Sinn der Ablehnung einer doppelten Wahrheit im Grunde eine (allerdings historisch, kirchengeschichtlich und theologisch vielfach und geradezu gegensätzlich variierte) fundamentale christliche Uberzeugung. Vgl. Agnes v. Zahn-Harnack, a . a . O . S. 87.
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W i r k s a m e n bedenkt, ist H a r n a c k s sog. „Säkularschrift" über „ D a s W e s e n des Christentums'. Dort ermöglicht ihm seine tragende Uberzeugung von der „religiösen", geschichtswissenschaftlich und systematisch belegbaren Superiorität und der kulturellen Vitalität, ja Zukünftigkeit des Christentums, in dieser Vorlesung den Namen Nietzsche anzuführen und in einigen kritischen Wendungen explizit oder implizit sich auf ihn zu beziehen. So erwähnt Harnack gleich in der ersten Vorlesung, es seien „jüngst [. . .] sogar Nietzsches Ideen in ihrer besonderen Verwandtschaft mit dem Evangelium vorgeführt w o r d e n " 1 0 0 und vielleicht — ein kritischer Seitenhieb — lasse sich „selbst darüber Beachtenswerteres sagen als über den Zusammenhang so mancher t h e o logischen' und philosophischen' Spekulation mit der Predigt Christi" 1 0 1 . Man darf in dieser knappen Bemerkung angedeutet finden, daß Harnack manche kritische Wendung Overbecks, die zeitgenössische Theologie betreffend, keineswegs fremd blieb 1 0 2 , — nur eben unter ganz anderen, nämlich positiven Vorzeichen: In der vierten Vorlesung verteidigt Harnack gewiß nicht ohne den Gedanken an Nietzsche Jesu Geltung vor dem Postulat der historischen Größe: „Ich habe jüngst das Wort gelesen, der Wert des wahrhaft großen Mannes bestehe darin, daß er den Wert der ganzen Menschheit steigere." 1 0 3 Harnack pflichtet diesem „ W o r t " bei: „In der Tat, das ist die höchste Bedeutung großer Männer, sie haben den Wert der Menschheit — jener Menschheit, die aus dem dumpfen Grunde der Natur aufgestiegen ist — gesteigert, d. h. fortschreitend in Kraft gesetzt. Aber erst durch Jesus Christus ist der W e r t 1 0 4 jeder einzelnen Menschenseele in die Erscheinung getreten, und das kann niemand mehr ungeschehen m a c h e n . " 1 0 5 Harnacks Zustimmung präzisiert jenes bürgerliche Credo in die Richtung des für ihn grundlegenden Gedankens einer „aufwärts sich bewegenden Entwicklung" (176), in der die „großen Männer" bewegende Kulminationspunkte darstellen können 1 0 6 . In welchem Sinne in ihnen — und in welcher Form auch immer — aber das Normative, das möglicherweise nicht-revidierbar Gültige zur Erscheinung kommt, dieser Frage nach dem „Absoluten" in der Geschichte hat sich Ernst Troeltsch als Systematiker anders als der Historiker Harnack gestellt. Sofern letzterer als Historiker Nietzsches 2. Unzeitgemäße Betrachtung zuvor in mehr als nur „gebildeter Lektüre" zur Kenntnis genommen hatte 1 0 7 , mußte ihm dort die verschärfte, in der Erschienen im Jahr 1900, doch wohl auch im Blick auf Feuerbachs gleichnamige Schrift von 1841 so betitelt. Hier wird nach folgender Ausgabe zitiert: Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums. Gütersloh 1977. (Gütersloher Taschenbücher Siebenstern. 227.) 1 0 0 Harnack, a. a. O. S. 14. 1 0 1 A.a.O. 102 Vgl. Agnes v. Zahn-Harnack, a.a.O. S. 90f.: dort ist ein Brief zitiert, in dem Harnack bestimmten Aspekten von Overbecks Theologie zustimmt. 1 0 3 Harnack, Das Wesen des Christentums, S. 49. 104 Zu denken ist: der unendliche Wert jeder einzelnen Menschenseele. Das ist eine der Grundthesen Harnacks in seinem Buch. 1 0 5 A. a. O. S. 49. — Ist die Schlußwendung auch auf Nietzsche gemünzt?, auf Texte wie Morgenröte 501 und viele andere? 1 0 6 Er verharrt aber auch in der ungenauen, reduzierenden Argumentationsweise, die dem Historiker allein zugänglich sein mag: denn wer sollte Geschehenes „ungeschehen" machen wollen? Darauf zielt Nietzsches Polemik im Grunde nicht. 1 0 7 Daß Harnack Nietzsches Schrift gekannt hat, belegt zum Beispiel der Schluß seines Vortrags aus dem Jahr 1920 (!), der den Titel trägt: „Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten?" (A. v. Harnack: Erforschtes und Erlebtes. Gießen 1923. 99
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Konsequenz den Entwicklungsgedanken aufsprengende Form jenes Glaubenssatzes: daß nämlich „das Ziel der Menschheit" nicht am Ende liegen könne, sondern „nur in ihren höchsten Exemplaren" (KSA 1, 317), gewiß in hohem Maße konträr erscheinen. Den Nachweis, daß an der angezogenen Stelle der Gedanke an Nietzsche im Hintergrund steht 1 0 8 , liefert Harnack dann im übernächsten Satz, wo er sagt, der von Jesus gepredigten „höchsten Wertschätzung" des Einzelmenschen liege eine „Umwertung der Werte" zu Grunde. Der ungenau von Nietzsche genommene Begriff wird zur Bezeichnung einer „absoluten" Aufgipfelung des religiösen Personalismus gebraucht, der das Christentum konsequent als die Religion schlechthin bewerten heißt. Aber auch für Harnack ergibt sich hier die Nötigung zur Entscheidung, nicht ein gewissermaßen historiographischer Beweis: „Entweder ist das [sc. daß „eure Haare auf dem Haupt gezählet" sind, als Ausdruck eines absolut „aufwertenden" Erkanntseins durch Gott] eine sinnlose Rede, oder die Religion ist hier zu Ende geführt" 1 0 9 ; — „ E n d e " begriffen als Vollendung und Eintritt in eine normativ wirksame Realisation. Eben an dieser „axiomatischen Entscheidung" (Troeltsch) manifestiert sich der unüberbrückbare Gegensatz zu Overbecks Kritik und erst recht zu Nietzsches Angriff auf das Christentum. So fragmentarisch diese H i n w e i s e notwendig bleiben müssen, sie zeigen aber d o c h H a r n a c k als interessantes E x e m p e l für i m m e r
wiederkehrende
grundsätzlichere Ü b e r l e g u n g e n z u r Wirkungsgeschichte N i e t z s c h e s . G e r a d e seine spezielle F o r m der „ M o d e r n i t ä t " nämlich, die ihm innerkirchlich W i d e r spruch genug eingetragen hat, ist es, die H a r n a c k N i e t z s c h e gegenüber resistent m a c h t . Seine Sicht der Geschichte als einer keineswegs
simplifizier-
baren E n t w i c k l u n g , seine prinzipielle positive Einschätzung der Kultur und des humanen Sinnes v o n Wissenschaft und Vernunfterkenntnis, sein o p t i m i -
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S. 171-195. [Reden und Aufsätze NF. Bd. 4.]) Harnack setzt sich dort mit dem Einwand auseinander, die „Beschäftigung mit der Geschichte" lähme „das frische Handeln und Leben" (S. 194), wie dies viele „mit Nietzsche" (a.a.O.) behaupten. Diesem Einwand hält Harnack „die Geschichte" als bewegende Macht entgegen und gibt die für ihn charakteristische Antwort: „Lähmend wirkt die Geschichte nur dann, wenn man ihren tiefsten Inhalt nicht auf sich wirken läßt. Dieser ist [. . .] in der aufwärtstrebenden Richtung, in der Kraftentwicklung, in dem Streben nach Einheit und in ihren großen und guten [!] Personen gegeben. Diese Mächte aber haben das eingeborene Vermögen, uns in sie hineinzuziehen und mit Leben zu erfüllen." (S. 195) Geschichte belehrt erbaulich über die Verantwortlichkeit des Menschen für den „wichtigsten Teil unseres Schicksals", und mit einem den Vortrag beschließenden Imperativ münzt Harnack eine den zuhörenden Studenten geläufige Parole Nietzsches in seinem Sinne um: „Bekennt euch also zum amor fati d. h. nehmt das Geschick hochgemutet hin und schafft es um!" (a.a.O. S. 195) — Hernn Professor Montinari danke ich für den Hinweis auf einen Brief Overbecks an Nietzsche vom 13. März 1876 (zitiert KGW IV 4, 20; vgl. auch: Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Franz Overbeck. Hrsg. von R. Oehler und C. A. Bernouille. Leipzig 1916, S. 41 f.), der Harnacks Lektüre der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung bereits für seine frühe Dozentenzeit aufs Schönste bestätigt. Das Niveau selbst jener prompten Kenntnisnahme einer Neuerscheinung wird man keinesfalls unterschätzen dürfen. Es gibt noch andere Passagen, die von fern an Nietzsche erinnern: ob S. 61 zumindest Jesu „blöder Blick" vom Abschnitt 29 des „Antichrist" mit herrühren könnte? Und S. 75 zitiert Harnack eine Partei, die sagt: „Wir haben es immer gewußt, das Evangelium ist nicht für die gesunden und starken Menschen, es ist für die Blessierten." A. Harnack, Wesen des Christentums, S. 50.
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stischer christlicher Personalismus auf der Grundlage eines persönlichen, nicht diskutablen Gottesglaubens formieren eine Position, über deren Recht hier wie anderswo schlechterdings nicht zu richten ist. Die Respektabilität einer geistigen Position (deren wissenschaftliche Bedeutung nicht in Zweifel zu ziehen ist) bemißt sich ohnehin nicht ohne weiteres daran, in welchem Maße sie Nietzsches oder Overbecks Einwände zur Kenntnis genommen hat, so sehr man umgekehrt die aufschließende Bedeutung solcher Konfrontation betonen kann und muß. Alles Wertende — etwa mit dem Gegensatz von redlich und unredlich — ist in diesem Bereich als Kompetenzüberschreitung völlig hintan zu halten. Erst dann kann man feststellen, daß jede geschlossene Werk- und Lebensleistung, wie Harnack sie als bürgerlicher Gelehrter verkörpert, natürlich auch bei aller „universalen" Gebildetheit eine recht feste Geschlossenheit des Horizonts voraussetzt. Insofern eignet Harnack selbst (wie auch anderen bedeutenden Theologen seiner Zeit) etwas von jenem überzeugungskräftigen „auf dem Plan sein", das Karl Barth wohl zu Recht — aber unbeschadet aller sinnvollen und notwendigen wissenschaftstheoretischen Debatten — als die beste Legitimierung der Theologie im Raum der Wissenschaften angesehen hat.
2. Erste Interpreten In einer Vorlesung Dietrich Bonhoeffers, gehalten im Wintersemester 1931/32 unter dem Titel „Die Geschichte der systematischen Theologie des 20. Jahrhunderts" 1 1 0 findet man neben anderen charakteristischen und hoch interessanten Ausführungen zur Situation der Theologie und der christlichen Kirchen auch mehrfach Bemerkungen zur theologischen Nietzsche-Rezeption. Eine dieser Stellen, bezogen auf das Problem der Ethik und der von Overbeck angeprangerten „Ehe von Christentum und Kultur" 1 1 1 , kann unsere Überlegungen weiterführen. Bonhoeffer stellt fest, die (evangelische) Theologie habe auf zwei verschiedenen, etwas schematisierten Wegen versucht, der Attacke Overbecks und Nietzsches zu entgegnen: „1. Man negierte schroff das Recht ihrer Thesen. 2. Man versuchte sie ernst zu nehmen, indem man vieles von dem, was sie sagten, auf einer Ebene mit den Aussagen des Neuen Testaments sah. Zum Beispiel suchte man Nietzsches „Ubermenschen" mit dem „neuen Menschen" des Neuen Testaments zu identifizieren (Friedrich Rittelmeyer). Jedenfalls will man so oder so nicht wahrhaben, daß das
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Dietrich Bonhoeffer: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Eberhard Bethge. Band 5. München 1972. Bonhoeffer, a.a.O. S. 210.
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Christentum kulturfeindlich sei. Die Selbstverständlichkeit der Synthese von Christentum und Kultur bleibt auch nach diesem Angriff frappierend." 1 1 2 Für den Namen Rittelmeyer könnte leicht manch anderer genannt werden. Die Verteidigungslinie erscheint in Bonhoeffers Referat recht charakteristisch bestimmt durch die zeitgemäße Prämisse der prinzipiellen Kulturverbundenheit des Christentums. Eine Vorstellung, die Bonhoeffer in der gleichen Vorlesung — zumal in der Form einer die Theologie regierenden „Frage nach dem Verhältnis von Religion und Kultur" — geradezu „verhängnisvoll" genannt hat 1 1 3 . Die Apostrophierung als „verhängnisvoll" resultiert natürlich bei Bonhoeffer aus einer positiven Bewertung der Barth'schen Wende und artikuliert das Bedenken, daß die Positionsbestimmung des Christentums angesichts der Moderne nicht in apologetischer Defensive oder Offensive gelingen könne, sondern nur in einer über beide hinausweisenden theologischen und christologischen Zentrierung 114 . Die
anfängliche
theologische
Nietzsche-Rezeption
hingegen
bewegt
sich vor jener Wende, für die zweifellos der Weltkrieg eine zumindest katalysatorische Funktion besitzt 1 1 5 . Der Erforschung der Wirkungsgeschichte Nietzsches in der evangelischen Theologie öffnet sich hier allererst ein weites Feld. Auf ihm gibt es gewiß manche Parallelen zu dem, was schon im katholischen Bereich angedeutet wurde: die Grundschemata des Verständnisses, zum Teil klischeehaft und in die F o r m von Streitschriften gebracht, sind so vielgestaltig nicht. Eine Eigenheit mag man im entschiedeneren Individualismus der Stellungnahmen sehen. Schroffe und ärgerliche Ablehnung findet der protestantische Pfarrerssohn Nietzsche besonders
dann,
wenn er auf seine „blasphemische" 1 1 6 , psychologisierend-parodistische Weise „biblisch" argumentiert; ebenso in seiner antipaulinischen Polemik (anders hingegen reagiert Karl Barth, der gerade hier im Kontrast eine „Entdeckung" Nietzsches konstatiert) und bei den provokanten Invektiven gegen L u t h e r 1 1 7 . Das „Ernstnehmen" andererseits kann in charakteristischer Vorneigung zu Sündenbekenntnissen auftreten oder sich im Zwiespalt von Anziehung und Abstoßung dergestalt bewegen, daß die Diagnose mit einigen Spielarten auf ein fehlgegangenes, gewissermaßen unnötig verunglücktes Christsein Nietzsches lautet. „Hätte der Verfasser des Zarathustra erkannt," so schreibt im Jahr 1898 der Autor Hans Gallwitz, „wie die tiefsten, reinsten und kräftigsten Stimmungen seiner Seele nicht originale Gewächse seines Geistes sind, sondern bei Jesus den Untergrund seines Denkens und 112 113 114 115 116
117
A.a.O. S. 211. A.a.O. S. 216. Vgl. a.a.O. S. 216ff. Vgl. Bonhoeffer, a. a. O. S. 215f. Es gehört eine bestimmte gesellschaftliche Situation dazu, in Nietzsches Christentumskritik „Blasphemie" zu erkennen. Dazu schon eine Anmerkung in Harnacks „Lehrbuch der Dogmengeschichte", Band 3, Tübingen 41910. S. 691: „Nietzsche, der sich zeitlebens an der hoffnungslosen Synthese des Cynikers und des Renaissancemenschen abgearbeitet hat, um der christlichen Religion zu entfliehen, stand Luther mit einem hilflosen Ingrimm gegenüber."
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die treibende Kraft seines Lebens und Sterbens gebildet haben, er würde statt zum Antichristen zu werden, sich als seinen Jünger bekannt haben, — edel genug war er dazu — und würde sich von ihm haben hinführen lassen zu dem Gott, welcher dem Menschen einen geistbeseelten Leib gegeben hat und in dessen Entfaltung und Heiligung sein höchstes Werk sieht." 1 1 8 In diesem recht typischen Zeugnis, das für viele ähnliche stehen mag, verbindet sich die Neigung zur Okkupation (durch Betonung der Nicht-Originalität wird Nietzsche in einen — im Sinne des Autors — ehrenvollen Vergleich mit Jesus von Nazareth gebracht) mit der Kritik an Nietzsches Fehlgreifen. Auf der einen Seite findet man die charakteristische Hochschätzung: Nietzsche wäre „edel genug" gewesen, einen Mißgriff einzugestehen. Auf der anderen Seite die Mißbilligung eines Erkenntnisdefizits, das bei Gallwitz auf Nietzsches „Voreingenommenheit" zurückgeführt wird 1 1 9 . Geradezu „tragische Schuld" liegt für den Autor darin, daß Nietzsche als „scharfsinniger, kritischer Philologe [. . .] den geschichtlichen Lebensmächten, welche unsere Zeitbildung geschaffen haben, nicht unbefangen und liebevoll genug entgegengetreten" ist 120 . Fungiert aber das Christentum als mitverantwortliche „Bildungsmacht", dann drängt dieser Titel zu umfassenderer Kritik insofern, als die „Christlichkeit" jener „Zeitbildung" den Autor mehr als fragwürdig dünkt. Denn: „Die philosophische wie die wissenschaftliche Arbeit der Deutschen der Gegenwart steht in einem geheimen Gegensatz zu Gott und Gottes Weltwirksamkeit." 121 Wie ein „Riß" 1 2 2 geht in vielfältigen Formen der Atheismus „durch die Bildung des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts" 123 . Insofern „trägt" und „büßt" Nietzsche eine „Schuld, welche die deutsche Bildung in Jahrhunderten aufgesammelt hat" 1 2 4 . Weitet sich der Blick über die nationale Grenze hinaus, dann kommt Gallwitz zu dem Fazit: „Nicht er [sc. Nietzsche] hat den Zwiespalt, der in seinen Schriften offenbar ist, in die alte europäische Kultur unserer Zeit hineingetragen, sondern er ist selbst dessen Opfer." 1 2 5
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Hans Gallwitz: Friedrich Nietzsche. Ein Lebensbild. Dresden, Leipzig 1898. S. 205. Schon 1896 schreibt Gallwitz in gleicher Satzkonstruktion: „Hätte Nietzsche mit klarem und unparteiischem Blick unter den großen Persönlichkeiten auf Erden Umschau gehalten, er würde eine gefunden haben, welcher er mit jenen stolzen Worten [gemeint ist die Rede vom „Genie des Herzens", Jenseits von Gut und Böse Nr. 295] ein Ehrendenkmal hätte setzen müssen. Seine Worte sind die treffendste Charakteristik, welche eine menschliche Feder von dem Wesen und Wirken des Menschensohnes Jesus Christus geben könnte." Hans Gallwitz-. Friedrich Nietzsche als Erzieher zum Christentum, in: Preußische Jahrbücher 83 (1896) S. 339. H. Gallwitz: Friedrich Nietzsche, S. 262. A . a . O . S. 271. A . a . O . S. 267 und 271. A . a . O . S. 267. S. 267. Mit etwas anderen Worten ausgedrückt, findet man eine vergleichbare Kritik am Ende von K. Barths Nietzsche-Exkurs (Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III, 2. Teil. ZollikonZürich 1948. S. 276—290.), wo er das Festhalten der Christen am Christusglauben und der von dort aus verstandenen Humanität in einen „selbstverständlichen Gegensatz" nicht nur zu Nietzsches Verwerfung des Christentums stellt, sondern auch „zu der ganzen Tradition, für die er auf letzten, verlorenem Posten gefochten hat." (S. 290) Die „Verlorenheit" des Postens beruht natürlich auf einer christlichen Einschätzung. Und es ist das Erfrischende an K. Barth, daß er sich um klare Antithesen nicht diplomatisch drückt. A . a . O . S. 273. Dort heißt es weiter: „Der begabteste Sohn unserer Zeit, zugleich ein reiner, starker Charakter, ist von dem Abgrund, der in unserer Bildung zwischen dem Gesetz
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Mit diesem frühen Versuch (was immer man von der These selbst halten mag), in Nietzsche kritisch die Signatur der Zeit zu erkennen, greift der biedere Gallwitz sachlich im Grunde weiter als der wortgewandte Julius Kaftan, der in zwei Publikationen nichts anderes präsentiert als einen in der Kritik freilich nicht üblen Abgesang auf Nietzsches Philosophie. Curt Paul Janz hat im zweiten Band seiner Nietzsche-Biographie unter dem Titel „Theologengespräche" 1 2 6 die Erinnerungen Kaftans ausgewertet und seine allzu „theologische" 1 2 7 These aus einem apologetisch-erbaulichen Vortrag für den Evangelischen Bund zitiert, derzufolge Nietzsche sozusagen prompt und konsequent an der Gottlosigkeit zugrundegegangen und dem Wahnsinn anheimgefallen sei 1 2 8 . In der späteren, auch als Buch publizierten „Widerlegung" Nietzsches unter dem Titel „ A u s der Werkstatt des Übermenschen" 1 2 9 argumentiert Kaftan trotz des Pamphletstils differenzierter und aus einer, wie Janz zu Recht hervorhebt, „erstaunlich vollständigen Kenntnis von Nietzsches Schriften" 1 3 0 . Spürbarer Respekt vor der Person verbindet sich mit dem Versuch, Nietzsches Philosophie von vornherein als zukunftsloses, in sich gebrochenes Zeitprodukt zu erweisen und sie gerade so mit der dem Autor nicht zweifelhaften Lebenskraft 1 3 1 des Christentums, speziell in dessen „protestantischer Ausprägung" als seiner höchsten Erscheinungsform zu konfrontieren. Dabei mag es vielleicht auch für den Nutzen der Lektüre älterer Nietzsche-Literatur sprechen, wenn man konstatiert, daß Kaftan in seiner philosophischen Kritik recht hellsichtig auf den Gegensatz von Vielheit und Einheit in der Wesens- und Seinscharakteristik der „wirklichen W e l t " 1 3 2 stößt. Also auf die aktuell erst recht diskutierte Problematik der Rede von der einen Kraft bzw. dem Willen zur Macht einerseits und den pluralischen Kraftzentren bzw. den „Willenspunktationen" 1 3 3 andererseits. Auf der Suche nach dem vernichtenden Selbst-Widerspruch läßt Kaftan Nietzsches Philosophie an dieser sachlich markanten Stelle „ h o f f n u n g s l o s " auseinanderbrechen 1 3 4 . Solcher Spürsinn stellt sich freilich sogleich mit der Behauptung in ein schiefes Licht, daß mit dem Aufweis des Gegensatzes die Widerlegung Nietzsches für gelungen, das
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menschlicher Arbeit und dem Gesetz des schöpferischen Wirkens Gottes gähnt, verschlungen worden." Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie. Band 2. München, Wien 1978. S. 6 1 7 - 6 2 2 . D a s eben ist die Frage: ob Kaftan mit einer solchen Deutung „der echte T h e o l o g e " sei, wie J a n z S. 622 meint. Julius Kaftan-. D a s Christentum und Nietzsches Herrenmoral. 2. Aufl. Berlin 1897. S. lOf. Aufschlußreiche Hinweise zur kirchlichen Rolle Kaftans in jenen Jahren findet man in der Harnack-Biographie von Agnes Zahn-Harnack. Heilbronn 1906. — Im Vorwort weist Kaftan übrigens die Behauptung Overbecks zurück, er (Kaftan) habe Nietzsche für „einen der besten Erzieher zur Theologie" erklärt. (S. 3) Janz, a . a . O . S. 619. Vgl. Kaftan, a . a . O . S. 80. A . a . O . S. 31. A . a . O . S. 56. - Vgl. K S A 13, S. 36f. (11 [73]) So a . a . O . besonders S. 5 6 f f . ; vgl. auch S. 31f., 37, 39f., 42.
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„letzte W o r t " für gesprochen erklärt wird. D i e Frage, o b jener Gegensatz nicht das Indiz einer (auch theologisch) ungewohnten D e n k - A u f g a b e darstellt, welche jenen im Blick auf seine Notwendigkeit und Sachbegründung aus gänzlich neuer „anthropologischer" Perspektive jenseits des T o d e s Gottes zu verstehen hätte, — diese Frage kann ja nicht eilfertig als untheologisch „ a b g e l e h n t " werden. Sie jedenfalls ist dem ganz die „ H ö h e der Z e i t " repräsentierenden Kulturoptimismus Kaftans zugleich mit jedem tieferen Einblick in die kritisch gestellte „ M o d e r n i t ä t " der von ihm gemeinten Spielart des Christentums verschlossen geblieben 1 3 5 .
Diese wenigen, exemplarisch aufgefaßten Hinweise auf anfängliche Interpretationsversuche müssen hier genügen. Immerhin dokumentieren sie bereits einige wirkungsgeschichtliche Varianten. So die mehr oder weniger klar empfundene, aber in Anerkennung oder Abwehr präsente Tendenz, in Nietzsches Person und Werk wesentliche Signaturen der Epoche (der Jahrhundertwende und Kulturkrise im ausgesprochenen Sinn) aufzuspüren: als Indikatoren der ausgehenden und im Ausgang global expandierenden bürgerlichen Moderne. In ihr und nur höchst mühsam, geradezu erzwungen, versucht da eine christliche Theologie Posten zu fassen, für die der N a m e Nietzsche als Symbol der so nicht gekannten „Antichristlichkeit" zum tief sitzenden Trauma geworden ist. Ganz im Gegensatz zu Kaftans Meinung, mit Nietzsche gehe es schon zu Ende und „das G a n z e " sei „ j a nur Blendwerk und Phantasmagorie, gar nicht der Rede w e r t " 1 3 6 , führt die Wirkungsgeschichte den Nachweis, daß der „widerlegte" Nietzsche als Vorforderer nicht nur Gottes, sondern auch der Theologie (wie es nicht anders sein kann, wenn denn Theologie bei ihrer Sache bleibt) erst am Beginn eines bis heute nicht zurückgelegten Weges steht. Aus Rinnsalen der Rezeption wächst ein ansehnliches Flüßchen, freilich nicht gewissermaßen autark, sondern in engster Verbindung mit dem ohnehin in den zwanziger und dreißiger Jahren kulminierenden „Einfluß" Nietzsches. Solchen Bewegungen gegenüber lebt bis in die Gegenwart die theologische Nietzsche-Interpretation immer auch aus zweiter Hand. Sie wird dadurch nicht unbeachtlich, zumal dann nicht, wenn ihre Erforschung mithilft, der Theologie über sich selbst ein Licht aufzustecken. So betrachtet, verdienen auch die Anfänge Erwähnung, selbst wenn sie hier eben nur genannt werden können. Schon im Jahr 1913 hatte der Autor Walter Jesinghaus in seiner Broschüre „ N i e t z s c h e und C h r i s t u s " 1 3 7 den Eindruck, es sei „unsäglich viel" über Nietzsche geschrieben worden und so auch zur Bestimmung jenes Verhältnisses, dem er selbst seine Schrift widmet. Er nennt im Vorwort neben Kaftan unter anderem die N a m e n
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Vgl. Bonhoeffer, Gesammelte Schriften 5, S. 188 f. Kaftan, a . a . O . S. 57. Walter Jesinghaus-. Nietzsche und Christus. Berlin 1913. (Wiss. Beilage z. Jahresbericht des Helmholtz-Realgymnasiums in Berlin-Schöneberg. Programm Nr. 130.). Dort S. 8.
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Ritsehl, Kalthoff, Naumann, Horneffer, Weinel und Rittelmeyer 1 3 8 . Für ihn allesamt ein Indiz, daß Nietzsche um so mehr ernstgenommen werden müsse, als „die Anhänger der neuen Lehre" 1 3 9 offenbar nicht nur einzeln, sondern in Form einer quasireligiösen Gemeinschaft aufträten. Auch dies wieder ein Hinweis auf die soziale Grundierung der Nietzsche-Rezeption, die als „Bewegung" oder Gemeinde der „Nietzscheaner" einer genaueren Untersuchung harrt und der theologischen Auseinandersetzung jener Zeit einen zusätzlich „seelsorgerischen" Impuls verleiht 140 . Freilich stehen deren Interpretationen von vornherein auf schwachen Füßen (und das gilt mutatis mutandis bis in unsere Zeit), sofern sie sich den Nachweis zutrauen, Nietzsches „ethische Ideale" deckten sich „im allgemeinen mit denjenigen Christi" — die Kongruenz, ja Identität der göttlichen und der „in der menschlichen Brust liegenden Gebote" vorausgesetzt 141 . Noch dazu verbunden mit der charakteristischen Behauptung, wer da auf der Suche nach Gott und Christus die Liebe als höchsten Wert verstehe, dem sei zugleich „das Fundament unserer Kultur" 1 4 2 aufgegangen. So leicht läßt man sich täuschen, wenn man die Täuschung wünscht 1 4 3 . Ein Jahr nach dem Erscheinen dieser Schrift stellt der Ausbruch des ersten Weltkrieges diese Kulturgläubigkeit in jene grelle Beleuchtung, die in der nachfolgenden Epoche insbesondere im deutschsprachigen Raum die „eschatologische" Stimmung herstellt für Nietzsches Einfluß in den zwanziger und dreißiger Jahren. Wieder spielen Sieg und Niederlage, deren Täuschungspotenz Nietzsche schon nach 1871 bedacht hatte, eine rezeptionslenkende Rolle: bezeichnend dafür bleibt die Kontroverse der Brüder Thomas und Heinrich Mann, in der Nietzsche auf beiden Seiten eine Rolle spielt. In welchem Sinn eine desperate oder auch enthusiastische Bereitschaft zum „Letzten" und die Bezauberung durch eine die Grenzen der Humanität sprengende „Magie des Extrems" den Boden bereiten helfen für die makabre „Konsequenz" des Nationalsozialismus, das wäre rezeptionsgeschichtlich ebenfalls noch sehr viel genauer zu untersuchen 144 . Manches theologische Schriftchen aus der hier bezeichneten Region mag in hausbackener Apologetik und in der Infizierung durch den wieder einmal zu christianisierenden Zeitengeist an verhängnisvollen Mythen und Dispositionen mitgeformt haben. Ein bemerkenswertes Exempel auf bedeutendem Niveau sei hier eigens erwähnt: der Aufsatz von Emanuel Hirsch über „Nietzsche und Luther" 1 4 5 , der über die historische Fragestellung hinaus zur grundsätzlichen Verhältnis138 Yg[
a a
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das Literaturverzeichnis S. 87f.
A . a . O . S. 9. 140 Jedenfalls begnügt sich Jesinghaus nicht mit der Auskunft Kaftans von Nietzsches „Widersprüchlichkeit". Ihr gegenüber weiß er zwei Auskünfte: einmal die Einteilung in Perioden bei Nietzsches Schaffen, dazu den Rekurs auf Nietzsches nie ganz verstehbare Genialität: „Widersprechendes aber ist eine Eigentümlichkeit des Genies" (S. 10). 1 4 1 Jesinghaus a.a.O., S. 83. 1 4 2 A . a . O . S. 84. 1 4 3 Daß diese Täuschung ein eher kollektives Phänomen ist, erkennt man daran, daß auch hier Harnack wie ein Brennglas die Strahlen sammelt: so in der 7. Vorlesung (Das Wesen des Christentums. S. 74), wo freilich sehr viel differenzierter, aber eben doch „das Reich der Liebe und des Friedens" nicht mehr als „bloße Utopie" betrachtet wird. 144 Vg] dazu Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. München 1962. 1 4 5 Emanuel Hirsch-. Nietzsche und Luther, in: Luther-Jahrbuch 2/3 (1920/21) S. 6 1 - 1 0 6 . 139
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bestimmung einer lutherischen Theologie zu Nietzsche als einem „modernen Denker" wird. Zunächst diskutiert Hirsch Nietzsches ausdrückliche Stellungnahmen zu Luther und strebt den Nachweis an, daß diese Polemik generell fehlgeht, daß ihr Sachgehalt aus trüben Quellen schöpfe, als deren trübste er die „Geschichte des deutschen Volkes" 146 ausmacht, „die der katholische Priester Janssen geschrieben hat" 1 4 7 . Diese vergleichende Schlußabrechnung (deren Details hier nicht aufgeführt werden sollen) bleibt eine durchaus erhellende Lektüre, auch wenn in Hirschs Abhandlung eine naheliegende Frage völlig abgeblendet wird: nämlich die nach der Ursache von Nietzsches Disposition zu antireformatorischer Polemik, also die Frage nach Nietzsches religiöser „Herkunft" im weiteren Sinn. Hirsch vereinfacht sich das Problem, indem er Nietzsche von dessen Studienzeit an als unwandelbaren Atheisten faßt und dem Pfarrhaus keinen Blick gönnt. Diese Aussparung einer möglichen biographischen und religionsgeschichtlichen Ableitung wird um so heftiger spürbar, als Hirsch nach vollzogener Korrektur von Nietzsches Lutherpolemik sehr viel Mühe und Intelligenz aufwendet, um in Nietzsches zentralen Gedanken die spezifisch lutherische Prägung im Positiven und Bedenklichen mit durchaus einleuchtenden Argumenten herauszuarbeiten. Solche Prägung kommt ebenso wie der „Atheismus" ja nicht von ungefähr. Manche der von Hirsch vorgeführten Elemente sind durchaus bekannt, so zum Beispiel die unverkennbare Verhärtung von Nietzsches Negation des christlichen Sünden- und Schuldbegriffs vor dem Hintergrund eines „scharf zugespitzten Pessimismus' der lutherischen Erbsündenlehre"148. Gleicherweise mögen im direkten Vergleich der Persönlichkeiten Luthers und Nietzsches in letzterem das Pathos des Protestes, der quasi-reformatorische Wahrheitsmut, die solitäre Unabhängigkeit des Geistes sowie ein rückhaltloser Einsatz als „Züge Luthers" 149 reklamiert werden. Diese Verwandtschaft ändert jedoch nichts an der Konfrontation des Atheisten Nietzsche mit dem „Frommen" 150 Luther, also an der nicht zu vermittelnden Gegensätzlichkeit der Bekenntnisse „Gott ist tot" — „Gott lebt" 1 5 1 . Hirsch berührt damit einen Antagonismus der Lebensvoraussetzungen, über deren Sinn sich zwar streiten, über deren existentiellen Vollzug sich aber nicht rechten läßt. So wenig es dem Atheisten Nietzsche beifallen könne, sich auch nur probeweise auf die Möglichkeit des Gottesglaubens einzulassen, so wenig dem Glaubenden, auch nur in irgendeinem Sinn von seinem Glauben abzusehen. Hirsch nennt es 146
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Johann Janssen: Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters. Freiburg 1878-88. Hirsch, a . a . O . S. 67. A . a . O . S. 95. (im Original gesperrt) A . a . O . S. 76. A . a . O . S. 73. Vgl. a . a . O . S. 73.
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eben darum so „schwer für einen Gottgläubigen, mit ihm [sc. Nietzsche] fertig zu werden: am entscheidenden Punkte ist gar nichts da, womit man fertig werden m ü ß t e . " 1 5 2 Entscheidung steht gegen Entscheidung: eine Trennung der Wege, die im letzten „wortlos zur Kenntnis zu nehmen" ist 1 5 3 . Nicht im Sinn abdankender Resignation, sondern aus dem Respekt vor der undelegierbaren Verantwortlichkeit jedes Menschen, zumal des denkenden. Bei Hirsch geschieht die Ablehnung Nietzsches und zugleich seine Einordnung in die von Luther in die Moderne reichende Entwicklungslinie aus der Sicht des konservativen Lutheraners. Daß diese Perspektive auch ihre Gefahren haben kann, erweist sich bemerkenswerter Weise gerade an ihrem originellsten Gedanken zur Nietzsche-Interpretation. Hirsch zieht eine deutliche Parallele zwischen der Widersprüchlichkeit des Dionysischen und Luthers paradoxem Gottesbegriff 1 5 4 . Mit der Konsequenz, daß die Absage an die Möglichkeit der „Vernunftberührung" Gottes die Distanz Gott —Mensch radikalisiert, Gott zum Nicht-Denkbaren werden läßt und nun — in der Umkehrung — dem Nicht-Denkbaren (ja potentiell: dem Irrationalen) die Möglichkeit einer göttlichen Qualifikation eröffnet 1 5 5 . Aber damit wird bei Hirsch das Dionysische, von Nietzsche mythisch-begrifflich als Gegenprinzip zu christlichem Gottesglauben gedacht, mit einem für Theologen suspekten, weil den Gegensatz verschleiernden Glanz umgeben 1 5 6 . Die sonst so geschlossene und schlüssige Position des Theologen Emanuel Hirsch zeigt an diesem Punkt eine charakteristische Einbruchstelle, die in seinem Lebensgang dann wohl nicht ohne Zusammenhang mit der Anfälligkeit für nationale RauschBewegungen geblieben sein mag.
3. Vertieftes Bedenken: Troeltsch, Tillich und Barth In ihrem Selbstbewußtsein fühlt sich die christliche Theologie des 20. Jahrhunderts oft ohne rechten Uberblick von einander widerstrebenden Impulsen vorangetrieben und gehemmt. Sie sucht einerseits die „Offensive" aufgrund der allerdings zunehmend ins Unerkennbare und fruchtlos Sub152 153 154 155
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A.a.O. A.a.O.
Vgl. a . a . O . besonders S. 84. Eine ausführliche Beschäftigung mit diesem Problem, auch auf Nietzsche bezogen, findet man bei Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Tübingen 1977. Hirsch: „Dionysos ist ein naturalistisches Nachbild des lutherischen Gottesbegriffes, das Dionysische ein naturalistisches Nachbild der lutherischen Frömmigkeit." ( a . a . O . S. 83; im Original gesperrt) — Dabei sieht Hirsch bei Nietzsche das „verzweifelte Bemühen", „die wichtigsten Elemente lutherischer Glaubensweise und Frömmigkeit vom atheistischen Naturalismus aus zurückzugewinnen." ( a . a . O . S. 85)
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jektive abgedrängten, den kirchlichen Plausibilitätsstrukturen entfremdeten Lebenserfahrung, für die in prinzipiell Zeithorizonte aufsprengender Evidenz die konkurrenzlose Positivität des im Glauben sich mitteilenden Göttlichen hervortritt. Ohne diese Erfahrung, die weder aus europäischem Kulturoptimismus noch aus einer bloßen „Sonntagskausalität" (Troeltsch) deduzierbar sein kann, müßte die Theologie sogar sich selbst, wie Karl Barth in Übertragung von 1 Kor 13, l f . formuliert hat, als „elendes Klopffechten und Strohdreschen" 157 ohne die geringste Chance eines vernünftigen Selbstbewußtseins erscheinen. Dem entgegen steht die Defensive im Bewußtsein der nichts verschonenden Bestrittenheit und historisch irreversiblen Belastetheit alles Christlichen, die zwingend jeden Christen, in spezieller Weise den dem Denken des Glaubens sich Widmenden, unter den Verdacht stellt, einen aus dem Grunde des Anachronismus lebenden betrogenen Betrüger vorzustellen. Das Un-Mögliche ist gewissermaßen der Raum geworden, in dem sich Theologie seufzend oder entschlossen bewegt. Das Denken und Dasein des Theologen selbst wird dadurch zwangsläufig so etwas wie eine Gegenprobe 158 zur sich (allzu) selbstgewiß präsentierenden Diagnose des finis Christianismi. Dieses Experiment nimmt gerade bei bedeutenden Figuren der neueren Theologiegeschichte unterschiedliche systematische Gestalt an, und zwar so, daß zu ihm an irgendeiner Stelle immer auch die Konfrontation mit Nietzsche als dem unumgänglichen Widerpart gehört. Die Aufnahme von Nietzsches Denken, dazu die Würdigung seiner wie alles „Existentielle" besonders imponierenden, Philosophieren und Leben synthetisierenden Person erscheint dabei eher als Gegenstand des systematischen als des historischen Interesses. Eine ausführlichere Untersuchung hätte hier nicht nur die expliziten Belege zu beachten, die man in größere Werke und Argumentationszusammenhänge eingefügt findet. Vielmehr wäre darüber hinaus zu bedenken, in welchem Sinn eine mehr oder weniger partielle und punktuelle Nietzsche-Rezeption einerseits und eine aus dem „Konformitätssystem des Zeitgeistes" (Plessner) andringende Nietzsche-Präsenz mehr implizit das theologische Denken formieren. So spielt Nietzsche für Theologen wie Troeltsch, Tillich, Barth und Bonhoeffer — um nur diese Namen zu nennen — eine durchaus unterschiedliche, zuweilen auch in Lebensphasen differente Rolle 1 5 9 . 157
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Karl Barth: Einführung in die evangelische Theologie. Gütersloh 2 1977. S. 154. (Gütersloher Taschenbücher Siebenstern. 191). Die Effektivität gesellschaftlicher Legitimationszwänge läßt sich an einem einfachen Beispiel deutlich machen: Nehmen wir an, ein in einer literarischen Diskussionsrunde munter mitredender Teilnehmer würde durch seltsame Verlautbarungen deutlich bekunden, daß er von den verhandelten Gegenständen nicht die geringste Kenntnis hätte, so würde man ihn zumindest einen Banausen schelten. In theologischen Diskussionen geschieht es nicht selten, daß im gleichen Fall das Etikett „kritischer Mensch" verliehen würde. Nietzsche besitzt für den Barth des Römerbriefkommentars sicher eine andere Funktion als für den Verfasser der „Kirchlichen Dogmatik".
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W e n n exemplarisch von Paul Tillich berichtet wird, er habe im Alter von 3 0 Jahren mitten im Weltkrieg ( 1 9 1 6 ) sein „Zarathustra-Erlebnis" gehabt 1 6 0 , dann wird man davon ausgehen müssen, daß er als Theologe (d. h. als erwachsener und theologisch denkender Zeitgenosse) in allen wesentlichen Entscheidungen sicher „ k o m p l e t t " war und daß die datierbar einsetzende, bewußte Nietzsche-Rezeption nur losband, was ohnehin — nicht ohne den Einfluß der aus vielen Quellen gespeisten „klimatischen" Nietzsche-Präsenz — zur Befreiung drängte 1 6 1 . Bemerkenswert als Phänomen bleibt die weitreichende, den bürgerlichen Intellektuellen insbesondere kennzeichnende Prädisposition zur ekstatischen Lektüre des Zarathustra (dazu mancher Gedichte Nietzsches, sowie überhaupt der „dichterischen" Texte). Die intensive Zelebrierung des grenzensprengenden Lebens- und Denkrauschs 1 6 2 , wie er durch Partien von Nietzsches W e r k vermittelt wurde, mag man zeitbedingt nennen 1 6 3 . A b e r gerade in dieser Funktion erscheint sie als ein Indiz, dessen Analyse manchen historischen, soziologischen, philosophischen und am E n d e auch theologischen Aufschluß geben kann. D e r „ E i n f l u ß " Nietzsches auf die dann ihrerseits einflußreiche Theologie Paul Tillichs bleibt v o m genannten Datum an gegeben, wenn auch keineswegs immer leicht zu greifen 1 6 4 . U b e r das „Behandeln" und Zitieren hinaus muß also der Stellenwert
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Wilhelm und Marion Pauck-. Paul Tillich. Sein Leben und Denken. Band 1: Leben. Stuttgart, Frankfurt/M. 1978. S. 63f. Aufschlußreich ist die Darstellung jenes Erlebnisses bei Pauck: „Die traditionelle Gottesauffassung hatte für Tillich jetzt keine Gültigkeit mehr, und er fand bei Nietzsche, was ihn endgültig von dieser Auffassung freimachte. In einem französischen Wald begann er, dreißigjährig, „Also sprach Zarathustra" zu lesen, und die ekstatische Bejahung der Existenz, die er in dieser Dichtung fand und die nach dem Krieg als Reaktion auf die Jahre des Hungers und des Todes herrschen sollte, versetzte ihn geradezu in einen Rausch. Gleich vielen anderen Soldaten, die Nietzsche lasen, fühlte sich Tillich zurückgelockt zu Leidenschaft und Leben. Insbesondere wurde er von Nietzsches Ablehnung der bürgerlichen Heuchelei angezogen. Wenn er auf Urlaub war, gab er sich intensiv den kräftigen Freuden des Lebens hin [. . .]." (ebd. S. 63f.) Rezeptionsgeschichtlich sind daran nicht allein das Datum und die Tatsache der Zarathustra-Lektüre interessant, sondern auch das ganze Szenarium: von der rauschhaften Lektüre im Wald bis zur praktischen, eros-entbindenden, von traditionellen (sc. theistischen) Gottesvorstellungen und von bürgerlicher Heuchelei befreienden Funktion der „Dichtung" Nietzsches. Diese Funktion besitzt eine subjektive Komponente, sie ist aber vor allem, wie bei Pauck betont wird, vor dem Hintergrund der — „dionysischer" Züge gleichfalls nicht entbehrenden — Kriegs- und Todeserfahrung zu sehen. Dieses Geflecht von Bezügen ist als ganzes zu sehen, wenn solche typischen (Tillich partizipiert bekanntlich nur an einer Rezeption unter dem Titel: der „Zarathustra im Tornister der Soldaten" - wie es mit dem Sachgehalt dieser Parole genauer bestellt ist, wäre erst noch zu untersuchen, so weit das überhaupt möglich erscheint) Rezeptionserfahrungen beurteilt werden sollen.
162 Yg] < j a z u v o m Verfasser einige Überlegungen zum hierher gehörenden Stichwort „Das Fest des Denkens", in: Nietzsche-Studien 4 (1975) 227—262. 163
Jürgen Habermas: „Das alles liegt hinter uns und ist fast schon unverständlich geworden. Nietzsche hat nichts Ansteckendes mehr." (in: ders., Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. Frankfurt/M. 1973. S. 239.) Bedenkt man den Wandel der Dispositionen, dann könnte — auch wenn sich gleiche Formen nicht wiederholen — diese Feststellung zu früh (1968) getroffen worden sein.
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„Tillich liest und rezipiert Ganzheiten und nicht einzelne Gedanken. Er nimmt solche ,Ganzheiten' wie z . B . Nietzsche in seine geistige Haltung auf, ohne daß Einzelheiten von Nietzsche-Kenntnissen sichtbar würden. Wenn Tillich dann später sich auf Simmel oder Burkhardt oder Nietzsche bezieht, so sind diese Bezüge gleichsam Chiffren für einen Zusammenhang mit jenem Ganzen, für das der Name steht. Dieses Ganze aber ist ein Teil von
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der Auseinandersetzung mit Nietzsches Denken durch die Berücksichtigung vieler Gesichtspunkte eingeschätzt werden. Aus der Überschau gesagt, ist die Konfrontation mit Nietzsche z.B. für einen Mann wie Dietrich Bonhoeffer nach meinem Eindruck unvergleichlich konstitutiver als etwa für Karl Barth oder sogar für Tillich, dem Nietzsche als ein Element unter vielen jene Totalität „Kultur" aufbaut, in der es dann zu leben und zu denken gilt. Andererseits denkt und schreibt Ernst Troeltsch über Nietzsche noch aus einer später so nicht mehr gegebenen zeitgenössischen Nähe, ohne doch wie Harnack die Rolle der Theologie und des Christentums als eine gesicherte oder sicherbare betrachten zu können. Jeder Uberblick ergibt daher (natürlich auch durch die begrenzte Sehkraft des Uberblickenden) eine unterschiedliche Akzentuierung je nachdem, wie expliziter Nietzsche-Bezug und implizite Nietzsche-Präsenz zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Ein bemerkenswertes Beispiel bietet sich eben bei Ernst Troeltsch, für den Nietzsche jederzeit gegenwärtig bleibt, zumal wenn es sich um seine „große H a u p t f r a g e " 1 6 5 nach der Möglichkeit und Wirklichkeitsform des Normativen und Absoluten in einer durch grenzenlosen Relativismus charakterisierten totalen Zeitgebundenheit jeder historischen Erscheinung handelt. Diese Frage, die ja als inneren Impuls diejenige nach der Möglichkeit und dem Selbstverstehen des Christentums in der Moderne in sich trägt, meint Troeltsch nicht einfach beantworten zu können. In ihm selbst genau bewußtem Gegensatz zu Overbeck und Nietzsche und in doch wohl eindringlicher Kenntnis der hier zu beobachtenden, höchst komplexen gesellschaftlichen und doch nicht nur-gesellschaftlichen Prozesse hält er ebenso einen „starken religiösen Rückschlag" 166 für denkbar: „Kann sein, kann auch nicht sein. Jedenfalls das Aussterben der Kirchen und des Christentums ist trotz aller Unchristlichkeit unserer führenden Intelligenz und vor allem der Universitätsprofessoren nichts weniger als sicher." 167 Gerade wenn man einbezieht, daß das Nicht-Aussterben noch nicht gleichbedeutend ist mit eindrucksmächtiger Lebendigkeit, dann dürfte Troeltschs These zwar weniger radikal, dafür aber historisch und gesellschaftlich realistischer als Overbecks Diagnose genannt werden. Nietzsche darüber hinaus, von Troeltsch im Jahr 1911 zusammen mit Marx und Häckel als „Führer der heutigen Bildung" apostrophiert 168 , figuriert in höchst bezeichnender Weise als Beweis für die Ambivalenz der dezidierten Religionsfeindschaft. „Nietzsche", schreibt Troeltsch, „hat viel zu tief mit dem innersten Gehalt des religiösen Problems selber gerungen, um nicht
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.ekstatischer' Einsicht und nicht zitierbare Einzelheit." (Carl-Heinz Ratschow, Paul Tillich (1886—1965), in: Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Martin Greschat. Band 2. Stuttgart (u. a): Kohlhammer 1978. S. 313. [Urban-Taschenbücher. 285.]) Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. 1. Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie. 1961 (Neudruck der Ausgabe Tübingen 1922.) S. 122 (Gesammelte Schriften. Bd. 3, 1). E. Troeltsch-. Die Kirche im Leben der Gegenwart, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Aalen (Neudruck der 2. Aufl. 1922.) 1962. S. 97. (Ges. Schriften. Bd. 2.)
167 168
A.a.O. A . a . O . : „Die drei, an Wert und Bedeutung äußerst ungleichen, Führer der heutigen Bildung, Marx, Nietzsche und Häckel, werden schwerlich dauernd die Führung behalten."
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durch seine reine und scharfe Antithese den Rück- und Umschlag in das Religiöse selbst am stärksten zu b e w i r k e n . " 1 6 9 Das ist in gültig geprägter Form die Vorstellung v o m ungewollt förderlichen Effekt der „reinen und scharfen Antithese", insofern diese eine negative Affinität dokumentiert im Kontrast zu Overbecks „Zerstörungswerk in kalter und leidenschaftsloser Abneigung" 1 7 0 .
Eine tiefere Dimension öffnet sich freilich, wenn es um die Konsequenzen der historistischen Weltsicht und Wissenschaft geht. Erst hier wird klar, welch große Bedeutung Nietzsche für den Geschichtsphilosophen Troeltsch besitzt, der nicht ansteht, „die Krisis und die Selbstbesinnung des modernen Historismus zum großen Teile" 1 7 1 von jenem herzuleiten 172 . Auf Troeltsch mag es vielleicht wie ein interessantes (jedoch ihn selbst als Akteur beanspruchendes) Schauspiel gewirkt haben, wie die mit dem Namen Nietzsche indizierte Krisis der historistischen Weltsicht die damals auf der Spitze der Moderne stolzesten Disziplinen der Theologie, nämlich die historischen, aufzustören geeignet war. Hatten diese sich in den weitläufigen Räumen einer christianisierten Geschichtsimmanenz — dabei sich über alle substantiellen Reduktionen mit dem evolutionistischen Prinzip tröstend, daß die Geschichte nachweisbar 1 7 3 auf das (europäisch-bürgerliche) Christentum als auf ihr „absolutes" Telos hinausstrebe — feierlich und häuslich etabliert, so sahen sie nun, da das Bauwerk liberaler Theologie durch mancherlei innere Beben baufällig zu werden drohte, daß darüber hinaus die Probe einer „völligen Revolution wie der Ethik so auch der Historie" 1 7 4 zu bestehen war. Den durch Nietzsche ausgelösten, die sich ungefährdet wähnende Fachwissenschaft unterminierenden Temperatursturz bringt Troeltsch konsequent in ursächlichen Zusammenhang mit dem „leidenschaftliche(n) Atheismus" und der „Antichristlichkeit Nietzsches" 1 7 5 , insofern darin eine U m w e r t u n g der Fundamente europäischen 169
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A . a . O . S. 97. - Troeltsch fährt dann fort: „während für die Massen der Nietzsche-Kultus eine Mode ist, in der neurasthenische Sklavenseelen sich am Jargon der Herrensprache berauschen oder vergnügen." ( a . a . O . S. 97f.) E. Troeltsch: Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft, a. a. O. S. 198. E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 140. Für eine umfassende Erforschung der Rezeptionsgeschichte, die sich nicht regionale Fesseln (z. B. in der Eingrenzung allein auf Literatur, verschiedene Wissenschaften, Philosophie usw.) anlegt, dürften Troeltschs Hinweise auf Reichweite und Qualität von Nietzsches Einfluß nach der Jahrhundertwende und zu Beginn der 20er Jahre größtes Interesse beanspruchen. So schätzt er den Eindruck Nietzsches auf die historische „Fachwissenschaft" gering ein, nennt ihn aber „ganz außerordentlich auf die Temperatur des allgemeinen historischen Fühlens und Denkens" ( a . a . O . S. 506). Und Troeltsch dachte unbefangen genug, um solche Klimaveränderungen ohne fachwissenschaftliche Borniertheit souverän zu würdigen und zugleich kritisch einzuschätzen. Vgl. dazu Erik Peterson: Briefwechsel mit Adolf Harnack und ein Epilog, in ders.. Theologische Traktate. München 1951. S. 304. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 495. Troeltsch, a . a . O . S. 495.
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Denkens und nicht allein der Historie vorliegt. In einer zu seiner Zeit durchaus originellen, bis heute beachtlichen Betrachtungsweise stützt Troeltsch sein Urteil nicht so sehr (zu Beginn der 20er Jahre) auf den Nietzsche der späteren „antichristlichen" Bücher, sondern auf die kräftig gelobten „Jugendwerke" 176 , insbesondere auf die „Geburt der Tragödie" 1 7 7 . Er würdigt Nietzsche als „durchdringenden Kulturpsychologen und Entwicklungstheoretiker" 178 und stellt ihn aufgrund seiner universalhistorischen Gesamtperspektive sachlich näher zu Hegel als zu Schopenhauer 179 . Es zeugt für eine beträchtliche Unbefangenheit des Blicks, wie Troeltsch Nietzsche ausführlich zu Karl Marx in Parallele bringt, das offenkundige Antipodentum ebenso würdigend wie die fundamentalen Gemeinsamkeiten. Beide haben, so Troeltsch, ausgehend vom „Atheismus ihrer Meister" Feuerbach und Schopenhauer, „die Geschichtsphilosophie des radikalen Atheismus entwickelt", freilich material konträr, einerseits als revolutionäre „Selbsterlösung" der Menschheit im Proletariat, andererseits als radikale „Selbstvergötterung" des großen Einzelnen und freien Geistes 180 . Marx und Nietzsche haben damit „dem Entwicklungsbegriff neue bedeutsame Wendungen gegeben, die auch dann ihre Bedeutung behalten werden, wenn der Atheismus, aus dem sie zunächst entsprungen sind, einmal der Geschichte angehören wird." 1 8 1 Dieses neue Denken kommt zur Geschichtswirksamkeit gerade in der Weise, daß bei Nietzsche — wie Troeltsch ausdrücklich betont — der Aristokratismus, der im synthetisierenden, den darwinistischen Rahmen sprengenden Entwurf des „Übermenschen" kulminiert, gerade nicht als gesellschaftsferne „Geistesphilosophie" entwickelt wird. Er fungiert vielmehr als leitendes Prinzip der „Behandlung des soziologisch-ökonomischen Problems" 1 8 2 und schließt den Willen zur totalen Weltveränderung mit ein. Die Geschichtsphilosophie des radikalen Atheismus will als Experiment der Entfesselung des Menschen — sei es der revolutionären Masse oder des die Schranken des Menschseins selbst überwindenden großen Einzelnen — unmittelbar praktisch werden, wobei freilich Nietzsche mit dem Blick auf jene Kräfte, die der „Selbstvergötterung" im Wege stehen, ungleich notwendiger auf das Christentum als Gegenmacht stoßen und in ihm den entscheidenden Gegner ausmachen muß. Als Resultat dieser Überlegungen bleibt festzuhalten, was Ernst Troeltsch in dieser Klarheit erstmals erkannt und in der Durchführung der Parallele Marx —Nietzsche herausgearbeitet hat: daß es sich um neuartige Formen des Denkens handelt, die selbst mehr Symptom als Ursache eines säkularen ökonomischen und gesellschaftlichen Umbruchs sind, diesen Umbruch aber Troeltsch, a . a . O . S. 503. Troeltsch: „das erste Werk Nietzsches, das in vieler Hinsicht sein größtes geblieben ist"; a . a . O . S. 499. 178 A . a . O . 179 Vgl. a . a . O . S. 496. — Troeltsch erklärt es für bemerkenswert, wie Nietzsche „trotz alles mit Schopenhauer zunächst geteilten Hasses gegen Hegel durchaus der dialektischen Methode sich bedient" (S. 499). 180 Vgl Troeltsch, a . a . O . S. 498. 1 8 1 Troeltsch, a . a . O . S. 498. — Wie bei Marx, so bei Nietzsche scheint Troeltsch deren „Entwicklungsbegriff" für ablösbar zu halten von einem Atheismus, den wiederum beide für konstitutiv erachteten. Uber den Marxismus ist unter dieser Perspektive verständlicherweise viel intensiver diskutiert worden. 1 8 2 Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 501. 176
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in einer ihn selbst vorantreibenden Deutung bejahen und sich so zugleich eine öffentliche und beherrschende Position sichern 183 . Es versteht sich von selbst, daß mit der Betonung der gesellschaftlich-politischen Dimension von Nietzsches Atheismus eine neuartige Bestreitung des Christlichen zumal in dessen öffentlicher Geltung sich ankündigt, die an effizienter Grundsätzlichkeit alle frühere Religionskritik in den Schatten stellt. Die Gegner sind also weder unterschätzt noch heimlich okkupiert, dafür aber aus einer Distanz betrachtet, die Rückschlüsse zuläßt auf Troeltschs unbedingte Uberzeugung von der Realitätsbedeutung des christlichen Glaubens. Die sein ganzes theologisches Denken beherrschende Frage, „wie der Geltungsanspruch des Christentums neu bestimmt werden könne, wenn das Christentum in den Interdependenzen der geistigen und geschichtlichen Welt begriffen wird" 1 8 4 , will sowohl die „Perspektiven des modernen Weltbildes" 185 unverkürzt lassen als auch den Realitätsbezug des Christentums vor der heute bedeutendsten Definitionsmacht von Realität, der modernen Wissenschaft, behaupten. Im Vergleich zu Harnacks Bestehen auf dem historischen und philosophischen Nachweis der „Zusammengehörigkeit" von Menschheit und christlicher Religion erkennt Troeltsch dessen Unmöglichkeit 186 , indem er zugleich jedoch das Absolute als normatives Ziel der Zukunft sowie dessen jeweilige und stets bedingte, überholbare Realisation der historisch bedingten Gegenwart überantwortet. Wird also das Normative nur als „vorschwebendes Ziel" 187 eine geschichtliche und somit bedingte Realität, dann legt sich der Schluß nahe, Troeltschs lehrreicher Kampf biete am Ende einen zwar überzeugend klingenden, theologisch aber doch angreifbaren Kompromiß als Lösung dar. Charakteristisch dafür erscheinen dann jene substantiellen Reduktionen (die bedeutendste zweifellos im Bereich der Christologie und nur darum nicht auffällig, weil damit eine breite Straße kritischer Tradition befahren wird), zu denen ihn sein Wille zur wissenschaftlich-historischen Legitimität des Chri-
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Troeltsch lokalisiert einen ersten Höhepunkt um die Jahrhundertwende: „Es ist kein Wunder, wenn beide Denker (sc. Marx und Nietzsche) vor anderen die religiös überdies so tief erschütterte Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beherrscht haben, der eine die gegen die Gesellschaft empörte Handarbeiterschaft, der andere die gegen das Epigonentum des 19. Jahrhunderts, seinen Technizismus und Handelsgeist sich aufbäumenden Intellektuellen." (Der Historismus und seine Probleme, S. 499.) Trutz Rendtorff: Ernst Troeltsch (1865—1923), in: Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Martin Greschat. Band 2. Stuttgart (u.a.) 1978. S. 285. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte. München, Hamburg 1969. (Siebenstern-Taschenbuch. 138.) S. 128. Troeltsch a.a.O. S. 45: „Die Konstruktion des Christentums als der absoluten Religion ist von historischer Denkweise aus und mit historischen Mitteln unmöglich, und in der Unmöglichkeit dieser Konstruktion ist vieles begründet, was sich in der wissenschaftlichen Theologie unserer Tage matt, unsicher und schattenhaft ausnimmt." Troeltsch, a.a.O. S. 76.
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stentums nötigt. Wie immer auch ein „modernes" Christentum unter dem Druck der fundamentalen Bestreitung konstruiert werden mag, ob zum Beispiel als „personalistische Religiosität" 188 unter Abstoßung des NichtAkkommodierbaren, ob als mögliche Realisation eines „religiösen Apriori", einer eindringlichen Befragung zeigt sich bald, wie das „Unaufgebliche" 1 8 9 fundiert ist in einer die Normativität subjektiv begründenden „letzten axiomatischen T a t " 1 9 0 . Wo eine solche nicht nur nicht vorliegt, sondern wie bei Nietzsche in kaum zu übertreffender Schärfe schon aus Gründen des Geschmacks verworfen wird, da erscheint schlechthin alles Unaufgebliche als aufgebbar und aufgegeben. Treten dann noch historischer Kanonendonner (für den Nietzsche nicht nur im „Versuch einer Selbstkritik" 1 9 1 eine gewisse Vorliebe bewies) und die als Nietzsche-Beglaubigung deutbare Weltkatastrophe hinzu, dann raubt dies nicht nur manchem Unaufgeblichen jegliche traditionelle Stütze, es zwingt auch die sogenannte „Nachkriegstheologie" in eine veränderte Situation 192 , für die dann auch Nietzsche wiederum eine verwandelte Funktion gewinnt. Nimmt man nun Troeltsch als hervorragenden und in den Problemstellungen alles andere als „erledigten" Repräsentanten der Epoche vor dem ersten Weltkrieg, dann führen von seiner Position — ohne für den Gang der theologischen Dinge eine allzu klare Folgerichtigkeit konstruieren zu wollen — mehrere Wege weiter und auch in verschiedene Richtungen. Schematisierend könnte man sagen, daß bei Tillich jenes „Absolute", für das Troeltsch immerhin noch eine Relation zur wissenschaftlich förderbaren Historie aufrecht erhielt, zurückgenommen ist in die Selbsterfahrung einer Existenz, die aber eben dadurch, in der Entfaltung der letzten axiomatischen Tat als ihr selbst evidentes Ergriffen- und Angegangensein vom Unbedingten, eine bedeutende und neuerdings für „Kultur" öffnende, die Identität des Christseins aber auch in die „Schwebe" (Jaspers) führende Expansion ihres Weltbezuges manifestiert. Es wird noch ein Blick darauf zu werfen sein, wie Nietzsche als Widerspruch und als faszinierendes Element einer solchen „ W e l t " in Erscheinung tritt.
Andere Möglichkeiten zeigen sich zum Beispiel bei Friedrich Gogarten und Karl Barth. Gogarten steht hier für eine geradewegs (gegen Troeltsch) christologisch fundierte Bejahung des Säkularisierungsprozesses mit erheblichen praktischen Konsequenzen. Welche Rolle im Spannungsfeld der christlich begründbaren Säkularisierung und der Fehlform des sog. „Säkularismus"
Troeltsch, a.a.O. S. 88. A . a . O . S. 131. 1 9 0 A . a . O . S. 20. 191 Versuch einer Selbstkritik I; KSA 1,11. 192 Eine vortreffliche Darstellung bietet Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft. Ernst Troeltsch und sein theologisches Programm. München, Paderborn, Wien 1978. (Beiträge zur ökumenischen Theologie. 18.) 188
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Peter Köster
656
N i e t z s c h e s p i e l t , d a s k a n n hier n i c h t g e n a u e r a u s g e b r e i t e t w e r d e n 1 9 3 . man Jürgen Moltmann,
s o galt f ü r d i e A n f ä n g e d e r s o g .
Theologie" folgende Funktionsbestimmung:
Folgt
„dialektischen
„ M a n half s i c h z u n ä c h s t
mit
einer V e r n i c h t u n g d e s r e l i g i ö s e n H i s t o r i s m u s , d e r d i e g a n z e G e s c h i c h t e als Offenbarung
des
Gottesgeistes
ansehen
zu
können
glaubte,
durch
den
historischen Skeptizismus von F r a n z O v e r b e c k und Friedrich N i e t z s c h e . " 1 9 4 D a s w i l l s a g e n , d a ß N i e t z s c h e e b e n s o w i e O v e r b e c k als „ A n t i r e l i g i o s u s " a u s d e r N e g a t i o n in z u s t i m m e n d e m S i n n e zitiert w i r d . E t w a s a n d e r s s i e h t d i e Sache später für den Verfasser der „Kirchlichen D o g m a t i k " aus. N i e t z s c h e w i r d d o r t in e i n e m E x k u r s als d e r e n t s c h i e d e n s t e V e r t r e t e r einer „ H u m a n i t ä t o h n e d e n M i t m e n s c h e n " als d i r e k t e r G e g n e r d e r c h r i s t l i c h ( u n d d a s h e i ß t : v o n C h r i s t u s als d e m s i n g u l ä r e n
„ M e n s c h e n für den M i t m e n s c h e n "
her)
verstandenen H u m a n i t ä t k o m p r o m i ß l o s gezeichnet u n d attackiert. Erstaunlich an dieser kompakten Stellungnahme 1 9 6 ist ein Mehrfaches. Zunächst die für Barths Theologie bezeichnende, dennoch ungewöhnlich klare A b s a g e an jede F o r m der Mißverständnistheorie. E s ist bei ihm nicht diplomatisch die R e d e davon, Nietzsche habe etwa nur eine Fehlform des Christentums gesichtet und dann, am „ w a h r e n C h r i s t e n t u m " (durch wessen Schuld auch immer) vorbeigreifend oder „ h e i m l i c h " auf dessen Spur, jene Perversion bekämpft. Vielmehr verficht Barth die in der theologischen Nietzsche-Literatur nicht eben häufig anzutreffende-Meinung, Nietzsche habe in ungewöhnlicher „Hellsichtigkeit und K o n s e q u e n z " 1 9 7 durch die zeitbedingten Verdeckungen hindurch das Zentrale des Christentums wahrgenommen und dann dazu entschieden N e i n gesagt. U n d um gegen alle üblichen O k k u p a t i o n s gelüste diese Gegnerschaft klar herauszuarbeiten, bezieht sich Barth in erster Linie auf den N i e t z s c h e der späteren Schriften, von Zarathustra bis zu Ecce h o m o . F ü r unseren Zusammenhang ist die Darstellung Barths dort weniger erheblich, w o sie aus Nietzsches Selbstaussagen quasi biographisch die Konsequenzen der gewählten und erlittenen Einsamkeit, des Seins „ o h n e den M i t m e n s c h e n " als Stigma des höheren Daseins kritisch nachzeichnet. Ü b e r alle Details hinweg geht es u m Barths interpretatorische Hauptthese, die wiederum sachlich derjenigen Troeltschs von der entscheidenden Bedeutung des „soziologisch-ökonomischen P r o b l e m s " relativ nahe steht. Barth erkennt den fundamentalen Gegensatz gar nicht dort, w o er populär lokalisiert wird, nämlich in der sog. „ G o t t e s f r a g e " . E r setzt ihn überraschend dort an, w o Christentum
193 Ygj ( J a z u Heinz Zahrnt: Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert. München 1972. (dtv-Taschenbuch. 846.) bes. S. 153ff. — Die diesen Zusammenhang erhellende Debatte um das Verständnis von Säkularisierung kann hier nicht dargestellt werden. 194
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Jürgen Moltmann, Vorwort, in: Anfänge der dialektischen Theologie. Teil 1. Hrsg. v. J. Moltmann. München 1977. (Theologische Bücherei. Systemat. Theologie. Bd. 17/1.) S. XVI. Vgl. dazu Karl Barth-, Der Römerbrief. Zürich (10. Abdruck d. neuen Bearb.) 1967. S. 113. Freilich wird Overbeck bei gleicher Titulatur in seinem Widerspruch gegen die „Religion" noch einmal positiv von Nietzsche abgehoben. Separat erschienen unter dem Titel: Karl Barth: Mensch und Mitmensch. Die Grundform der Menschlichkeit. Göttingen 1967. (Kleine Vandenhoeck-Reihe. 2.) Dort besonders S. 17—35. — Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. Barth, a . a . O . S. 17.
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„eine Praxis" ist 198 und als solche jenem gedachten Typus der Selbstverfügung, der im Begriff „Übermensch" zur Sprache kommt, einen „konträren Typus Mensch" 1 9 9 entgegenstellt: „Es konfrontiert ihn nämlich mit der Gestalt des elenden, des leidenden Menschen" 200 , mit dem „kleinen Mann", der in der Vielzahl, der als Herdentier und Massenmensch vorkommt. Dieser konträre Typus erscheint als Realität und als Symbol im Gekreuzigten, der eben darum zum Inbegriff des Bekämpfenswerten werden muß. Ganz richtig stützt Barth sich hier auf Nietzsches antipaulinische Polemik, die in einem Text wie 1 Kor l,26ff. die christliche Selbstentlarvung schlechthin, „ein Zeugniss allerersten Ranges für die Psychologie jeder Tschandala-Moral" dokumentiert sieht 201 . Als Streitpunkt erscheinen somit die Praxis und die gesellschaftliche Realität. Was Barth im Blick auf den 1. Korintherbrief den „Gekreuzigten und sein Heer" nennt 202 , das ist unter der historischen Wirklichkeit des bürgerlichen Christentums der Bismarckzeit der latente Sprengstoff, der eine soziologische, ökonomische und politische Dimension besitzt. Darin aber noch einmal wie den Kern in der Schale sieht Barth eine Form der christlichen Humanität, die mit der von Nietzsche vertretenen europäischen Tradition notwendig kollidieren muß. Nietzsches Angriff auf das Christentum nennt er „gut gezielt". Und mit einer theologiekritischen Wendung formuliert er dann sein Fazit: Daß Nietzsche bei seiner Attacke „nicht auf die schwächste, sondern gerade auf die stärkste Stelle des Angegriffenen stieß, ist eine Sache für sich, und zwar eine Sache, die Nietzsche, objektiv gesehen, nur Ehre macht. Er hat mit seiner Entdeckung des Gekreuzigten und seines Heeres das Evangelium selbst in einer Gestalt entdeckt, wie es dessen Vertretern — um von seinen Gegnern nicht zu reden — jedenfalls im 19. Jahrhundert so nicht gelungen ist." 2 0 3 Mit dieser Position einer für unumgänglich erklärten, aber respektvollen und verständigen Gegnerschaft ist Barth, so weit ich (bei Subtraktion aller simpel-apologetischen Literatur) unter Theologen eher vereinzelt geblieben. Ihm muß auf jeden Fall jener Nietzsche, der den polemischen Willen zum Aufreißen von Distanzen bekundet, zum Zwecke jener Klarstellungen gelegen sein, welche allzu selbstverständlich etablierte theologische und kulturelle Traditionen auf ihre Haltbarkeit mit dem philosophischen oder theologischen Hammer
abklopfen.
Ein gewisses,
theologische Erkenntnis nicht
selten
förderndes Risiko des Anachronistischen korrespondiert hier durchaus dem Pathos des Unzeitgemäßen bei Nietzsche. Von diesem gleichen Pathos her entwickelt freilich Paul Tillich im Gegensatz zu Barth jenes bis heute aktuelle Nietzscheverständnis, dem doch wohl die Mehrzahl der Theologen in dieser 198 199 200 201 202 203
Barth, a . a . O . S. 29. A . a . O . S. 29. A . a . O . S. 32. A C 45; KSA 6, 223. Barth, a . a . O . S. 35. Barth, a. a. O . S. 35. — Zu bedenken ist freilich, daß der Umgang mit Begriffen wie „Praxis" und „konträrer Typus Mensch" leicht in einem heute aktuellen Sinn mißverstanden werden kann. Im Licht von 1 Kor 1 ist eine Wirklichkeit des Christseins gemeint, die theologisch vom paulinischen Verständnis der KWjaig als einem Leben aus Gottes Gnade zu begreifen ist. Für Barth allerdings eignet dann der derart verstandenen Berufung eine zu deutlichen Grenzziehungen auch politischer Art ermächtigende „praktische" Realität.
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Debatte sehr viel näher steht. Dabei ist es bei Tillichs umfangreichem, zum Teil unterschiedlich edierten Werk nicht leicht, sein Verhältnis zu Nietzsches Person und Philosophie in geraffter Form gerecht darzustellen. Ohne eine (notwendig verkürzende) Auswahl geht es nicht ab. Es wurde schon gesagt, daß Nietzsche gewissermaßen als „Ganzheit" (Ratschow) den Weltbezug dieser Theologie mitkonstituiert. Belege dafür sind die vielen verstreuten, wie selbstverständlich auftauchenden Hinweise in Tillichs Werken — mit einer deutlichen, vom ersten Rezeptionserlebnis ableitbaren Vorrangstellung des „Zarathustra". Aus dem Jahr 1945 stammt ein kurzer Text unter dem Titel „Nietzsche und der bürgerliche Geist" 204 , in dem sich offensichtlich die Kontinuität von Tillichs Nietzschebild bekundet. Von Anfang an wirkt Nietzsche primär als Gegengift wider die Bürgerlichkeit. In manchen Details den Spuren Troeltschs folgend, sieht Tillich die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft „überall, explizit oder implizit" in Nietzsches Schriften am Werk 2 0 5 . Dieser Aspekt ist ihm so wichtig, daß er Nietzsches „Kritizismus" in religiöser Terminologie als „prophetischen Auftrag", empfangen aus dem Kairos als dem „schöpferischen Augenblick der Zeit" 206 , bezeichnet. Hier wie andernorts fällt auf, daß Tillich gern formelhaft zur Charakteristik Nietzsches oder einzelner seiner Grundgedanken den Begriff des „Dämonischen" verwendet, der im Sinne von inkommensurablem Schöpfertum und Moraldurchkreuzung eher aus der Sphäre Goethes stammt als aus biblisch-theologischer Herkunft 207 . Betrachten w i r noch einen weiteren Text: einen die Rolle Nietzsches thematisierenden Abschnitt aus Tillichs „Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens", dessen zweiter Teil unter dem Titel „ A s p e k t e des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert" steht. Im 3. Kapitel (Uberschrift: „ D e r Zusammenbruch der universalen Synthese") w i r d das Denken des 19. Jahrhunderts „ v o n Hegel zu Nietzsche" (Löwith) besprochen und Nietzsche seinerseits anhand der Begriffe „Voluntarismus und Lebensphilosophie" abgehandelt 2 0 8 . D e r belehrende und Informationen recht allgemein darbietende Text zeigt zunächst keine Auffälligkeiten 2 0 9 , 204
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209
Paul Tillich: Gesammelte Werke. Band 12: Begegnungen. P. Tillich über sich selbst u. andere. Stuttgart 1971. S. 2 8 6 - 2 8 8 . Vgl. Tillich, a.a.O. S. 286. Tillich, a.a.O. S. 288. - Bei Picht wird das nachgesprochen. Eine ausführliche Definition seines Verständnisses und von dessen theologischer Dimension gibt Tillich in dem Aufsatz: Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte. In: ders., Gesammelte Werke. Band 6: Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1963. S. 42—71. Paul Tillich: Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens. Teil 2: Aspekte des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Ingeborg C. Henel. Stuttgart 1972. (Ergänzungs- und und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich. Band 2.) S. 1 6 1 - 1 7 0 . Natürlich müßte er bei anderer Gelegenheit im Detail analysiert werden, z. B. auch im Hinblick auf Anklänge an Troeltsch; hier fehlt dafür der Raum. Auch manche Ungenauigkeit sollte korrigiert werden.
Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption
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außer vielleicht der generellen Tendenz, in der Interpretation von Nietzsches Hauptbegriffen das „Positive" im Sinn der unbedingten Seinsbejahung (wie Tillich diese meint) einseitig zu unterstreichen. Interessant wird die Sache eigentlich erst, wenn Tillich nach so viel Positivität von einem Studenten um seine „Kritik an Nietzsche" 2 1 0 angegangen wird. Die Kritik muß in diesem Kontext natürlich punktuell und andeutend bleiben, aber auch darin ist sie aufschlußreich genug. Tillich nennt kritische Einwände zur ewigen Wiederkunft, zum Ubermenschen und auch zur „Idee" des Todes Gottes; aber an erster Stelle — und hier sieht man sich wieder an Troeltsch gemahnt — bemängelt er das „Fehlen von N o r m e n " 2 1 1 . Erstaunlich darum, weil dieses „Normative" bei Nietzsche doch nicht einfach „fehlt", sondern prinzipiell negiert ist. Und mit jenem Normativen ist abgängig schließlich auch die Normen setzende Erfahrung des Angegangen- und Ergriffenseins von einem „Unbedingten", die für Tillich das Fundament seiner Theologie, schließlich aller Religion und Religiosität bildet. Nietzsche-Kritik in dieser Form könnte ein Hinweis darauf sein, daß Tillich „seinen" Nietzsche möglicherweise doch vereinfachend als einzuordnendes Element der Kultur-„Welt" gedeutet hat.
Harmonisierende Vereinfachung ist die Gefahr der ganzheitlichen Rezeption, die eben als solche der Nachprüfung sich entziehen kann. Tillichs „Systematische Theologie" 2 1 2 bestätigt den gewonnenen Eindruck sachlich durch die gewissermaßen problemlose Nähe, in die Theologie und Philosophie für Tillich gestellt sind und angesichts derer es sich fragen läßt, was sie über Tillichs eigenes System und geistiges „Temperament" hinaus mit der historischen, doch wohl nicht zufällig polemischen Wirklichkeit gemein hat. Wenn die „existentiell bedingten Elemente" 2 1 3 im realen Philosophieren allesamt auf das Konto der Theologie verrechnet werden, wenn zudem „existentielle Leidenschaft" mit „letztem Betroffensein" als Form der „Religion" allgemein identifiziert wird, dann kann Nietzsche unschwer geradezu als Musterfall dafür genommen werden, wie — in der Dämonie (oder, positiver, „Halbdämonie") der im postulierten Kairos wurzelnden Negation — im Philosophen Nietzsche der „heimliche Theologe" am Werk ist 2 1 4 . Betrachtet man Tillichs Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie (ihr bekanntester Satz lautet: „Es ist weder ein Konflikt nötig, noch ist eine Synthese möglich" 2 1 5 ), dann wird man im Bezug auf Nietzsches konkrete Philosophie doch in aller Direktheit sagen müssen, daß a) Nietzsche an eine Synthese schon darum nicht denken konnte, weil er dem Christentum und seiner Theologie jeden Wirklichkeitsbezug und das Daseinsrecht bestritten hat, und daß er b) einen Konflikt aus Gründen des geschichtlichen 210 211 212 213 214 215
Tillich, a.a.O. S. 169f. - Sicher kein ganz zufälliger Vorgang. A.a.O. S. 169. Paul Tillich-. Systematische Theologie. 3 Bände. 6. Aufl. Stuttgart 1979. Tillich, Syst. Theologie. Bd. 1. S. 35. Vgl. a.a.O. S. 35. Tillich, a.a.O. S. 35.
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Veränderungswillens allerdings mit wachsender Schärfe für „nötig" gehalten und selbst ausgefochten hat. Angesichts mancher Finessen (oder auch Naivitäten) der theologischen Argumentation scheint es zuweilen angezeigt, solche einfachen Sachverhalte noch einmal festzuhalten. Zur Finesse kann auch der historisch sicher richtige, Nietzsche selbst geläufige Gedanke geraten, daß es selbstverständlich keine Rückkehr zur (umstrittenen) Anfänglichkeit griechischen Philosophierens gibt und daß die moderne Religionskritik nicht umhin kann, bis zu einem gewissen Grade „antichristlich in christlichen Begriffen" 216 zu sein. Aber Tillich gerät möglicherweise doch wieder bedenklich in die Nähe okkupierenden (oder problemverkennenden) Denkens, wenn er diese Traditionsprägung — und sei es auch nur in Anführungszeichen — als „character indelebilis" versteht217. Dies gerade ist die Frage, die sich in Nietzsches Denken und im 20. Jahrhundert mit zunehmender Schärfe zu stellen beginnt; ob die für unzerstörbar gehaltene Prägung nicht eben doch zerstört, überwunden, vernichtet und vergessen werden kann; ob es sich nicht um einen „character delebilis" gehandelt haben könnte; und ob am Ende das für Christen Unerhörte und prinzipiell Nicht-Akzeptierbare: der Mensch jenseits von Gott, Religion, Normativität, Gut und Böse, zu sein vermag und wie dieser handelt, denkt, lebt oder nicht lebt, und welches Geschick er unter diesem Prinzip der totalen Selbstverfügung, das Nietzsche mit dem Wort vom „Tod Gottes" meinte, sich mit eigener Hand verantwortlich-unverantwortlich zubereitet hat.
IV. Ankunft eines
Ereignisses?
Daß diese Frage so gestellt werden muß, verweist alles in allem auf eine fortschreitende Zuspitzung der theologischen Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie. Wenn überhaupt in der Geschichte der theologischen Nietzsche-Kritik und -Rezeption trotz mancher Konfusion eine gewisse Folgerichtigkeit herrscht, dann beruht sie sicher nur zum Teil auf der Intensität des innertheologischen Dialogs. Zum anderen Teil - und wohl wesentlicher — resultiert sie aus einer verschärften politisch-gesellschaftlichen Weltsituation, in der das Christentum in recht ungeklärter und vielstimmiger Weise (allen Todeserklärungen zum Trotz) seine Rolle zu verantworten sucht. Es hängt oft von dieser Situation ab, in welchem Sinn Nietzsche als Exponent, „Prophet", Gewährsmann oder Gegner bemüht wird. Wollte man im Uberblick einige Linien durch die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts 216 217
Tillich, a. a. O. S. 36. A.a.O.
Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption
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ziehen, so dürfte man wohl folgendes sagen: Nietzsches Philosophie ist in der Theologie parallel zur allgemeinen Rezeptionsgeschichte mit unterschiedlichen Akzenten, aber doch zunehmend extensiv und intensiv zur Kenntnis genommen worden; man hat sich an ihn als Gegner gewöhnt, empfindet seine Polemik bei weitem nicht mehr so ärgerlich wie ehedem und hat für manche seiner „Ideen", insbesondere für die vom „Tode Gottes" eine ausgesprochene und scharfsinnige Vorliebe entwickelt. Ob damit freilich auch die Ernstlichkeit der eben formulierten Frage nach dem „Menschen jenseits von Gott" verstanden worden ist, das muß offenbleiben. Es ist unklar, ob der von Nietzsche gemeinte Sinn der Rede vom „Tode Gottes" (die ja nur das heuristische Prinzip für eine erst in den Anfängen stehende Gesamtrevolution des Menschseins formulieren soll) gehört, ob das „Ereignis" — gesetzt, daß es eines ist — „angekommen" ist und was eine solche Ankunft für die Theologie bedeuten müßte: neue Ausdrucksform oder Suizid? Unvermeidlich müssen — wieder in höchst fragmentarischer Form — noch einige Überlegungen zu jener Linie der Rezeption angedeutet werden, die sich der genannten Fraglichkeit zu stellen scheint. Ob sie es in vollem Ernst durchführt, das kann hier nicht entschieden werden.
1. Ende der Religion? In einem kürzlich erstmals publizierten Rundbrief an seine Freunde aus dem Jahr 1917 218 blickt Tillich zurück auf seine Nietzsche-Lektüre und rechnet ihr eine befreiende Funktion zu: Nietzsche soll ihm den Mut eingeflößt haben, sein Lebens-„Ideal" als denkender Mensch laut zu bekennen. Tillich setzt hinzu: „Ihr werdet fragen, wie sich das mit meiner Theologie, überhaupt mit einer Theologie und Religion verträgt. Ich will das jetzt nicht beantworten; ich will nur sagen, daß es sich verträgt, und hinweisen [. . .]: Die höchste Leistung des theologischen Prinzips, d. h. des Paradoxes der „Rechtfertigung" ist der Begriff „Gott des Gottlosen" oder „fromm sein als wäre man gottlos — gottlos sein, als wäre man fromm." 2 1 9 Die hier nicht gegebene Antwort bestimmt später programmatisch Tillichs Theologie als Bemühung um ein neu gefaßtes Gottesverständnis 220 . Beachtlich für uns ist die Art, wie Nietzsche zum Garanten wird der paradoxen Einheit von Frömmigkeit als „religiösem" Seins218
219 220
Paul Tillich: Ein Lebensbild in Dokumenten. Hrsg. von R. Albrecht u. M. Hahl. Stuttgart 1980. (Ergänzungs- u. Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken v. P. Tillich. Band 5.) S. 103 ff. Tillich, a.a.O. S. 107. Vgl. dazu in der gleichen Publikation Tillichs Brief vom 5. 12. 1917 (S. 120f.), wo der „Gottesbegriff" als Resultat aus einer sich in Nietzsche-Begriffen explizierenden Selbsterfahrung erwächst.
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Verhältnis und Gottlosigkeit als der Negation des eigentlichen Bezugspunktes der Religion. Bis in die sprachliche Fassung hinein erinnert Tillichs Formel zudem an jenes „etsi deus non daretur", das für Dietrich Bonhoeffer in seinen Gefängnisbriefen zu einem Grunddatum menschlichen Daseins in unserer Zeit wird. Das Problem, das sich dahinter verbirgt, verweist auf eine spezifische Erfahrungsform des 20. Jahrhunderts, die Bonhoeffer unter dem Titel der „Religionslosigkeit" selbst bekanntlich (situationsbedingt) nur in Ansätzen reflektieren konnte. Die theologische Debatte um Bonhoeffer hat bisher (so weit ich sehe) keinen Konsens darüber erbracht, in welchem Sinn Bonhoeffers letzte und allerdings vieldeutige Überlegungen zur beginnenden „Religionslosigkeit" zu verstehen sind. Eine Antwort zu geben, kann hier erst recht nicht versucht werden, im besten Fall handelt es sich um eine Akzentuierung zur Hintergrundsbedeutung der Nietzscherezeption für die genannte Problemstellung. Das biographische Faktum selbst kann ja nicht zweifelhaft sein 2 2 1 , und jedes genauere Studium von Bonhoeffers Schriften beweist eine unablässige, untergründige Präsenz Nietzsches. Man kann dafür durchaus legitim den Begriff „Tendenz" gebrauchen, wenn nicht vergessen wird, daß dies Parallelität und kritische Auseinandersetzung zugleich ausdrücken muß 2 2 2 . Letztere überwiegt allerdings nach anfänglichem Zögern entschieden. Derart, daß man die Behauptung wagen kann, insbesondere Bonhoeffers „Ethik" sei auch und geradezu „gegen Nietzsche" geschrieben 223 . Die These erscheint insbesondere dann glaubhaft, wenn man Bonhoeffers U m g a n g mit Nietzsche in einem Vortrag über „Grundfragen der E t h i k " (Barcelona 1929) mit 221
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Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Theologe. Christ. Zeitgenosse. München "1978. — Dort wird S. 146 und 152f. in Bonhoeffers Barcelonapredigten ein Beginn markiert. — Vgl. auch: Ernst Feil, Die Theologie Dietrich Bonhoeffers. Hermeneutik. Christologie. Weltverständnis. München, Mainz 1971. (Gesellschaft u. Theologie. Systemat. Beiträge. 6.) S. 238ff. und speziell S. 250. In diesem differenzierten Sinn ist Bonhoeffers Nietzsche-Rezeption untersucht bei Tiemo Rainer Peters-. Die Präsenz des Politischen in der Theologie Dietrich Bonhoeffers. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht. München, Mainz 1976. (Gesellschaft u. Theologie. Systemat. Beiträge. 18.) S. 127ff., besonders aber S. 133 — 144. — Peters untersucht Bonhoeffers Schrifttum von seiner speziellen Thematik her (die aber umfassend genug ist: das „Politische" [das bei Peters ein wenig ungenau definiert bleibt] ist in Bonhoeffers Theologie durchgehend „präsent") und stellt für die Nietzsche-Rezeption folgende Ordnungskriterien heraus: 1) die (bürgerliche) Schätzung des „höheren Daseins", 2) das „Kind" als „konkretes Symbol des geglückten Augenblicks" (S. 137), 3) die Adhortation der „Treue zur Erde" (S. 137ff.) und schließlich 4) die „Fernstenliebe" — somit lauter dem „Zarathustra" entstammende oder nahestehende Motive. Insbesondere ist bei Peters Bonhoeffers christologisch begründete Nietzsche-Kritik sowie deren Zusammenhang mit der liberalen Theologie einsichtig gemacht, vgl. besonders S. 142f.! Sicher auch unter dem Eindruck der mit pervertierter Nietzsche-Ideologie geschwängerten Atmosphäre des Nationalsozialismus: aber eben darum bleibt Bonhoeffer bemerkenswert sachlich und gerecht, nirgends wird Nietzsche zum Vehikel der Kritik am Nationalsozialismus.
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den entsprechenden Ausführungen der „Ethik" vergleicht. Alle Ethik wird 1929 noch klischeehaft — „konventionell-lutherisch" (O. Dudzus) — als „eine Sache des Blutes und der Geschichte" 224 gedeutet, dergestalt, daß die „christliche Ethik", über deren Verankerung in der Bergpredigt Bonhoeffer hier allererst nachzudenken beginnt, geradezu außerhalb der geschichtlichen Realität zu stehen kommt, mit Nietzsches Formel gesagt: „jenseits von Gut und Böse". Die Begründung für dieses Zusammenrücken von christlicher Ethik und Immoralismus bis zur UnUnterscheidbarkeit, wenn auch nicht Motividentität, sieht Bonhoeffer in der Rechtfertigungslehre Luthers: „Die christliche Botschaft steht jenseits von Gut und Böse; und das muß so sein; denn sollte die Gnade Gottes abhängig gemacht werden vom Menschen je nach Gut und Böse, so wäre wieder ein Anspruch des Menschen an Gott begründet, damit aber Gottes alleinige Macht und Ehre angetastet." 225 Von diesem Verständnis aus, das dann die konkrete Ethik in theologische Aporien führt, reklamiert Bonhoeffer „die Entdeckung des Jenseits von Gut und Böse" als verschüttetes „Urgut der christlichen Botschaft" 2 2 6 . Von dort aus kann es nicht verwundern, wie dann sogleich auch der Ubermensch, dessen Stehen „jenseits von Gut und Böse" freilich nicht in der ganzen Schärfe des prinzipiell gottfrei und selbstmächtig ernannten Seins verstanden ist, wiederum so gesehen wird, als habe Nietzsche, „ohne es zu wissen", „hier viele Züge des freigewordenen Christen, wie ihn Paulus und Luther beschreiben und kennen, hineingetragen." 227 Dieses Schema der Vereinnahmung, so sehr es sich geläufiger Klischees bedient, birgt ungelöste Fragen in sich, die Bonhoeffer im Kontext seiner eigenen und der Geschichte des Jahrhunderts immer schärfer auf die Scheinidentität christlicher Freiheit und übermenschlicher Entfesselung aufmerken lassen. „Treue zur Erde", in jenem Vortrag noch in größter Nähe zu Zarathustras Mahnspruch gesehen, muß in theologisch verantwortbarer Auslegung eine Bedeutung annehmen, die Bonhoeffer — und darin gesellt er sich nun zu Karl Barth — in den entschlossensten Widerspruch zu Nietzsche hineinführt. Bonhoeffer versucht also für sich selbst und in seinen Schriften im Grunde nichts anderes, als Nietzsche dieses Wort von der „Treue zur E r d e " zu entwinden. Der Weg zu diesem Ziel führt notwendig über ein vertieftes Bedenken dessen, was „ E r d e " hier sagen will: ob sie ein Letztes oder ein Vorletztes ist 2 2 8 und ob man ihr, sie als ein Letztes proklamierend, im Wesen gerecht und somit treu im eigentlichen Sinn des Wortes sein kann. Die bleibende „ T e n d e n z " , die Bonhoeffer hier zunächst von Nietzsche rezipiert, ist seine Entschlossenheit, nicht am Menschlichen und an der Welt 2 2 9 , das heißt: an der „ E r d e " als dem lebensnotwendigen Boden unter den Füßen, 224
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Dietrich Bonhoeffer: Gesammelte Schriften. Band 3. Hrsg. von E. Bethge. München 1960. S. 39 f. Gesammelte Schriften 3, S. 49f. A . a . O . S. 50. A . a . O . S. 53. Die Bedeutung dieser Unterscheidung durchdenkt Bonhoeffer in seiner Ethik (hrsg. v. E. Bethge). München 8 1975. S. 128ff.: „Die letzten und die vorletzten Dinge". Unter dem Titel „Theologie der Welt" hat sich später hier eine theologische Tendenz angeschlossen, die als „politische Theologie" die Dimension des Politischen im Christentum neu ins Bewußtsein zu rufen sucht.
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als dem Ort verantwortlichen Menschseins und dem Inbegriff ethisch aufgetragener Wirklichkeit in deren voller Spannweite (für die Gut und Böse allerdings nicht mehr als Adiaphora in der „Schwebe" bleiben können), vorüber auf Gott hin zu denken und zu handeln. In diesem Kontext behält der von Bonhoeffer mehrfach zitierte Antäusmythos seinen Sinn 2 3 0 . Wird aber das, was „ E r d e " als vieldeutiges Wort des Mythos aussagt und derart vermittelt als gewählte Normativität 2 3 1 , schon durch den Schöpfungsglauben auf Gott hin relativiert, dann muß solche Normativität erst recht — im Zugleich von Gut-sein der Kreatur und ihrer Korruption durch Sünde — als abgründig fraglich erscheinen, wenn der Blick sich auf jenes Faktum richtet, an dem sich die Geister in der Tat notwendig scheiden, das Nietzsche für den Tiefpunkt der Menschengeschichte überhaupt halten mußte und das für den Christen allerdings ihm selbst und allen, „die Augen haben zu sehen", ein Licht aufsteckt darüber, wie es mit dem Menschen und seiner Erde in Wahrheit steht; dieses Faktum ist der eine am Kreuz exekutierte Jude (dieser eine, von vielen Hingerichteten). In einem Brief v o m 22. Januar 1939 an T h e o d o r Litt stellt Bonhoeffer Fragen, die sein christologisch konzentriertes Weiterdenken zum Ausdruck bringen; er stellt fest, die „letzte Begründung" für die christliche Verwiesenheit auf den „Auftrag für die Arbeit am Diesseits" (auch diese sprachliche F o r m kann die Parole der „ T r e u e zur E r d e " annehmen) sei mit dem N a m e n Jesus Christus ausgesprochen 2 3 2 ; er fragt: „ w i r d
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231
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„Die alte tiefsinnige Sage erzählt vom Riesen Antäus, der stärker als alle Männer der Erde war; keiner konnte ihn bezwingen, bis einmal einer im Kampfe ihn vom Erdboden aufhob, da verlor der Riese seine Kraft, die ihm aus der Berührung mit der Erde zugeflossen war. Der Mensch, der die Erde verlassen will, der heraus will aus der Not der Gegenwart, der verliert die Kraft, die ihn durch ewige geheimnisvolle Kräfte immer noch hält. Die Erde bleibt unsere Mutter, wie Gott unser Vater bleibt, und nur wer der Mutter treu bleibt, den wird sie dem Vater in die Arme legen. Das ist das Hohelied des Christen von der Erde und ihrer N o t . " (GS III, S. 57f.). — Der erbauliche Kommentar, der mit dem uralten Bild von der Erde als „Mutter" spielt (vgl. dazu den Artikel „Erde" von J . Nelis in: Bibel-Lexikon. Hrsg. v. Herbert Haag. Einsiedeln 2 1968. Sp. 408—413, bes. Sp. 409), wird dort als zweideutige Harmonisierung ersichtlich, wo Bonhoeffer sagt, daß die Mutter Erde, die doch auch der Ort des Unheils und selbstzerstörerischen Abfalls ist, den ihr Getreuen recht selbstverständlich Gott als dem Vater „in die Arme lege". Nichts ist weniger selbstverständlich als das. Um so dringlicher muß gefragt werden, was „Treue" im christlichen Verstände und doch wohl im Kontrast zu Nietzsche meinen soll. Nur als ein Exempel von vielen möglichen sei der folgende Satz philosophischer Provenienz angeführt: „die geistige Welt eines Volkes ist nicht der Überbau einer Kultur, sowenig wie das Zeughaus für verwendbare Kenntnisse und Werte, sondern sie ist die Macht der tiefsten Bewahrung seiner erd- und bluthaften Kräfte als Macht der innersten Erregung und weitesten Erschütterung seines Daseins." (Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i.Br. am 27. 5. 1933. Breslau 1934. [Freiburger Universitäts-Reden. 11.] S. 13. „Allein weil Gott ein armer, elender, unbekannter, erfolgloser Mensch wurde, und weil Gott sich von nun an allein in dieser Armut, im Kreuz, finden lassen will, darum kommen wir von dem Menschen und von der Welt nicht los . . . " (Ges. Schriften 3, S. 32.)
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nicht erst von hier aus verständlich, [. . .] daß der Christ bei aller H i n g a b e an die Brüder und Treue zur E r d e doch u m der Gegenwart Gottes in Christus willen schon u m den A b b r u c h dieser Erde und um die Zukunft einer neuen E r d e und eines neuen H i m m e l s weiß und danach Verlangen trägt? J a , daß um der Einheit der ursprünglichen, gegenwärtigen und zukünftigen E r d e willen als der E r d e Gottes — der Erde, auf der das K r e u z Jesu Christi stand —, die gegenwärtige E r d e so ernst genommen werden kann in ihrer Würde, ihrer Herrlichkeit und ihrem F l u c h ? " 2 3 3 .
In diesen Fragen werden das Fundament und die Orientierung für die weiteren Überlegungen zur christlichen Ethik sichtbar. Sie sind kurz gesagt die Ursache dafür, daß in Bonhoeffers „ E t h i k " die christologische Interpretation der „Treue zur Erde" in ein — gegen die „Tendenz Nietzsche" gerichtetes — Plädoyer für den faktischen Menschen münden muß. Seine christozentrische Perspektive salviert Bonhoeffer gegen die Versuchung (soll man sagen: gegen den Kurzschluß) vieler christlicher Nietzsche-Interpreten, die Jesu „Gottmenschlichkeit" gern in eine vage Identität mit dem Ubermenschen stellen, weil sie sich gar nicht vorzustellen vermögen, wie die im „ Ü b e r " gedachte Höhe und extreme Größe anders verstanden werden könnte, denn als Derivat einer „heimlichen Transzendenz". Es ist wohl immer, wenn in einem Auslegungsversuch das Wort „heimlich" vorkommt, kritische Vorsicht geboten gegenüber jenen Kennern, die Nietzsche besser als er selbst zu verstehen behaupten. Nietzsches unergründbare Selbstkennerschaft tritt jenen unterstützend zur Seite, für die der im „Ubermenschen" kulminierende Entwurf einer blitzartig hervorbrechenden Größe (die „den Menschen" überwindet und äußerstenfalls, aber durch die Destruktion hindurch, „legitimiert") aus der inneren Notwendigkeit der Intentionen mit der christologischen Rechtfertigung des wirklichen Menschen kollidieren muß. Jesus Christus und der Ubermensch: das ist kein „heimlich" einander zugehöriges Paar, das ist eine Alternative. Auch die Christologie impliziert eine „Uberwindung": das Plädoyer für den wirklichen Menschen geschieht als Kenosis, nicht einfach als die Bestätigung einer Faktizität, die sich als Unheilsgeschichte entfaltet. Die Analogie der Überwindungen bleibt rein formal, während innere Gerichtetheit und geglaubte Wirklichkeit (schließlich ist die mit dem Begriff „Ubermensch" gedachte Totalverfügung kritisch betrachtet ein Kunstprodukt, eine normative Fiktion) einander unbedingt konträr begegnen. Die Prämissen der theologischen Argumentation samt allem, was sie an Resultaten zeitigen mögen, sind für Nietzsche keinesfalls, auch nicht potentiell akzeptabel; und aus der Sicht der Theologie diese klare Distanzierung nicht zu vernebeln, ist eine Frage der Selbstachtung. „Ubermensch" bezeichnet demnach in Bonhoeffers „ E t h i k " ein usurpiertes „Eschaton", eine " 3 Ges. Schriften 3, S. 32f.
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die „Treue zur E r d e " gerade mißachtende Uberwindung des Menschen im „Vorletzten": der wirkliche Mensch wird, wenn es zur letzten Konsequenz kommt, millionenfach einem terroristischen Phantom geopfert. Bonhoeffers Erwägungen zur „abendländischen Gottlosigkeit" 2 3 4 , die die europäische Geschichte in die Proklamation des „Nichts als G o t t " 2 3 5 münden lassen, behalten in Verbindung mit deren terroristischer Banalisierung im Nationalsozialismus ohne voreilige Identifikationen auch Nietzsche im Visier. Die unter dem Titel „Widerstand und Ergebung" gesammelten Gefängnisbriefe 2 3 6 zeigen, daß es ihm dabei nicht um apologetische Polemik zu tun war, sondern um das Verstehen eines Prozesses, der — nie und nimmer auf „Nietzsche-Rezeption" reduzierbar — tief verändernd und irritierend in die zeitgenössische Situation des Christentums selbst eingegriffen hat. Diese Irritation dürfte, wie mir scheint, der tiefere Grund für Bonhoeffers in extremer Lage zu Papier gebrachte letzte Überlegungen zu einer künftigen „Religionslosigkeit" sein. Letztere ist für ihn zwar nicht identisch mit dem Ende des Christentums, tangiert dieses aber im Tiefsten dergestalt, daß nur in paradoxen Formeln (die einen Grundgestus speziell der evangelischen Theologie: in der Moderne den historisch werdenden Willen Gottes zu bejahen, auf besondere Weise vollziehen) versucht werden kann, das völlig Neuartige zu erfassen. Neuartig muß eine Situation für die Christen ja wohl sein, die Bonhoeffer in folgende Formel bringt: „ V o r und mit Gott leben wir ohne G o t t " . Hier ist „Gottes Fehl" zwar selbst vor den Fehlenden und in das Mit-sein mit ihm gestellt, zugleich aber das „Leben ohne G o t t " doch als wesentliche Beschreibung gegenwärtiger christlicher Existenz genommen. Auf die theologische Diskussion, welchen Sinn die selbst wieder irritierenden Skizzen Bonhoeffers theologiegeschichtlich 237 und vor dem Hintergrund der Schriften Bonhoeffers und seiner kirchlichen Position haben, können wir uns hier nicht einlassen. A m Platz ist aber die Frage, was die bei Bonhoeffer jederzeit vorauszusetzende Präsenz Nietzsches mit jenem Gedanken zu schaffen haben könnte. Auch dazu nur wenige Anmerkungen. Von einem Ende der „Zeit der Religion" 2 3 8 zu sprechen, ist einerseits sicher nicht ohne Nietzsche sowie die gesamte Religionskritik des 19. Jahrhunderts denkbar, andererseits aber auch nicht einfach monokausal von dort abzuleiten. Vielfältige Bedingungen des europäischen, „atheistischen" Denkens und seiner gesellschaftlichen Fundierung ebenso wie eine 234 235 236
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Bonhoeffer, Ethik, S. 109f. A . a . O . S. 112. Dietrich Bonhoeffer-, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hrsg. v. E. Bethge. Neuausgabe. München 1970. Vgl. dazu: Gerhard Ebeling: Die „nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe", in: den., Wort und Glaube. Band 1. Tübingen 1962. S. 90-160. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, S. 305.
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korrelierende „innere Entwicklung" des Christentums selbst führen zu einem Gesamt der persönlichen, intellektuellen und kirchlich-politischen Erfahrung, die eben jene Irritation in sich trägt. So wenig der finis Christianismi lediglich intellektuell — mit dem schmalen Erfahrungsraum eigener Existenz und des von ihr geführten historischen Blicks — demonstrierbar ist (dafür steht Troeltsch gegen Overbeck), so wenig kann der Gedanke an die Zukünftigkeit 239 des Christlichen um die gleichfalls in diesem Sinn nicht „demonstrierbare", die Frage also offenhaltende Lebens- und Todesprobe herumkommen (dafür steht Bonhoeffer). Theologisch bleibt infolge der Vieldeutigkeit wesentlicher Begriffe — der schillernde Religionsbegriff läßt unklar, was eigentlich präzis durch „Religionslosigkeit" als vergänglich angesehen wird — offen, wie radikal Bonhoeffers Frage im Grunde gedacht ist. Eine Form der Reklamation freilich, die voraussetzt, Bonhoeffer habe sich sozusagen auf den Standpunkt von Nietzsches Toterklärung Gottes gestellt, ist mit Sicherheit verfehlt: diese Erkenntnis trägt eine Untersuchung seiner Nietzsche-Rezeption jedenfalls bei. Es geht vielmehr (neben den Details der Bonhoeffer-Interpretation) um eine von Nietzsche her verschärfte Sachfrage. In diesem Zusammenhang haben nicht wenige Theologen aus begreiflichem Interesse die Problemdefinition Gerhard Ebelings, die zugleich eine gewisse Bonhoeffer-Kritik enthält, überzeugend gefunden. Ebeling stellt im Blick auf die „Religion als Urphänomen der Menschheit" 240 die Frage, ob es nicht bei vorausgesetzter Konstanz des Menschseins einen „gemeinsamen Ort von Religion und Religionslosigkeit" 241 existential zu interpretieren gebe. Aber gerade die Behauptung des gemeinsamen Ortes ( „ O r t " verstanden als „existentiale Bedingung der Möglichkeit von Religion" 2 4 2 und von „Religionslosigkeit") lenkt nicht nur — doch wohl gegen Bonhoeffer? — zurück zu einer gewiß reflektierteren Form des „religiösen Apriori" 2 4 3 , sie entschärft 239
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Diese Zukünftigkeit löst allererst ein, was das Christentum zu sein beansprucht. So wie umgekehrt ein „gestorbener G o t t " den „früher lebenden G o t t " in jedem Fall, auch als sogenannte „Bewußtseinswirklichkeit", ad absurdum führt. So formuliert Ebeling später den gleichen Sachverhalt in seiner „ D o g m a t i k des christlichen Glaubens". Band 1. Tübingen 1979. S. 112. . Ebeling, Wort und Glaube. Band 1. S. 133 f. Ebeling, a . a . O . S. 133. Ebeling, a . a . O . S. 134: „ M a n wird noch einmal sehr gründlich das Problem des „religiösen A p r i o r i " durchdenken müssen, ehe man ihm (sc. Bonhoeffer) die Behauptung abnimmt, daß es gar nicht existiere." D a s Resultat des Gedankenganges findet man jetzt komprimiert in Ebelings „ D o g m a t i k des christlichen G l a u b e n s " , Band 1, besonders S. 115ff. D o r t wird gesagt, „ d a ß sich das Phänomen Religion in einer Umbruchsituation befindet" (S. 116), was um so eher zu konzedieren ist, als der Glaube selbst einerseits eine „religiöse Religionskritik" (S. 138) aus sich entläßt, andererseits „ R e l i g i o n " , „ g e b r a u c h t " von der Grundrelation Gesetz - Evangelium her, eine „Lebensbedingung des G l a u b e n s " (a. a. O . ) vorstellt. Fazit: es muß sie geben, nämlich als die „ i m Sinne des Evangeliums in Brauch genommene christliche Religion", die alsdann „ d i e zur Wahrheit gebrachte Religion" sein soll (S. 139). Es spricht sachlich nicht
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auch sublim den Gedanken eines möglichen fundamentalen, die existentialen Bedingungen selbst betreffenden Umbruchs des Menschseins. Nietzsches extreme und ins Chaotische vorandenkende Dynamisierung aller anthropologischen Grundbestimmungen und existentialen Lokalitäten stellt ja nicht nur das Christentum als „Religion" vor ein Ende, sondern den „Menschen" selbst. Nietzsche-Rezeption könnte hier Vorstellungen „denkbar" machen oder zumindest Fragen jenes radikalen Zuschnitts nahelegen, wie sie bei Bonhoeffer das historisch geprägte Selbstverständnis des Christentums in dem Sinn anzugehen scheinen, daß „Religion" sich entweder im ersatzlosen Fortfallen als „geschichtlich bedingt" und vergänglich erweisen könnte oder daß eine fundamental eingreifende Veränderung des Menschseins derart zu denken wäre, daß „Religion" als Konstitutivum des (bisherigen) Menschen ausfiele. Die Frage als solche (gerade wenn man ihre Bejahung legitim als bedrohliche Reduktion und Perversion verstehen würde) muß klar gestellt bleiben, weil sie schon für sich dokumentiert, wie eingreifend und grundsätzlich die Irritation nicht nur der europäisch geprägten Theologie, sondern menschlichen Selbstverständnisses im Kontext europäischen Denkens und globaler Historie überhaupt sich darstellt.
2. Tendenzen, Grundstellungen und Klischees Wenn man von Bonhoeffers Prognose künftiger „Religionslosigkeit" sagen muß, daß sie mitgeprägt ist durch die Erfahrung seiner politisch und theologisch extremen Glaubwürdigkeitsprobe, so liegt darin für das Urteil von Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur kein Einwand, sondern viel eher eine kaum zu kritisierende Legitimation. Möglicherweise hat aber gerade diese F o r m der Beglaubigung dazu beigetragen, ein tiefer eindringendes, das erreichte Niveau wahrendes theologisches Gespräch nicht recht vorankommen zu lassen 2 4 4 . Dabei spielt natürlich die Zäsur von 1945 — die Erfahrung einer von keinerlei Faszination mehr beglänzten Katastrophe, die definitiv und unübersehbar ein Fragezeichen hinter die deutsche Kultur und hinter Nietzsche setzte — eine kaum angemessen zu beschreibende Rolle. E s ist aus vielerlei Gründen schwierig, die E p o c h e nach dem zweiten Weltkrieg mit ihren U m s c h w ü n g e n , mit den zeitweiligen Gefühlen des Neubeginns und mit dem Weiterwirken sehr alter Traditionen und Denkschemata sich halbwegs überschaubar vor Augen zu stellen. U n d nur mit bedeutender Vorsicht und Zurückhaltung, im vollen Wissen um das gegen diese Auskunft, daß sie eine alte, an Luther orientierte Position erneuert. Aber ist damit nicht in einer klugen, gut geschriebenen systematischen Klassifizierung der (erfahrungsgemäß weiterwirkende) Impuls in Bonhoeffers Frage zu den Akten gelegt? 244 Ygj Ernst Feil [Hrsg.]: Verspieltes Erbe? Dietrich Bonhoeffer und der deutsche Nachkriegsprotestantismus. München 1979. (Internationales Bonhoeffer-Forum. 2.)
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Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption
Fragwürdige solcher Charakteristik, wird man einige Hinweise zur weiteren Entwicklung wagen können. In ihr mehr Konsequenz zu sehen, als sie wirklich besitzt, davor muß man ohnehin auf der Hut sein. Das gilt auch für die im ganzen nicht bedeutungsvoller oder intensiver gewordene theologische Nietzsche-Rezeption, die in der Regel sich in der Nachhut des ab- und aufschwingenden allgemeinen Interesses an Nietzsche bewegt hat. Daß
Nietzsche
in den
ersten Jahren
nach
dem
Krieg
als
schwer
kompromittiert und historisch geradezu widerlegt galt, ist schon häufig festgestellt worden. Ebenso wohl der Sachverhalt, daß bis in die Mitte der sechziger Jahre eine gewisse Schätzung Nietzsches im Schatten von Heidegger, Jaspers und Löwith wieder heranwuchs, die damit aber auch im Bannkreis von Positionen verharrte,
deren Fundamente in den dreißiger Jahren
gelegt
wurden 2 4 S . In erster Linie durch diese Vermittlung hat Nietzsche für die Theologie einen Randplatz behalten oder wieder gewonnen. Nimmt man Karl Rahner als "bedeutendsten Repräsentanten katholischer Theologie bis zum (überraschenden) 2. Vatikanischen Konzil, so hat in seiner, die überkommene Frontstellung gegen die Philosophie Kants öffnenden Transzendentaltheologie 246 die Auseinandersetzung mit Nietzsche keinen erkennbaren Stellenwert. In der evangelischen Theologie „blühten" miteinander und gegeneinander die zu systematischer Reife gelangten Theologien von Barth, Bultmann, Brunner, Gogarten, Tillich: für eine theologische Nietzsche-Rezeption war in diesem Kreis keine neue Entwicklung zu erwarten. Erst von jener Mitte der sechziger Jahre ab — zugleich dem Punkt, an welchem einige der bekanntesten Vertreter der katholischen Theologie (zum Teil im Gefolge des 1965 beendeten Konzils, aber nicht ohne weiteres durch es verursacht) deren traditionelle, eher kulturpessimistische Grundstellung aufgaben — trat explosiv ein Schwärm von neuen „Ansätzen" auf. Die Titel dieser Tendenzen einer jüngeren oder auch schon wieder „mittleren theologischen Generation" (D. Solle) — als Exempel seien genannt: „Theologie der Hoffnung", „Theologie der Welt", „Politische Theologie", „Theologie der Revolution", „Theologie der Befreiung" — zeigen zum einen, daß es sich bei gleichzeitiger Öffnung für die Sozialwissenschaften und das praktisch-politische Engagement um so etwas wie Lernbemühungen der Theologie 247 handelte, deren Potential für eine auch philosophisch relevante Neufundierung der Theologie bisher kaum abzuschätzen ist. Wenn der Staub mancher akademischen Wirbel sich legt, dann lagert am Ende vor allem eine stattliche Reihe von Publikationen in den Bibliotheksregalen 248 . — Zum anderen erweist sich bald, daß die genannten Mein knappes Fazit aus dem Jahr 1973 hat sich durchaus bestätigt; vgl. vom Verf.: Die Problematik wissenschaftlicher Nietzsche-Interpretation, in: Nietzsche-Studien 2 (1973) 3 1 - 6 0 , bes. S. 3 1 - 3 4 . 246 Ygj ¿ a z u Karl Rahner-. Überlegungen zur Methode der Theologie, in: ders., Schriften zur Theologie. Band 9. Einsiedeln 1970. S. 7 9 - 1 2 6 . 2 4 7 Als informative philosophische Auseinandersetzung mit einem Teil jener theologischen Ansätze sei genannt das Buch von Richard Schaeffler: Was dürfen wir hoffen? Die katholische Theologie der Hoffnung zwischen Blochs utopischem Denken und der reformatorischen Rechtfertigungslehre. Darmstadt 1979. 2 4 8 Dem exemplarischen Uberblick mag dienen: Siegfried Wiedenhofer: Politische Theologie. Stuttgart (u.a.) 1976.
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Ansätze eher in den Kontext der Bloch-, M a r x - und Hegel-Rezeption gehören: für den doch politisch „ r e c h t s " angesiedelten Nietzsche konnte, abgesehen von ornamentalen Zitaten, kaum ein Plätzchen reserviert bleiben.
Einzig eine sowohl in den USA wie in der Bundesrepublik Deutschland auftretende „Theologie nach dem Tode Gottes" beanspruchte schon vom Titel her einen zentralen Bezug zu Nietzsche. Dieser Titel nennt freilich zugleich jenes Reservat, aus dem Nietzsche in der ganzen „Nachkriegszeit" nicht zu verdrängen war. Nietzsche blieb gewissermaßen der Kronzeuge des „Todes Gottes" und lieferte, ob in seinem Sinn verstanden oder nicht, eine geläufige Parole des modernen Selbstverständnisses 249 . Es hat allerdings auch nicht an Versuchen gefehlt, den Sinn des Satzes „Gott ist t o t " im Kontext von Nietzsches Gesamtwerk philosophisch und philologisch genauer zu untersuchen und damit auch in die Richtung der in den siebziger Jahren durchbrechenden neuen wissenschaftlichen Bemühung um Nietzsches Werk zu lenken 2 5 0 . Das Zustandekommen schließlich einer großen, philologisch präzisen, den Text endlich zuverlässig bereitstellenden Kritischen Gesamtausgabe ist ja selbst nicht nur ein bedeutender rezeptionsgeschichtlicher Vorgang, es setzt auch ein bestimmtes, aus manchen Motiven der Annäherung und Distanzierung gespeistes Rezeptionsinteresse voraus. V o r allem aber sollte eine solche Edition Anlaß geben zur Korrektur der gerade den Zugang zu Nietzsches Denken umlagernden, zäh überlieferten Klischees. Daß hier die theologische Literatur einen erheblichen Beitrag zur Produktion solcher Klischees geleistet hat, wurde bereits erwähnt. Aber diese Klischees sind dort, w o sie für gewisse sich durchhaltende Grundmöglichkeiten der Rezeption transparent werden, nicht einfach beiseite zu schieben, sondern als Phänomene ganz bestimmter Deutungsinteressen zu interpretieren, die selbst wiederum in Korrespondenz zur Struktur des Rezipierten stehen. Nietzsches Schriften sind — auch das zeigt die Geschichte ihrer Aufnahme und Wirkung — von ihrer literarischen F o r m u n g her, v o m Wirkungswillen in der zugespitzten Sentenz und zitierbaren, polemisch karikierenden Parole aus, selbst offen für klischeehaftes Verstehen und Stilisieren. Das W o r t v o m „ T o d e G o t t e s " ist auch 249
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Als seriöses Exempel sei der Exkurs in Jürgen Moltmanns „Theologie der Hoffnung" (München 1964. S. 152—155) genannt. Er weist voraus auf die spätere Bemühung evangelischer Theologen (neben Moltmann ist vor allem Jüngel zu erwähnen), von einem christologisch zentrierten Verständnis des „Todes Gottes" her den Begriff für Gotteslehre und die geschichtliche Dimension von Gottes Passion fruchtbar zu machen. Uberragende Bedeutung, trotz vieler Bedenken im Einzelnen und Grundsätzlichen, hat behalten: Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot", in: ders., Holzwege. Frankfurt/M. 1950. S. 193—247. — Spätere Literatur aus gleicher Schule blieb hinter dem Muster zurück, so Karl-Heinz Volkmann-Schluck : Zur Gottesfrage bei Nietzsche, in: Anteile. Martin Heidegger zum 60. Gebunstag. Frankfurt/M. 1950. S. 212—234. - Einen verdienstvollen Impuls zur philologischen und theologischen Durchdringung gab Eugen Biser-. „Gott ist tot". Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins. München 1962. — Biser hat seine Thesen mehrfach vorgetragen, besonders bemerkenswert in dem Aufsatz: Nietzsches Kritik des christlichen Gottesbegriffs und ihre theologischen Konsequenzen, in: Philosophisches Jahrbuch 78 (1971) 3 4 - 6 5 . 2 9 5 - 3 0 5 .
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(auch! nicht nur) ein bedeutendes Exempel dafür, wie die Theologie — und nicht allein sie — dem wirkungsvoll Formulierten aufsitzt. D a s Bild des fürchterlichen Ernstes von Nietzsches sogenannter „ G o t t s u c h e " trägt selbst — unbeeindruckt von vielen Texten zumal im „ Z a r a t h u s t r a " , die (wenn auch sehr forciert) in die Richtung des Spielerischen und „Versucherischen" weisen — wenigstens z u m Teil Züge eines zäh festgehaltenen Klischees. D i e Belege dafür in der Literatur sind Legion. Aufschlußreich daran sind, wie gesagt, die latenten Deutungsinteressen, die gerade im Uberblick über das theologische Schrifttum (so weit ich es kenne) dazu verhelfen, an der theologischen Nietzsche-Rezeption eines Jahrhunderts doch einigermaßen konstante Grundstellungen abzulesen. Natürlich mit vielen Variationen, aber doch auch einer bemerkenswerten Beständigkeit.
Der Grund für diese Konstanz liegt nach meinem Urteil in dem alles andere als ehrenrührigen Tatbestand, daß jene Grundstellungen theologischer Nietzsche-Rezeption tiefer als gedacht in die aktuellen Kirchentümer, deren gesellschaftliche und politische Lage (ein Troeltsch oder Bonhoeffer hätten das sicher nicht wegdisputieren wollen) und in die Position der staatlich verfaßten und beamteten Theologie verwoben sind. Es führt in die Irre, wenn NietzscheRezeption als ein Prozeß verstanden wird, der fast alles mit der Subjektivität der Rezipienten und deren individueller „Nietzsche-Begegnung" zu tun hat, aber kaum etwas mit der Bestimmtheit durch die aktuelle kirchliche und gesellschaftliche Situation. Eine nur „subjektiv" ansetzende Hermeneutik greift dann zu kurz, wenn sie die zweifellos zentrale, auch nicht einfach „ableitbare" Denkleistung der Interpreten isoliert von deren kirchlicher und gesellschaftlicher Verfassung. Das Exempel liefern m.E. gerade die beachtenswert unterschiedenen Formen der Nietzsche-Rezeption im katholischen und evangelischen Bereich. Natürlich ist es ein Risiko (weil sehr angreifbar), wenn man versucht, jene Grundformen und -gesten in ein ordnendes Schema zu bringen. Setzt man hinzu, daß es sich um Thesen handelt, die sich gern auch widerlegen lassen, die vor allem aber eine Diskussion in Gang bringen wollen, dann mag der Versuch sich lohnen. Im allgemeinen galt Nietzsche der Theologie als das, was er sein wollte: als der radikalste Feind des Christentums. Er fungierte damit als Repräsentant der suggestiven und polemischen Grundtendenz der Moderne — bis hin zu deren, v o m beständig prinzipieller und expansiver werdenden Atheismus abgeleiteten tyrannischen und das Menschsein im ganzen tangierenden Gefahren, Möglichkeiten, H o f f n u n g e n und Befürchtungen. D a nun die Moderne zur Entscheidung für oder wider sie geradezu nötigt, treten grundsätzlich Affirmation und Negation als jene Grundstellungen hervor, die man auch in ihrer historischen Bedingtheit an der Nietzsche-Rezeption ablesen kann.
So neigen ohne Zweifel evangelische Theologen gerade im Umgang mit Nietzsche variantenreich zur Affirmation der Moderne. Mit letzterer gemein-
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sam ist Nietzsche von „protestantischer Herkunft". Als Grundgestus, so wurde bereits formelhaft gesagt, erscheint die Absicht, in der Moderne den historisch werdenden Willen Gottes zu bejahen. Daß damit die Gefahren der Anfälligkeit für säkulare und politische Soteriologien, der unkritischen Legitimation des Staates, der Instrumentalisierung und der Reduktion ins Aktuelle sich auftun, braucht der evangelischen Theologie nicht erst „von außen" gesagt zu werden. Demgegenüber fand katholische Theologie sich selbst in der weitgehenden Negation der Moderne, bis hin zur Abschließung von der „ K u l t u r " in einem anachronistisch anmutenden Eigendasein (Stichworte verschiedener Provenienz:
Kulturfeindschaft,
Antimodernismus,
Dasein
im
Ghetto
usw.).
Formelhaft wurde diese Situation bereits als geschlossene Abgeschlossenheit bezeichnet. Das heißt: die Moderne als ganze und Nietzsche als einer ihrer Repräsentanten galten primär als Erscheinungsformen des Abfalls vom Willen Gottes. Die Eskalation des Atheismus jeglicher Spielart genügte als greifbare Ursache für die sozialen, politischen und ethischen Fehlentwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert. Uber die innere Gefährdung eines Katholizismus, der sich kampfbereit der Zeitgenossenschaft entzieht, nämlich zum triumphalistischen Petrefakt zu werden und die Innenstabilität über die Glaubwürdigkeit der Evangeliumsverkündigung zu stellen, braucht wiederum der katholischen Theologie nichts „von außen" gesagt zu werden: spätestens seit dem bereits erwähnten Konzil ist die Auseinandersetzung mit diesen Problemen in vollem Gang. Von dieser Grundstellung zur Moderne her (deren weitgehende Auflösung in der Mitte der sechziger Jahre, verbunden mit einer Schwenkung zur Bejahung des zuvor Bekämpften, wird vermutlich insofern Episode bleiben, als eine neu begründete Kulturkritik sich abzuzeichnen beginnt) galt jedenfalls Nietzsche lange Zeit als Symptom der möglichen Fehlentwicklung modernen Denkens, an dem man dessen verheerende Konsequenzen weit vorangetrieben fand und sie analytisch-therapeutisch erkennen konnte. In evangelischer Perspektive erscheint Nietzsche demgegenüber (bei größerer Variationsbreite) recht regelmäßig als freilich vieldeutiger Kulminationspunkt der emanzipatorischen, nicht selten vom reformatorischen Protest hergeleiteten Grundbewegung der Moderne, wobei Nietzsche (wie sich auch bei Barth und Bonhoeffer zeigt) dazu beiträgt, die Position zu dieser Kultur kritisch werden zu lassen. Man könnte sagen: so wie die katholische Theologie dabei ist, ihre Position zur Moderne neu zu bestimmen, so von einem differenten Ausgangspunkt her auch die evangelische Theologie. Bei dieser neuen Positionsbestimmung zeichnen sich auch veränderte Einschätzungen der Philosophie Nietzsches ab. Gleichwohl wird man von den skizzierten Grundstellungen her sagen dürfen, daß die extreme Affirmation der Moderne, wie sie im Kontext einer „Theologie nach dem Tode Gottes" vorliegt, historisch in dieser Form wohl nur auf dem Boden der evangelischen Theologie erwachsen konnte. Allein schon der grundsätzlich vom Paradox wegdenkende Grundgestus der katholischen Theologie hätte es erschwert, den Gedanken einer positiven Einbeziehung der Negation des Glaubens (und so wird die Rede vom „Tod Gottes" hier verstanden) in die
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Theologie zu fassen oder gar Theologie von dort her zu fundieren. Ein solcher Gedanke setzt längere Gewöhnung an eine hegelianisch gefärbte Geschichtstheologie voraus, für die „geschichtlich" der Atheismus providentielle Wirklichkeit werden kann, dergestalt, daß sie — die Negation dialektisch aufzuheben trachtend — sozusagen als Modernste der Modernen die Absage an G o t t (sie wirklich strikt begreifend?) akzeptiert und sie zugleich „christlich" (in einer äußersten Dehnung des Begriffs) rezipierend unterläuft. Z u dieser äußersten Möglichkeit, die den Eindruck erweckt, als sei in ihr NietzscheRezeption gewissermaßen ans Ziel der Horizontverschmelzung gelangt, soll nun noch mit Hilfe eines Beispiels eine Überlegung angefügt werden.
3. Theologie nach dem Tode Gottes? Das für unsere Zwecke ausgewählte Exempel stammt aus dem Bereich der deutschen evangelischen Theologie 2 5 1 . Es geht speziell um ein Buch der Theologin Dorothee Solle mit dem Titel: „Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem ,Tode Gottes'" 2 5 2 , sowie um einige andere ihrer Schriften vornehmlich aus den sechziger Jahren 2 5 3 . Um der Klarheit willen muß sogleich hinzugesetzt werden, daß dieses Beispiel allein unter dem Gesichtspunkt der dort vorfindlichen Nietzsche-Rezeption betrachtet werden soll. Das heißt: es geht nicht um eine Erörterung etwa der christologischen Aussagen bei D. Solle; dazu gibt es genug ausführliche Stellungnahmen 254 . Schon die Titulatur der genannten theologischen Tendenz gibt sich — so wird sie jedenfalls in der Regel verstanden — provozierend als Nietzsche-Zitat und -Rezeption. (Daß es sich bei D. Solle eher um ein Hegel-Zitat handelt, bemerkt man erst später, aber doch rasch.) Die Reaktion darauf entspricht dieser Provokation. Die Theologie (als Bedenken der Wirklichkeit Gott) und den „Tod Gottes" zusammenzuspannen, das erscheint, je nach Einsicht und Geschmack, paradox oder absurd. Als nüchterne und unverdächtige Zeugin mag hier Hannah Arendt benannt sein, die den „Tod Gottes" (parallel gesetzt zum „Tod" der Theologie und Metaphysik) eine „ungeprüfte Voraussetzung Die sehr viel ausgebreitetere amerikanische Spielart jener theologischen Tendenz kann hier weder theologisch noch im Blick auf ihre Nietzsche-Rezeption kurz abgehandelt werden. Darstellungen der theologischen Problematik existieren in bedeutender Zahl. Als Beispiele seien aufgeführt: Heinrich Döring: Abwesenheit Gottes. Fragen und Antworten heutiger Theologie. Paderborn 1977 (mit ausführlichen Literaturhinweisen). - J . Bishop: Die Gott-ist-tot-Theologie. Düsseldorf 1968. — Sigurd M. Daecke: Der Mythos vom Tode Gottes. Ein kritischer Uberblick. Hamburg 1969. 2 5 2 Stuttgart, Berlin 1965. Auch als Gütersloher Taschenausgabe, Band 65, Gütersloh 1972 erschienen. Nach dieser Ausgabe wird hier zitiert. 2 5 3 Gesammelt in: Dorothee Solle, Atheistisch an Gott glauben. Beiträge zur Theologie. Olten-Freiburg 1968. 254 Vgl. Helmut Gollwitzer-. Von der Stellvertretung Gottes. Christlicher Glaube in der Erfahrung der Verborgenheit Gottes. München 1967. 251
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für fast jedermann" heißt 2 5 5 und das Akzeptieren dieser Voraussetzung durch die Theologie als Symptom von deren eigenem Ende wertet. Treffend erscheint zudem die Anmerkung, der „Tod Gottes" als quasi öffentliche Prämisse repräsentiere die „politische Seite der Sache" 2 5 6 ; gerade um diesen Aspekt der gleichsam alle Menschen „politisch" zwingenden Bedingung geht es D. Solle zweifellos. Eine spezielle Provokation ihrer Schriften mag in dem wissend-aggressiven Kommandoton liegen, mit dem die „ungeprüften Voraussetzungen" als nicht zu prüfende und „geschichtlich" notwendige Bedingungen jeglicher (das bei H. Arendt einschränkende „fast" entfällt) Erfahrung, insbesondere der religiösen, dekretiert werden. Die theologische Diskussion trug denn auch beständig eine verdeckte oder offen gezeigte politische Signatur. Der Grundbestand von Sölles theologischen Thesen weist nach meinem Eindruck in der „linken" Ubersetzung mancher Ansätze bei Gogarten, Bultmann und Tillich strukturell keine sonderlichen Überraschungen auf. Trotz mannigfacher Berufung auf Bonhoeffer lehnt sie zum Beispiel den Gedanken an ein „Ende der Religion überhaupt" 257 ausdrücklich ab. Vielmehr faßt sie die Beschreibung eines „atheistischen Glaubens" unter der Voraussetzung des „Todes Gottes", mündend in die Utopie eines „Reiches" humaner (und damit „göttlicher") Identität, in ihrer Begründung so auf, daß Befriedigung verheißen wird für ein „immer wieder neu überschießendes religiöses Bedürfnis" 2 5 8 . Dieses im Grunde gar nicht besonders „radikale" Konzept hat Folgen für die sehr einseitig auf den „Tod Gottes" fixierte Nietzsche-Rezeption. Der Begriff wird eingeführt unter ausdrücklicher Berufung auf Nietzsche 2 5 9 , jedoch so, daß damit primär ein „geschichtliches Ereignis" bezeichnet sein soll, das sich „innerhalb der letzten zweihundert Jahre europäischer Geschichte begeben hat" 2 6 0 — und als solches von einigen „bemerkt" wurde — in der geläufigen Reihenfolge: von Hegel, Jean Paul, Nietzsche. Ein Blick auf die Quellen, also die Abschnitte 125 und 343 der „Fröhlichen Wissenschaft", zeigt rasch, daß jene genaue Datierung Nietzsches Sache nicht ist. Besonders im Abschnitt 343 wird das „größte neuere Ereignis" bei genauem Zusehen mit Wendungen beschrieben, die einen „eben" erst einsetzenden Beginn des Schattenwurfs jenes Ereignisses nahelegen. Der Beginn des ausdrücklichen Bemerkens liegt für D. Solle zweifellos bei Hegel 2 6 1 : im Sinn und mit Kategorien seiner Geschichtsphilosophie, verbunden mit der Anlehnung an Paul Tillichs Grundformel, wird der „Tod Gottes" zunächst definiert als die „Bedingung, unter 255 256 257 258 259 260 261
Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Band 1: Das Denken. München, Zürich 1979. S. 21. A.a.O. D. Solle, Stellvertretung, S. 133. A . a . O . S. 134. A . a . O . S. 8f. A . a . O . S. 9. Vgl. a . a . O . S. lOf.
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der Unbedingtes heute erscheint" 2 6 2 . Es dürfte kein Zufall sein, daß Tillichs Erfahrung des Angegangen- und Ergriffenseins durch ein Unbedingtes abgeschwächt ist zu einem bedingten „Erscheinen", das sich primär als „Logik" eines bestimmten Geschichtsverlaufs erfahren läßt. Der „Tod Gottes" stellt sich dar als Prämisse eines „nachtheistischen Zeitalters" 2 6 3 , zu dem eben konstitutiv gehört, daß „ G o t t " nicht in irgendeinem Sinn „unmittelbar" erfahrbar sein kann und darf. Charakteristischer Weise ist nach der anfänglichen Zulieferung des „Todes Gottes" über weite Strecken in D. Sölles Buch von Nietzsche nicht mehr die Rede, und erst dort wieder, wo diese Formel in dem Sinn interpretationsbedürftig wird, daß sie geöffnet werden soll für eine latente Präsenz eines symmetrischen, gesellschaftlich vermittelten „Gottes". Zu diesem Zweck muß unter Verwendung einer anthropomorphen (hier aber nicht im spöttischen Sinn — vgl. 1 Könige 18, 27! — gemeinten) Sprechweise, die derjenigen der auf dem Markt zusammenstehenden „Atheisten" analog ist, der „Tod Gottes" als „Abwesenheit Gottes" interpretiert werden. Nicht „göttliche Verwesung" im Sinn des radikalen Endes und der Leblosigkeit 264 , sondern „Abwesenheit". Diese Abwesenheit hinwiederum wird in eine gut lutherische Definition gebracht, die das „Totsein" im Sinne von Ab-wesen geradezu als einen „Seinsmodus" Gottes deutet: „Die Abwesenheit Gottes kann verstanden werden als eine Weise seines Seins — für — uns." 2 6 5 Gott „ist" somit in der Seinsweise der Abwesenheit, und darum, weil Abwesenheit als „für uns" ereignete ausgelegt wird, muß der abwesende Gott aus humaner Nötigung „vertreten" werden. Für diese „Stellvertretung" hält christliche Theologie den Namen und die Gestalt des Christus bereit, nur wird eben diese Tradition von D. Solle in einem Sinn ausgelegt, dessen geschichtliche Begründung sie an anderer Stelle in den Grundsatz gefaßt hat: „Ein Gott, zu dem wir in einem asymmetrischen Verhältnis stehen, ist human unerträglich geworden." 2 6 6 Als theologische Konsequenz aus diesem Prinzip würde man erwarten, daß von „ C h r i s t u s " nicht mehr die Rede wäre und ebenso nicht von — „ s y m m e t r i s c h " wie zu begründender? — „Stellvertretung". Man k o m m t durch alle eleganten Absicherungen hindurch an der Feststellung nicht vorüber, daß diese mythische Sprechweise nur
263 264
265 266
A . a . O . S. 8. A . a . O . S. 133. Dagegen argumentiert D . Solle in merkwürdiger sachlicher Parallelität zu Ebeling: als müsse der Gedanke an ein Ende quasi aus existentialer Nötigung sich einen „Ersatz" erzwingen: „Unbesetzt bleibt die Rolle Gottes in keinem Falle" ( a . a . O . S. 134). Das eben ist die Frage, ob nicht doch der „Ort Gottes" leer bleiben kann. Vgl. dazu Martin Heidegger, Holzwege, S. 235 f. A . a . O . S. 134. Dorothee Solle: Christus oder Prometheus. Eine Auseinandersetzung mit Helmut Gollwitzer. In: Merkur 26 (1972) S. 708.
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dann noch halbwegs vertretbar erscheint, wenn es mit dem „ T o d " des Gottes, „zu dem wir in einem symmetrischen Verhältnis stehen", so genau nicht genommen wird, wenn also Gott „nicht ganz t o t " ist. Einen „toten" Gott zu vertreten, wäre ein Anspruch von jener massiven Absurdität, die der theologischen Konstruktion den letzten Rest einer Plausibilität nähme, die sie für „moderne" Christen doch offenbar noch besitzen soll. F o l g l i c h b e d a r f es einer v o n D . Solle selbst z u g e s t a n d e n e n b u n g " von Nietzsches Aussage267.
Ihr Hinweis,
Nietzsche
sich
„nicht
so f e r n " ,
beruft
„Verschie-
diese V e r s c h i e b u n g
liege
auf eine jener vereinzelten,
von
interessierter t h e o l o g i s c h e r Seite n a c h B e d a r f a n g e z o g e n e n N a c h l a ß - N o t i z e n , die den G e d a n k e n einer „ N e u e n t d e c k u n g " (Biser) des „ a b w e s e n d e n " G o t t e s a n d e u t e n sollen. E i n G o t t , der seine „ m o r a l i s c h e H a u t " auszieht, w i r d „ j e n seits v o n gut u n d b ö s e " w i e d e r g e s e h e n 2 6 8 ; ein a b w e s e n d e r G o t t , so ist die M e i n u n g , k a n n in irgendeinem Sinn n o c h o d e r w i e d e r „ a n w e s e n " , u n d w ä r e es i m M o d u s der A b w e s e n h e i t selbst, insofern dieser p a r a d o x als „ S e i n - f ü r - u n s " definiert w i r d . Wie sich von bestimmten Grundstellungen her parallele Interpretationsmuster nahelegen, kann man daran beobachten, wie D. Solle sodann die Nietzsche-Texte zum „ T o d Gottes", insbesondere „Die fröhliche Wissenschaft" N r . 125, in einer an Overbeck erinnernden Weise bespricht. Schon Overbeck hatte hier einen Ton angegeben, der durchaus im evangelischen Bereich gut ins O h r ging 2 6 9 . Bekanntlich hat er in einer höchst folgenreichen Stellungnahme (zuerst 1906 in der „Neuen Rundschau" publiziert und dann 1908 in C. A . Bernoullis umfängliches Buch aufgenommen 2 7 0 ) die These vertreten, der Satz „ G o t t ist t o t " dürfe nicht als Seinsaussage im Sinn des anderen Satzes „ G o t t ist nicht" genommen werden. Overbeck seinerseits läßt offen, ob Nietzsche jemals darüber, „ o b Gott sei oder nicht", etwas habe sagen wollen. Ganz in 267
268
D. Solle, Stellvertretung, S. 134: „Damit verschiebt sich Nietzsches Aussage, daß Gott tot sei, zu einem „Gott muß vertreten werden" — ein Gedanke übrigens, der Nietzsche, der von den „Häutungen Gottes" zu reden weiß, nicht so fern liegt." Bei Nietzsche lautet die Stelle: „Ihr nennt es die Selbstzersetzung Gottes: es ist aber nur seine Häutung: — er zieht seine moralische Haut aus! Und ihr sollt ihn bald wiedersehn, jenseits von gut und böse." (KSA 10, S. 105) — Der Interpretationsfehler liegt, wie so oft, in dem Kurzschluß, wo bei Nietzsche das Wort „Gott" vorkomme, sei dessen Sachgehalt im Sinn der christlichen Tradition völlig klar. Das Klischee ist aber ebenso klar: der Nietzsche, der von Gott nicht loskommt und genötigt ist, seine „Wiederkunft" zu denken. Vgl. zu dieser Problematik die Abhandlung von Reinhard Margreiter, Ontologie und Gottesbegriffe bei Nietzsche. Zur Frage einer „Neuentdeckung Gottes" im Spätwerk. Meisenheim/Glan. 1978. (Monographien zur philosophischen Forschung. 160.) - Zudem wäre sehr gründlich zu bedenken, welche Tragweite die „Widerlegung" des „moralischen Gottes" (Nietzsche: „eigentlich ist nur der moralische Gott widerlegt", KSA 11, S. 624) für ein derart hochmoralisches Konzept wie das von Dorothee Solle hätte. Alles in allem ein eher bedenklicher als bedachtsamer Umgang mit Nietzsche-Zitaten.
Die katholische Theologie, insbesondere die von der Scholastik beeinflußte, war demgegenüber immer geneigt, sich mit einzelnen „Lehren" des Philosophen Nietzsche auseinanderzusetzen und so auch den Satz „Gott ist tot" als atheistisches Urteil, das Sein Gottes betreffend, zu diskutieren. 270 Vgl. Carl Albrecht Bernoulli: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft. Band 1. Jena 1908. S. 216ff.: „Overbeck über Nietzsches Atheismus". 269
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der gleichen Richtung scheint auch D . Solle zu denken: „ S a g e n , daß G o t t „ s e i " , ist keine Antwort auf die neuzeitliche Herausforderung, eben weil Nietzsche nicht sagt: G o t t ist n i c h t . " 2 7 1 U n d sie fährt fort: „ E s geht Nietzsche so wenig wie dem christlichen Glauben u m G o t t , wie er „ a n sich" ist: der ist als vorfindlicher Gegenstand des Bewußtseins tot; es geht ihm u m den G o t t , der für uns und mit uns lebt. D e r tolle Mensch beklagt die evidente Unwirksamkeit Gottes und denkt nicht daran, seine Unwirklichkeit festzustellen." 2 7 2
Das Nicht-Feststellen der „Unwirklichkeit" scheint somit doch eine „Wirklichkeit" zuzulassen, die einerseits negativ als Abwesenheit und Unwirksamkeit, andererseits positiv als Seinsweise „für uns und mit uns" zu bestimmen ist. Die Verschiebung erweist sich unübersehbar darin, daß der Tod Gottes in Nietzsches Denken gerade jene Seinsweisen (und gar das „Leben für uns und mit uns") bis zur letzten Konsequenz negiert und daß Nietzsche damit über alle „Theologendialektik" hinauskommt. Dorothee Sölles dialektische Vermittlung zweier religiöser Erfahrungen: der Erfahrung der Abwesenheit Gottes und der Erfahrung des Vertretenseins Gottes durch Christus, gelingt im Grunde nur auf dem Wege einer zweifachen Verschiebung: einmal einer verschobenen Nietzsche-Auslegung und zum anderen jener unbedingt symmetrischen Interpretation der Christologie, die den Namen „Christus" als humanes, entprivatisiertes Programm austauschbar macht. Für die letzte Begründung dieses Programms, dessen latente Christlichkeit insbesondere in der aktiven Sensibilität für gesellschaftlich verursachtes Leiden nicht zu unterschätzen ist, kann Nietzsche nur mit Gewalt zum Gewährsmann gemacht werden. „Das ist immer noch die alte religiöse Denk- und Wunschweise, eine Art Sehnsucht zu glauben, [. . .] daß i r g e n d w o r i n doch [. . .] „der alte Gott noch lebe" . . . " (KSA 11, S. 556f.). Im Grunde besitzt Nietzsche selbst für diese theologische Tendenz, die sich in ihrem Titel ausdrücklich auf ihn bezieht, eine eher ornamentale und vor allem austauschbare Funktion. War diese Form der Nietzsche-Rezeption mit einem kritischen Wort von Ernst Troeltsch „eine der vielen lose sitzenden wissenschaftlichen Masken, die auf den Festen der Theologie getragen werden" 2 7 3 ? Jedenfalls hat sie sich in einem Maße als kurzlebig erwiesen, das die ursprüngliche Vermutung, hier habe Theologie mit einer äußersten Möglichkeit experimentiert, nicht bestätigt. Ernstliche Nietzsche-Rezeption hätte ernstliche Konsequenzen zeitigen müssen (dafür bleibt Overbeck ein nicht zu verdrängendes Exempel), insbesondere in einem Weiterdenken, das den intensiven Konnex mit Nietzsches Denken erst noch sucht. Stattdessen scheint jene theologische
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D. Solle, Stellvertretung, S. 135. A . a . O . S. 136. E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums, S. 41.
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Tendenz von der Urheberin selbst als nicht mehr zeitgemäß zu den Akten gelegt worden zu sein 274 . Der lose Sitz der Maske Nietzsche ist unverkennbar.
4. Theologische Irritationen Einiges von der Entwicklung der Theologie im 20. Jahrhundert, so weit die Nietzsche-Rezeption dafür ein Beleg sein kann, läßt sich möglicherweise abgekürzt an der bereits angeführten, nicht ohne den Gedanken an Nietzsche zustandegekommenen Formel Bonhoeffers ablesen: „Vor und mit Gott leben wir ohne G o t t . " Wenn die theologischen Ansätze zur Einbeziehung des „Todes Gottes" für irgend etwas symptomatisch sind, dann für vielfach erfahrene zunehmende Evidenz des Lebens ohne Gott und den nicht von ungefähr kommenden Plausibilitätsverlust des Lebens vor und mit Gott. Die in der Theologie zudem kaum noch durchgehaltene Balance der Formel Bonhoeffers ermöglichte, wie man sehen muß, eine Radikalität christlichen und kritischen Fragens, die in nachfolgenden Theologien (auch wenn sie sich radikaler gaben) bisher nach meinem Urteil kaum wieder erreicht worden ist. Tief ins Dilatorische und in die Defensive verstrickt, gab es dort, wo eine eher affirmative Nietzsche-Rezeption gesucht wurde, immer neue Wege, um doch noch den Philosophen — als ernstlicher Feind eine ernstliche Waffe gegen die Indifferenz — in christlichen Zusammenhängen in Anspruch zu nehmen. Dafür noch mit wenigen Hinweisen ein letztes Exempel, das sachlich durchaus älteren Datums ist, aber — wie es scheint — heute den neuesten Stand anzeigt. Knapp zusammengefaßt geht es um die „Entdeckung" von Nietzsches „heimlicher Jesus-Verehrung" — als Reflex der inneren Probleme, welche die Theologie fortlaufend, heute aber primär im Zeichen der historischen Jesusfrage 275 , mit der Christologie hat. Die feste Basis dafür ist Nietzsches psychologische Analyse des „Typus Jesu" als eines „Erlösers" unter konse274
275
Daß ein Gleiches bei den Gegnern jener Tendenz geschieht, ist nicht zu verwundern. Gerhard Ebeling spricht in seiner „Dogmatik des christlichen Glaubens", Band 1, vom „Spuk einer Gott-ist-tot-Theologie" (S. 71); vgl. ebenso dort S. 174, 216 und 230. Daher verwundert es nicht, daß ein gewichtiger Anteil der hierher gehörenden Literatur aus exegetischen Publikationen stammt. Einen beachtenswerten Anfang setzt ein Aufsatz von Martin Dibelius: Der „psychologische Typus des Erlösers" bei Friedrich Nietzsche, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 22 (1944) 61 —91. — Aus der neueren Literatur seien genannt: Klaus Schäfer, Zur theologischen Relevanz der Jesus-Deutung Friedrich Nietzsches, in: Wort Gottes in der Zeit. Festschrift K. H. Schelkle, Hrsg. v. H. Feld und J. Nolte. Düsseldorf 1973. S. 3 1 9 - 3 2 9 . - Gerhard Sauter: Nietzsches Jesusbild als Frage an eine „Theologie nach dem Tode Gottes", in: Neues Testament und christliche Existenz. Festschrift H. Braun. Hrsg. v. H. D. Betz und L. Schottroff. Tübingen 1973. S. 4 0 1 - 4 1 9 .
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quentem Fortfall aller christologischen Elemente (auch „Erlöser" meint eine psychische und physiologische Zuständlichkeit, nicht eine christologische Titulatur). Nietzsches Jesusbild steht durchaus in einem freilich noch viel genauer zu erforschenden Konnex zur zeitgenössischen Theologie und ist ihr zugleich durch die Radikalität der atheistischen Position „voraus". Merkwürdigerweise gibt es nach meiner Kenntnis in der Nietzsche-Literatur bisher keine gründliche, durch Interessen nicht verzerrte Gesamtdarstellung von Nietzsches Jesusdeutung. Sie wäre darum erwünscht, weil das Gesamtwerk Belege beibringt, die zur differenzierten Beurteilung anhalten und es erschweren, die Beurteilung Jesu, wie sie nun ausgerechnet gern dem „Antichrist" entnommen wird, so ausnehmend theologisch nutzbar erscheinen zu lassen. Es ist nicht so leicht, Nietzsches vieldeutiges Interesse an der Person Jesu mit philologischer Genauigkeit und interpretatorischer Sensibilität adäquat zu charakterisieren. — Es setzt sich zusammen aus einigem Respekt für den durch das historisch effiziente „paulinische Christentum" verratenen Einzelgänger, aus psychologischem Interesse für einen in seiner Einseitigkeit singulären Fall von Widerstandsunfähigkeit („Liebe") und einem gehörigen Anteil Verachtung für einen Typus, bei dem es nach Nietzsches eigener Konstruktion mit „Kopf" und„Verstand" nicht zum besten bestellt war. Zudem darf im Kontext die polemische Abzweckung des Präparats nicht ausgeklammert werden. Von „Verehrung" in einem Sinn, der hier wohl erneut einen Rest- oder Grundbestand von „Christlichkeit" dingfest machen will, kann nach meiner Kenntnis der Texte keine Rede sein. Aber gerade an diesem Punkt scheint sich heute als Abspiegelung theologischer Problematik ein (alt-) neues, bestätigendes Klischee formieren zu wollen. Symptomatisch dafür erscheint eine Heidelberger Vorlesungsreihe, deren Ziel die Verständigung über die Legitimationsprobleme der Theologie sein sollte und in deren Rahmen es zu einem Dialog der Initiatoren Georg Picht und Enno Rudolph über Nietzsches Christentumskritik kam 276 . Zunächst hielt Rudolph einen philosophischen Vortrag über „Nietzsches Kritik an der Metaphysik und am Christentum" 2 7 7 , dem dann Georg Picht seine „ A n t w o r t " folgen ließ 2 7 8 . Rudolphs Vortrag gewinnt in unserem Zusammenhang dort Interesse, w o seine im Ansatz diskutable Analyse des Jesus-Bildes im „Antichrist" eigentümliche Grenzüberschreitungen hin zur theologischen Thesenproduktion vollführt, die ihn sachlich (ob aber gewollt?) sogar in die Nähe der „Theologie nach dem Tode Gottes" rücken. Völlig zu Recht stellt er fest, Nietzsches Jesus-Deutung komme zustande „durch eine Synthese von Ergebnissen historischer Rekonstruktion und psychologi-
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In Buchform publiziert unter dem Titel: Theologie - was ist das? Hrsg. v. Georg Picht und Enno Rudolph. Stuttgart, Berlin 1977. A . a . O . S. 2 8 9 - 3 0 9 . A . a . O . S. 3 1 1 - 3 2 2 : „ A n t w o r t von Georg Picht".
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scher K o n s t r u k t i o n " 2 7 9 . W e n n nun Rudolph das derart konstituierte Jesusbild nachzeichnet, verleiht er ihm zugleich eine Tendenz, die sich vor dem Nietzschetext kaum mehr ausweisen kann. E s liegt auf der H a n d , daß die polemische Kontrastierung zum sogenannten „paulinisch-kirchlichen Christentum" ein „positives" Jesusbild geradezu fordert, aber Nietzsche genügt dieser Forderung differenzierter, als sie bei Rudolph aufgefaßt wird, mit unübersehbaren Hinweisen darauf, daß dieser Typus, so sehr er als Möglichkeit „für gewisse Menschen" bestehen bleibt, weder Nietzsches eigenem E n t w u r f übermenschlicher G r ö ß e entsprechen noch auch ein Fundament für irgendeine Zukünftigkeit des „ C h r i s t e n t u m s " abgeben k a n n 2 8 0 . Demgegenüber sieht Rudolph in Nietzsches Jesusbild ein Symbol des Ubermenschen, insbesondere in der von Jesus nach Nietzsches W o r t e n „gelebten Einheit von G o t t und M e n s c h " 2 8 1 . Jene „ E i n h e i t " meint bei Nietzsche das psychologisch zu deutende Selbsterlebnis Jesu, das aber jede christologische Füllung strikt verbietet. Den W e g zu dieser „ C h r i s t o l o g i e " , auf dem Picht dann bis ans Ende geht, bahnt Rudolph auf die schon bekannte Weise der „ V e r schiebung" von Nietzsches Aussage: nur ein „paulinischer G o t t extra n o s " 2 8 2 habe als tot zu gelten, der symmetrische G o t t hingegen manifestiere sich in der jesuanisch gelebten „Einheit von G o t t und M e n s c h " , die zugleich bruchlos die „ C h a n c e des U b e r m e n s c h e n " 2 8 3 symbolisiere. Eine intelligente Konstruktion unter der Voraussetzung der zurechtrückenden doppelten Verschiebung. Die Bereitschaft zur Verschiebung setzt freilich (und wäre es nur von den Forderungen einer halbwegs vertretbaren
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A . a . O . S. 305. Das will sagen: Nietzsche argumentiert christentumskritisch mit Hilfe „einer psychologisch rekonstruierten Gestalt Jesu, die so im Neuen Testament nicht zu finden ist" (S. 301)! Freilich wäre nun doch genauer zu klären, welche methodischen und philosophischen Implikationen in Nietzsches „Psychologie" vorliegen und notwendig das Resultat von Rekonstruktion und Konstruktion prägen müssen. Mutatis mutandis gilt diese Forderung ebenso für die neutestamentliche Exegese. Durch diese Implikationen kommen eben die vielen widersprüchlichen Jesusbilder zustande.
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Es dürfte ratsam sein, manche Textstellen sehr vorsichtig zu interpretieren. Zum Exempel die folgende: „Es ist falsch bis zum Unsinn, wenn man in einem „Glauben", etwa im Glauben an die Erlösung durch Christus das Abzeichen des Christen sieht: bloss die christliche Praktik, ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich . . . Heute noch ist ein solches Leben möglich, für gewisse Menschen sogar nothwendig: das echte, das ursprüngliche Christenthum wird zu allen Zeiten möglich sein . . . " (AC 39; KSA 6, 211). — Gerade Sätze wie der letzte vom „echten, ursprünglichen Christentum" zeigen die Versuchung, die für Theologen (und Philosophen, wie sich erweist) in solchen Aussagen steckt: nämlich sie zu isolieren, zu generalisieren und sie mit den eigenen Wünschen zu füllen. „Ursprüngliches Christentum" meint aber im Kontext doch wohl ein Leben aus jener Konstellation der Instinkte, die für den von Nietzsche (re-)konstruierten Typus Jesu (vgl. KSA 13, 175ff.) charakteristisch war: somit als Praktik eines einzelgängerischen, bis ins Extrem des Kreuzes vorgetriebenen, „buddhistischen" Nicht-sich-Wehrens und des Friedenhaltens, Mitleidens etc. in diesem Sinn. Wie immer man die Akzente setzt, auf jeden Fall ist ein Typus gemeint, auf den theologische Begriffe bestenfalls als psychologische Chiffren seiner Instinkte zutreffen.
Vgl. A C 41 und Rudolph, a . a . O . S. 302. 282 pür den Theologen besteht die Ironie darin, daß eine Exegese, die den „historischen Jesus" ganz fern von aller Christologie im Auge hätte, von diesem sagen müßte, sein Gott sei gerade jener „paulinische Gott extra nos", nämlich der Gott des Judenvolkes gewesen. Zur Kenntnisnahme einiger angebrachter kritischer Gesichtspunkte darf noch einmal auf den Aufsatz von Gerhard Sauter verwiesen werden. 2 8 3 Rudolph, a. a. O. S. 304. - Was „Ubermensch" als Grundwort von Nietzsches Denken sagen will, ist von Rudolph wohl kaum zulänglich erfaßt worden. 281
Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption Exegese her) ein nicht zu leugnendes Fragezeichen hinter solche Jesuspräparate, die im G e w a n d der Nietzsche-Rezeption auftreten.
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Mögliche Konsequenzen dieses Ansatzes kann man sogleich in der nachfolgenden „Antwort von Georg Picht" studieren. Ich verhehle nicht, daß ich kaum einen anderen Text zu nennen wüßte, der in solch komprimierter Form gewissermaßen eine Generalversammlung der okkupierenden Klischees vor Augen führt. Allein schon dieser Tatbestand macht den Text untersuchenswert. Er stützt seine Darlegungen zudem beständig durch die Berufung auf die neue Kritische Gesamtausgabe, liefert freilich nur den Beweis dafür, daß es wesentlich auf die Qualität des Lesens ankommt. Offenbar kann man eine treffliche Edition auch zur Bestätigung sehr eingeschliffener Denkschemata benutzen. Ich nenne einige der Thesen: Theologie und Kirche haben einen Nietzsche, der mit seinem „Fluch auf das Christentum" im Blick auf Mt 5, 44 dessen Feindesliebe provozieren wollte, weitgehend verkannt; denn: „Friedrich Nietzsche ist der letzte große Prophet der christlichen Welt." 2 8 4 Als prophetisch mag denn auch sein (durch die neue Werkausgabe erst hervortretendes?) „Bild von Jesus" gelten, das Picht (im Anschluß an Rudolph, diesen aber überbietend) bei Nietzsche ungescheut einer „mit elementarer Gewalt ans Licht" tretenden „Verbindung von Glauben und Denken" 2 8 5 , „Theo-logie" genannt, entsprungen sieht. Damit aber kann Nietzsche mit seinen Ausführungen zum Typus Jesu als Urheber einer „neuen Christologie" gelten 286 . Von dort aus ist der Weg nicht weit bis zu einem zweiten Kernsatz, der für Nietzsche selbst gewiß die Grenzen übler Nachrede überschritten hätte: „Wenn irgend jemand, so ist Nietzsche mit seiner gesamten Existenz, die er dabei aufs Spiel gesetzt hat, Theologe gewesen." 2 8 7 Nach dieser Erkenntnis ist gewissermaßen alles möglich, speziell aber die unvermittelte Auslegung sämtlicher NietzscheTexte auf eine heimliche „Theologie" hin. Picht setzt ausgerechnet mit einer Berufung auf Nietzsches Wahnsinnsbriefe ein, wobei die titulare Unterschrift „der Gekreuzigte" wieder einmal sogleich mit dem Jesus des „Antichrist" identifiziert wird 2 8 8 . Verborgen soll Nietzsches ganzes Denken von den Antwort von Georg Picht, a . a . O . S. 311. A . a . O . S. 312. — Der Begriff „Glauben" in diesem Kontext ist unbegründete Setzung. 2 8 6 Es ist erstaunlich, daß man an einen simplen Tatbestand erinnern muß: „in der Sprache der theologischen Wissenschaft" wird, wenn nicht schon eine wuchernde Begriffsverwirrung eingetreten ist, nicht für jedes „Bild von Jesus" der Begriff „Christologie" gebraucht (gegen Picht S. 311). Wer von einer bei Nietzsche vorfindlichen „neuen Christologie" spricht, bringt über die Hintertreppe jenen Gott ins Spiel, dessen Toterklärung durch Nietzsche dann eben nicht als eine „furchtbare Neuigkeit" (KSA 11, 425) von jener Tragweite verstanden wird, die alle Theologie an ihr Ende bringt. 2 8 7 A . a . O . S. 312. 288 j ö r g Salaquarda weist darauf hin, daß allen bisherigen Interpreten entgangen sei, „daß N(ietzsche) mit der Formel „der Gekreuzigte" nicht den historischen Jesus, sondern den 284
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Anfängen bis zum Ausbruch des Wahnsinns auf der Suche gewesen sein nach einer „Synthesis von Dionysos und dem Gekreuzigten" 2 8 9 . Diese Synthese, „die aus den Botschaften des ausbrechenden Wahnsinns spricht", tauche „wenngleich auf noch kaum greifbare Weise" schon in frühen Texten bis hin zur „Geburt der Tragödie" als „Grundidee von Nietzsches Denken" auf 2 9 0 . Wenn aber dies als „ G r u n d i d e e " gelten soll, dann scheint damit die Lizenz zu den gewagtesten Auslegungen auf „ J e s u s " hin gegeben. Mit der Konsequenz am Ende, daß zugleich alles, was nicht in diesem Verstände „jesuanisch" ist, zur Konkursmasse des sogenannten „paulinisch-kirchlichen Christentums" geschlagen wird. Ich breche hier ab und traktiere diesen Text, wie es wohl möglich wäre, nicht weiter. Man hat aber hier einen Beweis für die Aktualität der kritischen Anmerkungen vor Augen, die Jörg Salaquarda der Nietzsche-Literatur mit auf den Weg gegeben hat 2 9 1 . Sollte man in seiner Terminologie Publikationen wie die von Picht zur „niederen Literatur" zählen, die dann „mit gebührendem Schweigen" 2 9 2 zu übergehen wäre? Das Eigentümliche der rezeptionsgeschichtlichen Fragestellung besteht demgegenüber darin, daß auch die „niedere Literatur" zum aufschlußreichen Objekt der Erforschung werden kann. Selbst die Kolportierung von Mißverständnissen und Klischees formt einerseits mit an der historischen Rolle, die Nietzsche für Philosophie, Literatur, Politik und Theologie spielen sollte, so wie sie andererseits auch Ausdruck des Bildes ist, das man sich aus vielfältigen Interessen von einem provozierenden Autor wie Nietzsche machen wollte und will.
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2,2
dogmatischen Christus meint", in: Nietzsche. Hrsg. v. Jörg Salaquarda. Darmstadt 1980. (Wege der Forschung. 521.) S. 19, A . 46. Picht, a . a . O . S. 316. Picht, a. a. O . S. 316. — Die Greifbarkeit dieser Grundidee ist rundweg abzustreiten. Es kann nur in Konfusion münden, wenn dort, wo Nietzsche „ D i o n y s o s " sagt, sogleich an dessen (wo überhaupt greifbares?) „Ubergehen in J e s u s " (?!) gedacht wird. Den Sachgehalt jener Synthese will Picht über Texte ermitteln, die von der Ziellosigkeit der Menschheit und ihrem Vergeudetsein sprechen (z. B. Menschliches, Allzumenschliches I, Abschnitt 33), und verkennt dabei, daß diese Weltkonzeption in Nietzsches Sinn eine „Verzweiflung" provoziert, deren dionysische Überwindung auf eine extrem anti-christliche Weltsicht hinausläuft. A n „ J e s u s " ist in diesem Kontext weder implizit noch explizit gedacht. Mit der hier gewählten Methode kann man freilich so gut wie alles „belegen".
Jörg Salaquarda-. Einleitung, in: Nietzsche. H r s g . v. J . Salaquarda. Darmstadt 1980. S. 1—20. - Im gleichen Sammelband als Beispiel dafür, wie eine sachliche Interpretation aussieht, der Aufsatz vom gleichen Verfasser mit dem Titel: Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches Verständnis des Apostels Paulus. (S. 288—322) A . a . O . S. 11. - Salaquarda selbst setzt die Wendung „niedere Literatur" in Anführungsstriche.
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5. Fragen Wer die Vielzahl der Publikationen kennt und zudem eine Vorstellung von der Schwierigkeit der interpretatorischen Einzelfragen hat, sowohl Nietzsche als auch die theologische Position verschiedener Ausleger betreffend, der wird von unserem Versuch einer ersten Orientierung kein glattes, systematisierbares Fazit erwarten. Es dürfte sehr viel angebrachter sein, auf einige offene Fragen, die die Möglichkeiten und Gefährdungen der theologischen Nietzsche-Rezeption im Blick haben, zu weiterer Erforschung und vertieftem Nachdenken hinzuweisen. Die Kulturgebärde des überlegenen Theologiekritikers, der zugleich beansprucht, Nietzsche „von innen" zu kennen, ist dabei so lange mit Skepsis zu betrachten, wie die resultierende Diagnose nicht auf genauer Untersuchung beruht. Eine erste Frage betrifft den Erkenntnisweit der theologischen NietzscheRezeption. Nach meinem Urteil kann darauf keine generelle Antwort gegeben werden. Oft nur ein Randphänomen oder eine lose sitzende Maske, ist doch für eine ganze Reihe von Theologen die Auseinandersetzung mit Nietzsches Denken von zentraler Bedeutung. Von ihrem argumentativen Sachgehalt her ist die theologische Nietzscheliteratur (und zwar, wie mir scheint, gerade auch die ältere) nicht selten besser als ihr Ruf. Dieser Ruf geht in der Regel von dem Vorurteil aus, daß ein Theologe als solcher von vornherein „schief" zu Nietzsche stehe und infolgedessen nur ganz Verfehltes zustandebringen könne. Ein klares, aber lernbereites Widersprechen wird man jedoch nicht unbedingt als schiefes Verhältnis werten dürfen. Außerdem könnte man darauf hinweisen, wie sehr sich im letzten Jahrhundert gerade auch die philosophische Nietzsche-Rezeption mit Fragwürdigem belastet sieht; bildlich ausgedrückt, erkennt man in ihr der Orientierung dienliche Gipfel von bedeutender Höhe, aber ebenso auch weit gedehnte, nicht selten sumpfige Niederungen. Uber manche Strecken der gesamten Sekundärliteratur begegnet man jener zunächst unbesiegbar erscheinenden Konfusion und Willkür, die mit zu den landläufigen Vorstellungen beigesteuert hat, als könne man mit Nietzsche alles „belegen", ihn nach allen möglichen Richtungen hin „interpretieren", ja als könne und dürfe man ihn nicht in der Weise beim Wort nehmen, wie er selbst es gefordert hat. Die künstlerische Formung von Nietzsches Prosa hat bei manchen philosophischen und theologischen Interpreten zu vielfältigen Mißverständnissen des „Dichters" Nietzsche geführt, während die Literaturwissenschaftler doch im ganzen Abstinenz geübt haben, weil diese Prosa ihnen zu „philosophisch" erschien. Möglichkeiten des Mißverstehens erwachsen also nicht allein aus theologischen Interessen, auch wenn hier sogleich hinzugefügt werden muß, daß es spezifische Gefahren der theologischen Nietzsche-Rezeption gibt. Der Text von Picht wurde freilich nicht ans Ende dieses Durchblicks
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gestellt, um die theologische Nietzsche-Literatur als ganze zu diskreditieren. Er gibt aber Anlaß, über den meines Erachtens nicht gut bestreitbaren Befund nachzudenken, daß theologische Nietzsche-Rezeption dort suspekt und im Grunde unergiebig wird, wo sie in indiskreter Okkupation eine Nähe zu Nietzsche sucht und mit interpretatorischer Akrobatik behauptet, die redlich und mit genauer Auslegung der Texte nicht aufrechtzuerhalten ist. In diesem Zusammenhang könnte sogar die „scholastische" Methode der Diskussion einzelner „Lehrsätze" gelegentlich ergiebiger sein als manche hochgemute Paraphrasierung, die sich den präzisen Textnachweis von vornherein erspart. Eine zweite, sehr ins Grundsätzliche eindringende Fragestellung ergibt sich aus dem, was ich die Gefahr der zweifachen Verschiebung genannt habe. Sie wird dort virulent, wo eine Vermittlung des nicht Vermittelbaren versucht, wo also in Korrespondenz Nietzsche auf eine latente „Christlichkeit" hin interpretiert und andererseits vom Christlichen ein (gelegentlich als Purifizierung ausgegebenes) Bild entworfen wird, in dem Nietzsche dann ohne allzu große Mühe seinen geradezu angestammten Platz findet 293 . Nietzsche: das „christliche Ereignis", der „Prophet der christlichen Welt", der „Theologe". Spätestens hier ist einzugestehen, daß ich nicht nur bestimmte wesentliche Aussagen von Nietzsches Denken und solche der christlichen Theologie für unaufhebbar gegensätzlich, für nicht vermittelbar halte, sondern wie Nietzsche selbst diese Gegensätzlichkeit auch bis in die Grundstellungen beider hinein für gegeben erachte. So sehe ich zum Beispiel (bisher?) nicht einleuchtend dargetan, daß in Nietzsches Rede vom „Tod Gottes", gedeutet im Kontext seines Gesamtwerks, sich legitim ein Zugang zu einer „Neuentdeckung" Gottes auftut, wie immer man diese auch näher bestimmen mag. Gleicherweise ist nicht zu erkennen, daß der mit dem Menschsein identisch gesetzte „symmetrische Gott" als solcher bereits, wie oft gewähnt wird, mit Nietzsches Entwurf des Ubermenschen übereinkomme. Und so könnte man fortfahren, mit Hinweisen auf Gegensätze, die in der theologischen Literatur eher überspielt als überbrückt werden. Eine Vorstellung scheint theologischen Autoren ohnehin ernstliche Schwierigkeiten zu bereiten und ihr Selbstgefühl zu tangieren: die nämlich, daß Nietzsche das Christentum in einigen wesentlichen Zügen sehr scharf gesehen — und es dennoch negiert haben könnte. Dabei hätte dieser Gedanke einen doppelten Vorteil: einmal ermöglichte er eine sachgemäße Interpretation von Nietzsche-Texten durch den Verzicht auf die Suche nach heimlicher „Christlichkeit", neu zu entdeckenden oder immer schon gemeinten Göttern etc., zum anderen könnte er einen nicht zu verachtenden Zuwachs an nüchterner Selbsteinschätzung der Theologie und 293
Beispielhaft dafür das Buch von Bernard Lauret: Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. München 1977. (Münchener Monographien z. hist. u. syst. Theologie. 1.)
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des Christentums vermitteln, wenn es darum geht, deren historische Situation zu beurteilen. Abgekürzt gesagt: das Problem der christlichen Theologie besteht heute weniger darin, Nietzsche ernst zu nehmen — im Ernstnehmen will sie sich ohnehin nicht so rasch übertreffen lassen. Das Problem scheint eher darin zu liegen, wie sie sich selbst als Vertreterin ihrer „Sache" ernst nimmt — und dann in notwendigem Gegensatz zu einem Philosophen, der nicht allein einen scharfen Blick für die Fragwürdigkeiten der „theologischen Existenz heute" besaß, der vielmehr das Christentum samt seiner Theologie vor die wirksame Zumutung ihres definitiven Endes gestellt hat. So gesehen, könnte die Vorforderung durch Nietzsches „Antichristlichkeit" der Theologie die Chance bieten, in einer verständigen, fairen und nicht nur akademischen Konfrontation sich selbst in ihrer notwendigen Unzeitgemäßheit zu erkennen. Die ungeprüfte Voraussetzung des finis Christianismi wird dabei nicht zur Hilfestellung (denn so will sie und soll sie nicht genommen werden), wohl aber zum möglichen Katalysator einer nie ohne Passion abgehenden Selbstprüfung, die „heimlich" intendiert zu haben, man Nietzsche aus Gründen des Taktes nicht unterstellen sollte.
SIGLEN
Da die „Kritische Gesamtausgabe" der Werke und Briefe Nietzsches noch nicht vollständig vorliegt, nimmt die Redaktion der N I E T Z S C H E - S T U D I E N von einer Vereinheitlichung der Nietzsche-Zitate hinsichtlich der Orthographie und der Ausgabe Abstand. Zur Bezeichnung der Schriften Nietzsches und der gängigen Ausgaben seiner Werke werden einheitlich die folgenden Siglen verwendet, die den in der „Kritischen Gesamtausgabe" verwendeten entsprechen:
S C H R I F T E N NIETZSCHES 1. Von Nietzsche
selbst veröffentlichte
G T = Die Geburt der Tragödie UB = Unzeitgemäße Betrachtungen DS = D . Strauss, der Bekenner und Schriftsteller HL = Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben SE = Schopenhauer als Erzieher W B = R. Wagner in Bayreuth MA = Menschliches, Allzumenschliches (I und II) WS = Der Wanderer und sein Schatten VM = Vermischte Meinungen und Sprüche
2. Nachlaßschriften Nachlaß = Nachlaß (generell)
oder zum Druck vorbereitete M IM FW Za JGB GM WA GD AC EH NW DD
und WM
= = = = = = = = = = = =
Schriften
Morgenröte Idyllen aus Messina Die fröhliche Wissenschaft Also sprach Zarathustra Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral Der Fall Wagner Götzendämmerung Der Antichrist Ecce homo Nietzsche contra Wagner Dionysos-Dithyramben
-fragmente = Die Nachlaß-Kompilation „Der Wille zur Macht"
(Zusammenhängende Nachlaß-Aufzeichnungen, die entweder nur als Privatdruck erschienen oder von Nietzsche zurückbehalten wurden, werden mit vollem Titel oder einer von selbst verständlichen Abkürzung zitiert, z. B. Sokrates und die gr.(iechische) Tragödie, Wir Philologen, (Uber) Wahrheit und Lüge (im außermoralischen Sinne), etc.).
A U S G A B E N D E R W E R K E U N D B R I E F E NIETZSCHES GA ( I - X I X u. Reg.) GAK
=
„Großoktav-Ausgabe" ( = Fr. Nietzsche, Werke, 19 Bände u. 1 Register-Band, Leipzig 1894ff., Naumann/Kröner) = „Großoktav-Ausgabe", soweit von F. Koegel ediert ( = die später zurückgezogenen und durch Neuausgaben ersetzten Nachlaßbände)
688
Siglen
KA (I-XVI)
=
GBr (I-V)
=
MusA (I-XXIII)
=
KTA (1-12)
=
BA
=
BAW (1-5) BAB (1-4) SA (I—III u. Index)
=
„Kleinoktav-Ausgabe" ( = Fr. Nietzsche, Werke, 16 Bände, Leipzig 1898ff., Naumann/Kröner; hinsichtlich des Textbestandes stimmt die Ausgabe mit den Bänden I - X V I der GA überein, weicht aber in den Nachberichten zum Teil von ihnen ab) „Gesammelte Briefe" ( = Fr. Nietzsche, Gesammelte Briefe, 5 Bände, Leipzig und Berlin 1900ff., Schuster und Löffler bzw. Leipzig 1907ff., Insel) „Musarionausgabe" ( = Fr. Nietzsche, Gesammelte Werke, 23 Bände, München 1 9 2 0 - 1 9 2 9 , Musarion) „Kröners Taschenausgabe" ( = Sämtliche Werke in 12 Bänden, Dünndruckausgabe mit Registerband, Stuttgart 1965, Kröner; diese Ausgabe entspricht in Seiten- und Zeilenzahl den „Sämtlichen Werken in Einzelbänden", die ebenfalls bei Kröner, früher Leipzig, jetzt Stuttgart, erschienen sind; 1—9 = 7 0 - 7 8 , 10 und 11 = 82 und 83 [Nachlaß. Die Unschuld des Werdens I und II], 12 = 170 [R. Oehler, Nietzsche-Register]) „Historisch-Kritische-Gesamtausgabe" ( = Die unvollständig gebliebene Ausgabe: Fr. Nietzsche, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, München 1933ff., Beck) Die (insgesamt 5) Werkbände dieser Ausgabe, 1933 ff.
= Die (insgesamt 4) Briefbände dieser Ausgabe, 1938 ff.
= „Schlechta, Werke in drei Bänden" ( = Fr. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. von K. Schlechta, München [Hanser] bzw. Darmstadt [Wiss. Buchges.] o. J . [1954ff.], 3 Bände und 1 Index-Band) = „Kritische Gesamtausgabe Werke" KGW (I 1 - V I I I 4) ( = Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G . Colli und M. Montinari, Berlin 1967ff., W. de Gruyter, ca. 30 Bände in 8 Abteilungen) = „Kritische Gesamtausgabe Briefwechsel" K.GB Nietzsche, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G . Colli und (I 1—III 5 u. Erg.) M. Montinari, Berlin 1975ff., W. de Gruyter, 18 Bände in 3 Abteilungen und 1 Ergänzungsband) „Kritische Studienausgabe" KSA (Nietzsche. Sämtliche Werke, hg. von G. Colli und M. Montinari, W. de (1-15) Gruyter, Berlin und dtv, München 1980)
REGISTER
Hinweise für den Benutzer Bei den Nachweisen wird nicht zwischen dem Vorkommen im Text oder in einer Anmerkung unterschieden. Gilt ein Nachweis für zwei oder mehr aufeinanderfolgende Seiten, dann wird die erste Seite mit einem nachfolgenden „ f . " , bzw. es werden die erste und die letzte Seite, durch einen Bindestrich verbunden, aufgeführt (z. B. „ 1 4 f . " bzw. „14—18")- Werke Nietzsches, Teile oder Abschnitte daraus und schließlich Aphorismen etc. werden generell kursiv gesetzt, Seitenzahlen des Jahrbuchs recte. Hinweise auf Werke Schema registriert:
und Briefe
Nietzsches
bzw. Zitate aus ihnen werden nach folgendem
Die Zuordnung einer Seitenzahl des Jahrbuchs zu einer ganzen Schrift oder zu einem größeren Abschnitt (Buch, Abhandlung usw.) zeigt an, daß diese genannt werden. Die Zuordnung einer Seitenzahl zu einem jeweils kleinsten Abschnitt (Fragment, Aphorismus, nicht weiter aufgegliederter Unterabschnitt, Brief) besagt, daß dieser als solcher genannt oder daß er insgesamt, bzw. ein Teil von ihm, zitiert wird. Dieses Verfahren hat den Vorteil, daß der überwiegende Teil der Nachweise ohne Mühe in allen gängigen Nietzsche-Ausgaben gefunden werden kann; es hat den Nachteil, daß bei einigen Schriften (z. B. GT) die „kleinsten Abschnitte" noch ziemlich umfangreich sind. Sobald die KGW und die KGB vollständig vorliegen, wird sich dieses Verfahren präzisieren lassen. Beim Nachweis von Zitaten aus dem Nachlaß gelten folgende Regeln: Zusammenhängende Ausführungen (z. B. Über Wahrheit und Lüge) werden wie veröffentlichte oder zur Veröffentlichung bestimmte Schriften behandelt; Fragmente werden, so weit es schon möglich ist, nach der Ordnung der KGW aufgeführt, ansonsten nach der Ordnung der GA. Erwähnungen von Briefen Nietzsches bzw. Zitate aus ihnen werden durch Nennung von Adressat und Datum registriert. Die Sekundär-Literatur (Zu und über Nietzsche) wird nach folgendem Schema registriert: Die Bücher und Aufsätze sind alphabetisch nach Verfassernamen bzw. (bei Sammelwerken etc.) Titeln geordnet, und zwar auch dann, wenn diese Art von Ordnung eine Umstellung gegenüber der Zitierweise im Text nötig macht. Das Personen-Register führt alle im Jahrbuch erwähnten Personen auf, mit folgenden Ausnahmen: Nietzsche, Personen aus Dichtung, Sage, Mythologie etc. und schließlich Autoren und Herausgeber, sofern sie lediglich in direktem Zusammenhang mit den von ihnen verfaßten oder herausgegebenen Schriften genannt werden.
Literatur-Register 1. GT:
Nietzsche 99f.281.285.321.333f.337.477.479.565-569.575f.583f.614.633.653.682 Versuch einer Selbstkritik: 130 1: 655; 2: 333; 4: 313.333; 5: 334 Text: 1: 336.567f. 2: 567.571; 3: 478.567; 4: 566; 5: 566.568.590; 7: 310.567; 9: 111.113; 12: 111 ;14: 130; 15: 569; 17: 5 6 8 f . ; 19: 3 3 5 f . ; 20: 336; 21: 3 3 6 f . ; 22: 335.568; 23: 335; 2S: 657
UB:
316.620 DS: 1: 30.280.294.302; 2: 294; 3: 7.294; 5: 7; 9: 7 HL:
281.285.411.415.418.422.431f.639f.
Vorwort:
422; 1: 421; 2: 286.388; 5: 111; 7: 29; 9: 230.640; 10: 229.232
SE: 281; 3: 614; 5: 229 WB: 3: 222; 10: 333; 11: 228 AfA-
36.207.306.392.413.549.569 MA
I:
1. Hauptstück:
1: 230; 2: 115; 12: 567; 26: 72 ; 33: 682
2. Hauptstück:
57: 236
3. Hauptstück:
109: 119; 111: 458; 137: 249.495
Hauptstück:
220: 569; 222: 569
6. Hauptstück:
293: 112
8. Hauptstück:
452: 287; 472: 11
9. Hauptstück:
531: 628
MA II: 307 VM: 95: 230.489; 363: 496 WS: 6: 174; 16: 604; 44: 604; 61: 496; M:
490; 205: 460; 218: 157; 220: 157
316.413.549 Vorrede:
123
1. Buch: 18: 247; 84: 119.552 2. Buch: 113: 229.233.249; 115: 490; 119: 505.550 3. Buch: 173: 12; 174: 12.29; 175: 15.29; 197: 7 2 - 74 ; 20i.- 228 4. Buch: 248: 112; 262: 233 5. Buch: 501: 498.639; 511: 119; 548: 208.230; 573: 479; 575: 466 FW;
211.309.413.614 Vorrede:
281; 2: 141; J : 311; 4: 311f.509
1. Buch: 2: 118f.; 26: 479; 36: 112; 40: 21; 56: 492f. 2. Buch: 68: 112.117f.; 77: 112.117f.; 76: 488; 77: 111.119f.; 80: 111; 99: 112.119; 107: 119.312
Literatur-Register
691
3. Buch: 121; 108: 22; 109: 22.470; HO: 119.121; 111: 121; 112: 121; 114: 119; 121: 121; 124: 557; 125: 488.557.676; 159: 119; 236: 112; 260: 556; 270: 494 4. Buch: 283: 123.604f.; 290: 230; 301: 112; J / 9 : 119; 329: 119; J J i : 119.252 5. Buch: 346: 39.244; 347: 119; 349: 391; 352: 111; 354: 65; 355: 436; 356: 112.114.119; 357: 115.119.223; 358: 119.248; 359: 119; 360: 372.490; 365: 111; 366: 112.119.436; 368: 112.119; 373: 119.159; 374: 119.376.556f.; 377: 112; 380: 604 Lieder des Prinzen Vogelfrei Nach neuen Meeren: 570f. Za:
9 5 . 1 6 5 - 1 6 7 . 1 7 4 f . 186.211.277.286.296f.303.306.309.315f. 462.483.498.552.579.601.604. 612.650.656.658.662f.671 Za I Zarathustra's
Vorrede 1: 493f.; 3: 173.224; 4: 315; 5: 48f.169.309.474
Die Reden Zarathustra's Von den drei Verwandlungen: 251 Von den Hinterweltlem: 174 Von den Verächtern des Leibes: 290.381.515 Von den Freuden- und Leidenschaften: 230 Vom Lesen und Schreiben: 564 Vom Baum am Berge: 298 f. 324 Vom neuen Götzen: 231.280.304 Von tausend und Einem Ziele: 223.226f.243.250.277 Vom freien Tode: 481 Von der schenkenden
Tugend:
608; 2: 173 f.
Za II: 167 Von Von Von Von Von Von Von Von
den den den der den der den der
Za
III
Priestern: 223.626 Taranteln: 168 berühmten Weisen: 223.281 Selbst-Ueberwindung: 227.243f.247.249.282.515 Erhabenen: 293.477.569f. unbefleckten Erkenntniss: 572 Dichtem: 572 Erlösung: 167f.
Vom Gesicht und Räthsel: 250 251.300.302 Vor Sonnen-Aufgang: Vom Vorübergehen: 298.362 Von alten und neuen Tafeln: 286; 11.12: 304; 20: 96 Der Genesende:
1: 489
Za IV Ausser Dienst: 251 Mittags: 175 Vom höheren Menschen: 12: 287f.; 19: 287f. Unter Töchtern der Wüste: 2: 313 Das Nachtwandler-Lied: 4.7: 173 JGB:
9.120.282.413.535 Vorrede: 111 1. Hauptstück: 3: 39; 4.5: 111.121 f.; 6: 551; 7: 112; 9: 77.112; 10: 54; 11: 503; 13: 371. 392.607; 14: 159; 16: 536; 19: 146; 20: 536; 22: 160.376.381.544.558; 23: 497 2. Hauptstück: 282; 25: 111; 26: 119; 30: 111.122; 31: 119; 34: 119; 36: 224.238.272; 40: 111.120.124; 42: 503; 44: 12.36
692
Literatur-Register 3. Hauptstück:
46: 12; 47: 111; 48: 6; 54: 495.553; 56: 387
4. Hauptstück:
68: 489; 97: 112
5. Hauptstück:
9; 186: 63; 188: 453f.; 189: 230; 201: 13; 202: 49; 203: 499
6. Hauptstück:
204: 111; 205: 112; 208: 245.518.607; 210.211: 503; 212: 47.503; 213: 503
7. Hauptstück:
215: 63; 221.225: 111; 227: 119; 229: 247; 230: 111.119
8. Hauptstück:
242: 231; 253: 7
9. Hauptstück: 257: 19.614; 258: 18; 259: 85; 260: 63; 269: 16 ; 270: 111.127 ; 278: 111; 284: 13 ; 289: 111.128f.; 290: 129; 295: 605.643; 296: 601 GM:
9.51.130.339.342f.413.505.535 Vorrede: 8: 123.552 1. Abhandlung:
4: 7; 10: 530; 11: 607; 12: 10f.28; 13: 543
2. Abhandlung: 1: 248.262.345; 3: 346; 12: 7.375.608; 13: 248.579; 14: 490; 16: 489. 494. 607; 18: 608; 22: 346; 24: 22 3. Abhandlung: 1: 248; 6: 595f.; 9: 469; 13: 504; 14: 347; 24: 37.246; 25: 130; 27: 223. 250; 28: 2 4 0 - 2 4 2 . 3 4 1 - 3 4 3 WA: GD:
Turiner Brief 8.9.11.12: Vorwort:
112; Nachschrift:
112
122f.504.547
Das Problem des Sokrates: 2: 558; 5: 112 Die „Vernunft" in der Philosophie: 3: 396; 4: 164; 5: 495 Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde: 310.361.531 Moral als Widernatur: 5: 558 Die vier grossen Irrthümer: 8: 495 Die „Verbesserer" der Menschheit: 1: 547; 2: 490 Was den Deutschen abgeht: 1: 301; 3: 319; 4: 20 Streifzüge eines Unzeitgemassen: 4: 6; 9: 570.572; 11: 570; 14: 112; 22: 571; 24: 290; 37: 6 - 9 ; 39: 7f.; 41: 332; 48: 469; 49: 17 AC:
156.186.306.633.679.681 7: 12; 14: 504; 16: 489f.; 29: 640; 39.41: 680; 43: 10.245; 45: 657; 52: 552.616; 54: 72. 118f.; 55: 72.237.246.266; 57: 20f.
EH:
282.286.656 Warum ich so weise bin: 4: 112 Warum ich so klug bin: 1: 232; 8: 534 Warum ich so gute Bücher schreibe: 1: 112.232.288.550; 5: 493.497.514 Die Geburt der Tragödie: 2: 16 Die Unzeitgemässen: 1: 283 Also sprach Zarathustra: 3: 124 Jenseits von Gut und Böse: 1: 16; 2: 7 Der Fall Wagner: 281; 2: 284.357 Warum ich ein Schicksal bin: 287; 1: 233; 8: 524
DD:
Nur Narr! Nur Dichter!: 579 Unter Töchtern der Wüste: 173.180.313 Die Sonne sinkt: 473 Klage der Ariadne: 571
NW:
Wo ich bewundere: 301 Wo ich Einwände mache: 570 f. Der Psycholog nimmt das Wort: 1: 16; 3: 127f. Epilog: 2: 120
Literatur-Register
693
Nachlaß I.
Nachgelassenen
Schriften
Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen 3. Der griechische Staat: 11.17.228 5. Homer's Wettkampf: 228.451
Büchern
Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen: 566 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen II.
Sinne: 445.478.567
Fragmente KGW III - KSA 7 19[235]: 445; 19[310]: 20; 29[8]: 444f. KGW IV - KSA 8 16(55]: 36; 23f 150]: 448 KGW V - KSA 9 3119]: 234; 4[86]: 73; 6[428]: 73; 11[7]: 459; 11[21]: 460; 11[70]: 457f.472; 111125]: 458; 11[141]: 387; 11[143]: 382; 11[156]: 40; 11[159.160]: 250; 111197]: 473; 11(201]: 375; 111234]: 158; 11 [307]: 404; 12[2]: 540; 12[62]: 538f. KGW VII - KSA 10/11 1[20]: 9; 3[1]119: 251; 3[1]218: 552; 3[1]336: 455; 3[1]432: 676; 7[3]: 15; 7[145]: 461; 8[11.19]: 9; 9(42]: 246; 13[20]: 451; 14[43]: 13; 15[6]: 170; 16[26]: 9; 16[39]: 462; 16[49]: 461 f.; 16[51.60]: 238; 16[86]: 239; 24[32.33]: 9; 25[3]: 470f.; 25[305]: 276; 25[448J: 159; 25[493]: 174; 26(119]: 60; 26[170]: 443.450; 26[223]: 498; 26[227]: 159.443; 26(424]: 440; 26(449]: 18; 27(36]: 450; 27(59]: 162; 27(60]: 170.611; 27(71]: 461; 34(5]: 681; 34(49]: 439; 34(73]: 115.416; 34(96]: 111.161; 34(223]: 18; 23(230]: 237; 34(232]: 112; 35/2/; 440; 35(9]: \\\, 36[3]: 9, 36(15]: 677; 36(17]: \\\-,36(22]: 373; 36/37/: 36(54]: 616; 37(9]: 160; 37(11]: 56; 38(1]: 377; 38(11]: \U; 38(12]: 237.381; 39(1]: 428; 39/7/: 162; 39(13]: 676; 39(14]: 428.473; 39(15]: 428; 39/79/: 150; 40(21]: 381; 40/267: 9; 40[53]: 474; 40/55/: 449; 40(61]: 282.383.401; 41(14]: 9 tfGW V / / / - tfSX 72/73 1(25.27]: 9; 7/59/: 282; 1(115]: 374; 2/73/: 19.160; 2[19]: 471; 2/57/: 19f.l60; 2/67/: 159; 2(68]: 372; 2[106]: 384; 2/7/47: 157.572; 2(121]: 111; 2(127]: 454; 2/730/: 570; 2(142]: 553; 2(148]: 375; 2/749/: 376.558 ; 2/75/7: 376; 2(190]: 377; 2(206]: 9; 3/74/: 369.371; 4/77/: 53; 5(16]: 159; 5(22]: 429; 5/54]: 378; 5(61]: 22.450; 5 / 7 / / : 14.164.275.361; 5(108]: 9; 7(1]: 158; 7/3/: 230.570; 7(6]: 9; 7/77: 290; 7/72/: 9; 7/76): 572 ; 7/25/: 369; 7/47/: 52; 7/54/: 253.274.277; 7(60]: 405.544.551; 5/77: 111.570; 9/77: 18; 9/57: 518; 9/S/: 21f.; 9(19.30.67.79]: 9; 9/97/: 259.374.548; 9(112]: 572; 9(139]: 162; 9(145.150]: 9; 9(153]: 162; 9[166]: 572 ; 70/707: 160; 70/77/: 160.166; 70/77/: 15 — 17.161 f.; 10(25]: 570; 10(28]: 22; 10(29]: 162; 10(37]: 570; 70/53/: 312f.452; 10(57]: 9; 10(59]: 46; 70/S2/: 9; 10(111]: 162; 70/777/: 9; 70/77«/: 6; 70/727/: 9; 10(138]: 382; 70/759/: 112; 10(177]: 9; 70/797/: 15; 77/377: 162; 77/72/: 379; 77/73/: 644 ; 77/704/: 9; 11(121]: 371; 77/737/: 9; 77/746/: 162; 11(152.286.287.303]: 9; 77/372/: 572; 11(325]: 9; 77/37S/: 680; 77/4077: 9.19; 74/6/: 14; 74/74/: 312; 14(36]: 571; 14(40]: 6.13f.; 14(61]: 307; 14(78]: 158f.; 14(79]: 381; 14(80]: 548; 14(81]: 222.252.407; 14(86]: 14; 74/927: 162; 14(119]: 572; 14(120]: 278.290; 14(124]: 164; 74/720/: 111; 74/729/: 111; 74/730/: 13; 14(157.158]: 9; 14(168]: 573; 14(170]: 570; 14(182]: 12.15; 14(186]: 557; 14(208]: 111; 74/223/: 12; 14(226]: 111; 15(67]: 20; 15(82.89]: 544; 15(113]: 9; 75/775/: 111; 16(40]: 311.573; 17[3]: 573; 7S/72/: 164
Briefe und Briefentwürfe An Georg Brandes Dezember 1888: 287
694
Literatur-Register An 30. An 30.
Peter Gast 10. 1888: 284 Franz Overbeck 7. 1881: 216.370.479; 7. 4. 1884: 488 ; 20. 7. 1888: 284; 26.127. 12. 1888: 284f.
2. Zu und über Nietzsche Adler, Georg: Nietzsche. Der Sozialphilosoph der Aristokratie, in: Nord und Süd 56, 1891; 224-240 91 Aitken, Frederick Malcolm: The Concept of Power in Nietzsche's Ethics, (Diss.) Missouri 1970 195 Albrecht, Jörn: Nietzsche und das „sprachliche Relativitätsprinzip", in: Nietzsche-Studien 8, 1979; 225-244 429 Altmann, Amandus: Friedrich Nietzsche. Das Ressentiment und seine Uberwindung — verdeutlicht am Beispiel christlicher Moral, Bonn 1977 10 Andler, Charles: Nietzsche. Sa vie et sa pensée, Paris 1920, 10 1958 209 Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894 387Í.413 Assaad-Mikhai'l, Fawzia: Heidegger interprete de Nietzsche, in: Revue de Metaphysique et de Morale 73, 1968; 1 6 - 5 5 135 Bachelard, Gaston: Nietzsche et le psychisme ascensionnel, in: L'air et les songes, Paris 1943; 144-185 519 Baeumler, Alfred: Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, 3 1937 195 Ball, Hugo: Nietzsche in Basel — eine Streitschrift (1909/10), jetzt in: Hugo Ball — Almanach, hg. von der Stadt Pirmasens, bearbeitet von E. Teubner, Pirmasens 1978; 2 — 52 280 Basta, P.: Marksioti i Nice, in: Gledesta 11, 1969; 1556f. 87 Becker, Oskar: Nietzsches Beweise für seine Lehre von der ewigen Wiederkunft, in: Blätter für deutsche Philosophie 9, 1935/36; 368-387 252 Behler, Ernst: History in Cliche's: On Georg Lukács's Criticism of Nietzsche, in: Vistas and Vectors: Essays, Honoring the Memory of Helmut Rehder, hg. v. L. B. Jennings/G. SchulzBehrend, Austin/Texas 1979; 180-192 94 — Nietzsche, Marx und die deutsche Frühromantik, in: Marx und Friedrich Nietzsche. Acht Beiträge, hg. v. Reinhold Grimm und Jost Hermand, Madison/Wisconsin 1978; 38—62 101
— Nietzsches Auffassung von Ironie, in: Nietzsche-Studien 4, 1975; 1—35 112 Benn, Gottfried: Nietzsche nach 50 Jahren, in: Das Lot, Heft 4, Oktober 1950, auch in: Benn, Ges. Werke, hg. von D. Wellershoff, Wiesbaden 1958, Bd. 1, 1959 290 Berg, Leo: Der Ubermensch in der modernen Literatur, München 1897 288
Literatur-Register
695
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Literatur-Register
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Simmel, Georg: Schopenhauer und Nietzsche, Leipzig 1907 215.279f.287f. Simon, Josef: Grammatik und Wahrheit, in: Nietzsche-Studien 1, 1972; 1—26 429 Spencer, Hanna: Heine und Nietzsche, in Heine-Jahrbuch 1972, 148ff. 284 Stambaugh, Joan: Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, Den Haag 1959 194 Steffen, Hans: Hofmannsthal und Nietzsche, in: Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 2, hg. von B. Hillebrand, München 1978; 4 - 1 1 580 — Schopenhauer, Nietzsche und die Dichtung Hofmannsthals, in: Nietzsche. Werk und Wirkungen, hg. von H . Steffen, Göttingen 1974 ; 65—90 582 Steinbüchel, Theodor: Nietzsche. Eine christliche Besinnung, Stuttgart 1946 631 — Die Philosophie Nietzsches, ihre geistesgeschichtliche Situation, ihr Sinn und ihr Wirken, in: Zeitschrift für deutsche Geistesgeschichte 2, 1937; 251—285 630 Svenaeus, Gösta: Der heilige Weg — Nietzsche-Fermente in der Kunst Edvard Münchs, in: Edvard Münch. Probleme, Forschungen, Thesen, hg. v. H . Bock/G. Busch, München 1973 296 Taraba, Wolfgang: Der schöpferische Einzelne und die Gesellschaft in Nietzsches Zarathustra, in: Literatur und Gesellschaft. Festgabe für Benno von Wiese, hg. v. H . J. Schrimpf, Bonn 1963; 196-228 288 Taureck, Bernhard: Macht, und nicht Gewalt. Ein anderer Weg zum Verständnis Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 5, 1976; 2 9 - 5 4 195 — Nietzsches Erhellung der Aufklärung, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XIII, 1980, 167-181 59.213 Tönnies, Ferdinand: Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik, Leipzig 1891 24.291 Trillhaas, Wolfgang: Seele und Religion. Das Problem der Philosophie Friedrich Nietzsches, Berlin 1931 388 Ulmer, Karl: Orientierung über Nietzsche, in: Zeitschrift für philosophische Forschung XII/4, 1958; 4 8 5 - 4 9 0 281 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Zur Gottesfrage bei Nietzsche, in: Anteile. Martin Heidegger zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1950; 212-234 670 Welte, Bernhard: Nietzsches Atheismus und das Christentum, Darmstadt 1958 628.634-636 Werner, Renate: „Cultur der Oberfläche". Zur Rezeption der Artisten-Metaphysik im frühen Werk Heinrich und Thomas Manns, in: Nietzsche und die deutsche Literatur, hg. von B. Hillebrand, Bd. 2, Tübingen 1978; 8 2 - 1 2 1 408
Personen-Register Adler, Alfred: 1 9 4 . 2 9 0 . 4 8 2 - 4 8 4 . 5 0 8 f . 5 1 1 513.516 Adler, Georg: 91 Adler, Sigmund: 500 Adler, Victor: 500 Adorno, Theodor W . : 3 4 . 4 0 - 4 4 . 5 5 - 5 7 . 5 9 6 2 . 6 4 . 6 6 - 6 8 . 7 0 . 7 4 f . 139.289.469-471 Ahlers-Hestermann, Fr.: 294 Aitken, Frederick Malcolm: 195 Albiker, Karl: 300 Allemann, Beda: 139 Althusser, Louis: 521f.526.561.563 Altmann, Amandus: 10 Anaxagoras: 566 Anaximander: 135 Andreas, Carl Friedrich: 117 Andreas-Salomé, Lou: 117.387f.414.500.511 d'Annunzio, Gabriele: 575.597.599f.602f.606. 610-613 Apfelbacher, Karl-Ernst: 655 Arendt, Hannah: 193.673f. Aristoteles: 137.147f. 184.189.202.204.209.213. 218.394.433.439.445.447f.479.505.509.540. 572 Aischylos: 125Í.568 Asmus, Valentin F . : 86 Assaad-Mikha'il, Fawzia: 135 Auerbach, Berthold: 283 Auerbach, Jacob: 283 Augustinus: 218.433 Avenarius, Ferdinand: 284 Bachelard, Gaston: 519.531.543 Bachofen, Johann Jacob: 209 Bacon, Francis: 121.443 Badt, Kurt: 289 Baeumler, Alfred: 2.94.156f.195.282.314 Bakunin, Michail: 25 Ball, Hugo: 280.289.314 Baila, Giacomo: 297.319 Balthasar, Hans Urs von: 629.636 Balzac, Honoré de: 104 Barlach, Ernst: 299 Barth, Hans: 280.289 Barth, Karl: 194.621.623.638.641-643.648f. 651.655.657.663.669.672 Barthes, Roland: 520 Bartholdi, Frédéric-Auguste: 295
Baudelaire, Charles: 172.5Z8.589.592.595f. Bauer, Martin: 537 Baumgart, Christa: 298 Baur, Ferdinand Christian: 637 Becher, Johannes R . : 99 Becker, Oskar: 160.252 Beckett, Samuel: 67 Beckmann, Max: 283.289.291.295-297.307. 315f.324 Beckmann (Frau B . ) : 296 Beethoven, Ludwig van: 285 Behler, Ernst: 112.608 Behrens, Peter: 291.293.301 Belling, Rudolf: 301 Bellini, Vincenzo: 119 Belyj, Andrej: 89.105 Benjamin, Walter: 34.40f.56.74.99.172.189.286 Benn, Gottfried: 289f.352.565.575.584-587. 590.594 Berkeley, George: 528.546 Bernadiner, A . : 86 Berne, Eric: 492 Bernhart, Josef: 629 Bernoulli, Carl Albrecht: 676 Bertram, Ernst: 113.466 Bettelheim, Bruno: 485 Biemel, Walter: 184.316 Binswanger, Ludwig: 497 Biser, Eugen: 3.289.557.627.630f.633.670.676 Bismarck, Otto von: 31.283.285.293 Blanqui, Louis Auguste: 172 Blass, Ernst: 289 Bloch, Ernst: 39.62.99.289.306.314.670 Blumenberg, Hans: 367.377.385f.391.397f. Boboc, Alexandri: 87 Boccioni, Umberto: 297.319 Bode, Wilhelm: 281 Bodin, Jean: 209 Bogdanov, Aleksandr: 1 0 4 - 1 0 6 . 1 0 9 Bogomolov, Aleksej S.: 86 Boldt, Paul: 594 Bollnow, Otto Friedrich: 94.411.426 Bondi, Seraphin: 500 Bonhoeffer, Dietrich: 615.623.641f.649.651. 662-668.671f.674.678 Borgia, Cesare: 230.508 Bosch, Hieronymus: 323 Boskovic, Rugjer: 209.404
Personen-Register Braun, Heinrich: 500 Brecht, Bertolt: 99 Breker, Arno: 320.322 Brinkmann, Donald: 180 Brjusov, Valerij: 89.105 Brase, Karl: 289 Brown, Norman: 494 Brüning, Wolf E . : 493 Brunner, Emil: 669 Brunschvicg, Léon: 525 Buddensieg, Tilman: 291 Buddha, Gotama: 336.610.612 Bülow, Hans von: 117 Buffon, Georges-Louis: 373 Bulhof, Ilse Nina: 432 Bultmann, Rudolf: 136.669.674 Burckhardt, Jacob: 207f.216.228.315.415.650 Burger, Fritz: 316 Butler, Eliza M . : 289 Caesar, Gaius Julius: 31.170.611 Calderon de la Barca, Pedro: 478 Callot, Jacques: 323 Calvin, Jean: 450 Campbell, Joseph: 113 Camus, Albert: 182.215.280.575.606 Carey, Henry Charles: 30 Carpenter, Bogdana: 110 Cassirer, Paul: 281 Cézanne, Paul: 306.308 Chamberlain, Houston Stewart: 88.301 Chamfort, Nicolas Sébastien Roch: 116 Chapeaurouge, D . de: 299 Chwistek, Leon: 86 Cicero, Marcus Tullius: 112 Clauss, Anneliese: 291 Colli, Giorgio: 2.14.18 Comte, Auguste: 6.30.413.444 Condorcet, Marie Jean: 107 Conrad, Michael Georg: 318.590 Conrad, Wolfgang: 10 Constant, Benjamin: 107 Contat, Michel: 112f. Conzelmann, O t t o : 317 Corneille, Pierre: 595 Cousin, Victor: 198 Cuvier, Georges: 373 Däubler, Theodor: 300 Dante Alighieri: 127.287.599 Darwin, Charles Robert: 7 . 1 1 5 . 2 2 6 . 3 6 8 - 3 7 0 . 373.390f.397.449.513 Daumier, Honoré: 299.323 David: 616 Dehmel, Richard: 590
705
Delacroix, Eugène: 308 Deleuze, Gilles: 10.110.280.289.380.531 Demokrit: 84 Derrida, Jacques: 521 f . 5 2 6 . 5 3 0 f . 5 3 8 - 5 4 1 . 559-561 Descartes, René: 141.150f.205.213.368f.394396.503.519.533.545.553.555 Descombes, Vincent: 559 Dibelius, Martin: 678 Dimitrov, Christo: 506 Dilthey, Wilhelm: 26.94.108.153.338.367.385. 408-418.430.432.434-438.443.475f. Diokletian: 586 Dittmann, Lorenz: 316 Dix, Otto: 289.303.308—314.317f.322-324 Dmitriev, A. S.: 101 Döblin, Alfred: 308.314 Dostoevskij, F e d o r M . : 104.135.192.305f.629 Droysen, Johannes Gustav: 286 Duboc, Julius: 92.97.103 Dudzus, O t t o : 663 Dühring, Eugen: 88.473 Dürer, Albrecht: 326 Duns Scotus: 192 Ebeling, Gerhard: 667.675.678 Eckhart, Johann (Meister E.): 629 Edschmid, Kasimir: 307 Einstein, Carl: 3 0 0 . 3 1 0 . 3 1 4 - 3 1 7 Eisler, Rudolf: 195 Eisner, Kurt: 102 Ellenberger, Henri F. : 482 Emerson, Ralph Waldo: 195.209 Empedokles: 484 Engelke, Kurt: 194 Engels, Friedrich: 7.25.91.104.290.358 Ernst, Paul: 102 Euripides: 1 1 3 . 1 2 5 - 1 2 7 . 4 1 5 Fédier, François: 139 Feuerbach, Ludwig: 84.87.92.97.101.190.424. 639.653 Fichte, Johann Gottlieb: 32.150.154.398 Fidus: 301.324 Figi, Johann: 3 Fink, Eugen: 94.179.181 Fischer, Hugo: 104 Fischer, Kuno: 216.370.397.400 Flaubert, Gustave: 282.552 Fliedner, Th. M . : 5 Förster, Bernhard: 283 Förster-Nietzsche, Elisabeth: 2.116.214.282f. 293.296.307.313f. Foucault, Michel: 10.194.521.553.561 Fouillé, Alfred: 1 9 5 . 1 9 7 - 2 0 0 . 2 0 4 f . 2 1 0 f .
706
Personen-Register
Franzen, Winfried: 139 Freud, Sigmund: 57.66.211.290.323.482-499. 500-517.519.521-523.526f.543.553f.563 Freyer, Hans: 26f. Friedrich, Ernst: 303 Friedrich, H u g o : 587.595 Fromm, Erich: 511 Fuchs, Georg: 293.314 Funke, Monika: 9.71.258.263.267 Gadamer, Hans-Georg: 4 0 8 - 4 3 0 . 432. 4 3 5 437.593.620 Gajdenko, Piama P . : 86 Galilei, Galileo: 398.442.445.450 Gallwitz, Hans: 627.642 - 644 Ganowski, Sawa: 86 Gast, Peter (Heinrich Köselitz): 2.216.282. 293.313f. Gehlen, Arnold: 193.264.316.340f.354-356 George, François: 563 George, Stefan: 575 Gersdorff, Carl von: 321 Gervinus, Georg Gottfried: 286 Gide, André: 121.352 Giesz, L u d w i g : 225 Ginsberg, Mitchell: 489.495 Glaser, Hermann: 507 Goble, Frank: 491 Goebbels, Joseph: 89.93 Göring, Hermann: 89.93 Goethe, Johann Wolfgang von: 85.107.115. 121.125.127.230.287.313.438.448f.457f. 481.572.593.595.633.658 Gogarten, Friedrich: 655.669.674 Gogh, Vincent van: 295.306.308 Goldmann, Lucien: 520 Goldschmidt, Victor: 519 Gor'kij, Maksim: 102.104 Goya, Francesco: 323f. Granier, Jean: 132.504.519.527.529 Green, André: 520 Green, Martin: 501 Gregor von Nyssa: 388 Grlic, Danko: 87.100f.105.109 Gross, Otto: 501 Grosz, George: 318f. Gruber, M a x : 500 Grubrich-Simitis, Ilse: 485 Grünewald, Mathias: 308 Günther, Hans: 89.99 Gueroult, Martial: 519 Güse, Ernst-G.: 2 8 4 . 2 9 1 . 2 9 6 - 2 9 8 Guyau, Jean Marie: 197f.210f. Haar, Michel: 165
Habermas, Jürgen: 2 . 3 4 . 3 9 - 4 1 . 4 3 . 4 9 . 6 4 - 6 6 . 280.286.289.328.355.422.501.650 Haeckel, Ernst: 369.651 Hagen (Gräfin H . ) : 296 Haller, Hermann: 300 Hamann, Richard: 279f. Hammer, F.: 194 Hanak, Anton: 308 Harich, Wolfgang: 355 Harnack, Adolf von: 621.637-642.646.651. 654 Hartlaub, Gustav Friedrich: 288.316 Hartleben, Otto Erich: 318 Hartmann, Eduard von: 92 Heckel, Erich: 315 Heftrich, Eckhard: 136f. 191 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 28.32.36.41. 55f. 59.68.70.78f. 84.94f. 115.135.141.145. 149-152.154.157.160.167.195.205.216f. 225.233.332.344.350.361.413.416.423425.448.506.509.523.526.529-531.554. 560.589.606.653.658.670.673f. Heidegger, Martin: 15.43.62.94.110.112.114f. 132-192.199-205.207.211.214.234.252. 254.270f.289.329-331.352f.356.358.360363.366.380.386.403.406-410.412.416422.426-428.430-437.523.525f.551.554. 560.572.585.595.618.629.633.635.669f. Heine, Heinrich: 104f.281.284.286-288.292f. 296.300.304.631 Heine, Thomas Theodor: 318 Heller, Erich: 288f. Heller, Peter: 89 Helmholtz, Hermann von: 446 Heinrich, Dieter: 367.385f.397f. Heraklit: 139.164.311.389.465.467f.545.566f. Herder, Johann Gottfried: 107 Hermand, Jost: 102.279f. Hesse, Hermann: 289.314 Hermann, Ulrich: 411 Herzog, Wilhelm: 280 H e y m , Georg: 280.565.575.582.584 Heyse, Paul: 318.590 Hildebrand, Adolf von: 295 Hillebrand, Bruno: 1.289.318.585.594 Hiller, Kurt: 280f.286.289.314 Himmler, Heinrich: 93 Hirsch, Emanuel: 6 1 5 . 6 4 6 - 6 4 8 Hitler, Adolf: 28.89.93f.314.330 Hobbes, Thomas: 209.212.215.346.367.398. 469 Hölderlin, Friedrich: 107.139f.184.191f.304. 472.474f.635 Hoetger, Bernhard: 302f. Hofmann, Werner: 300.314
Personen-Register Hofmannsthal, Hugo von: 291.565.575-582. 584.587.590.594 Hollingdale, Reginald J.: 225.230.240 Holz, Hans Heinz: 76. Horaz: 497 Horkheimer, Max: 34.40-46.48.55.57.59f.62. 66—68.74f.78.182f.190.286.328 Howey, Richard L. : 132 Hühnerfeld, Paul: 139 Humboldt, Wilhelm von: 107 Hume, David: 444.446.503 Husserl, Edmund: 420f.426.560 Ingres, Jean Auguste Dominique: 308 Isenberg, Philip: 486 Ivanov, Vjaceslav: 89.105 Jablenski, Assen: 506 Jähnig, Dieter: 289f. Jaffé, Else: 320 Jakobson, Roman: 520.522f.554 Jakovlev, Michail V. : 86 Janz, Curt Paul: 644 Janssen, Johann: 359.647 Jaspers, Karl: 78.94.113.194.199.374.470.497f. 510.629 Jean Paul: 306.674 Jesinghaus, Walter: 645f. Jesus von Nazareth (Christus): 170.245.257. 265.289.292f.297.528.610f.636.639f.642f. 645f.656.664f.675.677—682 Joël, Karl: 9 Johach, Helmut: 411 Johannes: 296.303.305 Jones, Ernest: 485 Jüngel, Eberhard: 648 Jünger, Ernst: 94.156.181-183 Jung, Carl Gustav: 194.482f.510 Kafka, Franz: 125.127.564 Kaftan, Julius: 627.644-646 Kallikles: 213.218 Kalthoff, Albert: 646 Kamerbeek, J.: 26.434.436 Kant, Immanuel: 32.42.65.68.72.74.81.107. 115.117.121f.l49f. 154.172.185.199.208. 213.220f.225.249.261f.265f.272.274.327. 333.378.391.393.397.399.416.424.442f. 446f.453—455.465—467.470f.479—481. 503.505f. 528.533.535f. 542 - 546.548f. 560f.593-595.625.631 f.669 Kaufmann, Fritz: 136. Kaufmann, Walter: 29.51.74.137.145.194.199. 206.211.224-226.228-235.239f.247.249. 254f.258.263.269.314.496.516.560
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Kaulbach, Friedrich: 235 Kazantzakis, Nikos: 597.603-607.610-613 Kemper, Hans Georg: 289 Kempner, Franz: 296 Kerr, Alfred: 288 Kerscher, Rudolf: 5 Kessler, Harry Graf: 291.294-296 Kiefl, Franz Xaver: 628 Kierkegaard, Sören: 68.127.135.155.192.223. 249.257.306.332.360.497.629f. Kinkel, Hans: 312 Kirchhoff, Gustav Robert von: 443.476 Kirchner, Ernst Ludwig: 315. Klages, Ludwig: 94.152.230.496 Klein, Max: 292 Kline, George L.: 106 Klinger, Max: 291-293.309-311.320 Klossowski, Pierre: 559 Klussman, Paul Gerhard: 579 Koch, Hans: 309 Köselitz, Heinrich: s. Gast, Peter Köster, Peter: 137f. Kofman, Sarah: 529.531.559f. Kolakowski, Leszek: 359 Kolbe, Georg: 300.314 Kollwitz, Käthe: 289 Kopernikus, Nikolaus: 344.442f.454.513 Kovel, Joel: 492 Krause, Jürgen: 291 Krauss, Werner: 103 Krell, David F.: 134 Kritias: 213 Kruse, Max: 291 Lacan, Jacques: 521-523.526.540.549.554.563 Lagarde, Paul Anton de: 88 Lamarck, Jean Baptiste de: 115.373.390.416 Landauer, Gustav: 280.297 Langbehn, Julius: 88.283.293.301.314 La Rochefoucauld, François de: 116 Lask, Emil: 184 Lauret, Bernard: 628 Lautréamont, Isidore Ducasse: 592 Lederer, Hugo: 288.302 Lehmbruck, Wilhelm: 295.297-301.316.324f. Leibniz, Gottfried Wilhelm: 32.115.150.154. 167.202.208.214.217.261.273.369.378.383. 395f.416.447.480.544 Lenin: 104.607.610.612 Leonardo da Vinci: 598 Leopardi, Giacomo: 466 Lessing, Gotthold Ephraim: 61.100.107.129. 467 Levenstein, Adolf: 99 Lévi-Strauss, Claude: 519-522.554.559.594
708
Personen-Register
Lichtenberg, Georg Christoph: 555.616 Liebknecht, Karl: 3 0 3 - 3 0 5 Lieder, Ulrike E . : 608 Liliencron, Detlev von: 590 Lipiner, Siegfried: 500 Lista, Giovanni: 606.609 Liszt, Franz: 117 Litt, Theodor: 664 Littré, Paul Émile Maximilien: 30 Löwith, Karl: 94.134f.l36f. 189.199.237.252. 280.289.310.420.433.437.465.560.622.629. 658.669 London, Jack: 57 Loos, Alfred: 289 Lötz, Johannes B . : 6 2 5 . 6 2 9 . 6 3 1 - 6 3 4 Löwen, Alexander: 516 Lubac, Henri de: 630 Lübbe, Hermann: 50 Luhmann, Niklas: 193.355 Lukäcs, Georg: 7 . 6 0 . 7 4 . 8 6 - 8 9 . 9 1 - 9 4 . 9 7 . 9 9 . 101-103.105.107.279f.284.289.302.314 Lunacarskij, Anatolij W . : 86.102.104.109 Lyssenko, Trofim D . : 252 Luther, Hans: 309 Luther, Martin: 209.218.225.248.303f.335.350. 357.359.528.642.647f.663.668 Mach, Ernst: 272.443f. Mackensen, Fritz: 302 Machiavelli, Niccolò: 209.218 Märten, Lu: 99 Magnus, Bernd: 72.360.380.396.401 Maillol, Aristide: 291.320.322 Makart, Hans: 321 Malebranche, Nicolas: 197 Malorny, Heinz: 94 Malraux, André: 575 Mann, Heinrich: 74.88.98.265.280-282.286. 288f.305.314f.646 Mann, Thomas: 74.83.88.96.98.110.264f.289. 352.610.646 Mannheim, Karl: 27 Marc, Franz: 2 8 9 . 3 1 5 - 3 1 7 . 3 1 9 Marcuse, Herbert: 3 4 . 3 9 - 4 1 . 4 3 - 4 5 . 4 8 . 5 6 f . 62.68.74.332.340f.345.494 Marées, Hans von: 299 Margreiter, Reinhard: 676 Maria Magdalena: 292 Marinetti, Filippo Tommaso: 297f.319.321. 597.600-603.606.609-613 Martens, Gunter: 280.289 Marx, Karl: 7.25.27.32f.35f.45f.49.51.57.61. 7 5 f . 7 8 - 8 0 . 8 7 . 9 4 f . 9 8 . lOOf. 1 0 3 . 1 0 5 - 1 0 7 . . 109.266.328.330-334.343.345f.348.355. 357-359.477.521f.526f.545.553.561.563f. 651.653f.670
Masek, Victor Ernest: 99f. Maslow, Abraham H . : 491.493f.515 Maur, Karin von: 307 Maurer, Reinhart Klemens: 17.40.43.267 Mauron, Charles: 520 Mauthner, Fritz: 282 Mayer, Hans: 101 Mayer, Julius Robert: 209.369f. Mc Grath, William: 486 Mc Gregor, Douglas: 515 Mehring, Franz: 7 . 2 4 . 8 6 . 9 0 - 9 3 . 9 7 . 9 9 - 1 0 3 . 279 Meidner, Ludwig: 298.305 Meier-Graefe, Julius: 316 Merton, Robert: 485 Metz, Johannes B . : 194 Metzner, Franz: 301 Michelangelo Buonarroti: 296 Mill, John Stuart: 438 Minne, George: 300 Misch, Georg: 385 Mittasch, Alwin: 370 Mittelman, Willard: 240 Modiano, Raimonda: 101 Moltmann, Jürgen: 656.670 Mommsen, Wolfgang: 28 Montaigne, Michel Eyquem de: 425 Montherlant, Henri de: 575 Montinari, Mazzino: 2.14.18.461.640 Morgan, George A . : 113 Motroschilowa, N . W . : 86. Mühsam, Erich: 102.280 Müller-Lauter, Wolfgang: 2 2 4 f . 2 3 4 - 2 4 0 . 2 4 7 . 250.252.257f.262f.289.349.554.560 Münch, Edvard: 291.295f.301f.306 Muschg, Walter: 283 Musil, Robert: 289.314 Mussolini, Benito: 610 Napoleon Bonaparte: 31.216.230.293 Nestroy, Johann N . : 498 Newton, Isaac: 73.367.398.448 Nietzsche, Auguste: 116 Nietzsche, Carl Ludwig: 116 Nietzsche, Elisabeth: s. Förster-Nietzsche, E. Nietzsche, Franziska: 116 Nietzsche, Rosalie: 116 Nigg, Walter: 289 Nijinsky, Vaclav: 291 Nolde, Emil: 315.322 Novalis (Friedrich von Hardenberg): 94 Oduev, Stephan F . : 90.94f.97.107f. 110 Oiserman, Teodor J . : 86 Olde, Hans: 291
Personen-Register Origenes: 388 Overbeck, Franz: 216.284.370.488.615.619624.632.637-641.644.65 lf.656.667.676f. Ovid: 586 Paneth, Joseph: 501 Parmenides: 167.545 Pauck, Marion: 650 Pauck, Wilhelm: 650 Paulus: 663 Pautrat, Bernard: 530f.559.561 Pechstein, Max: 305.315 Pehnt, Wolfgang: 304 Perikles : 114 Perls, FrederickS.: 494Ì.517 Pernerstorfer, Engelbert: 500 Peters, Tiemo Rainer: 662 Petrosjan, M.: 85 Pfeil, Hans: 631 Pfemfert, Franz: 281f.286.289.300.501 Pfotenhauer, Helmut: 74 Picht, Georg: 628.658.679.681-683 Pierrakos, John: 516 Platon: 17.20.37f.59.74.84.115.137.147.149. 191.197.204.209.213.218f.221.225.231. 271.330.332.337f.345.347-349.354.356. 361.366.416.439.503-506.509.514.526. 528.540.542.544f.568.571-575.581.583. 592.594-596 Plechanov, Georgi) V.: 81.86 Plessner. Helmuth: 13.193.649 Plotin: 213.596 Pöggeler, O t t o : 134f. 139.163f. 184.192.410.437 Polin, Raymond: 18 Popper, Karl R.: 17.247 Protagoras: 215 Proust, Marcel: 67 Przywara, Erich: 630 Pütz, Peter: 34.289 Raffael: 312 Rahner, Karl: 669 Ralfs, Günter: 434 Ratschow, Carl-Heinz: 658 Rèe, Paul: 117 Reich, Wilhelm: 516 Reinhardt, Georg: 315 Reinhardt, Karl: 571 Rembrandt van Rijn: 129.605 Rémusat, Ciaire Elisabeth de: 216 Reventlow, Franziska von: 318 Rey, Jean-Michel: 531.559f. Rohde, Erwin: 100,315 Richard, Jean-Pierre: 519
709
Richter, Raoul: 195-200.204f.210.214 Ricoeur, Paul: 363.412.553.563 Rief, Hans H . : 302 Riehl, Wilhelm Heinrich: 7 Rilke, Rainer Maria: 117.135.148.565.575f. 583f.588.630 Ritschl, Albrecht: 637.646 Rittelmeyer, Friedrich: 641f.646 Rodi, Frithjof: 411 Rôttges, Heinz: 36.59f. Rogers, Cari R.: 491.494 Roos, Richard: 3.526.541 Roselius, Ludwig: 303 Rosenberg, Alfred: 88.94 Ross, Werner: 517 Rossini, Gioacchino: 119 Rothman, Stanley: 486 Rousseau, Jean Jacques: 225.281.306.347f.452. 469.471.473 Rousset, Jean: 519 Rubens, Peter Paul: 296 Rubiner, Ludwig: 281.286.289.300.314 Rudensky-Brin, Slata Genia: 9 Rudolph, Enno: 6 7 9 - 6 8 1 Sade, Donatien Alphonse François Marquis de : 36.42 Saint-Simon, Claude Henry: 292 Salaquarda, Jôrg: l-608.633.681f. Salis, Meta von: 284f. Salomé, Lou von: s. Andreas-Salomé, Lou Sartre, Jean-Paul: 112-116.255f.338 Saussure, Ferdinand de: 519—522.559 Sauter, Gerhard: 680 Schadewaldt, Wolfgang: 184 Schàffle, Albert: 7 Schaeffler, Richard: 624f.669 Scheerhart, Paul: 303f. Scheler, Max: 10.27.94.108.436 Schelling, Friedrich Wilhelm: 90.149f. 154.167. 172.423-425.448.450f.465.573-575.589. 594 Schelsky, Helmut: 27.193 Schiffers, Norbert: 290 Schiller, Friedrich: 56.61.90.107.471 Schilling, Johann: 301 Schipperges, Heinrich: 498 Schlechta, Karl: 2.111.160.237.413 Schlegel, August Wilhelm: 107 Schlegel, Friedrich: 94.107 Schleiermacher, Friedrich: 440 Schlemmer, Oskar: 306-308.322 Schlosser, Friedrich Christoph: 216 Schmidt, Alfred: 34.51.470 Schmidt, Paul F.: 292.309
710
Personen-Register
Schmidt, Reiner: 292 Schmidt-Rottluff, Karl: 315.322 Schmitt, Carl: 15.193 Schmitt, Richard: 496 Schmoll gen. Eisenwerth, J . A . : 278 Schneeberger, Guido: 139 Schoenberg, Arnold: 67 Schopenhauer, Arthur: 8.25.32.92.101.116f. 146.149f. 152.168.182.197.205.211.215. 229.234.246.280.315.361.364.400.404.413. 424.448.459.468.473.478f.484f.507.513. 528.533.535.546.549.566.568.571f.576. 595.627.653 Schorske, Carl E.: 486 Schottländer, Rudolf: 194 Schulz, Walter: 143 Schumacher, Fritz: 291 Schwan, Alexander: 139.163f. Sedlmayr, Hans: 316.565 Segantini, Giovanni: 320.322 Seghers, Anna: 99 Serres, Michel: 559 Serusier, Paul: 596 Shakespeare, William: 125-127.287.595 Shaw, George Bernard: 88.575 Siegmund, Georg: 63V Simmel, Georg: 25.27.32.94.108.215.263f.280. 434-436.650 Simon, Josef: 372 Solle, Dorothee: 6 6 9 . 6 7 3 - 6 7 7 Sokrates: 74.84.130.218f.225.230.233 Sombart, Werner: 282 Sommer, Manfred: 399 Sophokles: 125-127.568 Spaemann, Robert: 372.392 Speck, Ross V . : 495 Spencer, Herbert: 6f. 11.28.30 Spengler, Oswald: 86.94.156 Sperber, Manes: 483 Spinoza, Bento de: 32.122.197.202.209.213. 216f.368-371.382.390-392.397f.400.404. 455f.462.465.467.473.478f.520.542 Spitzer, Leo: 594 Spranger, Eduard: 194.436 Stael, Anne Louise Germaine: 107 Stalin, Joseph: 266 Stambaugh, Joan: 194 Starobinski, Jean: 519 Steffen, Hans: 582 Stein, Heinrich von: 434.436 Stein, Lorenz von: 7 Steinbüchel, Theodor: 630 Steiner, Claude: 483 Stendhal (Marie Henri Beyle): 209.593.595f. Sternberger, Dolf: 300
Stoecker, Adolf: 31.285 Stöving, Kurt: 291 Strauss, Leo: 193 Svenaeus, Gösta: 291.296 Sydow, Eckart von: 289.306.316 Szondi, Peter: 299 Taraba, Wolfgang: 289 Taureck, Bernhard: 195.217f. Taut, Bruno: 289.303.305.314.324 Tertullian: 377 Thomas von A q u i n : 213.629 Thorak, Josef: 314.320 Thrasymachos: 213 Thukydides: 207.209.213.215f.218 Tillich, Paul: 3 0 5 . 6 4 8 - 6 5 1 . 6 5 5 . 6 5 7 - 6 6 2 . 6 6 9 . 674f. Tocqueville, Alexis de: 56 Toller, Ernst: 302f.305f. Tolstoj, Lev N . : 104.280.297.300.305f. Tönnies, Ferdinand: 24f.32 Träger, Claus: 101 Trakl, Georg: 590.593 Treitschke, Heinrich von: 284 Troeltsch, Ernst: 6 1 5 . 6 1 9 . 6 2 3 . 6 3 8 - 6 4 0 . 6 4 8 659.667.671.677 Tube (Frau T . ) : 296 Uhi, Anton: 290 Unruh, Fritz von: 300 Vaihinger, Hans: 194 Velde, Henry van de: 291.294f.318.320 Vietta, Silvio: 289 Vigeland, Gustav: 297 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: 670 Vol'skij, Nikolaj V . : 109 Voltaire (François Marie Arouet): 36.73 Wach, Joachim: 412 Wagner, Cosima: 11.17.117 Wagner, Richard: 20.25.70.117.127.207.228. 280.283f.301.315.320.333.337.424.436. 485.500.528.570.592.595.602.606 Wandel, Fritz: 492 Weber, Marianne: 320 Weber, M a x : 26f.28f.32.47.57.94.215.218. 263f.320.450.470.501 Webern, Anton von: 67 Weinel, Heinrich: 646 Welte, Bernhard: 6 2 8 f . 6 3 1 f . 6 3 4 - 6 3 6 Wenzel, Heinz: 137 Wilbrandt, Adolf: 318 Wilhelm II: 31.283.285.293.301f. Winckelmann, Johann Joachim: 85.100.107. 313
Personen-Register Wismann, Heinz: 545.558 Wittgenstein, Ludwig: 77.498.555 Wolfenstein, Alfred: 304 Würzbach, Friedrich: 2.313.531 Wurzer, William S.: 478
Yorck von Wartenburg, Paul: 410 Zähmt, Heinz: 623 Zola, Emile: 281.540 Zweig, Arnold: 501
Freny Mistry
Nietzsche and Buddhism Prolegomena to a Comparative Study Large-octavo. X, 211 pages. 1981. Cloth D M 8 2 , ISBN 3 11 008305 1 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Volume 6) Contents The overcoming of metaphysics and nihilism The analysis of personality and universe The experiment with truth and reason O n suffering The ethics of the Eternal Recurrence The transformation of suffering and nirvana
Mazzino Montinari
Studien über Nietzsche Werk • Edition • Rezeption Oktav, ca. 225 Seiten. 1981. Kartoniert ca. D M 3 8 , ISBN 3 11 008667 0 (de Gruyter Studienbuch) Inhalt Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875/79 Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren Aufklärung und Revolution: Nietzsche und der späte Goethe Nietzsches Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" Die neue kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht Ein neuer Abschnitt in Nietzsches „Ecce h o m o " Nietzsche zwischen Alfred Bäumler und Georg Lukäcs
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Walter de Gruyter
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G
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