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German Pages 293 [294] Year 2016
Jutta Georg, Renate Reschke (Hg.) Nietzsche und Wagner
Nietzsche und Wagner Perspektiven ihrer Auseinandersetzung Herausgegeben von Jutta Georg und Renate Reschke
Gefördert von der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat, Bonn.
ISBN 978-3-11-037859-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-037875-7 e-ISBN (EBUP) 978-3-11-038737-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Siglenverzeichnis
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Jutta Georg, Renate Reschke Einleitung 11 Michael Girod Plakat Nietzsche und Wagner. Perspektiven ihrer Auseinandersetzung (2013) 17
I. Nietzsches Wagnerbild zwischen Erfahrung und Erfindung Armin Wildermuth Nietzsche und Wagner – über die Schwierigkeiten einer Kontroverse
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Takahide Imasaki Die Masken des Freigeistes und des Schauspielers in der Philosophie Friedrich Nietzsches 38 Renate Reschke Nietzsches Wagnerianerinnen. Ein Kulturtyp zwischen Erfindung, Inszenierung und Realität 46 Elke Wachendorff Affektökonomien: Großer Stil und Niedere Heilkunst. Nietzsche contra Wagner 82 Stefan Lorenz Sorgner „Wagners Kunst ist krank.“ Nietzsches Reflexionen über Kultur, Musik und Krankheit 94 Jutta Georg Übermenschkonzeptionen bei Wagner und Nietzsche
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Ivan Risafi de Pontes „Ich nehme den unangenehmsten Fall, den Fall Wagner.“ Nietzsches Ambivalenz des Künstlers und dessen ‚relative Keuschheit‘
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Inhalt
Christina Kast „Ich habe ihn geliebt und niemanden sonst. Er war ein Mensch nach meinem Herzen…“ Nietzsche, Wagner und die Suche nach Erlösung
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II. Nietzsche – Wagner – Schopenhauer Henrik Holm Wagner als Vorbild des Selbstseins? Bemerkungen zum frühen Idealismus Nietzsches in Schopenhauer als Erzieher
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Nicola Nicodemo Nietzsches Loslösung von Wagner und Schopenhauer als Bedingung seiner philosophischen Aufgabe einer Umwertung aller Werte 160 Jean Yhee Parsifal, Siegfried und der Kompromiss der Moderne. Nietzsche über Wagners Verhältnis zum Schopenhauerschen Pessimismus und spinozistischen Optimismus 171 Steffen Dietzsch Wagner als „Erbe Hegels“ – Die Musik als „Idee“? Oder: Erlösung versus Freiheit? 181
III. Rezeptionswege mit Nietzsche und Wagner Josef Schmid Schopenhauer – Nietzsche – Wagner. Theodor Lessings Inbegriff moderner deutscher Philosophie
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Ana Zelin Keller contra Wagner. Einige Gemeinsamkeiten zur Kritik Nietzsches Dieter Borchmeyer Wagner, Nietzsche und das Judentum
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Christian Niemeyer Nietzsches Siegfried oder: Das Motiv der Vatersuche als Ariadnefaden im Nietzsche/Wagner-Labyrinth?
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Inhalt
IV. Das Kunstwerk der Zukunft Andreas Rupschus Der Nutzen des Effekts. Meyerbeer als Referenzpunkt von Nietzsches Kritik an Wagners Instrumentarium der Täuschung
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Rüdiger Görner Die Kunst des Fragens bei Richard Wagner und Friedrich Nietzsche
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Andrew Huddleston Kunstreligion Redeemed: From Religion to Art in Parsifal Carlotta Santini Gegen eine Theorie der Musik als „Sprache des Gefühles“
Personenregister
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Autorinnen und Autoren
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Siglenverzeichnis A. Werkausgaben KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, ab Abt. IX/4 von Volker Gerhardt, Norbert Miller, Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi. Berlin, New York 1967ff. KGB Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Norbert Miller und Annemarie Pieper. Berlin, New York 1975ff. KSA Werke. Kritische Studienausgabe. 15 Bände. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. durchges. Aufl. München, Berlin, New York: 1999. HKGW Historisch-Kritische Gesamtausgabe Werke, München 1933ff. HKGB Historisch-Kritische Gesamtausgabe Briefe, München 1933ff. BAW Frühe Schriften 1854–1869 [1933–1942]. 5 Bände. Hg. von Hans-Joachim Mette, Carl Koch und Karl Schlechta. Mit einer editorischen Vorbemerkung von R. Schmidt zum Nachdruck der Ausgabe. München 1994.
B. Siglen einzelner Werke AC Der Antichrist BA Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten CV Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern DD Dionysos-Dithyramben DS David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller (Unzeitgemäße Betrachtungen 1) DW Die dionysische Weltanschauung EH Ecce homo FW Die fröhliche Wissenschaft GD Götzen-Dämmerung GG Die Geburt des tragischen Gedankens GM Zur Genealogie der Moral GMD Das griechische Musikdrama GT Die Geburt der Tragödie HL Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Unzeitgemäße Betrachtungen 2) IM Idyllen aus Messina JGB Jenseits von Gut und Böse M Morgenröthe MA Menschliches, Allzumenschliches (I und II) MD Mahnruf an die Deutschen NL Nachgelassene Notate/Aufzeichnungen NH Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift Im neuen Reiche NW Nietzsche contra Wagner PHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen SE Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3)
10 SGT ST VM WA WB WL WS Za
Siglenverzeichnis Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen 4) Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Der Wanderer und sein Schatten Also sprach Zarathustra
Jutta Georg, Renate Reschke
Einleitung
Die epochale Begegnung zwischen Richard Wagner war für Friedrich Nietzsche eine existentielle. Sie beherrscht nicht selten sein Denken, und lässt ihn Werke verfassen, die sich mit Wagners Kunst auseinandersetzen. In unzähligen Nachlassfragmenten beschäftigt er sich aber auch mit Wagners Charakter und Schriften. Seine Musik hat ihn beglückt, später behauptet er, sie habe ihn krank gemacht. Sein Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik widmete er ihm. Die Neuausgabe von 1887 wird mit dem Vorwort „Versuch einer Selbstkritik“ versehen – dort summiert er sein Befremden gegenüber dem „Vorwort an Richard Wagner“ von 1872 und stellt die gegen Wagner aufgerichtete Frage: „wie müsste eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre, gleich der deutschen, – sondern dionysischen?“ (GT, KSA 1, S. 20) Im Nachlass findet sich eine scharfe Kritik an der Romantik, die Nietzsche als Ursache seiner „extremen Erschöpfung“ durch Wagners Kunst klassifiziert: die tyrannische Hinterabsicht: die Reizung der morbiden Nerven und der Centren durch terroristische Mittel […] (NL 1888, KSA 13, S. 412) Ich lehre das Nein (zu) Allem, was schwach macht – was erschöpft. Ich lehre das Ja zu Allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert […] Ein langes Nachdenken über die Physiologie der Erschöpfung zwang mich zu der Frage, wie weit die Urtheile Erschöpfter in die Welt der Werthe eingedrungen seien […] (NL 1888, KSA 13, S. 412) Wagner hat an die Liebe geglaubt, wie alle Romantiker dieses tollen und zuchtlosen Jahrzehnds. Was blieb davon zurück? Diese unsinnige Vergötterung der Liebe, und, nebenbei, auch der Ausschweifung und selbst des Verbrechens – wie falsch scheint uns das heute! (NL 1888, KSA 13, S. 414)
In diesen Kontext gehört auch, dass Nietzsche im Jahr zuvor in Monte Carlo das Parsifal-Vorspiel hörte und an Köselitz schreibt: „hat Wagner je Etwas besser gemacht? […] Dergleichen giebt es bei Dante, sonst nicht. Ob je ein Maler einen so schwermüthigen Blick der Liebe gemalt hat als W(agner) mit den letzten Accenten seines Vorspiels?“ (KGB III/5, Bf. 793) – eine der häufigen konträren Wertungen und Bewertungen Wagners und seiner Kunst. Von ihm ist er zeit seines bewussten Lebens nicht losgekommen; auch nicht vom toten Wagner: „Zuletzt kam der Tod Wa g n e r s . Was riß damit Alles in mir auf! Es ist meine schwerste Probe gewesen, in Bezug auf Gerechtigkeit gegen Menschen – dieser ganze Verkehr und Nicht-Mehr-Verkehr mit Wagner“ (KGB III/1, Bf. 407).
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Jutta Georg, Renate Reschke
Nietzsches Bedeutung für war Wagner war zunächst auch groß gewesen: er sah in ihm den meisterhaften Philologen, der sein Anliegen und seine Kunst versteht. Entsprechend emphatisch reagierte er auf die Übersendung der Tragödienschrift: „Schöneres als Ihr Buch habe ich noch nichts gelesen! Alles ist herrlich!“ (KGB II/2, Bf. 256) Am 12.2.1870 schreibt er dem jungen Professor aus Tribschen: Da ist nun aber Theilung der Arbeit gut. Sie können mir nun viel, ja ein ganzes Halbtheil meiner Bestimmung abnehmen. Und dabei gingen Sie vielleicht ganz I h r e r Bestimmung nach. Sehen Sie, wie elend ich mich mit der Philologie abgefunden habe, und wie gut es dagegen ist, das(s) Sie sich ungefähr ebenso mit der Musik abgefunden haben. Wären Sie Musiker geworden, so würden Sie ungefähr das sein, was ich geworden wäre, wenn ich mich auf die Philologie obstinirt hätte. Nur liegt mir aber die Philologie – als bedeutungsvolle Anlage – immer in den Gliedern, ja sie dirigiert mich als ‚Musiker‘. Nun bleiben Sie Philolog, um als solcher sich von der Musik dirigiren zu lassen (KGB II/2, Bf. 73).
Nach der Zusendung von Menschliches, Allzumenschliches wendet sich Wagner von Nietzsche ab. Für diesen wurde der Besuch der ersten Bayreuther Festspiele 1876 zum Desaster; er markierte nicht zuletzt die schon geahnte Entfremdung. Was dabei erodierte, war das gemeinsame intellektuelle Band zu Schopenhauers Philosophie, die Nietzsche fortan als „Willensmetaphysik“ verdammte, und an der Wagner, wie seine Opern und Musikdramen belegen, ein Leben lang festgehalten hat. Am 19.12.1876 schreibt Nietzsche aus Sorrent an Cosima Wagner (und nicht an ihren Mann) über seine Abkehr von Schopenhauer: eine allmählich entstandene, mir fast plötzlich in’s Bewußtsein getretene Differenz mit Schopenhauer’s Lehre […] Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite; schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag alles am M e n s c h e n (KGB II/5, Bf. 581).
In philosophiegeschichtlicher Perspektive ist Schopenhauers Willensmetaphysik für Nietzsche die theoretische Weichenstellung für die Genese seiner Willenssemantik, die den Willen zur Macht als grundlegenden Motor des Organischen und des menschlichen Daseins begreift. Ist auf der einen Seite Schopenhauers Ästhetik das verbindende Glied zu Wagner, so ist andrerseits Nietzsches Topos des Tragischen als dionysischem Amor fati, der theoretische Grund seiner Abkehr von Schopenhauer. Und gleichermaßen ist die inkompatible Entwicklung der ästhetischen Überzeugungen Nietzsches und Wagners Ausdruck der beginnenden Distanz Nietzsches und bleibenden Nähe Wagner zu Schopenhauers Willensmetaphysik. Obgleich die Zeit der Entstehung der Geburt der Tragödie und die Jahre zuvor – seit dem Ende der 1860er Jahre – die hohe Zeit der Freundschaft zu Wagner sind, liegt in der Konzeption des Tragischen als paradigmatischem, der Antike entlehntem Perzeptionserleben der resistente Grund ihrer Entfremdung, weil Wagner in Nietz-
Einleitung
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sches Rezeption das Tragische nicht mehr für eine zukünftige, bejahend-heroische Lebenseinstellung zur Leitfigur machte. Wagner nutzte seine Opern für die musikdramatische Inszenierung seiner kunsttheoretischen und moralisch-religiösen Überzeugungen, Nietzsche verbindet mit der dionysischen Kunst die völlige Freisetzung von Botschaften zugunsten eines uneingeschränkten Auslebens aller Potenzen des Lebens in stetiger Überwindung und Selbstüberwindung. In seiner frühen Zürcher Schrift: Die Kunst und die Revolution (1849) hatte Wagner der Kunst die immense Aufgabe aufgebürdet, Motor der revolutionären Bewegung zu sein, wobei er darauf vertraute, über eine kollektive Erinnerung an kulturelle Ursprünge und damit an die antike Tradition, wiederanzuknüpfen. Anders als bei Nietzsche stehen in Wagners Reformschriften Künstler und Kunst an der Spitze einer sozial-revolutionären Entwicklung der Menschheit; im Unterschied zu den folgenden Regenerationsschriften, in denen Deutschtümelei und Antisemitismus exponiert werden, ist diese frühe Utopie kosmopolitisch ausgerichtet. Das Volk ist nicht deutsch, der Revolutionär kein Arier. In den Kunstschriften der Zürcher Zeit liegt die größte Nähe zu Nietzsches Visionen, sind sie doch noch dem als absolut gesetzten antiken Vorbild verpflichtet für die ReKreation idealer Artefakte. So ist der Beginn ihrer Beziehung vom gemeinsamen Rückbezug auf das antike Ideal und von einem Ringen über Parameter einer Bewertung von Kultur und Kunst in der Moderne geprägt. Die Nachlassfragmente der Basler Zeit dokumentieren Nietzsches Suche, wie eine Revitalisierung jenes ethisch-ästhetischen Ideals der griechischen Tragödie gelingen könnte, die zwar keine humanen, aber durchaus menschliche – libidinöse und aggressive Urinstinkte – artifiziell umsetzte. Beide hatten zu dieser Zeit jene Sehnsucht nach der Verwirklichung eines Traumes, der nicht allein aus kritischer Analyse des Vorhandenen erwuchs, sondern sich aus einem Zustand des Leidens generiert, das aus einer Überfülle an Kraft wächst. Mit Wagner sah Nietzsche die Möglichkeit gegeben, die von ihm erstrebte Renaissance der antiken artifiziellen Welt zu erreichen. So hat er ihn in der Geburt der Tragödie als den „Ernsthaften“ bezeichnet, für den die Kunst nicht Erheiterung ist, sondern die Verwirklichung des höchsten metaphysischen Auftrags, den sie ästhetisch umsetzt. Schwieriger fällt die Bewertung des späten Nietzsche contra Wagner, weil zu oft der analytische Extrakt dem plakativ überzeichneten Urteil geopfert wird. Dies ist der Trauer und Enttäuschung über das Zerbrechen der „Insel der Glückseligen“, des Tribschener Idylls, über das angeblich nie eine „Wolke hinweggegangen“ ist, geschuldet. Der Epilog zu NW zeigt, dass Nietzsche auch durch Wagner lernte, was Amor fati bedeutet: „im Sinne einer g r o s s e n Ökonomie, auch das Nützliche an sich [zu sehen] – man soll es nicht nur tragen, man soll es lieben … Amor fati: das ist meine innerste Natur“ (NW, KSA 6, S. 436).
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Spätestens seit seiner Identifikation mit dem etablierten Kunstbetrieb Bayreuth habe sich Wagner, so Nietzsche, von der hellenistischen Tradition verabschiedet und mit dem Parsifal eine religiöse Botschaft intoniert – damit war ihr Gleichklang definitiv zerbrochen. Nietzsche hatte Wagner zunächst zur Personifikation des höchsten ästhetischen Auftrags stilisiert, deshalb ist seine Enttäuschung über Wagners Abfall vom gemeinsamen Ideal grenzenlos. Sie konnte er nie überwinden. Zwei Jahre vor der Uraufführung des Parsifal war 1880 Wagners Schrift Religion und Kunst erschienen mit der Klage, die sogenannten freien Geister seien verständnislos für die religiöse Erkenntnis über die „Sündhaftigkeit der Menschen“. Mit ihnen war auch Nietzsche gemeint. Rettung könne jetzt nur noch durch die „Ausführung der großen Regeneration“, die „aus dem tiefen Boden einer wahrhaften Religion erwachsen“, weil sie sich die „aufopfernde Tätigkeit edler Menschen“ (Wagner) zum Vorbild genommen habe. Was könnte stärker Nietzsches entwickelter Philosophie widersprechen als der „Geist der Verneinung“ und das dem „Leiden entkeimende Mitleiden“? Ganz unabhängig von der Frage, welches Therapeutikum zur Rettung der Kultur taugt, dieses oder Nietzsches tragische Bejahung des Lebens als Leiden, bleibt festzuhalten: Weder das eine noch das andere hat sich durchgesetzt. Selbstverständlich konnten Wagner und Nietzsche den beschleunigten Rhythmus der Dekadenz in der späten Moderne nicht voraussehen, gleichwohl mutet uns heute ihr Anliegen nur auf den ersten Blick naiv an. Eine genauere Betrachtung ihrer Gegenwerte fördert jedoch deren Aktualität als kultur- und kunstkritisches Memento zutage, ohne damit freilich etwas über die geringen Möglichkeiten seiner Verwirklichung aussagen zu können oder zu wollen. Das betrifft namentlich Nietzsches Thesen über Nihilismus und Dekadenz, den sinnentleerten Automatismus der Massenkultur und ihrer veröffentlichten massenmedialen Meinungen, das Diktat der Moden, die kaum noch Differenz aufweisen, die rückhaltlose Entzauberung des Intimen und seine demgemäße Überwachung, Notierung und Dokumentation und nicht zuletzt auch Vermarktung, die Erosion von Kultur und der vulgäre Konsumismus ihrer Rezipienten. Das alles hat Nietzsche visionär in seinem analytisch-strukturellen Ansatz begreifbar und damit transparent gemacht. Das Ausbleiben und die Ahnung, dass es kaum eine durchgreifende Gegenbewegung geben wird und angesichts fortschreitend gesichtslos globaler Kulturindustrie auch nicht geben kann, unterstreicht uneingeschränkt die andauernde Aktualität der Auseinandersetzung zwischen Nietzsche und Wagner – wobei die Nietzsches mit Wagner weitaus besser dokumentiert ist – und verschärft die Brisanz einer Antwort auf die Frage, was aber, wenn es so bleibt: Wenn Kulturverfall nicht mehr aufzuhalten ist?
Einleitung
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Das Plakat der Tagung stammt von Michael Girod aus Halle/Saale, der für das Thema eine künstlerisch entsprechende Bildsprache gefunden hat. Nietzsche und Wagner im Profil gegeneinander gesetzt. Auf Augenhöhe in der Konfrontation: nur der leicht aufschauende Blick Nietzsches deutet auf seine anfängliche Verehrung des Hoffnungsträgers für eine Erneuerung der Kultur hin. Doch das Bündnis ist zerrissen. Schwarz und endgültig zieht sich der Bruch vertikal durch das Bild. Unversöhnlich stehen sich der Philosoph und der Musiker gegenüber und dennoch widersprüchlich tief verbunden. Nietzsches Hoffnung auf Bayreuth als Ort des neuen Alexanders oder Demosthenes (WB, KSA 1, S. 495), die nun den Namen Wagner tragen sollte – wie es in der Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung hieß – wo alles zum Echo der Gedanken Wagners und von dort aus „hundertfältig in die Welt“ (WB, KSA 1, S. 495) getragen werden sollte, diese in sich zusammenfallende Hoffnung auf Seiten des Philosophen und des Musikers Enttäuschung über den jungen Professor, der nicht nur nicht auf Dauer fortjubeln wollte, sondern der auch an der Unfehlbarkeit des Meisters zu zweifeln begann: beides besagt die schwarze Risslinie und markiert die Unüberbrückbarkeit ihrer Differenzen. Mehr noch: die Farbe deutet auch auf die schwierige Rezeptionsgeschichte Nietzsches und Wagners und ihrer ideellen, ideologischen Verstrickungen in die Kultur- und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, in die Vereinnahmungen und Anbiederungen in den Jahren 1933 bis 1945, deren Auswirkungen ihre Spuren bis ins Heute besitzen. Und doch liegt Perspektivisches in dieser Trennung: Wagner wurde zu einem Glücksfall für den Philosophen, für den großen Kritiker der Moderne und ihrer Kultur. Erst aus der Perspektive des Bruches mit ihm konnte er an ihm seine scharfsichtige Kulturkritik der Moderne formulieren: Wagner als ihr kongenialster Ausdruck, Nietzsche als ihr konsequentester ‚Aufklärer‘. Diesen Themen und ihrer Aktualität im Wagner-Jahr nachzugehen, war das Anliegen der Internationalen Nietzsche-Konferenz 2013 in Naumburg. Dazu waren Nietzsche- und Wagnerforscher aus zwölf Ländern und drei Kontinenten eingeladen, über das schwierige Verhältnis der beiden großen Geister am Ende des 19. Jahrhunderts und über die Bedeutung Nietzsches und Wagners und ihrer möglichen Wirkmächtigkeit im und für das 21. Jahrhundert ins Gespräch zu kommen. Die Ergebnisse sind zu großen Teilen in diesem Band vereinigt. Berlin und Frankfurt am Main im März 2014
I. Nietzsches Wagnerbild zwischen Erfahrung und Erfindung
Armin Wildermuth
Nietzsche und Wagner – über die Schwierigkeiten einer Kontroverse 1 E intracht in Tribschen und Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Unvergesslich sind für Nietzsche „die schönen Tage von Tribschen“. Rückblickend in seiner späten Schrift Ecce homo schreibt er: ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der subtilen Zufälle – der tiefen Augenblicke … Ich weiss nicht, was Andre mit Wagner erlebt haben: über unserm Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen (EH, KSA 6, S. 288).
Gemeint sind die Tage nach dem 17. Mai 1869, nachdem er als Basler Professor der Philologie Richard Wagner in seinem Wohnsitz bei Luzern zum ersten Mal besuchte. Rückblickend auf das Jahr 1876 und auf die ersten Bayreuther Festspiele heißt es aber im Jahre 1888: „Tribschen – eine ferne Insel der Glückseligen: keine Schatten der Ähnlichkeit“ (EH, KSA 6, S. 323). Keine Ähnlichkeit auch mit den „unvergleichlichen Tagen der Grundsteinlegung“ im Jahr 1872. Auf dieses Ereignis hin verfasste Nietzsche allerdings noch eine große Eloge auf Wagner, in den Unzeitgemäßen Betrachtungen Viertes Stück das betitelt ist: Richard Wagner in Bayreuth. Nachträglich muss für Nietzsche diese Schrift als ein Dokument der Verstellung erschienen sein, denn in Ecce homo codiert er die Namen um: „Jetzt, wo ich aus einiger Ferne auf jene Zustände zurückblicke, deren Zeugnis diese Schriften sind, möchte ich nicht verleugnen, dass sie im Grunde nur von mir reden. Die Schrift ‚Wagner in Bayreuth‘ ist eine Vision meiner Zukunft“ (EH, KSA 6, S. 320). Was war geschehen? Auf diese Frage findet man zwar im Aph. 279 aus der Fröhlichen Wissenschaft keine Antwort, die das Entfremdungs-Geschehen erklärte, aber die Beschreibung einer Grundsituation, die das Verhältnis Nietzsches zu Wagner bis an die Grenze seines Denkens vor dem Zusammenbruch bestimmte:
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Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden … Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel und seine Bahn hat; wir können uns wohl kreuzen und ein Fest miteinander feiern, wie wir es gethan haben, – und dann lagen die braven Schiffe so ruhig in Einem Hafen und in Einer Sonne, dass es scheinen mochte, sie seien schon am Ziele und hätten Ein Ziel gehabt. Aber dann trieb uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe wieder auseinander […] unser Leben ist zu kurz, als dass wir mehr als Freunde im Sinne jener erhabenen Möglichkeit sein könnten. – Und so wollen wir an unsere Sternen-Freundschaft glauben, selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müssten (FW, KSA 3, S. 523f.).
In den schönen Tagen von Tribschen sind die Gemeinsamkeiten Nietzsches und Wagners sicher am intensivsten und auch gut fassbar. Worin bestehen sie? – Vorerst ist diese Allianz sehr ungleichgewichtig. Nietzsche gewinnt durch seinen persönlichen Charme und durch Gespräche, die eine Atmosphäre gleicher Interesselage schaffen. Mit seiner Philologie und seinen Kenntnissen des griechischen Altertums findet er bei Wagner offene Ohren, nicht zuletzt deshalb, weil dieser selbst seine musikalische und theoretische Arbeit von der griechischen Tragödien-Dichtung herzuleiten versucht. So in seinem Werk Oper und Drama von 1852. Dieses ist sicher mehr als sein braver Titel anzeigt, es ist nichts weniger als ein großer Entwurf einer lebensweltlichen und entwicklungsgeschichtlichen Begründung der „Dicht- und der Tonkunst“, besonders auch der Entwicklungen, die zur Kunstform des „musikalischen Dramas“ hinführten. Und weil diese eingelassen ist in den „Zusammenhang aller Erscheinungen“ ist auch die Basis der kulturellen Lebenswelt selbst mitthematisiert. Angesichts des umfangreichen Wagnerischen Werkes in Ton, Schrift und Theater muss sich Nietzsche bei seinen ersten Besuchen in Tribschen vorerst klein vorgekommen sein. Mit dem Werk der Geburt der Tragödie von 1871 arbeitet sich Nietzsche theoretisch auf Augenhöhe zu Wagner empor, ja, er ist sogar überzeugt, dass er Wagners Kunst in ihrem Wesen und in ihrem tieferen Gehalt sichtbar gemacht habe. In Tribschen wird das Buch begrüßt. Es scheint, dass mit ihm das Werk und das Denken Wagners einen erweiterten, einen auch interdisziplinären Horizont gewonnen haben. Wenigstens im Persönlichen und im Verstehen von Nietzsches philosophischen Wurf ist eine Allianz der beiden Geistesgrößen – wenigstens auf Zeit – wirklich geworden. Sie wird auf eine harte Probe gestellt. Denn die Schrift ist komplex, ihr Ziel nicht deutlich, in mehrfacher Hinsicht irritierend. Bei den Philologen verliert Nietzsche seinen Ruf als Wissenschaftler, der Gedankengang ist auf Wagner zentriert und gilt als thematisch verfehlt und spekulativ, die demonstrierte Kulturkritik an der griechischen Antike versteigt sich zu einem Verdikt über Sokrates, Platon und eigentlich auch über die ganze rationale Wissenschaft. Als Leitprinzip gilt Nietzsche der Gegensatz des Dionysischen und Apollinischen, den er einerseits geschichtlich als einen Import aus dem Orient darstellt, andererseits in dem Begriff der „Transfiguration“ in eine existentielle
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Einheit überführt. Als Illustration dient ihm Raffaels Bild gleichen Namens (vgl. GT, KSA 1, S. 39). Die Synthese beider Prinzipien oder Daseinsmächte stelle die griechische Tragödie dar, nicht die späteren Ausführungen von Sophokles oder Euripides, sondern jene von Aischylos, in der der Chor die zentrale Rolle spiele. Nietzsche beschreibt, wie dem apollinischen Griechen, d. h. dem hell und klar denkenden Griechen, das Dionysische erscheint, nämlich als „titanenhaft, barbarisch“ (GT, KSA 1, S. 40), das Apollinische zerstörend (vgl. GT, KSA 1, S. 41), die Natur mit titanischen Mächten erfüllend (GT, KSA 1, S. 35), als eine Vorstellungs-Welt, die vom „Ur-Einen“ in jedem Moment erzeugt wird (wobei Vorstellung im Sinne Schopenhauers gerade unsere „Realität“ bedeutet; GT, KSA 1, S. 39). Das Dionysische zeigt sich ihm als die „anstürmende Wirklichkeit“, als die von keiner Erkenntnis bearbeitete Natur (GT, KSA 1, S. 58), als wilde und nackte Natur (vgl. GT, KSA 1, S. 73). Nun ist das Dionysische für den Griechen nicht eine unabhängige Macht, denn das Apollinische und Dionysische sind miteinander verbunden, ja sie bilden wesenhaft eine Einheit. Dies ist der Doppelcharakter des Wesens der Welt, der sich „im Doppelwesen des äschyleischen Prometheus“ symbolisch offenbart und sich in der „begrifflichen Formel“ ausdrückt: „Alles Vorhandene ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt“ (GT, KSA 1, S. 71). Nach der Publikation der Geburt der Tragödie verändert Nietzsche seinen philosophischen Standpunkt. Zwar ohne metaphysische Begründung konfrontiert er sich intensiver mit der erscheinenden Wirklichkeit, hält aber, wie sich zeigen wird, an einer dualistischen Weltsicht fest. Der „innere Zugang“ über den „Willen“ zu den Erscheinungen als „Vorstellungen“ ist ihm jetzt verschlossen. Seine neuen philosophischen Reflexionen werden nun von Philosophen und Wissenschaftlern angeregt, die das akademische Milieu des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts in Deutschland, England und Frankreich prägten. Auf sie bezieht sich der junge Basler Professor Nietzsche, so auf Friedrich Albert Lange, Hermann von Helmholtz, Carl Friedrich Zöllner, Gustav Gerber, African Spir und Eduard von Hartmann.1 Er suchte den Anschluss an die damaligen, meist vom Neukantianismus geprägten Wissenschaften und Philosophien.
1 Vgl. Reuter 2009: Diese kenntnisreiche Arbeit erhellt die Quellen, auf die sich Nietzsche in den Jahren 1872/3 bezieht. Wie der Titel anzeigt, werden die Probleme der Wahrnehmung und des Bildes in den Vordergrund geschoben. Besonders wird der „komplexe Metaphernbegriff“ Nietzsches thematisiert (Reuter 2009, S. 9) und der Bezug der Sprache zu den Gegenständen anhand der damaligen Theorien dargestellt. Dazu wird die Sprachtheorie Gustav Gerbers klärend herbeigezogen (Reuter 2009, S. 79ff). Der eigentliche Hintergrund von Nietzsches Denkweg, nämlich der ontologische, wird zwar mit Hinweisen auf Descartes’ Dualismus erwähnt, aber nicht eigens analysiert. Er bleibt auch für diese Interpretation eine „Gegebenheit“. Das Werk, das für Nietzsches Ontologie schon 1873 grundlegend war und es auch im Jahre 1885 noch blieb,
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2 G rundlegung der Wahrheitsproblematik bei Afrikan Spir und in Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) Nietzsche erarbeitet sich sein Erkenntnis- und Weltverstehen in der Trennungszeit von Richard Wagner und auch von Schopenhauer durch eine gründliche Lektüre von African Spirs Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie (1873). Nachweislich benützte Nietzsche diesen Text auch in den Jahren 1877, 1885 und 1888. Frucht seiner ersten Lektüre in den Jahren 1872/1873 ist seine kleine Schrift Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, die er selbst nie veröffentlichte. Spir geht vom ontologischen Grundriss der kantischen Philosophie aus, auf dem die Kritik der reinen Vernunft aufgebaut wurde. Bestimmend sind für ihn die Relationen von „Ding an sich“ und „Erscheinung“, wie auch von „Vorstellung“ und „Empfindung“. Die Wirklichkeit erscheint nach Spir dem Subjekt nicht direkt, vielmehr durch den Filter der Vorstellungen geprägt, also nicht so, wie sie tatsächlich sind. Sie werden sodann von der Empfindung aufgenommen, die das gestaltend hervorruft, was sie dem Subjekt als dieses oder jenes Objekt oder als „Ordnung und Gesetzmässigkeit der erkennbaren Welt“ vorgaukelt (Spir 1873, S. 357f.). Spir löst im Verlauf seiner Analyse jede Bestimmbarkeit der „Dinge an sich“ und damit der Wirklichkeit auf, ja er kann letztlich nur noch von einem einzigen „Ding an sich“ sprechen, sofern überhaupt hier eine Bestimmung zulässig sein soll. Damit geht er über Kant hinaus, der die „Dinge an sich“ bei aller Vorsicht zwar als „Grenzbegriffe“ bezeichnet, aber ihnen dennoch eine Kausalität auf das erkennende Subjekt zuspricht. Dass diese eine „affizierende“
ist African Spirs Denken und Wirklichkeit. Neben Spir wird z. B. im gleichen Fragment von 1885 auch auf Gustav Teichmüller verwiesen (NL 1885, KSA 11, S. 640), dessen Werktitel Die wirkliche und die scheinbare Welt – Neue Grundlegung der Metaphysik (Breslau 1882) sogar die berühmte Vorlage für Nietzsches Analyse in der Götzendämmerung abgibt. Durch die Referenzen auf Spir und Teichmüller wird klar: Nietzsches Erkenntnis-Verstehen ruht auf der ontologischen Voraussetzung, dass Denken und Wirklichkeit streng getrennte Bereiche sind. Die Frage, die an die genannten Philosophen, Wahrnehmungs- und Sprachtheoretiker gestellt werden muss, ist die Frage nach deren ontologischen Voraussetzungen, die sie nicht bedachten und als Gegebenheiten voraussetzten. Diese Frage ist auch an Kant und Schopenhauer zu richten. Erst von diesen erweiterten Reflexionen aus kann in Sicht kommen, wie in Nietzsches Denken der moderne, sich selbst ontologisierte Subjektivismus, der die erscheinende Wirklichkeit verlor und ins Exil des neutralen Seins verstieß, zur vollen Krisis gekommen ist. Dieser Spur nachzugehen, ist der Sinn der vorliegenden Untersuchung.
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Wirkung in der Empfindung des Subjekts auslösen soll2, ist ein Widerspruch im kantischen Denken, auf den Spir vielfach hinweist. Verbleibt bei Kant die Empfindung in einem recht unbestimmten Zustand, versieht sie Spir mit sensualistischen und empirischen Fähigkeiten. Er glaubt nachweisen zu können, dass die Aprioritäten Kants, wie er sie in der Tafel der Kategorien festhielt, allesamt aus empirischen Vorgängen abgeleitet werden können. Was sich apriorisch dennoch behaupten kann, dies sind für Spir allein noch die „Thatsache des Bewusstseins“ (Spir 1873, S. 244), der Begriff der „Identität“ und der „Begriff apriori“ (Spir 1873, S. 257). Was ebenfalls für ihn noch bestehen bleibt, ist die Relation des Denkens zum unfassbaren Hintergrund aller Erscheinungen, dem „Ding an sich“, was zur Folge hat, dass alle dem Subjekt zugänglichen und bestimmbaren Dinge ihrem Wesen nach weder ganz wahr noch ganz falsch sein können. Dies bedeutet, dass sie vom Subjekt her gesehen fassbar, bestimmbar und als Objekte erkennbar sind, jedoch aufgrund ihres Bezuges zum Ding an sich gänzlich unfassbar, unbestimmbar und unerkennbar bleiben. Das erstaunliche Fazit dieser Konstruktion ist nun, dass das Urteil über Wahrheit oder Falschheit, Wahrheit oder Lüge, nicht in der Erkenntnis des Subjektes liegt, vielmehr im Wesen der erscheinenden Dinge selbst (Spir 1873, S. 377). Damit ist ein „aussermoralischer“ Standpunkt bezogen. Nietzsche übernimmt den ontologisch-erkenntnistheoretischen Grundriss Spirs mit einer deutlichen Differenz. Formal dargestellt sieht Spirs Ansatz, wie aus den zuvor explizierten Voraussetzungen hervorgeht, so aus: Ding an sich – Erscheinung – Vorstellung – Empfindung – Erkenntnis des Subjekts. Nietzsche streicht das Ding an sich, das Spir noch als eine für das Subjekt notwendige Fiktion bestehen lässt. Was original in Erscheinung tritt, steht ausserhalb des theoretischen Erkennens und bleibt darum, obgleich sinnlich präsent, so unfassbar wie die Dinge an sich. Die „Original-Vorgänge“ und letztlich die ganze kosmische Wirklichkeit können bei ihm nur durch leibliche Analogien indirekt bestimmt werden. Hier zeichnet sich der Anthropomorphismus als Grenze ab, die Nietzsche nie zu überschreiten vermochte. Nietzsche nimmt in seiner Schrift Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischem Sinne gleich zu Anfang einen ausserplanetarischen Standpunkt ein, so als ob ein Extra-Terrestrischer auf dem Erdplaneten lande und geradezu ethnographisch das Denken und Tun der Erdbewohner untersuchen könne (WL, KSA 1, S. 875). Zugleich setzt Nietzsche – weil die menschlichen Wesen sich organisie-
2 Der hier maßgebende Passus lautet: „Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung. Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heisst empirisch. Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heisst Erscheinung“ (Kant 1956, S. 34).
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ren müssen – einen lebensweltlichen, pragmatischen Prozess voraus, der sich mithilfe des Denkens, „Intellekt“ genannt, vollzieht. Nietzsche zeichnet diesen Prozess in genealogischen Stufen nach. Die erste Stufe bildet nicht der erkenntnistheoretische Bereich, wie es Spir versucht, sondern ein tieferer, nämlich derjenige der originalen, singulären und subjektiven Erlebnisse und der unmittelbar sich zeigenden Phänomene. Denken und Wirklichkeit stossen zwar in diesem Prozess zusammen, doch vorerst so, dass ihre Differenz noch nicht bewusst wird. Der lebensweltliche, alltagspragmatische Prozess vermischt Denken und das rüde kommunikative Handeln der „Original-Vorgänge“. Wie Nietzsche ausführt, werden hier die „Identitäten“ durch „Wiederholung“ gleicher Lebensabläufe erschaffen, so dass erst im kommunikativen Verständnis von gemeinsam Handelnden anscheinend stabile Dinge sich herauskristallisieren. Diese eigentlich fiktiven „Dinge“ oder „Objekte“ werden in einen Verstehens-Horizont eingebaut, der aber mit dem „wirklichen Wesen“ der Dinge nichts zu tun hat. Bemerkenswert ist nun, dass im noch rohen Zustand des pragmatisch-kommunikativen Lebens, alles das, was später Täuschung, Lüge, Wahrheit, Betrug, Verstellung etc. genannt wird, als selbstverständlich gilt und nicht im Geringsten durch moralische Regeln belastet ist. Dass diese überhaupt auftreten können, dazu bedarf es im nietzscheanischen Stufenbau eines sich durchsetzenden Prozesses der „Abstraktion“, der Begriffsbildungen, die sich von den „individualisierten Urerlebnissen“ entfernten (WL, KSA 1, S. 879). Was sich vollzieht, ist ein universales „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ (WL, KSA 1, S. 880). Diese Begriffs-Herrschaft beruht auf der reduktiven Abstraktion, die bewirkt, dass Singuläres, das phänomenal und mental unterschieden ist, überhaupt vergleichbar wird. Diese „Äquivalentform“ – wie sie Marx in den ersten Kapiteln von Das Kapital (vgl. Marx 1962, S. 70ff.) nennt – verwandelt alles und jedes in Zeichen und Metaphern. So können Häuser, Flüsse, Wahrnehmungen, Menschen, Tiere, Gedanken usw. als „Seiende“ auf die gleiche Ebene reduktiver Abstraktion gebracht, „vergleichbar“ und moralisch „bewertbar“ werden. Auf dieser zweiten Stufe etabliert Nietzsche die Sprache als Hilfsmittel der Verständigung über die angeblich gleichen oder ähnlichen Dinge und Vorgänge. Die anfänglich naiven Metaphern werden zunehmend abstrakter und sind mit den Original-Vorgängen nur noch lose verbunden. Sie werden zu Metaphern „zweiten Grades“, die Bilder darstellen und sich von den Ur-Erlebnissen distanzieren. Auch das Bildhafte wird stetig aufgelöst, und der Erkenntnisprozess verdichtet die Bilder zu „Begriffen“, die, wie die Philosophien es bekunden, eine angeblich eigenständige Wirklichkeit zu begründen beginnen. Ist dieses Stadium erreicht, spricht Nietzsche von der „Begräbnissstätte der Anschauung“ (WL, KSA 1, S. 886). Das Unanschaulich-Abstrakte und die reine Fiktion haben sich unbemerkt zum Fundament der Wirklichkeits-Erkenntnis verfestigt – und damit
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die prekäre Situation der ganzen bisherigen Zivilisation geschaffen. Dieser Denkansatz leitet auch die späteren Analysen in der der Götzendämmerung von 1888. Als ein Fazit seiner frühen Spir-Studien sei folgender Text festgehalten: Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein uns unzugängliches und undefinierbares X. Denn auch unser Gegensatz von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge, wenn wir auch nicht zu sagen wagen, dass er ihm nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegentheil (WL, KSA 1, S. 880).
Nietzsche sagt also zugespitzt: die Natur ist ein unzugängliches X. Ein undurchdringlicher Vorhang schiebt sich vor das wirkliche Wesen der Phänomene und vor den „natürlichen Zustand der Dinge“ (WL, KSA 1, S. 879). Die „individualisierte[n] Urerlebniss[e]“ (WL, KSA 1, S. 874), die nun die Rolle des Dionysischen übernehmen, sind unter der Decke des „Gleichen des Nicht-Gleichen“ verschwunden. Wer unter dieser Voraussetzung die Natur erforscht oder über die erscheinende Wirklichkeit nachdenkt, ist verwiesen auf Sprache, Metaphern, Bilder, Begriffe und auf das Erinnern und Wiederholen von Eindrücken (Reuter 2009, S. 191–232). Diese Momente haben sich über der Gleichheits-Decke etabliert und bestimmen nun als fixierte Grössen, was „‚Wahrheit‘ sein soll“ (WL, KSA 1, S. 877). Nietzsche vermerkt, dass dadurch die Subjekte blind wurden gegenüber den Grundlagen, auf denen sie stehen. Was sie als die Basis der Wirklichkeit wähnen, ist eine abstrakte, konstruierte Ontologie der Täuschung. Was nur als ein metaphorischer Verweis auf die in sich selbst seiende Wirklichkeit gilt, wird mit dieser verwechselt. Die ganze Substanzen-Ontologie seit Aristoteles – ist ein Irrtum sondergleichen! Für Nietzsche bildet diese Verkehrung des Welt- und WirklichkeitsVerstehens die ontologische Katastrophe, in der alles Denken, das über seine Voraussetzungen nicht reflektiert, verhaftet bleibt.
3 D as Medium der Anthropomorphie und die grosse Vernunft des Leibes Nach dem Ausschluss der Natur als das unfassbare X sieht Nietzsche alles Reden und Denken gefangen in dem Medium des „Anthropomorphischen“. Er beschreibt die Folge aus dieser ontologisch bedingten Situation wie folgt: Das Subjekt sähe sich in ein Spinnennetz selbst gewobener Fäden, in ein Gefängnis mit selbst gebauten Mauern versetzt, es lebe in einem „Thurmbau“ der Begriffe,
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in einem „ungeheure[n] Gebälk und Bretterwerk der Begriffe“ (WL, KSA 1, S. 888), lebe nach dem „Aufthürmen eines unendlich complizirten Begriffsdomes“ über einem beweglichen Fundament und auf „gleichsam fliessendem Wasser“ (WL, KSA 1, S. 882). Auch der Wissenschaftler entrinnt diesem Schicksal, diesem anthropomorphen Gefängnis nicht. Denn: „Der Forscher nach […] Wahrheiten sucht im Grunde nur die Metamorphose der Welt in den Menschen; er ringt nach einem Verstehen der Welt als eines menschenartigen Dinges und erkämpft sich besten Falls das Gefühl einer Assimilation“ (WL, KSA 1, S. 883). Nietzsche denkt in den Schriften nach 1876 konsequent weiter auf der Linie der ontologisch-erkenntnistheoretischen Grundlagen, wie er sie in der Schrift Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne in recht nüchterner Sprache festhielt. Er erkundet das Medium des Anthropomorphischen und versucht, es begrifflich zu fassen. Es ist klar, dass er das theoretische Denken nicht in dessen Mittelpunkt rückt. Den „Intellekt“ hat er bereits in eine Hilfsstellung delegiert. Ins Zentrum rückt er das, was er schließlich in Also sprach Zarathustra I im Abschnitt „Von den Verächtern des Leibes“ die ‚grosse Vernunft des Leibes‘ bezeichnet (vgl. Za, KSA 4, S. 39ff.). Es geht Nietzsche um etwas Grundsätzlicheres als um die „Umkehrung des Platonismus“, wenn er eine sinnliche, leibliche Vernunft auftreten lässt. Diese ist umfassend, durchdringt alle Sinne und prägt offensichtlich das ganze Dasein des Menschen. Die gewohnten Instanzen, die sich den Bereich der Leib-Vernunft unter sich teilen und sie je nach Funktion mehr oder weniger dominieren, sind Sinn, Selbst, Geist, Ich, Seele, Gedanken und Gefühle. Unter ihnen scheint dem „Selbst“ als eine Hintergrundgröße eine besondere Rolle zuzukommen. Es fällt vorerst schwer, eine leibliche Vernunft, also ein leibliches Erkennen anzunehmen. In markigen Sätzen postuliert Nietzsche durch den Mund seines Propheten: der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. / Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt / […] ‚Ich‘ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich / […] Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes (Za, KSA 4, S. 39).
Der leibhaft gewordenen Vernünftigkeit entspricht eine Moral, die sich von der herrschenden abstrakten Moral, wie sie „das Christentum“ angeblich vertreten soll, unterscheidet. Nach Nietzsche speise sich diese andere Moral aus den subjektiven Erlebnisquellen, die unter der Schicht gleichgemachter Nicht-Gleichheiten sprudeln. Moralisch echtes Handeln und Erkennen entspringe darum aus der Unmittelbarkeit des Lebensprozesses als solchen und bedürfe keines dogmati-
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schen Regelsystems, das die unmittelbaren Regungen, Instinkte, Leidenschaften und Gefühle begutachte und unter die Rubriken „Wahr oder Falsch“, „Gut oder Böse“ stelle. Wie Nietzsche diese „andere Moral“ versteht, verdeutlicht er am Beispiel der „schenkenden Tugend“ im Zarathustra: Sagt mir doch: wie kam Gold zum höchsten Werthe? Darum, dass es ungemein ist und unnützlich und leuchtend und mild im Glanze; es schenkt sich immer. / Nur als Abbild der höchsten Tugend kam Gold zum höchsten Werthe. Goldgleich leuchtet der Blick dem Schenkenden. Goldes-Glanz schliesst Friede zwischen Mond und Sonne. / Ungemein ist die höchste Tugend und unnützlich, leuchtend ist sie und mild im Glanze: eine schenkende Tugend ist die höchste Tugend (Za, KSA 4, S. 97).
Die neuen, eigenwirklichen Tugenden und zugleich die neue Moral beglaubigen sich durch sich selbst und schenken sich dem Erkennenden zwecklos und als Gaben aus der Lebens-Überfülle. Die Beschwörung Zarathustras erweitert dieses Selbst-Sein der Tugenden auf die ganze phänomenale Welt: „Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer Tugend! Eure schenkende Liebe und eure Erkenntnis diene dem Sinn der Erde! Also bitte und beschwöre ich euch“ (Za, KSA 4, S. 99). Die Erde leuchtet hier auf als das Selbstsein der Erscheinungen, die keine Hinterwelten mehr kennen. Sie leuchten aus sich selbst. Ihr Sinn ist nichts Zusätzliches, ihr Sinn ist ihr Selbstsein, ihr freies Erscheinen. Die Erkenntnis der reinen Welt-Immanenz wird damit zum neuen Jenseits der alten Moral, die noch den Unterschied von Gut und Böse kennt. Die neue Moral besteht in der Akzeptanz des Selbstseins aller Phänomene, der guten und der bösen; sie ist eine Moral des „vornehmen“ Menschen, der sein selbstbezogenes Dasein voll bejaht.
4 A usbruchsversuche aus dem Gefängnis des Anthropomorphischen Es ist bekannt, dass Nietzsche eine besondere Sensibilität für seine körperlichleiblichen Zustände besaß. Diese sind für ihn keine bloß beiläufigen Umstände. Sie sind die Erfahrungen der Leiblichkeit, welche nach seiner nun einmal fixierten anti-anthropomorphen Philosophie allein die Basis der Erkenntnis, der Selbstund der Welt-Erkenntnis sein können. Nietzsches bezieht seine eigene Leiblichkeit in seine Philosophie ein. So spricht er von der Selbstüberwindung, die jedes Werk für ihn bedeute, schildert seine Krankheiten und seine Genesungen, die er jeweils mit den Gelingen eines Buches verknüpft, behauptet, dass er sich selbst als Schatten in Sils-Maria gefühlt habe, als er „Der Wanderer und sein Schatten“
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schrieb (NL 1888, KSA 13, S. 629); er riecht sogar schlechte Literatur, plötzlich muss er in Texten Luft holen; er schreibt leidenschaftlich, spricht stets direkt den Leser an, beschwört ihn mit aggressivem Tonfall, auch mit bewussten Entgleisungen und setzt in seine Texte unzählige Fragezeichen und zum Nachdenken anregende Gedankenstriche, zum Tiefer- und Weiter-Denken fordern jeweils drei Pünktchen auf, die viele seiner Aphorismen beenden; manchmal bricht sein Drang zur szenischen Dramatik durch, als ob er den Leser als Gesprächspartner in den Text hereinholen wollte; oftmals und bis zum Ende des bewussten Denkens fragt er die Leser suggestiv und irgendwie verzweifelt: Hat man mich verstanden? – In all dem spürt man den Autor und Menschen Nietzsche, der sich frei redet, sich frei schreibt und sich frei denkt, nach Kontroversen lüstern ist und doch keinen Gesprächspartner findet. Zugespitzt kann man sagen, dass Nietzsche in seinem Subjekt-Gefängnis tobt, in das er sich in ‚Wahrheit und Lüge‘ einschloss. Aber Nietzsche drängt es, die Gefängnis-Mauern des Subjektiven zu übersteigen und den Anthropomorphismus zu überwinden. Der „Wille zur Macht“ ist ein solcher Versuch. Der Wille besaß auch bei Schopenhauer eine kosmische und eine humane Wirksamkeit (NL 1885, KSA 11, S. 610f.). Diesen Gedanken lädt Nietzsche mit der Tendenz zur Verwirklichung auf, die er der inneren WillensErfahrung des Menschen entnimmt – und durchaus anthropomorph im Walten der Naturprozesse wieder zu erkennen glaubt. Aber er bleibt vorsichtig. Selbst in seinem berühmten Aphorismus „Und wisst ihr auch, was mir ‚die Welt‘ ist?“ (NL 1885, KSA 11, S. 610f.) bleibt ein Vorbehalt gegenüber einem naiven Naturalismus und Physikalismus bestehen. Denn gleich fügt er bei: „Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen?“ Was er anschließend zwar wortmächtig und dithyrambisch beschreibt, ist also keine physikalische Welt-Erklärung, sondern bloß ein Spiegelbild! Verräterisch anthropomorph sind die verwendeten Kategorien, denn sie entstammen seiner „dionysischen Welt“, seinem „Jenseits von Gut und Böse“. Am Schluss des Textes erfolgt der Sprung aus „der Welt“ in den anthropomorphen Bereich: „D i e s e We l t i s t d e r W i l l e z u r M a c h t – u n d n i c h t s a u s s e r d e m ! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ (NL 1885, KSA 11, S. 611) Dies kann nichts anderes bedeuten, als dass der „Wille zur Macht“ für das anthropomorphe Medium, in dem „wir“ denken und leben, auch für den Kosmos gelten soll. Es ist aber eine „Willens-Kraft“ oder „WillensMacht“ anvisiert, die weder allein „psychisch“, noch naturalistisch „kosmisch“ sein kann. Der waltende „Wille zur Macht“ ist der Sichtbarkeit entzogen, obwohl er „die Welt“ und auch die Gesellschaft total dominiert. Wie kann aber mit der NichtSichtbarkeit umgegangen werden? Dafür gibt es für Nietzsche zwei gewichtige Beispiele. Er hält neben Kopernikus den polnischen Physiker Boscovic (NL 1884, KSA 11, S. 266; NL 1881, KSA 9, S. 643; JGB, KSA 5, S. 26ff.) für den wichtigsten
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Naturwissenschaftler, der die Sichtbarkeit überwunden habe. Mit Mathematik und Zeichen scheint man der unsichtbaren Wirklichkeit beizukommen, so dass für Nietzsche eine unsichtbare Willens-Wirklichkeit sich zu eröffnen scheint, die die universale Basis für alles Seiende und Gedachte bilden könnte. Diese Hypothese geistert durch seine Notizen in den Jahren 1881, ohne dass sie sich zu einem philosophischen Gesamtentwurf verdichtet hätten. In Nachgelassenen Fragmenten aus dem Jahr 1881 ist ein weiterer Ausbruchsversuch aus dem anthropomorphischen Subjektivitäts-Medium bezeugt. Nietzsche schleift die Restpositionen von „Ich“ und „Ich denke“, löst den Glauben an eine „innere Welt“ auf und proklamiert: „Über ‚mich‘ und ‚dich‘ hinaus! Kosmisch empfinden!“ (NL 1881, KSA 9, S. 443) Es sei durchzustoßen zu der Welt, wie sie wirklich ist – und diese Welt ist die „todte Welt“ (NL 1881, KSA 9, S. 468). Nietzsche fordert geradezu ein Umkehr der „Empfindungen“, denn die „empfundene Welt“ ist bereits von Fiktionen durchsetzt, so dass die nicht-empfundene tote Welt, die aber doch als solche erkannt und sogar erfahren wird, zum möglichen Ausbruch aus der falschen Welt der anthropomorphen Phantasien helfen könnte. – Nietzsche steht hier an der Pforte zu einem Phänomenalismus, die er aber nicht voll aufzustoßen wagt. Seine Argumentation ist geleitet von einem unerkannten Phänomenalismus, der erst in den letzten Phasen seines Denkens deutlich wird (NL 1888, KSA 13, S. 458f.).
5 D er Entwurf einer phänomenalistischen Physiologie In der Abfolge der Stadien von Nietzsches Denken ist ein Vordringen des phänomenalen Aspektes zu bemerken. Theoretisches Denken steht seit Wahrheit und Lüge in der Ambiguität von Wahrheit und Lüge und ist seit der Herrschaft der gleichmachenden Äquivalenzform des Theoretischen und Moralischen – die sich schon in der Geburt der Tragödie zeigte – als Basis verlässlicher Erkenntnis außer Kraft gesetzt. Wissenschaft kann sich in den Texten von Menschliches, Allzumenschliches als Methode der konstanten Korrektur zeitweise behaupten, ebenfalls als Versuch, durch äußerst abstrakte, das Sichtbare durchbrechende physikalische Theorien, wie er sie bei Boscovic zu entdecken glaubt, ins Kosmische vorzudringen. Doch in den Vordergrund von Nietzsches Analysen tritt immer deutlicher der selbstbekundende Gehalt der psychischen und physiologischen Phänomene. Fallen sie alle auch in den Horizont der großen Vernunft des Leibes und damit in den Bannkreis des Anthropomorphischen, so kann ihr phänomenales Selbstsein, wie es Zarathustra mit der „schenkenden Tugend“ (Za, KSA 4,
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S. 97) postuliert, nicht geleugnet werden. Aus dem Untergrunde a-theoretischer Lebenspraxis tauchen in die rationalen Gefilde jene wilden, sich keiner moralischen Urteile beugenden Abgesandte auf, die den Namen Instinkt, Hass, Lust, Schmerz, Trieb, Machtwille, Ressentiment tragen. Ihnen scheint der Irrtums-Vorhalt, was ihre eigene phänomenale Wirklichkeit anbetrifft, nichts anzuhaben. So schreibt zwar Nietzsche einmal: „Auf welchem Standpunkt der Philosophie man sich heute stellen mag: von jeder Stelle aus gesehn ist die Irrthümlichkeit der Welt, in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann“ (JGB, KSA 5, S. 52). Wäre dies durchgehend der Glaube Nietzsches, dann unternähme er nicht den Anlauf, eine „Physiologie der Zukunft“ in Angriff zu nehmen. Sie hat sich als eine Aufgabe angemeldet, wie er sie 1886 in der Vorrede zur 2. Auflage der Fröhlichen Wissenschaft andeutet: Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht zum Erschrecken weit, – und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein M i s s v e r s t ä n d n i s s d e s L e i b e s gewesen ist (FW, KSA 5, S. 348).
Die neue Physiologie soll die Missverständnisse des Anthropomorphismus vermeiden und damit – in letzter Konsequenz auch die „Philosophie“ auflösen. Nietzsche glaubt, in der „Physiologie“ einen Boden – und zwar einen phänomenalen Boden gefunden zu haben, der ihm verlässlich zu sein scheint. Er bezieht sich auf die damalige, sich erst bildende französische Physiologie, wie er sie z. B. in den Schriften von Charles Féré (1815–1875) und Claude Bernard (1813–1878) vorfand. Es ist anzunehmen, dass er dessen letzte Schrift Leçons sur les phénomènes de la vie commun aus animaux et végétaux von 1878 studierte, jedenfalls könnte er aus ihr den eigenen Gedanken der „grosse[n] Gesundheit“ (FW, KSA 5, S. 635) herausgefiltert oder recht eigentlich wieder gefunden haben. Claude Bernard erforschte u. a. die klimatischen Bedingungen von Mensch und Tieren, die Ernährung, den Blutkreislauf, die Verdauung. Für Nietzsche wird Physiologie im weiteren Sinn zur Wissenschaft von der „grossen Gesundheit“, die das Zusammen von Mensch und Natur in allen Details und Kleinigkeiten erforscht. Sie soll auch zur Basis der Psychologie werden. Er prägt das Schlagwort einer künftigen „Physio-Psychologie“, die es zu entwickeln gelte. Historisch gesehen kann er an die antike Physiologie anknüpfen, die zeitweise mit dem Begriff der Philosophie identisch war. Doch was er fordert, geht weit über das hinaus, was die bisherige Physiologie umfasste. In der Götzen-Dämmerung und in den letzten Notizen der Jahre 1888/89 versucht Nietzsche, den Menschen als ein Ganzes in seiner leiblich-körperlichen Daseinsweise mit der neuen physiologischen Wissenschaft in den Griff zu bekom-
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men. Die erweitere Physiologie solle die sinnlichen Erfahrungen und Phänomene ernst nehmen und sie nicht bewusst und apriorisch aus ihren Begriffen verbannen. Aus der in Aussicht gestellten physiologischen Fundamental-Wissenschaft scheidet Nietzsche sogar Kerngebiete heutiger Wissenschaften aus. Geradezu als „Noch-nicht-Wissenschaften“ bezeichnet er nicht nur Theologie, Psychologie und Erkenntnistheorie, sondern auch „Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem“ (GD, KSA 6, S. 76). Nietzsche postuliert nun Leiblichkeit und Phänomenalität als die Quellen des Erkennens, die aber durch Abstraktionen und theoretische Schemata verborgen blieben, mit dem Ergebnis, dass das Welt-Verständnis verkehrt wurde. Nietzsches Wissenschaftstheorie, besonders in Jenseits von Gut und Böse und der Götzen-Dämmerung, versucht diesen Sachverhalt wissenschaftstheoretisch nachzuweisen (vgl. JGB, KSA 5, S. 15–39; GD, KSA 6, S. 88–97) – so z. B. mit der Umkehr von Wirkung und Ursache und der Entlarvung des Kausalitätsdenkens als einen Mythos. Und wenn er den Unterschied von „scheinbarer“ und „wahrer“ Welt auflöst, wie der berühmte und vielzitierte Text aus der Götzendämmerung „Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ darlegt (GD, KSA S. 80f.), dann müsste er den Schritt zu einem Phänomenalismus der ungebrochenen Phänomene wagen, den er vielleicht ahnt, wie sein anerkennendes Urteil über die Schrift von Victor-Charles-Louis Brochard (1848–1907) „Les sceptiques grecs“ andeutet (EH, KSA 6, S. 284). Im Zentrum der „Physiologie der Zukunft“ soll die „grosse Gesundheit“ stehen, die das übliche Verständnis von Krankheit und Gesundsein übersteigt. Wenn ich nun einen Sprung in die Schrift Der Fall Wagner mache, so wegen der Hinweise Nietzsches auf die „physiologische“ Tiefe, von der aus die Kontroverse mit Wagner geführt werden müsse. Dies erstaunt, öffnet sich doch erst die Ebene der Kontroverse. So lesen wir in der „Zweiten Nachschrift“ zum Fall Wagner: Andre Musiker kommen gegen Wagner nicht in Betracht. Es steht schlimm überhaupt. Der Verfall ist allgemein. Die Krankheit liegt in der Tiefe (WA, KSA 6, S. 46). Nichts kann aber die Musik in der Hauptsache von der Hauptsache kurieren, von der Fatalität, Ausdruck des physiologischen Widerspruchs zu sein, – modern zu sein (WA, KSA 6, S. 48).
Im „Epilog“ zum Fall Wagner führt Nietzsche in seine Wagner-Kritik auch die Moral-Kritik ein und betont dadurch den Unterschied zwischen „Herren-Moral und der Moral der christlichen Wertbegriffe“. Diese seien „auf einem durch und durch morbiden Boden gewachsen“ und brächten, wie die Evangelien zeigten, nur „physiologische Typen“ hervor, die auch die Romane Dostojewskis bevölkern
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(WA, KSA 6, S. 50). Gegen Morbidität steht der Gedanke der „Grossen Gesundheit“. Durch ihn findet Nietzsche auch wieder zurück zu seinen Anfängen in der Geburt der Tragödie (EH, KSA 6, S. 312). Es war damals schon das unvoreingenommen „Jasagen zum Leben“, das er unter dem Namen des Dionysischen untersuchte (EH, KSA 6, S. 312), jedoch nicht als „Gesundheit“ bezeichnete. Dieser für seine Philosophie zentral gewordene Begriff besitzt für Nietzsche eine ganz persönliche, existentielle Bedeutung. Dies geht z. B. aus dem folgenden Bekenntnis hervor: „Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich gesund: die Voraussetzung dafür ist – jeder Physiologe wird mir das zugestehen – daß man im Grunde gesund ist. Ein typisch morbider Mensch wird nicht gesund: für einen typisch Gesunden kann Kranksein ein energischer Stimulans sein“ (NL 1888, KSA 13, S. 631). Diese neue Wissenschaft zeigt einen Schub ins Leiblich- und Subjektiv-Phänomenale an, so dass man sogar von einer Art Phänomenologie sprechen kann (vgl. Babich 2013), ja sogar von einer Philosophie, die sich Epiphanie leiblicher Vernünftigkeit widmet. Nietzsche weist z. B. auf die Bedeutung des Sehens hin, auf die Nase mit ihren feinen Empfindungen für Nuancen, auf die Abwechslung von Sitzen und Gehen, auf Diät, auf das Trinken von Wasser anstelle von Wein, auf die unmittelbaren Reaktionen des Körpers bei Emotionen, auf all die kleinen Dinge, die den Alltag bilden, auf das Wandern, auf den Ortswechsel mit den klimatischen Einflüssen auf das Wohlbefinden. Sein „Sich-selbst-in-die-Hand-Nehmen“ bedeutet einen Akt der Gesundung aus eigener Kraft, aber auch die volle Exponiertheit in die Selbstverfügbarkeit. Diese kennt den Unterschied von Erkennen und Leiblichkeit eben nicht mehr, denn der ganze Leib als Leib-Existenz ist Erkenntnis. In allen sinnlich-leiblichen Akten verkörpert sich die Vernunft des Leibes, wird erscheinend existent. Worauf zielen diese Gedanken? Die „grosse Gesundheit“ bedeutet im letzten Sinne das ungebrochene Jasagen zum Leben in allen seinen Tiefen, Schönheiten, Hässlichkeiten und Gräuel. Damit ist auch der Gedanke des „amor fati“ ins Spiel gekommen, nicht im Sinne eines bloss passiven Hinnehmens des Schicksals, der antiken Moira oder des Fatums. Wie das Sich-in-die-Hand-Nehmen Nietzsches verdeutlicht: er fordert das Sich-Vertiefen in die eigene Instinkt- und Trieb-Basis mit dem Willen, sich zu befreien. Der erhellende Gedanke, der diese letzte Höhe oder Tiefe erfasst, findet sich in der schon zitierten Fröhlichen Wissenschaft: „Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Jasagender sein!“ (FW, KSA 3, S. 521) In im rückblickenden Ecce homo bekennt er: „das Nothwendige verletzt mich nicht; amor fati ist meine innerste Natur“ (EH, KSA 6, S. 363). Im höchsten Zustand des vorbehaltlosen Jasagens ereignet sich nun das, was als „Erlösung“ bezeichnet werden darf – im Sinne Nietzsches als eine Erlösung
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in der Welt zur Welt, in der Leiblichkeit zum Leib, im Gesundsein zur höheren Gesundheit. Das Physiologische hat sich bei Nietzsche verdichtet zum Erscheinen in der erscheinenden Welt. Seine Philosophie ist als leibhaftige Gestalt konkret geworden, von der seine Texte, aber auch sein eigenes Schicksal zeugen. – In einer Übersteigerung sondergleichen erwägt er in seinen letzten Notizblättern, dass „die Physiologen“ als eine neue Partei die Welt beherrschen sollten. Auch wenn dies die letzten Erwägungen Nietzsches vor seinem Zusammenbruch sind, so ist es fraglich, ob sie als Quintessenz seines Denkens bewertet werden dürfen.
6 W ie soll die physiologische Kritik an Richard Wagner vollzogen werden? Vergleich beim Gedanken der Erlösung Wie soll nun die „Kontroverse“ mit Wagner geführt werden? Was bedeutet es, dass sie auf eine tiefere physiologische Basis gestellt werden soll? Leider hat Nietzsche seinen Plan einer „Physiologie der Kunst“ (NL 1888, KSA 13, S. 529) nicht mehr durchführen können, so dass wir auf Fragmente angewiesen sind (vgl. NL 1888, KSA 13, S. 527f.). Jedenfalls gilt: Auf der tieferen Ebene des Physiologischen herrschen die bereits erwähnten Begriffe wie „Trieb“, „Ressentiment“, „Décadence“, „Instinkt“, „Krankheit“, „Lebensbejahung“, „Lebensverneinung“ u. a. Nietzsche erachtet Wagner insofern als einen konsequenten Décadent, der in seinen Texten und in seiner Musik die Verneinung des Lebens zelebriert und dies nicht bemerkt. Alle Werte, die Nietzsche verneint, sind bei Wagner in Theater-Rollen positiv verkörpert. Sie agieren aus einem Gedankenfundus, der dem Ressentiment entstammt, also aus jenem physiologischen Untergrund, der bei Wagner unbewusst bleibt. Aber nicht nur Wagner erreicht die physiologische Tiefe nicht, sondern auch alle Philosophen, die die Welt mit rationalem Erkennen deuten oder erklären wollen. Das zeigt sich z. B. beim Ressentiment, das einen leiblich und geistig wirksamen Charakter besitzt und nicht als psychisches „Gefühl“ verharmlost werden darf. Es ist zudem ein Teil der „Grossen Vernunft des Leibes“ und hat erkenntnisstiftende Kraft. Urteile, die diesem Untergrund entstammen, artikulieren sich sogar in rational anmutenden Propositionen. Letztlich stellt es eine schöpferische Macht dar, die große Dichtung und Moral-Systeme aus sich erschaffen kann. Der Gegensatz Nietzsche-Wagner wird beim Gedanken der „Erlösung“ offensichtlich. So erklärt Nietzsche einmal: „Wagner hat über Nichts so tief nachgedacht wie über die Erlösung: seine Oper ist die Oper der Erlösung. Irgendwer will
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bei ihm immer erlöst sein: bald ein Männlein, bald ein Fräulein – dies ist s e i n Problem“ (WA, KSA 6, S. 16). Es macht den Anschein, dass Nietzsche das Erlösungsproblem in Wagner selbst hineinträgt. Aber wer ist Wagner? Boshaft fragt Nietzsche: „Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eine Krankheit?“ (WA, KSA 6, S. 21) Anders als bei Wagner ereignet sich bei Nietzsche eine weltimmanente Erlösung, im amor fati oder dem grossen Jasagen eines einzelnen Menschen. Bei Wagner kommt die Erlösung von außen. Mit Nietzsche kann man argumentieren: Erlösung werde von Wagner benützt als ein Opern-Thema, weiter als ein Handlungsmotiv, als ein Verweis auf einen falschen Erlöser, als ein in der Zukunft zu erwartendes Ereignis, als ein auf der Bühne nicht zu vollziehendes Ereignis. Diese Aspekte bewegen Nietzsche, den Erlösungs-Gedanken Wagners als ein Spiel mit einem Mythos zu qualifizieren. Er entzieht dem ganzen wagnerischen Werk recht eigentlich den Boden und lässt es nur als „Schauspiel“ ohne Wirklichkeitsgehalt gelten. Wagner selbst wird mehrmals als „Schauspieler“ karikiert und seine Musik als Kunst der Publikums-Verführung gescholten. Von den Theater-Rollen bewertet Nietzsche eigentlich nur den Siegfried im „Ring des Nibelungen“ eine Strecke weit als positiv, weil er dessen moralische Unbekümmertheit seiner propagierten egoistischen Moral am besten entspricht. Nietzsche entdeckt im wagnerischen Repertoire durchgehend nur lebensverneinende Rollen, die in der Verfallstendenz, also in der Dekadenz, stehen. So finde die Erlösung im Fliegenden Holländer im Tod statt, Keuschheit gelte als große Tugend im „Ring des Nibelungen“, der Parsifal zelebriere die Religion des Mitleids – Nietzsche entdeckt eine wahre Todes-Sehnsucht in Wagners Erlösungs-Opern, die seinem Ja zum Leben widersprach. Damit ist die grösste Spannung in der Kontroverse Nietzsche-Wagner erreicht. Nun ist Nietzsche offen für das Einerseits-Andererseits. Obwohl er Wagner als „Falschmünzer“, als Unheil und Cagliostro der Musik diffamiert, rechnet er ihn zu seinen Glücksfällen, nicht nur für ihn, sondern auch für die Philosophen. Denn Richard Wagner ist für ihn gross und ganz in seiner Falschheit und darum bewundernswert und unschätzbar wertvoll als Widerpart. Er ist Nietzsches ErdenFeind, aber Sternen-Freund; er weiss es genau, denn er ist durch seine schmerzliche Enttäuschung über die Kontroverse mit ihm, die eigentlich nie stattgefunden hat, auf seinen eigenen Weg gewiesen worden. „[W]ir sind Antipoden“ (NW, KSA 6, S. 415), sagte Nietzsche einmal. Diese Beziehung hielt sich ein Leben lang durch. Sie verfiel niemals dem Irrtums-Vorbehalt. „Wir sind Antipoden“ – es ist sinnvoll, diese Aussage ernst zu nehmen. Antipoden sind miteinander verbunden, verbunden durch das, was sie trennt.
Nietzsche und Wagner – Über die Schwierigkeiten einer Kontroverse
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Literaturverzeichnis Babich, Babette (2011): „Nietzsche’s Phenomenology: Philology and Music“. In: Élodie Boubil/Christine Daigle (Hg.): Nietzsche and Phenomenology: Power, Life, Subjectivity. Bloomington, S. 117–140. Kant, Immanuel (1956): Kritik der reinen Vernunft [1787]. In: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 2. Darmstadt. Marx, Karl (1962): „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“. Erster Band 1867. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe. Bd. 23. Berlin. Reuter, Sören (2009): An der „Begräbnisstätte der Anschauung“. Nietzsches Bild- und Wahrnehmungstheorie in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Basel. Spir, African (1873): Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung der kritischen, Philosophie. Leipzig.
Takahide Imasaki
Die Masken des Freigeistes und des Schauspielers in der Philosophie Friedrich Nietzsches Die berühmte Wendung im Kapitel „Freigeist“ in Jenseits von Gut und Böse „Alles, was tief ist, liebt die Maske“ (JGB, KSA 5, S. 57), verweist auf die zentrale Bedeutung der „Maske“ für das Ideal des Freigeistes in der Philosophie Nietzsches. Sie kann als ein Motiv des „Aufklärers“ Nietzsche ausgelegt werden.1 Aber neben dem Freigeist taucht in den Werken Nietzsches eine zweite Figur auf, die ebenfalls starken Bezug auf das Motiv der Maske hat. Diese Figur ist der „Schauspieler“. Nietzsche bekannte sogar: „Das Problem des Schauspielers hat mich am längsten beunruhigt“ (FW, KSA 3, S. 608).
1 Einsamkeit oder Masse Unter dem Namen ‚Freigeist‘ verteidigt Nietzsche die Notwendigkeit der Maske, um die Einsamkeit der Individualität in der Massengesellschaft zu schützen: die „Person“ ein relative isolirtes Faktum; in Hinsicht auf die weit größere Wichtigkeit des Fortflusses und der Durchschnittlichkeit somit beinahe etwas Widernatürliches. Zur Entstehung der Person gehört eine zeitige Isolirung, ein Zwang zu einer Wehr- und WaffenExistenz, etwas wie Einmauerung, eine größere Kraft des Abschlusses (NL 1887, KSA 12, S. 492).
Das 19. Jahrhundert als „Jahrhundert der Masse“ (NW, KSA 6, S. 428) scheint Nietzsche nichts anderes als ein „progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in’s Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte – in’s Gemeine“ (JGB, KSA 5, S. 222) zu sein.2 In diesem Prozess sieht Nietzsche die große Krise des Menschen, in der sich jede geistige Individualität völlig verliert: „Ich sehe in der staatlichen und gesellschaftlichen Tendenz eine Hemmung für
1 Nietzsche erzählt, dass Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister zum hundertsten Todesjahr Voltaires herausgegeben wurde, den er als einen bahnbrechenden Vertreter der Aufklärung im 18. Jahrhundert betrachtet (EH, KSA 6, S. 322). 2 Zu Nietzsches Kritik gegen die Massengesellschaft siehe Reschke 1992.
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die Individuation, ein Ausbilden des homo communis“ (NL 1880, KSA 9, S. 238). Das Phänomen des Aufstiegs der Masse, welche eine anonyme Herde des „homo communis“ ist, ist ein Merkmal der Modernisierung, in der mit der Ansammlung von Arbeitskräften und mit der Einrichtung des Nationalgeistes die Entstehung des „nationalen Staat[es]“ (SE, KSA 1, S. 367) ermöglicht wurde. Das neuzeitliche Bewusstsein vom Wir basiert auf einem Raum geistiger Homogenität, der aus dem „National-Gefühl“ (JGB, KSA 5, S. 182) des Volkes entstehe. Nietzsche sieht in der geistigen Homogenität eine gefährliche Degeneration des Menschen, damit verdirbt sie den Keim für die eigene Individualität.3 Gegen alle damalige Tendenz der Homogenität bzw. der Egalität des Menschen als Bedingung untereinander allgemein (common) mitfühlen bzw. einander verstehen zu können, stellt Nietzsche die Bedeutung der Einsamkeit bzw. der Einzigkeit für den Menschen, welche man als notwendige Bedingung für die Individualität im echten Sinne übernehmen soll: Ein Jeder trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den Kern seines Wesens; und wenn er sich dieser Einzigkeit bewusst wird, erscheint um ihn ein fremdartiger Glanz, der des Ungewöhnlichen. Dies ist den Meisten etwas Unerträgliches. […] das Loos der Vereinsamung ist das Geschenk, welches ihm die Mitmenschen machen […] (SE, KSA 1, S. 359).
Für Nietzsche, der mit der Maskierung die Bedeutung der Einsamkeit verteidigt, ist der Schauspieler ein starker Gegner, weil er das Publikum zu magischer Homogenität verführe. Der Unterschied zwischen der traditionellen Aufklärung und der Aufklärung Nietzsches besteht darin, dass die Aufklärung im 18. Jahrhundert die Macht der Religion wie der Kirche als mächtige Autoritäten bekämpfte, während Nietzsche die Notwendigkeit sah, als Aufklärer die Macht der Kunst zu bekämpfen. Es scheint, dass die Aufklärung mit ihrem rationalen Geist die Macht der Religion relativiert hat. Aber nach Nietzsches Ansicht besteht diese Macht in der Seele des modernen Menschen fort, da sie in alten Vorstellungen über „Zauberei“ (MA I, KSA 2, S. 115) wurzelt.4 Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte. Der zum Strom angewachsene Reichthum des religiösen
3 „Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: ‚sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst begehrst‘“ (SE, KSA 1, S. 338). 4 „Kurz, der religiöse Cultus ruht auf den Vorstellungen der Zauberei zwischen Mensch und Mensch; und der Zauberer ist älter, als der Priester“ (MA I, KSA 2, S. 115).
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Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen eingeflösst: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst [Hervorhebung – T. I.] (MA I, KSA 2, S. 144).
Das Verdienst der Aufklärung, die Macht der Religion in der Öffentlichkeit relativiert zu haben, bedeutet nicht, dass ihre Begeisterung in den Seelen völlig vernichtet worden wäre, sondern sie wurde in einem anderen Bereich umgesetzt, in den der Kunst. Die Entzauberung der Religion durch die Aufklärung erzeugte unerwartet die Kunst als gewissermaßen zweite Verzauberung. Nietzsches Überzeugung folgend, verbindet sich diese ästhetische zweite Entzauberung mit dem Aufstieg der zeitgenössischen Massengesellschaft. Im „Theater“ – der neue Raum für die Kunst in der Moderne – sieht Nietzsche ein typisches Beispiel dafür, dass die Massen vom magischen Zauber zur ekstatischen Homogenität vereinigt werden: Im Theater ist man nur als Masse ehrlich; als Einzelner lügt man, belügt man sich. Man lässt sich selbst zu Hause, wenn man in’s Theater geht, man verzichtet auf das Recht der eignen Zunge und Wahl, auf seinen Geschmack, selbst auf seine Tapferkeit […] In das Theater bringt Niemand die feinsten Sinne seiner Kunst mit, auch der Künstler nicht, der für das Theater arbeitet: da ist man Volk, Publikum, Heerde, Weib, Pharisäer, Stimmvieh, Demokrat, Nächster, Mitmensch, da unterliegt noch das persönlichste Gewissen dem nivellirenden Zauber der „grössten Zahl“, da wirkt die Dummheit als Lüsternheit und Contagion, da regiert der „Nachbar“, da wird man Nachbar (FW, KSA 3, S. 618).
Damals schien das Theater die anonymisierte Seele des Menschen, aufgelöst im Volk der neuzeitlichen Gesellschaft über den ästhetischen Rausch in einem künstlichen Einheitsgefühl zu erlösen. So wurde man im Publikum zum „Nachbarn“. Dort konnten die Besucher sich an dem Erlebnis des Einheitsgefühls berauschen, das vom Alltagsleben getrennt wurde. Hier ist ein neuzeitlicher Raum, in dem man das simulierte Erlebnis der Vor-Neuzeit erfährt. Nietzsches Empfindung, die Luft des grotesk verzerrten Raumes zu riechen, ist feinsinnig. „Was geht mich das Theater an? Was die Krämpfe seiner ‚sittlichen‘ Ekstasen, an denen das Volk – und wer ist nicht ‚Volk‘! – seine Genugthuung hat! Was der ganze Gebärden-Hokuspokus des Schauspielers! – Man sieht, ich bin wesentlich antitheatralisch geartet“ (NW, KSA 6, S. 419).5 Ohne Zweifel hat Nietzsche bei diesem „Theater“ als „Massenkunst“ (NW, KSA 6, S. 419) einen konkreten Verführer im Kopf. In Nietzsche contra Wagner kann man fast denselben Text mit den oben zitierten Worten finden, nur, dass anstelle
5 Fast derselbe Text findet sich in FW, KSA 3, S. 617.
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des Wortes „Theater“ der Name „Bayreuth“ steht.6 Wie allgemein bekannt, war Richard Wagner eine berühmte zeitgenössische Person, die als Opernkomponist größten Erfolg gehabt hat. Nietzsche hält ihn für einen Schauspieler und einen großen „Verführer“ (WA, KSA 6, S. 39) der Masse: „Das Theater ist eine Form der Demolatrie in Sache des Geschmacks, das Theater ist ein Massen-Aufstand, ein Plebiscit gegen den guten Geschmack … Dies eben beweist der Fall Wagner: er gewann die Menge“ (WA, KSA 6, S. 42).7 Hinter dieser „Massenkunst“ (NW, KSA 6, S. 419) sieht Nietzsche das Wesen des Schauspielers, welcher mit starkem, „dominirenden Instinkt“ (WA, KSA 6, S. 30) das Publikum in den Raum der Zauberei lockt. Das Ziel im Theater Wagners ist „Schwimmen, Schweben – nicht mehr Gehn, Tanzen“ (NW, KSA 6, S. 422). Während der Freigeist Nietzsches den geistigen „Garten“ (JGB, KSA 5, S. 43) verteidigt8, in welchem die für die Individualität notwendige Distanz wechselseitig respektiert wird9, bringt der Schauspieler durch die „unendliche Melodie“ (NW, KSA 6, S. 422) die modernen Menschen ins neue Meer der „Hallucination“ (WA,
6 „In Bayreuth ist man nur als Masse ehrlich“ (NW, KSA 6, S. 420). 7 Hinter diesem Phänomen des Massen-Aufstands kann man die zeitgenössische Strömung des Nationalismus nach dem Deutsch-Französischen Krieg erkennen. „Es ist voll tiefer Bedeutung, dass die Heraufkunft Wagner’s zeitlich mit der Heraufkunft des ‚Reichs‘ zusammenfällt“ (WA, KSA 6, S. 39). Auch: „Von allen schlimmen Folgen […], die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich drein zieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrthum: der Irrthum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, dass auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deshalb jetzt mit den Kränzen geschmückt werden müsse, die so ausserordentlichen Begebnissen und Erfolgen gemäss seien. Dieser Wahn ist höchst verderblich: nicht etwa weil er ein Wahn ist – denn es giebt die heilsamsten und segensreichsten Irrthümer – sondern weil er im Stande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ‚deutschen Reiches‘“ (DS, KSA 1, S. 159f.). 8 „[H]abt eure Maske und Feinheit, dass man euch verwechsele! Oder ein Wenig fürchte! Und vergesst mir den Garten nicht, den Garten mit goldenem Gitterwerk! Und habt Menschen um euch, die wie ein Garten sind […] wählt die gute Einsamkeit, die freie muthwillige leichte Einsamkeit, welche euch auch ein Recht giebt, selbst in irgend einem Sinne noch gut zu bleiben!“ (JGB, KSA 5, S. 43f.) 9 Zweifellos würde eine der idealen Formen für solche Beziehungen in der Philosophie Nietzsches die Freundschaft sein, gerade wenn in ihr die geistige Distanz respektiert wird, um „eine[n] gemeinsamen höheren Durste nach einem über ihnen stehenden Ideale“ (FW, KSA 3, S. 387) stillen zu können. „Die gu te Fre u n d s ch a f t . – Die gute Freundschaft entsteht, wenn man den Anderen sehr achtet und zwar mehr als sich selbst, wenn man ebenfalls ihn liebt, jedoch nicht so sehr als sich, und wenn man endlich, zur Erleichterung des Verkehrs, den zarten A n s t r i ch und Flaum der Intimität hinzuzuthun versteht, zugleich aber sich der wirklichen und eigentlichen Intimität und der Verwechselung von Ich und Du weislich enthält“ (VM, KSA 2, S. 487).
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KSA 6, S. 27), in dem man zugunsten der Illusion der Zauberei auf die eigne Individualität verzichten müsse: „Die Gefahr kommt auf die Spitze, wenn sich eine solche Musik immer enger an eine ganz naturalistische, durch kein Gesetz der Plastik beherrschte Schauspielerei und Gebärdenkunst anlehnt, die Wirkung will, nichts mehr …“ (NW, KSA 6, S. 422). Für Nietzsche, der als Aufklärer den Menschen zur geistigen Individualität führen wollte, war Wagner ein Verführer der Massen. In dem Sinne, „[d]ass der Schauspieler nicht zum Verführer der Echten wird“ (WA, KSA 6, S. 39). Während der Freigeist auf die geistige Aristokratie zielt, in der seine höchste Individualität gefordert wird, ziele der wagnerische Schauspieler auf die „Theatrokratie“ (WA, KSA 6, S. 42), welche durch ihren magischen Zauber die Menschen domestizieren will.
2 Distanz oder Selbstbetrug Der Grund, warum sich der Freigeist Nietzsches von seinem „Antipoden“ (NW, KSA 6, S. 424), dem Schauspieler Wagner distanzieren musste, liegt darin, dass beide der Maske bedürfen: „War Wagner überhaupt ein Musiker? Jedenfalls war er etwas Anderes mehr: nämlich ein unvergleichlicher Histrio, der grösste Mime, das erstaunlichste Theater-Genie, das die Deutschen gehabt haben, unser Sceniker per excellence. Er gehört wo andershin als in die Geschichte der Musik“ (WA, KSA 6, S. 30). Als „ein unvergleichlicher Histrio“, wie große Schauspieler genannt werden, maskiert Wagner sich selbst vor der Masse. Aber der Grund, warum Nietzsche die Maske dieses Schauspielers kritisieren musste, lag darin, dass er nur auf die „Wirkung“ (NW, KSA 6, S. 422) seiner feierlichen Gebärde auf der Bühne aus war: er musste Stückwerk machen, „Motiv“, Gebärden, Formeln, Verdopplungen und Verhundertfachungen, er blieb Rhetor als Musiker – er musste grundsätzlich deshalb das ‚es bedeutet‘ in den Vordergrund bringen. „Die Musik ist immer nur ein Mittel“: das war seine Theorie, das war vor Allem die einzige ihm überhaupt mögliche Pr axis (WA, KSA 6, S. 35f.).
Wie für den Rhetoriker die Sprache nicht nur Medium zwecks Übermittlung von Inhalten ist, sondern auch Mittel, seine Zuhörer durch schöne Worte zu überreden, so ist für den theatralischen Schauspieler die Musik nur „Mittel“, die „Wirkung“ der Publikumsverzauberung zu verstärken: „er will die Wirkung, er will Nichts als die Wirkung […] Man ist Schauspieler damit, dass man Eine Einsicht vor dem Rest der Menschen voraus hat: was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein [Hervorhebung – T. I.]. Der Satz […] enthält die ganze Psychologie des Schauspielers“ (WA, KSA 6, S. 31). Beim Wagnerischen Schauspieler ist die Maske eine Fassade,
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welche das wahre Gesicht verbirgt. Für den Freigeist Nietzsches hingegen ist Maskierung eine Tugend, um den Bereich der geistigen Individualität zu bewahren. Die Maske wirkt hier als Mittel, um seine Einsamkeit zu beschützen, sich vom Raum der Homogenisierung zu isolieren bzw. zu distanzieren. In diesem Sinne ist die Maske für den Freigeist nicht Ziel, sondern Mittel, um sein wahres Gesicht von der scheinbaren Anerkennung der Masse fern zu halten. Aber in dem Glauben, dass nicht wahr sein darf, was wahr wirken soll, spielt der Schauspieler seine scheinbare Gebärde so ernst, als ob sie wahr wäre. Diese Macht des Scheins hat ihren Grund im „Selbstbetrug“, durch welchen der Schauspieler nicht nur sich selbst, sondern auch die Masse verzaubert: Bei allen grossen Betrügern ist ein Vorgang bemerkenswerth, dem sie ihre Macht verdanken. Im eigentlichen Acte des Betruges unter all den Vorbereitungen, dem Schauerlichen in Stimme, Ausdruck, Gebärden, inmitten der wirkungsvollen Scenerie, überkommt sie der Glaube an sich selbst: dieser ist es, der dann so wundergleich und bezwingend zu den Umgebenden spricht. Die Religionsstifter unterscheiden sich dadurch von jenen grossen Betrügern, dass sie aus diesem Zustande der Selbsttäuschung nicht herauskommen: oder sie haben ganz selten einmal jene helleren Momente, wo der Zweifel sie überwältigt; gewöhnlich trösten sie sich aber, diese helleren Momente dem bösen Widersacher zuschiebend. Selbstbetrug muss da sein, damit Diese und Jene grossartig wirken. Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird. (MA I, KSA 2, S. 72f.)
Durch diesen „Selbstbetrug“ steigert der Schauspieler die Feierlichkeit und Ernsthaftigkeit seiner Kunst. Deshalb erkennt Nietzsche im Geist des Schauspielers die große „Eitelkeit“.10 Denn sie ist eine Begierde des Menschen, durch die die Anerkennung eines äußeren Anscheins eine übertriebene Schönheit den Anderen vorspiegelt, und damit wird seine Macht vergrößert. Hier ist das, was wir zu sein glauben, wichtiger als das, was wir sind (vgl. MA II, KSA 2, S. 579). Der Freigeist zielt darauf, diese Luft der schauspielerischen Feierlichkeit zu vertreiben, die uns in einen magischen Zauber einschließt, auch wenn er selber die große Anziehungskraft der Kunst gut kennt.11 Wie stark das metaphysische Bedürfniss ist und wie sich noch zuletzt die Natur den Abschied von ihm schwer macht, kann man daraus entnehmen, dass noch im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen entschlagen hat, die höchsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen […] In solchen Augenblicken wird sein intellectualer Charakter auf die Probe gestellt (MA I, KSA 2, S. 145).
10 Vgl. Za, KSA 4, S. 317. 11 Dieser ambivalente Charakter ist auch deutlich in der Figur Zarathustras, besonders wenn er von dem „Dichter“ redet (vgl. Za, KSA 4, S. 163f.).
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Der Freigeist lehrt uns zu einer geistigen „Höhe“ aufzusteigen, von der aus wir über unsere Feierlichkeit bzw. Ernsthaftigkeit lachen können.12 Die Oberflächlichkeit der Maske ermöglicht genau diese ironische Distanz zu sich selbst. Sie ermöglicht die Flucht vor der Ernsthaftigkeit der Tiefe (vgl. NL 1885/1886, KSA 12, S. 79f.). „Alle Menschen der Tiefe haben ihre Glückseligkeit darin, einmal den fliegenden Fischen zu gleichen und auf den äussersten Spitzen der Wellen zu spielen; sie schätzen als das Beste an den Dingen, – dass sie eine Oberfläche haben: ihre Hautlichkeit [Hervorhebung – T. I.]“ (FW, KSA 3, S. 517). Diese „Hautlichkeit“, welche ein anderer Ausdruck für die Maske ist, bewahrt uns davor, in der Tiefe des Abgrundes zu versinken. Weiter betont Nietzsche die Tugend der „Thorheit“ gegen die (zu starke) Ernsthaftigkeit: Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, über uns lachen oder über uns weinen; wir müssen den Helden und ebenso den Narren entdecken, der in unsrer Leidenschaft der Erkenntniss steckt, wir müssen unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut als die Schelmenkappe: wir brauchen sie vor uns selber (FW, KSA 3, S. 464f.).
Aus seiner tiefen Einsicht, dass der Mensch an seiner Ernsthaftigkeit zugrunde gehen kann, verteidigt Nietzsche umgekehrt die „Thorheit“ bzw. „Schelmenkappe“ als Symbol der „künstlerischen Ferne“, die es uns erlaube, fern vom „Gewichte“ der Ernsthaftigkeit in uns auszuruhen bzw. uns von uns selbst zu distanzieren. Um mit uns selbst einen guten Umgang pflegen zu können, müssen wir die Kunst beherrschen, zu uns selbst eine Distanz aufbauen zu können: „bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen“ (JGB, KSA 5, S. 226). Nietzsche lehrt nicht den Selbstbetrug aus Eitelkeit, sondern die Selbstdistanzierung von der eingebildeten Schwere der eigenen Existenz. Gerade in der Einbildung der eigenen Tiefe sah Nietzsche die Gefahr des Selbstbetrugs, den es durch das Lachen zu überwinden gilt. Nicht Vereinigung mit der Masse durch den illusionären Charakter der Maske, sondern die Distanz als Voraussetzung einer geistigen Individualität durch den Schutz der Maske – ist das Ziel des Freigeistes Nietzsche.
12 „Es giebt Höhen der Seele, von wo aus gesehen selbst die Tragödie aufhört, tragisch zu wirken“ (JGB, KSA 5, S. 48).
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Literaturverzeichnis Christians, Ingo (2000): „Schauspieler, Maske“. In: Hennig Ottmann (Hg.): NietzscheHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar, S. 18f. Reschke, Renate (1992): „‚Pöbel-Mischmasch‘ oder vom notwendigen Niedergang aller Kultur. Friedrich Nietzsches Ansätze zu einer Kulturkritik der Masse“. In: Norbert Krenzlin (Hg.): Zwischen Angstmetapher und Terminus. Theorien der Massenkultur seit Nietzsche. Berlin, S. 14–42. Wellner, Klaus (2011): „Maske, Schauspieler“. In: Christian Niemeyer (Hg.): Nietzsche-Lexikon. 2. Aufl. Darmstadt, S. 238.
Renate Reschke
Nietzsches Wagnerianerinnen Ein Kulturtyp zwischen Erfindung, Inszenierung und Realität
1 In Bayreuth ist auch der Zuschauer anschauenswerth, es ist kein Zweifel. (Friedrich Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, 1876)
Für den Beobachter ist […] die Gesellschaft, die einer theatralischen Darstellung beiwohnt, beinahe ebenso wichtig, wie das Werk selbst. (Karl Frenzel, Nationalzeitung, Berlin 1876)
1871 verklärte Friedrich Nietzsche Bayreuth mit den Worten: „[…] hier feiern die tragischen Menschen ihr Weihefest, zum Zeichen daß eine neue Kultur beginnt“ (NL 1871, KSA 7, S. 372).1 Grundlegende Zweifel kamen ihm 1876 nach der Eröffnung des Festspielhauses und der Ring-Premiere: „Mein Fehler war der, dass ich nach Bayreuth mit einem Ideal kam: so musste ich denn die bitterste Enttäuschung erleben. Die Überfülle des Hässlichen Verzerrten Überwürzten stiess mich heftig zurück“ (NL 1878, KSA 8, 522). An Wagner hieß es: „Der Herbst, nach diesem Sommer ist für mich, und wohl nicht für mich allein, mehr Herbst als ein früherer. Hinter dem grossen Ereignisse liegt ein Streifen schwärzester Melancholie“ (KGB II/5, Bf. 556). Die Zweifel wurden in den Achtzigern zur Gewissheit, in Wagners Theater säßen nur „Bildungs-Cretins, die kleinen Blasirten, die EwigWeiblichen, die Glücklich-Verdauenden“ (WA, KSA 6, S. 24), die die Überwältigung brauchen und dem ‚Meister‘ die Treue halten, mit „voreilige[r] Bewunderung, für alles, was an Wagner durchaus nicht wunderbar ist“ (NL 1887/1888, KSA 13, S. 134). Sie machte er verantwortlich dafür, dass die Zukunftsvision, die er voreilig auf den Namen Bayreuth getauft hatte, gescheitert sei. Sie waren keine neuen Kulturmenschen: „Wir kennen die Massen, wir kennen das Theater. Das
1 An Erwin Rohde heißt es: „Also im Sommer Bayreuther Concil! Wir als die Bischöfe und Würdenträger der neuen Kirche!“ (KGB II/3, Bf. 294) Seine Schwester erinnert daran, die Idee zur Gründung von Wagner-Vereinen stamme von ihrem Bruder (Förster-Nietzsche 1897, S. 212).
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Beste, was darin sitzt, deutsche Jünglinge, gehörnte Siegfriede und andre Wagnerianer […]“ (WA, KSA 6, S. 24). Bayreuth sei keine, wie er 1875 angenommen hatte, Revolution.2 Eduard Hanslick, der bedeutendste zeitgenössische Musikkritiker, hat sie die „geschworenen Wagnerianer“ (Hanslick 1972, S. 214) genannt. Er beobachtete an den Wagner-Begeisterten 1876 ein „Delirium tremens des Wagner-Rausches“ (Hanslick 1972, S. 252): der Wagnerianer verzichte auf „eigenes Denken“, opfere dem ‚Meister‘ sein „[s]acrificium intellectus“ (Hanslick 1972, S. 255). Die Presse zählte lapidar oder süffisant auf, wer von Rang und Namen sich den Strapazen der musikalischen Mammutprogramme auszusetzen bereit oder genötigt war und nach „Deutsch-Olympia“, wie man Bayreuth enthusiastisch oder ironisch3 nannte, zu pilgern: Allen voran, wenn auch mit wenig Interesse, Kaiser Wilhelm I., Kaiser Dom Pedro II. aus Brasilien, Bayerns König Ludwig, der König von Württemberg, Vertreter des Adels aus dem In- und Ausland, Parlamentarier, Diplomaten, Dirigenten, Komponisten, Maler, Bildhauer, Redakteure, Journalisten, Schriftsteller, Intendanten, Hof-Kapellmeister, „österreichische Cavaliere und Finanzbarone“4, die Angehörigen des Patronats-Vereins und der Wagner-Verbände, denen die Karten durch Zeichnung von Patronatsscheinen sicher waren. Böse Zungen sprachen von „Cliquenherrschaft“5 und vom „Kriegsschauplatz“.6 Hanslick sah eine verdächtige Nähe zur „Einrichtung des Oberammergauer Passionsspiels“, wollte sich aber vom „Himmel-hoch-Aufjauchzen von tausend Wagner-Enthusiasten“ nicht „irre“ machen lassen (Hanslick 1972, S. 229 und S. 213). Alle waren in Damen-Begleitung, die eine besondere Kategorie der Wagnerianer abgaben und nicht nur bei der Presse, sondern auch bei Karikaturisten und Zeichnern besondere Aufmerksamkeit genossen. Nicht nur in Bayreuth, sondern europaweit (Abb. 1).7 Adolf Wilette zeigte im Le Courrier
2 „Das ist eine Revolu t i o n , was jetzt in Bayreuth vor sich geht, die Constitution einer neuen Macht, die fern davon ist, sich nur aesthetisch zu fühlen“ (NL 1875, KSA 8, S. 248). 3 Anonymus in der Deutschen Zeitung (Wien) vom 17.8.1876 (Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 83). 4 V. K. Schembera im Neuen Wiener Tageblatt 1876 (Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 149). 5 Herrmann Messner in der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung (Berlin, 1876) (Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 79). Karl Frenzel: „Es ist eine von lang her geladene Gesellschaft, die sich im Wagner-Theater zusammenfindet; der […] Patronatsschein hat im eisernen Geldschrank geruht“ (Nationalzeitung, Berlin, August 1876, zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 203). 6 Karl Klic hat einer Zeichnung in der Zeitschrift Österreichische Karikatur den Titel Vom Kriegsschauplatz in Bayreuth gegeben (Zit. nach: Fuchs/Kreowski 1907, Beilage). 7 „Aus allen Ländern der Welt kommen die Gäste herbei, um an einer künstlerischen Feier Theil zu nehmen, wie sie seit der glanzvollen Blüthe Athens nicht wieder begangen ist“ (Heinrich Porges: Am Vorabend der ersten Aufführung des „Ring des Nibelungen“, zit. nach Großmann-Vendrey 1977, S. 47).
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français 1891 die ‚feine Gesellschaft‘ als aristokratische Oberschicht: dümmlich, arrogant, karnevalesk, nach neuester Mode gekleidet. Ohé les Wagneriens. Man gab sich als Kulturmensch (= Wagnerianer), man konnte es sich leisten. Für Nietzsche eine kulturelle und ästhetische Zumutung, die buchstäblich auf den Magen schlug und Grundlage seiner beißenden Kulturkritik geworden ist. Berichtet wurde viel über die Ereignisse in Bayreuth und die merkwürdigen Besucher. Alle einschlägigen Zeitschriften, die Kölnische Zeitung, die Leipziger Zeitung, die Schlesische Presse, das Berliner Tageblatt, die Gartenlaube, die Deutsche Zeitung, die Neue Presse, die Deutsche Rundschau, die Nationalzeitung, sogar die Neue Evangelische Kirchenzeitung schickten Berichterstatter, der Kladderadatsch, der Simplicissimus und Die fliegenden Blätter Zeichner. Man schrieb über die Inszenierungen, die Musik, über Wagner, die Zuschauer. Für Karikaturisten waren Wagnerianer ein unerschöpfliches Objekt der zeichnerischen Phantasie. Internationale Namen waren dabei: Gustave Doré, Honoré Daumier, Aubrey Beardsley, Olaf Gulbranson. Sie waren die ersten, die den Karikaturwert der Wagnerianer entdeckten, sie zum Karikaturtyp stilisierten und sie durch die pointierte Überzeichnung ihres Verhaltens kenntlich machten als Ausdruck der Kulturhaltung einer ganzen, wenn auch diffusen, sozialen Schicht gründerzeitlicher und wilhelminischer Kultur. Nirgendwo sonst als in Bayreuth, „traten sie [die Wagnerianer – R. R.] in bisher nicht gekannter Konzentration auf“ und „dem Blick des Ironikers“ konnte nicht entgehen, dass, wer nach Bayreuth kam, „habe die Begeisterung über die Großartigkeit der Festspiele schon mitgebracht“ (Großmann-Vendrey 1977, S. 231). Man wollte sich dem Rausch der Musik hingeben, den Meister – größter Traum der Wagnerianer – mit eigenen Augen sehen. Adolf Oberländer zeigte die Aufführung einer Oper in Anwesenheit des Meisters in den Fliegenden Blättern (1880) (Abb. 2), wo alle im Theater Anwesenden mit Opernglas oder Feldstecher nach dem im Dunkel vermuteten Wagner Ausschau halten, sogar die Musiker und selbst der Dirigent.8 Daumiers Wagnerianer, eine Lithographie von 1868 anlässlich der Münchener Aufführung der Meistersinger, sitzen nach einer Stunde Wagner-Musik selig überwältigt, verzückt und willenlos, leidend ob der Bedrängnis durch die Wucht der Musik und können trotzdem nicht genug bekommen von den sie überschwemmenden Tönen (Abb. 3). Die Reportagen berichteten informationsbetonter, aber auch sie nutzten ironisch-satirische Bilder. Wagnerianer waren eine lohnenswerte journalistische Beute. Für Hanslick war 1882 der „Wagner-Kultus […] in der Geschichte aller Künste ohne Beispiel“ „merkwürdiges Zeichen der Zeit“, Ausdruck einer „Wagner-Epidemie“ von „nicht geringe[r] kulturhistorischer Wichtigkeit“ (Hanslick 1972, S. 251f.). Wagnerianer
8 Dazu Fuchs/Kreowski 1907, S. 232f.
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stünden jenseits des gesunden Menschenverstandes.9 Im „Taumel der Bewunderung“ versunken und dem „erlösenden Propheten“ ergeben, führten sie ihn zu der Frage: „ob die gegenwärtige Wagner-Vergötterung nach Form und Inhalt zu den epidemischen Geisteskrankheiten gezählt werden darf oder nicht“ (Hanslick 1972, S. 257 u. S. 261). Viele Bayreuth-Korrespondenten skandierten mit ihrer Berichterstattung die kritisch-satirische, von einigen auch ernstgemeinte Tonlage. Paul Lindau hat in der Gartenlaube als Charakteristikum der Wagnerianer ihr „lallendes Entzücken“ hervorgehoben, sie würden zwischen bloßer Hingabe und blinder Begeisterung, nur unterbrochen von Zeiten seliger Ermattung, dahinleben.10 In der Neuen Zeitschrift für Musik stellte Heinrich Porges „Ausbrüche der Leidenschaft, von so vernichtender Gewalt und einer jeden Gedanken an bloßen Schein verscheuchenden Wahrheit“ fest, da alle „von einer fieberhaften Erregung ergriffen werden“ und sich „unser Herz von dem erlösenden Zauber des freiwilligen Aufgebens jedes Eigenwillens in schmerzlich süßer Seligkeit erhebt“, in den „seltenen, geweihten Stunden […], wo der Schleier hinweggezogen zu sein scheint, der uns sonst das wahre Wesen der Welt verhüllt.“11 In der Gartenlaube war von Wilhelm Marr zu erfahren, dass die „Nerven solcherart gefesselt“ werden und dem Zuschauer nur eines bleibe: „Man seufzt und stöhnt über die Strapazen und hält aus.“12 Angesichts der Bühnendekorationen würden alle „gläubig wie die Kinder […] und denken, es sei nicht anders möglich, als daß da vor uns Bäume stehen und keine Coulissen, und daß es ein wirkliches Vöglein sei, was da singe, und keineswegs Fräulein Lilli Lehman, königlich-kaiserliche Kammersängerin aus Berlin“, alles besitze einen „mystischen Schimmer“, der den Geist vernebele, hieß es in der Kölnischen Zeitung.13 Die Schlussbilanz über das Weihefestspiel in Bayreuth im Neuen Wiener Tageblatt 1876 fiel vergleichbar aus: Das Publikum würde mit Wonne „in eine Art von Rausch […] taumelnd versinken“ und erst wieder erwachen, „wenn der grelle Sonnenschein draußen Einem in’s Antlitz leuchte[ ].“ Erhabene Stimmung überall: „die Bekehrten wachsen aus dem
9 „Gibt es etwas Komischeres als den unter den öffentlichen Ankündigungen des ‚Parsifal‘ stehenden Aufruf der Redaktion an ihre Gesinnungsgenossen, sich rechtzeitig anzumelden zum ‚Vegetarischen Tisch‘ in Bayreuth? Es liegt eine entzückende Naivität in der Art, wie die ‚Bayreuther Blätter‘ den Zusammenhang der Pflanzenkost mit dem Wagner-Kultus darstellen“ (Hanslick 1972, S. 255). 10 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 64. 11 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 46f. 12 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 53. 13 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 101.
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Boden und lassen sich gern in die Reihen der ‚Verzückten‘ aufnehmen.“14 Das „exaltierte Stöhnen, Stammeln und Schreien der neuesten Wagner’schen Muse“ auf der Bühne übertrug sich nahtlos auf das Publikum, trug die Wagner-Anhänger in eine entrückte Zeitlosigkeit. Auch dann noch, wenn der Vorhang längst gefallen war. Der „Zauberpossen-Cultus“ behielt seine Wirkung, wusste Hanslick zu berichten.15 Auch Max Kahlbeck in der Schlesischen Zeitung informierte über das Gebaren der Wagnerianer: vom Niederwerfen zur „Anbetung“ war die Rede, einer „seltsamen inneren Erregung und Seelenergriffenheit“, „wildester Glut“, „in allen Fibern erzitternde[n] Szene[n]“, die in den Zuschauerraum schwappten und im „Moment des Geniessens“ der „sinneberauschenden“ Akkorde alle Vorstellungen von Musik, Ästhetik und Moral vergessen ließen, weil den so Überwältigten „Athem und Herzschlag“ 16 verging. Die am weitesten gingen, sprachen vom Opiumrausch, wie Karl Frenzel in der Nationalzeitung: „Der kondensirte Genuß, den man uns in Bayreuth bereitete, endete in Stumpfheit“, „die Ermüdung des Körpers, die Erschlaffung der Nerven war die nothwendige Folge dieses Opiumrausches.“17 Wilhelm Mohr, in der Kölnischen Zeitung, sah die Wirkung Wagnerscher Musik im Alkoholvergleich am besten ausgedrückt: Es ist deshalb so ganz Unrecht nicht, wenn man sagt, daß Wagner’s Musik mit derjenigen Mozart’s verglichen, sich in Art und Wirkung darstelle, wie gebranntes Wasser gegen reinen und lautern Wein gehalten. Sie erhebt nicht, sondern entzündet das Blut, sie läutert nicht, sondern steigt zu Kopf, und ihr allzu häufiger Genuß stumpft gegen Edleres ab und macht die Geister zornig und rachsüchtig, wie echte Schnapstrinker. Mancher echte Wagnerianer gibt solche Wirkung selbst zu […] und sagt, darin liege gerade das Große, und es habe damit seine vollkommene Richtigkeit.18
Sogar Paris war beunruhigt. 1893, anlässlich der Walküre-Aufführung, sprach man vom Sieg des Irrationalen und von einer ‚schrecklichen Seuche‘, die täglich ihre Opfer fordere: Die Wagneritis, namentlich im akuten Zustande spottet jeder medizinischen Behandlung. Der Mißbrauch, den die Journalisten mit dem Elixier tetralogique, den Tristanpastillen und der Parsivaline treiben, führt rettungslos zum tollsten Wahnsinn, gegen den es kein anderes Mittel mehr gibt, als Eisdouchen und Zwangsjacken.19
14 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 138 und Großmann-Vendrey 1977, S. 140. 15 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 178. 16 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 193. 17 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 213. 18 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 111f. 19 Zit. nach: Fuchs/Kreowski 1907, S. 236.
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Facettenreich überzeichneten sie einen Zuschauertyp, der die Phänomene Wagner und Bayreuth einkreisen sollte. Die satirischen Momentaufnahmen versahen die ‚Wagneritis‘ mit allen Symptomen eines stabilen Krankheitsbildes. Weiteste Deutungsversuche konstruierten Parallelen der Verhaltensweisen im Festspielhaus zum modernen Kulturverhalten, quasi als Entlastungsreaktionen vom bürgerlichen Alltag, als Versuche, in den Verzauberungseffekten der WagnerOpern der massiven ‚Entzauberung der Welt‘ (Max Weber) für eine kleine Auszeit zu entgehen. Im Ritual Bayreuth erfuhren alle Beteiligten eine Nobilitierung ihres ansonsten unspektakulären Lebens. Je enger sie sich um den ‚Meister‘ als „streitbare Garde“ scharten, sich mit „magischer Gewalt fort von Kohorte zu Kohorte“ ausweiteten, desto mehr wurden sie „in der Gefolgschaft ihres Namenheiligen eine selbstverständliche Erscheinung“ und entfachten „die Begeisterung zur lodernde[n] Flamme“, schwelgten in „romantische[n] Schauer[n]“ (Fuchs/Kreowski 1907, S. 227f.) als ihnen eigene Markenzeichen. Als Spott- und FeuilletonFiguren haben sie so Karriere gemacht. Es brauchte seine Zeit und eines philosophischen Kopfes, sie für die ästhetisch-philosophische Kulturkritik zu reklamieren und als Kulturfiguren zu nobilitieren. Kritisch-ernst und mit kulturtheorischer Substanz, sie nicht nur satirisch zu überhöhen, sondern ästhetisch so zu überzeichnen, dass sie kulturkritisch kenntlich und verallgemeinerungsfähig wurden und zugleich als Vehikel einer generellen Epochenkritik gelten konnten: eingedenk dessen, dass sie Projektionen, geistreiche Erfindungen, ideelle Inszenierungen, polemisch aufgeladene Schreckbilder waren, deren relative Eigenständigkeit deutungswirksame Klischees ebenso bediente wie sie diese unterwanderte und gegen ihren bloßen Spottwert rebellierten mit der Gnadenlosigkeit psychologisch-kritischer Vivisektion und der sprach-grotesken Prägnanz des Kulturkritikers. Dabei hat sich Nietzsche solchen Stimmen erst spät angeschlossen, wobei seine Ausmalung des Typs ‚Wagnerianer‘ auffällig der der satirischen Bilder und Texte in den Zeitschriften glich. Er kopierte sie teilweise oder übernahm sie direkt.20 Man stellte ihn sogar den großen Karikaturisten zur Seite: „er wäre der oberste
20 Manfred Eger spricht von Nietzsches „Witterungsgenie, seinem Lese- und Adaptionsfleiß, seinem Kombinationstalent und seinem sprachlich-transformatorischen Vermögen“ (Eger 2001, S. 11). Dies trifft für seine teilweise wörtlichen Übernahmen von Hanslick zu (Eger 2001, S. 303 und Eger 2001, S. 325ff.). Im Nietzsche-Kommentar 6.1. verweist Andreas Urs Sommer auf Wilhelm Tapperts Ein Wagner-Lexicon. Wörterbuch der Unhöflichkeit, enthaltend grobe, höhnende, gehässige und verläumderische Ausdrücke, welche gegen den Meister Richard Wagner, seine Werke und seine Anhänger von den Feinden und Spöttern gebraucht worden sind. Zur Gemüths-Ergötzung in müssigen Stunden gesammelt, Leipzig 1877, den Nietzsche zwar nicht erwähnt, der aber zu seiner Quellenlektüre gehört haben kann (vgl. Sommer 2012, S. 12).
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Karikaturist gegen Richard Wagner gewesen, wenn er ein Zeichner statt ein genialer Schriftsteller und Pamphletist gewesen wäre. Er wäre der Daumier Bayreuths geworden“ (Barth 1970, S. 7). Das klingt sympathisch, greift aber zu kurz. Bei ihm war der Sturz der Wagnerianer von Hoffnungsträgern für die Wiedergeburt des tragischen Menschen zu Trägern einer ansteckenden Kulturkrankheit, zu hoffnungslosen décadents und Bildungsphilistern mehr als eine bloße karikaturistische Provokation. Seine Wagnerianer sind nicht nur beredte Zeugnisse für die Lust an der verlachenden Satire von vermeintlichen oder wirklichen Möchtegern-Musikkennern, der Entlarvung ihrer exklusiven Banalität, sie sind weit mehr: Als Zeugen einer Kulturepoche geben sie mit der Bandbreite ihrer Verhaltensmuster Zeugnis von ihrem kulturellen Dilemma: fremdbestimmt zu sein, überreizt und reizabhängig, kulinarisch, besinnungslos, einer falschen Sinnlichkeit verfallen und – für den späten Nietzsche die crux allen Kulturverfalls – willenlos, ohne Kraft, aber machtvoll. Das Gespenst der Mediokrität ging um. 1876, nach der Ring-Aufführung, rüstete er Bayreuth hoch zum Beispiel-Ort für die moderne Kulturbarbarei und machte die Wagnerianer zum Prototyp der ‚Heroen der Moderne‘ – um ein Wort Walter Benjamins zu paraphrasieren. Sie boten sich geradezu an und waren ohnehin in aller Munde. Mit ihnen war kulturkritisch Staat zu machen. Nietzsche konnte auf vorbereitetem Boden arbeiten, das heißt weiter und zu Ende denken. Dabei geriet zunehmend die Wagnerianerin ins Visier seiner Aufmerksamkeit.
2 Die Wagnerianerin – […] sie ve r kö r p e r t die Sache Wagner’s, in ihrem Zeichen s i e g t seine Sache … (Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888)
Die Wagnerianerinnen, der Species der Wagnerianer zugehörig und deren Eigenschaften in hohem Maße kultivierend, bedeuteten deren Steigerung. An ihnen wurde transparent, was hinter Frack und Cutaway zurückgehalten wurde: hemmungslose Hingabe an den ‚Meister‘, seine Musik, an die Opernfiguren, an seine Visionen. Hemmungslosigkeit ist das wichtigste Kennzeichen der Wagnerianerinnen. Nietzsche griff die Vorgabe dankbar auf. Ihre Dekolletés entblößten nicht nur raffiniert den Busen, sie waren der Teil der weiblichen Abendgarderobe, der einen unmittelbaren Einblick in die Seelenbefindlichkeiten seiner Trägerinnen gewährte: „die Wagnerianerin, welche mit ausgehängtem Willen Tristan und Isolde über sich ‚ergehen lässt‘ […] und mit geheimnisvoller Brunst“ danach trachtet, einen „überreichlichen Genuss […] am eignen Sich-leiden-machen“ zu
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entwickeln (JGB, KSA 5, S. 166) und ob des Geschehens auf der Bühne in Verzückung vergeht, sie war ein unerhörter Glücksfall für den Kulturkritiker. Ihr WahnSinn hatte Methode, und so besetzten die Wagnerianerinnen – „dekolettierte[ ] moderne[ ] Isolden“ (Fuchs/Kreowski 1907, S. 234) – auch die Szenarien der Nietzscheschen Kulturkritik. Ihre suchtvoll-suchtgleiche Abhängigkeit von der krankmachenden Musik Wagners schreibt fest, was dem Kulturkritiker an der Moderne aufgegangen war: dass sie nicht nur an einzelnen Krankheitssymptomen leide, sondern in ihrem tiefsten Inneren selbst eine psychologisch-kulturelle Krankheit sei. Im Tränenstrom der Wagnerianerinnen entluden sich die psychischen Krankheitssymptome, die Nietzsche als allgemeine Symptome einer „abgeirrten Cultur“ (NL 1874, KSA 7, S. 806) verstand. Mehr noch: Wagner selbst sah seine Musik als „feine[ ], geheimnisvoll flüssige[ ] Säfte[ ]“, in deren Strom aller Wille hinweggeschwemmt werde, der „nur den wunderbar erhabenen Seufzer des Ohnmachtsbekenntnisses übrig lässt“ (an Mathilde Wesendonk, 24. 8. 1859).21 Nietzsche wusste dies. So lokalisierten sich in den Taschentüchern der feinen Damen die brunstvollen Phantasien, in die sie von Wagner gestürzt oder gezogen wurden. Wagner selbst hat es als Ziel seiner Musik bezeichnet, „die Leute verrückt [zu] machen“ (an Mathilde Wesendonk, April 1859) um „eine Lösung für die Leiden der Moderne“ zu liefern.22 Im Amalgam scheinreligiöser Selbstaufgabe und sexuell bestimmter Hingabe verschmolzen beide Seiten der Wirkungsabsicht bei den Wagnerianerinnen zum irrationalen Akt ästhetischen Erlebens. Höchstes Liebesverlangen verfloss im Tränenstrom der Sängerinnen und Zuschauerinnen und fand bei letzteren ihre vergeistigte Scheinerfüllung. Eine Lösung, die Wagner vorschwebte und die Nietzsche als Demagogie und kulturelle Gefahr attackiert und enttarnt hat. Der Kladderadatsch hat 1856 zur Berliner Aufführung des Tannhäuser eine solche tränenaufgelöste Taschentuchszene (Abb. 4) und der Simplicissimus hat, angesichts des Lohengrin-Tenors, eine busenentblößte Wagnerianerin festgehalten (Abb. 5). 1888 hob Nietzsche an Wagner zu Recht hervor und kritisierte: „er appelirt an die schönen Gefühle und den gehobenen Busen“ (NL 1887/1888, KSA 13, S. 136). Aubrey Beardsley, glühender Wagner-Verehrer, hat gleich das ganze Parkett mit ihnen besetzt (Abb. 6). Tief dekolletiert sitzen sie, ergeben in Tristan und Isolde. Im für Beardsley charakteristischen Schwarz-Weiß-Kontrast versprühen sie jene frivole Sinnlichkeit und sexuelle Begierde (Abb. 7), mit denen er sie zu den Heroinen und Nymphomaninnen stilisierte, die auch Nietzsche vorschwebten. Mit ihren lasziven Bewegungen, wogenden Haarfluten und lüsternen
21 Zit. nach: Vazsonyi, Nicholas, 2012, S. 145. 22 Zit. nach: Vazsonyi, Nicholas, 2012, S. 145ff.
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Blicken boten sie den Anblick der schlechthin gefährlichen Frauen, weil sie sich widerspruchslos verführen ließen und ihrerseits ihre krankhafte Verführungskunst einzusetzen wussten. Erotik und Neurose als zwei Seiten ihres Wesens: Sie waren Vertreterinnen einer Moderne, die sich, im dekadenten Grundmodus ihrer Verhaltensweisen, darauf verließen, genau den Zeitgeist zu repräsentieren, dem sie in völliger Übereinstimmung entsprachen. Dass sie zu bloßen Dekorationsstücken Bayreuths wurden, zum mondänen Zubehör der Wagnerschen Festspielidee, steht auf einem anderen Blatt. Für die Frauen sei Wagner, so konnte Nietzsche behaupten, ein Verhängnis, eine lebensbedrohliche Gefahr: „Ganz Opfer, ganz Hingebung: man hat Nichts, was man ihm nicht geben würde. Das Weib verarmt sich zu Gunsten des Meisters, es wird rührend, es steht nackt vor ihm“ (WA, KSA 6, S. 44). Die Hysterieattacken, von denen sie regelmäßig während seiner Musik befallen wurden, machten sie zu Fällen für den Psychiater: „Was ist ärztlich gefragt, eine Wagnerianerin? – Es scheint mir, dass ein Arzt jungen Frauen nicht ernst genug diese Gewissens-Alternative stellen könnte: Eins oder das Andere. – Aber sie haben bereits gewählt. Man kann nicht zween Herren dienen, wenn der Eine Wagner heisst“ (WA, KSA 6, S. 44). Wagner, der „alte Minotaurus“ und große Verführer, schleppe die Frauen „in seine Höhle“ (WA, KSA 6, S. 45) und habe nicht bemerkt, dass er ihren Verführungskünsten, deren Verursacher er war, selbst erlag. Der Meister aus Bayreuth – ein soul catcher der schlimmsten Art und ein Opfer zugleich. Und die Frauen lassen sich lustvoll verschleppen. Seine Musik, so Nietzsche, verführe zu ihm, der es darauf angelegt habe, alles und jeden in seinen Bann zu zwingen. Er besaß einen unbedingten „Wille[n] zur Wirkung um der W willen“ und beherrschte „das in-Scene-Setzen, die Kunst der étalage“ (NL 1888, KSA 13, S. 408). Mit einer Raffinesse, deren Gewaltpotential nicht sofort zu merken war. Das war schon Hanslick aufgefallen: Wagner forciere mit „dem brausenden Gischt des Orchesters“, mit rasanten „furchtbaren Stimmungswechsel[n]“, mit sinnlichreligiöser Ekstase ein alle Grenzen überschwemmendes Pathos, dem niemand widerstehen soll (Hanslick 1972, S. 241). Nietzsche nahm diese Auffassung auf. Hatte Nietzsche in Richard Wagner in Bayreuth prophezeit, man finde „vorbereitete und geweihte Zuschauer, die Ergriffenheit von Menschen, welche sich auf dem Höhepuncte ihres Glücks befinden und gerade in ihm ihr ganzes Wesen zusammengerafft fühlen, um sich zu weiterem und höherem Wollen bestärken lassen“ (WB, KSA 1, S. 449), haben sich die Konnotationen 1888 ins Gegenteil verkehrt. Hingebung, Glück, Wollen sind jetzt angesichts der Beobachtungen suspekt, taugen nicht mehr für die Beschreibung zukunftsweisender Verhaltensweisen. Ihre Inhalte werden nun pejorativ und mit hohem Entlarvungspotential ausgestattet. Vom „reichlichen, überreichlichen Genuss auch am eigenen Leiden“, der bis zur „Selbst-Verleugnung“ reicht, werde der Mensch, in der modernen
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Kultur dafür beispielhaft die Wagnerianerin, bis in „jene gefährlichen Schauder der gegen sich selbst gewendeten Grausamkeit“ gedrängt (JGB, KSA 5, S. 166), die jeden eigenen Willen außer Kraft setzt. Die hypnotische Dauerwirkung seiner Musik hatte bereits Oskar Panizza treffend beschrieben: besonders bei Damen [zeigten sich] feierlich gespannte Mienen, glänzende Augen, Starrheit der Glieder, allerlei Anzeichen von Geistesabwesenheit; wie Frösche, die sich abends gegen das Licht kehren, saßen sie da, für alles abgestorben, bis auf die eine Quelle, die sie fasziniert; erst nach Schluß des letzten Akkordes wich der merkwürdige Zustand.23
Oder das andere Extrem, auch gern dem „zarten Geschlecht“24 zugesprochen: hysterische Weinkrämpfe, nervöse Zuckungen, fieberhafte Erregung und die „Ueberspannung der Nerven“25 infolge der schwülstigen Musikkaskaden. Hanslick hat Wagners musikalische Arbeit als eine auf unbedingte sinnliche Wirkung abzielende gesehen: Noch ehe der Vorhang aufgeht, soll das geheimnisvolle Wogen und Klingen des unsichtbaren Orchesters den Hörer in einen leisen Opiumrausch versetzen – noch bevor, bei aufgezogenem Vorhang, eine der handelnden Personen den Mund öffnet, werden wir dem anhaltenden Eindruck einer magisch beleuchteten Märchen-Decoration hingegeben; in den zahlreichen Nachtscenen beleuchtet grelles elektrisches Licht die Gestalt der Hauptpersonen, und farbige Dämpfe wallen ab und zu, jetzt zusammengeballt, dann sich theilend über die Bühne […] Ein Schritt zur künstlichen Einführung bestimmter Düfte und Gerüche auf die Scene – sie sind ja von der Psychologie als besonders stimmungserregend und -verstärkend anerkannt.26
Modernste Bühnentechnik ließ Wagners Wirkungsabsicht Realität werden. Dies gehe über menschliche Möglichkeiten, darin war man sich einig. Den Wagnerianerinnen sei es vergönnt, die über die seelischen Kräfte gehenden Zumutungen seiner Überwältigungsstrategien zu ertragen: „Die menschliche Constitution, ich nehme die Species der Wagnerianerin hier […] aus, hat nicht die Nervenkraft, einen 23/4stündigen Act von so aufregendem Inhalt zu ertragen. So Etwas kann man wol componiren; […] ohne Unterbrechung anhören, kann man es nicht“,
23 Zit. nach: Fuchs/Kreowski 1907, S. 233f. 24 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 111. 25 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 52. Bei Fuchs/Kreowski heißt es, Wagnerianerinnen geraten in den „höchsten Grad einer Verzückung […], die sogar ihre Gesichtszüge völlig verzerrt, während sie ‚überwältigt‘ in apoplektischem Zustande verharren“ (Fuchs/Kreowski 1907, S. 228). 26 Zit. nach: Fuchs/Kreowski 1907, S. 179.
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berichtete Louis Ehlert in der Deutschen Rundschau.27 Karl Frenzel ging noch einen Schritt weiter, seine Eloge ist ein Kabinettstück journalistischer Ironie: Je weiter das „Festspiel“ vorrückt [kommen] bei den Damen dieselben Kleider zum Vorschein, und natürlich sind sie nicht mehr frisch und glanzvoll wie am ersten Abend […] die Frauen sind fast sämmtlich in einem Zustande hysterischer Aufregung […] Wenige Veteranen beiderlei Geschlechts waren am vierten Abend noch kampffähig – und hier lege ich den Lorbeer der reinsten Bewunderung zu den Füßen des weiblichen Geschlechts. Ehre den Frauen, sie sind das stärkere Geschlecht. Wehe mir Armen, der ich einst über die Amazonen Penthesilea’s gelacht. Ich kannte die Amazonen von Bayreuth noch nicht. Schöne, heldenmüthige Frauen – alle […] im Alter der Heldinnen Balzac’s – welche Tapferkeit haben Sie bewiesen, meine Damen, welche Nerven! […] Sie sahen, ja was sahen und hörten sie nicht, ohne zu ermatten! Wenn Bayreuth sich zum deutschen Olympia ausbildet, müssten die Namen dieser Heldinnen des Wagnerthums in die Marmorwand des Tempels mit goldenen Buchstaben eingegraben werden.28
Kulturkritisch geht dies über jede Ironie und Satire. Nietzsche hat solche Beschreibungen aufgegriffen und zur Grundlage seiner Angriffe auf Bayreuth und Wagner genutzt. Wagner wolle mit seiner Musik den „Brand des Herzens“ und den „der Begierde“ entfachen (NL 1878, KSA 8, S. 550), warf er ihm 1878 vor, er arbeite mit Mitteln, die „in einer befremdlichen Weise“ denen ähneln, „mit denen der Hypnotiseur“ Wirkungen erziele: dem „Hysterismus seiner ‚unendlichen Melodie‘“ folgten hysterischen Anfälle seiner Zuschauerinnen, seine Musik versetze sie in eine „somnambulische[ ] Ekstase“ (NL 1887, KSA 12, S. 543), hieß es 1887. Wagnerianerinnen verstünden sich auf „hübsch verzückte[ ] Augen“ (NL 1887, KSA 12, S. 543). Wagner hypnotisiere „die mystisch-erotischen Weibchen, indem seine Musik den Geist eines Magnetiseurs bis in ihr Rückenmark hinein fühlbar macht (– man beobachte das Lohengrin-Vorspiel in seinen physiologischen Einwirkungen auf die Sekretion“ (NL 1887/1888, KSA 13, S. 136f.). Dabei entstehe ein großes Missverständnis: man glaube, durch unmittelbare Reizwirkung auf die physiologischen Befindlichkeiten (sprich: erotisch-sexuellen Begierden), Wagners Musik zu verstehen, ihm nahe zu sein. Dabei hat man den Schauspieler Wagner nicht begriffen, sein histrionisches Wesen völlig verkannt. Solche erweckte Leidenschaft sei nichts anderes als Entlastung aufgestauter, weil kulturell kontrollierter, Triebenergien: bloße „Lust-Begierden“, den „modernsten Bedürfnissen“ zugehörig: krankhaft, brutal und unschuldig in einem (NL 1887/1888, KSA 13, S. 131 und NL 1887/1888, KSA 13, S. 133). Wer sich Wagners Musik hingebe, gehöre zu den Unfreien, Vor-sich-selbst-auf-der-Flucht-Seienden, die „schwere, einhül-
27 Zit. nach: Fuchs/Kreowski 1907, S. 184. 28 Zit. nach: Fuchs/Kreowski 1907, S. 207f.
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lende Dünste“, nötig haben, deren Sinnlichkeit, wie die Wagners, krankhaft ist: Der Erfolg dieser Musik verdanke sich der falschen Leidenschaft, sie überrede „die untersten Instincte zu sich“ (NL 1888, KSA 13, S. 600f.). Wagners Pathos, dessen „erschreckende Länge“, das „Athemanhalten“, sein „Nicht-Mehr-loslassenwollen eines extremen Gefühls“, mit dem er „über uns siegt und immer siegen wird: – so daß er uns zuletzt noch gar zu seiner Musik überredet“ (NL 1888, KSA 13, S. 406): Wie sollten Wagnerianerinnen seiner aus dem Ruder laufenden Affektökonomie entkommen können? Sie waren überrumpelt, ehe sie es bemerkten. Wagners „kluge Stupidität“ (WA, KSA 6, S. 32) führte, überwältigend und die Sinne betäubend, Regie. Sie konnten nicht zwischen wirklicher Leidenschaft und krankhafter Selbstaufgabe, wollüstiger Erlösungssehnsucht und schwülen Hingabephantasien unterscheiden, nahmen den Schein für das Sein, die Illusion für Wahrheit. Wagner als Musiker „einer Art unbefriedigter Frauen: Fünfzig Schritt weiter: und man hat die Wagnerianerin“ (WA, KSA 6, S. 48). Für Nietzsche waren sie die aussagestärksten Vertreterinnen einer Moderne, die immer stärker in den kulturellen Abgrund driftete, er konnte ad hominem vor Augen führen, wie weit der Niedergang fortgeschritten war. Ihr „Wille zum Ende“, ihre „grosse Müdigkeit“ und „verarmte[s] Leben“ (WA, KSA 6, S. 12), ihre Willensschwäche, die erotischen Obsessionen, ihr Selbstvergessen im Rausch und die großen Attitüden, darin lebten sie die psychologischen Schwächen vor, die für die moderne Kultur in Nietzsches Augen ihren Niedergangs- und mediokren Ruf zu verantworten hatten. Wie im Zuschauerraum, so auf der Bühne, wie die Zuschauerinnen, so die Sängerinnen, wie die Bühne so die Kultur. Sie waren für ihn „lauter ganz moderne Typen der Degenerescenz“ (NL 1888, KSA 13, S. 465). „Senta, Elsa, Isolde, Kundry: eine artige Galerie von Krankheitsfällen“, resümierte er. Wagner habe seine Heroinnen in ihrer verfehlten, kranken Weiblichkeit gestaltet: „instinktiv [verstehe er] das Weib als krankes Weib“ (NL 1888, KSA 13, S. 465). Ausnahmen (Eva in den Meistersingern), gibt Wagner, so Nietzsche, „eine zwanzig Minuten lange Attitüde […], deren wegen wir das artige Geschöpf unfehlbar unter psychiatrische Aufsicht stellen würden“ (NL 1888, KSA 13, S. 465). Für ihn der Aufweis, Wagner mache krank, bewusst und mit Kalkül. Auffällig sei, dass diese Frauen „lauter unfruchtbare Weiber“ seien, die nicht verstehen, „ein Kind zu machen“; die Männer wiederum litten unter dem krankhaften Geschmack, solche Frauen zu begehren (NL 1888, KSA 13, S. 465). Weil sie keine Kinder bekommen können, sind die Heldinnen „der hysterisch-hypnotische Typ“ schlechthin, Wagners Musik gibt die „psychologisch-physiologische Analyse“ (NL 1888, KSA 13, S. 465).29 Wie er „nach der Fülle“ dürstet, nach Erfüllung, so
29 Aufschlussreich ist die Ausnahme: „um zu einem Kinde zu verhelfen, hat Wagner
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lässt er seine Heldinnen danach dürsten, gibt ihnen die täuschende Macht trügerischer Selbsterfüllung im Liebes- oder Todes- oder Kampfesrausch, um ihr Unbefriedigtsein zu übertäuben, stillzustellen oder sinnbetörend singen zu lassen. Man sucht nach Vergessen, verlangt nach Wagner wie nach einem Opiat: „sie werden sich einen Augenblick los … Was sage ich! fünf bis sechs Stunden! – “ (EH, KSA 6, S. 325). Das gilt für Bühne und Parkett. Auf der Bühne gehe nichts, so Nietzsche süffisant, ohne die großen Heldinnen-Partien. Dabei waren die Heroinnen alles anderes als große mythologische Gestalten: „den heroischen Balg abgestreift“, seien sie der Flaubertschen Madame Bovary „zum Verwechseln“ ähnlich (WA, KSA 6, S. 34). Man sei im Irrgarten bürgerlicher Moralverstrickungen: „Immer fünf Schritte weit vom Hospital!“ (WA, KSA 6, S. 34). Nüchtern konstatierte er: „Lauter ganz moderne, lauter ganz grossstädtische Probleme!“ (WA, KSA 6, S. 34) Sigmund Freuds Couch stand in Reichweite. Mit unmissverständlichen Gebärden, zu denen die „kluge Klapperschlange“ (WA, KSA 6, S. 16) Wagner eine wirksame „Ton-Semiotik“ (WA, KSA 6, S. 27f.) schuf, waren die Heroinnen auf der Bühne ausgestattet mit einem Seelenfänger-Repertoire, das an Wirkmächtigkeit jede Psychologie überflügelte. Die zur Schau gestellte Sinnlichkeit zog alle Register der Provokation und bediente die nur mühsam verdeckte Lüsternheit nach dem Genuss des Unsagund Unerfüllbaren, Verbotenen und Skandalösen, Verdrängten und Sündhaften. Man darf, so Nietzsche, feststellen, dass dem Wirkungsmechanismus eine Art „feinerer Parasitismus“ (WA, KSA 6, S. 18) innewohne, denn die Walküren, Rheintöchter, Kundry, Elsa und Brünnhilde nisten sich ein „in eine fremde Seele, mitunter selbst in ein fremdes Fleisch – ach! wie sehr immer auf ‚des Wirthes‘ Unkosten!“ (WA, KSA 6, S. 18) und richten darin Schlimmstes an: sie machen willenlos, wie sie selber willenlos sind, Werkzeuge in der Regie ihres Meisters. Die Spielarten ihrer besinnungslosen Hingabe übertragen sich aufs weibliche Publikum: Wagners Opernbühne als erlaubte Lustzone frustrierter Wagnerianerinnen. Die Musik verführt in das Reich der umgekehrten Amazonen, deren psychische Deformierungen nach Nietzsche ihre brunstvollen Träume gebären. Was eigentlich schwach ist, wird als Stärke inszeniert und gewollt so (miss)verstanden. Den aufgepeitschten Nerven wird suggeriert, ihre Exaltiertheit beruhe auf dem intensiven Erleben dramatischer Ereignisse, sei orgiastische Ekstase. Wobei Pathos und Dramatik gleichgesetzt oder verwechselt werden. Es sind sexuelle Anspie-
der Sage Gewalt angethan – und vielleicht nicht nur der Sage: nach Wagnerscher Phyologie ist nur die Blutschande eine Gewährschaft für Kinder“ (NL 1888, KSA 13, S. 466). „Sie kö n n e n ´ s nicht … Die Verzweiflung, mit der Wagner das Problem angegriffen hat, Siegfried überhaupt geboren werden zu lassen, verräth, w i e modern er in diesem Punkte fühlte“ (WA, KSA 6, S. 34).
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lungen, die, musikalisch moduliert und instrumentalisiert, auf fruchtbaren Boden bei den nach Erfüllung lechzenden Akteurinnen und Zuhörerinnen fallen. In den „Haschischtr[ä]um[en] der Schwärmerin[nen]“, in „rauchender Hitze“ des Zwiegesanges, wie es Hanslick genannt hat30, verschwimmen Fieberwahn und Realität: man lässt sich gern, wie Tristan, in Bewusstlosigkeit versetzen, um sich wollüstigen Phantasien anheimzugeben. „Ausbrüche der Leidenschaft, von so vernichtender Gewalt […] werden selten auf der Bühne erlebt worden sein“, hielt Heinrich Porges 1876 für die Leser der Neuen Zeitschrift für Musik fest.31 Oder man lässt sich gern von Musik einhüllen und hat nur einen Wunsch: in Musik zu versinken. Tristan und Isolde, für Nietzsche „das eigentliche opus metaphysicum“, mit seiner „unersättlichen süssesten Sehnsucht nach den Geheimnissen der Nacht und des Todes“ und dem „Eins-sein in der Zweiheit“ (WB, KSA 1, S. 479). Zwei Jahrzehnte später übersetzte er die Geschichte ins Maliziöse: Der Fall Isolde zeige, dass „auch verheiratete Frauen gerne durch einen Ritter erlöst werden“, der Mann sei „feige vor allem Ewig-Weiblichen: das wissen die Weiblein“ (WA, KSA 6, S. 17f.). Die „anbetenden Weiber [… werden] ihr Verderben“ (WA, KSA 6, S. 18). Nadelspitze Pointen eines Kulturkritikers. Olaf Gulbranson hat mit seiner Karikatur einer Männer verschlingenden Wagner-Heldin diesen Punkt getroffen (Abb. 8). Brünnhildes Blick spricht begehrliche Bände. Auf der Bühne und im Leben, für die großen Helden, die Künstler, für Jedermann. Was als innere „Erregung und Seelenergriffenheit“ reflektiert wurde, als Reaktion auf Unerhörtes, das einer „ethische[n] Anarchie“ glich, so Max Kahlbeck in der Schlesischen Zeitung32, diese „Verherrlichung der sinnlichen Liebe“ in einer „von wildester Glut in allen Fibern erzitternde[n] Scene“, war nichts als die Unsicherheit einem Wertekodex gegenüber, der durch die sinnliche Überwältigung jenseits des Realitätsprinzips geraten zu sein schien und unverhohlen die Gewalt der Physiologie ins Bewusstsein brachte. Da war keine Katharsis mehr zu zelebrieren, sondern nur der zur Gewissheit werdende Verdacht, den der späte Nietzsche zur Grundlage allen Nachdenkens über Kunstwirkungen gemacht hat: dass Ästhetik nichts sei als „eine angewandte Physiologie“ (NW, KSA 6, S. 418). Ein Gedanke, der ihm an Wagners Musik aufgegangen war und ihn fragen ließ, warum man die Begierden überhaupt „unter ästhetische Formeln verkleiden“ solle (NW, KSA 6, S. 418). Das ging gegen einen Hedonismus, der nur als Maskerade für Leidenswollust und ungesunde Sinnlichkeit taugte, um zu verdrängen und zu verschleiern, was der eigentliche Untergrund allen ästhetischen Genusses sei. An Malwida von Mey-
30 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 180, und Großmann-Vendrey 1977, S. 178. 31 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 46. 32 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 193.
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senbug machte er sich zum Wächter des vornehmen Geschmacks, aus „tiefste[m] Haß gegen die ekelhafte Sexualität der Wagnerschen Musik“ (KGB III/5, Bf. 1135). Damit war aller Seelenarithmetik der Kampf angesagt: je mehr sich die Libido in ihren Netzen verfing, desto stärker opponierte sie gegen ihre Einschränkungen. Die alles umschlingende Erotik Wagnerscher Heroinnen korrespondierte mit dem einschüchternden, hochgerüsteten Habitus ihrer Walkürennaturen (Abb. 9). Therese Malten als Brünnhilde mit Brustpanzer, Flügelhelm, Speer und Schild in dramatischer Geste, entsprach dem Bild der Amazonen am Ende des 19. Jahrhunderts. Nike Wagner hat vom „militärischen Weiberclan[ ] gesprochen“.33 Militanz und Erotik per Kostüm: Geschnürte Taillen, hoch gesetzte Busen, gelocktes Haar unter Flügelhelmen bedienten den Zeitgeist ebenso wie romantisierende Dämonisierungen des Weiblichen, die sinistren Männerphantasien entsprangen (Abb. 10). Sie zeigten geballte Frauenpower und bestätigten doch unfreiwillig, dass die Geschlechterrollen kaum wirklich aufgebrochen wurden. Jeden Augenblick konnten sie ihre Bewaffnungen ablegen und zu erotischen Verführungskünsten übergehen (Abb. 11). Sie haben als moderne Amazonen Opernkarriere gemacht. Ihre Gefühlsausbrüche gingen konform mit mystisch übersteigerter, affektbesetzter Weiblichkeit, deren Originalität in der Inszenierung ihrer Sinnlichkeit im musikalischen Vollzug einer besorgniserregenden Ermächtigung zum Tode hin lag.34 Ausstaffiert mit den Insignien männlicher Kraft und Herrschaft, agierten sie auf einem Feld, das ihnen nicht zukam. So wurden sie Identifikations- oder Bedrohungsfiguren, die Männer- wie Frauenphantasien auf aufreizende Irrwege führte. Nietzsche sah sie als Ausdruck einer kulturellen Fehlentwicklung, die von Bayreuth in die Welt gebracht worden sei. Mythologie verband sich mit Realem und Modernem, Archaischem und Gründerzeitlichem (Glaser 1984, S. 150ff.). Nietzsche fügte hinzu: mit Bürgerlichem. Im Gegensatz zu Heinrich von Kleists Penthesilea besaßen Wagners Walküren keine leidenschaftliche Größe, keine dionysische Passion, sondern nur das vulgäre Streben nach quasi-religiösem Selbstverzicht, um tiefen Ängsten und Aggressionen zu entkommen – Nietzsche argumentierte wirkungsästhetisch – und sie in die begierdevollen Gemüter der Zuschauer zu senken. Für einen Moment werden die Schleier zerrissen und entbergen eine Realität, deren Brutalität und Ausschweifung erst aus der Optik des Opernhaften sichtbar wird und zugleich nur aus dieser Perspektive zu ertragen ist. Dem entspricht ein Lustprinzip, das Libertinage und Wirklichkeit, trügerische Aufbrüche und künstliche Paradiese zu einem neuen Mysterium
33 http://m.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/richard-wagner/wagners-schoenste-stellen-17-parsifal-2-aufzug-2-szene-takt-733-12543105.html (letzter Zugriff am 29.8.2013). 34 Dazu Reschke 2012, S. 108-112.
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des Weiblichen verbindet. Wagners Heldinnen verkörpern und propagieren einen ambivalenten Frauentyp: Erotik und Bedrohung, Abhängigkeit und Zerstörung, Hingabe und Hörigkeit, Verführung und Macht, Sinnlichkeit und Vergeistigung, Liebes- und Todessehnsucht, Verzückung und Ekstase, Entrücktheit und raffinierte Unschuld. Facetten eines Frauenbildes, verstrickt in Widersprüchen. Ihre Gefährlichkeit erkannte Nietzsche und wusste sie als kongeniale Verkörperung der kranken Moderne zu sehen.
3 Marienbad schien eine Anzahl […] Rentiers und Banquiers sammt ihren Frauen, herübergesandt zu haben, auf allzu hoch gewölbten Busen prangte der üppigste Schmuck, leuchteten die kostbarsten Brillanten […] (Elisabeth Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsches, 1897)
Dass allen Wagnerianerinnen das Etikett der „hysterischen Mänaden“ anhaftete, galt schon 1907 Kulturhistorikern als „undelikates Gebaren“ (Fuchs/Kreowski, 1907, S. 192). Isodor Kastan, scharfzüngiger Berliner Kritiker, hat von den „Zukunftsmusik-Amazonen, sozusagen d[en] Walküren in Zivil“35 gesprochen. Was die Satire phantasiereich kolportierte, besaß aber Realität nur in der geistreichen Kritik, im Feuilleton, lebte aus der Feder der Journalisten und Karikaturisten. Oder existierte im kulturkritischen Universum Nietzsches, der sie als Kulturtyp inszenierte, als bildliches Rüstzeug, um des Pudels Kern des Wagner-Kultes transparent und zum Vehikel einer umgreifenden Attacke gegen die philisterhafte Kultur der Moderne zu machen. Dass diese Damen der ‚feinen‘ Gesellschaft nicht auf ihre Karikaturen zu reduzieren waren, war auch Nietzsche bewusst. Sie besaßen Einfluss, Geld und Macht, um im entscheidenden Moment die Geschicke Bayreuths maßgeblich zu dirigieren. Keineswegs nur als Gattinnen ihrer Männer. Sie stammten aus hohen und höchsten Kreisen des deutschen und europäischen Adels, der Geldaristokratie durch Geburt und Heirat zugehörig, sie waren Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Frauenrechtlerinnen – wie Helen Zimmern, die englische Schriftstellerin und Schopenhauer-Herausgeberin oder Malwida von Meysenbug – sie waren es, die sich mit ihrer Persönlichkeit, durch Geldspenden und Wohltätigkeitsveranstaltungen als unermüdliche Förderinnen für die Sache Wagners einsetzten und dem Projekt Bayreuth ihre Handschrift gaben. Mit Geld,
35 Zit. nach: Gregor-Dellin 1984, S. 653.
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ihrem Namen, mit Charme, mit Promotionaktionen, mit einem Netzwerk, diffizil verästelt, verlässlich, europaweit. Sogar die Großfürstin Helene von Russland ließ sich nicht lange bitten. Namenslisten lasen sich wie das Who is who der deutschen und internationalen High Society: „Eine gewisse exclusive Färbung läßt sich hier […] nicht wegleugnen“, vermeldete die Gartenlaube.36 Wie überhaupt die Presse ihre Namen und ihre Bedeutung für Wagner vor den Lesern ausbreitete und sich larmoyant eines Anflugs von Realitätssicht nicht enthalten konnte: „Die schönen Frauen schimmern wie Blumen, obgleich man nicht leugnen kann, es sind eine Menge welker Lilien mit künstlichen Rosen gefärbt darunter.“37 Wagner wusste ihren Einsatz in Bayreuth, Berlin, Wien, Paris, New York, St. Petersburg, für seine hochfliegenden Pläne zu schätzen. Prominente Namen waren: Marie Gräfin von Schleinitz, Pauline Fürstin Metternich, Marie Gräfin Dönhoff (verheiratet mit Bernhard Fürst von Bülow, dem späteren deutschen Reichskanzler), Gräfin Pourtalés, Hildegard Comtesse von Usedom, die französische Comtesse Gasparin, Gräfin Andrassy, Marie Gräfin Muchanoff, Großherzogin Elisabeth von Oldenburg (Tochter des Großherzogs Friedrich Franz II von MecklenburgSchwerin), Elisabeth Gräfin Krockow, Baronin von Meyendorf aus Weimar, Emma Marchese Guerrieri-Gonzaga, Frau von Bronsart, Madame Judith Catulle-Mendès (Schriftstellerin, Tochter Theophile Gautiers)38, Gräfin Coudenhove, Madame Laussot (die Frau des Ästhetikers Karl Hillebrand), Marie von Kalergis, die Frau des italienischen Ministers Minghetti. Cosima Wagner versammelte sie in Bayreuth und einige zählten zum „weiblichen Generalstab“, wie der weibliche Kern des Wagner-Managements von der Presse genannt wurde39 und gehörten zum sogenannten inneren Kreis, den engsten Vertrauenspersonen und Gesinnungsfreundinnen der Wagner-Familie.40 Sie waren nicht nur der „übliche Flor von Fürstinnen und Gräfinnen“ (Gregor-Dellin 1984, S. 603): Zusammen mit der Macht ihrer Männer gaben sie den finanziellen, politischen, kulturellen Background für Wagners Erfolge.41 Auch Schauspielerinnen und Sängerinnen gehörten dazu: Marie Seebach (Dresden), Clara Ziegler (München), Marie Keßler und Clara Meyer (Berlin). Und Marie Baumgartner (Fabrikanten-Gattin und erste Nietzsche-Über-
36 Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 34. 37 Wilhelm Marr in der Gartenlaube (1876). Zit. nach: Großmann-Vendrey 1977, S. 51. 38 Dazu Gregor-Dellin 1984, S. 558–560. 39 Zit. nach: Gregor-Dellin 1984, S. 54. 40 Dazu Schüler 1971, S. 93–132. 41 Als Gräfin von Schleinitz’ in Berlin aus der Götterdämmerung las, waren Prinz Georg von Preußen, der Kronprinz von Württemberg, Minister Rudolf von Delbrück, Bankier Bleichröder, Adolf von Menzel und die Professoren Lepsius und Helmholtz anwesend.
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setzerin ins Französische), Madame Schuré42, Luise Ott (Bankiers-Gattin), Mary Levi (Tochter des Kunsthistorikers Julius Meyer, Frau des Wagner-Dirigenten Hermann Levi, in erster Ehe verheiratet mit dem Kunsthistoriker Konrad Fiedler), Mathilde Wesendonck, Mathilde Maier – sie alle waren Wagnerianerinnen der ersten Stunde. Sie erwarben Patronatsscheine oder waren Mitglieder des Patronatsvereins, um das Projekt Bayreuth voranzutreiben und ihrer eigenen Exklusivität Ausdruck zu verleihen. Eine Avantgarde der besonderen Art. Deutsche, Österreicherinnen, Russinnen, Schweizerinnen, Französinnen, Engländerinnen. Wagnerianerinnen ante portas, jenseits karikierender Mystifikationen. Nietzsches Schwester erinnerte einen „Schwarm verehrender, schmachtender Frauen“ (Förster-Nietzsche 1897, S. 251) und fühlte sich nicht wohl in ihrer Nähe. Nietzsche selbst bediente sich ihrer Namen, um Bayreuth mit klangvollen Namen zu umgeben und um ihre Bekanntschaft für eine nicht uneitle Selbstpräsentation einzusetzen, um sich für Bayreuth zu profilieren und seiner ‚Bayreuther Passion‘ – ein Wort von Manfred Eger – auch personelle Gründe zu geben.43 Er verkehrte freundschaftlich oder stand im Briefwechsel mit ihnen, sah sie als Gäste in Bayreuth, die ihm das Gefühl von Nähe und Gleichgesinntheit gaben. Auch dann, wenn er sie nur aus der Ferne beobachtete und verehrte und sie bisweilen mit Spott und Häme bedachte. Viele Beziehungen überdauerten die Bayreuther Enttäuschung, hielten ein Leben lang. Sie entsprachen kaum dem, wie Nietzsche die Wagnerianerinnen als Kulturtyp imaginiert und in Szene gesetzt hat. In der Spannung zwischen Inszenierung und Realität liegt die Differenz zwischen Kulturrealität und Kulturkritik, Sein und Schein, Beobachtung und Reflexion. Eine von ihnen sei stellvertretend näher vorgestellt.
4 Marie Gräfin von Schleinitz hat sich durch ihre Wagner-Anhängerschaft einen Namen gemacht und verkörperte nach ihrer sozialen Herkunft den Typ der kulturell hoch gebildeten, adlig-begüterten, einflussreichen und emanzipierten Frau im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Ihr Selbstverständnis bestand darin, Wagnerianerin zu sein: sie aber in ihrer Bedeutung in und für ihre Zeit und Kultur darauf beschränken zu wollen, griffe zu kurz. Ein Fall für Pariser Psychologen
42 Dazu Nietzsches Brief an seine Schwester (KGB II/5, Bf. 545). 43 An Carl von Gersdorff schrieb er: „Ich höre, daß Frau von Muchanoff, Gräfin Krokow und Fr. von Meysenbug sich auch schon angemeldet [zur Grundsteinlegung in Bayreuth – R. R.] haben: ebenfalls Frau von Schleinitz“ (KGB II/1, Bf. 214).
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war sie ebenso wenig, wie Nietzsche dies seinen Wagnerianerinnen als ein sie bestimmendes Moment eingeschrieben hat (vgl. NL 1888, KSA 13, S. 407). Sie war vielmehr eine charismatische und selbstgewusste Frau. Über Marie Gräfin von Schleinitz-Wolkenstein-Trostburg (1842–1912; Abb. 12), Tochter des preußischen Diplomaten Ludwig August Freiherr von Buch hat Wagner gesagt: „Unumwunden bekenne ich, daß ohne die jahrelange mit stets erneuter Energie durchgeführte Werbung dieser gesellschaftlich so bedeutend gestellten, in allen Kreisen hochgeehrten Frau, an eine Aufbringung der Mittel zur Bestreitung der nötigsten Kosten bei der Unternehmung, an eine Förderung derselben nicht zu denken gewesen wäre. Unermüdet wie unverwundbar setzte sie sich dem Belächeln ihres Eifers, ja selbst der offenen Verspottung von seiten unserer so schön gebildeten Publizistik aus“, er sah sie als „Hauptkraft“ seines Bayreuther Vorhabens.44 Sie führte auch nach Wagners Tod die Unterstützung bei der Verbreitung seiner Ideen und Werke fort. Zudem verband sie eine tiefe Freundschaft mit Cosima Wagner. Für Nietzsche gehörte sie zu den Wagnerianerinnen, die er ob ihrer Nähe zur Wagner-Familie schätzte, weil sie sich ihrer Vertrautheit so sicher war, wie er selbst es nicht vermochte. Für ihren Brief vom April 1872 wollte er nicht selber danken und bat Carl von Gersdorff, ihr doch „gelegentlich mal recht schön [zu] danken“ (KGB II/1, Bf. 214). Distanz schien geboten. Die Gräfin hatte ihm mitgeteilt, sie sei von seinen „herrlichen Gedanken […] beherrscht“, durch sie sei ihr „eine neue, wunderbar reiche Welt aufgegangen“ (KGB II/1, Bf. 214). Sie sah sich mit Nietzsche einig, die Grundsteinlegung in Bayreuth wäre der „Anfang der erlösenden Kunst-Epoche“ (KGB II/1, Bf. 214). Die Gräfin war eine der bedeutendsten Salonnièren ihrer Zeit und die Grande Dame Berlins und Preußens: „blond, schlank, hochgewachsen, ein liebenswürdiges Lächeln auf den feinen Lippen, zeigte sie in ihrem gehaltenen Wesen den Typus der deutschen Aristokratin.“45 Sie galt als die „eleganteste und einflussreichste Frau in der Berliner Gesellschaft“ (Oriola 1937, S. 258) und wusste eine hohe Kultiviertheit mit politischer Liberalität zu verbinden. Zunächst als Ehefrau des preußischen Hausministers Alexander von Schleinitz, mit dem sie bis zu dessen Tod 1885 verheiratet war, ab 1886 als Ehefrau des österreichischen Diplomaten Anton Graf von Wolkenstein-Trostburg, lud sie in ihr Haus führende Köpfe des Berliner Hofes und des Bürgertums, Künstler, Musiker und namhafte Wissenschaftler zu geistreichen Gesprächen (mit Anna von Helmholtz war sie befreundet) und musikalischen Abenden und bemühte sich um eine „Verbindung zwischen der kultivierten Geburtsaristokratie und der wissenschaftlichen Geis-
44 Zit. nach: Fuchs/Kreowski 1903, S. 192. Siehe auch Schüler 1971, S. 127. 45 Zit. nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Marie_von_Schleinitz (letzter Zugriff am: 22.7.2013)
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tesaristokratie unter liberalem Vorzeichen“ (Wilhelmy 1989, S. 289). Sie agierte mit ihrem Salon, der sich in erster Linie dem kulturellen Leben verpflichtet sah, zugleich auf politischem Terrain. Ihr Salon galt wegen seiner gesellschaftlichen Offenheit als Vorreiter, „eine Bresche in die Exklusivität der Berliner Hofgesellschaft zu schlagen“ (Wilhelmy 1989, S. 276), was ihr Otto von Bismarcks grundlegende Abneigung und bleibenden Hass eingebracht hat. Man sah in ihren Gästen Kritiker und Gegner des ‚Eisernen Kanzlers‘ und seiner Politik. In der Tat waren es jene politisch gebildeten Intellektuellen, deren Opposition zur bismarckschen Reichspolitik kein Geheimnis war. Hoch gebildet, mit der Weimarer Klassik und Schopenhauer ebenso vertraut wie musikalisch begabt, besaß die Gräfin natürliche Grazie, gepaart mit ‚französischem Stil‘, war zu Hause auf preußischem wie internationalem diplomatischem Parkett, legte nicht nur großen Wert auf ein kunstgesinntes Publikum in ihrem Hause: es ging ihr um die Verbreitung der Musik und Gedankenwelt Wagners, einschließlich der finanziellen Absicherung seiner künstlerischen Großprojekte. Heinrich von Stein hat 1885 über sie geschrieben: „wirkte nur Jeder in seinem Kreise so vordringend tüchtig, wie die Gräfin in ihrem Bereich, so würde man bald die Früchte reifen sehen, weit und breit.“46 Dies tat sie in ihrem Berliner Salon, aber auch in St. Petersburg und Paris, wo sie das diplomatische Parkett ihres Mannes nutzte, für ihr Anliegen zu werben. Dazu spielte sie selbst Wagners Werke auf dem Klavier (Franz Liszt nannte sie die „Patronin der neuen Musik in Berlin“47) und beaufsichtigte in Bayreuth die Probenarbeiten. Sie war überzeugt, Wagners Kunst tauge zur generellen Erneuerung deutscher Kultur und könne der Weg aus der Misere der Gegenwartkultur sein. Sie warb, ihre Stellung, den Einfluss und die zugehörigen Netzwerke nutzend, bei der Finanzaristokratie, den Hofbeamten und beim Hof um offene Ohren und großzügige Geldbörsen für Wagner. Dass Kaiser Wilhelm I. 1876 zur Ring-Uraufführung nach Bayreuth kam, war ihrer Vermittlung zu danken. Modern gesagt, sie beherrschte das kulturelle Management ihrer Zeit. Marie von Schleinitz – eine Wagnerianerin und zugleich eine nicht unbedeutende Kulturmanagerin ihrer Zeit.
46 von Stein 1924, S. 14. Sein Beitrag zeigt national-germanisches Pathos: das Bild der Gräfin drücke eine germanische Größe aus, die bereits Tacitus an den Germanen bewundert habe. 47 Zit. nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Marie_von_Schleinitz (letzter Zugriff am: 22.7.2013).
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5 Der Richard-Wagner-Verband deutscher Frauen Was den Frauen der Hocharistokratie recht war, musste irgendwann den Frauen der sozialen Ober- und Mittelschichten billig werden. Nach Maßgabe ihrer finanziellen Möglichkeiten pilgerten auch sie nach Bayreuth. So blieb nicht aus – nachdem das Festspielunternehmen immer mehr Gelder benötigte, um das Unternehmen am Laufen zu halten und Stipendien an junge Musiker zu vergeben –, dass man sie für die Wagner-Erbe-Arbeit zu entdecken begann. Neben bestehenden männerdominierten Wagnerverbänden, studentischen Wagnervereinen, akademischen Wagnerzirkeln gründete man Frauenvereine, um die Ideen des Meisters zu verbreiten und mit Beiträgen, Spenden, Schenkungen und Auktionen die Stiftungsarbeit in Bayreuth zu unterstützen und deren Vermögen zu vergrößern. Einem Gründungsaufruf im Jahre 1908/1909 folgte am 13.2.1909 die Gründung des Richard-Wagner-Verbandes deutscher Frauen im legendären Palmengarten in Leipzig. In schneller Folge entstanden von Schlesien bis Bayern Frauenverbände mit teilweise anspruchsvollen Kulturprojekten und Geldzuwendungen. Die Bayreuther Blätter berichteten regelmäßig über Veranstaltungen, wachsende Mitgliederzahlen, die reichsweit mehrere tausend Frauen zählte, über die Höhe der Gelder, die bis zum Rechnungsjahr 1913/14 die Summe von 181158,77 RM erreicht hatte.48 Wer waren die Frauen in diesem Wagnerverband? Wagner-Begeisterte, aber Wagnerianerinnen im Sinne der Nietzscheschen Projektion? Weitgehend unbekannt die meisten von ihnen, wirkten sie ohne nennenswerten Prominentenbonus und zehrten vom finanziellen Renommee und der sozialen Stellung oder dem Beruf ihrer Ehemänner. Liest man die Namenslisten der Vorstände, so sind den Wagnerengagierten Frauen die Berufe oder Positionen ihrer Männer als Titel vorangestellt. Es waren Vertreterinnen der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht, akademischer, militärischer und wirtschaftlicher Kreise und der regierungstreuen Beamtenschaft, die in die Vorstände gewählt wurden: Frau Landrat, Frau Geheimrat, Frau Kommerzienrat, Frau Landgerichtsrat, Frau Oberpostdirektor, Frau Oberbürgermeister, Frau Oberst. In selteneren Fällen Frau Rittmeister, Frau Baronin oder gar Königliche Hoheiten. Letztere waren zumeist Schirmherrinnen, deren Gunst und adlige Hand den Benefiz-Veranstaltungen der Verbände den notwendigen Glanz geben sollten.49 Das Ganze war im öffentlicheren sozialen Raum angesiedelt und
48 Dazu Bayreuther Blätter 1914, S. 317. 49 Braunschweig: „Das Ihrer Hoheit der Frau Herzogin angetragene Protektorat nahm die hohe Frau huldvollst an“ (Bayreuther Blätter 1911, S. 67); Nürnberg; „Gräfin Ottilie von Faber-Castell zu Stein übernahm den Ehrenvorsitz“ (Bayreuther Blätter 1910, S. 242).
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auf Breitenwirkung bedacht. Auf zwei Frauen sei stellvertretend ein Blick geworfen, soweit es die Quellenlage erlaubt: auf Anna Held und Agnes Oehler. Federführende Initiatorin des Richard-Wagner-Verbandes deutscher Frauen war Anna Helene Emilia Held (26.4.1855–30.3.1937), Musiklehrerin in Leipzig und unermüdliche Wagnerianerin. Sie hat Wagners Idee aufgegriffen, sein Werk für ein interessiertes Publikum in Bayreuth kostenlos aufzuführen. Bereits 1882 hatte Wagner über seine Frau Cosima Friedrich von Schoen gebeten, eine Stipendienstiftung zu gründen. Jahrelang setzte von Schoen sich für den Plan ein: ohne den erwarteten Erfolg. Anna Helds Gedanke, viele kleine Beiträge durch große Mitgliederzahlen einzuholen, erwies sich dagegen als erfolgreich. Durch Sammlungen, Jahresbeiträge und Kulturveranstaltungen (Musikabende, Vorträge) wollte man der Stipendienstiftung „neue Geldmittel [zuführen]“ (§ 1) (Bayreuther Blätter 1910, S. 241). Nachdem sich Kronprinzessin Cecilie von Preußen bereit erklärte, Schirmherrin zu werden50, war der Weg offen, in allen größeren Städten Ortsverbände zu gründen. Der letzte Paragraph der Satzung, der Verband solle nach der Hundertjahrfeier für Wagner 1913 seine Tätigkeit einstellen und sich auflösen, wurde nicht eingehalten, die Verbände existierten weiter. Anna Held, ohne den Hintergrund gutbürgerlicher Herkunft oder Heirat (über sie gibt es nur vage Informationen: sie hat wohl privaten Musikunterricht gegeben und war an keiner Schule angestellt51) wurde nach der Gründung des Verbandes52 und der Konstituierung des Hauptvorstandes unter ihrer Federführung am 26.5.1909 in Leipzig zur Ersten Schriftführerin gewählt und in dieser Position in den Folgejahren mehrfach bestätigt. Sie wirkte fünfzehn Jahre für den Wagner-Verband deutscher Frauen. Auch als sie 1920 von Leipzig nach Bonn zog53, blieb sie für den Verband tätig. Da war sie deren Schatzmeisterin. 1924 wurde sie aus dem Amt verabschiedet. In Abwesenheit hat ihr die 11. Hauptversammlung 1923, „da sie leider nicht
50 „In vielen anderen Städten hat eine eifrige Werbetätigkeit eingesetzt. Getragen von der Ueberzeugung, dass Ihre Kaiserliche und Königliche Hoheit die Frau Kronprinzessin des Deutschen Reiches allen idealen Zielen der Frauenwelt mit Interesse folgt, hatte der Vorstand es gewagt, Ihre Kaiserliche und Königliche Hoheit um gnädige Uebernahme des Protektorats zu bitten; diese Bitte wurde am 3. Februar [1910 – R. R.] in huldvollster Weise erfüllt“ (Bayreuther Blätter 1910, S. 242). 51 Nach Auskunft des Stadtarchivs Leipzig. Für die Informationen danke ich Herrn Olaf Hillert. 52 Im Sächsischen Staatsarchiv (Staatsarchiv Leipzig) liegt die Vereinsregisterakte (20031, Polizeipräsidium Leipzig. PP-V-604), nach der der Verein 1909 gegründet, 1914 ins Vereinsregister eingetragen und 1948 daraus gelöscht worden ist. 53 Auf Anfrage des Königlichen Amtsgerichts Leipzig teilte das Polizeiamt der Stadt am 24.10.1926 mit, dass die „ledige Musiklehrerin Helene Emilia Anna Held, geboren am 16.4.1855 in Leipzig […] am 29.9.1920 nach Bonn, Koblenzerstr. 237 abgemeldet worden“ sei (Für die Überlassung der Dokumentenkopie danke ich dem Sächsischen Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig, Frau Roswitha Franke).
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an der Tagung teilnehmen konnte“54 die notwendige Entlastung erteilt. Die 12. Hauptversammlung dankte ihr am 24.7.1924: Es ist ihr ein herzliches Bedürfnis, Frl. Held, die ihr Amt als Schatzmeisterin nun niederlegt, an dieser Stelle herzlichst im Namen Aller zu danken für alle Begeisterung und Hingabe, mit der sie den Verband ins Leben gerufen hat, für alle Treue und Liebe, mit der sie sich für ihn gemüht und gearbeitet hat. Der Hauptvorstand bittet Frl. Held, ihm als Ehrenmitglied anzugehören, an Stelle der leider so früh von uns geschiedenen, unvergeßlichen Exzellenz von Chelius. Sie spricht die Hoffnung aus, Frl. Held möchte noch lange Zeit mit ihrem bewährten Rat helfen […] Kein Widerspruch, Vorschlag somit angenommen (Bayreuther Blätter 1924, S. 97).
Eine verdiente späte Ehrung. Bis zu ihrem Tod 1937 hat sie im Langenbach-Stift in Bonn gelebt, einer Heimstätte für Musikerwitwen und Musiklehrerinnen.55 In Düsseldorf gründete Frau Oberbürgermeister Dr. Agnes Oehler (1.6.1861– 21.3.1934) – nachdem sie mit ihrem Mann von Krefeld aus am 20.2.1911 nach Düsseldorf gezogen war – einen Monat später, am 25.3.1911 den Ortsverband des Richard-Wagner-Verbandes deutscher Frauen und wurde dessen Erste Vorsitzende. Der geschäftsführende Vorstand bestand aus sechs Frauen, von denen außer Frau Oehler zwei Frauen Rittmeister, eine Frau Kommerzienrat und zwei ohne Titel waren. Im zwanzigköpfigen Ehrenvorstand war nur eine Frau titellos: der Ehrenvorstand war das genaue Spiegelbild der Honoratioren der Stadt: Kommerzienräte, Geheimräte, Landräte, Regierungspräsidenten, Landesgerichtsräte, Oberforstmeister, Oberpostdirektoren und als Excellenzen anzusprechende (wie ausdrücklich vermerkt) hohe Militärränge. – Agnes Oehler (geb. Hilmer)56 war die Frau von Adalbert Oehler jun. (1860–1943). Dieser, ein promovierter Verwaltungsrechtler und Mitglied des preußischen Herrenhauses, war von 1911 bis 1919
54 Bericht über die 11. Hauptversammlung des Wagner-Verbandes deutscher Frauen. In: Bayreuther Blätter 1923, S. 100. 55 Für die Information danke ich dem Stadtarchiv Bonn, Frau Sabine Arens. Das LangenbachStift geht auf eine Idee von 1884 zurück, als sich unter dem Namen Mildwida ein Verein gegründet hatte, mit dem Ziel, mittellose Angehörige verstorbener Musiker finanziell zu unterstützen. Juristisch ging daraus 1903 die Mildwida-Stiftung hervor, geführt von der Frau des Dirigenten Julius Langenbach, Elise Langenbach, die nach dem Tode ihres Mannes in seinem Sinne und unter seinem Namen das Haus in der Koblenzerstr. 237 bauen ließ. 56 Laut mikroverfilmter Einwohnermeldekartei (Film 7-4-0-14.0000) Düsseldorf. Für die Information danke ich Frau Klaudia Wehofen vom Stadtarchiv Düsseldorf. Der Richard-WagnerVerband Düsseldorf gibt auf seiner Homepage den Vornamen Adelheid an, der jedoch falsch ist (http://www.yumpu.com/de/document/view/4908470/richard-wagner-verband-ortsverbandduesseldorf-e-v-eine-; Zugriff: 4.7.2013). Möglicherweise lag eine Verwechslung mit der Tochter Adelheid Oehler (geb. am 13.11.1894 in Magdeburg) vor.
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Oberbürgermeister von Düsseldorf. Er war ein Vetter Nietzsches und ab 1893 dessen gesetzlicher Vormund.57 Sie stammte aus dem Mansfeldischen und war die Tochter eines Bergbauunternehmers. Beziehungen nach Weimar ergaben sich nicht nur familiär und besuchsweise, sondern vor allem aus der Tatsache, dass Adalbert Oehler zunächst die Villa Silberblick gekauft hatte und später an den Arbeiten des Nietzsche-Archivs beteiligt war. Ob und in welchem Rahmen mit Elisabeth Förster-Nietzsche auch über Richard Wagner gesprochen wurde, bleibt spekulativ, da Angaben dazu fehlen. Anna Held und Agnes Oehler haben sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts für die Breitenwirkung Wagnerscher Musik und Ideen eingesetzt und repräsentierten einen Typ von Wagnerianerinnen, der Nietzscheschem Erfindungsgeist widersprach, da sie auf gutsituiertem gesellschaftlichem Boden, der Position des Ehemannes entsprechend, standen, der sie zur öffentlichen Charity-Arbeit verpflichtete oder die beruflich und finanziell für ihr Leben selbständig einstehen konnten. In bürgerlichen Strukturen und in deren Werten lebend, boten sie nicht das Bild exaltierter hysterischer Frauen, die außer sich gerieten, wenn der Name Wagner nur genannt wurde. Bayreuth war für sie in erster Linie kein Ort psychologischen Außer-sich-Seins oder sozialer Imagepflege, sondern viel eher ein Ort der Bildung durch Kunst (Musik). Wie überhaupt der Bildungsgedanke im Vordergrund stand. Man darf davon ausgehen, sie haben den Paragraphen 1 der Satzung ihres Verbandes ernst genommen im Geiste Wagners wirken zu wollen. Was Nietzsche in Richard Wagner in Bayreuth noch positiv formuliert hat: „die Fürsten und Frauen, welche halb mit Scheu, halb mit Liebe an seinen Plänen Theil nahmen […]: Alles wurde allmählich zum Echo seines Gedankens, seines unerbittlichen Strebens nach einer zukünftigen Fruchtbarkeit“, man trage den gewaltigen Ton mit „übermächtige[m] Nachklang“ „hundertfältig in die Welt“ (WB, KSA 1, S. 499), für sie war es grundlegende Handlungsmotivation. Die Frauen der Wagner-Verbände waren (auch unabhängig von den Berufen ihrer Männer) Vertreterinnen eines Bildungsbürgertums, das sich einer im Politischen wie im Wirtschaftlichen gleichermaßen gegründeten Existenz sicher sein konnte. So wirkten sie kulturell aus einer Position solider Wertestabilität, mit der eine Exklusivität verbunden war, die sie heraushob aus der Masse der nur WagnerInteressierten. Die aber mehr war als bloße Attitüde oder inszenierte Geste. Für einige war sie größter Lebensinhalt, wenn auch darüber die profaneren Anforderungen des Lebens nicht vergessen wurden: Frauen, die sich ihrer relativen kulturellen Macht bewusst waren und sie institutionell präsentierten. Sie zelebrier-
57 Dazu Lilla 2000 und http://www.yumpu.com/de/document/view/4908470/richard-wagnerverband-ortsverband-dusseldorf-e-v-eine- (Zugriff: 4.7.2013).
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ten keine Teekränzchen-Ästhetik58 oder Pseudobeschäftigungen für gelangweilte Gattinnen, sie waren keine Psychologenfälle: Sie waren eine aufgabenbewusste Klientel, mit der in der Wagner-Welt zu rechnen war.
6 Nietzsches Wagnerianerinnen also eine bloße Erfindung jenseits der Realität begeisterter und engagierter Frauen? Seine Zerrbilder bloße Projektionen ins Fragwürdige und Karikaturhafte? Der Kulturkritiker wusste sehr wohl, dass seine Bilder wenig kompatibel waren mit den in der realen Kulturszene agierenden Wagnerianerinnen. Er kannte sie aus unmittelbarer Erfahrung. Die Zerrbilder, die er, in Übereinstimmung mit den Karikaturen der berichterstattenden Beobachter in Bayreuth59, gegeben hat, sollten nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern die ver(über-)zeichnete Realität ließ sich zu einer Kulturkritik der Moderne verallgemeinern, auf den Punkt ihrer ‚inneren Not‘ bringen, um ihre Gebrechen scharf herauszustellen. Vor allem Hanslicks Wagner-Kritik ausbeutend, bündelte er sie und machte ihre ‚Stichworte‘ zu ‚Stichwaffen‘ (Eger 2001, S. 325). Dass diese Moderne in ihrem Kern verweichlicht, verweiblicht, darin sah er ihr großes Dilemma, ihre eigentliche Krankheit. In Bayreuth glaubte er Symptome dafür entdeckt zu haben und zugleich deren Verursacher: Wagner verweibliche, verweichliche, vermittelmäßige, mache krank. In ihm den kranken Romantiker zu sehen, wie in Menschliches, Allzumenschliches II, glich einer Schuldzuweisung, für die werteverfallende Situation moderner Kultur verantwortlich zu sein, ihr durch seine Musik Ausdruck zu verleihen, sie durch ihre Wirkung festzuschreiben. Dem „Femininischen und Schwärmerisch-Zuchtlosen […] der Gewissens-Verweichlichung“, die dem „modernen Menschen zur Begeisterung übrig“ (MA 2, KSA 2, S. 372) geblieben sind, zu widerstehen, gab es in Bayreuth keine Bereitschaft. Man ergab sich genussvoll-süchtig dem Unwiderstehlichen. Dafür waren Wagnerianerinnen, unter der Optik des Kulturkritikers gesehen, exemplarisch und symptomatisch. Insofern konnte Nietzsche mit Recht in Wagner „eine Krankheit, […] eine öffentliche Gefahr“ und Bayreuth als „Werth-Problem“ (NL 1888, KSA 13, S. 513) sehen. Und Wagnerianerinnen als seine willfährigen Opfer. – Wagner als kongeniale Verkörperung der Moderne, ein Glücksfall für Nietzsche als Kulturkri-
58 So hat Karl Rosenkranz die biedermeierliche Szenerie beschrieben (Rosenkranz 1990, S. 9). 59 Ferdinand Avenarius im Kunstwart über Der Fall Wagner: es sei bedauerlich, „daß Friedrich Nietzsche diesmal wie ein Feuilletonist geschrieben hat“ (Kunstwart 1888, S. 52–56, zit. nach Janz III, 1979, S. 305).
Nietzsches Wagnerianerinnen
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tiker. Wagner der Schauspieler, Krankmachende, Kranke, Verführer, Demagoge, Virtuose, décadent, Überhitzt-Sinnliche, Weibliche und Nervöse, Geschmacksverderber und Scheinerlösende, der Raffinierte, Leben-Schädigende: die ganze Palette seiner Eigenschaften, die Nietzsche im Fall Wagner aufzählt, um an ihm die Moderne in ihrem Kern zu begreifen: „Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache“; an ihm offenbaren sich die Werte moderner Kultur, weil er die Modernität in sich zusammenfasse (WA, KSA 6, S. 12). Wagnerianerinnen, wie Nietzsche sie sich entwirft, spiegeln genau diese Eigenschaften. Nietzsches Reflexionen erheben die Wagnerianerinnen zu einem Kulturtyp, der für ihn eine vergleichbare Erkenntnistiefe besitzt wie sein Blick auf den Bayreuther Meister. An ihnen ist ihm aufgegangen, ihre Verhaltensweisen seien der Spiegel genereller Verhaltensauffälligkeiten des modernen Menschen: „Das Gehen Stehen und sich Bewegen, die Form der Geselligkeit […] die Künste der Frauen: alles, alles worin frühere Zeiten den Leib gebildet haben und zum Spiegel schöner und großer Bewegungen gemacht haben, ist ganz verkommen“ (NL 1875, KSA 8, S. 260). Ihre Nervosität, Reizbarkeit, Hysterieanfälligkeit, ihre Reizbedürftigkeit und Hang zur Selbstaufgabe, ihr Suchtverhalten, ihre Erschöpfungen, physiognomischen, physiologischen und psychologischen Zustände geben Einblicke in die Seelenlandschaft einer ganzen Epoche. Werteverfall, Werteumbrüche, sich auflösende kulturelle Sicherheiten prägen das moderne Leben, bedürfen neuer Haltepunkte oder Scheinsicherheiten, die in sinnen-überflutenden Kunsterlebnissen à la Wagner gesucht und gefunden werden. Angebote, die die überforderten Wahrnehmungsund Lebensstrategien entlasten und eine neue Richtung geben sollen. Nietzsche hat seine Schlüsse gezogen: dem mürben Geist bleibe der narkotisierende Sinnesrausch, der in den Abgrund zieht und dem Zeitalter seinen nihilistischen Wertehaushalt festschreibt und eine Lebenswelt, in der man sich einrichtet, in der es nicht mehr um kritische Selbstreflexion der freien Geister geht, nicht um Selbstbestimmung durch Kunst und in ästhetischen Kontexten, sondern allein um den status quo der bestehenden Philister-, das heißt Scheinkultur mit ihren Beweihräucherungen und Verdammungen, „Stumpfsinn oder Rausch! Einschläfern oder betäuben!“ (WB, KSA 1, S. 463). So des Philosophen Unterstellung, die er am Exempel der Wagnerianerinnen zur Kulturkritik hochgefahren hat. Gegen jede Schöndenkerei hat er ein Ethos des Unbehagens, des Zweifels, des Ekels philosophisch kultiviert und in desillusionierenden Bildern ästhetisch wertender Differenz gezeichnet. Immer eingedenk des Inszenierungsmoments des Kulturtyps der Wagnerianerinnen, das jeder soziologischen Genauigkeit und Verifizierbarkeit entgegensteht, ausweicht und nicht einmal beansprucht. Kulturkritik geht über Soziologie hinaus, will eine Genauigkeit anderer Ordnung, die, unbeschadet der offensichtlichen Differenz zur Realität, an seinem Bild der Wagnerianerinnen wort- und bildmediale Realität geworden ist.
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Abb. 1: Adolf Wilette: „Ohé les Wagneriens …“. Le Courrier français (1891). Aus: Eduard Fuchs/Ernst Kreowski: Richard Wagner in der Karikatur. Berlin 1907.
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Abb. 2: Adolf Oberländer: „Fliegende Blätter“ (1880). Aus: Eduard Fuchs/Ernst Kreowski: Richard Wagner in der Karikatur. Berlin 1907.
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Abb. 3: Honoré Daumier: „In München. Nach einer Stunde verordneter Wagner-Musik“ (1868; Detail). Aus: Stiftung „Brandenburger Tor“ (Hg.): „Daumier ist ungeheuer“ (Max Liebermann). Gemälde, Zeichnungen, Graphik, Bronzen. Katalog. Berlin 2013.
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Abb. 4: „Der Tannhäuser in Berlin“ (Kladdera-
Abb. 5: Bruno Paul: „Der Tenor im Salon – ‚Ihre
datsch 1856; Detail). Aus: Eduard Fuchs/Ernst
Hingebung soll belohnt werden, das nächste
Kreowski: Richard Wagner in der Karikatur.
Mal komme ich als Lohengrin‘“ (Simplizissimus).
Berlin 1907.
Aus: Eduard Fuchs/Ernst Kreowski, Richard Wagner in der Karikatur. Berlin 1907, S. 231.
Nietzsches Wagnerianerinnen
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Abb. 6: Aubrey Beardsley: „In Tristan und Isol
Abb. 7: Aubrey Beardsley: „The Comedy of Rhi-
de“. Aus: Eduard Fuchs/Ernst Kreowski, Richard
negold“ (Fourth Tableau). Aus: Herbert Barth
Wagner in der Karikatur. Berlin 1907.
(Hg.): Richard Wagner und Bayreuth in der Karikatur und Anekdote. Bayreuth 1970, S. 9.
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Abb. 8: Olaf Gulbranson: „Von den Wagnerfest-
Abb. 9: „Therese Malten als Brünnhilde“ (mit
spielen in München“ (Simplizissimus). Aus:
Brustpanzer, Helm, Schild und Speer) (Rollen
Eduard Fuchs/Ernst Kreowski: Richard Wagner
fotographie um 1885, Atelier des Hof-Photo
in der Karikatur. Berlin 1907, S. 232.
graphen Wilhelm Höffert, Dresden). Aus: Musikantiquariat Dr. Ulrich Drüner (Stuttgart): Zwei Genies im Zeitalter des Nationalismus – Richard Wagner und Giuseppe Verdi zum 200. Geburtstag. Bd. 1 Richard Wagner, Katalog 70, Juni 2013, S. 85.
Nietzsches Wagnerianerinnen
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Abb. 10: Siegfried (2. Akt). Walküren (I) (1896; Detail; Privatbesitz).
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Renate Reschke
Abb. 11: Siegfried (2. Akt). Walküren (II) (1896; Detail; Privatbesitz).
Nietzsches Wagnerianerinnen
Abb. 12: Franz von Lenbach: Marie Gräfin von Schleinitz (Öl auf Leinwand). (1873; Detail).
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Elke Wachendorff
Affektökonomien: Großer Stil und Niedere Heilkunst Nietzsche contra Wagner
Musik als Sprache der Affekte: für Nietzsche ein komplexer und wohl durchdachter Gedanken- und Problemzusammenhang, dessen Bedeutung und Implikationen sich der Nachwelt heute erst schrittweise erschließen. Man veröffentlicht nicht umsonst ganze drei Werke, Pamphlete, Polemiken zu einer Problematik: diese hatte in Wagner für Nietzsche ihren deutlichsten, schillerndsten, greifbarsten Fokus gefunden, einen Höhepunkt und deutlichen Prototyp zugleich, dessen Rolle daher nicht im engeren Sinne nur persönlich, allein privat gewertet werden kann. Dies wäre auch gar nicht möglich gewesen: Wagner war hierfür durch und in Bayreuth eine viel zu öffentliche Institution geworden. Eine präzise Reflexion auf Nietzsches Affektphilosophie, sein Konzept der Affekte klärt bereits auf: es geht um ein philosophisches Gedankenmodell, ein Szenario, eine Dramaturgie, von ihm entworfen, um das Intendierte im Grenzbereich des noch Aussagbaren denkbar und hörbar zu machen.1 Wenn Nietzsche in JGB noch von der „Naturgeschichte der Moral“ zu sprechen vorgibt (so die Überschrift des „fünften Hauptstückes“, JGB, KSA 5, S. 105), setzt er das Wort „Natur“ im anschließenden Text in Anführungszeichen (vgl. JGB, KSA 5, S. 108f.), um dann in der GM von der Entwicklungsgeschichte ihrer Vorstellungen als Genealogie zu sprechen. Die Geschichte der Moral ist ihm als Geschichte der Affekte und deren Management: Kulturgeschichte. Aus dieser Einschätzung ergeben sich zwei unterschiedliche Fragerichtungen und Perspektiven: einerseits der Rückgang, die Rückwicklung hinein/zurück in die historische Entwicklung der Interpretationsprozesse; andererseits (dennoch) die Frage nach einem inhärenten Impuls, Annäherung an einen Grund und Ursprung, doch ersten Natur, woraus die Entwicklung sich erschließen ließe, aller Kultur vorgängig und inhärent doch präsent denkbar. Die zweite Frage führt Nietzsche in die Philosophie des „Willens-zur-Macht“: die einzige „Natur“ welcher er im Auftakt aller „Kultür
1 Nietzsche selbst spricht nicht von einer „Trieblehre“, sondern von „Psychologie (Affektenlehre) als Morphologie des Willens zur Macht“ (NL 1888, KSA 13, S. 214), wobei „Affekte“ nicht unmittelbar mit der Vorstellung von Trieben gleichzusetzen sind (vgl., NL 1888, KSA 13, S. 222f.).
Affektökonomien: Großer Stil und Niedere Heilkunst
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lichkeit“2 doch nahe kommen kann. „Wille-zur-Macht“ ist hier grundsätzlich sein Signet für Leben, organische Prozesse, Energie als Wille, Kraft und Vektor zu Steigerung, Wachstum, Aufbau, zu Organisation, Konzentration. Es ist das Signet für energetische Aufwerfung und Aufspannung als Ektropie, im Gegenzug zur Dissipation und Nivellierung aller anorganischen und kosmischen Energie als Entropie. Gegen Nivellierung und Ausgleich energetischer Differenzen in der summarischen Energieerhaltung des 2. Satzes der Thermodynamik setzt Nietzsche zu dessen naturgemäßer (polarer) Ergänzung das Prinzip energetischer Differenzaufspreizung, Energiekonzentration, Energieaufspannung und -steigerung, das damit aller Entropie gegenläufige Prinzip des Lebens/des Lebendigen. In dieser Fragestellung fokussiert sich Nietzsches besonderes Interesse an naturwissenschaftlichen Studien (siehe dazu Wachendorff 2005 und Wachendorff 2006). Hierbei geht es ihm keineswegs darum, eine neue/alte Metaphysik zu entwerfen oder fortzuführen, sondern ganz anders darum, das Prinzip das Lebens/des Lebendigen in die Gesetze der Physik einzutragen. Doch gehen wir hier der ersten der genannten Fragen nach. Affekte und Moralen stehen als Kulturprodukte im Plural und in der Kontingenz, sie führen Nietzsche zu „Versuche [n], die wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser lebenden Krystallisation anschaulich zu machen, – als Vorbereitung zu einer Typenlehre der Moral“ (JGB, KSA 5, S. 105), letztlich reduzierbar auf ein Kernproblem: „kurz, die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte“ (JGB, KSA 5, S. 107). Bereits als Leipziger Student hatte Nietzsche in der Auseinandersetzung mit seiner neu entdeckten Schopenhauer-Lektüre die ihn bedrängende Fragestellung nach der rechten Wahl in einem Brief an die Mutter vom 5. November 1865 zwischen „zwei Wege[n]“ gestellt: „seinen Geistesdocht so niedrig wie möglich geschraubt“ halten, oder materielle „Enthaltsamkeit, […] nach den strengen Forderungen des ursprünglichen Christenthums, nicht des jetztigen, süßlichen, verschwommenen. Das Christenthum läßt sich nicht ‚mitmachen‘ so en passant oder weil es Mode ist“ (KGB I/2, Bf. 486; vgl. Janz 1981, Bd. 1, S. 180f.). Dieses typologische Schema wird Nietzsche in Gestalt affektökonomischer Grundtypen durchgehend beibehalten und ausbuchstabieren.
2 „Nirgendwo und nirgendwann fanden oder finden wir den natürlichen Menschen, sondern stets den kultürlichen. Von der jeweiligen Kultürlichkeit eines Menschen ist jeweils sein Eigenwert bestimmt“ (Wimmer, 1988, S 148).
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Elke Wachendorff
1 A ffektökonomien und ihre Heilkünste: „Niedere Heilkunst“ Der Entwurf einer bestimmten Moral korreliert nach Nietzsche mit einer bestimmten Affektökonomie, einer Haushaltung und Bilanzierung affektivenergetischer Gewinne und Verluste, ganz gleich wie diese bewusst geschehe, kurz- oder langfristig intendiert oder reflektiert angelegt sei. Durch jeweilige Aufwertungen und Abwertungen individueller/kollektiver Affektökonomien und Affektbilanzierungen gestaltet und berechnet, sind einem Affektmanagement dabei durchaus mehrere Möglichkeit eröffnet: so eine abwertende Praxis bis in die totale Ausgrenzung und Verneinung zu radikalisieren, und derart in Gewalt und Vernichtung zu führen; oder auch eine aufwertende Praxis in die totale Eingrenzung und Überhöhung, Abhebung zu führen, damit dann ebenfalls in wahrnehmungslos gewaltsamen Verhältnissen zu münden. Diese zwei Varianten bilden für Nietzsche bemerkenswerterweise die zwei Seiten ein und desselben affektökonomischen Modells. Zum anderen aber eröffnet sich auch die Option, durch ein Management der Intensivierung und Steigerung von Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Präzision und Scharfsinn eine Strategie der Selbstbefreundetheit und Offenheit zu praktizieren und diese zu maximaler Blüte und Fruchtbarkeit zu führen.3 Methoden der „Triebhemmung“ als Mittel affektiver Haushaltung werden per se von Nietzsche keineswegs grundsätzlich nur negativ begriffen, ganz im Gegenteil: im Sinne gezielter Konzentration, Fokussierung und Organisation zur Steigerung sind diese – als Mittel des Apollinischen Elementes – immer wesentlicher Bestandteil und haben immer auch eine zweite Seite aufzuweisen. Hier war zugleich „auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Räthselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles gegeben“ (GM, KSA 5, S. 323).4 Zukunftsvoll, da in der transformatorischen, transfiguratorischen Tätigkeit auch das Potential zu unvergleichlichen Höhenflügen liegt: „Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die ‚Natur‘, auch gegen die ‚Vernunft‘: das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müsste denn selbst schon von irgend einer Moral aus dekretiren, dass alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei“ (JGB, KSA 5, S. 108). Und auch eine solche Moral müsste sich befragen lassen nach ihren Interessen und Methoden. Der vielzitierte Satz „dass der Mensch das noch nicht festgestellte Thier“ (JGB, KSA 5, S. 81)
3 Dies sind nota bene auch für Nietzsche Eckpfeiler, Grenzmodelle: Für jedes konkret praktiziertes Affektmanagement spielen offensichtlich immer mehrere Aspekte und Optionen eine Rolle. 4 Hier wiederholt sich der Gedanke der Vermittlung zur „Thierseele“; vgl. GM, KSA 5, S. 291.
Affektökonomien: Großer Stil und Niedere Heilkunst
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sei, findet hier seinen ersten Sinn als „Halbthier-Armuth“ (JGB, KSA 5, S. 80): eine quantitativ bislang nur halb vollzogene Strukturentfaltung. Dessen zweiter Sinn bedeutet zugleich Halbtier-Reichtum, welcher die Offenheit der Optionen freilegt, als deren letztliche Vollendung dann Nietzsches „Übermensch“ begriffen werden könnte. In der GM wird die interpretative Ausgestaltung der neuen Dimension des „Seelenraumes“ (GM, KSA 5, S. 321ff.)5 erklärt aus der affektökonomischen Entscheidungsoption. Im historischen Rückblick folgt das christliche Abendland für Nietzsche der Option der affektökonomischen Praxis der Einschließung und Ausschließung, Aufwertung und Abwertung, und führt schließlich zu einer „Kriegserklärung gegen die alten Instinkte“ (GM, KSA 5, S. 323). So kommt es zunächst zu Überziehungen: dem Pakt von Christentum und Römisch-imperialem Herrschaftsdenken gilt in diesem Entscheidungsspiel letztendlich Nietzsches Angriff: „die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung – Alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des ‚schlechten Gewissens‘“ (GM, KSA 5, S. 322), zugleich der Ursprung latenter, abgedrängter, aufgestauter Energien, funktionalisierbar für vielfältigste Entladungsformen. Pandorabüchsen unter mühsam gehaltenen Deckeln. Andererseits und zugleich sekundiert hierbei eine Überhöhung in Vertröstungen und Fluchtphantasien aus den Bedrängnissen eben dieser DiesseitsMisere in ein Jenseits, in Utopien, Erlösungsphantasien.6 Für Nietzsches Einsicht und Erkenntnis in die Entwicklungsgeschichte des abendländischen – christlichen – Menschen hat das Wechselspiel dieser zwei Varianten Geschichte gemacht, Geschichte geschrieben, in die Menschen eingeschrieben, eine Geschichte endloser Grausamkeiten, der offenen wie subkutanen reaktiven Gewalt und Brutalität. Der Preis, der für solche Radikalisierungen vornehmlich individuell zu zahlen ist, ist beträchtlich. Die gezielten Ausgrenzungen und Hemmungen von Triebenergien wenden sich so überschießend wie maßlos „rückwärts, gegen den Menschen selbst“ (GM, KSA 5, S. 322), sie werden reaktiv, destruktiv und gewalttätig; sie suchen Fluchträume und Projektionsflächen. „Mit ihm aber war die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich“ (GM, KSA 5,
5 Vgl. NL 1874, KSA 7, S. 830f.; JGB, KSA 5, S. 205. 6 Unausweichlicher Kern auch einer jeden metaphysischen Haltung, Erstarrung zu magischarchaischen Wahrheitsglauben und Glaubensmächten. Eine Entscheidungshandlung dieses Typus wurde nach Nietzsche zum ersten Male in der abendländischen Geschichte im „sokratischen“ Griechentum getätigt (NL 1875, KSA 8, S. 105); sie prägte seitdem die Entwicklung der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte, um schließlich in der Philosophie Schopenhauers (wie in dessen Counterpart E. Dühring zugleich) zu ihrem Höhepunkt, damit zu sich und zu ihrer Wahrheit zu gelangen (siehe dazu JGB, KSA 5, S. 74ff.).
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S. 323; vgl. GM, KSA 5, S. 310). Die Nietzschesche Wendung von der „Sklavenmoral“ betrifft allem voran diese Verinnerlichung zu einer Moral der Selbstversklavung und Selbstunterjochung. Dass die Strategie der Implementierung reaktiver Affektökonomien genutzt werden kann und weidlich konnte, um Herrschaftsansprüche zu etablieren, zu institutionalisieren, durchzusetzen, bedeutet dann nur noch einen weiteren und durchaus naheliegenden Schritt: gesellschaftliche und politische Versklavung durch internalisierte Selbstversklavung wird zu einem optimalen Schachzug konkreter Macht- und Gewaltentfaltung. Ist das selbstverständliche Vertrauen in das leibliche affektive Geschehen derart gebrochen, zerstört, steht sklavischer Gehorsam zu Gebot, ist die Entscheidung zwischen Kooperation und Rivalität, Einschließung und Ausschließung aktuell bereits determiniert. Hier wird dem Geist der Leib zum Feind, die „kleine Vernunft“ zum Verächter und despotischen Beherrscher der „großen Vernunft“ des Leibes.7 Hier wird ektropische Lebenskraft pervertiert, hier werden Wachstum und Aufspreizung, Aufwerfung verkehrt in nur bedingte, relative Erhöhung durch Methoden der Erniedrigung, der Unterdrückung, der Vernichtung, der Gewalt: und damit durch Prozeduren der Entropiemehrung8, nicht der Ektropiesteigerung. Nietzsche benennt diesen Typus eines Affektmanagements als „kleinen“, „niederen Stil“ einer „niedrigen Heilkunst“ (NL 1875, KSA 8, S. 86). Für ihn liegt es in der immanenten Logik und Notwendigkeit solcher affektökonomischen Entwürfe begründet, dass die damit erzeugten subkutanen Über-Spannungen der Bedürfnis- und Befriedigungsverhältnisse der Beruhigung und der Dämpfung bedürfen, der Narkotisierung affektiver Selbstmitteilungsgestalten und Wahrnehmungskompetenzen. Ein ganzes „System von Hypnotisirungs-Mitteln“ (GM, KSA 5, S. 379) zur Ablenkung von Leidensverhältnissen: Trost, Verklärung, Erlösung in eingehegten Formen der Auslassung, panem et circensem. Nietzsche spricht also von „ANästhetika“9 und keineswegs von UNästhetika! Zur Heilung
7 Zwar gelingt Nietzsche im Zarathustra diese geniale Wortschöpfung, doch findet sich der Gedanke bereits in den Studentenjahren. Im Brief an Gersdorff vom 6. April 1867 klagt Nietzsche über geforderte Entscheidungen zwischen Geist und Körper, „Gelehrtem“ oder „Bauerntölpel“: „Die Griechen waren keine Gelehrten, sie waren aber auch nicht geistlose Turner. Müssen wir denn so nothwendig eine Wahl zwischen der einen oder der anderen Seite treffen, ist vielleicht hier auch durch das ‚Christenthum‘ ein Riß in die Menschennatur gekommen, den das Volk der Harmonie nicht kannte?“ (KGB I/2, Bf. 540; vgl. Janz 1981, Bd. I, S. 194f). 8 Das aber hat zunächst nichts mit einem Freudschen Todestrieb zu tun; hier werden Energiedifferenzen vergrößert durch Reduktionen am unteren Rand: Abkühlung, nicht Erhitzung. 9 NL 1881, KSA 9, S. 653: „Anaesthetika“ des Stoicismus; auch GM, KSA 5, S. 399f.; GT, KSA 1‚ S. 28; NL 1875, KSA 8, S. 58; NL 1875, KSA 8, S. 147; GM, KSA 5. S. 374; NL 1876, KSA 8, S. 322; siehe Wachendorff 1998, S. 247ff.
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ergreift die repressive Strategie ihre immanent bewährten Mittel der Repression und muss schließlich mit Nietzsche gewärtigen, dass ihre Therapien vermeintlicher Leidensbekämpfung á la longue zu einer massiven und schließlich desaströsen Leidensproduktion führen: und dieses auch als circulus vitiosus philosophiae. Eine als (vermeintliche) „Kultur“ gelebte Wahrnehmungslosigkeit, Taubheit, Blindheit, Indifferenz und unberührte Beobachtung wird institutionalisiert: die reaktive „Ökonomie […] verschwendet das Kostbarste, den Geist“ (M, KSA 3, S. 158)10 und investiert dessen Energie zum Zwecke der Selbstbetäubung, der Selbstlähmung und darin zu Manifestationen archaischer Magie. Die „Kultur“ einer „Degenerirten-Idiosynkrasie“ (GD, KSA 6, S. 87), erlahmt im Kampf der „Selbsterhaltung“ in reaktiver „Selbstvertheidigung“ (EH, KSA 6, S. 291)11: Hierin allein ist, meiner Vermuthung nach, die wirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, der Rache und ihrer Verwandten, zu finden, in einem Verlangen also nach B etäubung von Schmerz durch Affekt: […] denn die Affekt-Entladung ist der grösste Erleichterungs- nämlich B etäubungs-Versuch des Leidenden, sein unwillkürlich begehrtes Narcoticum gegen Qual irgend welcher Art (GM, KSA 5, S. 374).12
Hier wird auch Gewalt zum notwendigen Narkotikon, hier wird Nihilismus dann selbst erkennbar als eine Sucht und Droge, vermeintliches „Heilmittel“, doch reaktive Reizung und Aufputschung, gewaltsam, Zersetzungsmittel in Konsequenz einer destruktiven Affektökonomie.
2 „Ökonomie grossen Stils“ und Hohe Heilkunst Doch steht der Entscheidung auch eine andere Option offen, welche in der Entfaltung der schöpferischen Kraft des „Zukunftvollen“ aktiver Affekte liegt (GM, KSA 5, S. 323), Eröffnung alternativer „Möglichkeiten des Lebens“ (NL 1875, KSA 8, S. 115): „Die Welt kann gar nicht besser sein [bzw. schlechter, E. W.] als
10 Siehe: NL 1875, KSA 8, S. 179; NL 1876, KSA 8, S. 317; EH, KSA 6, S. 272ff. 11 „die Klugheit der Selbsterhaltung Leidender“ (NL 1888, KSA 13, S. 233), und die „Psychologische Erklärung“: das „Wegschaffen“ als „der erste Instinkt“ (GD, KSA 6, S. 93). 12 Das Zitat setzt fort: „man sucht dieselbe gemeinhin, sehr irrthümlich, wie mich dünkt, in dem Defensiv-Gegenschlag, einer blossen Schutzmaassregel der Reaktion […] Aber die Verschiedenheit ist fundamental: im Einen Falle will man weiteres Beschädigtwerden hindern, im anderen Falle will man einen quälenden, heimlichen, unerträglich-werdenden Schmerz durch eine heftigere Emotion irgend welcher Art b e t äu b e n und für den Augenblick wenigstens aus dem Bewusstsein schaffen“ (GM, KSA 5, S. 374; auch GD, KSA 6, S. 94f.; Wachendorff 1998, Anm. 1468).
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der Mensch: denn wie existirt sie, nur als menschliche Empfindung“ (NL 1874, KSA 7, S. 803)13 und Ergebnis menschlicher Wertungspraxis. Als solche kann sie vielerlei Art sein: barbarisch oder auch „cultiviert“; archaisch selbst bis in die „Kultur“ der Moderne, oder zu neuerlicher „Cultur“14 und „Blüthe“ befreit. Die Einsicht ist durchaus sehr ernst zu nehmen, und allem voran liegen durchaus unausgemachte Entscheidungoptionen15: wir erinnern an den bereits zitierten Brief Nietzsches an die Mutter von 1865. Die Nietzschesche Hoffnung gilt der gelingenden Verwandlung und Stiftung einer neuerlichen und voraussetzungslosen Wendung in aktive affektive Dispositionen und deren poietische Gestaltungskraft der Selbst-/Welt-Verhältnisse, damit der Kraftentfaltung schöpferischer „Transfiguration“ (FW, KSA 3, S. 349; GM, KSA 5, S. 356). Für dieses Unternehmen prägt Nietzsche den Ausdruck einer „Ökonomie grossen Stils“ (AC, KSA 6, S. 167).16 Diese gilt allem voran der Aufhebung reaktiver Gegnerschaften von Geist und Körper, von „Kleiner“ und „Großer Vernunft“ in deren wechselseitige Verquickung. Für den Entwurf einer „Ökonomie grossen Stils“ wird für Nietzsche die Freundschaft zum Leitbegriff: allem voran und unverzichtbar zunächst als Leitbegriff der Selbstverhältnisse. „Selbstsucht“ (EH, KSA 6, S. 293) als Selbstbefreundetheit bedeutet hier: das genaue Hören auf das Eigene, die leiblichen, somatischen, sensorischen, emotionalen und affektiven Artikulationen, denn sie alle haben uns etwas zu eröffnen (AC, KSA 6, S. 167). In der radikalen ernsthaften Umsetzung der Kantschen Einsicht liegen hier allein die unverzichtbaren Quellen
13 Auch NL 1877, KSA 8, S. 413: Die Ablehnung des Schopenhauerischen „Weltbildes“ richtet sich ja nicht gegen die Schopenhauerische Vorstellung selbst, sondern gegen die Projektion zu systematischer Verortung methaphysizierter „Welt an sich“, „das Dasein“ überhaupt, und den erst ontologisierenden Glauben an die Bilder (vgl. NL 1875, KSA 8, S. 268). 14 In diesen Zusammenhängen schreibt Nietzsche nota bene sehr bewusst das Wort Kultur durchgehend mit einem „C“: humanistisch, klassisch; in den Zusammenhängen der „Niederen Heilkunst“ dagegen mit einem „K“: deutsch, zeitgenössisch, nicht mehr klassisch. Allein mit einem Buchstaben führt er die moderne späte „Kultur“ vor als zerfallende, pervertierte Spätform früherer „Cultur“, Nihilismus als Verlustgeschichte, Barbarisierungsgeschichte der reaktiven Selbsterhebung durch Repressionen, Entwertungen, und damit nun Offenbarungsgeschichte eines immanenten affektökonomischen – langfristig destruktiven – Kalküls. 15 Insofern beruht „der Glaube an den Werth des Lebens“ wie an dessen Unwert gleich mehrfach auf „unreinem Denken“ (NL 1875, KSA 8, S. 178): Der Wert, das Leben: unhintergehbar und unausweichlich stets die je meinige Welt- und Lebens-Wertentscheidung: „Nicht die Übereinstimmung oder der Widerstreit im System der Dinge, sondern die G e s a m m t h e i t d e s E i n drucks, welchen das Leben auf das Subjekt macht, bleibt der Maßstab“ (NL 1875, KSA 8, S. 173) für die jeweilige einzelne Person, und nur für sie. Als solcher aber ist dieser Maßstab entscheidend und ernst zu nehmen, reduktionistische=nihilistische Abwertungen zu „bloßer“ Subjektivität gänzlich unangebracht, denn: kategorial Anderes ist nicht zu haben. 16 Auch NW, KSA 6, S. 436; NL 1887, KSA 12, S. 520; NL 1888, KSA 13, S. 293.
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unserer Wahrnehmungswelten und Erkenntnisspielräume, unsere physiologische Ausrüstung allein ist unser Tor zur Welt. So also gilt es, diese unsere Tore weit, weiter, und noch mehr zu öffnen! In der leib-seelischen Selbstbefreundetheit und aktiven Selbstfreundschaft ist der offene innere Diskurs angesagt, auch diskursive Wettstreit, Herausforderung, durchaus. Doch dies eindeutig zu aktiver Steigerung, nicht zu reaktiver Destruktivität. So ist auch hier die Affektsteuerung: Apollinische Rhythmisierung, Konzentration, Strukturierung und Ausrichtung dionysischer Energiequanten auf maximale Ektropie-Entfaltung: „seine Kraft, seine Begeisterung beisammen behalten“ (AC, KSA 6, 167). „Ökonomie grossen Stils“ bedeutet vornehmlich: kluges, ja „weises“ Affektmanagement: „Wir verneinen nicht leicht, wir suchen unsre Ehre darin, Bejahende zu sein. Immer mehr ist uns das Auge für jene Ökonomie aufgegangen, welche alles Das noch braucht und auszunützen weiss, was der heilige Aberwitz des Priesters […] verwirft, für jene Ökonomie im Gesetz des Lebens“ (GD, KSA 6, S. 87), welche die Affekte nicht überwindet, „wenn es Schwächung und Vernichtung derselben bedeuten soll, […] [s]ondern in Dienst nehmen“ fordert (NL 1886, KSA 12, S. 39)17, womit eine Bejahung, eine einschließende Befreundetheit als Selbstbefreundetheit vorausgesetzt ist. Hier nun spricht Nietzsche von einer „aesthetischen Thätigkeit“ (GT, KSA 1, S. 142)18 im Sinne gesteigerter Wahrnehmungskompetenz und Achtsamkeit, welche die leiblichen Artikulationsweisen aufmerksam erhebt und befragt auf ihr Bedürfnis, auf ihr Begehren, auf ihr Erinnern und ihr projektives Versprechen, darin deren selbsteigene Dimension zu schöpferischer Befriedigungsgestaltung freilegen kann zur Erschaffung neuer Selbst-/Welt-Entwürfe. Und das heißt: zur Praxis der „Bejahung“ werden. „Amor fati“ wird so zum anderen und neuen Bejahen der Spielräume vielfältig schöpferisch-verwandelnder SelbstWelt-Gestaltung. Die zentralen therapeutischen Mittel der Hohen Heilkunst „Großen Stils“ lauten damit genau entgegengesetzt zu Therapien „Niederer Heilkunst“: auf Sensibilisierung, Steigerung und Konzentration der Aufmerksamkeiten, Achtsamkeiten und Fähigkeiten, auf Erschließung neu zu entdeckender Dimensionen der Sinnlichkeiten, maximale Freilegung, Ausreizung, Auskostung, vielfältigste Verfeinerungen: „Ohren noch hinter den Ohren“ zu entwickeln, „Ohren für Unerhörtes“ ja: „Neue Ohren“ und „Neue Augen“, und „nicht nur Ohren, sondern auch Augen in den Ohren [zu] haben“ (NL 1876, KSA 8, S. 335).19 So lauten die Mittel auf Schär-
17 Auch EH, KSA 6, S. 368; NL 1887, KSA 12, S. 535. 18 Siehe Wachendorff 2000. 19 Auch GD, KSA 6, S. 58; AC, KSA 6, S. 167; Za, KSA 4, S. 27.
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fung für das Leise, Stille, die feinsten „Nuancen“ (EH, KSA 6, S. 362)20; feine Töne und Modulationen, „Taubenfüsse“ (Za, KSA 4, S. 189; EH, KSA 6, S. 259). Bereits im Text „Über Stimmungen“ von 186421, also noch vor der Lektüre von Schopenhauer (1865) und Lange (1866) geschrieben, führt Nietzsche ein frühes Beispiel solcher anvisierter Sensibilisierungs-Cultur deutlich vor. Diese gilt der neuerlichen Stiftung „aesthetischen“ Handelns als des Wahrnehmungshandelns im poietischen „tragischen Menschen“ der Zukunft22, dessen erstes Wiederaufscheinen er in der Person Immanuel Kants (GT, KSA 1, S. 118) sieht, dessen genuine Verwirklichung er im antiken Drama erkennt, welches er sodann in der Kunst Richard Wagners zunächst widerauferstanden und erneuert zu finden hofft und glaubt (GT, KSA 1, S. 101). Hierzu entwirft Nietzsche bereits in der GT die Gestalt des musizierenden, künstlerischen Sokrates (GT, KSA 1, S. 96)23, eine Figur der Restitution, der Wiedergutmachung, der Neustiftung selbstanfänglicher „aesthetischer Thätigkeit“. Im musikdramatischen Handeln als genuiner Poiesis sieht Nietzsche deren letztes Reservat bewahrt und wirkmächtig, und „so kommen wir in eine Periode der Kunst , wie sie noch nie nöthig war und noch nie da war“ (NL 1875, KSA 8, S. 207), um „jene Cultur zu entdecken, von der meine Musik als die wiedergefundene Sprache der richtigen Empfindung wahrsagt“ (WB, KSA 1, S. 458): so projiziert Nietzsche auf Wagner, doch: spricht er nicht eher von sich selbst? Und also komponiert er seine besondere, unnachahmliche Sprachmusik, seine DionysosDithyramben, seinen Zarathustra, denn: ALSO sprach dieser, und sprach nicht anders! „Ökonomie grossen Stils“ (AC, KSA 6, S. 167) und Mittel Großer Heilkunst: in EH betont Nietzsche hierfür die unbedingte Forderung, „reaktive Affekte“ zu meiden: „die Seele davon frei machen – erster Schritt zur Genesung“ (EH, KSA 6, S. 273); alle Reaktivität aufzulösen und in ihren ursprünglichen aktiven Energiehaushalt zu führen und freizugeben: energetische „Transfiguration“; einen Neuen Instinkt zu entwickeln für eine diesbezügliche Achtsamkeit und „Selbstvertheidigung“ als „Geschmack“ (EH, KSA 6, S. 292).
20 Auch GD, KSA 6, S. 110; EH, KSA 6, S. 266. 21 KGW I/3, S. 371–374; auch Janz 1981, Bd. 1, S. 119 und Perrakis, 2011, S. 42ff. 22 Der Hinweis auf den Dionysos-Mythos sollte nicht übersehen werden: die neuerliche Geburt des Dionysos-Kindes, die Geburtlichkeit und Kraft zu wiederkehrender Anfänglichkeit aus dem „Geiste der Musik“ (GT, KSA 1, S. 152f.). 23 Auch. GT 15, KSA 1, S. 102; ST, KSA 1, S. 544.
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3 Nietzsche contra Wagner „Es sind die Personen zu schildern“ (NL 1875, KSA 8, S. 106)24, um „von der Art er Befriedigung auf die Art der Noth zu schliessen“ (WB, KSA 1, S. 506)25, innerhalb ihres jeweiligen affektökonomischen Gefüges. Und Nietzsche beansprucht für sich, kraft seiner Strategie der Sensibilisierung für feinste „Nuancen“, die entsprechenden „Ohren hinter den Ohren“ entwickelt zu haben, auch die entsprechenden Nasen, kraft derer er dann behaupten kann: „dass ich […] das Innerlichste, die ‚Eingeweide‘ jeder Seele physiologisch wahrnehme – rieche“: „Warum ich so weise bin“ (EH, KSA 6, S. 275).26 Das sensibilisierte Wahrnehmen und Hören gilt der Sprache der affektiven Konstellationen in den jeweiligen Wahrnehmungsverhältnissen, Denk- und Verhandlungsstrategien. Dabei geht es zunächst nicht primär schon um Musik als gestalteter Tonkunst, sondern um Ton und Gang des Sprechens, der Sprachgestaltung, Intonation und Modulation überhaupt, Lautstärke und Intensität, Interpunktion, Tempo, Rhythmik, hörbar als Sprache und Hinweis auf inhärente affektive Haushaltungen. Nietzsche hatte Kants Kritik der Urtheilskraft gelesen (Ende 1867 bis Januar 1868; vgl., Janz 1981, Bd. 1, S. 199), wo dieser präzise das Gemeinte trifft: daß jeder Ausdruck der Sprache im Zusammenhange einen Ton hat, der […] mehr oder weniger einen Affekt des Sprechenden bezeichnet und gegenseitig auch im Hörenden hervorbringt, der denn in diesem umgekehrt auch die Idee erregt, die in der Sprache mit solchem Tone ausgedrückt wird; und daß, so wie die Modulation gleichsam eine allgemeine jedem Menschen verständliche Sprache der Empfindungen ist, die Tonkunst diese für sich allein in ihrem ganzen Nachdrucke, nehmlich als Sprache der Affecten ausübt (Kant 1799, S. 219).
Und eben diese Töne und Modulierungen sprechen für Nietzsche vom Innerlichsten, welches, einem Palimpsest27 gleich, den verbalen Gehalt des Ausgesagten durchaus auch konterkarieren kann, im Gesagten ein ganz Anderes verbergen, dem Hörfähigen doch verraten kann, darin durchaus eine implizite affektive Haushaltung entbergend, welcher Nietzsche schließlich das größere Gewicht beimisst, als den bloßen Oberflächen von Text und Sprechakt. Und so
24 Auch NL 1878, KSA 8, S. 524; NL 1875, KSA 8, S. 99. 25 Auch GT, KSA 1, S. 149; FW, KSA 3, S. 347. 26 Auch MA II, KSA 2, S. 371; NL 1876/1877, KSA 8, S. 371; FW, KSA 3, S. 543; GD, KSA 6, S. 90; GD, KSA 6, S. 93; EH, KSA 6, S. 266ff. 27 Nietzsche war im Sommer 1866 durch den Theologen und Paläographen Konstantin von Tischendorf (1815–1874) „sogar zur selbständigen Entzifferung von Palimpsesten der Leipziger Bibliothek“ angeleitet worden (Janz 1981, Bd. I, S. 189).
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versucht er, auf diese Neben-, Hinter-, Zwischen-, Untertöne aufmerksam zu machen, auf deren Misstöne und Dissonanzen, wenn er betont: „ich bediene mich der Person nur wie eines starken Vergrösserungsglases, mit dem man einen allgemeinen, aber schleichenden, aber wenig greifbaren Nothstand sichtbar machen kann. So griff ich David Strauß an […] So griff ich Wagnern an“ (EH, KSA 6, S. 274f.). Als Nietzsche in Bayreuth die Schar der Wagner-Fanatiker und -Gläubigen erblickte und vornehmlich hörte, erschrak er zutiefst: Hier sah und hörte, fühlte, roch er (um ihn zu zitieren) förmlich in reinster Unverborgenheit die Unverhältnismäßigkeiten, Maßlosigkeiten der falschen und hohen Haltungen und Tongebärden, der scharfen Reize, eitlen Selbstdarstellungen und formalisierenden Reden der kalt-Unberührten und „Kenner“, dröhnend überwältigende, betäubende Berauschungsspiele, inszeniert für anästhesierte Vertreter des reaktiven Zeitgeistes, subcutan im Dienste „Niederer Heilkunst“, welcher doch alle Bemühungen seiner Aufklärungs- und Überwindungsphilosophie galten. So warf Nietzsche Wagner dann auch vor, bloß „Schauspieler“ zu sein (NL 1874, KSA 7, S. 773), bloß „Opern“ als Schaustücke zu fabrizieren (NL 1878, KSA 8, S. 541), Zeitgeistkünstler zu sein, Zeitgeist verkörpernd, Zeitgeist bedienend, Zeitgeist befördernd, derart zutiefst kompromittiert zu sein (JGB, KSA 5, S. 124ff.). Nietzsche hatte schließlich gerade hier das stärkste narkotisierende Therapeutikon der Moderne überhaupt entdecken können, das optimale Palliativum zu Duldung und Beförderung der etablierten Verhältnisse, statt Aufruf zu Veränderung und Verwandlung. Letztere aber ist allein möglich durch Selbstverwandlung und Wiedergutmachung, aufmerksame Affekthygiene, Neuanfang. Wo war nur der frühere Revolutionär Richard Wagner geblieben?
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Wachendorff, Elke (2008): „Der Wille zur Macht: Macht und Gewalt im Denken Friedrich Nietzsches“. In: Beatrix Vogel (Hg.): Der Mensch – sein eigenes Experiment? München, S. 215–266. Wimmer, Franz Martin (1988): „Zur Aufgabe des Kulturvergleichs in der Philosophiehistorie“. In: Franz Martin Wimmer (Hg.): Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wien, S. 145–161.
Stefan Lorenz Sorgner
„Wagners Kunst ist krank“ Nietzsches Reflexionen über Kultur, Musik und Krankheit
Die „Sternen-Freundschaft“ zwischen Richard Wagner und Friedrich Nietzsche endete in einer weltanschaulichen Feindschaft. Trotzdem erkannten beide stets die Bedeutung ihrer Freundschaft an. Nietzsche stellte klar heraus: „Und so wollen wir an unsere Sternen-Freundschaft glauben, selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müssten“ (FW, KSA 3, S. 524). Wagner soll, laut Aussage Elisabeth Förster-Nietzsches, bei den Festspielen 1882 Folgendes geäußert haben: „Sagen sie es Ihrem Bruder, seit er von mir gegangen ist, bin ich allein“ (FörsterNietzsche 2012, S. 71). Diese Freundschaft ist innerhalb der deutschen Kulturgeschichte, was ihre Wirkungsmacht betrifft, nur mit der zwischen Goethe und Schiller zu vergleichen. Im Gegensatz zu dieser bestehen jedoch auch Verstrickungen zwischen der Rezeptionsgeschichte der Werke Wagners und Nietzsches und dem abscheulichsten Kapitel der deutschen Geschichte, dem Dritten Reich. Mein Anliegen im Rahmen dieses Artikels ist es jedoch, nicht die Beziehungen der Krankheitsrhetorik im Werk Wagners und Nietzsches und der des Dritten Reichs aufzuzeigen. Vielmehr konzentriere ich mich auf die Frage nach der Relevanz der Kritik Nietzsches an Wagners Musikdramen durch seine Aussage „Wagner’s Kunst ist krank“ (WA, KSA 6, S. 22) für die Komposition gegenwärtiger Opern. Damit deutlich wird, in welchem biographischen Kontext diese Kritik einzuordnen ist, gebe ich zunächst einen kurzen Einblick in die menschliche Beziehung zwischen diesen beiden Kulturschaffenden, die geprägt war durch Auseinandersetzungen mit den Fragen nach Krankheit und Gesundheit, was nicht zuletzt an den langen Krankenakten der beiden Beteiligten lag. Wagner litt an „Hämorrhoiden, Magenleiden, Hautkrankheiten, zerrütteten Nerven und Herz-Kreislauf-Störungen (Moore 2008, S. 314). Nietzsche an Migräne, Magenproblemen, Kurzsichtigkeit und wahrscheinlich auch der Syphilis. In der Dissertation Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheiten von Pia Daniela Volz findet sich eine detaillierte Auseinandersetzung mit Nietzsches Krankengeschichte (Volz 1990). Auch in zahlreichen Artikeln finden Diskussionen statt, ob Nietzsche an der Syphilis oder an einem Tripper erkrankt war. Letztgenannte These vertrat der Erlanger Psychiater Johannes Wilke in einem im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Artikel „Nietzsches Krankheit: Genie und Wahnsinn“ (Wilke 2000).
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Im ersten Teil dieses Vortrags gebe ich einen kurzen Einblick in das persönliche Verhältnis von Wagner und Nietzsche. Im zweiten Teil erörtere ich die Bedeutung der Kritik Nietzsches für Wagners Musikdramen. Im dritten und letzten Teil gehe ich auf die Bedeutung der Kritik für gegenwärtige Überlegungen zu Musikdramen und auch der Praxis der Opernkomposition ein.
1 Eine „Sternen-Freundschaft“ Es mag sein, dass der Begriff „Freundschaft“ nicht ganz angemessen ist, um die Beziehung der Beiden genau zu charakterisieren, auch wenn Nietzsche selbst das Wort „Sternen-Freundschaft“ geprägt hatte, um ihr Verhältnis zu bezeichnen. Es scheint treffender zu sein, ihr Verhältnis als eine Art von Vater-Sohn-Beziehung zu beschreiben, da Wagner im selben Jahr geboren wurde, wie Nietzsches früh verstorbener Vater, der Pastor Carl Ludwig Nietzsche – im Jahr 1813. Dieser starb bereits 1849 – fünf Jahre nach der Geburt Friedrich Nietzsches am 15. Oktober 1844. Es lagen also 31 Jahre zwischen Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Die erste Begegnung der beiden fand am 8. November 1868 bei Hermann Brockhaus in Leipzig statt. Abgesehen vom Ring des Nibelungen und dem Parsifal waren alle bedeutenden Musikdramen Wagners bereits uraufgeführt worden. Die theoretische Fundierung seines musikalischen Schaffens in den so genannten „Zürcher Schriften“ lag schon fast zwanzig Jahre zurück. Nietzsche hingegen war noch ein Student der Altphilologie an der Leipziger Universität. Aufgrund sich ergänzender Fähigkeiten und der gemeinsamen Begeisterung für spezielle Themen kam es dazu, dass eine Bande zwischen Beiden geknüpft werden konnte. Von besonderer Bedeutung war diesbezüglich die Begeisterung für die Philosophie Schopenhauers, die antike Kultur und die Oper. Der Höhepunkt der Beziehung der beiden Geistesgrößen war die Zeitperiode, in der Wagner in Tribschen bei Luzern am Vierwaldstädtersee lebte und Nietzsche eine Professur für klassische Philologie an der Universität Basel hatte. In der Zeit zwischen 1869 und 1872 besuchte Nietzsche Wagner 23mal in Tribschen. 1872 erschien sein Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Im gleichen Jahr (am 22.5.) fand in Bayreuth die Grundsteinlegung des Festspielhauses statt. Die Eröffnung der Festspiele 1876 mit der Erstaufführung des Ring des Nibelungen, förderte die Entfremdung der beiden Kulturschaffenden, die sich Anfang November 1876 in Sorrent bei Neapel zum letzten Mal begegneten. Auch der Beginn der Entwicklung von eigenständigen philosophischen Konzeptionen durch Nietzsche war für deren Freundschaft nicht unbedingt zuträglich. Entscheidend für die endgültige Abwendung voneinander war, meiner Ansicht nach,
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noch ein weiteres Ereignis, das ebenfalls unter die Hauptüberschrift Gesundheit und Krankheit gefasst werden kann, nämlich der briefliche Austausch Wagners mit einigen Ärzten Nietzsches, in denen er dessen sexuelle Vorlieben erörterte. Der folgende Brief Nietzsches an Heinrich Köselitz vom 21. April 1883 untermauert diese These: „Wagner ist reich an bösen Einfällen; aber was sagen Sie dazu, daß er Briefe darüber gewechselt hat (sogar mit meinen Ärzten) um seine Überzeugung auszudrücken, meine veränderte Denkweise sei die Folge unnatürlicher Ausschweifungen, mit Hindeutungen auf Päderastie“ (KGB III/1, Bf. 405). Es scheint nahe liegend, dass dieser Austausch für Nietzsche in der Tat eine enorme Beleidigung darstellte, insbesondere, weil er hinsichtlich erotischer Beziehungen oder Liebesbeziehungen kein Glück hatte. Seine beiden Heiratsanträge an Lou von Salomè wurden von ihr in klarer Weise abgelehnt. Weiterhin ist es nahe liegend, davon auszugehen, dass sich seine einzigen sexuellen Erfahrungen mit Prostituierten abspielten, falls es überhaupt solche gegeben hat. Es ist nicht gesichert, dass er an den Folgenden einer syphilitischen Erkrankung starb. Sein Vater starb mit 36 Jahren an einer Gehirnentzündung. Vielleicht handelte es sich um eine vererbbare Krankheit, an der auch Nietzsche starb. Die Fragen nach Gesundheit und Krankheit waren nicht nur im Rahmen der Musik oder der eben genannten Beleidigung relevant, sondern spielten auch beim Austausch zu tierethischen Fragen, wie der Frage nach der Vivisektion, die beide ablehnten, oder hinsichtlich der Ernährung eine Rolle. Ein Thema, das für ihre Freundschaft besonders wichtig war, war der Vegetarismus: Ende 1869 wandte sich Nietzsche dem Vegetarismus zu, da er davon ausging, „daß eine zeitweilige Enthaltsamkeit von Fleisch, aus diätetischen Gründen, äusserst nützlich ist“ (KGB II/1, Bf. 32; vgl. Janz 1978, Bd. 1, S. 341f.). Auch Wagner hatte während des Verfassens seiner Zürcher Schriften mit dem Vegetarismus geliebäugelt. Als Nietzsche ihn in Tribschen über seine Vorstellungen zum Fleischgenuss in Kenntnis setzte, reagierte dieser mit den Worten: „Sie sind ein Esel!“ (Gregor-Dellin 1980, S. 623f.). Wenig später kam auch Nietzsche wieder von seinem Vegetarismus ab. In seiner Schrift Ecce homo schreibt er hierzu: „Gegner des Vegetarierthums aus Erfahrung, ganz wie Richard Wagner, der mich bekehrt hat“ (EH, KSA 6, S. 281). Wagner hatte sich interessanterweise in den 1870er Jahren dem Vegetarismus wieder zugewandt (vgl. Thiery/Tröhler 1992; Gutman 1968, S. 399f.). Dass Ernährung für Nietzsche eine so zentrale Rolle spielte, lag in seiner persönlichen Krankengeschichte begründet. Im Sommer 1875 wurde er etwa wegen eines „chronische[n] Magenkatarrh[s] mit bedeutender Erweiterung des Magens“ während eines einmonatigen Kuraufenthalts durch einen Magenspezialisten behandelt (KGB II/5, Bf. 468). Er setzte sich in Folge seiner verschiedenen Erkrankungen auch theoretisch mit der Ernährung auseinander und entwickelte sogar eine „Philosophie der Ernährung“ (FW, KSA 3, S. 379).
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Ein wichtiger Grund für die Relevanz von Fragen der Krankheit und Gesundheit und auch der Ernährung für Nietzsche und auch Wagner, war deren Interesse am Naturalismus, wie ihre Auseinandersetzung mit Darwins Evolutionstheorie belegt. Nietzsche entwickelte die Evolutionslehre weiter und bemühte sich um eine Naturalisierung der Moral, und Wagner erachtete Darwins Theorien als geeignete Grundlage, um seinem Sohn Siegfried, den er liebevoll Fidi nannte, ein Verständnis der Naturwissenschaften zu vermitteln. In Cosimas Tagebüchern findet sich ein detaillierter Lektüreplan für die Erziehung von Sohn Siegfried: Lektüre für Fidi später: Philosophie: Schopenhauer. Religion: Eckhart, Tauler. Kunst: R. Wag ner. Naturgeschichte Darwin. Geschichte: Griechen, Römer, Engländer. Romane W. Scott, Balzac. Franzosen, Italiener (Machiavell). Sonst alle (aber nur diese) Geister ersten Ranges: Goethe, Schiller, Dante, Calderon, Shakespeare, Homer, Aischylos, Sophokles (Wagner, Cosima 1976/1977, Bd. 2, S. 161).
Mit Hilfe dieser kurzen einführenden Bemerkungen zum Verhältnis von Wagner und Nietzsche wird der weltanschauliche Hintergrund deutlich, der hilfreich ist, um die nachfolgend zu erörternde Kritik Nietzsches an Wagners Musik besser nachvollziehen zu können. Nietzsches Naturalismus brachte ihn dazu, eine allgemeine „Gesundheitslehre des Lebens“ zu verfassen (HL, KSA l, S. 331). In einem Brief an Carl von Gersdorff vom 24. Februar 1873 verklärte er, dass er an einer Schrift arbeite, die den Titel „‚Der Philosoph als Arzt der Kultur‘“ (KGB II/3, Bf. 300) tragen sollte. Diese Schrift wurde zwar nie veröffentlicht, jedoch ist diese Benennung für sein philosophisches Wirken treffend. Im folgenden, zweiten Abschnitt dieses Vortrags stelle ich Nietzsches Diagnose und Therapievorschläge hinsichtlich der kranken Musik Richard Wagners vor.
2 „Wagner’s Kunst ist krank“ In der Zeit ihrer intensiven Freundschaft, d .h. von 1869 bis 1872, hätte sich Nietzsche nicht so kritisch zu Wagners Musik geäußert. Das Gegenteil war damals der Fall. In seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik brachte er Wagner in einen gedanklichen Zusammenhang mit den größten Künstlern, die je gelebt haben, wie den griechischen Tragiker Aischylos. Er erhoffte sich, dass durch Wagners Werke und seine eigene Philosophie der Niedergang der Kultur aufgehalten werden und eine neue kulturelle Blüte entstehen könnte. Beide gingen zu dieser Zeit davon aus, in einer Zeit kulturellen Verfalls zu leben, und sie erhofften sich, diese Verfallsbewegung zu stoppen und umzukehren. Die antike griechische Kultur sahen beide als das kulturelle Ideal an, insbesondere
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die Werke des Aischylos hatten es ihnen angetan. Auch waren sie nicht so naiv, davon auszugehen, zu einer griechischen kulturellen Ordnung zurückkehren zu können. Jedoch lag ihnen daran, unter ständiger Berücksichtigung der antiken Kultur und im ständigen Dialog mit ihr, eine Verwindung zur Kultur ihrer Zeit bewirken zu können. Von zentraler kultureller Bedeutung war für sie dabei das Festspiel. In der antiken Kultur um 500 v. Chr. fanden in regelmäßigen Abständen Dionysien statt, in deren Rahmen insbesondere Wettkämpfe zwischen Tragödiendichtern geschahen, die die bekannten Mythen auf stets neue Weise interpretierten und darstellten. Das Volk musste in dieser Zeit nicht arbeiten, sondern konnte den stattfindenden Veranstaltungen beiwohnen, was der Einheit der damaligen Gemeinschaft förderlich gewesen sein soll. Wagners Ziel war es, Festspiele zu etablieren, die für die deutsche Kultur die gleiche Bedeutung haben sollten wie die Dionysien für die antike, griechische Kultur. Unter besonderer Beachtung des altgriechischen Begriffs der mousike entwickelte Wagner das Konzept des Gesamtkunstwerks. Die antiken Tragödien stellten eine Einheit aus Musik, Text, Tanz und Darstellung dar, und dies sollte bei seinen Arbeiten auch der Fall sein. Der Einheitsgedanke war für ihn sowohl auf der musikalischen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene ein zentraler. Die musikalische Einheit sollte die gesellschaftliche Einheit fördern. Seine Musikdramen, die als Gesamtkunstwerke geschaffen wurden, sollten jährlich im Rahmen von Festspielen aufgeführt werden. Er griff bei der Erschaffung seiner Dramen, bei denen er sowohl den Text als auch die Musik schuf, bewusst auf germanische Mythen zurück und nicht auf altgriechische, da er davon ausging, dass das deutsche Volk nur zu Mythen Bezug haben kann, die dem eigenen historischen Zusammenhang entstammen. Aufgrund der zentralen Bedeutung des Einheitsgedankens für Wagner, setzte er sich kritisch mit der vorangegangenen Operngeschichte auseinander. Die Opern- und auch die Kunstgeschichte betrachtete Wagner als eine Verfallsgeschichte. Im Unterscheid zur Einheit von Wort, Klang und Tanz, wie sie in der antiken mousike gegeben war, erfolgte insbesondere in der Moderne eine beständige Spezialisierung und Individualisierung, die Wagner vehement kritisierte. Durch die Erschaffung von Gesamtkunstwerken bemühte er sich um eine Umkehrung dieser Entwicklung.1
1 Eine detaillierte Darstellung von Wagners Musikdramentheorie habe ich in einem Artikel veröffentlicht, der in einem Begleitband zu einer Wagner-und-Mann-Ausstellung erschienen ist, die 2011 in Lübeck und 2013, anlässlich des 200 Geburtstags Wagners, in Bayreuth stattgefunden hat (Sorgner 2011a, S. 152–172). Darin ist auch eine detaillierte Kritik dieser Konzeption enthalten.
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Die Musikdramenvorstellungen des frühen Nietzsche stimmten mit diesen, in den Zürcher Schriften Wagners verfassten Theorie des Musikdramas, weitestgehend überein, obwohl auch angemerkt werden muss, dass bereits in der Geburt der Tragödie bei genauer Analyse Spannungen zwischen den Theorien Wagners und Nietzsches festgestellt werden können.2 Nietzsches philosophische Weiterentwicklung, Wagners Erschaffen des Parsifal, das für Nietzsche einen Kniefall vor dem Christentum darstellte, und nicht zuletzt auch die oben bereits erwähnte Beleidigung förderten den Entfremdungsprozess, der Mitte der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts stattfand. Dieser Prozess führte letztendlich dazu, dass Nietzsches Äußerungen zu Wagner insbesondere nach dessen Tod am 13. Februar 1883 in Venedig vehementer und aggressiver wurden. Seine Äußerungen kulminierten in der Schrift Der Fall Wagner, die erst kurz vor Nietzsches geistigem Zusammenbruch im Jahre 1888 entstand und in seinem Todesjahr 1900 publiziert wurde, weshalb sie zu Nietzsches letzter Schaffensperiode gerechnet wird, die mit der Publikation des Werks Die Fröhliche Wissenschaft im Jahre 1882 beginnt. Insbesondere die Passage in Der Fall Wagner, in der auch die Aussage „Wagner’s Kunst ist krank“ (WA, KSA 6, S. 22) vorkommt, fasst entscheidende Kritikpunkte Nietzsches an den Musikdramen Wagners zusammen. Der zentrale Gegensatz, der für die Einschätzung von Musikdramen während der letzten Periode von Nietzsches Schaffen entscheidend war, ist derjenige von Bizets Musik des Südens und Wagners Musik des Nordens, auch wenn Nietzsche diesen von ihm selbst geschaffenen Antagonismus in einem Brief wieder relativierte. Eine Charakterisierung dieses Gegensatzes hilf dabei, nachvollziehen zu können, was Nietzsche meint, wenn er Wagners Kunst als krank bezeichnet. Der Gegensatz kann auch als eine Weiterentwicklung der Unterscheidung des Klassischen und des Romantischen und des von Nietzsche hoch geschätzten Goethe verstanden werden, der nach Eckermann am 2. April 1829 bereits folgende Position darstellte: „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke“ (Goethe 1999, S. 324). Eckermanns Gespräche mit Goethe war eines der Lieblingsbücher Nietzsches, und das Klassische und Romantische kommt beim späten Nietzsche in einer ähnlichen Bedeutung wie bei Goethe vor. In der Spätphase stilisierte Nietzsche Bizets Carmen zu einer Antagonistin der kranken Musik des Nordens, wie sie von Wagner erschaffen worden sei.3 Nietzsche muss viele Aspekte dieser Oper in der Tat hoch geschätzt haben, schließ-
2 Eine detaillierte Analyse ist an anderer Stelle zu finden (Sorgner 2006, S. 59–76). 3 „Auch dies Werk erlöst; nicht Wagner allein ist ein ‚Erlöser‘. Mit ihm nimmt man Abschied vom feuchten Norden, von allem Wasserdampf des Wagnerischen Ideals“ (WA, KSA 6, S. 15).
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lich hat er sie zumindest zwanzig Mal angesehen, wie aus einem Brief Nietzsches deutlich wird.4 Auch wenn Nietzsche zahlreiche Facetten seiner ethischen und ästhetischen Ideale der späten Periode in dieser Oper vorfand, so muss er doch auch einige philosophische Vorbehalte gegen diese Oper gehabt haben, schließlich war es ihm daran gelegen, seine ironische Distanz zu diesem Werk in einem Brief deutlich zu machen: „Das, was ich über Bizet sage, dürfen Sie nicht ernst nehmen, Bizet kommt für mich tausendmal nicht in Betracht, aber als ironische Antithese gegen Wagner wirkt es sehr stark!“ (KGB III/5, Bf. 1214) Anhand einer Darstellung verschiedener zentraler Momente der Musik des Südens und der des Norden soll deutlich werden, warum Nietzsche zu dem Urteil kam: „Wagner’s Kunst ist krank“ (WA, KSA 6, S. 22) Dass seine Kunst krank sei, liege darin begründet, dass auch Wagner selbst krank sei: „Wagner est une névrose“ (WA, KSA 6, S. 22), d. h. er ist eine Neurose, weshalb Nietzsche auch zu dem weiteren Urteil kommen konnte, dass „Wagner der moderne Künstler par excellence“ ist (WA, KSA 6, S. 23). Der mit dem Romantischen verbundene seelische Konflikt, der sich durch eine Neurose offenbart, soll nach Nietzsche auch in Wagners Werken deutlich hervortreten. Genau wie Wagner, der die Moderne als einen Verfallsprozess ansah, den es zu überwinden gelte, was er mit Hilfe seiner Werke zu unterstützen beabsichtigte, analysierte auch Nietzsche die Moderne. Statt Wagner als einen Überwinder dieses Zerfallsprozesses zu sehen, wie dies Nietzsche in seiner frühen Periode tat, und wie es Wagner aus seinem eigenen Selbstverständnis heraus auch sah, erkannte Nietzsche nun in Wagner die treffendste Verkörperung des Zerfallsprozesses: Dem Künstler der décadence – da steht das Wort. Und damit beginnt mein Ernst. Ich bin ferne davon, harmlos zuzuschauen, wenn dieser décadent uns die Gesundheit verdirbt – und die Musik dazu! Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt, – er hat die Musik kr ank gemacht (WA, KSA 6, S. 21).
Wie kranke Musik auf die bereits Kranken, Alten und Schwachen wirkt, die aus der Sicht Nietzsches bezeichnende Menschentypen der Moderne darstellen sollen, wird anhand des folgenden Abschnitts verdeutlicht:
4 „Ich hörte gestern – werden Sie es glauben? – zum zwanzigsten Male B i z e t ’ s Meisterstück“ (WA, KSA 6, S. 13).
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Der Instinkt ist geschwächt. Was man zu scheuen hätte, das zieht an. Man setzt an die Lippen, was noch schneller in den Abgrund treibt. – Will man ein Beispiel? Aber man hat nur das régime zu beobachten, das sich Anämische oder Gichtische oder Diabetiker selbst verordnen. Definition des Vegetariers: ein Wesen, das eine corroborirende Diät nöthig hat. Das Schädliche als schädlich empfinden, sich etwas Schädliches verbieten können ist ein Zeichen noch von Jugend, von Lebenskraft. Den Erschöpften lockt das Schädliche: den Vegetarier das Gemüse. Die Krankheit selbst kann ein Stimulans des Lebens sein: nur muss man gesund genug für dies Stimulans sein! – Wagner vermehrt die Erschöpfung: deshalb zieht er die Schwachen und Erschöpften an. Oh über das Klapperschlangen-Glück des alten Meisters, da er gerade immer „die Kindlein“ zu sich kommen sah! (WA, KSA 6, S. 22)
Die zwei Seiten und Bewertungen von Krankheit durch Nietzsche werden hier deutlich. Krankheit als Stimulans des Lebens einerseits und Krankheit als schädliche Kraft, die die Schwachen und Erschöpften weiter schädigt andererseits. Nietzsche, dessen Leben durch zahlreiche Krankheiten geprägt war, sah sich selbst im Besitz der „grossen Gesundheit“ (FW, KSA 3, S. 635ff.). Die grosse Gesundheit impliziert die Fähigkeit, Krankheiten immer und immer wieder überwinden zu können. Die Erschöpften und Schwachen hingegen sind nicht im Besitz dieser großen Gesundheit. Sie sprächen die Musik Wagners jedoch im Besonderen an. Der Begriff der Erschöpften und Schwachen ist in diesem Kontext in einem weiteren Sinn zu verstehen, als dies häufig bei Nietzsche der Fall ist; als Bezeichnung eines bestimmten Typus von Mensch. Hier sind die Erschöpften und Schwachen sowohl diejenigen, die sich, nachdem sie begonnen haben zu zweifeln, wieder dem Christentum und somit einer Institution zuwenden, die sie weiter schädigt, als auch diejenigen, die ein buddhistisches und schopenhauerianisches Ideal des Guten (Sorgner 2011b, S. 61–84) als eine angemessene Reaktion auf den Nihilismus ansehen. Die durch den Nihilismus Erschöpften suchen in einer Form des Nichts ihre Erlösung, dem Nichts des Jenseits oder dem Nichts des Perinirwana. Nietzsche hingegen sieht in der Bejahung von Lust und Unlust und damit auch im Ja-Sagen zu der Fülle des Lebens sein Ideal, wie sie durch die Musik des Südens treffend verkörpert werde. Krankheit und Leid können starke Menschen, die im Besitz der großen Gesundheit sind, nutzen, um klassisch geformte, große Werke und Philosophien zu erschaffen. Die Schwachen und Erschöpften wenden sich zumeist großen Stimulansmitteln zu, die sie weiter schwächen. Eine „Gesammt erkrankung“; Wagner wisse um diese Mittel Bescheid und würde sie auf verführerische Weise einsetzen: Unsre Aerzte und Physiologen haben in Wagner ihren interessantesten Fall, zum Mindesten einen sehr vollständigen. Gerade, weil Nichts moderner ist als diese Gesammterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par excellence, der Cagliostro der Modernität. In seiner Kunst ist auf die verführerischeste Art gemischt, was heute alle Welt am nöthigsten hat, – die drei grossen Stimu-
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lantia der Erschöpften, das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idiotische) (WA, KSA 6, S. 23).
Diese Analyse Nietzsches ist sicherlich sogar zutreffend, jedoch stimme ich mit seiner Bewertung nicht überein, wie ich im dritten Teil zu zeigen beabsichtige.5 Um zu verdeutlichen, in welcher Art sich Wagners Verführungskunst in seiner Kunst ausdrückt, erörtere ich nun verschiedene Aspekte seiner Kunst, wobei ich zunächst auf den Inhalt, dann auf das Material und schließlich auf die Form seiner Kunst eingehen werde. Musik lässt sich in Rhythmus, Harmonie und Melodie und möglicherweise noch den Text unterteilen. Auch wenn diese Art der Zuordnung letztlich keine haltbare ist, behandle ich aus pragmatischen Gründen den Text im Zusammenhang mit dem Inhalt, Harmonie im Kontext des Materials und Rhythmus und Melodie unter dem Oberbegriff der Form. Wie manifestiert sich Wagners Neurose in der Kunst?
2.1 Inhalt Wagner’s Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bühne bringt – lauter Hysteriker-Probleme – , das Convulsivische seines Affekts, seine überreizte Sensibilität, sein Geschmack, der nach immer schärferen Würzen verlangte, seine Instabilität, die er zu Prinzipien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, diese als physiologische Typen betrachtet (– eine Kranken-Galerie! –): Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lässt. Wagner est une névrose (WA, KSA 6, S. 22).
Nietzsche erkennt bereits im Libretto von Wagners Musikdramen das Krankhafte seiner Musik: „Hysteriker Probleme“ und Helden als „Kranken-Galerie“ (WA, KSA 6, S. 22) würden seine Werke bestimmen. Diese Punkte führt Nietzsche besonders hinsichtlich der falschen Einschätzungen Wagners hinsichtlich der Liebe und der Erlösung detaillierter aus. Dabei möchte ich betonen, dass sowohl Liebe als auch Erlösung zentrale Themen im theoretischen und musikalischen Werk Wagners sind. Zusammenfassend können wir feststellen: Ein Grund für die Krankhaftigkeit der Kunst Wagners sind die unplausiblen und kranken Themen, die in ihnen vertreten werden, insbesondere zur Liebe und zur Erlösung.
5 Ich sehe den ethischen und aletheischen Nihilismus, der uns umgibt, als eine zu bejahende Errungenschaft an, wie ich bereits an anderer Stelle dargelegt habe (vgl. Sorgner 2010, S. 134f. und S. 239–243) Die großen Stimulantia mögen gerade die Erschöpften ansprechen. Dass sie sie aber auf vielfältige Weise auch ansprechen dürfen, sollte als eine ganz fantastische Errungenschaft angesehen werden.
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2.2 Material und Harmonie Nicht nur hinsichtlich des Inhalts, sondern auch bezüglich des Materials seiner Kunst, und der von ihm benutzten Harmonien, die einen wichtigen Teil von Wagners Tonmaterial darstellen, sei Wagners Kunst krank. Spannenderweise sei jedoch auch das Kranke seiner Musik, der Grund für dessen Verführungskraft: „Seine Verführungskraft steigt in’s Ungeheure, es qualmt um ihn von Weihrauch, das Missverständniss über ihn heisst sich ‚Evangelium‘ – er hat durchaus nicht bloss die Armen des Geistes zu sich überredet!“ (WA, KSA 6, S. 21) Nietzsche selbst war schließlich lange Zeit ein Wagnerianer. Die „[ü]berreizte Sensibilität“ (WA, KSA 6, S. 22) seiner Musik und die „Überreiztheit der nervösen Maschinerie“ (WA, KSA 6, S. 23) seien dafür verantwortlich, dass Wagner ein grosser Verderb für die Musik [gewesen sei]. Er hat in ihr das Mittel errathen, müde Nerven zu reizen, – er hat die Musik damit krank gemacht. Seine Erfindungsgabe ist keine kleine in der Kunst, die Erschöpftesten wieder aufzustacheln, die Halbtodten in’s Leben zu rufen. Er ist der Meister hypnotischer Griffe, er wirft die Stärksten noch wie Stiere um. Der Erfolg Wagner’s – sein Erfolg bei den Nerven und folglich bei den Frauen – hat die ganze ehrgeizige Musiker-Welt zu Jüngern seiner Geheimkunst gemacht. Und nicht nur die ehrgeizige, auch die kluge… Man macht heute nur Geld mit kranker Musik; unsre grossen Theater leben von Wagner (WA, KSA 6, S. 23).
Eine gesunde Form der Musik sei hingegen in Bizets Carmen zu finden, über die er folgendes schreibt: Diese Musik ist heiter; aber nicht von einer französischen oder deutschen Heiterkeit. Ihre Heiterkeit ist afrikanisch; sie hat das Verhängnis über sich, ihr Glück ist kurz, plötzlich, ohne Pardon. Ich beneide Bizet darum, dass er den Muth zu dieser Sensibilität gehabt hat, die in der gebildeten Musik Europas bisher noch keine Sprache hatte – zu dieser südlicheren, bräuneren, verbrannteren Sensibilität (WA, KSA 6, S. 15).
Den Gegensatz hinsichtlich des gesunden und des kranken Tonmaterials, auf die er in diesen Kontexten hinweist, lässt sich wie folgt erläutern. Wenn Nietzsche von der überreizten Sensibilität und der Überreiztheit der nervösen Maschinerie spricht, dann verweist er auf den innovativsten Aspekt von Wagners Schaffen, der Erweiterung des Tonmaterials, so dass eine Funktionsanalyse der zugrunde liegenden Akkorde fast nicht mehr möglich ist. Insbesondere im Tristan-Vorspiel treibt er die Tonalität bis an ihre Grenzen, jedoch löst er sie noch nicht auf. Dies geschah erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts durch das kompositorische Schaffen Schönbergs. Durch die bedeutende Erweiterung des musikalischen Materials wurde Wagner zum Ahnherrn der musikalischen Avantgarde des zwanzigsten Jahrhundert, die durch die Werke Schönbergs, Weberns und Bergs ein-
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geleitet wird. Es war dieser Punkt, den Adorno in seiner komplexen Auseinandersetzung mit Wagner meist lobend erwähnte (Adorno 1975, S. 60), obwohl er hinsichtlich anderer Aspekte eher Thomas Mann zugestimmt hat, der klar herausstellte, dass in Wagner viel Hitler vorhanden gewesen sei (Mann 1997, S. 145). Bei Nietzsche hingegen ist es auch diese Innovation, die ihn dazu bringt, Wagners Musik in den Kontext der Décadence zu bringen und ihn als Verderber der Musik zu betrachten, da sie in der Lage sei, „müde Nerven zu reizen“ (WA, KSA 6, S. 23), was zweifelsohne eine treffende Beschreibung dieser Musik ist. Zusammenfassend können wir sagen, dass der zweite Grund dafür, dass Nietzsche Wagners Kunst für krank erachtet, in der Erweiterung des Tonmaterials besteht, durch die die Tonalität bis an ihre Grenzen ausgereizt werde. Nietzsche geht davon aus, dass diese Maßnahme nur dafür geeignet sei, „müde Nerven zu reizen“ und Erschöpfte weiter zu schwächen (WA, KSA 6, S. 23).
2.3 Form, Melodie und Rhythmus In diesem Abschnitt treten die Implikationen des bereits erwähnten Gegensatzes des Klassischen und Romantischen besonders deutlich hervor. Das Klassische sei meist das Begrenzte, aber auch das Präzise und Klare gewesen, wohingegen das Romantische meist mit dem Unendlichen und Unbegrenzten in Verbindung stehe. In diesem Sinn wendet Nietzsche die Begriffe auf die Kategorie Melodie an, wobei er erneut den Gegensatz der Musik Bizets und der Wagners thematisiert: „Diese Musik ist böse, raffinirt, fatalistisch: sie bleibt dabei populär – sie hat das Raffinement einer Rasse, nicht eines Einzelnen. Sie ist reich. Sie ist präcis. Sie baut, organisirt, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur ‚unendlichen Melodie‘“ (WA, KSA 6, S. 13f.). Wagners unendliche Melodie ist das Formlose und damit das Dekadente, wohingegen die klare, reiche Ordnung mit dem Gesunden und Florierenden in Zusammenhang gebracht wird. Analog zur Melodie sind Nietzsches Ausführungen zum Rhythmus. Auch wenn diese so diffizil und komplex sind, dass ich hier nur deren grundsätzliche Stoßrichtung andeuten kann, so soll doch deutlich werden, dass Nietzsche in diesem Zusammenhang das Klare mit dem Gesunden und das Mehrdeutige mit dem Kranken identifiziert (KGB III/3, Bf. 688) Der mehrdeutige Rhythmus repräsentiert ein „Kunstmittel, mit dem wunderbare Wirkungen erreicht werden können: der ‚Tristan‘ ist reich daran – , als Symptom einer ganzen Kunst ist und bleibt sie trotzdem ein Zeichen der Auflösung“ (KGB III/3, Bf. 688). Der klare Rhythmus steht mit dem „ethos“, die rhythmische Mehrdeutigkeit mit dem „pathos“ in Verbindung (vgl. Bf. an Carl Fuchs vom Winter 1884/1885, KGB III/5, Bf. 1097).
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Ohne die Fragen nach Form, Melodie und Rhythmus in diesem Kontext in ihrer Vielschichtigkeit analysieren zu können, kann festgehalten werden, dass hinsichtlich der formalen Ordnung von Melodien und Rhythmen bei der Unterscheidung zwischen der Musik des Südens und der des Nordens der Gegensatz von klassischer Ordnung und romantischem Chaos zugrunde liegt. Die Ordnung, von der Nietzsche hier spricht, ist jedoch keine ewige, sondern eine vom Menschen durch Mühen geschaffene, weshalb die Ordnung ein überwundenes Chaos repräsentiert. Es ist also nicht Winckelmanns „edle Einfalt, stille Größe“ (Winckelmann nach Forssman 2010, S. 1), sondern eher eine aus dem Chaos geschaffene, geordnete Größe, für die Nietzsche wirbt, und mit der er auch ein Paradigmenwechsel hinsichtlich des Antikenverständnis unter Altphilologen im 20. Jahrhundert bewirkt hat.
2.4 Wirkung Was ist nun aus Nietzsches Sicht problematisch an Wagners kranker Kunst, die unplausible und krankhafte inhaltliche Positionen vertritt, die musikalisches Material benutzt, das weit über das traditionelle, tonale Material hinausgeht, und in dem Melodien und Rhythmen vorkommen, denen jede Klarheit und Ordnung fehlt. Dass Problem ist nicht, dass die Musik aus Nietzsches Sicht krank ist, sondern vielmehr, dass sie auf eine Weise krank ist, die die Erschöpften anspricht und noch weiter schwächt. Bestimmte Formen von Krankheit können aus Nietzsches Sicht auch als Stimulans des Lebens wirken, jedoch sollen die Eigenschaften, die in Wagners Musik auftreten, nicht eine solche Form von Krankheit darstellen.
3 N ietzsches Kritik aus der Sicht des Metahumanismus6 Nachdem ich im 2. Teil des Vortrags erläutert habe, warum Nietzsche Wagners Kunst für krank hält, ohne mich in diesem Kontext kritisch und mit Nietzsches Kritik auseinandergesetzt zu haben, da ich mich als tugendhafter Exeget verstand, der sich darum bemühte, Nietzsches Kritik so deutlich und so stark wie möglich hervortreten zu lassen, wende ich mich nun kritisch seinen Thesen zu,
6 Vgl. Del Val/Sorgner 2013, S. 4f.
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da sie aufgrund mangelhafter gegenwärtiger Plausibilität nicht unhinterfragt stehen bleiben können. Eine kritische Auseinandersetzung mit Wagners und Nietzsches Musikdramen-Theorien habe ich bereits an anderer Stelle durchgeführt. Hier konzentriere ich mich speziell auf Nietzsches Kritik von Wagners Kunstkonzeption hinsichtlich der Zuschreibung der Eigenschaft der Krankheit.
3.1 Nietzsches These 1 zum Inhalt und Text Wagners Kunst sei krank, da in den zu ihr gehörigen Texten unplausible und kranke Positionen vertreten werden, insbesondere zur Liebe und der Erlösung, die zur Folge hätten, dass die bereits Erschöpften weiter geschwächt werden würden. Nietzsches Kritik ist zu einem kleinen Teil durchaus berechtigt, insofern Wagner davon ausgeht, dass es ein Ideal der Liebe und eine Form der Erlösung gibt, die für alle Menschen gültig sind. Wagners Einheitswahn wird an seiner Kritik der Oper genauso deutlich wie an dem Anliegen, Festspiele zu etablieren, um die deutsche Gesellschaft wieder in eine Gemeinschaft zu verwandeln. Eine Gesellschaft ist durch die Atomisierung der Individuen gekennzeichnet, wohingegen in einer Gemeinschaft ein organischer Zusammenhalt gegeben sein, und sich jeder quasi wie in einer Familie geborgen fühlen könne. Hiermit möchte ich aber weder sagen, dass Wagners Ideale für niemanden zutreffend sein können, und genauso wenig vertrete ich, dass Nietzsches Variante eines inhaltlichen Ideals eine plausiblere und bessere Variante darstellt. Nietzsche geht zwar nicht davon aus, dass es nur ein Ideal gibt, aber, dass eine detaillierte Strukturierung für eine Kultur notwendig und wünschenswert ist, was in seiner Idealvorstellung hin zu einer Zweiklassengesellschaft führt, mit Künstleraristokraten einerseits und der restlichen Bevölkerung andererseits, die sich darum kümmert, den Künstleraristokraten die notwendigen Lebensgrundlagen zu beschaffen. Eine solche Variante wäre zwar nicht mit dem Dritten Reich zu identifizieren, jedoch wäre sie wahrscheinlich genauso wenig wünschenswert. Sowohl ich als auch der wahrscheinlich größte Bevölkerungsteil der westlichen Industrienationen lehnt eine solche Sozialordnung ab. Auch wenn ich mit Nietzsche Wagner hinsichtlich seiner Textinhalte kritisiere, so richtet sich meine Kritik nur gegen den absoluten und universalen Gültigkeitsanspruch seiner Ideale, nicht jedoch dagegen, dass die Inhalte notwendigerweise verwerfliche sein müssen. Ich gehe von einer radikalen Pluralität des Guten aus, weshalb es nicht unmöglich ist, dass für manche Menschen Wagners Ideal durchaus ein zutreffendes sein kann. Die Kritik Nietzsches, dass es sich um kranke Ideale handelt, würde ich insbesondere hinsicht-
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lich der von Wagner vertretenen schopenhauerianisch-buddhistischen Variante der Erlösungsvorstellung sicherlich nicht teilen.
3.2 Nietzsches These 2 zum Material und der Harmonie Wagners Kunst sei krank, da in ihr das Tonmaterial so weit erweitert, dass die Grenzen der Tonalität ausgereizt wurden, womit einherging, dass die Musik dafür geeignet ist, „müde Nerven zu reizen“ (WA, KSA 6, S. 23), und somit Erschöpfte weiter zu schwächen. Bezüglich der zweiten von Nietzsche vorgetragenen These zur Krankheit von Wagners Kunst, kann ich sagen, dass ich die seiner Argumentation zugrunde liegenden Überlegungen nachvollziehen kann, was nicht bedeutet, dass ich das Ausschöpfen des Tonmaterials notwendigerweise für etwas Verwerfliches halte. Das Anliegen der beständigen Erweiterung des Tonmaterials und der Vermeidung von jeder herkömmlichen Tonalität kann jedoch zu einer Einstellung führen, wie sie sich innerhalb der musikalischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts durchsetzte. Jeder Rückgriff auf Traditionelles wurde aus der Sicht Adornos mit dem Faschistischen und dem Totalisierenden in Verbindung gebracht (Adorno 1975, S. 135, 137, 169, 187). Um beständige Kritik zu üben, galt es, stets Neues zu entwickeln. Auch wenn diese Kurzcharakterisierung der musikalischen Avantgarde selbstverständlich unvollständig ist, so verdeutlicht sie doch einen Punkt, der innerhalb dieser Tradition virulent wurde. Glücklicherweise hat sich parallel zur Avantgarde im 20. Jahrhundert auch die minimal music entwickelt, die nicht darum bemüht ist, traditionelle Tonalität unbedingt zu vermeiden. An anderer Stelle habe ich dargelegt, warum traditionelle Arten der Harmonie, Proportionalität und Schönheit für Menschen durchaus wichtig sein können. Zwar lässt sich deren Bedeutung nicht durch Verweise auf eine platonische Ideenwelt verteidigen, doch auch aus einer eher immanenten oder relationalen Perspektive heraus kann diesen Ordnungsschemen ein wichtiger Wert zukommen. Hiermit möchte ich nicht für eine Verabsolutierung der traditionellen Harmonie eintreten. Es gibt jedoch Gründe davon auszugehen, dass traditionelle Arten der Harmonie wichtig für die Menschen sein können. Hiermit ist nicht gesagt, dass Disharmonisches nicht ebenso wichtig sein kann. Auch Disharmonisches kann wichtig für menschliches Leben sein. Ohne an dieser Stelle für die Plausibilität des eben vertretenen argumentieren zu können, mag die Bedeutung des Schattens von Jungs analytischer Psychologie und auch der verschiedenen Phasen innerhalb seines Individuationsprozesses bereits auf die Wichtigkeit sowohl des Harmonischen als auch des Disharmonischen hindeuten (vgl. Sorgner 2010, S. 233–236). Ist damit gesagt, dass Wagners musikalische Revolution eine Art der Krankheit darstellt? Die Aus-
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weitung des musikalischen Materials kann ausschließlich dann problematisch sein, wenn diese Grundhaltung verabsolutiert wird und alle anderen Einstellungen damit verdrängt und verboten werden. Disharmonisches wie Harmonisches ist wichtig für menschliches Leben, und es ist ein großer Gewinn, dass innerhalb unserer Zivilisation sowohl radikal harmonische, radikal disharmonische als auch eine Vielzahl von Synthesen der beiden Positionen vorhanden sein können. Nietzsche hat wahrscheinlich eher dafür argumentiert, dass geordnete Harmonien vorherrschend sein sollten, obwohl dieser Punk nicht klar und abschließend zu klären ist. Vielleicht hat er nur wie ich, Vorbehalte gegen die Verabsolutierung des Bestrebens nach der Erweiterung des Tonmaterials gehabt.
3.3 Nietzsches These 3 zur Form, Melodie und Rhythmus Wagners Kunst sei krank, da sie formlos ist, was daran deutlich wird, dass sie durch unendliche und damit chaotische Melodien und auch durch mehrdeutige und damit unklare Rhythmen geprägt ist, was wiederum zur Konsequenz haben soll, dass die Verfallsprozesse, d. h. die Décadence der Moderne, weiter gefördert werde. Nur durch klare, geordnete und wohlgeformte Melodien und Rhythmen können der Verfallsprozess gestoppt, der Nihilismus überwunden und eine neue Kultur entstehen. Die unendliche Melodie und mehrdeutige Rhythmen mögen zwar die Décadence und damit den Nihilismus fördern, dies wäre aber kein Grund für mich, beide Eigenschaften abzulehnen, so wie Nietzsche dies tut. Sein Grund ist, dass er den ethischen Nihilismus (Sorgner 2010, S. 134f. sowie S. 239–243) überwinden will. Den aletheischen Nihilismus hält er jedoch für eine Errungenschaft. Im Unterschied zu Nietzsche gehe ich davon aus, dass beide Formen des Nihilismus einen Gewinn darstellen, d. h. ich bejahe sowohl den ethischen als auch den aletheischen Nihilismus, da nur auf diese Weise paternalistische, verabsolutierende und faschistische Strukturen vermieden werden können. Falls die unendliche Melodie und mehrdeutige Rhythmen dabei behilflich sind, den Nihilismus zu fördern, dann wären beide Eigenschaften wünschenswerte. Da ich mir aus naturalistischer und relationaler Perspektive jedoch auch der Bedeutung von geordneten Strukturen bewusst bin, halte ich eine verabsolutierende Bejahung der beiden formalen Hilfsmittel zur Förderung des Nihilismus für problematisch. Eine Gesellschaftsordnung, die die Darbietung von Werken zulässt, die im breiten Spektrum zwischen einer hohen Ordnung und einem vehementen Chaos vorhanden sind, erscheint mir in der Tat eine wünschenswerte. Gegenwärtig sind zwar zahlreiche Bevormundungsstrukturen, die insbesondere im Mittelalter durch Kirche und Aristokratie gegeben waren, nicht mehr vorhanden, dies bedeutet
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aber nicht, dass der gegenwärtige Zustand ein vollkommener ist und nicht verbessert werden kann. Es gibt noch immer viele Bereiche, die kritisiert werden müssen, da in ihnen problematische Arten des Paternalismus gegeben sind.
4 Conclusio Ich habe zunächst gezeigt, was unter Nietzsches Kritik zu verstehen ist, wenn dieser davon spricht, dass Wagners Kunst krank ist. Anhand der zuletzt angestellten Überlegungen ist jedoch auch deutlich geworden, dass diese Kritik in der Gegenwart revidiert werden muss. Zwar haben einige, von Nietzsche herausgestellte Punkte, durchaus eine gewisse Plausibilität. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die von Nietzsche vorgeschlagene Reaktion eine angemessene ist. Ich gehe davon aus, dass Nietzsches Alternative einen ebenso unzeitgemäßen, unangemessenen und unerwünschten Vorschlag darstellt. Er ist jedoch hilfreich für uns, um klar herauszuarbeiten, welche Implikationen Kunstwerke haben können und welche dieser Implikationen für uns wünschenswerte sind und welche nicht. Wagners Kunst mag zwar nicht krank sein, da der Krankheitsbegriff, den Nietzsche anlegt, kein zeitgemäßer ist. Dies bedeutet nicht, dass eine Affirmation von Wagners Kunst in allen Bezügen moralisch unproblematisch ist. Sein beständiger Wunsch, auf verschiedenen Ebenen Einheit stiftend zu wirken, sollte in jedem Fall sehr kritisch behandelt werden, da er mit der radikalen Pluralität von Konzepten des Guten in Konflikt treten muss, die die unterschiedlichen Menschen weltweit mit ihren verschiedenartigen Wünschen, Hoffnungen und Zielen haben, nach denen sie ihr Leben führen wollen.
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Übermenschkonzeptionen bei Wagner und Nietzsche Das 19. Jahrhundert war eines der Revolution und Restauration, das Jahrhundert des Bürgers, aber auch das des Künstlers, der Erklärung von Gottes Tod und nicht zuletzt das Jahrhundert Friedrich Nietzsches und Richard Wagners. Das Jahrhundert also in dem in musikdramatischer, philosophischer und auch poetischer Weise der Begriff des Übermenschen theoretisch manifest wird. Ein Vergleich der Übermenschkonzeptionen Wagners und Nietzsches hat die Hypothek, erklären zu müssen, inwiefern es bei Wagner überhaupt eine solche Konzeption gibt. Einzuräumen ist, dass sich der Topos Übermensch weder in Wagners Schriften noch in seinen Musikdramen findet. Seine relevanten Protagonisten sind aber Helden, und ich erwähne hier nur Lohengrin, Wotan und Siegfried – und als solche durchaus mit übermenschlichen Zügen ausgestattet, sodass ein Vergleich mit Nietzsches Übermenschkonzeption möglich scheint. Bei Nietzsche finden sich nur Skizzierungen, Schraffuren eines Typus, der mit dem Wort Übermensch bezeichnet wird, die darüber hinaus nicht selten ex negativo ihre Bedeutung entfalten: etwa als Gegenbild zum herkömmlichen Menschen, zum Humanismus, zur Metaphysik etc. Insgesamt ein Zukunftstyp und letztlich eine Vision, wenn sie auch – zumindest für das Spätwerk – eine gewisse Relevanz besitzt, steht sie doch im Nexus des Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen und weitergehend zu dem zentralen Begriff des Willens zur Macht. Mit einem Blick auf die Filiation des Helden resp. des Übermenschen stößt man auf den „Sturm und Drang“, auf Goethe, Schiller und Beethoven, auf den Geniebegriff; auf die Vision eines großen Menschen, eines Tatmenschen, eines Kraftpakets, dem in seiner Unmittelbarkeit ein Vielzahl von Attributen zukommt. In dieser Hinsicht ist er Nietzsches Übermensch näher als Wagners Helden, weil diese in die Mittelbarkeit hineingezogen, durch die Konfrontation mit anderen Lebenswelten auf Verwirklichungsprozesse appliziert, sich bewähren müssen und Spannungen und Konflikten ausgesetzt sind, aus denen Wagner seine Geschichten gewinnt. Von all dem scheint Nietzsches Übermensch unberührt; er ist nicht hypertroph wie Wagners Helden. Gewollt oder nicht, treffen beide Konzepte auf die semantische Leere nach Gottes Tod in der säkularisierten Gesellschaft, die Wagner mit seinen Mythen füllt und Nietzsche, abgesehen von seiner Zivilisationskritik, mit den Begriffen Trieb, Leib, Wille zur Macht, ewige Wiederkehr des Gleichen und eben auch Übermensch.
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Ich werde in einem ersten Schritt auf signifikante Stellen der Libretti von Lohengrin und Der Ring des Nibelungen hinsichtlich der übermenschlichen Anteile der Helden eingehen und in einem zweiten auf Nietzsches Übermenschkonzeption, um sie dann in einem dritten aufeinander zu beziehen.
1 Wagner Als Person erscheint uns Richard Wagner wie das Vexierbild des Jahrhunderts, das ihn formte, unter dem er litt, und das ihn zur Kreation eines musikalischen Werks inspirierte; eine Figur und eine Inszenierung, die seines Gleichen sucht. Wagner, zunächst sozial depraviert und dann Hätschelkind des bayerischen Königs und des preußischen Adels, Revolutionär und Reaktionär, ein Antisemit, der seine Musikdramen von Juden uraufführen ließ, der verschwendungssüchtige Kapitalismuskritiker, der treulose Apologet der Treue, der ungläubige Christentums-Verherrlicher, der egomane Mitleidsprediger: Wagner hält dem Bürger den Spiegel vor und lässt ihn – so wie die Geschichte selbst – in seinen Spiegelungen ohne Antwort und Ausweg zurück. Treffend bemerkt Peter Wapnewski: „Er ist der erste Künstler der Moderne. Die bis zum heutigen Tage vollkommenste Inkarnation des reinen, d. h. des puren Künstlertypus. […] Ein Renaissance-Mensch im bürgerlichen Zeitalter […]“ (Wapnewski 1978, S. 17.) Dieser moderne Renaissancekünstler, der pure Künstler; so sah ihn wohl Nietzsche zu Zeiten, schuf mit seinen Musikdramen Helden und damit Orientierungen, die er gnadenlos Schicksal und Widerstand aussetzt, und sie an ihnen zerbrechen lässt. Da bleibt keine Hoffnung auf ein richtiges Leben im Falschen noch auf einen nietzscheanischen Amor fati. Wagners Helden haben eben sowohl menschliche wie übermenschliche, vielleicht besser transmenschliche Züge und Eigenschaften. Und anders als Nietzsches Übermensch, der wohl als Mann imaginiert werden muss, können auch Frauen heldenhaft und übermenschlich sein; wie namentlich Brünnhilde und Erda. Ein weiterer Unterschied besteht nicht zuletzt darin, dass Nietzsches Übermensch eine Zukunftsvision ist, und dass weder über seine Lebensmöglichkeiten noch über seine Sterblichkeit Definitives gesagt wird; sodass er auch unsterblich sein könnte, während Wagners Heldinnen und Helden sterben, ja geradezu durch ihren Heldenstatus sterben müssen. Oder sie entschwinden; sie scheitern, ohne, dass man Weiteres über ihr Schicksal erführe wie etwa Lohengrin; ein Wesen mit übermenschlichen Eigenschaften, das aus dem Nichts kommt und dorthin auch verschwindet. Der Retter von Elsa von Brabant ist auch ein Erlöser wie der Übermensch. Ebenso wie Siegfried, der nahezu Unverwundbare, auch ein Retter ist, der von Brünnhilde. Und nicht zuletzt der Gott Wotan, der Walvater; der eindeutig übermenschliche Kräfte hat und über Verträge
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Ordnung schaffen will, gleichwohl für den Bau der Götterburg Walhall, Freia, die über die Äpfel der ewigen Jugend waltet, den Riesen als Pfand verspricht, und der letztlich an den Widersprüchen zwischen seinen Ansprüchen und den Moralforderungen seiner Frau Fricka zerbricht. Welche übermenschlichen Züge aber repräsentieren Wagners Helden? Wagner hat zumindest mit seiner Figur des Siegfried, mutmaßlich aber schon mit dem Lohengrin einen Typus kreiert, den später das Hollywood Kino, und zwar erst ab den 1970er Jahren und nicht direkt nach dem zweiten Weltkrieg, in seinen Kreationen und Inszenierungen von Superman und Spiderman aufgreifen konnte und aufgegriffen hat. Die Nachkriegszeit hatte – allzumal nach den Erfahrungen mit dem Führer – keine Freiräume für Supermänner; der ist dann ein Produkt der Wohlstandsgesellschaft. Wie sehr Wagners Musik auch als Filmmusik taugt, wissen wir nicht zuletzt durch die spektakuläre Einspielung des „Walkürenritt“ in die Cockpits der amerikanischen Bomberpiloten über Vietnam aus Coppolas Apocalypse now. Hollywoods Supermänner sind Kultfiguren, die mit übermenschlicher Kraft ausgestattet, in einer gottlosen Welt die Stelle besetzen, die sich nach Gottes Tod aufgetan hat und mit ihrer übernatürlichen Kraft für Gerechtigkeit und das Gute kämpfen. In dieser Hinsicht stehen sie maximal gegen Nietzsches Übermenschen, aber beide Typen setzen oder sollen ihre Kräfte einsetzen, um Bestehendes grundlegend zu verändern; um eine andere Ordnung zu etablieren. Anders als Superman, Batman oder Spiderman ist Nietzsches Übermensch wohl kaum eine Kultfigur, und anders als Hollywoods Supermänner soll er aus einer kraftvollen Leiblichkeit schöpfen, und nicht aus fiktiven physischen Potenzen. Wagners musikdramatisches Werk ist ohne seine Helden nicht zu denken; es lebt und leidet, es hofft und bangt mit ihnen. Sie sind mit dem Mythischen und der germanischen Mythologie – so im Ring – verwoben. Diese mit übermenschlichen, auch mit göttlichen Attributen ausstaffierten Heldinnen und Helden scheinen zunächst unverwundbar, aber im Verlauf der musikdramatischen Szene zeigt diese Unverwundbarkeit Risse. Wagner fokussiert das Leiden seiner Helden, ihr dramaturgisch unausweichliches Scheitern. Schon bevor er 1850 seinen programmatischen Aufsatz: Das Kunstwerk der Zukunft veröffentlichte, hatte er den Lohengrin abgeschlossen. Der Kunstwerkaufsatz entwickelt die Konzeption des Gesamtkunstwerks, das zunächst zum Kunstideal schlechthin wird. Dort proklamiert er das Modell einer Vereinigung aller Künste im Musikdrama1, dem ein triadisches Geschichtsmodell unterliegt: antike
1 „Für Wagner ist der Weg zum Musikdrama ein Weg der musikalischen Form, des ästhetischen Begriffs und des sozio-politischen Lebens. Der Weg wird als Weg von der Oper zur Symphonie, von Rossini zu Beethoven oder (und zwar zunehmend) von Italien und Frankreich nach Deutsch-
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Kultur, Moderne und eine Zukunftsgesellschaft, die das Kunstwerk der Zukunft präfiguriert. Wagners frühes Kunstideal will das Individuum aus seiner gattungsmäßigen und gesellschaftlichen Isolation erlösen. Die Kunst soll dabei den Gesetzen der Natur folgen, nur der Mensch ist frei, der sich in die Naturzusammenhänge integriert, und nur die Kunst ist frei, die sich als einen Bestandteil des menschlichen Lebens begreift. Allein das Leben ist die Quelle des künstlerischen Stoffes und der künstlerischen Formen; so wird die Kunst zur erlösenden Kraft des Volkes.2 Der ethische Auftrag des Künstlers braucht Maßstäbe für sein Kunstschaffen, diese findet er in der Geschichte, denn die beiden Grundaxiome des Kunstschaffens – geschlechtlich nationale und der unnationale universelle – können nur über einen historischen Bezug revitalisiert werden. Über den Lohengrin finden sich zahlreiche Äußerungen Nietzsches u. a. in diversen Briefen sowie in Der Fall Wagner und in Nachlassfragmenten. Im Winter 1874 parallelisiert er Tannhäuser und Lohengrin, die er als „Spiegelungen eines Jünglings“ klassifiziert, mit Wagners Jugend; der Jugend eines „vielseitigen Dilettanten“ (NL 1874, KSA 7, S. 791), und schon damals äußert er Zweifel an Wagners musikalischer Begabung. Dieser wird 1878 in den steinernen Satz gegossen: „Tannhäuser und Lohengrin keine gute Musik“ (NL 1878, KSA 8, S. 497). Und in Der Fall Wagner betont er kritisch, das Frageverbot Lohengrins sei von Wagner aus der christlichen Perspektive des Glaubensgebotes heraus formuliert. Der Schwanenritter Lohengrin, Retter von Elsa von Brabant, angeklagt von Friedrich Graf von Telramund für den Tod ihres Bruder verantwortlich zu sein, kommt scheinbar völlig überraschend zu einem Gottesgericht an die Stade von Brabant. Bevor ihr Erlöser ankommt, hatte Elsa freilich in einer traumähnlichen Sequenz eine Vision, die sie zunächst König Heinrich, angerufen, Recht zu sprechen, offenbart:
land bezeichnet – oder als Weg vom äußerlich Opernhaften zum innerlich Symphonischen, von der zusammengeflickten Konstruktion zur Ganzheit, von der Zersplitterung zur Einheit, von der Hohlheit absoluter oder formal eingeschränkter Musik zu der Vereinigung der Schwesternkünste Klang, Wort, Bild und Gebärde“ (Goehr 2008, S. 226). 2 „Ist der Geist an sich die Notwendigkeit, so ist das Leben das Willkürliche, ein fantastisches Maskenspiel, ein müßiger Zeitvertreib, eine frivole Laune, ein ‚car tel est notre plaisir‘ des Geistes; so ist alle rein menschliche Tugend, vor Allem die Liebe, etwas nach Gutbefinden Deutbares und gelegentlich zu Verneinendes; so ist alles rein menschliche Bedürfnis Luxus, der Luxus aber das eigentliche Bedürfnis; so ist der Reichtum der Natur das Unnötige, die Auswüchse der Kultur aber sind das Nötige; so ist das Glück der Menschen Nebensache, der abstrakte Staat aber Hauptsache; das Volk der zufällige Stoff, der Fürst und der Intelligente aber der notwendige Verzehrer dieses Stoffes“ (Wagner 1983, Bd. 6, S. 24).
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In lichter Waffen Scheine ein Retter nahte da, ein tugendlicher Reine ich keine noch ersah: ein golden Horn zu Hüften, gelehnet auf sein Schwert, – so trat er aus den Lüften zu mir, der Recke wert; mit züchtigem Gebaren gab Tröstung er mir ein; – des Ritters will ich wahren, er soll mein Streiter sein! (von Soden 1980, S. 20)
Weil er in „lichter Waffen Scheine“ erscheinen soll, ist er eine Lichtgestalt, bereit gegen die Mächte der Finsternis, Friedrich von Telramund und seine Frau Ortrud, zu kämpfen. Es bezeichnet auch seine über- oder transmenschlichen Qualitäten. Dieser Ritter soll im Gotteskampf auf Elsas Seite kämpfen und kurze Zeit nach ihrer visionären Traumsequenz taucht er tatsächlich auf. Lohengrin ist keine Traumfigur, aber quasi fiktional kommt er in einem Nachen, von einem Schwan gezogen, an Land. Sein spektakuläres Erscheinen, eine der vielen Filmszenen in Wagners Werk, kommt einer Epiphanie gleich; namentlich für Elsa. Sie sei, so notiert Wagner das Unbewußte, Unwillkürliche, in welchem das bewußte, willkürliche Wesen Lohengrins sich zu erlösen sehnt; dieses Verlangen ist aber selbst wiederum das unbewußte notwendige, Unwillkürliche, im Lohengrin, durch das Elsas Wesen sich verwandt (Wagner 1983, Bd. 6, S. 277).
Nach anfänglichem Schrecken erkennt Elsa in dem Fremden ihren Retter, dem sie sich sofort hingeben will, und auch dieser fragt umstandslos, ob sie ihn als Gatten annehmen wolle? Bei Beiden entbrennt die Liebe wie ein coup de foudre, deren Erfüllung Lohengrin freilich an eine Bedingung knüpft; an das berühmte Frageverbot: „Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam’ und Art!“ Das Frageverbot bindet sich an den Nexus, dass ein göttliches, wir können auch sagen ein übermenschliches Wesen (Lohengrin) verschwinden muss, wenn ein sterbliches Wesen (Elsa) nach seiner Herkunft fragt. Nachdem Elsa einwilligt, erhärtet er die Forderung mit dem Nachsatz: „Elsa! Hast du mich wohl vernommen?“ (von Soden 1980, S. 25f.) Zunächst kann sie auch dieses Versprechen als Faustpfand der Liebe, deren einziger Prüfstein die Wahrheit zu sein scheint, die das universale und damit wahre Wesen des Menschen entbirgt, halten. Lohengrin gewinnt den Kampf gegen Friedrich von Telramund, was wohl keine Überraschung ist, so wie er in die Szene von Anbeginn als ein Fabelwesen mit übermenschlichen Kräften eingeführt wurde. Ab der zweiten Szene des dritten Aktes, beginnt Elsa sich gegen das Frageverbot aufzulehnen; sie fragt nach „Nam und Art“ Lohengrins in einer Situation, in der Friedrich von Telramund, mutmaßlich in mörderischer Absicht, in das Zimmer der Liebenden einbricht und dabei von Lohengrin getötet wird. Der erkennt freilich die Ausweglosigkeit der Situation und fasst sie in die Worte: „Weh, nun ist all unser Glück dahin!“ (von Soden 1980, S. 57.) Die Liebe bestimmt die Dramaturgie;
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sie bindet zunächst Elsa fraglos an Lohengrin, und ihr Zweifel trennt sie wieder von ihm. Elsas Liebe ist in den Spielarten ihrer Bedingungslosigkeit und ihres Zweifelns der Motor des Dramas. Hätte sie nicht gefragt, wäre Lohengrin bei ihr geblieben, weil er dann hätte bei ihr bleiben können. Sie scheitert an ihrer „Allzumenschlichkeit“, könnte man mit Nietzsche sagen. Das Ende ist schnell erzählt; zur letzten traurigen Fahrt wird der Schwan gerufen, und Lohengrin offenbart seine Identität: Er ist Parsifals Sohn. Bezüglich der Relation Lohengrin – Parsifal darf angemerkt werden: Lohengrins Scheitern an seinem übermenschlichen Erlösungsauftrag kompensiert Parsifal durch ein Szenario neuheitlich-synkretistischer Elemente und reüssiert. Dieses Reüssieren wird grundiert durch eine Zwei-Welten-Lehre, weil in Wagners Spätwerk die Kunst Statthalter und somit Liturgie-Ersatz ist. Kunst will Religion sein, bleibt aber ohne Offenbarungsmandat an diese angeklebt. Nietzsche hätte sagen können, wenn der Übermensch mit seinem Auftrag final scheitert, bleibt vielleicht noch die Kunst, aber eine, die an Religion gekettet ist, und damit ihre raison d’etre einbüßte. Ich komme jetzt zum Ring des Nibelungen, den Nietzsche wie die anderen Musikdramen Richard Wagners auch, sehr unterschiedlich bewertete; ein Wechsel von ursprünglicher Emphase zu späterer Ablehnung. In einem Nachlassfragment von 1875 notiert er: „im Ring des Nibelungen ist eine Höhe und Heiligkeit der Stimmung erreicht, daß wir an das Glühen der Eis- und Schneegipfel denken müssen“ (NL 1875, KSA 8, S. 215). Und zehn Jahre später: „Bei Wagner ist bezeichnend, wie er schon dem Ring des Nibelungen einen nihilistischen (ruhe- und endesüchtigen) Schluß gab“ (NL 1885/1886, KSA 12, S. 118). Abgesehen von Siegfried, ist Wotan das dramaturgische Zentrum der Tetralogie, verstrickt er sich doch unentwirrbar in seinem Macht- und Ordnungsstreben, wird dadurch unfrei und schuldig; er will die Macht, und er will den Ring des Nibelungen, der sie ihm verleihen kann. Zu Alberich, seinem Antagonisten, sagt er: „Den Reif verlang’ ich: mit dem Leben mach was du willst!“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 57) Obwohl er ihm durch eine List den Ring entwendet, kann er ihn nicht halten, und muss ihn – Substitut für die Opferung von Freia – als Gegenleistung den Erbauern von Walhall, den Riesen Fafner und Fasolt, geben. Aus dieser Unfreiheit kann ihn nur der Held Siegfried, weil er frei ist, erlösen und darüber hinaus die Welt von Wotans Fluch erretten. Entsprechend Wotan in der Walküre: „Not tut ein Held, der, ledig göttlichen Schutzes, sich löse vom Göttergesetz: so nur taugt er zu wirken die Tat, die, wie not sie den Göttern, dem Gott doch zu wirken verwehrt“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 101). Auf den Verlust des „Rheingoldes“ folgen weitere: In der Auseinandersetzung mit seiner Frau Fricka muss sich Wotan gegen seine illegitimen Kinder, das Geschwisterpaar Siegmund und Sieglinde, die im Inzest leben, stellen, weil
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Fricka als Hüterin der Moral, das bestraft sehen will. Einer der ganz zentralen Szenen in der gesamten Tetralogie ist das sich daran anschließende Gespräch zwischen Wotan und seiner Tochter Brünnhilde im zweiten Aufzug der Walküre; Brünnhilde versucht umsonst ihren Vater umzustimmen, um so die Geschwister zu schützen. Nietzsche, der in einem nachgelassenen Fragment vom Sommer 1875 behauptet, dass die Treue bei Wagner sogar über den „universalen Begriff“ der Liebe hinausgehe, bezieht sich exakt auf diese Stelle und schreibt: „Das ganze Thema der Treue ist bei ihm ausgeschöpft: das Herrlichste ist wohl Brünnhilde, die gegen den Befehl Wotan’s Wotan Treue bewahrt und dadurch die Erlösung der Welt möglich macht – […]“ (NL 1875, KSA 8, S. 216). Wotan erkennt, dass die Verträge, die er geschmiedet hatte, ihn nun selbst knechten und wiederum ergeht der Ruf an einen Helden. Den Abgesang auf sein Regiment findet sich in folgenden Zeilen: Der Fluch, den ich floh, nicht flieht er nun mich: – was ich liebe, muß ich verlassen, morden, was je ich minne, trügend verraten wer mir vertraut! – Fahre denn hin, herrische Pracht, göttlichen Prunkes prahlende Schmach! Zusammen breche was ich gebaut! Auf geb’ ich mein Werk; eines nur will ich noch: das Ende – das Ende! (Wagner 1983, Bd. 3, S. 110).
Aber dennoch wendet er sich im Kampf zwischen Hunding, Sieglindes Mann und Siegmunds Widersacher und Siegmund von diesem ab, indem er das mythische Schwert „Nothung“ zerbrechen lässt. Weil Brünnhilde sich mit ihrer Treue zu Siegmund seinem Verbot widersetzte und damit Wotans Treue wahrte, wie Nietzsche richtig erkannte, wird sie aus dem Verbund der Walküren ausgestoßen und auf einen Felsen, umgeben mit einem Feuerring, verbannt. Wotan aber zerbricht am Abschied von der Tochter: „Leb wohl, du kühnes herrliches Kind! Du meines Herzens heiliger Stolz, leb wohl! leb wohl! leb wohl!“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 148) Das zerbrochene Schwert „Nothung“ schmiedet Siegfried selbst und stellt damit seine Autonomie und Übermenschlichkeit unzweifelhaft unter Beweis. Mit diesem Schwert erschlägt er den Riesen Fafner und eignet sich den Nibelungenschatz an, den dieser in seiner Höhle verbarg. Um sein Glück zu vervollkommnen, verheißt ihm ein Waldvogel ein „herrliches“ Weib: Brünnhilde. Nachdem er zu ihr durch den Feuerring gelangt, auch hier ein Beweis seiner übermenschlichen Kraft, lernt er erstmalig das Fürchten in dem Moment als er in Liebe zu Brünnhilde entbrennt und relativiert damit seinen Heldenstatus. Hier zeigt sich eine Verbindung zu Wagners Spätwerk, denn auch Parsifal, der „tumbe Tor“, kannte wie Siegfried seine Herkunft nicht und war unerschrocken und naiv. Wissend und damit zerbrechlich wird er durch das Mitleiden; also auch durch persönliche Erfahrung. Das Fürchten lernt der Held allein in der intimen, persönlichen Interaktion; Naturkräfte konnten es ihm nicht einflößen. Vielleicht ist in
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diesem Zusammenhang ein Fragment Nietzsches vom Sommer 1882 sprechend: „Wagner’s Kunst durch Schopenhauer falsch. Erst meine Philosophie ist recht dafür. Siegfried“ (NL 1882, KSA 9, S. 685). Der spekulative Gedanke könnte folgern: In Nietzsches Philosophie wäre Siegfried der Übermensch geblieben oder wirklich erst geworden und nicht ein getäuschter Held, der seine große Liebe verrät. In: Jenseits von Gut und Böse findet sich folgende These zu Siegfried und Parsifal: Er mag sogar eine Sünde wider die Romantik gewesen sein, dieser antiromanische Siegfried: nun, Wagner hat diese Sünde reichlich quitt gemacht, in seinen alten trüben Tagen als er […] mit der ihm eignen religiösen Vehemenz den Weg nach Rom […] zu predigen anfieng (JGB, KSA 5, S. 204).
Diese Predigt bezieht sich auf Parsifal. Im orgiastischen Liebesrausch freilich, einer der dramaturgischen Höhepunkte der Tetralogie, skandiert Brünnhilde: „Fahr hin, Walhalls leuchtende Welt! Zerfall’ in Staub deine stolze Burg! Leb wohl, prangende Götter-Pracht! […] Siegfrieds Stern; er ist mir ewig […] leuchtende Liebe, lachender Tod!“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 441f.) Damit endet Siegfried und damit endet ein identischer Moment generiert aus Liebe; was bleibt ist Götterdämmerung, aber nicht der Tod Gottes.
2 Nietzsche Auch Nietzsches Vision des Übermenschen hat Kompositions- und Filmgeschichte geschrieben. In Richard Strauss’ Komposition Also sprach Zarathustra – Tondichtung frei nach Nietzsche werden Entwicklungsstufen, die zum Übermenschen führen, tonal umgesetzt. Schon zu Beginn mit dem Trommelwirbel, einem Tremolo in den Kontrabässen und einem Trompetensignal, wo man hört, dass hier eine neue Daseins-und Weltdeutung beginnt. Um mit Nietzsche zu reden, „der grosse Mittag“ und damit ein neues Morgen, das des Übermenschen. Strauss lässt in seinem Zarathustra den Übermenschen nicht als einen brutalen Typen auftreten, vielmehr klingt da eine Fröhlichkeit mit, weil er sich auch ironisch auf die Welt einlässt. Das einleitende Leitmotiv ist zum Label der Konzertsäle geworden und hat Filmgeschichte geschrieben. Wir treffen hier auf einen plakativen Klang mit einer ungeheuren Suggestivwirkung, der durch einen impulsiven Rhythmus ins Gigantische gesteigert, insgesamt eine expressive Formgestaltung aufweist. Die Musik verkündet einen konvulsivischen Aufbruch, ein nicht endendes dynamisches Geschehen, einen überwältigenden Sog, mit dem alle Zeichen
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noch einmal auf einen neuen Anfang, den des Übermenschen, gestellt werden. Die Musik vermag das, was den Worten fehlen muss; eine Vision sinnlich erfahrbar werden zu lassen. Auch wenn Nietzsche im Brief an Köselitz vom 2. April 1883 die suggestive Frage aufwirft „Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser ,Zarathustra‘“ und gleich die Antwort „Ich glaube beinahe unter die ,Symphonien‘“ (KGB III/1, Bf. 397) mitliefert, ist es ein Buch und keine Partitur. Anfügen möchte ich, war er doch nur Narr, nur Dichter und eben kein Komponist mehr. Anders als in Wagners musikdramatischem Schaffen, wo die mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten Helden plastisch sind, lieben und leiden; empfinden in summa, ist Nietzsches Vision des Übermenschen eine kryptische Figur und in seine Philosophie nicht wirklich integriert. Das aber schwächt nicht zwangsläufig dessen theoretisch-methodische Position, denn man könnte sagen, dass figurativ visionäre, postmetaphysische Telos seiner Philosophie ist der Übermensch, der die ewige Wiederkehr des Gleichen bejaht und so die Leerstelle ausfüllt, die Gottes Tod hinterlassen hat. Wie aber sich Nietzsches Übermenschsemantik nähern? In einem Brief an Franz Overbeck vom 12. Februar 1887 aus Nizza beklagt Nietzsche keiner habe ihn nötig und geliebt, „erbärmliche schmerzenüberreiche Zeit […] Mein ganzer ‚Zarathustra‘ ist aus dieser Entbehrung gewachsen – wie unverständlich muß er sein! Welche absurden Erinnerungen habe ich in Hinsicht auf die Wirkung, die er gemacht hat!“ (KGB III/5, Bf. 798). Wenn man eine ästhetische Zarathustra-Lektüre eingefordert, die den Text als eine Konstellation von Elementen rekonstruiert, die einer ästhetischer Montage folgen; in der Relationen zusammenspielen und ineinandergreifen, verlieren Topoi wie die ewige Widerkehr des Gleichen, der Wille zur Macht und namentlich der Übermensch ihre unique, wenn auch streitige Semantik und werden als relationale Effekte sekundär bearbeiteter Metaphern ausgewiesen. Auch diese Lektürestrategie muss aber mit dem Faktum leben, dass Nietzsche mit dem Wort Übermensch sich nolens volens in einen Bedeutungszusammenhang stellt, der zumindest die Referenz Mensch und Über hat. Damit wird also nicht erklärt, warum er überhaupt diese Figur in sein Denken einführt und noch weniger, warum mit dieser Semantik? Er hätte sie auch Fritz, Fratz oder Om nennen können, was er nicht tat. Als Übermensch kann er der maximale Antipode des Über-Ichs sein; ein Begriff, den Nietzsche nicht kennen konnte.3 Soweit ich es sehe, bleibt uns eine begriffliche Diskussion der Vision des Übermenschen, in dem Wissen, dass der Boden unsicher ist, nicht erspart.
3 Ich danke Hermann Kocyba für diesen Hinweis.
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Nietzsches Konzeption des Übermenschen ist in vielfacher Hinsicht ambivalent und weist mehr Fragen auf, denn dass sie Antworten gibt; nicht zuletzt könnte das seine Intention gewesen sein. Seine Funktion scheint bipolar; kritisch gegen die Kultur des Abendlandes gestellt und daneben eine Utopie für Zukünftiges, mutmaßlich Besseres. Nietzsche, der sensible Kritiker, aber auch Visionär zukünftiger kultureller Entwicklungen hat mit dem Übermenschen nicht zuletzt einen provokanten Einspruch gegen die fortschreitende Dekadenz formuliert, stellt er dieser doch die höhere Moral der leiblich Starken entgegen. In einem Nachlassfragment von 1885 schreibt er: „Der Instinkt des Schaffenden, der weiß, wo er die Hand anlegt. Die große Verantwortung und die Unschuld. (Um Freude irgendworan zu haben, muß man Alles gutheißen.) Sich das Recht geben zum Handeln“ (NL 1885, KSA 11. S. 160). Die höhere Moral generiert ihre Potenzen ausschließlich aus der individuellen Haltung permanenter Selbstüberwindung. Der Übermensch, so man ihn als eine genuin neue Schöpfung begreift, wie die Stelle aus dem Zarathustra II nahelegt: „Niemals noch gab es einen Übermenschen […]“ (Za, KSA 4, S. 119) stünde – avant la lettre – jenseits der Selbstüberwindung, für das, was am Menschen überwunden werden muss. Im Aphorismus: „Von den Verächtern des Leibes“ aus Zarathustra I, identifiziert Nietzsche das Selbst, das er einen „unbekannten Weise[n]“ nennt, mit der Leibvernunft (vgl. Za, KSA 4, S. 40). Der Übermensch solle die Kraft haben, sich vollends auf seine Leibvernunft zu verlassen, ihr bedingungslos zu folgen; dann – so Nietzsche – können Dekadenz, Nihilismus, Leibverachtung und Metaphysik überwunden werden. Könnte also der Übermensch Nietzsches Beitrag zur Überwindung des abendländischen Humanismus sein, weil er die Kraft besitzen wird, ihn definitiv zu untergraben? Damit würde er sich noch auf den Humanismus beziehen, denn er ist keine absurde oder surreale Figur. Wäre er – weiter gefragt – auch ein visionärer Gegenentwurf zu Demokratie und Sozialismus, zum Ideal egalitärer Gesellschaften und damit zu den Fundamenten europäischen Kultur? Nietzsche figuriert sein antihumanistisches Denken auch über den Übermenschen, der für ein werteumschaffendes Handeln, das für Unglauben, Krieg, Grausamkeit, Spiel, Leibvernunft und Opfer steht und perennierendes Schaffen fokussiert. Ist der Übermensch nun aber eine Ausnahmenatur, generiert durch zukünftige Potenzen, oder können wir Herdentiere uns auch zu ihm entwickeln? Der Übermensch muss gewollt werden; das betont Nietzsche an verschiedenen Stellen. Gleichwohl insofern kryptisch, insinuiert es doch, dass eine Plattform für ihn bereitet werden müsse, was aber seiner Autarkie wohl entgegenstehen dürfte. Wollen ist der Modus der Befreiung und der Erlangung von Freiheit. Zweifelsfrei bestimmt Nietzsche den Willen des Menschen als Potenz seiner Autonomie, als Kraft, um von Idealisierung und religiösen Vorstellungen Abstand zu nehmen und ihnen eine eigenverantwortliche irdische Potenz entgegenzustellen, die schlussendlich in der Kreation des Über-
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menschen münden könnte. „Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit – so lehrt sie euch Zarathustra“ (Za, KSA 4, S. 111). Zum prophetischen Duktus des Zarathustra gehört die Verklammerung von Wollen und ja, auch von Freiheit, vom Freisein von reglementierender Ideologie. In Nietzsches Philosophie gibt es auf die obige Frage keine eindeutige Antwort. Da ist zum einen Nietzsches berühmtes Gebirgsaquarell aus der Vorrede des Zarathustra, des über dem Abgrund hängende Menschen; am Seil zwischen Tier und Übermensch. Ein Szenario, das freilich nicht indiziert, ob sich der Mensch zum Übermensch entwickeln könnte oder gar kann. Denn, so Deleuze: Der Übermensch definiert sich durch eine neue Weise zu fühlen; ein andres Subjekt als der Mensch, ein andrer Typus als der menschliche. Eine neue Weise zu denken, andre Prädikate als das Göttliche; denn dieses stellt noch eine Art dar, den Menschen und das Wesentliche Gottes, Gott als Attribut zu bewahren. Eine neue Weise Werte zu schätzen; kein Wechsel von Werten, kein abstrakter Austausch und keine dialektische Umkehrung, sondern ein Wechsel und eine Umkehrung im Element, aus dem der Werte der Werte hervorgeht, eine „Umwertung der Werte“ (Deleuze 1976, S. 178).
Vielleicht brauchte Nietzsche – quasi edukatorisch – die Kunstfigur Übermensch, um der für ihn unabdingbaren Überwindung des Menschen ein Wohin zu geben. Im Nachlass vom Winter 1882 betont er, seit er den Übermenschen liebe, „ertrage“ er den Menschen. „Ich will ihnen eine neue Hoffnung bringen!“ (NL 1882/1883, KSA 10, S. 147) Die Liebe zum Übermenschen, die wohl gleichzusetzen ist mit einer größeren Sicherheit, an seine Genese zu glauben, lässt ihn die Menschen ertragen. Ob der Übermensch freilich eine Hoffnung für die Menschen ist, bleibt höchst fragwürdig. Im Nachlass lesen wir: „Ich überwand auch die Liebe zu euch mit der Liebe zum Übermenschen. Und wie ich euch ertrage so müsst ihr euch selbst ertragen, aus Liebe zum Übermenschen“ (NL 1882/1883, KSA 10, S. 147). Im Aphorismus „Auf den glückseligen Inseln“ aus Zarathustra II schreibt Nietzsche über Gottes Substitution durch den Übermenschen. Vorausgeschickt sei, dass er in einem Rückblick auf seine Erfahrungen mit den ersten Bayreuther Festspielen aus Ecce homo kontrastierend Tribschen als „Insel der Glückseligen“ bezeichnet hatte. „Umsonst blätterte ich in meinen Erinnerungen. Tribschen – eine ferne Insel der Glückseligen: kein Schatten von Ähnlichkeit“ (EH, KSA 6, S. 323). In: „Auf den glückseligen Inseln“ findet sich nun jene Skizzierung des Übermenschen mit einem direkten Bezug zu Nietzsches Metaphorik von Tribschen. War also Tribschen, das Leben dort mit den Wagners, so, dass ein Vorgefühl für die Herrschaft des Übermenschen aufkam; auch wenn er damals weit davon entfernt war, ihn zu konzipieren. War die Wahrnehmung einer künstlerischen Allianz und einer besonderen Freundschaft ein übermenschliches Gefühl? Auch deshalb, weil er an anderer Stelle betont, die Freundschaft verbinde sich mit
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einem Gefühl für den Übermenschen. In einem Brief an Köselitz vom 3. August 1883 schreibt er: Wenn ich den ersten Zarathustra ganz verstehe: so will er eben an solche sich wenden, welche im Gedränge und mitten im Gesindel lebend entweder ganz und gar die Opfer dieses Distanz-Affektes werden (des Ekels, unter Umständen!) oder ihn ablegen müssen: denen redet er zu, sich auf eine einsame glückselige Insel zu flüchten (KGB III/1, Bf. 446).
Auch hier wieder der Hinweis auf die glückselige Insel. Letztlich bleibt es unentscheidbar, und wir bleiben in Nietzsches Labyrinth, aber die semantische Nähe der obigen Briefstelle und des Aphorismus aus Zarathustra, den ich jetzt näher betrachte, zu der zitierten Stelle aus Ecce homo, besteht. Vielleicht nicht zuletzt ein Beispiel für Nietzsches Behauptung vom Sommer 1886: „Insofern sind alle meine Schriften […] zurückdatirt“ (NL 1886/1887, KSA 12, S. 232): So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen. Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber zu Vätern und Vorfahren könnt Ihr euch umschaffen des Übermenschen: und Diess sei euer Bestes Schaffen! – […] (Za, KSA 4, S. 109) Schaffen – das ist die grosse Erlösung vom Leiden, und des Lebens Leichtwerden. Aber dass der Schaffende sei, dazu selber thut Leid noth und viele Verwandelung. […] (Za, KSA 4, S. 110) Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als Schatten. Ach, meine Brüder! Was gehen mich noch – die Götter an! (Za, KSA 4, S. 112)
Auf diesem gottlosen Eiland, der glückseligen Insel, formiert sich also der Übermensch, dessen Erschaffung – laut dieser Passage – auch zur Aufgabe des Menschen gehört. Glückselig ist die Insel, weil die Lehren vom „Einen und Vollen und Unbewegten und Satten und Unvergänglichen“ (Za, KSA 4, S. 110) als sinnenfeindlich dekuvriert werden. Wieder eine Natursymbolik und Grafik; es muss eine vom Meer umtoste Insel sein, auf der ein Übermensch autark und allein den Naturgewalten ausgesetzt, leben wird. Warum aber verwendet Nietzsche den Topos Übermensch? Eine Frage, die sich jede Lektüre und jede Deutung stellen muss, und die mir relevanter erscheint als die, ob er sich genuin neuer Schaffung verdankt oder auch durch Selbstüberwindung vorfindlicher menschlicher Potenzen generiert werden könne, was Deleuze nachvollziehbar bestreitet. „Der Übermensch ist kein Mensch, der sich überwindet und dem es gelingt, sich zu überwinden. Der Unterschied zwischen Übermensch und höherem Mensch ist einer von Natur aus […]“ (Deleuze 1976, S. 183), so Deleuze.
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Nietzsche aber verleiht seinem Übermenschen keine Plastizität; zu Recht betont Marie-Luise Haase: „Vom Sinnstifter der Erde wird keine Leiblichkeit vermittelt. Er bleibt entrückt“ (Haase 1984, S. 243f.). Auffallend, dass sie ihn als den „Sinnstifter der Erde“ klassifiziert. Ich füge an, diese Entrückheit könnte Nietzsche geradezu intendiert haben. Dafür spricht nicht zuletzt die schon zitierte Stelle: „Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als Schatten.“ Es ist wohl der Schatten eines nicht definierbaren Zukünftigen, nicht etwa der lange schwere Schatten des Bisherigen. Schattenhaft auch, weil die Schaffung des Übermenschen nicht und in Nichts präjudizierbar ist, noch stabile Konturen besitzt und andererseits, um noch einmal diesen Abgrund zu betonen, der dem Übermenschen vorausliegt. Dennoch finden sich einige Ausführungen, die uns den Übermenschen als Schattenriss vor Augen führen, so im Nachlass vom Sommer 1883: „der Übermensch völlig über die bisherige Tugend hinaus, hart aus Mitleid, – der Schaffende, der ohne Schonung seinen Marmor schlägt“ (NL 1883, KSA 10, S. 372). Der Übermensch schlägt keinen simplen Stein, nein: er schlägt den Marmor, und Nietzsche stellt ihn damit in die Filiation von Parthenon, Pergamon und Buanarottis David: Er wird ein Handwerker und vor allem anderen ein Künstler sein. Haase liest diese Stelle als ein Vexierbild. Gleichwohl bleibt die Pointierung des Schaffenden, des Schaffens, ja man darf wohl sagen, der Übermensch ist Schaffen pur. Seine Grausamkeit, die nicht zuletzt hieraus erwächst, folgt freilich seiner Besonnenheit. Er steht nicht nur jenseits von Gut und Böse, er vertritt das Böse. „Das Böseste ist nöthig zu des Übermenschen Bestem“ (Za, KSA 4, S. 359), verkündet Zarathustra. Der Übermensch hat aber auch andere Züge. Im Herbst 1883 findet sich folgendes kryptisches Notat: „Typus, wie der Übermensch leben muß wie ein Epicurischer Gott“ (NL 1883, KSA 10, S. 529). Ein „Epicurischer Gott“ kann kein brutaler sein, das ist sicher, aber ein Weiser und Weisheit gehören wohl zu den Eigenschaften des Übermenschen. Jedoch: Nietzsches Aussage zum Übermenschen verbirgt sich an dieser Stelle wiederum als Gleichnis, und es wird auch nicht gesagt, wie wir ihn uns vorstellen sollen. Daneben ist der Übermensch ein Erlöser, und er imaginiert ihn dabei poetisch, ja liebevoll und scheinbar voller Hoffnung: Am großen Mittag wird uns einst der Übermensch vom Nihilismus erlösen. Ein neuer Messias mit einem eschatologischen Auftrag: Ist jetzt der Antichrist zum Heiland mutiert? Nein, denn seine Botschaft der Erlösung betrifft nur eine ganz kleine, aber elitäre Minderheit, die Nietzsche an anderer Stelle die ‚ganz Wenigen‘ nennt. Und Zarathustra verkündet, der Übermensch sei der „Sinn der Erde“ und weiter: „Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch“ (Za, KSA 4, S. 23). Dieses Gewitteraquarell verbirgt wie das Gebirgsaquarell mehr als es offenbart. Es liegt nahe, anzunehmen, dass sich dahinter Absicht verbirgt. Die Schraffuren des nietz-
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scheanischen Übermenschen, und das belegt diese Stelle einmal mehr, bleiben ambivalent, denn er ist auch der „der Einsam-Wandler, der Scheue, – – –“ (NL 1882, KSA 10, S. 143), so im Nachlass von 1882. Bezugnehmend auf die metaphysikkritische Beschwörung, der Erde treu zu bleiben, bleibt anzufügen, dass der Übermensch über eine Weisheit verfügt, die nicht aus den mundanen Erfahrungen abgeleitet werden kann wie der Topos „Sinn der Erde“, kompiliere Sinn des Seins, belegt. Wer, wenn nicht ein Metaphysiker oder ein Allwissender könnte sagen, was ‚der Sinn‘ der Erde, und was ‚der Sinn‘ des Seins sind? Warum philosophiert Nietzsche, wenn er sich programmatisch maximal von der abendländischen Metaphysik entfernt, an diesem Ort seiner Philosophie, die mit dem Topos Übermensch besetzt ist, in der Figur eines Offenbarungswissens über Erde und menschliches Sein? Haase deutet, dass Nietzsche damit die wahre Welt ausschließen und einen radikalen Bezug auf die mundane fordern wolle. Damit bleibt freilich der belastete Terminus Sinn ungeklärt, Signifikant als Signifikat, wenn es nicht ein Wortspiel ist, was mich nicht überzeugt, das sowohl außerhalb des Innerweltlichen, als auch außerhalb der relationalen Textelemente und damit außerhalb des Spiels der Signifikanten situiert ist.4 In Nietzsches ambivalenter Semantik des Übermenschen ist der Gestus des Verkündens, des Offenbarens, der Apokalypse, ja sogar der des erlösenden Heilens, gleichwohl anzutreffen und wirft weitere Fragen auf. Zarathustra hat auch Botschaften mit eschatologischer Semantik. Betrachten wir erneut den Topos Sinn der Erde. Was Nietzsche unter Sinn des Seins versteht, könnte transparenter werden, wenn es der Übermensch selbst ist als Zerstörer der Verneinungsideologien und als Erlöser des Menschen und sei es durch Vernichtung. Diese beiden Aktionen müssten dann als eine begriffen werden, denn nur so können sie die Forderung nach Selbstopferung der Masse rechtfertigen; für deren Erlösung. Der Übermensch darf die Ausrottung der Menschheit deshalb verlangen, weil seine bejahende Existenz dem Sinn des Seins gerecht wird.
4 Erwähnt werden muss aber auch, dass dem historisch und terminologisch belasteten Terminus Erdentreue eine Stelle aus dem Nachlass der 80er Jahre widerspricht, wenn er notiert: „Der Mensch, eine kleine überspannte Thierart, die – glücklicher Weise – ihre Zeit hat; das Leben auf der Erde überhaupt ein Augenblick, ein Zwischenfall, eine Ausnahme ohne Folge, Etwas, das für den Gesamt-Charakter der Erde belanglos bleibt; die Erde selbst, wie jedes Gestirn, ein Hiatus zwischen zwei Nichtsen, eine Ereigniß ohne Plan, Vernunft, Wille, Selbstbewußtsein, die schlimmste Art des Nothwendigen, die du m m e Nothwendigkeit“ (NL 1888, KSA 13, S. 488f.). Einige Jahre nach dem Zarathustra, am Ende seines bewussten Lebens, formuliert Nietzsche gewohnt ungläubig, so dass wir, anders als in der Koppelung Erde und Sinn, diese Textstelle mit seiner These vom Chaoscharakter der Welt in Beziehung setzen können.
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In Ecce homo findet sich die Behauptung, der Übermensch sei die höchste Realität, weil er die höchsten Potenzen des Willens zur Macht verkörpere und damit die höchste Bejahung der größten Kraft. Er ist die Inkarnation und Verkörperung, vielleicht kann man es eine Verleiblichung der siegreichen Kraft nennen. Und so könnte sich folgende Verknüpfung ergeben: Die Verwobenheit der Übermenschkonstruktion als Inkarnation des höchsten Willens zur Macht mit der ewigen Wiederkunft; sie würden dann relational ineinander stehen. So sieht auch Haase: „wie die beiden Begriffe ‚ewige Wiederkehr‘ und ‚Übermensch‘ immer enger aneinander rücken, und daß für die Lehre die Vision vom Übermenschen nicht nur unentbehrlich, sondern Voraussetzung geworden ist“ (Haase 1984, S. 232). Allein der autarke Übermensch kann als Solitär die Lehre des Wiederkunftsgedankens aushalten und freudig leben.
3 Übermensch und Held Übereinstimmungen zwischen Nietzsches – wie belegt ambivalent-kryptischer – Übermenschkonzeption und Wagners Helden zeigen sich zumindest in der geteilten Ausrichtung auf Veränderung: Beide sind stark, besitzen Kräfte und Talente, die dem Menschlichen vorausliegen oder es transzendieren. Sie sind Schaffende, wenn auch Wagners Helden keine Werte umschaffen. Während Wagner im Lohengrin und im Parsifal eine transpolitische Lösung oder besser Erlösung durchdekliniert, stellt sich auch die Frage, ob Nietzsches Übermensch zu seinen Überlegungen einer „großen Politik“ zu zählen ist.5 Eine Gemeinsamkeit könnten sie in ihrer Erlöserfunktion haben; Lohengrin rettet Elsa von falscher Anschuldigung, Siegfried rettet Brünnhilde, wenn auch temporär, und Parsifal schließt Amfortas Wunde und vollendet damit den Auftrag des Grals. „Oh! Welchen Wunders höchstes Glück! – Die deine Wunde durfte schließen, ihr seh’ ich heil’ges Blut entfliessen […] Höchsten Heiles Wunder: Erlösung dem Erlöser!“ (Wagner 1983, Bd. 4, S. 331) Anders aber als bei Nietzsche, scheitern Wagners Helden geradezu an ihrem Erlösungsauftrag; Parsifal ausgenommen. Und abgesehen von Lohengrin, steht ihr Erlösungsauftrag –
5 „Nietzsches ‚große Politik‘ wie seine späte Philosophie als ganze sind ein modern-antikes Vexierbild. Mal schreitet Nietzsche hinter die Moderne zurück, weil er den Alten oder sogar den vorplatonischen Griechen den Vorzug vor der Moderne gibt. Mal ist es die Moderne selbst, aus deren Freiheit Nietzsche die Forderungen seiner Politik und Moral ableitet, und so schwankt seine Philosophie zwischen rückwärtsgewandter und vorwärtsdenkender Utopie, rück-schrittlich und fort-schrittlich zugleich“ (Ottmann 1987, S. 123).
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und auch das unterscheidet sie von Nietzsches Übermenschvision –, in einem Auftrag, der Gerechtigkeit zuarbeitet. Dagegen könnte man einwenden, dass Nietzsches Übermensch auch in einem höheren Auftrag handelt, ja geradezu im höchsten Auftrag. Dieser Auftrag steht aber im Dienste eines völlig Ungewissen, eines bilderlos Zukünftigen. Gewiss ist freilich, dass es dort keine Gerechtigkeit im moralisch-ethischen Sinne geben wird. Bei Nietzsche geht es also nicht um eine Verbesserung des Bestehenden, sondern um dessen Zerstörung, das mit völlig offenen Vorzeichen durch etwas ganz anderes substituiert werden soll. Hier ist der Antagonismus zwischen Parsifal und dem Übermenschen am schärfsten, wie Zarathustras Botschaft vom „grossen Mittag“ belegt, an dem es etwas Ungeheures zu feiern geben wird, weil die kraftvollen Potenzen sich nun voll entfalten können. „Alsda wird sich der Untergehende selbst segnen, dass er ein Hinübergehender sei; und die Sonne seiner Erkenntnis wird ihm im Mittage stehn“ (Za, KSA 4, S. 102). Jetzt also, am Kulminationspunkt, kann die Sonnenmetapher benutzt werden, nicht mehr als Aquarell, sondern als Gemälde, das expressionistisch in kräftigen Farben die Nischen ausleuchten soll, die alle Worte beim Verständnis notwendig zurücklassen mussten. Denken wir an dieser Stelle erneut an Strauss’ Zarathustra-Komposition. Eine ganz andere Feier zelebriert Wagner mit dem Bühnenweihfestspiel Parsifal, auch wenn man nicht Nietzsches These folgt, dass es sich hier um ein christliches Erlösungsdrama handelt, so muss man es doch als eine antikisierende, kultische, synkretistisch-kunstreligiöse, musikdramatische Feier in Form eines Erlösungsmythos klassifizieren, der mit den fragwürdigen Stimmen endet: „Höchstes Heiles Wunder! Erlösung dem Erlöser!“ (Wagner 1983, Bd. 4, S. 331) Parsifals Erlösungsauftrag ist letztlich sozialer Natur; er zielt auf das Überleben der Gralsgemeinschaft. Voraussetzung für seine Erfüllung ist die Apotheose der Keuschheit und des Mitleidens. Ein völliger Antagonismus zu den Attributen des Übermenschen, des dionysischen Solitärs. Parsifal6 demgegenüber reüssiert, weil das asketische Noch ein Mal der Entsagung zielführend just in dem Augenblick sich gegen seine Lust und für den höheren, kunstreligiösen Auftrag, der Kompensation von Amfortas Schuld, entscheidet. Während doch der Über-
6 „Der Autor des Parsifal bekennt sich als Klingsor, und die Parole Erlösung dem Erlöser hat ihren bösen Hintersinn. Freilich bleibt die Frage offen, ob Nietzsche und vollends dessen Georgische Nachfolge solchen Sieges recht froh werden sollten. Indem Wagner das Glück seines eigenen Traumes verrät – und stets lauert das Werk auf Verrat – , gibt er sekundenweise den Blick auf das Unglück der Welt preis, die jenen Traum braucht: ‚die wollen was Christliches sehen‘“ (Adorno 1971, S. 21).
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mensch die höchste, die schrankenlose Lust und darin und damit die höchste Macht verkörpert. Über Wagners Helden findet sich eine Notat Nietzsches vom Frühjahr 1888: „Seine Helden, seine Rienzi, Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Parsival – das hat Blut im Leibe, kein Zweifel –, und gewiß kein deutsches Blut! Und wenn sie lieben, diese Helden – werden sie deutsche Mädchen lieben?“ Das bezweifle er, und schon gar, dass sie „Wagnerische Heldinnen lieben. Hat man wohl schon bemerkt, daß keine je ein Kind gebar? – Sie können’s nicht“ (NL 188, KSA 13, S. 407). Da irrt Nietzsche: Immerhin gibt es neun Kinder in der Tetralogie: Erda und Wotan haben acht Walküren; Zeugungen zwischen dem Erdenreich und dem Gottvater der Lichtalben, durchaus also Übermenschen; und Sieglinde ist auch nicht unfruchtbar, sie hat dem Helden Siegfried das Leben geschenkt. Bliebe zu fragen: Wird der Übermensch deutsche Mädchen lieben, und wird er dabei zeugungsfähig sein? Wenn Helden und oder Übermenschen Orientierungen geben sollen, dann würde ich behaupten, sie leisten es beide nicht. Ausgenommen vielleicht Brünnhilde, zuerst und zumeist, weil sie der Treue die Treue hält, auch und gerade weil diese letztlich Amoralität absegnet. Vielleicht handelt sie da im Sinne von Nietzsches „Tugend der Redlichkeit“, aber auch, weil sie das dem Untergang Geweihte Walhall, in ihrem letzten Gesang „Wunschheim“ und „Wahnheim“ genannt, untergehen lassen kann und das mit den höchsten Tönen: „Alles Ew’gen sel’ges Ende, wißt ihr, wie ich’s gewann? Trauernder Liebe tiefstes Leiden schloß die Augen mir auf: enden sah ich die Welt“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 314). Der Rest ist Götterdämmerung, nicht Götzendämmerung.
Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. (1971): „Versuch über Wagner“. In: Theodor W. Adorno, Die musikalischen Monographien. Frankfurt am Main. Deleuze, Gilles (1976): Nietzsche und die Philosophie. München. Georg-Lauer, Jutta (2011): Dionysos und Parsifal. Eine Studie zu Nietzsche und Wagner. Würzburg. Georg-Lauer, Jutta (2009): „Der unbestimmte Mensch und der Übermensch“. In: Andreas Hetzel (Hg.): Negativität und Unbestimmtheit. Beiträge zu einer Philosophie des Nichtwissens. Bielefeld. Goehr, Lydia (2008): „Musikdrama“. In: Stefan Lorenz Sorgner/James H. Birx/Nikolaus Knoepffler (Hg.): Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Reinbek bei Hamburg. Haase, Marie-Luise (1984): „Der Übermensch in Also sprach Zarathustra und im ZarathustraNachlass 1882–1885“. In: Nietzsche-Studien 13, S. 228–244. Ottmann, Henning (1987): Philosophie und Politik bei Nietzsche. Berlin, New York.
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Wagner, Richard (1983): Dichtungen und Schriften. Hg. von Deiter Borchmeyer. Frankfurt am Main Wagner, Richard (1980): Lohengrin. Hg. von Michael von Soden. Frankfurt am Main. Wapnewski, Peter (1978): Richard Wagner Die Szene und ihr Meister. München.
Ivan Risafi de Pontes
„Ich nehme den unangenehmsten Fall, den Fall Wagner“ Nietzsches Ambivalenz des Künstlers und dessen ‚relative Keuschheit‘ „Eine relative Keuschheit, eine grundsätzliche und kluge Vorsicht vor Eroticis selbst in Gedanken, kann zur großen Vernunft des Lebens auch bei reich ausgestatteten und ganzen Naturen gehören. Der Satz gilt in Sonderheit von den Künstlern, er gehört zu deren bester Lebens-Weisheit“ (NL 1888, KSA 13, S. 600). Nietzsches Zitat von 1888 Zur Vernunft des Lebens eröffnet den Blick in seine facettenreiche und ambivalente Darstellung des Künstlers, in den Kampf zwischen gegensätzlichen Instinkten und charakterisiert die relative Keuschheit als eine der besten Lebensweisheiten des Künstlers. Dieser sei „mit Notwendigkeit ein sinnlicher Mensch“, aber „unter der Gewalt seiner Aufgabe, seines Willens zur Meisterschaft, tatsächlich ein mäßiger, oft sogar ein keuscher Mensch“ (NL 1888, KSA 13, S. 600). Wie diese Ambivalenz zwischen Sinnlichkeit und Mäßigung bei Wagner aus ihrer für den Künstler und dessen Kunstwerk anzustrebenden Balance gerät, verrät Nietzsche unmissverständlich: Es ist ein und dieselbe Kraft, die man in der Kunst-Conception und die man im geschlechtlichen Actus ausgiebt: es giebt nur Eine Art Kraft. Hier zu unterliegen, hier sich zu verschwenden ist für einen Künstler verrätherisch: es verräth den Mangel an Instinkt, an Wille überhaupt, es kann ein Zeichen von décadence sein, – es entwerthet jedenfalls bis zu einem unausrechenbaren Grade seine Kunst. Ich nehme den unangenehmsten Fall, den Fall Wagner (NL 1888, KSA 13, S. 600).
Inwieweit eine relative Keuschheit des Künstlers von Nietzsche für das Schaffen für seine Kunstwerke als notwendig erachtet wird und er in Wagners Musik den Appell an eine die „untersten Instinkte“ ansprechende Sinnlichkeit erkennt, wird im Folgenden nachgezeichnet.
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1 D ie relative Keuschheit als Förderung der Lebensvitalität Mit der relativen Keuschheit verschreibt Nietzsche seinem Künstler keinesfalls eine Diät, die mit dem asketischen Ideal des Priesters zu vergleichen ist. Die Erkenntnis, die der Künstler aus der relativen Keuschheit ziehen kann, ist laut Nietzsche der Garant für die künstlerische Produktivität seiner ambivalenten Natur, die nur aus dem Zusammenwachsen gegensätzlicher menschlicher Eigenschaften weiterzuentwickeln ist. Auch Zarathustra erklärt dem Jüngling die Natur des Menschen mittels der Ambivalenz: „Was erschrickst du desshalb? – Aber es ist mit dem Menschen wie mit dem Baume. Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts, in’s Dunkle, Tiefe, – in’s Böse“ (Za, KSA 4, S. 51). So treffen in der ambivalenten Natur des Künstlers kraftvoll instinktive Reaktionen mit bewusstem Handeln, Lust mit Schmerz und Dekadenz mit Vitalität zusammen, nicht als dualistische Spaltung, sondern als Ausdruck seiner Macht über sich selbst. Der Priester hingegen folgt nach Nietzsche einer lebensverneinenden Diät bezüglich seiner tiefsten Instinkte, die zu einem Leben im Selbstwiderspruch führe (vgl. GM, KSA 5, S. 340). Der relativen Keuschheit teilt Nietzsche somit eine essentielle regulative Rolle für die Produktivität des Künstlers zu: das Kunstwerk wird als Resultat der Geschlechtlichkeit gesehen, die als Voraussetzung des Lebens und der Kunst tauge. Die Geschlechtlichkeit und die relative Keuschheit von Nietzsches Künstler stehen im krassen Gegensatz zu den lebensverneinenden Folgen, welche aus dem zwiespältigen Verhalten des Priesters und aus der Keuschheitspredigt des dekadenten Künstlers hervorgehen. Die Keuschheit zu relativieren bedeutet, so kontextualisiert, ihre lebensfördernden Elemente zu aktivieren. Das heißt auch, dass die ambivalente Natur des Künstlers ohne eine Relativierung der lebensverneinenden Komponenten der Keuschheit zum höchsten Grade der Dekadenz führt: Die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff „unrein“ ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens (AC, KSA 6, S. 254).
Das Verhalten des Menschen zu seinen Instinkten spielt eine wesentliche Rolle, um einen Unterschied zwischen dem Umgang des Priesters und des Künstlers mit ihren Instinkten und mit der Keuschheit herauszustellen. Nietzsche betrachtet das asketische Ideal des Priesters als Zeichen für den Niedergang des Lebens und Produkt seines geschwächten Instinkts, dessen Resultat der Pessimismus sei. Es ist derselbe Pessimismus, der die Natur des dekadenten Künstlers mit der des
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Priesters in Zusammenhang bringt. Den Kampf dieser Natur gegen die tiefsten Instinkte des Menschen, gegen die Geschlechtlichkeit und deren Stimulans zum Leben und ihre Verneinung des Willens zur Machterhaltung bzw. -steigerung, erkennt er im dekadenten Künstler als Hauptsymptom des Pessimismus, welcher auch in Wagners Kunst zu betrachten sei. Diese pessimistische Logik erlaubt es Nietzsche, Wagners Musik als Ergebnis seines dekadenten Instinkts zu charakterisieren. Ein Instinkt, der sich gegen sich selbst und gegen die Kunst wende. Statt des Willens zur Selbstsucht als Ausdruck großer Lebensvitalität sieht er bei Wagner das nihilistische Streben nach einem „Nicht-Ich“. Dieser Wille zur Verneinung des Selbst verlangt vom Künstler „unbedingte Keuschheit“. Sie ist Antipode zur relativen Keuschheit, weil sie die Vernichtung des Lebens und die Ausrottung der Lebensvitalität impliziere: Solche Künstler verherrlichen in ihrer Kunst unwillkürlich und unvermeidlich ihr „NichtIch“ und alles, was den äußersten Gegensatz zu ihnen macht: die also, im Falle Wagners, alle ausschweifenden Tugenden z. B. die unbedingte Treue oder die unbedingte Keuschheit oder die Einfalt des Kindes oder die asketischen Selbst-Opferungen (NL 1885, KSA 11, S. 660f.).
Die Keuschheit ist nicht nur das Lot, um die Vitalität eines Künstlers zu messen: ihr Einsatz entscheidet über die Förderung oder Vernichtung des Lebens. Dabei folgt Nietzsche Balzac und Stendhal, indem er die Keuschheit als Maß der Lebensgestaltung für den Künstler sieht: mögen sie [die fruchtbaren Geister, I. R. P.] sich mit gutem Grunde, wie es Stendhal und Balzac gethan haben, – Keuschheit zur Diät verordnen. Und mindestens darf man nicht zweifeln, daß gerade dem „Genie“ das Ehebett noch verhängnißvoller sein kann als concubinage und libertinage. – Auch in vieler andrer Hinsicht – zum Beispiel, was „Nachkommenschaft“ betrifft – muß man mit sich bei Zeiten zu Rathe gehn und sich entscheiden: aut liberi aut libri (NL 1885, KSA 12, S. 76).
So ist aus der Keuschheit viel an Lebenskraft zu gewinnen: „sie giebt Zeit, Unabhängigkeit – intellekt Verwöhnung, die es unter Weibchen nicht aushält […] erhält Kraft, hält manche Krankheit fern. Freiheit von Weib und Kind hält eine Menge Versuchungen fern (Luxus, Servilität gegen Macht, Einordnung“ (NL 1885, KSA 12, S. 330). Sie ist aber nicht allen Naturen zu empfehlen: „Wem die Keuschheit sehr schwer fällt, dem ist sie gewiß auch zu widerrathen“ (NL 1882, KSA 10, S. 78). Sie bedarf keiner Natur, bei der sie sich als Tugend und letztlich als Trieb entwickeln kann, um ihre lebensfördernde Kraft geltend zu machen, sondern der Notwendigkeit und der Kraft eines Lebens, in dem ihre Wirkung als ökonomisches Prinzip einzusetzen ist: „Keuschheit ist bloß die Ökonomie eines Künstlers: – und jedenfalls hört auch bei Künstlern die Fruchtbarkeit mit der
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Zeugungskraft auf“ (NL 1888, KSA 13, S. 295). Trifft dies nicht zu, entpuppt sich Keuschheit als Perversität, die Nietzsche als verheerendes Ergebnis für die Fortpflanzung der Gattung beschreibt: Die Keuschheit ist nur für das Alter der Halbjünglinge und Mädchen eine Tugend: an sich eine Perversität, weil es die Gattung vernichten würde. Als individuelle Maßregel im Interesse der Anderen eine Ausnahme: wo nämlich nur die völlige Entsagung den M retten kann (NL 1880, KSA 9, S. 135).
Die Keuschheit ist nur in einem sehr besonderen Fall zu empfehlen, der einen großen Teil der menschlichen Naturen ausschließt. Zu empfehlen sei sie für Ausnahmemenschen bzw. den Künstler, der aus seinen „untersten Instinkten“, aus seiner Geschlechtlichkeit, seinem Willen zur Machterhaltung und -erweiterung eine ästhetische Vollkommenheit schaffen könne (vgl. NL 1887, KSA 12, S. 394). Nietzsche geht hier einen Schritt weiter als Balzac, Stendhal oder Flaubert (vgl. NL 1888, KSA 13, S. 295): er sieht für die Vervollständigung der Aufgabe der Kunst, die Notwendigkeit einer relativen Keuschheit. Nur diese Keuschheit verleihe eine lebensfördernde Kraft. Im Vergleich zu anderen Varianten, zur absoluten, unbedingten, großen, impliziert nur sie die Kraft und den Willen zur Macht, um sich zu dem zu entwickeln, was sie von Natur aus eigentlich ist, eine lebensfördernde Sinnlichkeit: „Keuschheit ist nur die Form der Sinnlichkeit (– ihre Präexistenzform)“ (NL 1887, KSA 12, S. 506). Nur eine solche relative Keuschheit, die in sich die Präexistenzform der Sinnlichkeit als ihren Kern beinhaltet, ist für den Künstler kein asketisches Ideal, sondern ein Stimulans zum Leben.
2 W agners unbedingte Keuschheit und dessen Dekadenz In diesem Kontext entwickelt sich der Fall Wagner als der „unangenehmste Fall“ für Nietzsche, da Wagner sich als Apostel einer Keuschheit entpuppte, welche sich gegen die tiefsten Instinkte des Lebens, die Sinnlichkeit und ihre lebensbejahenden Kräfte wendet: Und doch war ich Einer der corruptesten Wagnerianer… Ich war im Stande, Wagnern ernst zu nehmen […] Was für eine kluge Klapperschlange! Das ganze Leben hat sie uns von „Hingebung“, von „Treue“, von „Reinheit“ vorgeklappert, mit einem Lobe auf die Keuschheit zog sie sich aus der verderbten Welt zurück! – Und wir haben’s ihr geglaubt (WA, KSA 6, S. 16).
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Parsifal verkörpert für Nietzsche den Höhepunkt von Wagners musikalischer Predigt über die absolute und unbedingte Keuschheit, deren gesamte lebensverneinende Wirkung zu einem durch Pessimismus beherrschten Instinkt gehöre. In der Genealogie der Moral analysiert er die Bedeutung von Wagners Keuschheitshuldigung und ihre Folgen für dessen Musik und Künstlertum. Seine Antwort auf die Frage „Was bedeutet es zum Beispiel, wenn ein Künstler wie Richard Wagner in seinen alten Tagen der Keuschheit eine Huldigung darbringt?“ deutet daraufhin, wie Wagners radikaler Umgang mit der Keuschheit für seine Kunst verhängnisvoll war und wie entscheidend eine ambivalente Natur für Nietzsches Begriff des Künstlers ist: In einem gewissen Sinne freilich hat er [Wagner, I. R. P.] dies immer gethan [die Keuschheit huldigen, I. R. P.]; aber erst zu allerletzt in einem asketischen Sinne. Was bedeutet diese ‚Sinnes‘-Änderung, dieser radikale Sinnes-Umschlag? – denn ein solcher war es, Wagner sprang damit geradewegs in seinen Gegensatz um. Was bedeutet es, wenn ein Künstler in seinen Gegensatz umspringt? (GM, KSA 5, S. 340)
Hier sei an Nietzsches ambivalente Charakterisierung des Künstlers im Aphorismus Zur Vernunft des Lebens bezüglich dessen Natur und Keuschheit erinnert: Der Künstler ist vielleicht seiner Art nach mit Nothwendigkeit ein sinnlicher Mensch, erregbar überhaupt, zugänglich in jedem Sinne, dem Reize, der Suggestion des Reizes schon von Ferne her entgegenkommend. Trotzdem ist er im Durchschnitt, unter der Gewalt seiner Aufgabe, seines Willens zur Meisterschaft, thatsächlich ein mäßiger, oft sogar ein keuscher Mensch (NL 1888, KSA 13, S. 600).
Nach Nietzsches Auslegung repräsentiert Wagners Huldigung der Keuschheit keinesfalls eine Anerkennung „der besten Lebensweisheit“ des Künstlers, sondern einen Sprung in seinen Gegensatz: in die Dekadenz. Für Nietzsche repräsentiert dieser „radikale Sinnes-Umschlag“ Wagners insofern Dekadenz, da der Künstler jegliche Art der Gegensätzlichkeit außerhalb einer Dualitätslogik wahrnehmen sollte, um eine Kultur der Ambivalenz statt eine der Dualismen zu etablieren. Die Radikalität von Nietzsches Degenerationsdiagnose Wagnerscher Musik kommt noch stärker zum Vorschein, wenn bedacht wird, dass die Keuschheit seinem Verständnis nach ein ambivalenter Begriff par excellence ist: „denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit giebt es keinen nothwendigen Gegensatz“ (GM, KSA 5, S. 340). Demzufolge verleugnet Wagners unbedingte Keuschheit den tiefsten Instinkt des Lebens, was für Nietzsche bedeutet, Dionysos selbst dem Geiste der Musik zu entziehen. Das Resultat ist „eine leichtere Sinnlichkeits-Epidemie“ (NL 1888, KSA 13, S. 601), welche die „untersten Instinkte, der der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung“ (GD, KSA 6, S. 123) für sich zu überreden versuche. Somit stellt sich als großes Symptom für die
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Dekadenz und den Krankheitszustand von Wagners Kunst die Zerstörung einer Balance heraus, welche in der ambivalenten Natur des Künstlers die Möglichkeit eines lebensfördernden Zusammenspiels zwischen vermeintlichen Gegensätzen wie zwischen Instinkt und Vernunft oder Keuschheit und Sinnlichkeit garantiert. Solche scheinbaren Antipoden werden sodann, da sie weder eine dualistische Opposition noch eine Spaltung beinhalten, in den Kern der ambivalenten Natur von Nietzsches Künstler eingebettet.
3 D ie Relative Keuschheit als große Kraft der Ambivalenz des Künstlers Wenn Nietzsche dennoch behauptet, der Künstler sei „ein sinnlicher Mensch, erregbar überhaupt, zugänglich in jedem Sinne, dem Reize, der Suggestion des Reizes schon von Ferne her entgegenkommend“, wie kann es dem Künstler, der die Kraft der Geschlechtlichkeit als tiefsten Instinkt des Lebens empfindet, gelingen, statt in Exzess zu verfallen, ein produktives Maß in seinem Leben zu halten, um sein Kunstwerk zu erschaffen? Die Reichweite der Frage deutet sowohl auf eine der Hauptvoraussetzungen für Nietzsches Auffassung über einen ästhetischen Zustand, d. h. auf seine sinnliche Herkunft, wie auf die Wirkungssphäre der relativen Keuschheit, welche er als „eine grundsätzliche und kluge Vorsicht vor Eroticis selbst in Gedanken“ (NL 1888, KSA 13, S. 600) charakterisiert. Da er die Natur des Künstlers und seine untersten Instinkte, seinen Willen zur Machterhaltung und -erweiterung mit der Kunst verbindet, gewinnt die relative Keuschheit durch die Mäßigung der Geschlechtlichkeit ihren fördernden Charakter für das Leben: „beiläufig finde ich, daß Keuschheit eine der mächtigsten Förderungen der Lebensenergie ist“ (NL 1875, KSA 8, S. 169). Folgt man Nietzsche, kann der ästhetische Zustand die Sinnlichkeit transfigurieren und ermöglicht die relative Keuschheit eine Abgrenzung gegenüber Schopenhauers Pessimismus: Damit soll durchaus die Möglichkeit nicht ausgeschlossen sein, dass jene eigenthümliche Süssigkeit und Fülle, die dem ästhetischen Zustande eigen ist, gerade von der Ingredienz „Sinnlichkeit“ ihre Herkunft nehmen könnte, […] – dass somit die Sinnlichkeit beim Eintritt des ästhetischen Zustandes nicht aufgehoben ist, wie Schopenhauer glaubte, sondern sich nur transfigurirt und nicht als Geschlechtsreiz mehr in’s Bewusstsein tritt (GM, KSA 5, S. 356).
Die Transfiguration der Sinnlichkeit, nicht ihre Aufhebung, verhindert des Eros’ Eintritt ins Bewusstsein: die Kraft der Sinnlichkeit wird nur in ihrer zerstöreri-
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schen Wirkung für die Schaffung des Kunstwerks entkräftet, ohne dass ihre wesentliche Komponente für seine Entstehung durch die Einmischung der Moral oder Exzess einer dekadenten Natur verkümmere: Die Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung oder Ausrottung! Je größer die Herren-Kraft unseres Willens ist, so viel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden. Der große Mensch ist groß durch den Freiheits-Spielraum seiner Begierden: er aber ist stark genug, daß er aus diesen Unthieren seine Hausthiere macht (NL 1888, KSA 13, S. 485).
Nietzsche glaubt, dass dem Künstler die Schaffung und dem Philosophen das Erdenken ihrer Werke nur dann gelingen kann, wenn sie die relative Keuschheit als ein ökonomisches Prinzip einsetzen, da die Keuschheit ein Abbild der Sinnlichkeit und ausschließlich ihre Relativierung lebensfördernd sei. Die Ausdifferenzierung der Natur des Künstlers führt zu der Feststellung, dass der Künstler keinen Teil von sich selbst unterdrücken darf, sondern die vernünftige Ausbalancierung der Gegensätze beherrschen muss, um der Ambivalenz seiner Natur treu bleiben zu können. Das instinktive Gespür für den vorsichtigen Einsatz der Vernunft und der Sinnlichkeit legen die Basis für die Ambivalenz des Künstlers und des Kunstwerks. Eine Haupteigenschaft dieses ambivalenten Künstlers und seiner Weisheit wird durch seine Macht, sich selbst angesichts der Paradoxie des Lebens zu wandeln, charakterisiert, wodurch die Erhaltung und Erweiterung seiner Natur als Ausdruck des über sich selbst Hinaussteigens gelingen kann. Nietzsches Darstellung des Künstlers ist folglich eine radikale Differenzierung zwischen den übermenschlichen Kräften seines Künstlers und der Natur des Dekadenten zu entnehmen. Demnach fordert er einen mäßigen Umgang mit der Sinnlichkeit nach dem Vorbild seines Künstlers, dessen ausbalancierter Instinkt auf die Fortentwicklung seines Kunstwerkes und seines Lebens in breitem Umfang einwirkt (vgl. NL 1888, KSA 13, S. 600). Die Paradoxie der Künstlernatur ist hier evident, da er seine dominierende Macht nur für die weitere Entfaltung seiner Natur einsetzen kann, indem er einen gewissen Grad an Ambivalenz erreicht, welche eine potentielle Selbstkastrierung oder eine „Rancune gegen die Sinnlichkeit“ (GM, KSA 5, S. 350 ) verhindert. Es ist die Zuneigung zur Sinnlichkeit, die der Künstler für die Erhaltung des allgemeinen Potentials und der Macht seiner Natur in Balance bringen muss. Die Ambivalenz seines Vorgehens ist ein bewusstes Handeln und zugleich eine instinktive Reaktion seiner Natur, die Lust und Schmerz als Ausdruck seiner Macht über sich selbst hervorbringt. – Von der Höhe des vornehmen Künstlers steigt Nietzsche zum dekadenten Künstler ab. Indem er den Fall Wagner als „den unangenehmsten“ bezeichnet, gibt er implizit ein Maß vor, das die dekadente Natur benötigt,
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um die Wirkung der Kunst zu ihrem Gegensatz zu führen. Schauspieler zu sein, beinhaltet nicht die Entfaltung der eigenen Natur durch verschiedene Rollen, die der Mensch unabhängig von den gesellschaftlichen Normen schafft, sondern sich im Wirbel des menschlichen und tierhaften Instinkts zu verlieren. Der Herr über die eigene Natur wird in diesem Kontext durch den Versager über die eigene Kraft ersetzt, der sich betäuben muss, um sein Scheitern zu verkraften: Ich nehme den unangenehmsten Fall, den Fall Wagner. – Wagner, im Banne jener unglaubwürdig krankhaften Sexualität, die der Fluch seines Lebens war, wußte nur zu gut, was ein Künstler damit einbüßt, dass er vor sich die Freiheit, die Achtung verliert. Er ist verurtheilt, Schauspieler zu sein. Seine Kunst selbst wird ihm zum beständigen Fluchtversuch, zum Mittel des Sich-Vergessens, des Sich-Betäubens, – es verändert, es bestimmt zuletzt den Charakter seiner Kunst. Ein solcher „Unfreier“ hat eine Haschisch-Welt nöthig, fremde, schwere, einhüllende Dünste, alle Art Exotismus und Symbolismus des Ideals, nur um seine Realität einmal loszusein, – er hat Wagnersche Musik nöthig (NL 1888, KSA 13, S. 600f.).
Ausgehend von Wagner schließt Nietzsche andere in die Reihe dekadenter Künstler ein, die von einer für ihre Kunst und ihr Leben vernichtenden Zügellosigkeit beherrscht werden. Das Ausmaß dieser zerrütteten Naturen, welche nicht mehr an die hybride und ambivalente Natur des Künstlers erinnern, deutet sich in der Ausübung der Religion sowie in der Ausschweifung des sexuellen Lebens und im Konsum von Alkohol und Opium an. Was Wagners Musik Nietzsche zur Zeit der Niederschreibung dieses Aphorismus bedeutet, ist als Inbegriff von Krankheit und ansteckender Gefahr zu verstehen, die die Übermacht und Herrschaft über die Masse übernimmt. Die Differenzierung zwischen dem wahren Künstler und der Masse ist auch durch die Art, wie man sich dieser dekadenten Kunst annähert, festzustellen. Das heißt, jener betrachtet sie bloß als zu erforschendes Phänomen, welches sich nur mit Vorsicht manipulieren lässt, während die Masse von ihr durch ihre untersten Instinkte gelockt wird: Eine gewisse Katholicität des Ideals vor Allem ist bei einem Künstler beinahe der Beweis von Selbstverachtung, von „Sumpf“: der Fall Baudelaire’s in Frankreich, der Fall Edgar Allan Poe’s in Amerika, der Fall Wagner’s in Deutschland. – Habe ich noch zu sagen, daß Wagner seiner Sinnlichkeit auch seinen Erfolg verdankt? […] Wer wagte das Wort, das eigentliche Wort für die ardeurs der Tristan-Musik? – Ich ziehe Handschuhe an, wenn ich die Partitur des Tristan lese … Die immer mehr um sich greifende Wagnerei ist eine leichtere Sinnlichkeits-Epidemie, die „es nicht weiß“; gegen Wagnersche Musik halte ich jede Vorsicht für geboten (NL 1888, KSA 13, S. 601).
Indem Nietzsche in seinem Keuschheitsbegriff keinen Gegensatz zur Sinnlichkeit darstellt, sondern ihn in Einklang mit der größten Kraft der ambivalenten Natur des Künstlers bringt, gelingt dem Künstler eine essentielle Balance für die Förde-
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rung des Lebens: die Gesamtheit der vernichtenden und erzeugenden Wirkungen seiner Geschlechtlichkeit zu bejahen, ohne in Exzess zu verfallen. Damit entkräftet er die vernichtende Wirkung jeglichen Widerspruches, welcher den Künstler und seine Kunst zu einer verhängnisvollen Spaltung und zu einem lebensverneinenden Willen führen könnte. Das wiederum ist das Schicksal, das Nietzsche dem dekadenten Künstler und dem Typus des asketischen Priesters prognostiziert: Dies ist Alles im höchsten Grade paradox: wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sich selbst zwiespältig will, welche sich selbst in diesem Leiden geniesst und in dem Maasse sogar immer selbstgewisser und triumphirender wird, als ihre eigne Voraussetzung, die physiologische Lebensfähigkeit, abnimmt (GM, KSA 5, S. 363).
Die Kraft der ambivalenten Natur des Künstlers besteht darin, der Unverbindlichkeit jegliche Gegensätzlichkeit abzuerkennen, indem er die Paradoxie des Lebens und deren fortwährende Wandlung zwischen Gesundheit und Krankheit, Lust und Schmerz nicht durch eine triebhaft radikalisierte Spaltung seiner Instinkte, sondern durch die bewusste und instinktive Förderung seiner hybriden Natur und durch seine künstlerische Produktivität, zu überwinden versucht.1 Dementgegen prägt laut Nietzsche der Mangel eines für die Vitalität des Kunstwerks unentbehrlichen Zusammenspiels von Leben und Dekadenz, Instinkt und Bewusstsein Wagners Kunst als dekadent. Dadurch, dass Wagners Keuschheitspredigt jede Relativität und Ambivalenz verfehlt und in die Radikalität einer Widernatur verfällt, begeht er den Irrtum, den Nietzsche dem Christentum vehement vorwirft: Aus Wagners Keuschheitslehre wäre die gleiche verhängnisvolle Weisheit zu ziehen, die er aus der christlichen Lehre für das Leben als vernichtend ableitet: „Dass man die allerersten Instinkte des Leben verachten lehrte; dass man eine ‚Seele‘, einen ‚Geist erlog, um den Leib zu Schanden zu machen; dass man in der Voraussetzung des Lebens, in der Geschlechtlichkeit, etwas Unreines empfinden lehrt“ (EH, KSA 6, S. 372). Abschließend ist es notwendig Nietzsches relative Keuschheit des Künstlers als das aus der Spätphase seines Denkens und aus der Lebensweisheit des Künstlers entnommene und notwendige Maß für die Steigerung des Lebens und für die Realisierung des Kunstwerks hervorzuheben. Sie ist die Garantie für die Erhaltung der Ambivalenz des Künstlers, die aus ihm einen sinnlichen und zugleich keuschen Menschen macht. Die ambivalente Gestaltung der relativen
1 Dazu Marcus Planckh in seinem Artikel über den Begriff ‚Scham‘ bei Nietzsche: „Scham überwinden und Scham bewahren – beides ist nötig und beides wird deutlich in Nietzsches Sentenzen zu diesem Thema“ (Planckh 1998, S. 237). Dies kann auch auf den Begriff der Keuschheit bei Nietzsche übertragen werden.
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Keuschheit und ihre Verbindung mit der Sinnlichkeit stehen so im Einklang mit der Versöhnung, welche Nietzsches Theorie der Tragödie und deren Darstellung des Gottespaares Dionysos und Apollo in sich trägt. Beide repräsentieren eine Kultur der Pluralität, die den Dualismus und Pessimismus überwinden. Darüber hinaus verleiht die Notwendigkeit der relativen Keuschheit für die Realisierung eines Kunstwerks Nietzsches späterer Darstellung Wagners als „Künstler der décadence“ Gewicht und Tiefe. Mit dem maßlosen Einsatz von Sinnlichkeit zielt Wagners Kunst laut Nietzsche auf die „untersten Instinkte“ des Menschen. Seine anfänglich positive Auffassung von Tristan und Isolde (vgl. Winkler 1991, S. 253) rückt damit an ihren Gegenpol: die Demaskierung von Parsifal als Prototyp des Idioten bzw. unfruchtbaren Christen. Der von Nietzsche betrachtete Exzess von Parsifal, welcher nicht als Satyrdrama verstanden, Wagners uneingeschränkte Anhängerschaft zu Schopenhauer und dessen Nihilismus bloßstellt, endet mit Nietzsches Feststellung: der Parsifal ist ein Werk der Tücke, der Rachsucht, der heimlichen Giftmischerei gegen die Voraussetzungen des Lebens, ein schlechtes Werk. – Die Predigt der Keuschheit bleibt eine Aufreizung zur Widernatur: ich verachte Jedermann, der den Parsifal nicht als Attentat auf die Sittlichkeit empfindet (NW, KSA 6, S. 431).
Seine Kritik gegenüber Wagners Kunst, die als Diagnose der Dekadenz und Krankheit der tiefsten Instinkte verstanden werden kann, stimmt schließlich mit seiner Feststellung über die beste Lebensweisheit seines Künstlers und Genies überein, einer Weisheit über das Erfüllungsmaß ihres sinnlichen Verlangens. „Was endlich die ‚Keuschheit‘ der Philosophen anbelangt, so hat diese Art Geist ihre Fruchtbarkeit ersichtlich wo anders als in Kindern […] Jeder Artist weiss, wie schädlich in Zuständen grosser geistiger Spannung und Vorbereitung der Beischlaf wirkt“ (GM, KSA 5, S. 355). Nach seiner Darstellung verfällt Wagner hingegen bei der Erfüllung seiner Sinnlichkeit und dem Praktizieren der Keuschheit in einen dekadenten Exzess. Nietzsche glaubt jedoch „reich ausgestattete und ganze Naturen“, insbesondere seinen Künstler davon fernhalten zu können, indem er diesen die Diät und das ökonomische Prinzip der relativen Keuschheit zugunsten ihrer Lebensvitalität im Einklang mit der ihnen am besten entsprechenden Lebensweisheit empfiehlt.
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Christina Kast
„Ich habe ihn geliebt und niemanden sonst. Er war ein Mensch nach meinem Herzen…“ Nietzsche, Wagner und die Suche nach Erlösung
Nach Lou von Salomé ist der innerste Seelengrund der Philosophie Friedrich Nietzsches in seiner Gottessehnsucht benannt. Seine ganze Entwicklung, so Salomé, gehe davon aus, „dass er den Glauben verlor, also von der ungeheuren Emotion über den Tod Gottes“ (Andreas-Salomé 2000, S. 65). Was er später als geschichtliches Faktum verkünden wird, war ihm stets existentielle Wirklichkeit, so dass die „Geschichte seines Geistes, seiner Werke, seiner Erkrankung“ (Andreas-Salomé 2000, S. 65) als Geschichte seiner Suche nach einem Ersatz für den verlorenen Gott zu deuten sei. Als zentral für Nietzsche erweist sich dabei nach Salomé die Frage, wie Erlösung angesichts der Vergeblichkeit des Seins möglich sei (Andreas-Salomé 2000, S. 245). Von diesem Grundgedanken ausgehend, rückt die folgende Untersuchung das Problem der Erlösung als wesentliches Element in Nietzsches Beziehung zu Wagner in den Mittelpunkt der Betrachtung. Damit knüpft sie an den Befund Kerstin Deckers an, die in ihrer Nietzsche-Wagner-Biographie zu dem Schluss kommt, dass „die tiefste Differenz zwischen den beiden genialen Atheisten […] eine erlösungstheoretische sein“ muss (Decker 2012, S. 13). Der werkimmanente Nachvollzug der Bedeutung von Erlösung in Nietzsches Denken soll dabei ein tieferes Verständnis seiner Verbundenheit und seines Zerwürfnisses mit Wagner befördern. Ihr Bund – so wird sich zeigen – zerbrach an der Frage, worin Erlösung bestehe und wie sie zu finden sei. Vor diesem Hintergrund wird Nietzsche als das aktive Element ihrer Freundschaft deutlich: Was er in Wagner zu erkennen glaubte, band ihn an diesen; als er das Gesuchte nicht mehr fand, brach er mit ihm. Die Untersuchung erfolgt in zwei Etappen: In einem ersten Schritt soll Nietzsches Verständnis von Erlösung, das zwischen Früh- und Spätwerk einen einschneidenden Wandel durchläuft, anhand seiner Schriften rekonstruiert werden (1), um davon ausgehend sein Verhältnis zu Wagner zu bewerten (2).
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1 Erlösung bei Nietzsche 1.1 Erlösung in der Kunst im Frühwerk Bereits in seinem Erstlingswerk versteht Nietzsche sich als frohen Botschafter: Er verkündet eine neue Kultur-Blüte, die nach zwei Jahrtausenden kulturellem Verfall im Schaffen Richard Wagners hervorbrechen soll. Kultur ist im Denken des jungen Nietzsche jedoch kein Selbstzweck: Ihr wohnt eine existentielle Bedeutung inne, insofern sie Medium eines innerweltlichen Heils- und Erlösungsgeschehens ist, in dem Wagner die Rolle des Heilsbringers zugeschrieben wird. Dieser Zusammenhang zwischen Kunst bzw. Kultur und Erlösung soll im Folgenden herausgestellt werden, um im Anschluss daran deutlich zu machen, welches Verständnis von Erlösung Nietzsche hier zugrunde legt. Nietzsche sucht in der Geburt der Tragödie mittels ästhetischer Kategorien eine umfassende Daseinsdeutung zu entwerfen; die anfangs eingeführten Kunstprinzipien, das Apollinische und das Dionysische, sind den Prinzipien des Seins nachempfunden und dienen dem Entwurf einer ästhetischen Metaphysik, mittels derer Nietzsche das Innerste der Welt zu erfassen und in die Tiefen des Seins vorzustoßen trachtet (vgl. Fleischer 1988, S. 74–90). Das Dionysische ist das „Wahrhaft-Seiende“, das „Ur-Eine“ (GT, KSA 1, S. 38). Nietzsche begreift es als das „ewig Leidende und Widerspruchsvolle“ (GT, KSA 1, S. 38), so dass im Tragischen das An-Sich-Sein der Welt benannt ist. Aus dem UrSchmerz entspringt das Apollinische, die Welt der Erscheinungen – sie ist Ausdruck der schöpferischen Ur-Lust sowie der Sehnsucht des Ur-Einen nach Erlösung, die in der Zeugung eines „lustvollen Scheins“ (GT, KSA 1, S. 38) Erfüllung findet. Die Welt ist somit als ästhetisches Phänomen, als Spiel des Ur-Künstlers sowie als Schauspiel für den Ur-Künstler zu deuten. Hieraus allein bezieht sie ihre Daseinsberechtigung (vgl. GT, KSA 1, S. 47). Als Erscheinung und Abbild des Ur-Künstlers liegt die höchste Bestimmung des Menschen in der Kunst, die als eigentliche metaphysische Tätigkeit Nachfolge und Verherrlichung des Ur-Einen, des Lebens, ist. In der Imitatio wird der Mensch zudem Medium und Werkzeug der Selbsterlösung des Ur-Einen: Der von ihm durch das ästhetische Schaffen erzeugte Schein gereicht dem Ur-Einen zu einer noch höheren Lust, insofern das Ur-Eine durch ihn wirkt. Sinn und Zweck menschlichen Daseins gründen somit in dessen schöpferischen Willen (vgl. GT, KSA 1, S. 38f.). Als Inbegriff künstlerischen Schaffens und damit als höchste Form der Imitatio benennt Nietzsche die attische Tragödie (GT, KSA 1, S. 42); sie ist untrennbar mit seinem Erlösungsgedanken verbunden. Dafür seien drei Gründe angeführt:
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1. Die Tragödie ist Ausdruck tragischer Lebensbejahung, hervorgebracht aus einer Fülle an Leben und Leiden, und stellt zugleich in der Vereinigung von apollinischer und dionysischer Kunst ein Abbild des Daseins dar (vgl. GT, KSA 1, S. 25–42). 2. Im tragischen Mythos wird dem Menschen das Mysterium des Seins vor Augen geführt; dieser redet gemäß Nietzsche von der „dionysischen Erkenntniss in Gleichnissen“ (GT, KSA 1, S. 107): Die Tragik der menschlichen Existenz wird eingebettet in die Tragik des Seins, so dass der Zuschauer der Notwendigkeit des Leidens ansichtig wird, ist doch sein Widerspruch Ausdruck des ewigen Widerspruchs, welcher sich im ewigen Spiel mit der Welt der Erscheinungen lustvoll Erlösung verschafft. Das Leiden liegt demzufolge nicht nur im Wesen der Dinge, es dient zudem einem höheren Ziel: der Lust des Ur-Künstlers, zu dessen Schaffen notwendig Vernichten – auch des Einzelnen – gehört (vgl. GT, KSA 1, S. 38f.). Darin kann der Mensch sich getröstet wissen, denn in der Bejahung des Leidens wird das Leben als das göttliche Prinzip und damit sozusagen der Wille Gottes bejaht. Der Mensch leidet zur höheren Ehre des Künstler-Gottes. Vor diesem Hintergrund kann die griechische Tragödie durchaus als Gottesdienst verstanden werden. 3. Die Tragödie verschafft nicht nur Erlösung in der Anschauung durch den schönen Schein. In ihr vollzieht sich etwas, was als unio mystica bezeichnet werden könnte. Es ist die dionysische Kunst, welche die Überschreitung des Menschen, die Auflösung der Individuation, auslöst und ihn in einen Zustand der Entrückung überführt. Herausgerissen aus der Anschauung wird er eins mit dem Wahrhaft-Seienden, so dass er die Lust des Daseins hinter den Erscheinungen nicht mehr nur erkennend begreift, sondern selbst zu dieser Lust, zur „künstlerischen Ur-Freude im Schosse des Ur-Einen“ (GT, KSA 1, S. 141) wird und ekstatisch in dem ihm übergeordneten Weltprinzip aufgeht (vgl., GT, KSA 1, S. 109). Das Geschilderte gibt weitreichende Aufschlüsse über das Erlösungsverständnis des frühen Nietzsche. Zunächst fällt auf, dass das hier zugrunde gelegte Menschenbild ein von Bedürftigkeit und Mangel bestimmtes ist: Der Mensch kann seinen Sinn, seine Bestimmung und Erlösung nicht unmittelbar aus sich selbst hervorbringen; er bezieht sie aus einem Außerhalb, einer höheren Ordnung, auf die er sich ausrichtet und derer er folglich bedarf – in diesem Falle einer höheren, dionysischen Unordnung. Nietzsche verabschiedet zwar die Idee eines christlichen Gottes, insofern als Gott bereits in seiner Erstlingsschrift tot ist; dennoch steht der Mensch einem höheren Prinzip, einem „Künstler-Gott“ (GT, KSA 1, S. 17), gegenüber, welcher erst Sinn und Bestimmung in ihn legt. Erlösung soll dabei nicht von der Welt erfolgen, sondern für die Welt und mit der Welt. Die Frage, wie
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Bejahung und Erlösung angesichts der Hinfälligkeit des Daseins möglich sind, löst Nietzsche in diesem Stadium seines Schaffens auf, indem er das Sein selbst als Tragik konzipiert und den Menschen als Teil in dieses Ganze hineinstellt. Nicht Abkehr vom Leben verschafft dem Menschen somit Erlösung, sondern die Vertiefung in das Leben (vgl. Goedert 1988, S. 27f.). In der tragischen Bejahung hat der Mensch Anteil am Göttlichen, in der dionysischen Kunst vereinigt er sich mit ihm – er wird selbst zum Ja und überschreitet die Individuation. Erlösung besteht somit in der Teilhabe an einem übergeordneten Prinzip, im Aufgehen in einem Höheren und in rauschhafter Entrückung.
1.2 Erlösung in der Übermenschlichkeit im Spätwerk Die Erlösungsvorstellung des späten Nietzsche unterscheidet sich radikal von derjenigen des Frühwerks, kann jedoch nicht ohne diese gedacht werden. Hier vollzieht sich die Abkehr von einer Idee von Erlösung durch ein höheres, dem Menschen übergeordnetes Prinzip. Nicht mehr Sinn und Heil in einem Außerhalb – und sei es die Kunst – suchen, sondern selbst Sinn und Heil werden: Die Vorstellung solchen erlösten Seins bannt Nietzsche in die Gestalt des Übermenschen (vgl. Türcke 2000, S. 132). Dieser steht am Ende eines Erlösungsweges, den man wohl am treffendsten mit der Gottwerdung oder Selbstvergottung des Menschen bezeichnen kann, insofern er die Überwindung des Menschlichen im Menschen als dem nach Sinn und Erlösung Bedürftigen voraussetzt (vgl. Türcke 2000, S. 60).1 Der Frage, wie Erlösung in einer Welt, in der Gott tot ist, zu denken sei, begegnet Nietzsche folglich nicht mehr mit einer ästhetischen Ersatzreligion, sondern mit der Einsicht, dass wahrhafte Erlösung nur noch in der Befreiung von aller Erlösungsbedürftigkeit verwirklicht werden kann. Nur ein Gott bedarf keines Gottes und keiner Erlösung mehr. Dies ist bereits die dunkle Ahnung des tollen Menschen, aus dem es angesichts der Tat des Gottesmordes hervorbricht: „Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer [der Tat, C. K.] würdig zu erscheinen?“ (FW, KSA 3, S. 481) Davon ausgehend, soll im Folgenden betrachtet werden, wie die Übermenschlichkeit als Vergöttlichung des Menschen konkret zu denken ist und auf welchem Wege sie errungen werden kann.
1 Türcke stellt den Aspekt der Bedürftigkeit des Menschen nach Gott, d. h. ebenso nach Sinn und Erlösung, als wesentliches Problem des Gottesmordes heraus: „Begreifen, was Gott bedeutet, heißt begreifen, wie sehr man seiner bedarf […] Wer begriffen hat, was Gott heißt, für den ist Gott töten und nach Gott schreien eins“ (Türcke 2000, S. 60).
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Die Göttlichkeit des Übermenschen findet zunächst Ausdruck in einer vollkommenen inneren Einheit mit sich selbst, insofern in ihm die den Menschen spaltende Bedürftigkeit nach Orientierung an einem Außerhalb überwunden ist. Eine neue Unmittelbarkeit des Daseins, welche im Menschen verloren ist, kommt durch den Übermenschen in die Welt. Dies macht deutlich, dass der Mensch für Nietzsche erst geworden ist. Am Anfang aller Dinge jedoch war der im Grunde noch animalische Herrenmensch als ursprünglich reine, in ihrer Lebensunmittelbarkeit unschuldige Existenzform (vgl. GM, KSA 5, S. 257–289), dessen Fall gleichsam als Sündenfall verstanden werden kann, als „Herausgeworfen-Sein aus der Unmittelbarkeit der Natur“ (Türcke 2000, S. 91).2 Im Übermenschen soll nun das dadurch entstandene Mensch-Sein überwunden, ja geheilt werden: der Mensch wird wieder – jedoch auf einer dem Tierischen überlegenen Stufe – zum reinen, ungebrochenen Sein; er wird wieder ganz. Als Symbol für dieses vollends aus sich selbst heraus existierende Wesen wählt Nietzsche das Kind als ein „aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-Sagen“ (Za, KSA 4, S. 31).3 Durch seine unmittelbare Lebensäußerung ist das Kind in seiner Essenz und Existenz Bejahung.4 In dieser wiedererrungenen Unmittelbarkeit des Daseins gelangt der Wille zur Macht zu seiner höchsten Ausprägung (vgl. Türcke 2000, S. 130). Als Grundprinzip des Lebens (vgl. GM, KSA 5, S. 313f.) kommt er dort zur vollen Entfaltung, wo das Leben am reinsten auftritt. In seinem Grundcharakter deutet Nietzsche das Leben dabei als dionysisch im Sinne einer Welt des „Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens“ (NL 1885, KSA 11, S. 611). Daraus lässt sich schließen, dass das Wesen des vergöttlichten Menschen, des Übermenschen, notwendig dionysisch ist – er ist die fleischgewordene Dissonanz, der zum Menschen gewordene ewige Widerspruch des Seins. Je mehr er sich in sich vertieft und versenkt, je mehr er mit
2 Die Genealogie der Moral ließe sich so primär als Genealogie der Mensch-Werdung deuten. Türcke verweist zudem darauf, dass dem darin entfalteten Geschichtsmodell das theologische Muster von Paradies – Sündenfall – Erlösung zugrunde liegt (vgl. Türcke 2000, S. 118). 3 Biser betont ausdrücklich, dass Nietzsche „am Ziel seines denkerischen Weges das Bild des Kindes errichtete“, denn, „damit beweist er, glaubhafter als mit jedem Wort, wie sehr es ihm noch in der Verneinung darum ging, dem Dasein die mit dem Einbruch der Reflexion verlorene ‚Unschuld‘ zurückzuerstatten“ (Biser 1962, S. 241). 4 Eine solch selige, von aller äußeren Realität ungetrübte Existenz, die qua ihrer unmittelbaren Lebensäußerung als göttlich und folglich als erlöst bezeichnet werden kann, zeichnet Nietzsche ferner im „Antichrist“: In seinem Jesus, den er dem paulinischen Christentum entgegengesetzt, beobachtet Nietzsche den tiefen Instinkt dafür, „wie man leben müsse, um sich ‚im Himmel‘ zu fühlen“ (AC, KSA 6, S. 206; vgl. dazu Osthövener 2004, S. 226f.). In ihm vollendet sich ein „andres Sein“ (AC, KSA 6, S. 211). Zu Nietzsches Verständnis des paulinischen Christentums, siehe: Salaquarda 1974, S. 97–124.
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sich selbst eins wird, desto größer wird seine Zerrissenheit, die nichts anderes als die Zerrissenheit des Seins ist. „Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir“ (Za, KSA 4, S. 136), so Zarathustra. Im Übermenschen vollzieht sich nicht mehr nur die tragische Bejahung; er ist das tragische Ja selbst geworden. Er ist Dionysos, „beständige Schöpfung“ in seiner „zeugenden und zerstörenden Kraft“ (NL 1885/1886, KSA 12, S. 113). Den Weg zur Übermenschlichkeit muss der Mensch selbst beschreiten, da eine so verstandene Erlösung notwendig eine dem Einzelnen aufgetragene Selbsterlösung ist. Um den Gang des Menschen zum Heil nachzuvollziehen, sei auf den platonischen Gedanken des Aufstiegs verwiesen (vgl. Schrastetter 1989; Zehnpfennig 2011), da in ihm der nietzscheanische Weg zur Übermenschlichkeit am treffendsten erfasst werden kann. Zentrum des Aufstiegsgedankens ist die Überschreitung des Menschen von seinen falschen Vorstellungen hin zur Erkenntnis des Guten. Dies verlangt nach einer Abwendung des Menschen von dem vermeintlich für wahr und gut Gehaltenen hin zur Suche nach dem wahrhaft Guten; in der Überwindung aller falschen Wissensgewissheit vollzieht sich dabei eine Vernünftig-Werdung des Menschen. Im nietzscheanischen Aufstieg soll der Mensch sich nicht der Wahrheit annähern, er soll selbst zu seiner eigenen Wahrheit, zum Guten – und damit zu seinem Gott – werden. Dies wird bereits zu Beginn von Also sprach Zarathustra in der Umkehrung des Höhlengleichnisses deutlich: Zarathustra bedarf der Sonne nicht, er ist die Sonne, ja die Fülle selbst (Za, KSA 4, S. 11f.). Als Ziel des Aufstiegs ist somit diese neue Unmittelbarkeit des Seins eingefordert, die ihrerseits die Überwindung aller Elemente, die die Selbstentzweiung des Menschen bedingen, voraussetzt. Nietzsches erbitterter Kampf gegen Religion und Moral findet hier seine Begründung, sind sie doch radikalster Ausdruck der Fremdbestimmung und des Selbstzerwürfnisses des Menschen. Die geistige Destruktion aller vermeintlichen Gewissheit bedingt dabei jedoch keine Steigerung der Vernunft im Menschen wie bei Platon, sondern ein Mehr an Stärke und Vitalität, muss doch dem Schmerz, der auf die Lust am Zerstören folgt, in Permanenz ein Ja entgegen gesetzt werden. So lässt Nietzsche Zarathustra bekennen: „Wie erstand meine Seele aus diesen Gräbern? Ja, ein Unverwundbares, Unbegrabbares ist an mir, ein Felsensprengendes: das heisst mein Wille“ (Za, KSA 4, S. 144f.). Hier vollzieht sich die große Gesundung des Menschen: mittels des Geistes soll das Leben freigelegt und der Wille gesteigert werden. In der tragischen Bejahung ist somit ein Prozess der Selbstüberschreitung benannt, durch den der Mensch sich dem Ziel der Gottwerdung nähert, zum dionysischen Ja sowie zum Kind wird. In der Auflösung aller Gewissheit soll die Bedürftigkeit nach Gewissheit aufgelöst werden und eine neue vitale – jedoch der tierischen überlegene – Unmittelbarkeit des Seins hervorgebracht werden. In diesem Sinne ist Zarathustras Wort, der Mensch
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sei ein Seil zwischen Tier und Übermensch, zu begreifen. Die Vernunft dient beim nietzscheanischen Aufstieg lediglich der Zersetzung ihrer Erzeugnisse; sie wird obsolet, sobald der Mensch in die neue Unschuld eingetreten ist. 5 Denkend hebt sich das Denken auf – ja, es muss sich aufheben, ist es doch im Grunde der Geist, der mittels seiner Erzeugnisse spaltet (vgl. GM, KSA 5, S. 257–289). Vor diesem Hintergrund muss das mittlere Werk als Beginn des Aufstiegs im Zeichen des freien Geistes gelesen werden; dieser ist jedoch nur Übergang: vom „Ich will“ zum „Ich bin“ (Za, KSA 4, S. 31; vgl. Biser 1962, S. 206).
2 Nietzsche, Wagner und die Frage der Erlösung Die Untersuchung ging von der These aus, dass Nietzsches Verhältnis zu Wagner in seiner ganzen Ambivalenz erst vollends aus der Optik der Erlösungsproblematik fassbar wird. Dazu wurde zunächst Nietzsches Vorstellung von Erlösung in ihrem Wandel rekonstruiert, wodurch im Folgenden die Motive der Entfremdung Nietzsches vom ehemals verehrten Meister verdeutlicht werden sollen. Erlösung wird von Nietzsche – so wurde gezeigt – als Ja zu sich, zum Leben und zur Welt gedacht. In der Frage, ob der Mensch dieses Ja aus einem Außerhalb bezieht oder aus sich selbst hervorbringt, um schließlich selbst zum Ja zu werden, gründet die Differenz zwischen dem Erlösungsverständnis in Früh- und Spätwerk. Im Ersteren ist der Mensch menschlich, insofern er bedürftiges und verehrendes Wesen bleibt, im Zweiten wird er übermenschlich im Sinne der Überwindung aller Erlösungsbedürftigkeit. Der Übermensch ist der vergöttlichte Mensch. Mit Blick auf die Bejahung als Grundkonstante des nietzscheanischen Erlösungsverständnisses ist das Zerwürfnis mit Wagner augenscheinlich: Spätestens in der Apotheose der Askese und des Mitleids im Parsifal tritt die Opposition zwischen Nietzsches tragischer Bejahung und Wagners Nein zum Leben und Leiden unverkennbar zu Tage.6 Ob Wagners Schaffen jemals die Antwort auf Nietzsches Willen zur tragischen Bejahung war, ist zu bezweifeln. Er selbst urteilt in Ecce homo folgendermaßen: „Ein Psychologe dürfte noch hinzufügen, dass was ich in jungen Jahren bei Wagnerischer Musik gehört habe, Nichts überhaupt mit Wagner
5 Türcke spricht in diesem Zusammenhang von der „leibhaften Ungeschiedenheit von Denken und Tun“ (Türcke 2000, S. 133). Biser verweist auf die „am Ziel der Destruktion aufscheinende[n] Einheit von Denken und Sein, die als das Anfänglich-Unmittelbare dem ‚Kreuzweg des Geistes‘ ein Ende setzt“ (Biser 1962, S. 240). 6 Dazu Georg-Lauer 2011.
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zu thun hat; dass wenn ich die dionysische Musik beschrieb, ich das beschrieb, was ich gehört habe“ (EH, KSA 6, S. 313). Der späte Nietzsche, der unter der Maske des Zarathustra als Fürsprecher des Lebens auftreten wird, vermag in der Wagnerschen Kunst nur noch den Inbegriff des verarmten Lebens im Gegensatz zu der aus der Fülle hervorbrechenden dionysischen Kunst zu erkennen: Aber es giebt zweierlei Leidende, einmal die an der Ueberfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, – sodann die an der Ver armung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntniss suchen, oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn (FW, KSA 3, S. 620).
Mehr noch: Wagners Musik ist nicht nur krank, sie macht krank: Sie lähmt, schwächt, zersetzt und zermürbt das Leben. In ihr wird die Musik zur „Circe“ – sie ist Verführerin, sie überredet zum Nein zu sich und der Welt (WA, KSA 6, S. 43). So wird in der hypnotischen und narkotischen Wirkung der Wagnerschen Musik sein Erlösungsverständnis als Erlösung von sich und dem Leben manifest. In Ecce homo schreibt Nietzsche über die Wagnerianer: „Diese verlangen nach Wagner als nach einem Opiat , – sie vergessen sich, sie werden sich einen Augenblick los… Was sage ich! fünf bis sechs Stunden!“ (EH, KSA 6, S. 325). Was die Stilisierung der Kunst zum Hort des menschlichen Heils betrifft, so erweist sich für Nietzsche Wagners Verständnis von Erlösung als ein solches, das auf ein Höheres verweist und den Menschen als erlösungsbedürftig hinnimmt. Wagner bleibt in dem verhaftet, was Nietzsche in seinem Bruch mit ihm und allen kulturpolitischen Hoffnungen überwindet; er erweist sich im nietzscheanischen Sinne als menschlich, allzumenschlich. Nietzsche schreibt dazu: „Wie viel uneingeständliche und selbst unverstandene Befriedigung aller religiösen Bedürfnisse ist noch in der Wagnerschen Musik! Wieviel Gebet, Tugend, Salbung, ‚Jungfräulichkeit‘, ‚Erlösung‘ redet da noch mit!“ (NL 1888, KSA 13, S. 239) Aus Wagners Oper spricht die Bedürftigkeit, ja sie mehrt die Bedürftigkeit in ihrer lebenszersetzenden Wirkung. In Der Fall Wagner nimmt Wagner nahezu diabolische Züge an: Nietzsche entlarvt ihn als den Verwirrer – gekleidet in das Gewand vornehmer Herren-Moral, verkündet Wagner „die Gegenlehre, die vom Evangelium der Niedrigen, vom Bedürfniss der Erlösung“ (WA, KSA 6, S. 51). In Wagners Oper wird gesucht – nach etwas, das adelt, erhebt, erlöst. Woran es der Wagnerschen Kunst gebricht, macht Nietzsche nicht zuletzt im Menschen Richard Wagner aus, dessen Größe er gleichermaßen als Schein entlarvt: Selbstinszenierung, Effekthascherei und Wirkungsorientierung – der verehrte Meister lebt und zehrt von der Bewunderung anderer. So lässt Nietzsche ihn in Gestalt des alten Zauberers bekennen: „Oh Zarathustra, ich bin’s müde, es ekelt mich meiner Künste, ich bin nicht gross, was verstelle ich mich! Aber, du weisst es wohl – ich suchte nach
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Grösse!“ (Za, KSA 4, S. 319) Wahrhafte Größe – und damit in letzter Instanz wahrhafte Erlösung – kann für Nietzsche jedoch nur in der bedingungslosen Bejahung seiner selbst und damit in der vollkommenen Freiheit von aller Bedürftigkeit nach menschlicher Zuwendung und Anerkennung bestehen; ein Gott bedarf nur seiner selbst, er ist einsam. Also spricht Zarathustra in seinem Nachtlied: „Licht bin ich: ach, dass ich Nacht wäre! Aber diess ist meine Einsamkeit, dass ich von Licht umgürtet bin“ (Za, KSA 4, S. 136). Sich von allem zu lösen, was ihn als bedürftiges, verehrendes und glaubendes Wesen bindet: Hierin ist Nietzsches Abkehr von Wagner als Mensch und Messias einer zukünftigen Kunstreligion bezeichnet. Im Nachlass schreibt er dazu: „Das verehrende Herz zerbrechen (als man am festesten gebunden ist)“ (NL 1884, KSA 11, S. 160). In Zarathustra wird der Wille zur Größe am Menschen ferner in seiner Haltung seinen Jüngern gegenüber offenbar. Nicht Ergebenheit und Glaube fordert er von ihnen, sondern Umkehr und eigenen Aufstieg. So spricht er zu ihnen: „Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen! Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben“ (Za, KSA 4, S. 101). Was Nietzsche hier mittels Zarathustra weitergibt, ist seinem eigenen Weg nachempfunden: Erst im Bruch mit Wagner kommt er zu sich selbst und beschreitet unter der Maske des freien Geistes seinen eigenen Erlösungsweg; der Wille zum Aufstieg zur Übermenschlichkeit und Göttlichkeit mündet bereits kurz vor dem Sturz in den Wahnsinn in der Identifizierung seiner selbst mit Dionysos. So urteilt er in Ecce homo mit Blick auf seine Dithyramben wie folgt: „Dergleichen ist nie gedichtet, nie gefühlt, nie gelitten worden: so leidet ein Gott, ein Dionysos“ (EH, KSA 6, S. 348).7 Vor diesem Hintergrund kann Nietzsches erbitterter Kampf gegen Wagner als Kampf mit den eigenen Dämonen verstanden werden, als Ringen mit sich und dem Menschlich-Allzumenschlichen in ihm, das es auf dem Weg zur Selbsterlösung in der Selbstvergottung zu überwinden galt. „Mein grösstes Erlebniss war eine Genesung“, so Nietzsche. „Wagner gehört bloss zu meinen Krankheiten“ (WA, KSA 6, S. 12). Seine Verbundenheit mit Wagner blieb davon unberührt, glaubte er doch bis zuletzt einzig in ihm eine Existenz mit der gleichen Lebensnot gefunden zu haben.8 Noch in Nietzsche contra Wagner schreibt er: „Denn ich hatte Niemanden gehabt als Richard Wagner“ (NW, KSA 6, S. 432).
7 Zum Motiv der Selbstvergottung bei Friedrich Nietzsche siehe Detering 2010. 8 Der Wagner-Biograph Dieter Borchmeyer geht so weit, die Auseinandersetzung mit Wagner als das „Herzstück“ des Denkens von Friedrich Nietzsche zu bezeichnen (Borchmeyer 2013, S. 323).
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Literaturverzeichnis Andreas-Salomé, Lou (2000): Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Hg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main Biser, Eugen (1962): Gott ist tot. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins. München. Borchmeyer, Dieter (2013): Richard Wagner. Werk – Leben – Zeit. Stuttgart. Decker, Kerstin (2012): Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe. Berlin. Detering, Heinrich (2010): Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte. Göttingen. Fleischer, Margot (1988): „Dionysos als Ding an sich. Der Anfang von Nietzsches Philosophie in der ästhetischen Metaphysik der ‚Geburt der Tragödie‘“. In: Nietzsche-Studien 17, S. 74–90. Georg-Lauer, Jutta (2011): Dionysos und Parsifal. Eine Studie zu Nietzsche und Wagner. Würzburg. Goedert, Georges (1988): Nietzsche, der Überwinder Schopenhauers und des Mitleids. Amsterdam. Osthövener, Claus-Dieter (2004): Erlösung. Transformationen einer Idee im 19. Jahrhundert. Tübingen. Salaquarda, Jörg (1974): „Dionysos gegen den Gekreuzigten“. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 26, S. 97–124. Schrastetter, Rudolf (1989): „Die Erkenntnis des Guten“. In: Rupert Hofmann/Jörg Jantzen/ Henning Ottmann (Hg.): Anodos. Festschrift für Helmut Kuhn. Weinheim, S. 237–258. Türcke, Christoph (2000): Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft. Lüneburg. Zehnpfennig, Barbara (2011): Platon zur Einführung. Hamburg.
II. Nietzsche – Wagner – Schopenhauer
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Wagner als Vorbild des Selbstseins? Bemerkungen zum frühen Idealismus Nietzsches in Schopenhauer als Erzieher Die erkenntnisleitende These meiner Überlegungen ist, dass Nietzsches Liebe zu Wagner eindrücklich seine Verankerung in einem philosophischen Idealismus zeigt, der vor allem in Schopenhauer als Erzieher zum Ausdruck kommt. Nietzsches Ausführung über Schopenhauer als Erzieher lebt von der Liebe zu dem, was – für Nietzsche in dieser jungen Phase – das Leben trägt. Nietzsche entwirft hierbei einen auf Religion, Kunst und Philosophie aufbauenden Idealismus, der das Ziel verfolgt, Möglichkeiten eines wahrhaftigen und vollen Menschseins auszubilden. Durch eine Auseinandersetzung mit dem Idealismus Nietzsches in Schopenhauer als Erzieher kann das Verhältnis Nietzsche – Wagner – Schopenhauer vertieft werden. Hiermit wird zugleich die Bedeutung von Nietzsches philosophisch als Anti-Idealismus entworfene Abkehr von seinen zwei Vorbildern sehr deutlich. Zuerst möchte ich Nietzsches Aufforderung zum Mut zum Selbst thematisieren und dabei Schopenhauer und Wagner als Vorbilder wahrhaftigen Menschseins in den Mittelpunkt rücken. Dabei soll Nietzsches Idealismus als eine Philosophie der Liebe deutlich werden. Denn „in der Liebe gewinnt die Seele jene Begierde, über sich hinaus zu schauen und nach einem irgendwo noch verborgnen höheren Selbst mit allen Kräften zu suchen“ (SE, KSA 1, S. 385). Zum Schluss gehe ich kurz auf das Verhältnis Nietzsche – Wagner – Schopenhauer beim jungen Nietzsche im Vergleich zum späteren Nietzsche ein.
1 M ut zum Selbstsein. Schopenhauer und Wagner als Vorbilder wahrhaftigen Menschseins Wie in Ecce homo beschrieben, schildert Nietzsche mit der Schrift Schopenhauer als Erzieher seine „innerste Geschichte“ (EH, KSA 6, S. 320). Das Buch handelt eigentlich über „Nietzsche als Erzieher“: „Hier ist jedes Wort erlebt, tief, innerlich; es fehlt nicht am Schmerzlichsten, es sind Worte darin, die geradezu blutrünstig sind“ (EH, KSA 6, S. 320). In Nietzsches frühem Idealismus wird die Einheit von Leben und Erkennen deutlich. Nietzsche findet in Schopenhauer einen Philosophen, der diese Einheit verkörpert. Schopenhauer ist für den jungen Nietzsche der
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Philosoph, der das Meisterstück geschafft hat, er selbst zu sein und so in der Lage ist, ein vorbildliches Beispiel zu geben. Nietzsches Idealismus entspricht hierbei nicht dem Versuch einer spekulativen Annährung an das Absolute, sondern eher einem Bedürfnis nach sinnerfüllter Existenz, die er nicht in seiner Zeit findet. Wie Wagner das Genie ist, das seine Zeit mit seiner Kunst überwinde, so sei Schopenhauer der Philosoph, der den Weg zum wahren Sein, das sich in Kunst, Religion und Philosophie, manifestiert, ebnet. Er verkörpert eine idealistische Vorstellung von den Bildungspotentialen des Menschen. Nietzsche liebt Schopenhauer, weil er selbst ein existenzieller Denker ist. Schopenhauer gibt ihm eine aufklärende und begrifflich herausgearbeitete Philosophie des wahren Selbst. Das Selbst versteht Nietzsche als eine mit dem Sein aufgegebene Aufgabe. So müsse jeder seine Faulheit überwinden und ein Selbst werden, fordert er am Anfang der Schrift. Da wir es nicht wollen, leben die meisten Menschen im Widerspruch zu sich selbst. Ein immerwährender Transzendierungsprozess ist gefordert, erhebe sich doch immer auch das Ideal des Genies über das Genie selbst. Wenn der Große seine Zeit bekämpft, ist das eigentlich ein Kampf gegen sich selbst. Denn in diesem Kampf bekämpfe „er das, was das Ich hindert, gross zu sein, das bedeutet bei ihm nur: frei und ganz er selbst zu sein“ (SE, KSA 1, S. 362). Mit Schopenhauer als Vorbild schafft es Nietzsche in Schopenhauer als Erzieher, philosophisch seine Liebe zu Wagner begrifflich zu fassen. Er entwirft ein Weltbild, in dem die Künstler, die Philosophen und die Heiligen als diejenigen erscheinen, die der Mensch bedarf, um überhaupt ganz er selbst sein zu können. Dementsprechend ruft Nietzsche dazu auf, an der Vollendung der Natur durch die Philosophie, die Kunst und die Religion zu arbeiten: „Die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und ausser uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten“ (SE, KSA 1, S. 382), sei das Ziel. Wie folgt man aber diesen großen Vorbildern, die das Selbst in vollem Maße gegen die härtesten Versuchungen und Prüfungen erkämpft haben? Nietzsches Antwort liegt darin, dass man das eigene Selbstsein nur durch eine Reflexion über die eigene Liebe findet. Die Liebe zu diesen Vorbildern wird zum inneren Weg zum Ideal. Der Aufruf zum eigenen Ich wird zu einem Aufruf zur Erforschung dessen, was man liebt und in der Vergangenheit geliebt hat. Denn in der Liebe zeige sich, so Nietzsche, das wahre Ich. Definieren kann man sich aber nicht durch diese, sondern durch jene Objekte und Personen, auf die sich die innere Liebe bezieht. Ich möchte einige Sätze aus Schopenhauer als Erzieher zitieren, die, worauf es Nietzsche ankommt, sehr deutlich zum Ausdruck bringen: Die junge Seele sehe auf das Leben zurück mit der Frage: was hast du bis jetzt wahrhaft geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglückt? Stelle dir die Reihe dieser verehrten Gegenstände vor dir auf, und vielleicht ergeben sie dir,
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durch ihr Wesen und ihre Folge, ein Gesetz, das Grundgesetz deines eigentlichen Selbst. Vergleiche diese Gegenstände, siehe, wie einer den andern ergänzt, erweitert, überbietet, verklärt, wie sie eine Stufenleiter bilden, auf welcher du bis jetzt zu dir selbst hingeklettert bist; denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermesslich hoch über dir oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst. Deine wahren Erzieher und Bildner verrathen dir, was der wahre Ursinn und Grundstoff deines Wesens ist, etwas durchaus Unerziehbares und Unbildbares, aber jedenfalls schwer Zugängliches, Gebundenes, Gelähmtes: deine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier (SE, KSA 1, S. 340f.).
Für den jungen Nietzsche war die Antwort auf die Frage nach seiner Liebe nicht schwierig zu beantworten. Seine Liebe verwirklichte sich zum Beispiel konkret als Hingabe an Wagners Tristan und Isolde. In Tristan schienen, wie Hermann Kurzke zu Recht sagt, die Versprechungen der Philosophie Schopenhauers gelöst zu sein (Kurzke 1997, S. 109). Aber auch nach der Verabschiedung von Schopenhauer blieb die Liebe zu Tristan und Isolde. In dieser Oper trifft Nietzsche auf eine neue Harmonik, die aus musikgeschichtlicher Perspektive etwas Neues schafft. Dieses Über-seine-Zeit-hinaus in eine ungeahnte Zukunft der Tonalität mag ihn fasziniert haben. Die spannungsgeladene Verzweiflung, die im Tristan-Akkord anklingt, ohne aufgelöst zu werden, sondern nur weitergehend ins Neue sich vortastet, mag Nietzsches Innerste getroffen haben. Diese Töne erleben eine Resonanz in seiner Seele, er identifiziert sich nicht aktiv mit ihnen, sondern sie lösen eine Art vor-reflexives Selbst-gefunden-haben in ihm aus. Er erkennt sich selbst in dieser Musik. Darum kann er das Hören der Musik Wagners als ein „staunendes Sichselbstfinden“ (Bf. Erwin Rohde, 9.12.1868, KGB I/2, Bf. 604) charakterisieren. Er sah in Wagners Kunst das Große verwirklicht und verstand sich später als Verkünder und philosophischer Vermittler dieser Musik (vgl. Ross 1994). Der Philosoph geht in die religiöse Kunstwelt in Tristan und Isolde auf. Die Wirkung dieser Musik ist gleichzeitig Rausch im Sinne des Selbst-Vergessens und Phantasie als Weltflucht der träumenden Seele (vgl. Holm 2013). Diese Liebe zu Wagner begründet Nietzsche philosophisch im Rahmen eines ästhetischen Idealismus in Schopenhauer als Erzieher. Die Liebe wird naturphilosophisch begründet. Die Erziehung zum idealen Selbst sei, so präzisiert Nietzsche, eine Nachahmung und Anbetung der Natur, wo diese mütterlich und barmherzig gesinnt ist, sie ist Vollendung der Natur, wenn sie ihren grausamen und unbarmherzigen Anfällen verbeugt und sie zum Guten wendet, wenn sie über die Äusserungen ihrer stiefmütterlichen Gesinnung und ihres traurigen Unverstandes einen Schleier deckt (SE 1, KSA 1, S. 341).
Die berühmte These von der ästhetischen Rechtfertigung der Welt erhält mit anderen Worten in Schopenhauer als Erzieher eine naturidealistische Begrün-
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dung. In der vierten unzeitgemäßen Betrachtung Richard Wagner in Bayreuth spricht er in diesem Zusammenhang von der Kunst Wagners als „die in Liebe verwandelte Natur“. Hier ist das in Schopenhauer als Erzieher geforderte Ideal erfüllt. Nietzsche schreibt eindrücklich: „diese Musik ist Rückkehr zur Natur, während sie zugleich Reinigung und Umwandelung der Natur ist; denn in der Seele des liebevollsten Menschen ist die Nöthigung zu jener Rückkehr entstanden, und in ihrer Kunst ertönt die in Liebe verwandelte Natur“ (WB, KSA 1, S. 456). Für Nietzsche gehören Natur und Kunst untrennbar zusammen. In der Verhältnisbestimmung von Natur und Kunst hat Nietzsche eine bedenkenswerte Entsprechung zur Kunstphilosophie des jungen Schelling, der die These vertrat, die Natur komme zu sich selbst durch die künstlerische Produktion des Genies. Für Schelling war die intellektuelle Anschauung nur möglich durch die genialen Kunstwerke, damit wurde die ästhetische Anschauung die Konkretisierung der intellektuellen Anschauung als Grund menschlicher Selbstanschauung verstanden. Im Rahmen dieser Identitätsphilosophie war damit auch die Natur zu sich gekommen. Denn Natur und Geist sind Ausdrücke des einen Seins. Die Kunst war für Schelling eine Offenbarung Gottes, ermöglicht durch das Wirken des Genies. Wenn Schelling schreibt, „was wir Natur nennen“, sei „ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt“ (Schelling 2000, S. 299), so ist Wagner für Nietzsche derjenige Künstler, der diesen Natur- und Kunstidealismus erfüllt und der diesen mit Schopenhauer als Vorbild zu begründen versucht. Nietzsche war sich allerdings der Gefahren bewusst, die das Selbst bestehen muss, um überhaupt als ein Selbst zu leben, das sich von der Trias Kunst, Religion und Philosophie ernährt. Er spricht von drei Konstitutionsgefahren der großen Geister: Erstens, die Einsamkeit, zweitens das Nicht-Standhalten-können in der Verzweiflung an der Wahrheit und drittens die Nicht-Verzweiflung an der eigenen Genialität. Schopenhauer sei der Mensch, der es geschafft habe, diese Gefahren zu überwinden: Er wollte sein Leben verstehen und damit die Hieroglyphen des allgemeinen Lebens. Der skeptische Unmut, unter der vor allem Heinrich von Kleist in seiner sogenannten Kant-Krise gelitten hat, habe Schopenhauer aufgehoben, zu Gunsten einer ganzheitlich-tragischen Betrachtung des allgemeinen Lebens, bei dem der Maler und nicht die Farben im Zentrum stehen. In diesem Sinne steht Schopenhauer für Treue zu sich selbst, da er es geschafft habe, die fast unmenschlichen Konstitutionsgefahren zu überstehen. Atmosphärisch erklingt hier unzweifelhaft Wagners Musik im Hintergrund, der ebenso entschieden die Treue zu sich zu einem entscheidenden Theorem seiner Kunst gemacht hat. In Richard Wagner in Bayreuth können wir über Wagner lesen, es sei „die ureigenste Urerfahrung, welche Wagner in sich selbst erlebt und wie ein religiöses Geheimniss verehrt: diese drückt er mit dem Worte Treue aus, diese wird er nicht müde in hundert Gestalten aus sich heraus zu stellen […]“ (WB, KSA 1, S. 439). Treue
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zum idealen Selbst ist der Weg zur inneren Freiheit. Die Suche nach dem idealen Selbst ist innerlich verwoben mit der Frage nach dem Sinn vom Sein. Hinter seinem Irrewerden an seiner Zeit und den damit von ihm als Konstitutionsgefahren interpretierten Bedrohungen des Selbst steht Nietzsches Leiden. Sein Idealismus ist geboren aus einer leidenden Seele, die, wie er schreibt „immer am Ganzen und im Ganzen“ leidet (Bf. an an Franz Overbeck, 31.12.1882, KGB III/1, Bf. 366). Im Leiden zeigen die Philosophen und vor allem die Künstler Spuren der Transzendenz. Nietzsche wird vom Gefühl getragen, dass sie uns zur Unendlichkeit der geistigen Dimension unserer Existenz führen können. Mit seinem Idealismus versucht Nietzsche sein Leiden unter die Obhut des Idealen zu bringen. Damit steht er philosophisch in einer langen Tradition des idealistischen Denkens. Gleichzeitig wird aber der Unterschied zwischen Nietzsche und dem Idealismus deutlich. Bei diesem ist Idealismus höchstes Ziel der Philosophie. Bei jenem führt sie zu einem Zerstörungsprozess. Nietzsche sieht sich nicht im Stande produktiv zu sein, wie sein Ideal es von ihm fordert. Er hat nicht komponiert wie die großen Komponisten und nicht gedichtet wie Goethe, Schiller, Beethoven oder Wagner (vgl. Overbeck 2011, S. 65f.). Darunter hat er schwer gelitten. Der Dirigent Wilhelm Furtwängler interpretiert dieses Leiden auf eine sehr interessante und bedenkenswerte Weise: Nietzsches Erfolg liegt darin, daß er, selbst im tiefsten unproduktiv, damit Schicksalsgenosse aller Unproduktiven wurde. Er hatte auf der einen Seite die Forderungen des Produktiven, auf der anderen aber nichts, um sie zu rechtfertigen, nichts, womit er sich selbst und der Zeit entfliehen konnte. So blieb er der Zeit ausgeliefert wie kein anderer und mußte leiden wie kein anderer. Das ist seine Größe, seine Art von Größe (Furtwängler 1996, S. 217).
2 N ietzsche – Wagner – Schopenhauer beim jungen Nietzsche im Vergleich zum späten Nietzsche Ich möchte nun zum Schluss den Bezug zum Schicksal seines Idealismus kurz in einigen Zügen thematisieren. Nietzsches Zweifel an Wagner geht Hand in Hand mit dem Zweifel an seinem jungen Idealismus. Als Ergebnis dieses Zweifels steht der Bruch mit Wagner bevor und der junge Idealismus bricht zusammen zu Gunsten seiner vernichtenden Genealogie dessen, was er liebt. Der freie Geist der mit Menschliches, Allzumenschliches anfängt, verursacht das Verbluten des Herzens. In diesem Verbluten liegt Wagner wie eine offene Wunde, vielleicht bis zum Schluss seines Schaffens. Die Tragkraft seines Idealismus verliert er mit dem
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Versuch, sich selbst zu überwinden durch eine Philosophie der Zukunft, die alles, was die arme, kranke Seele liebt, hinter sich lässt. Er will nicht mehr an Idealen kleben, sondern etwas Neues, ja neue Ideale, entwerfen. Das früher Geliebte wird zum Hassobjekt seiner Philosophie. In diesem Sinne könnte man interpretatorisch seinen Verlust des jungen Idealismus als Selbstzerstörung bezeichnen. Selbstzerstörung versteht Nietzsche als einen „Trieb […] nach Erkenntnissen [zu] greifen die einem Halt und alle Kraft rauben“ (NL 1884/85, KSA 11, S. 366). Man kann sie aber auch als Aufklärung verstehen. In diesem Zwiespalt zwischen Idealismus und teilweise vernichtender, selbstzerstörerischer Aufklärung über sich selbst bewegt sich Nietzsches spannungsgeladenes Denken und Leben. Dabei können Einsamkeit, Verzweiflung und Verhärtung als die konstitutionellen Gefahren des Denkers als Interpretationsbegriffe seines Denkweges nach Also sprach Zarathustra bezeichnet werden. Er gab seine idealistischen Vorbilder auf. Oder anders gesagt: Er klärte sich auf über den Scheincharakter derselben und ließ in Die Fröhliche Wissenschaft beide nur als Spielarten eines „romantischen Pessimismus“ (FW, KSA 3, S. 622) gelten. War es früher der Idealismus, den das Dasein rechtfertigte, ist es nun die Realität in ihrer ganzen Dramatik und Brutalität, die Gegenstand seines Wollens und des philosophischen Sich-Entwerfens ist (vgl. Jaspers 1981, S. 124). Hierbei hat er einen radikalen Anti-Idealisten entworfen, der mit seinem Bruch, sowohl mit Schopenhauer als auch mit Wagner, zu tun hat. Seine Überzeugung, dass sie beide nur dem asketischen Ideal dienen und damit den Nihilismus heraufbeschwören anstatt ihn zu überwinden, macht ihn zum Gegner eines jeglichen Idealismus. Der Mensch sei ein Tier, das sich noch quälen kann, weil es ein Bewusstsein habe, das von eigener Schuld redet und Illusionen brauche um überhaupt leben zu können. Selbstquälerisch lebe der Mensch. In diesem Sinne ist für Nietzsche der Darwinismus nicht als Fortschritt, sondern eher als einen Aufweis des Abgrundes menschlichen Existierens zu verstehen (vgl. Düsing 2007, S. 15). Ideale sind hierbei Ausdrücke vom verborgenen Willen zum Nichts, da sie asketisch und damit, so Nietzsche, lebenstötend seien. In der Genealogie der Moral versucht Nietzsche den Willen des Menschen zum Nichts zu begründen. Idealismus wird hier als todbringender Asketismus interpretiert. Die Einsicht in den Willen zum Nichts ist der Grund menschlichen Seins überhaupt. Denn mit dem Willen, der sich im asketischen Ideal manifestiert, überwinde der Mensch die Sinnlosigkeit seines Leidens. Waren früher Schopenhauer und Wagner Beispiele eines Idealismus des wahren Lebens, sind sie hier Beispiele des Willens zum Nichts. Als einen tragischen, aber sehr nüchternen Bericht über sich und über den Liebesverlust seines Herzens kann man folgende Worte in der Morgenröthe lesen, die den schmerzlichen Verlust seines Idealismus faktisch und nüchtern beschreiben: „Gefährlichstes Verlernen: ‚Man fängt damit an zu verlernen, andere zu lieben, und hört damit auf, an sich nichts
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Liebenswertes mehr zu finden‘“ (M, KSA 3, S. 252). Trotz der verlorenen Liebe und des Absturzes seines Idealismus des liebenden Selbst, vermittelte die Kunst dem leidenden Nietzsche die notwendige Reinheit, ohne die eine Seele wie die seine schwerlich leben kann. Einige Kunstwerke und der philosophische Gedanke an die Bedeutung der Kunst leuchten für Nietzsche als Sterne, deren Reinheit eine innere Resonanz in seiner Seele finden. Gegen die Verschmutzung dieser Sterne arbeitet Nietzsche, wenn er sich vom Anfang bis zum Ende seines Denkweges auf je unterschiedliche Weise zur Bedeutung der Kunst bekennt.
Literaturverzeichnis Düsing, Edith (2007): Nietzsches Denkweg, Theologie-Darwinismus-Nihilismus. München. Furtwängler, Wilhelm (1996): Aufzeichnungen 1924–1954. Zürich, Mainz. Holm, Henrik (2013): Die Künstlerseele Friedrich Nietzsches. Das Leiden am Ganzen, die Musik und die Sternenmoral. Dresden. Jaspers, Karl (1981): Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin, New York. Kurzke, Hermann (1997): Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. München. Overbeck, Franz (2011): Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Berlin. Ross, Werner (1994): Der wilde Nietzsche oder Die Rückkehr des Dionysos. Stuttgart. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (2000): System des transzendentalen Idealismus. Hamburg.
Nicola Nicodemo
Nietzsches Loslösung von Wagner und Schopenhauer als Bedingung seiner philosophischen Aufgabe einer Umwertung aller Werte Im Sommer 1875 notiert Nietzsche in seinem Tagebuch: „Socrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe“ (NL 1875, KSA 8, S. 97). Dies lässt sich in gleicher Weise über die jeweils verehrende, herausfordernde und konfliktgeladene Beziehung Nietzsches zu Wagner und Schopenhauer behaupten. Im Laufe seines Lebens hat Nietzsche sich unablässig mit der Aufgabe der Philosophie befasst, die er in seinen späten Werken als seine selbstgestellte Aufgabe bezeichnet und auf die prägnante Formel einer „Umwertung aller Werte“ bringt. Seine Auseinandersetzung mit Wagner und Schopenhauer spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Entscheidend ist Nietzsches Abkehr von beiden, die sich zwischen 1877–1881 vollzieht. Wie er 1886 in der Vorrede zur zweiten Auflage von MA schreibt, sind dies die Jahre der „großen Loslösung“: Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum freien Willen: und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste sich nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht! (MA I, KSA 2, S. 16f.)
In diesen Jahren wendet sich Nietzsche von seiner frühen „Artisten-Metaphysik“ ab und widmet sich einer radikalen Kritik der Kultur. Dadurch schafft er die Basis für seine zukünftige Aufgabe einer Umwertung aller Werte und seiner Selbstverwirklichung: Je mehr er versucht, das zu werden, was er ist, desto mehr stellt er sich Schopenhauer und Wagner entgegen, bis sie seine „Antipoden“ werden. Sein philosophischer und existentieller Abstand und die Trennung von ihnen bringt nicht nur eine neue Auslegung von Musik, Kunst und Philosophie mit sich: sie trägt auch unmittelbar zur Thematisierung seiner Lebensaufgabe bei. Daher werde ich zunächst Begriff und Aufgabe der Philosophie bei Schopenhauer und den Begriff und die Aufgabe der Kunst (Musik) bei Wagner skizzieren. Vor diesem Hintergrund gehe ich dann der philosophischen Bedeutung der Aufgabe bei Nietzsche nach, um die Gegenüberstellung Nietzsches zu Wagner
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und Schopenhauer aus einer neuen – in der Nietzsche-Forschung bisher nicht ausreichend beachteten – Perspektive zutage zu bringen.
1 P hilosophie als Erfahrungswissenschaft und ihre Aufgabe bei Arthur Schopenhauer In Kapitel 17 des zweiten Bandes seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung gibt Schopenhauer einen prägnanten Überblick seiner Philosophie und ihrer Aufgabe. Er stellt die These auf, dass der Mensch ein „animal metaphysicum“ (Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 184f.) ist. Dies geschehe allerdings erst nachdem der Wille zum Leben, d. h. das innere Wesen der Natur, beim Eintritt der Vernunft im Menschen zur Besinnung gelangt. Unter Berufung auf Aristoteles vertritt Schopenhauer die Ansicht, dass die Verwunderung der geistige philosophische Zustand schlechthin sei. Im Gegensatz zu den anderen Tieren wundere sich der Mensch über sein eigenes Werk und frage sich, was er selbst sei. Diese Verwunderung entstehe, wenn sich der Mensch des Todes und der Vergänglichkeit seines Strebens bewusst wird: „Wenn unser Leben endlos und schmerzlos wäre, würde es vielleicht doch Keinem einfallen zu fragen, warum die Welt da sei und gerade diese Beschaffenheit habe; sondern eben auch sich Alles von selbst verstehen“ (Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 185ff.). Durch „eine höhere Entwicklung der Intelligenz“ (Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 185) und zugleich aufgrund des Wissens um den Tod und der Betrachtung des Leidens und der Not des Lebens, ergebe sich das metaphysische Bedürfnis des Menschen. Wie lässt sich aber das Problem der Erkenntnis der Welt und des Lebens lösen und das metaphysische Bedürfnis beschwichtigen? Die Antwort liegt in Schopenhauers Überzeugung, der Schlüssel zum Rätsel der Welt sei nicht in der Vernunft1 bzw. der bloßen begrifflichen Erkenntnis, sondern in der Erfahrung zu finden. Schopenhauer lässt Kants Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich bestehen. Er weicht aber von Kant dadurch ab, dass die Erfahrung zwar durch die subjektive Beschaffenheit des Intellektes bedingt, aber zugleich die Manifestation des Dings an sich ist. Die Erfahrung ist das Erscheinende bzw. das
1 Die Vernunft ist nach Schopenhauer nur ein Mittel für die Motive des Handelns und das Organ, dass dem Menschen ermöglicht, die Erfahrung, d. h. die ihm vorliegende Welt, zu erklären und zu organisieren. Neben der Vernunft spielt das Bewusstsein und die Erfahrung des Leidens und der Not die maßgebliche Rolle bei der philosophischen Besinnung und bei der metaphysischen Auslegung der Welt.
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erscheinende Ding an sich: allen Erscheinungen in der Natur liegt „de[r] WILLE[ ] als Ding an sich zum Grunde“ (Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 202). So betont Schopenhauer, die Quelle oder das Fundament der metaphysischen Erkenntnis nicht liege in bloßen Begriffen: „Denn aus Begriffen läßt sich nie mehr schöpfen, als die Anschauungen enthalten, aus denen sie abgezogen sind“ (Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 209). Begriffe liefern nur die Form der Erkenntnis und gelten nur zur Vervollständigung der Erkenntnis der Natur. Dementsprechend sind die Naturwissenschaft bzw. die Physik unzulänglich, um eine letzte Erklärung der Dinge zu geben. Der Forscher muss seinen Blick ins Innere wenden, wo er „das Ding an sich“ erkennen kann, weil er es, wie jeder, in sich trägt; es selbst ist: „daher muß es ihm im Selbstbewußtseyn, wenn auch noch bedingterweise, doch irgendwie zugänglich seyn“ (Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 212). Vor diesem Hintergrund geht es Schopenhauer darum, „an der rechten Stelle, die äußere Erfahrung mit der innern in Verbindung [zu setzen] und diese zum Schlüssel jener [zu machen]“ (Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 211). Die Erkenntnis des Wesens der Dinge ist also auf die Erfahrung angewiesen: Sie ist die Deutung und Auslegung des Kernes der Dinge in ihren Verhältnissen und Beziehungen zur Erscheinung. Dementsprechend zeigt sich die Metaphysik als Deutung und Auslegung der Erfahrung, „da sie vom Dinge an sich nie anders, als in seiner Beziehung zur Erscheinung redet“. Infolgedessen ist Philosophie „Erfahrungswissenschaft“: „sie ist ein Wissen, geschöpft aus der Anschauung der äußeren, wirklichen Welt und dem Aufschluß, welchen über diese die intimste Thatsache des Selbstbewusstseyns liefert, niedergelegt in deutliche Begriffe“ (Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 213f.). Die Philosophie ist „nichts Anderes, als das richtige, universelle Verständniß der Erfahrung selbst, die wahre Auslegung ihres Sinnes und Gehaltes“. Philosophie ist insofern Erfahrungswissenschaft, weil sie sich mit der Erfahrung im Ganzen und Allgemeinen, nicht aber mit der einzelnen und besonderen Erfahrung beschäftigt. Ihr kommt der Status einer a priori erkannten Wissenschaft bzw. der Metaphysik zu (vgl. Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 211f.). Die Aufgabe der Philosophie bzw. Metaphysik ist „nicht die Beobachtung einzelner Erfahrungen, aber doch die richtige Erklärung der Erfahrung im Ganzen“ (Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 210).
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2 D ie Befreiung der Kunst und ihre Aufgabe nach Richard Wagner In den zwischen 1848–1851 verfassten „Revolutionsschriften“ beklagt Wagner den Zerfall der Künste und plädiert für eine neue Einheit, welche durch eine neue, alle Künste umfassende Kunstform des „Gesamtkunstwerks“ vollzogen werden kann. Er ist in seiner Kunstauffassung von Anfang an von deren erzieherischer Kraft überzeugt, durch die sie in die Zukunft wirken kann. Die Aufgabe des Künstlers ist es daher „nützlich zu wirken“. Indem er: seiner höchsten Fähigkeit gemäß thätig ist, wird er seiner Bestimmung gemäß auch nützlich. Vor allem nützt er aber auch dadurch, daß er bildet, und erzieht; damit versichert er sich seine fortdauernde Wirksamkeit in die Zukunft: und hierin hat die Gegenwart den gerechtesten Anspruch an ihn; denn je höherer Art seine Fähigkeiten und Kenntnisse sind, um so weniger sind sie ihm für ihn allein verliehen, sondern für Alle, denen er sie mittheilen kann (Wagner 1911, Bd. 2, S. 231).
Eine neue, wahre Kunst kann nur durch eine Revolution in die Tat umgesetzt werden, welche alles Alte zerstört. Daher fordert Wagner eine Erneuerung der Künste und zugleich eine des Menschen. 1848 vertritt er in Dresden die Ideen der Republikaner und beansprucht eine grundlegende Veränderung der Kunst und des Theaters durch die radikale Umwandlung der politischen und sozialen Zustände. Er war davon überzeugt, nur die wahre Kunst könne dem sozialen, revolutionären Drang eine Richtung geben. In Die Kunst und die Revolution strebt er danach, den künstlerischen mit dem sozialen Drang zu verschwistern, um die Menschenwürde wiedereinzusetzen. Er schreibt, die Kunst hätte mit der großen sozialen Bewegung seiner Zeit „ein gemeinschaftliches Ziel, und beide können es nur erreichen, wenn sie es gemeinschaftlich erkennen. Dieses Ziel ist der starke, schöne Mensch: die Revolution gebe ihm die Stärke, die Kunst die Schönheit!“ (Wagner 1911, Bd. 3, S. 32) Vor diesem Hintergrund sieht Wagner die Aufgabe der Befreiung als eine der öffentlichen Kunst. Eine solche Aufgabe ist überdies „eine ungemein wichtige Thätigkeit bei unserer sozialen Bewegung“ (ebd., S. 38). In seiner Schrift Oper und Drama bestimmt er die Aufgabe der Zukunft und betont, sie spiele für die Individualität eine grundlegende Rolle und für den Aufbau einer Gesellschaft und eines Staates. Der politische Staat wurde bereits von den Griechen als organisierende Macht des menschlichen Lebens verstanden, so Wagner, er agierte aber zum Nachteil der Gesellschaft, welche einzig auf den Tugenden der Individuen gründete. So habe der politische Staat stets nur die Laster in der Gesellschaft gesehen und die Tugenden der Individualität über-
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sehen. Die Natur der Individualität wurde laut Wagner im Laufe der Geschichte missverstanden und als ein, die sittliche Gewohnheit der Gesellschaft störendes Element, verurteilt. Aus diesem Grund wurde sie vom politischen Staat bekämpft und dadurch die freie Selbstbestimmung des Individuums verhindert. Aufs Ganze gesehen, will Wagner die Notwendigkeit der Individualität in der Gesellschaft zum Bewusstsein bringen und den politischen Staat bekämpfen: Das Wesen des politischen Staates ist aber Willkür, während das der freien Individualität Nothwendigkeit. Aus dieser Individualität, die wir in tausendjährigen Kämpfen gegen den politischen Staat als das Berechtigte erkannt haben, die Gesellschaft zu organisiren, ist die uns zum Bewußtsein gekommene Aufgabe der Zukunft. Die Gesellschaft in diesem Sinne organisiren heißt aber, sie auf die freie Selbstbestimmung des Individuums, als auf ihren ewig unerschöpflichen Quell, gründen (Wagner 1911, Bd. 4, S. 66).
3 Nietzsches Aufgabe einer Umwertung aller Werte Es ist bekannt, dass ab MA Nietzsches Abkehr von Schopenhauer und Wagner beginnt. Nietzsche wendet sich von der in der Geburt der Tragödie unter dem Einfluss Wagners und Schopenhauers formulierten „Artisten-Metaphysik“ sowie von der die Unzeitgemäßen Betrachtungen und damit von der Metaphysik des Genius ab. Er ist nun nicht mehr „von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens überzeugt“ (GT, KSA 1, S. 24), und nicht einmal mehr von der in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung und damit von der von Schopenhauer als philosophisch anerkannten Aufgabe, das Bild des Lebens zu malen. Die Kunst ist nach wie vor eine verschönernde, verbergende, umdeutende und organisierende Kraft (vgl. MA, KSA 2, S. 180f.; VM, KSA 2, S. 453f.), sie rechtfertigt aber nicht mehr das Leben, sondern macht es erträglich (vgl. FW, KSA 3, S. 464f.), wenn die künstlerischen Kräfte zur Lebensgestaltung eingesetzt werden. Die Kunst dient nicht mehr, wie bei Schopenhauer, zur zeitweiligen Aufhebung des Willens und des Leidens, oder wie bei Wagner zur Revolution: Nietzsche zielt auf eine Kunst „als Ueberschuss einer weisen und harmonischen Lebensführung“ (VM, KSA 2, S. 453). Nietzsche wendet sich offensichtlich dadurch von Wagner und Schopenhauer ab, dass er die Musik2 nicht mehr als Objektivation des „Willens“ bzw. des „Dings an sich“
2 Ab MA ist die Musik laut Nietzsche „eben n i ch t eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeit-
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in der Erscheinungswelt versteht: „Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hineingelegt“ (MA I, KSA 2, S. 175). Darüber hinaus preist er an Stelle der Musik den Tanz als Ideal und Kunst des Philosophen. Vor diesem Hintergrund bekommt die neue, im Aph. 25 in MA dargestellte Aufgabe der Philosophen, eine herausragende Bedeutung: Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite […], müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen […] Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss der B edingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts (MA I, KSA 2, S. 46).
Nietzsche arbeitet also an der Kultur, und zwar an der Umschaffung der ihr zugrundeliegenden Überzeugungen zugunsten einer „höheren Kultur“. Anders als Schopenhauer spricht er der Erfahrung eine nicht metaphysische, sondern eine experimentelle, individuelle und existentielle Bedeutung zu. Er fordert zu einer neuen existentiellen Einstellung zum Leben auf: „Gute Nachbarn der nächsten Dinge werden“ (WS, KSA 2, S. 551), die zugleich eine methodologische ist. Zu diesem Zweck fordert er eine „Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen“ (MA I, KSA 2, S. 24) und macht den ersten entscheidenden Schritt zur Genealogie der Moral. Vermöge eines historischen Philosophierens bringt er den sinnlichen – nicht metaphysischen – Ursprung der ästhetischen und moralischen Begriffe und Empfindungen zum Vorschein. Daher entdeckt er, dass die Bedingungen der Kultur nicht auf eine a priori erkannte Wissenschaft, sondern auf Existenz-Bedingungen gründen. Hierin liegt der große, unüberbrückbare Unterschied zwischen Nietzsche und Schopenhauer. Schopenhauer fragt nach dem Wesen der Welt und des Daseins. Er ist der Ansicht, „daß die letzten und wichtigsten Aufschlüsse über das Wesen der Dinge
maass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt“ (VM, KSA 2, 450). Für maßlos erachtet er Wagners Musik, der er die alte Musik entgegensetzt. Während man in der bisherigen älteren Musik tanzen musste, „wobei das hierzu nöthige Maass, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende Besonnenheit erzwang“ (VM, KSA 2, S. 434), wollte Wagner mit seiner „unendlichen Melodie“ „eine andere Art B e we gu ng d e r S e e l e , welche […] dem Schwimmen und Schweben verwandt ist“ (VM, KSA 2, S. 434). Auch wenn die unendliche Melodie das Wesentlichste seiner Neuerungen ist, hat in ihr „die Verwilderung, der Verfall der Rhythmik im Versteck gelauert“ (VM, KSA 2, S. 435).
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allein aus dem Selbstbewußtseyn geschöpft werden können“ (Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 207) und ist zuletzt davon überzeugt, mit der Erfahrungswissenschaft eine adäquate Erkenntnis und zwar eine wahre Deutung und Auslegung der Welt und des Lebens zu liefern: Allein es gibt noch andere Wege zur Metaphysik. Das Ganze der Erfahrung gleicht einer Geheimschrift, und die Philosophie der Entzifferung derselben, deren Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden Zusammenhang bewährt. Wenn dieses Ganze nur tief genug gefaßt und an die äußere die innere Erfahrung geknüpft wird; so muß es aus sich selbst gedeutet, ausgelegt werden können (Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 212).
Wie Nietzsche in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung schreibt, lässt Schopenhauers philosophische Aufgabe sich unter dem Motto „vitam impendere vero“ zusammenfassen, und Schopenhauer habe diesem Motto bzw. seiner Aufgabe gemäß, gelebt: „Es gehörte zu den herrlichen Bedingungen seiner Existenz, dass er wirklich einer solchen Aufgabe, gemäss seinem Wahlspruche vitam impendere vero, leben konnte und dass keine eigentliche Gemeinheit der Lebensnoth ihn niederzwang“ (SE, KSA 1, S. 411). Nach Nietzsche gibt es hingegen „keine alleinwissendmachende Methode der Wissenschaft. Wir müssen versuchsweise mit den Dingen verfahren, bald böse, bald gut gegen sie sein und Gerechtigkeit, Leidenschaft und Kälte nach einander für sie haben“ (M, KSA 3, S. 266). Erkenntnis ist auf Erfahrung und Auslegung angewiesen. Die Auslegung ist aber nicht Entdeckung und Erklärung eines ursprünglichen, in den Dingen erscheinenden Sinnes, wie bei Schopenhauer: Sie ist nicht Sinndeutung. Auslegung ist Interpretation, d. h. individuelle Sinnerfindung. Der Erkenntnisprozess ist immer nur ein Experimentieren, das von individuellen Bedürfnissen gesteuert wird, und nicht eine Erfahrung im Ganzen, sondern eine individuelle Perspektive. Darüber hinaus ist nach Nietzsche der Ursprung der Erkenntnis nicht im (Selbst)Bewusstsein, als Ort des unmittelbaren Zugangs des Erkennenden zum Wesen der Dinge, zu verorten. Das Bewusstsein ist das Organ der Mitteilung (vgl. FW, KSA 3, S. 354ff.; Schlimgen 1999), das das gesellschaftliche Leben ermöglicht: Was aber ins Bewusstsein tritt, ist das Resultat eines unbewussten, entscheidenden Kampfes der Triebe gegeneinander. Vor diesem Hintergrund tritt für Nietzsche an Stelle des Bewusstseins der Leib als Leitfaden der Erkenntnis: „Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ‚Geist‘ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft“ (Za, KSA 4, S. 39). Was wir erkennen, ist letztendlich das, was wir erlebt haben, und dieses ist, was wir erdichtet haben: „Erleben ist Erdichten“ (M, KSA 3, S. 119). Aus diesem Grund ist Erkenntnis Interpretation, im Sinn von Wertschätzung, Sinnerfindung. Infol-
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gedessen ist der Mensch nicht mehr ein „animal metaphysicum“, sondern „der Messende“ (WS, KSA 2, S. 554). Demnach ist die Philosophie nicht wie bei Schopenhauer „das richtige, universelle Verständniß der Erfahrung selbst, die wahre Auslegung ihres Sinnes und Gehaltes“ (Schopenhauer 1988, Bd. 2, S. 214): Sie ist nicht Entzifferung des metaphysischen Wesens der Welt. Philosophie ist laut Nietzsche „eigentliche Macht der Geistigkeit, eigentliche Tiefe des geistigen Blicks“ (JGB, KSA 5, S. 195) oder, wie er an anderer Stelle einräumt: „Philosophie ist [der] tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur „Schaffung der Welt“, zur causa prima.“ (JGB, KSA 5, S. 22) Und der Wille zur Macht ist nur eine Hypothese, eine Selbstauslegung des Menschen (vgl. Gerhardt 2000). Während Schopenhauer in seiner Philosophie die klassische Frage nach dem Wesen des Seins bzw. der Welt und des Lebens stellt, ist es nach Nietzsche philosophisch wichtig, über die existentielle Frage nach dem Sinn des Lebens (vgl. HL, KSA 1, S. 319; FW, KSA 3, S. 597–602) nachzudenken. Der Philosoph „[verlangt] von sich ein Urtheil, ein Ja oder Nein, nicht über die Wissenschaften, sondern über das Leben und den Werth des Lebens“ (JGB, KSA 5, S. 132). In diesem Kontext heißt Wert bzw. Sinn eher Richtung als Bedeutung. Dies besagt, dass der Philosoph nach seinen umfangreichen Erlebnissen, den zahlreichen Versuchen und Versuchungen, den Gefahren, denen er sich ständig aussetzt, und zuletzt den vielen Philosophien, mit denen er sich auseinandergesetzt hat, sein Leben gestaltet und ihm somit eine Richtung, ein Ziel gibt: hierin liegt die Größe eines Menschen bzw. eines Philosophen: „Grösse heisst: Richtung-geben“ (MA I, KSA 2, S. 324). Der Sinnfrage lässt Nietzsche in der GD eine entscheidende Bedeutung zukommen. Er behauptet dabei, „dass der Werth des Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von einem Todten nicht, aus einem andren Grunde“ (GD, KSA 6, S. 68). Und dass deshalb „von Seiten eines Philosophen im Werth des Lebens ein Problem sehn dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit [bleibt]“ (GD, KSA 6, S. 68). Trotzdem sind wir genötigt, Werte in unserem Leben anzusetzen. Ohne Werte kommen wir nicht aus. Das Leben selbst ist ein Wertschätzen: „das Leben selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, wenn wir Werthe ansetzen“ (GD, KSA 6, S. 86). An dieser Stelle ist Nietzsches Absicht nicht die Etablierung eines neuen Naturalismus oder Vitalismus. Er will zwar das Leben als physiologischen Prozess deuten, weil er darauf zielt, Urteile über das Leben als Symptome einer bestimmten Art von Leben zu interpretieren. In diesem Sinn ist seine Aussage zu verstehen: „Ästhetik ist ja nichts als eine angewandte Physiologie“ (NW, KSA 6, S. 418).
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Für den späten Nietzsche besteht das Leben aus einer aufsteigenden und einer absteigenden Linie. Infolgedessen geht es darum festzustellen, welche dieser Linien das „Wesen“ eines Menschen ausmacht. So sind die vom Künstler benutzten ästhetischen Formeln nur die Verkleidung seiner Physiologie: „In Hinsicht auf Artisten jeder Art bediene ich mich jetzt dieser Hauptunterscheidung: ist hier der Hass gegen das Leben oder der Überfluss an Leben schöpferisch geworden?“ (NW, KSA 6, S. 426) Von diesem Standpunkt aus war Wagner „etwas Vollkommnes, ein typischer décadent, bei dem jeder `freie Wille´ fehlt, jeder Zug Nothwendigkeit hat“ (WA, KSA 6, S. 27). Er konnte sich nicht wie Goethe (vgl. GD, KSA 6, S. 151f.) zum Ganzen disziplinieren, denn er war ein „Miniaturist“ (WA, KSA 6, S. 28). Darum hat er „seine Unfähigkeit zum organischen Gestalten in ein Princip verkleidet […]“ (WA, KSA 6, S. 28). Außerdem war Wagner ein Décadent, weil er dem Christentum, d. h. der nihilistischen Moral par excellence, huldigte. Wie jede Kunst so darf auch jede Philosophie „als Heil- und Hülfsmittel des wachsenden oder des niedergehenden Lebens angesehen werden“ (NW, KSA 6, S. 425). Daher war Wagner, ebenso wie Schopenhauer, dekadent. Beide verkörpern nach Nietzsche „die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung von Kunst und Philosophie verlangen. […] sie verneinen das Leben, sie verleumden es, damit sind sie meine Antipoden“ (NW, KSA 6, S. 425). Nietzsche stellt sich aber als ihnen entgegengesetzter Typus dar und zwar als den „an der Überfülle des Lebens Leidende, welche[r] eine dionysische Kunst und ebenso eine tragische Einsicht und Aussicht auf das Leben“ (NW, KSA 6, S. 425) will. Nietzsches Auseinandersetzung mit Wagner und Schopenhauer sowie seine Loslösung von beiden ist also zugleich von philosophischem und existentiellem Belang. Damit versucht er nicht nur die Basis und die Herangehensweise seines Denkens sowie die Problemstellung und die Perspektive zu definieren, aus der die philosophischen Fragen behandelt werden müssen, um zu neuen Ergebnissen zu gelangen. Er versucht auch Anhaltspunkte zur Selbstbestimmung und Konturierung seiner eigenen philosophischen und existentiellen Aufgabe zu gewinnen, die nun als Lebensaufgabe sowie als Merkmal eines jeden Philosophen aufscheinen. Seine Positionierung gegenüber Wagner und Schopenhauer dient Nietzsche zur Gestaltung und Profilierung seines Lebens, wie er es in Ecce homo zum Ausdruck bringt: „Die Schrift ‚Wagner in Bayreuth‘ ist eine Vision meiner Zukunft; dagegen ist in `Schopenhauer als Erzieher` meine innerste Geschichte, mein Werden eingeschrieben“ (EH, KSA 6, S. 320). In diesen Schriften komme ein „Stück Psychologie“ zum Vorschein: „es drückt das Distanz-Gefühl aus, die tiefe Sicherheit darüber, was bei mir Aufgabe, was bloss Mittel, Zwischenakt und Nebenwerk sein kann. Es ist meine Klugheit, Vieles und vielerorts gewesen
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zu sein, um Eins werden zu können, – um zu Einem kommen zu können. Ich musste eine Zeit lang auch Gelehrter sein“ (EH, KSA 6, S. 321). Nietzsches Selbstbestimmung oder besser gesagt Selbstverwirklichung vollzieht sich nicht ohne Diskontinuitäten und zögerliches Überdenken3, am Leitfaden jener Aufgabe, die er 1886 in der Geburt der Tragödie (im „Versuch einer Selbstkritik“) so bezeichnet: „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens“ (GT, KSA 1, S. 14). Mit der Aufgabe der Umwertung aller Werte bezweckt Nietzsche nicht, das Individuum durch die Revolution oder durch die Verneinung des Willen bzw. durch das Nirwana zu befreien, sondern praktisch durch die Entfesselung eines „Geisterkriegs“ (EH, KSA 6, S. 366), bei der der Aufgabe des Philosophen eine existentielle Bedeutung bekommt. Der Philosoph sucht sich einen gewaltigen Gegner oder ein schwieriges Problem und fordert ihn bzw. es zum Zweikampf heraus: Die Stärke des Angreifenden hat in der Gegnerschaft, die er nöthig hat, eine Art Maass; jedes Wachsthum verräth sich im Aufsuchen eines gewaltigeren Gegners – oder Problems: denn ein Philosoph, der kriegerisch ist, fordert auch Probleme zum Zweikampf heraus. Die Aufgabe ist nicht , überhaupt über Widerstände Herr zu werden, sondern über solche, an denen man seine ganze Kraft, Geschmeidigkeit und Waffen-Meisterschaft einzusetzen hat, – über gleiche Gegner… Gleichheit vor dem Feinde – erste Voraussetzung zu einem rechtschaffnen Duell. Wo man verachtet, kann man nicht Krieg führen (EH, KSA 6, S. 274).
Es geschieht aus einer Lebensnot und einem Stärke zeigenden „aggressiven Pathos“ (EH, KSA 6, S. 274) und durch die existentielle Herausforderung, dass jeder im Hinblick auf seine echten Bedürfnisse seinem Leben einen Sinn verleiht und einen Anteil an der Erfindung von ökumenischen Zielen des Lebens hat. Nietzsche suchte sich zweifelsohne unter anderem Wagner und Schopenhauer als ebenbürtige Gegner4 und fühlte sich lebenslang von ihnen herausgefordert. Durch die unablässige Auseinandersetzung mit beiden hat er, wie ich gezeigt habe, sich selbst bzw. seine Aufgabe bestimmt. Unter diesen Bedingungen
3 Ab MA zeigen sich in Nietzsches Denken und Leben zwei Tendenzen: einerseits deutet er das Leben als Mittel der Erkenntnis, andererseits sieht er die Notwendigkeit, die Kunst einzusetzen, um dem Leben eine ästhetische Form zu verleihen (vgl. M 195, M 459; FW 123, FW 324, FW 327; auch Brusotti 1997a und Brusotti 1997b). 4 Man darf nicht übersehen, dass trotz aller Kritik Schopenhauer und Wagner für ihn starke Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts sind, in denen sich „die unzweideutigsten Anzeichen zeigen […], in denen sich ausspricht, dass E u ro p a E i n s we rd e n w i l l“ (JGB, KSA 5, S. 201). Mit Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine sind Schopenhauer und Wagner die „guten Europäer“, die „den Weg zu jener neuen Sy n t h e s i s vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen“ (JGB, KSA 5, S. 201).
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bestimmt ihrerseits diese Aufgabe Nietzsches Leben: Sie wird zur Lebensaufgabe, in der sich Nietzsche nicht bloß als ein Erkennender, sondern auch als ein Verklärer des Daseins erweist.
Literaturverzeichnis Brusotti, Marco (1997a): „Erkenntnis als Passion. Nietzsches Denkweg zwischen Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft“. In: Nietzsche-Studien 26, S. 199–225. Brusotti, Marco (1997b): Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophische und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von „Morgenröthe“ bis „Also sprach Zarathustra“. Berlin, New York. Figl, Johann (1982): Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß. Berlin, New York. Gerhardt, Volker (2006): Friedrich Nietzsche. Vierte, aktualisierte Auflage. München. Gerhardt, Volker (2000): „Wille zur Macht“. In: Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart, Weimar, S. 351–355. Gerhardt, Volker (1996): Vom Willen zur Macht. Berlin, New York. Kaulbach, Friedrich (1980): Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie. Köln, Wien. Nicodemo, Nicola (2012a): „Das Große Leben als Verklärungsprozess“. In: Volker Caysa/ Konstanze Schwarzwald (Hg.): Nietzsche – Macht – Größe. Berlin, Boston, S. 201–221. Nicodemo, Nicola (2012b): „Nietzsches ‚dichtende Vernunft‘“. In: Helmut Heit/Günter Abel/ Marco Brusotti (Hg.): Nietzsches Wissenschaftsphilosophie / Nietzsches Philosophie of Science. Berlin, Boston, S. 223–234. Ottmann, Henning (2000) (Hg.): Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart, Weimar. Schlimgen, Erwin (1999): Nietzsches Theorie des Bewusstseins. Berlin, New York. Schopenhauer, Arthur (1988): „Die Welt als Wille und Vorstellung“. In: Schopenhauer: Werke. Bd. 2. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich. Sorgner, Stefan Lorenz/Birx, James H./Knoepffler, Nikolaus (Hg.) (2008): Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg. Wagner, Richard (1911): Sämtliche Schriften und Dichtungen. 16 Bde. 6. Auflage. Leipzig.
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Parsifal, Siegfried und der Kompromiss der Moderne Nietzsche über Wagners Verhältnis zum Schopenhauerschen Pessimismus und spinozistischen Optimismus Im Jahre 1886 hörte Nietzsche die Einleitung zum Parsifal in Monte Carlo. Während der Arbeit an der GM macht er in diesem Sommer eine Notiz über das Vorspiel: „das größte Meisterstück des Erhabenen, das ich kenne, die Macht und Strenge im Erfassen einer furchtbaren Gewißheit, ein unbeschreiblicher Ausdruck von Größe im Mitleiden darüber“ (NL 1886/1887, KSA 12, S. 199). Dieses Zitat zeigt, dass sich Nietzsches Anerkennung der künstlerischen und dichterischen Stufe, die Wagner mit Parsifal erreicht hat, mit seiner philosophisch-kritischen Pointe angesichts des Mitleidsverständnisses von Wagner kreuzt, das in diesem Werk eine „Größe“ (NL 1886/1887, KSA 12, S. 199) gewonnen hat. Dabei ist bemerkenswert, dass sich diese „Größe im Mitleiden“ (NL 1886/1887, KSA 12, S. 199) Wagners auf dasselbe Problem bezieht, womit sich auch Nietzsche immer beschäftigt hat (NL 1886/1887, KSA 12, S. 199) So gilt das Leidensproblem als das „Problem […]“ (NL 1886/1887, KSA 12, S. 199) für das beide jedoch unterschiedliche „Antworten“ (NL 1886/1887, KSA 12, S. 199) gesucht und gefunden haben. Für die Betrachtung ist vor allem Parsifal interessant, da Nietzsches selbstkritischer philosophischer Wandel seiner unterschiedlichen Wagnerbewertung, also seiner früheren Hochschätzung und späteren Ablehnung angesichts der Leidensthematik und Mitleidsmoral, an seiner Parsifal-Bewertung am deutlichsten sichtbar wird. Die Entstehung von Wagners Parsifal wird zwischen 1856 und 1882 datiert, an dem der Komponist aber erst nach 1877 konzentriert arbeitete. Bereits 1876 hat Nietzsche nach seiner Ankunft in Sorrent am 27. Oktober bei seinem anschließenden Besuch bei der Familie Wagner von Parsifal erfahren. Nach diesem Treffen und dem Gespräch über Wagners Plan zum Parsifal schreibt Nietzsche an Cosima Wagner am 19. Dezember 1876 über seine Überraschung, dass ihm seine Distanzierung von der Position Schopenhauers „fast plötzlich“ (KGB II/5, Bf. 581) bewusst wurde. Für Nietzsche, dem seine kritische Position gegenüber Schopenhauer angesichts seines resignativen, pessimistischen Verständnisses des Leidens immer bewusster geworden ist, war Wagners Parsifal ein unfehlbarer Hinweis auf das bevorstehende Ende der Freundschaft. Nachdem Nietzsche das Parsifal-Manuskript am 3. Januar 1878 erhalten hatte, schrieb er an Reinhart von
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Seydlitz: „Mehr Liszt als Wagner, Geist der Gegenreformation“ (KGB II/5, Bf. 678). Nietzsches Lektüre vom noch nicht vertonten Parsifal-Libretto wird seine Bewunderung für Wagner durch einen bitteren Vorwurf ersetzen.1 Trotz des Abbruchs der Freundschaft im Jahre 1878 spielt Wagner in Nietzsches Denken weiter eine bedeutende Rolle, insbesondere auch in den späteren Werken wie WA und seiner letzten Schrift vor dem Zusammenbruch NW im Jahre 1888.2 Um die Frage, was ihre abrupte Trennung verursacht hat, richtig zu beantworten, genügt es nicht, den Blick nur auf die persönlichen und biographischen Ereignisse zu beschränken. Da vor allem die gemeinsame Bewunderung für Schopenhauers Philosophie die Wahlverwandtschaft zwischen ihnen ermöglicht hat, ist festzustellen, wie Nietzsches veränderte Position zu Schopenhauer seine Wagnerbewertung beeinflusst hat. Bei dieser Untersuchung können die Begriffe ‚Leiden‘ und ‚Mitleid‘ als Schlüssel gelten. Im Parsifal gipfelt die Mitleidsethik von Wagner. Die Phrase „durch Mitleid wissend“3 gilt nicht nur als eines der wichtigsten musikalischen Leitmotive des Werkes, sondern spielt auch eine zentrale Rolle für die gesamte Handlung dieses Musikdramas; in dem die buddhistisch-christliche Resignation als ein wesentliches Element der Erlösung hervorgehoben wird. So scheint der Geist bei der Phrase „durch Mitleid wissend“ von Wagner für Nietzsche in seiner späteren selbstkritischen Phase ein moderner Gegenpol der antiken Perspektive zum Leben zu sein, der mit dem Spruch ‚durch Leiden wissend (πάθει μάθος)‘ gut zum Ausdruck gebracht wird. Auch bei Wagners Textarbeit, auf Grundlage der Dichtungen Wolfram von Eschenbachs und Chrétien de Troyes, lässt sich seine Betonung des philosophischen bzw. religiösen Aspekts des Gralskönigsmythos beobachten, in dem das Leiden des Gralskönigs Amfortas und seine prophezeite Erlösung vom Leiden4 und von seiner Mission zum Kernproblem des Dramas wurden.
1 Vgl. Bf. an Heinrich Köselitz, 21.1.1887, KGB III/5, Bf. 793. Zwar beschreibt Nietzsche in diesem Brief seine Bewunderung für die Ouvertüre des Parsifals, es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass er seine Kommentare auf das „rein ästhetisch[e]“ (KGB III/5, Bf. 793) beschränkt hat. Dabei wird nicht berücksichtigt, „wozu solche Musik dienen kan n oder etwa dienen s o l l“ (KGB III/5, Bf. 793). 2 In einem Brief an Overbeck von 1886 schreibt Nietzsche am 14.7.1886: „Denn, Alles in Allem gerechnet, war R[ichard] W[agner] der Einzige bisher, mindestens der Erste, der ein Gefühl davon gehabt hat, was es mit mir auf sich habe“ (KGB/III, Bf. 721). 3 Das Leitmotiv „durch Mitleid wissend“ wird zum ersten Mal von Amfortas gesungen und immer wieder suggeriert bzw. variiert. Vgl „Amfortas: ‚Durch Mitleid wissend‘, war’s nicht so? / Gurnemanz: Uns sagtest du so“ (Wagner 1972/1973, Bd. 1, S. 37, Takte 319–323); „Gurznemanz: […] (leise) ein heilig Traumgesicht nun deutlich zu ihm [=Amfortas] spricht durch hell erschauter Wortezeichen Male: ‚durch Mitleid wissend der reine Tor, harre sein, den ich erkor. / Die Knappen: (sehr leise) der Mitleidvoll reine Tor“ (Wagner 1972/1973, Bd. 1, S. 75–77, Takte 721–741). 4 Vgl. Wagner 1972/1973, Bd. 3, S. 127f., Takt 1030f.
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Bei Licht besehen kann keine bestimmte Figur die Hauptrolle für dieses Musikdrama besser beanspruchen als das Leiden selbst. Der Gralskönig Amfortas5, der unter den ‚ewig wiederkehrenden Schmerzen‘6 leidet, der von seiner unfruchtbaren Weisheit ermüdete Gurnemanz7, sowie der, seine frühere Unfähigkeit mitzuleiden, bereuende Parsifal, dessen Mutter „Herzeleide“8, die verfluchte Kundry9 und nicht zuletzt der heidnische Zauberer Klingsor sind so dargestellt, als ob ihre einzige Rolle darin besteht, das Leiden des menschlichen Daseins in möglichst reiner und unterschiedlicher Form darzustellen. Zwar steht die Aufgabe von Parsifal fest, den Gralskönig durch sein Mitleiden von dessen Leiden zu erlösen; dennoch wird im Verlauf der Handlung deutlich, dass jeder Charakter eigentlich unter seinem Leiden weiter leiden und dabei zugrunde gehen wird, es sei denn, dass er von diesem Schicksal erlöst wird. Die erhoffte Erlösung bezieht sich dabei nicht nur auf die schwere Last des Gralskönig Amfortas, sondern auf das Leiden aller Figuren im Drama. Mit anderen Worten: die Welterlösung vom Leiden durch das Mitleid. Für Nietzsche aber stellt Wagners Gleichsetzung der Leidensthematik mit der Mitleidsthematik im Parsifal10 ein ernstzunehmendes, modernes Phänomen dar (vgl. NW, KSA 6, S. 430). In diesem Kontext findet sich eine wichtige Stelle im Nachlass aus dem Frühjahr 1881/1882.11 In dieser Interpretation wird die wagnerische Erlösung vom Leiden den Leidenden durch das Mitleid nur schwach machen, so dass er mit seinem eigenen Leiden nicht selbstständig umgehen kann. Es handelt sich hierbei um eine passive Erlösung, nicht um eine Selbsterlösung. Im Parsifal muss auch der Erlöser erlöst werden, wie Nietzsche die letzte Phrase des Werks „Erlösung dem Erlöser“ (Wagner 1972/1973, Bd. 3, S. 146f., Takt 1109f.) mit Zynismus paraphrasiert (vgl. NL 1881/1882, KSA 9, S. 608). Gilt aber
5 Vgl. Wagner 1972/1973, Bd. 1, S. 26f., Takt 170–172. Vgl. auch Wagner 1972/1973, S. 136f., Takt 1259–1266 und Wagner 1972/1973, Bd. 3, S. 112, Takt 922f. 6 Vgl. Wagner 1972/1973, Bd. 3, S. 57, Takt 540–545. 7 Vgl. Wagner 1972/1973, Bd. 3, S. 27, Takt 178–192 und S 40f., Takt 364f. 8 Vgl. Wagner 1972/1973, Bd. 1, S. 94f., Takt 938f. 9 Vgl. Wagner 1972/1973, Bd. 1, S. 30f., Takt 219–237. 10 Vgl. Wagner 1972/1973, Bd. 3, S. 130f., Takt 1046f .: „Parsifal: Gesegnet sei dein Leiden, das Mitleids höchste Kraft und reinsten Wissens Macht dem zagen Toren gab!“ 11 Vgl. NL 1881/1882, KSA 9, S. 608: „Wir wollen es nicht machen, wie Wagners Wotan, der mit ungeheurer Wichtigkeit die alte Erda aus ihrem Schlafe weckt, um ihr zu sagen, daß sie weiter schlafen könne. Und auch nicht wie Wagners Parsifal – ein Arzt, der zwar seine Patientin heilt, doch so daß diese gleich nach der Heilung stirbt – und zwar mit rückwirkender Kraft; denn irgend ein alter Großvater muß auch deshalb noch sterben. Ja, wir wollen Aufwecker und Ärzte sein, doch so daß die Aufgeweckten nicht wieder einschlafen müssen und die Geheilten nicht an der Heilung zu Grunde gehen.“
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diese Einsicht über das Leiden nicht nur in Wagners Musikdrama, sondern vertritt sie allgemein den Zeitgeist der Moderne, ist das für Nietzsche ein ernsthaftes Problem. Er muss sich mit ihm auseinandersetzten, da er in einem früheren Entwurf noch an eine „tragische[n] Kultur“ geglaubt hatte; „in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht“ (GT, KSA 1, S. 118). Eine derartige Perspektive über das Leiden im Parsifal wird insbesondere durch den Hass gegen die Erkenntnis gekennzeichnet, wie Nietzsche Parsifal als dessen „grösstes Meisterstück“ angesichts seiner „verführerischen Kraft“ und „kranken Schönheit“ zynisch kommentiert (vgl. WA, KSA 6, S. 43f.). Nietzsches Gleichsetzung Wagners mit dem heidnischen Zauberer Klingsor in WA macht auf den magischen Einfluss aufmerksam, den die in seinem Musikdrama verwirklichten lebensverneinenden Ideen auf den Menschen ausüben können, dass der Lebensmut und der Wille zur Selbstüberwindung unter der Macht der „Zaubermädchen-Tönen“ (WA, KSA 6, S. 43) in Vergessenheit geraten. Dabei erkennt Nietzsche eine sowohl kulturelle als auch sozio-politische Spannung zwischen dieser von demagogischen Gestalten „verführten“ (WA, KSA 6, S. 44) Masse und „den freien Geistern“ (WA, KSA 6, S. 43), die ein einsames Maskenspiel nötig haben. So wird neben dem religionskritischen Aspekt von Nietzsches Wagnerkritik ihr sozio-politischer Aspekt deutlich (Vgl. NL 1882/1883/1884, KSA 10, S. 239)12, den er auch bei Wagners „demagogische[m] Talent“ (NL 1885, KSA 11, S. 590) beobachtet hat. Mit diesem Talent konnte er „mit seinem Parsifal allen Feigheiten der modernen Seele zurede[n]“ (NL 1888, KSA 13, S. 243; vgl. auch NL 1885/1886, KSA 12, S. 133). Nun gilt es, die Figur Parsifal zu betrachten, der als „der reine Tor“ (Wagner 1972/1973, Bd. 1, S. 37, Takte 324–326; S. 96f., Takte 958–966; S. 122f., Takte 1156– 1160) im gleichnamigen Musikdrama bezeichnet wird.13 Besonders interessant ist dieser von Nietzsche kritisch gesehene Charakter, wenn er mit der Figur Siegfrieds verglichen wird. Nietzsche macht diesen direkten Vergleich, indem Parsifal als das „Siegfried-Zerrbild“ (NL 1884, KSA 11, S. 300) und die „Siegfried-Caricatur“ (NL 1885, KSA 11, S. 592) Wagners „in seinen alten Tagen“ (NL 1885, KSA 11, S. 592) Wagners gekennzeichnet wird. Es sei jedoch angemerkt, dass Nietzsche trotz dieser Vergleichbarkeit einen wichtigen Kontrast beobachtet. So bewertet er nicht nur in seiner früheren Phase, sondern auch nach dem Abbruch ihrer Freundschaft den unschuldigen Helden Siegfried weiterhin hoch – und häufig
12 Vgl. auch NL 1885, KSA 11, S. 535f. 13 Nietzsche hat bei in Kommentar zu Parsifal oft ein Wortspiel mit dieser Bezeichnung macht: „So weit sind wir schon reine Thoren …“ (WA, KSA 6, S. 43).
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auch den jüngeren Wagner, der den Ring geschrieben hatte – als den „freiesten Menschen“ (WB, KSA 1, S. 509), den „sehr freien Menschen“ und „Immoralist[en]“ (NL 1885, KSA 11, S. 592; siehe auch NL 1885, KSA 11, S. 491). Siegfrieds Optimismus, der keine Furcht kennt, ist auch vom demagogischen Optimismus abzugrenzen, indem er seine souveräne Einsamkeit bewahren kann. Dagegen gilt der „reine Tor Parsifal“ nicht mehr als „siegreicher, selbstgewisser, Wagnerischer“ (GM, KSA 5, S. 344)14 Held, das letztere im Sinne des lobenswerten Bildes vom jüngeren Wagner. In WA kommentiert Nietzsche in scharfem Ton, dass Goethe im Werk Parsifal die Gefahr des „Romantiker-Verhängniss[es]“ hätte feststellen können; „am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken […]“ (WA, KSA 6, S. 19).15 Worin unterscheiden sich diese beiden auf den ersten Blick ähnlichen Helden von Wagner bei Nietzsche? Die Frage stellt sich, da sowohl Siegfried (Wagner 2006–2008, Bd. 12.1, S. 40f., Takt 419f.) als auch Parsifal (vgl. Wagner 1972/1973, Bd. 1, S. 82ff., Takte 779–892) in ihrer Herkunft als unschuldige Figuren dargestellt werden, die abgetrennt von der herkömmlichen Moral und Sittlichkeit der Welt, in der Natur groß werden. Diese Bedingung, von der Gesellschaft isoliert und in der Einsamkeit zu leben, macht sie übermenschlich stark und eigenständig in der dramatisierten Welt Wagners. Ihre Fähigkeit, der eigenen Natur getreu zu leben, macht sie unschuldig und frei von religiösen und kulturellen Denk- und Handlungsmustern. Diese Ähnlichkeit lässt sich jedoch nicht mehr feststellen, wenn Parsifal zum ersten Mal dem leidenden Gralskönig begegnet. Vor dieser Szene kannte er noch keine Gewissensbisse (vgl. Wagner 1972/1973, Bd. 1, S. 82–91, Takte 779–892), was ihm die Bezeichnung „ein reiner Tor“ eingebracht hat (vgl. Wagner 1972/1973, Bd. 1, S. 82–93, Takte 779–916). Nachdem Parsifal jedoch vom Leiden des Gralskönigs affiziert wurde (vgl. Wagner 1972/1973, Bd. 1, S. 182, Takte 1631–1642), kann er strenggenommen nicht mehr als jener unschuldige, außermoralische16, reine Tor
14 „Zuletzt aber, noch ganz abgesehn von dieser Velleität, wer möchte nicht überhaupt wünschen, um Wagner’s selber willen, dass er a n d e r s von uns und seiner Kunst Abschied genommen hätte, nicht mit einem Parsifal, sondern siegreicher, selbstgewisser, Wagnerischer, – weniger irreführend, weniger zweideutig in Bezug auf sein ganzes Wollen, weniger Schopenhauerisch, weniger nihilistisch?…“ (WA, KSA 6, S. 43). 15 „Was Goethe über Wagner gedacht haben würde? – Goethe hat sich einmal die Frage vorgelegt, was die Gefahr sei, die über allen Romantikern schwebe: das Romantiker-Verhängniss. Seine Antwort ist:‚am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken. Kürzer: Par sifal“ (WA, KSA 6, S. 43). 16 Vgl. „Parsifal: Die mich drohten, waren sie bös‘? (Gurnemanz lacht.) Wer ist gut? (Gurnemanz: Wieder ernst)“ (Wagner 1911, S. 101, Takte 990–994).
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gelten, obgleich er seine Schmerzen nicht als Gewissenbiss erkennt. Hier handelt es sich um eine Ironie, die Wagner nicht beabsichtigt hat: Parsifal, der den Gralskönig bei der zweiten Begegnung mit ihm – nach seinem Versagen bei der ersten Begegnung – erlösen sollte, ist eigentlich kein reiner Tor mehr, wie Siegfried. Es bedeutet, dass Wagners „reiner Tor“ im Parsifal der Bezeichnung der Unschuld im Sinne Nietzsches nicht mehr würdig ist, nachdem er durch seine anschließende lange Wanderung gelernt hat, ‚mitzuleiden‘, so dass er die Gralsburg Monsalvat wiederfinden durfte. Interessanterweise wird dieses Siegfriedbild nicht nur mit dem jungen Wagner als dem Schöpfer von Siegfried, sondern mit Baruch Spinoza in FW assoziiert. Es ist auf Nietzsches Vergleich hingewiesen, dass „das Siegfriedhafte“ (FW, KSA 3, S. 455)17 bei Wagner spinozistisch ist! Auch in derselben Arbeitsplanung, wo die zweite „Chaos sive Natura“-Stelle von 1882 (NL 1882, KSA 9, S. 686) – zum ähnlichen Zeitpunkt wie das Erscheinen der FW – unter der Nummerierung 55 auftaucht, will Nietzsche über das Verderben des jungen Wagner durch Schopenhauers Philosophie schreiben, die im Gegensatz zu seiner eigenen, „Siegfriedhafte[n]“ (FW, KSA 3, S. 455) Philosophie stehen soll.18 Darunter zählen Charakteristiken, wie „die Unschuld der höchsten Selbstsucht, der Glaube an die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich“ (FW, KSA 3, S. 455), die in anderen Worten als ein lebensbejahender und leidenschaftlicher Optimismus zusammengefasst werden. Sie standen deutlich „wider den Geist Schopenhauers“ (FW, KSA 3, S. 455), auch wenn dabei an Nietzsches Vorbehalt gegenüber dem naiven, idealistischen Optimismus erinnert werden soll (vgl. NL 1871, KSA 7, S. 327). Obwohl viele Aspekte vom Ring des Nibelungen auf eine besondere Wahlverwandtschaft zwischen Wagner und Schopenhauer hinweisen, scheint Nietzsche dabei das frühe Entstehungsjahr des gesamten Textes dieses Werks gegen Ende 1852 im Sinne gehabt zu haben. Dieses Werk soll trotz der großen Zeitspanne von 22 Jahren bis zur Vertonung des Textes19 immer noch den Geist des jungen Wagner reflektiert haben, den Optimismus eines jungen Revolutionärs, der sich am Dresdner Maiaufstand 1849 beteiligt hatte, einem gescheiterten Versuch, eine
17 „Nichts geht gerade so sehr wider den Geist Schopenhauer’s, als das eigentlich Wagnerische an den Helden Wagner’s: ich meine die Unschuld der höchsten Selbstsucht, der Glaube an die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Einem Worte, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. ‚Das Alles riecht eher noch nach Spinoza als nach mir‘ – würde vielleicht Schopenhauer sagen“ (FW, KSA 3, S. 455). 18 Vgl. NL 1882, KSA 9, S. 685: „Wagner’s Kunst durch Schopenhauer falsch. Erst meine Philosophie ist recht dafür. Siegfried.“ 19 1874 wird der gesamte Ring-Zyklus vollendet.
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sächsische Republik nach dem Geist der „Paulskirchen-Verfassung“ (1848/1849) zu etablieren. Ein derartiger Optimismus, der dem jungen Wagner eigen war, kollidiert jedoch mit dem schopenhauerschen Pessimismus, den er trotz der Unvereinbarkeit übernommen hatte, was zu einer merkwürdigen Konsequenz des Parsifal führen soll. Im Hinblick auf das pessimistische Credo Schopenhauers – das Wagner in seinen Werken verkörpert hat und sich zu eigen gemacht zu haben glaubte – kommt ihm seine frühere Eigenschaft des ‚Siegfriedhaften‘ nur noch als ein ‚ruchlose[r] Optimismus‘ (vgl. Schopenhauer 1986, Bd. 1, S. 447) vor, wie Nietzsche in WA dessen spätere ‚Konvertierung‘ zum Pessimismus und das damit entstandene, ernste Problem für ihn analysiert. Der selbstzerstörerische Werdegang Wagners bezeugt nicht nur das persönliche Problem eines Künstlers, sondern impliziert eine kulturelle und sozio-politische Dimension, wie Nietzsche es in seiner Darstellung von Siegfried als dem „typischen Revolutionär“ (WA, KSA 6, S. 19)20 und in seiner Bemerkung über „das Nichts“ (WA, KSA 6, S. 20) und „die indische Circe“ (WA, KSA 6, S. 21) zum Ausdruck bringt. Durch das tragische Scheitern der Revolution in Dresden (WA, KSA 6, S. 19), das der junge Wagner im Alter von 36 Jahren erlebt hatte, scheint der unschuldige und naive Optimismus, der die Revolution des politischen Systems und der „Moral“ (WA, KSA 6, S. 20) angetrieben hat, nur noch eine illusionäre Hoffnung und nicht mehr durchsetzungsfähig zu sein. Wagners Auswegsuche im Pessimismus bedeutet daher nicht nur eine persönliche Entscheidung, sondern einen wichtigen Hinweis auf den resignativen Zeitgeist, der sich im „Nichts“ (WA, KSA 6, S. 20) zufriedenstellen möchte. Dabei ist zu betonen, dass Nietzsches Betrachtung über den Fall Wagner eng mit seiner Interpretation des historischen Hintergrundes des Nihilismus
20 „‚Wie schafft man das Unheil aus der Welt? Wie schafft man die alte Gesellschaft ab?‘ Nur dadurch, dass man den ‚Verträgen‘ (dem Herkommen, der Moral) den Krieg erklärt. D a s t h u t Siegfried. […] Wagner’s Schiff lief lange Zeit lustig auf d i e s e r Bahn. Kein Zweifel, Wagner suchte auf ihr sein höchstes Ziel. – Was geschah? Ein Unglück. Das Schiff fuhr auf ein Riff; Wagner sass fest. Das Riff war die Schopenhauerische Philosophie; Wagner sass auf einer co n t r ä ren Weltansicht fest. Was hatte er in Musik gesetzt? Den Optimismus. Wagner schämte sich. Noch dazu einen Optimismus, für den Schopenhauer ein böses Beiwort geschaffen hatte – den ruchlosen Optimismus. Er schämte sich noch einmal. Er besann sich lange, seine Lage schien verzweifelt … Endlich dämmerte ihm ein Ausweg: das Riff, an dem er scheiterte, wie? wenn er es als Z iel, als Hinterabsicht, als eigentlichen Sinn seiner Reise interpretirte? Hier zu scheitern – das war auch ein Ziel […] Und er übersetzte den ‚Ring‘ in’s Schopenhauerische. Alles läuft schief, Alles geht zu Grunde, die neue Welt ist so schlimm, wie die alte: […]; das Ni ch t s, die indische Circe winkt“ (WA, KSA 6, S. 20f.).
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zusammenhängt. Dessen Entstehung und Entwicklung hat nicht nur mit der Gegenüberstellung von Optimismus und Pessimismus zu tun, sondern auch mit ihrer gemeinsamen Komposition, die hinsichtlich ihrer Auswirkung in der Masse ein typisch modernes Problem des Konformismus darstellt. Es handelt sich um einen Schein-Optimismus, ohne Selbstüberzeugung und Durchsetzungskraft mit illusionärer Weltsicht, ohne Leiden sowie einen Pessimismus der Schwäche, wobei sich der Mensch dem Leiden viel zu leicht hingibt, ohne einen gelingenden Umgang mit ihm zu suchen. Nietzsches Ausdruck „das Nichts, die indische Circe ruft“ (WA, KSA 6, 20f.) macht diesen Aspekt deutlich. Die Circe oder Kirke ist im griechischen Mythos auf der Insel Aia im Osten beheimatet. In Nietzsches brillantem Ausdruck wird die Bühne nach Indien versetzt, das bei ihm oft als der Ursprung des buddhistischen Nihilismus dargestellt wird. Es kommt vor allem darauf an, was die Circe macht. Diese Tochter des Helios mit ihrer Zauberkraft verwandelt die Gefährten von Oedipus in ‚Schweine‘, was bei Nietzsche der gleichgültigen moralischen Gesinnung und der diesen verwerflichen Standard berechtigenden Tendenz des Nihilismus entsprechen soll. In diesem Sinne herrscht im Nihilismus einerseits die pessimistische Stimmung, wie „Alles läuft schief, Alles geht zu Grunde, die neue Welt ist so schlimm, wie die alte die Welt […]“ (WA, KSA 6, 20f.), andererseits die optimistische Selbsttäuschung, dass „Alles gut wird“ (WA, KSA 6, S. 21). Dass Wagners früherer, unschuldiger Optimismus mit dem nihilistischen Parsifal ein unglückliches Ende gefunden hat, bedauert Nietzsche zutiefst in GM (vgl. GM, KSA 5, S. 344). Das Bild Siegfried-Parsifal weist in diesem Kontext nicht nur auf das ambivalente Verhalten von Wagner, sondern auch von Nietzsche selbst hin, weil er den naiven Optimismus und dessen lebensbejahende Komponente unterschiedlich bewertet hat. In der Zeit der GT, deren Kerngedanken Nietzsche später als den „Pessimismus der Stärke“ (GT, KSA 1, S. 12) bezeichnet hat, galt die Figur Siegfrieds als solche, die allen „Schwächlichkeitsdoctrinen jenes Optimismus den Rücken kehren“ kann, um jenem Anspruch der Totalität des Menschen gerecht zu werden –, oder in Nietzsches Wort: „um im Ganzen und Vollen ‚resolut zu leben‘“ (GT, KSA 1, S. 118f.). Diese Stelle wird jedoch in Versuch einer Selbstkritik von Nietzsche wieder kritisch reflektiert (vgl. GT, KSA 1, S. 21f.). Denn die ursprüngliche Aussage der GT besagt, dass „der tragische Mensch“ (GT, KSA 1, S. 119) „eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes“, also die „Tragödie […] begehren“ sollte (ebd).21 Im Versuch einer Selbstkritik propagiert er hinsichtlich der
21 Den Hinweis, dass Nietzsche dabei an Wagners Parsifal gedacht hätte, der als seine metaphysische Tröstung und Erlösung gedient hat, findet man in WA, KSA 6, S. 21.
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Frage: „Sollte es nicht nöthig sein?“, seinen geänderten Standpunkt emphatisch mit der neuen Antwort: „Nein, drei Mal nein!“ (GT, KSA 1, S. 22). Für Nietzsche ist nach seiner Distanzierung von Schopenhauer und Wagner seine anfängliche Befürwortung der transzendentalen Erlösung des tragischen Daseins problematisch, solange die Auswirkung des Nihilismus als ihre Konsequenz nicht genügend bedacht wird. Bereits im Frühjahr 1874, direkt zur Zeit der Vollendung der GT, hatte er diese Problematik bei Wagner und Schopenhauer beobachtet, als er schrieb, „Wagner’s Kunst ist überfliegend und transscendental, was soll unsre arme deutsche Niedrigkeit damit anfangen! Sie hat etwas wie Flucht aus dieser Welt, sie negirt dieselbe, sie verklärt diese Welt nicht“ (NL 1874, KSA 7, S. 767). Eine derartige lebensverneinende Tendenz und die Einstellung zum ‚Jenseits‘ werden in dieser Notiz weiter kritisch betrachtet (vgl. NL 1874, KSA 7, S. 768). Jedoch glaubt der junge Nietzsche an einen wichtigen Verdienst für den Menschen durch Wagners Kunst und Schopenhauers pessimistische Philosophie, dass sie durch die von ihnen geforderte „unbedingte Entscheidung“ (NL 1874, KSA 7, S. 768) das Verlangen „der Wahrhaftigkeit“ (NL 1874, KSA 7, S. 768) beim Menschen weiter fördern kann, das die herkömmliche „Lüge und Convention“ (NL 1874, KSA 7, S. 768) zu beseitigen vermag. Auch Nietzsches reiferes Denken über ein nihilistisches Zeitalter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird nicht nur die Probleme des Nihilismus, sondern auch seine vorteilhaften Aspekte thematisieren, die durch dessen Wahrhaftigkeitsanspruch22 die Umwertung der Werte und die Selbstbefreiung des Menschen fördern können. Auch dieser Aspekt der Wahrhaftigkeit verbindet Nietzsche mit Spinoza. Bereits in seiner Postkarte an Overbeck 1881 hatte er in Spinozas Philosophie die gleiche „Gesammtendenz […] die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen“ (KGB III/1, Bf. 135) wie bei seinem eigenen Denken festgestellt.23 Diese positive Auswirkung des Wahrhaftigkeitsanspruchs wird er angesichts des europäischen Nihilismus in seiner späteren Betrachtung 1887, den Lenzer Heide-Aufzeichnungen (vgl. NL 1887, KSA 12, S. 211–217) erneut betonen, wo eine der wichtigsten Auseinandersetzungen Nietzsches mit Spinoza in seiner letzten Schaffensphase sichtbar wird. Während Parsifal für Nietzsche eine feindliche Haltung zu „Erkenntnis, Geist und Sinnlichkeit“ (NW, KSA 6, S. 430) darstellt, symbolisiert die Spannung
22 Vgl.: „Der Schopenhauerische Mensch nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich, und dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertödten und jene völlige Umwälzung und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu führen der eigentliche Sinn des Lebens ist“ (SE, KSA 1, S. 371). 23 Vgl. Nietzsches Diskussion über „die Leidenschaft der Erkenntnis“ (FW, KSA 3, S. 479f.).
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zwischen Wotan und Siegfried im Ring eine sowohl zerstörerische als auch produktive Auswirkung der tragischen Kultur (NL 1869/1870, KSA 7, S. 75). Die beiden Dimensionen der „Unwerthung der Werte“, die Nietzsche in seiner mittleren Schaffensphase z. B. im Za mit dem Bild des Löwen und des Kindes zum Ausdruck bringt (vgl. Za, KSA 4, S. 29), werden weiter hinsichtlich seiner fortdauernden Überlegung zum dionysischen Menschen, als ein kritischer Ausweg von der Dichotomie zwischen Optimismus und Pessimismus, reflektiert.
Literaturverzeichnis Schopenhauer, Arthur (1986): Sämtliche Werke. 5 Bände. Hg. von Wolfgang von Löhneysen. Stuttgart, Frankfurt am Main. Wagner, Richard (2006–2008): „Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Zweiter Tag: Siegfried“. In: Richard Wagner: Sämtliche Werke. Hg. von Carl Dahlhaus in Verbindung mit der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Bd. 12. Hg. von Klaus Döge, mit Anhang: Annette Oppermann. München. Wagner, Richard: (1972f.): „Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel“. In: Richard Wagner: Sämtliche Werke. Hg. von Carl Dahlhaus in Verbindung mit der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Bd. 14. Hg. von Egon Voss /Martin Geck. München.
Steffen Dietzsch
Wagner als „Erbe Hegels“ – Die Musik als „Idee“? Oder: Erlösung versus Freiheit?
1 Vorbemerkung Als Nietzsche bemerkte, dass Wagner „über Nichts so tief wie über die Erlösung nachgedacht [hat]: seine Oper ist die Oper der Erlösung“ (WA, KSA 6, S. 16), zumal mit seinem musikalischen Schlussstein, dem „‚Parsifal‘, das Oratorium der Erlösung“ (Mann 1965, S. 350), da hatte er auch einen Wink gegeben, die uns das zwiespältige Verhältnis Wagners zu einer Philosophie der Zukunft deutlich macht. – D. h., und das ist die These meines Beitrages, es wird durch Wagners Musiktheater ein philosophisches und mentales Zeitsyndrom des 19. Jahrhunderts deutlich, an dem bis heute die Moderne laboriert und krankt (und das ein wenig die Faszination Wagners bis heute erklärt): nämlich die endgültig befreite, nicht-entfremdete Welt, die „erlösende Weltentat“ (Wagner, Siegfried, 3. Aufz., Vorspiel, Erste Szene) zu verheißen, zu denken und schließlich zu wagen. „Wochenlang blieb ich von dieser Seligkeit betäubt“ (Bahr 1923, S. 130), so der Eindruck nach dem Besuch der Walküre. Nietzsche dagegen; „Ich ziehe Handschuhe an, wenn ich die Partitur des Tristan lese … Die immer mehr um sich greifende Wagnerei ist eine leichtere Sinnlichkeits-Epidemie, die ‚es nicht weiß‘; gegen Wagnersche Musik halte ich jede Vorsicht für geboten“ (NL 1888, KSA 13, S. 601). Thomas Mann immerhin bewertete Nietzsches „Wagner-Polemik als das geistesgeschichtlich Wichtigste und Repräsentativste in seinem Werk“ (Mann 1977, S. 488) überhaupt.
2 Wagner also wäre demzufolge musikalisch als ein exemplarischer Zeit-Geist zu verstehen, der sozusagen das in Töne setzt, was Hegel die Zeit-in-Gedankengefasst nennt. Wagner repräsentiert sein Jahrhundert insofern, als der Tonsetzer und seine Musik „nicht damit zufrieden ist, Musik zu sein, sondern Philosophieund Religionsersatz sein will“, sondern danach trachtet „religiöses Glaubensbe-
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kenntnis zu sein und – was besonders haarsträubend ist – die Menschen glücklich zu machen“ (Ortega y Gasset 1978b, S. 347f.). – Es ist hier bei Wagner ein, mit seinem eigenen Ausdruck gesagt, „Regenerationsbegehren“ (Wagner 1887/1888, S. 263) zu bemerken, dem künstlerisch Ausdruck verliehen werden soll. Wie aber geschieht das? Wagner ist geprägt „durch eine merkwürdige mystische Theorie über das ‚Blut Christi‘, das zur Rettung des menschlichen Geschlechts am Kreuz vergossen ist“ (Lichtenberger 1913, S. 381). Am Ende des Parsifal ist gerade das der Schlussakkord des ganzen Welten- und Künstlerdramas. Bei Wagner fühlt man sich – erlöst – „in das Pathos des Universums gehoben, unser Organismus glaubt sich mit den geheimen Blutströmen der Welt verbunden“ (Ortega y Gasset 1978a, S. 239). Diese als schismatisch zu bezeichnende Bedeutung Wagners für die Musik der Zukunft wurde begründet, „als er von der historischen Oper zum Mythus fand“ (Mann 1965, S. 355). Das hat Baudelaire in Paris ganz klar gesehen: denn „wie sollte Wagner nicht den heiligen, göttlichen Charakter des Mythos aufs wunderbarste verstehen?“ (Baudelaire o. J., S. 20). Nun war die mythische Denkform allerdings eine der Implikationen modernen philosophischen Denkens nach der Systemvollendung bzw. nach dem Systemzusammenbruch im Deutschen Idealismus überhaupt. – Und Nietzsche selber bekannte sich in dieser Situation gleich mit seinen ersten Schriften zum klassischen europäischen Mythos: „Ich bin ein Jünger des Philosophen Dionysos“ (EH, KSA 6, S. 258).
3 Es ist aber hierbei eine Differenz namhaft zu machen, die das Philosophie- bzw. Mythenverständnis in Wagners Künstlertum von der gleichzeitigen – ebenfalls mythengeborenen – Neuen philosophischen Anthropologie (Nietzsche) unterscheidbar macht. Das philosophische Problem ist dabei: ‚Substanz‘ steht hier gegen ‚Subjekt‘. Die Schlüsselfrage der Differenz ist nämlich: Was ist (von der Kunst oder der Philosophie) mythisch zu protegieren? Auf das Musikdrama Wagners bezogen, hieße das: ‚Gral‘ oder ‚Gekreuzigter‘, d. h. philosophisch: ‚Substanz‘ oder ‚Person‘? Kurz: ‚Erlösung‘ … ‚nach oben‘ … oder eben ‚der-Erdetreu-bleiben‘. – Das hier philosophisch zu bewältigende Problem wäre also, ob es gelingt, im Umgang mit den biblischen (neutestamentlichen) Erzählungen eine Differenz begreiflich zu machen: nämlich das es das Eine ist, in diesen Geschichten einen Weg ‚nach oben‘ gezeigt zu bekommen (das wäre der Glaube, die Transzendenz etc.) oder hier umgekehrt den Weg Gottes ‚nach unten‘, zu uns Men-
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schen, verstehen zu lernen. Gerade das aber will der Religionskritiker Nietzsche an der Dramatik des Todes Gottes (am Kreuz) begreiflich machen. Mit seinem Liebling Goethe, der sich auch als ‚Nicht-Krist‘1 verstand – so wie sich just Nietzsche als ‚Anti-Christ‘– , akzeptiert der Religionskritiker Nietzsche, dass mit dem Erscheinen des Wiederauferstandenen, mit (dem kerygmatischen) Christus, eines passiert ist, nämlich: „Gott tritt in den Hintergrund zurück, der Himmel ist leer“ (Goethe 1885, III., Bd. 3, S. 271). Der spirituelle Weg, den jetzt der Gekreuzigte beginnt, führt also auf die Erde, – hier ist der Platz des Neuen Menschen, des Auferstandenen, des Über-Menschen; und sein Erscheinen löst natürlich – wie vom Apostel Thomas bekundet – Ungläubigkeit aus. Was heißt das auf das Mythenverständnis Wagners bezogen? Vor allem das eine: beispielsweise, ob man mit dem ‚Gral‘, mit dem Erlösungsbalsam, also dem, was aus ihm fließt: „des Weihgefässes göttlicher Gehalt / erglüht mit leuchtender Gewalt“ (Wagner o. J., S. 23) auf eine Integration – ‚nach oben‘ – ins Absolute (göttlich Eine, ewiges Heil & Leben, All-Liebe etc.) zu hoffen hätte, oder nicht vielmehr mit dem ‚Gekreuzigten‘ den Gedanken Bahn brechen zu lassen, dass das Absolute, das verbum dei, gerade umgekehrt (invers) – ‚nach unten‘ – in seiner Selbstverwandlung ein zugleich irdisches, wirkliches und gleichzeitig überempirischen Neues Wesen gebiert, – kurz: den (nachösterlichen!) Neuen Menschen, den, wie ihn Nietzsche plausibel nennt: Übermenschen. Der philosophisch ableitbar wäre aus Nietzsche letzter Frage, die als Inklusion zu verstehen ist: Dionysos oder der Gekreuzigte?! Der lebt nun nicht im Zustand des Heils, des Optimismus, der ‚Erlösung des Erlösers‘, der Versöhnung, der aufgehobenen Entfremdung, sondern gerade im Zustand der Passion (des Leidens, der Leidenschaft). Er muß mit seiner dadurch erzeugten Zwienatur (‚Einzelnes‘ und ‚Allgemeines‘, ‚gut‘ und ‚böse‘, sich selber ‚Freund‘ & ‚Feind‘ zugleich zu sein!) eine ganz neue Runde in der Auseinandersetzung mit der Welt, der Natur und Seinesgleichen beginnen, kurz: hat also sein Leben in Freiheit anzutreten: „Vom Übermenschen ist keine Annäherung an das Göttliche zu erhoffen“ (Jünger 1997, S. 164). Das ‚Rein-Menschliche‘, dem sich auch Wagner verpflichtet scheint, und eben das hätte er philosophisch bei Nietzsche lernen können, ist gerade nicht das ‚Reine‘. Wir lernen von ihm, „dass der Begriff ‚reines Blut‘ der Gegensatz eines harmlosen Begriffes ist“ (GD, KSA 6, S. 101). Und auch der Mensch ist (wie kein anderes Lebewesen) natürlich nichts ‚Reines‘, sondern exemplarisch die Inkarnation des Paradoxes. Denn das ist seiner Erbschaft, dem „Logos vom Kreuz“
1 „Da ich zwar kein Widerkrist, kein Unkrist aber doch ein dezidirter Nichtkrist binn“ (Goethe 1885, IV, Bd. 6, S. 20).
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(1 Kor. 1, 18) geschuldet, dem Kreuz, jener „schauerlichste[n] Paradoxie“ (AC, KSA 6, S. 213). Daraus folgt aber, dass die moderne Kunst insgesamt seither, nach Wagner, im Grunde nur das Eine Thema zu bewältigen hätte: den Menschen zur Ansicht seiner Passionsnatur zu bringen. In Wagners Char-Freitags-Zauber (Wagner‚ Parsifal, 3. Aufz., S. 51) aber bleibt das eben philosophisch unterschätzt, – auch weil erstens Golgatha hier bloß ein Ort des Todes ist – „er starb, – ein Mensch wie Alle!“ (Wagner o. J., S. 54) – und zweitens Erlösung als Erlösung von der ‚Unreinheit des Blutes‘ gedacht wird: „Gesegnet sei, du Reiner, durch das Reine!“ […] „Du – Reiner. – / mitleidsvoll Duldender, / heilthatvoll Wissender!“ (Wagner o. J., S. 56). Denn: „Nun freut sich alle Kreatur / auf des Erlösers holder Spur“ (Wagner o. J., S. 57). Und schließlich: – Übergang in die Transzendenz erfolgt: „Höchsten Heiles Wunder! Erlösung dem Erlöser!“ (Wagner o. J., S. 62).
4 Bei zweierlei Problemen also kann Wagner philosophisch (und musikalisch) der Neuen Anthropologie Nietzsches nicht folgen: 1. angesichts der Katastrophe, dem Nihilismus, der ‚Götterdämmerung‘ einzustehen für die „formfordernde Gewalt des Nichts“ (Benn 1992, S. 438), denn was folgt aus dem Tod Gottes? Nichts Geringeres als „der erste Satz der neuen Genesis“ (Jünger 1949, S. 352), also gerade nicht das Nichts! – Sowie 2. eine neue Verkehrsform des Menschen im Umgang mit der Gefahr, ja mit Zusammenbrüchen begriffen zu haben: nämlich im Lachen „diese geheime Zugehörigkeit des Nichtigen zum Dasein [zu bemerken] … so, dass es in der es ausgrenzenden Ordnung selbst gleichsam als zu ihr gehörig sichtbar und lautbar wird“ (Ritter 1940, S. 10). – Im Parsifal dagegen klagt Kundry – „zweifellos seine höchste dichterische Errungenschaft“ (Mann 1965, S. 768) – : „Er – Er –, / der einst mein Lachen bestraft.“ Drauf Parsifal abweisend: „Vergeh’, unseliges Weib!“ (Wagner o. J., S. 46f.) – denn: „Ich sah’ sie welken, die mir lachten: / ob heut’ sie nach Erlösung schmachten?“ (Wagner o. J., S. 58). Kundry hatte einst den Nazerener auf seinen letzten Gang verlacht. „Man sehe nur auf seine [Wagners] Frauen: alle sind sie Kundrys, gleichzeitig in zwei Welten des Gefühls lebend, mit ihrer Seele dem heiligen Gral dienend und gleichzeitig wollüstig ihren Leib verbrennend …“ (Zweig 1983, S. 485).
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Ist es wirklich so, wie es Hermann Bahr annahm, dass Nietzsche „gar nicht weiß, wie viel seiner Sehnsucht nach der gaya scienza er von Wagner hat, [und] dass ihm ihr Begriff zum ersten Mal im letzten Akt Tristan … aufgeblitzt“ (Bahr 1987, S. 202) sei? – Denn es war ja dann wohl, wie Bahr sich später korrigierend besinnt, namentlich Gustav Mahler der erste, „der ‚ironische höhnische Musik gemacht‘, ja ‚Ironie in Musik umgesetzt‘ hat“ (Bahr 1921, S. 184), bzw., wie Thomas Mann bekräftigt, „ich habe ihre Zusammengehörigkeit (Pessimismus und Humor) nie stärker und nie sympathischer empfunden als angesichts des zweiten Palestrina-Aktes – (1917, bei Hans Pfitzner)“ (Mann, 1918, S. 413).
5 Wagner faszinierte schon, was Hegel mit dem Hochtreiben des Wissens zum „absolutem Wissen“, zum „absoluten Begriff“ – gewissermaßen auch eine ‚Erlösung‘ – leistet und so soll ihm nun „die Musik dazu dienen, mythische Philosopheme ins Hochrelief zu treiben“ (Mann 1965, S. 364). Entsprechend ist die philosophisch-kritische Wahrnehmung der Wagnerschen Musik durch Nietzsche die, dass der sich „einen Stil erfand, der ‚Unendliches bedeutet‘, – er wurde der Erbe Hegel’s … Die Musik als ‚Idee‘“ (WA, KSA 6, S. 36). Oder, wie Wagner selber schreibt, dass die Musik zwar nicht selber denken könne – „sie kann aber Gedanken verwirklichen“ (Wagner 1994, S. 401). Demgegenüber erwartet modernes philosophisches Denken vom Mythos – als Gestalt – nicht, das er überhaupt eine Idee sei, sondern eine Praxis der Selbstverwandlung des Menschen und der (soziomorphen) Modalitäten der Wiedergewinnung seiner Endlichkeit, Irdischkeit und Selbsterhaltung. Durch seine erste Begegnung mit der Philosophie Feuerbachs und den Junghegelianern eröffnete sich Wagner eine erste Betriebsform für das Projekt ‚Versöhnung‘, nämlich die Politik. Von hier aus machte er sich auf den Weg, dem Absolutum auf die Spur zu kommen (vgl. Kröplin 2013). Oder, wie das Baudelaire sagt, hin zum „Ziel der ewigen Pilgerschaft, – d. h. zu Gott“, dass also Wagner dem „Begehren des Geistes nach einem unmittelbaren Gotte auszudrücken verstand“ (Baudelaire o. J., S. 23f.). Dieses Begehren bewegte ihn fortan sozusagen ‚hinauf‘. Bis er es „in die Unendlichkeit einer ganz anderen Konstruktion erlöste: in die unendliche Melodie“ und schließlich in „das (musikalische) Drama“ (Gregor-Dellin 1984, S. 300). Mit Feuerbach aber bleibt Wagner dem Gedanken treu, dass Götter und Mythen bloß Projektionen der Menschen seien und der Künstler (Dichter, Tonsetzer) dies nur zu deuten habe. Wagner sieht dabei philosophisch ganz daran
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vorbei, dass Mythen, Götter, Religionen für den Menschen reale Phänomene sind, d. h. keine einfachen Fiktionen oder Wachvisionen darstellten. Das bedeutet, dass der Mythos eine Manifestation des kollektiven Lebens und kein willkürliches Produkt der individuellen Phantasie darstellt. Gerade auch beim künstlerischen Umgang mit der Mythologie kann man nicht von der konkreten Menschen-Praxis abstrahieren. Wagner aber reduziert philosophisch seinen Zugang zum Mythos, wenn er den „Mythos nur als Transportmittel, auch als Schutzschild für verdeckte Aussagen“ (Drüner 2003, S. 73) benutzt.
6 Indem sich Wagner zugunsten der Erlösung künstlerisch der Paradoxie verschließt, verkennt er maßgebliche Strukturen für eine Philosophie und Musik der Zukunft. Denn: Unsere Moderne ist eben nicht gekennzeichnet durch das ‚Aufsteigen‘ in die Sicherheit der Erlösung, „seines – Wagners – Lieblingsbegriffs“ (Adler 1923, S. 74), gar in „die Erlösung des Erlösers“ (am Ende des Parsifal)2, sondern gerade durch ihre ontologisch-anthropologische Unsicherheit, die im Prozess der Diversifizierung des Absoluten (logos) ihren Grund hat. Dadurch, dass sich das verbum dei zu einem Neuen Menschen, dem dionysischen Menschen entwirft (reduziert!), durch – modern gesagt – die Autopoiesis der Logosverwandlung, wird ein neuer Typus von Interindividualität geschaffen, „in der sich das Individuum in die Allgemeinheit der Menschen zurückverbrüdert“ (Ross 1980, S. 578) und so seine eigene Zwienatur erzeugt. Was es nun dabei für den Tonsetzer Wagner zu bewältigen gegeben hätte, wäre – mythenphilosophisch – gerade im Gekreuzigten diese Konstruktion des Menschen zu begreifen; unsere sozusagen ‚zweite‘ Abkunft. Denn gerade die in den Glaubensgeschichten von der Wiederauferstehung erzählte Geschichte ist künstlerisch (wie denkerisch) immer wieder innovativ gewesen. Diese ‚zweite‘ – spirituelle – Herkunftsvermutung ist als Ergänzung zur ‚ersten‘ – stofflichen –, der ‚adamitischen‘, zu begreifen. Aber mit dieser ‚zweiten‘ Erzählung (von der Resurrektion) wird nun nicht etwa auf eine ‚Vollendung‘, ‚Versöhnung‘, ‚Komplettierung‘, ‚Aufhebung‘ oder ‚Befriedung‘ im Absoluten hingewiesen, sondern es wird – gewissermaßen ‚unterhalb‘ der Erlösung – der
2 „Keuschheit ermuthigen, etwa mit Hilfe von Parsifal-Musik, mag immerhin versucht werden; Parsifal selbst, dieser typische Idiot, hatte nur zu viele Gründe, sich nicht fortzupflanzen“ (NL 1888, KSA 13, S. 599).
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so narrativ neu verständlich gemachte Mensch begriffen als Widerspruch, ja als Paradox. Das aber wird für Kunst und Literatur – zumal nach der Wagnerzeit – wieder zu deren Zentralproblem. Diese just durch Mythen begreiflich (nicht begrifflich!) erzählte Zwienatur (kulturkritisch: ‚Entfremdung‘) in jedem Menschen ist natürlich nicht wieder zu entflechten, zu erlösen – etwa pädagogisch (Erziehung aller zum Einen), sozialtechnisch (Politik des Einen), moralisch (der gute Eine) oder volksfrömmig (wir sind alle die Gleichen, Einen), – obwohl solche Regressionen auf ein Eines des Menschen (auch politisch!) immer wieder versucht werden. Der Mensch ist eben niemals wieder – wie im platonischen Gleichnis – ‚kugelförmig‘ zu restaurieren3; nicht der ‚Kreis‘ sondern die ‚Hyperbel‘ ist als das dem Menschen angemessene geometrische Sinnbild zu begreifen. Und seine Freiheit kommt ihm gerade aus seiner ‚Unnatur‘, empirisch und transzendent zugleich zu sein! Damit sollte für die Verkehrsform dieses Neuen Menschen – Nietzsches Über-Menschen – klar sein, dass sich dessen Leben gerade nicht als „Sonntag des Lebens“ abspielt, „der alles gleichmacht und alle Schlechtigkeit entfernt“ (Hegel 1970, S. 130). In diesen mythenförmig erzählten Geschichten wäre auch – künstlerisch (musikalisch) – eine ganz neuen Denk- und Verkehrsform für den Neuen Menschen freizulegen: Freiheit nämlich. Von allem Anfang an – „wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“ (2 Kor. 3, 17) – bis in den Umkreis der kulturellen Geburt unserer Moderne seit der Französischen Revolution und dem Deutschen Idealismus ist dieser Sachverhalt das philosophische Axiom, aus dem alles andere erst folgt: „Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes“ (Schelling 1992, S. 79).
7 Also: Die philosophische Kultur der Freiheit entwickelt sich auch in der Wagnerzeit nicht aus der Politik oder einer Politischen Philosophie, sondern prima facie – ganz ‚unpolitisch‘ – aus mythologischen Formen, die Wagner aber nicht mit trägt. Es führt nämlich der Mythos, die mythische Selbstverwandlung (des Absoluten, Gottes)
3 Eine solche ‚Aufhebung der Entfremdung‘ wäre – dentaltechnisch gesprochen – ungefähr der Versuch, die Zahnpasta wieder zurück in die Tube zu drücken – und zwar nach dem Zähneputzen, … der Kommunismus hat das lange versucht, … bis am Ende die Zahnpasta knapp wurde …
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1. erstens zu „einer göttlichen Sanktionierung der Endlichkeit als solcher“ (Balthasar 1939, S. 395). Das ist auch eine der letzten Wahrnehmungen Nietzsches selber. In einem Brief von Anfang 1889 schreibt er: „Die Welt ist verklärt, denn Gott ist auf der Erde […] Der Gekreuzigte“ (KGB III/5, Bf. 1239). – So zeigt es sich, dass Gott (nach Golgatha) in der – zunächst paradoxen – Erniedrigung seiner Menschwerdung (vgl. Philipper 2, 6–8) nicht nur – wiederum paradox – der Welt aufgeholfen hat, sondern eben auch sich selber in seiner tiefsten Eigentlichkeit geoffenbart hat: nämlich nicht eine (womöglich aufzeigbare!) ‚absolute Substanz‘, sondern das Archeprinzip von Selbstverausgabung zu sein. – Was schon der Untersekundaner Nietzsche wusste: „Daß Gott Mensch geworden ist, weist nur darauf hin, dass der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit suchen soll, sondern auf der Erde seinen Himmel gründe; der Wahn einer überirdischen Welt hatte die Menschengeister in eine falsche Stellung zu der irdischen Welt gebracht“ (KGB I/1, Bf. 301) – Und das führt 2. zweitens dazu, diese Menschwerdung als ‚Entgottung‘, ja Erniedrigung zu begreifen, die gerade nicht der Erlösung bedarf, weil der ‚auferstandene‘ Neue Mensch die Differenz von Absolutem und Endlichen selber schon inkorporiert hat. Was aber geschieht bei Wagner? – Es sei, so der deutsche Ästhetiker Moritz Geiger, eben „gerade die Wagnersche Musik besonders dazu angetan, als Gefühlsstimulus missbraucht zu werden. [und wer] sich bei einer Palestrina-Messe langweilt, wird voll Freude sich an Wagnerscher Musik berauschen. Es ist kein Zufall, dass so viele sonst Unmusikalische sich für Wagner begeistern: zu ihm können sie einen Weg des Genusses finden wie niemals zu Bach – dass es nicht der Weg der Kunst ist, dem sie folgen, entgeht ihnen“ (Moritz Geiger, 1976, S. 450; vgl. Reschke 2008, S. 277). Die künstlerischen Form-Forderungen an die Moderne aber wären – wie eben die erreichte ‚Erzählferne’ in der (deutschen) Malerei seit Hans v. Marées – , hier musikalisch: „Anstatt auf den Widerhall zu achten, den diese Musik in unseren Gefühlen hervorruft, schenken wir unser Gehör und unsere ganze beharrliche Aufmerksamkeit den Klängen selbst, dem bezaubernden Vorgang, der da gerade im Orchester wirklich stattfindet“ (Ortega y Gasset, 1987, S. 126).
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III. Rezeptionswege mit Nietzsche und Wagner
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Schopenhauer – Nietzsche – Wagner Theodor Lessings Inbegriff moderner deutscher Philosophie In Memoriam Hans-Martin Gerlach
Wer sich auf die Suche nach Texten begibt, die anlässlich des Wagner-Jahres 2013 von einer Nietzsche-Gesellschaft wieder ans Licht gehoben werden sollten, zumal sie unverdientermaßen verschollen schienen, wird auf Theodor Lessing stoßen. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im nahe der Reichsgrenze gelegenen Exil ermordet, hätte er verdient, nicht nur wegen der Umstände seines Todes, sondern auch wegen seiner hinterlassenen Werke der Vergessenheit entrissen zu werden. In den heutigen zahlreichen Auseinandersetzungen um das Tagungsthema spielte Theodor Lessing so gut wie keine Rolle. Das das ist bei genauerer Sicht auf sein Leben, Denken und Schreiben bedauerlich, ja unverständlich. Lessings Werke lassen ein starkes Band mit Nietzsche spüren; sie sind voller Rückgriffe auf Nietzsche, oft in eigenwilliger Form und sogar in schroffer Diktion gehalten, wo er ihm einmal nicht folgte. Das war typisch für die erste von Nietzsche beeinflusste Generation um und nach 1900. Das Verhältnis Nietzsches zu Wagner findet sich ausgebreitet in dem frühen Schlüsselwerk Lessings: „Schopenhauer Wagner Nietzsche. Einführung in die moderne deutsche Philosophie“ (Lessing 1906).1 Dieses umfangreiche Werk zeigt, wie viel Gedankenschärfe in diese Thematik eingeflossen ist, doch scheint es über die Zeit seines Erscheinens hinaus keine anhaltende Wirkung erzielt zu haben. Es liegt nun den folgenden Ausführungen zugrunde. 1925 befasste sich Theodor Lessing nochmals gesondert mit Nietzsche und legte seine Interpretation vor (Lessing 1925, Lessing 1985). Geboren 1872 in Hannover wie sein geistesverwandter und später von ihm getrennter Jugendfreund Ludwig Klages (Kotowski 2000). Sein Leben ist voller Anteilnahme an philosophischen Strömungen und am politischen Geschehen seiner Zeit. Er gilt bis heute als treuer Schopenhauerianer und Lebensphilosoph. Beides schien er auch in Nietzsche zu suchen. Lessing war Anhänger des Volksbildungsgedankens, war darin aktiv und gedachte, seine Zeitdiagnose in die
1 Im Folgenden zitiert als SWN 1906. Der Autor besitzt das Privatexemplar des jungen Ernst Bloch, signiert 1907.
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Öffentlichkeit zu tragen. Er kommentierte 1924 das Schicksal und den Prozess gegen den Massenmörder Hamann und betrieb damit das, was man erst um 1968 Öffentlichkeitskritik nennen wird. Besonderes Aufsehen erregte er, als er 1925 Einwände gegen die Kandidatur Feldmarschall Hindenburgs zum Reichspräsidenten vorbrachte. Damit dürfte er in damaliger Zeit sein Todesurteil herbeigeführt haben. Er war 1933 nach Marienbad geflüchtet, wo gedungene nationalsozialistische Mörder ihn in seiner Wohnung mit Schüssen durchs Fenster niederstreckten (Marwedel 1987, S. 341ff.). Nun gilt es, Theodor Lessing nicht nur als Opfer einer politischen Mordtat zu sehen, sondern ihn selbst aus seinem Werk heraus zu verstehen. Bemühungen darum stehen erst am Anfang. Zitiert findet man öfter noch seine Studie zum „jüdischen Selbsthass“ von 1930, dessen Titel auch zum Schlagwort geworden ist. Seine Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, ein Glanzlicht des deutschen Skeptizismus und vorgelegt in der aufgeladenen Atmosphäre von 1919, existiert trotz Neuauflage nur als seltene Fußnote (Lessing 1919, Lessing 1921b, Lessing 1930a).2 Lessings große Vertrautheit mit dem Wissen seiner Zeit breitete er in eigenwilliger Interpretation an der Universität Hannover als Honorarprofessor ohne Honorar aus und vor Publikum in gemieteten Bahnhofshallen. Er unterstellt eine Wesensdifferenz von Leben und dem analysierenden Geist – „Untergang der Erde am Geist“ – so der Untertitel eines Hauptwerks (Lessing 1930b). Es dürfte ganz im Sinne eines widerständigen Zeitgeistes und besonders seines Jugendfreundes Ludwig Klages gewesen sein, dessen Untersuchung Der Geist als Widersacher der Seele (1929–1932) bis in die 1950er Jahre eine gewisse Bedeutung behielt. Lessings Werke müssen damals von einer breiten Strömung von Entwicklungspessimismus und Kulturkritik mitgetragen gewesen sein, wie übrigens auch die um diese Zeit entstandene ‚klassische‘ deutsche Soziologie (Max Weber, Georg Simmel, Ferdinand Tönnies). Lessing gehört einer Deutungselite an, die sich gegen die zeitgenössischen Tendenzen der Technisierung, des berechnenden Geistes und des Positivismus stemmte (Seidel 1927, Grundwald 1934, Lichtblau 1996).
2 Es gibt Bestrebungen an der Universität Hannover, Theodor Lessings Werke über Neuauflagen wieder zugänglich zu machen. Ebenso wurde ein Lessingpreis ausgelobt und bereits einmal vergeben. Er will gezielt auf mutiges politisches und journalistisches Wirken verweisen und Lessing darin als vorbildlich in Erinnerung behalten: http://www.youtube.com/watch?v=nN0sstuiGq0
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1 Lebensphilosophie – aus Schopenhauers Geist Theodor Lessing ist Lebensphilosoph zu nennen. Mag „Lebensphilosophie“ nur mehr von philosophiegeschichtlichem Interesse sein und sich in Neo-Darwinismen und Neo-Vitalismen versteckt haben, so war sie doch der Treffpunkt von Namen wie Dilthey, Simmel, Henri Bergson, Klages, Oswald Spengler. Einschlägige Abhandlungen kommen ohne die Grundlagen durch Schopenhauer und Nietzsche nicht aus. Leben ist die oberste Triebsubstanz, die sich jeder Berechnung und Analyse entzieht. So hat Lebensphilosophie ein neuromantischer Ausbruch aus der um sich greifenden quantifizierenden Wissenschaft zu sein, wofür Wilhelm Wundts Leipziger Laboratorium für experimentelle Psychologie das Muster abgeben konnte (Lersch 1932). 3 Lebensphilosophie ist die Lehre von der widersprüchlichen Wesensdifferenz von Leben und Geist. Sie durchzog variantenreich alle Sinn- und Weltfragen vor und nach 1900 und schlug sich mehr auf die Seite des Lebens und hielt Geist für ein unzulängliches Erkenntnisinstrument, das weit hinter seinem Forschungsgegenstand zurückbleibe. Wo alle Welt den Geist zur Krone der Schöpfung erklären will, ist er doch einer Wesenheit ewig unterlegen, hat vor ihr zu kapitulieren und das ist Leben – die Macht, durch die wir existieren. Da ist nichts zu hinterfragen, zu analysieren, zu dekonstruieren – sie wären nur ohnmächtige Bemühungen. Leben ist „vorbewusst schöpferische Lebenstriebkraft“4, die von Geistestätigkeit gemindert und zersetzt wird, so wie sich ein Neubaugebiet in den letzten Urwald frisst. Wo Geist und seine Instrumente am Werk sind, hinterlassen sie ein vergletschertes, vereistes, verglastes, vergreistes Leben (Lessing 1981 [1921], S. 8): Geist ist so ein Exponat der künstlichen Welt, „Kultur“, wie eine Ausnüchterungszelle nach einem dionysischem Fest. Leben unterliegt einer „Kulturation“, das ist Kolonisierung durch steigendes Wissen. Sie ist lebensmindernd, eine schleichende Vertreibung aus dem Paradies vorbewussten Lebens. Lessings Metaphernkunst soll sich an der Beschreibung seines Begriffs von Geist zeigen: Geist ist ein endloser Kirchhof abgestorbenen Lebens; vergleichbar den chinesischen Dörfern, wo auf wenige Dutzend Lebende oft viele Tausend heiliger Grabsteine kommen. Geist gleicht den mächtigen Torfflözen, die unter der Erde sich hinziehen. Sie bergen viele ausgebrannte Sonnen, verkohlte Frühlinge, Riesenwälder voller Farne und Schachtelhalme, die in Vorzeiten geblüht haben, nun aber im erkaltenden Weltraum, eine mittelbare
3 Hier ist das Frühwerk von Philipp Lersch, Zur Lebensphilosophie der Gegenwart (1932) zu nennen. Lerschs gestaltpsychologische Vorlesungen 1965/66 an der Universität München enthielt noch diese Thematik. 4 Ein Ausdruck von Henri Bergson: „élan vital“.
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und künstliche Wärme gestatten. Geist ist der Stengel der Pflanze. Er gibt ihrem Wachstum zwar den unentbehrlichen Rückhalt. Aber er führt auch zu Verholzung und mithin zum Ende. Geist spinnt gleich dem Seidenwurm das eigene Grab (Lessing 1981 [1921], S. 32).
2 L ebenswille und Weltentsagung – Schopenhauer und Richard Wagner Die Lebensphilosophie wartete schon mit unversöhnlichen Gegensätzen auf, im Geschichtsgang, in der Zeitdiagnose und durchwegs spielen sie im Innenleben der Einzelpersonen selbst. Die Wesensdifferenz von Leben und Geist liegt bei Schopenhauer zwischen dem weltlich Gegebenen und dem verstandesmäßig Gedachten, zwischen dem chaotischen Weltwillen und hilflosem Intellekt, ihn zu erfassen. Schopenhauer ist unbestritten der entscheidende Weichensteller: der zu äußerster Wachheit emporgepeitschte Geist….erkennt die Welt in ihrer ganzen gleichgültigen Ziellosigkeit; er sieht sie fruchtlosem Spiel und Untergang geweiht und sieht sich selbst in ohnmächtiger Verkehrtheit in dieses Spiel und diesen Untergang verflochten und mit dem höchsten Wollen zermalmenden Mitleidens dennoch unfähig, irgendetwas zu können, als zu spiegeln und zu schaun […] Unbezwingbarkeit spricht aus Schopenhauer (SWN 1906, S. 6f.).
Auch hier wieder die Herabstufung menschlichen Denkens: Das Gedachte ist das Sekundäre, eine künstliche, konstruierte Welt des Bewusstseins. Schopenhauer hat nur die Wahl zwischen der wirklichen Welt des Willens und dem Traum und Trug der Vorstellung. Lessing stellt die gegensätzlich verlaufenden Wege folgendermaßen dar: Alle Philosophie ist geneigt, in der Vernunft , im Geist […] das Wesen der Welt zu sehen. Und die Gründe dafür liegen auf der Hand […], weil sie für die Erhaltung und Anpassung unseres Lebens am notwendigsten ist, dasjenige Mittel (ist), mit dem wir das Wesen der Welt auszuschöpfen oder doch nachbilden zu können glauben, – Schopenhauer aber kehrt als erster diese Sachlage um […] (SWN 1906, S. 90).
Einen Gleichklang anzunehmen zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt, ihm durch Vernunftschlüsse auf die Spur zu kommen, sei ein „treuherziges“ Unterfangen. Schopenhauer zerbricht die angebliche Einheit von Wirklichkeit und Erfahrungswelt. Ist Wirklichkeit in ihrem Wesen erfasst, dann weiß man, dass daraus kein verlässlicher Erfahrungsschatz zu gewinne ist:
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Das Wesen der Welt ist nicht vernünftig; ja vielleicht absolut unlogisch oder wahnsinnig und jedenfalls mit Vernunft und Vernunftordnung niemals auszuschöpfen. In dieser fundamentalen Umwertung liegt der Keim einer großen Verzweiflung (SWN 1906, S. 90).
Das Gegebene, den Kampf aller gegen alle und aller um alle, verstehend zu durchdringen, überfordert jeden Geist und jede Ratio. Das Wesen der Welt und daher auch ihre Wirklichkeit, ist das Überhistorische, Ständige, immer Vorhandene. Sie ist ein Geschehen, das von allen Zufällen entkleidet ist, und bringt als ultimative Substanz lebendige Willenskraft hervor. Doch in ihr nagt ein Wurm, ein ankränkelnder Intellekt, der sie zersetzt. Das beständig Lebendige verliert laufend Terrain an künstliches, wandelbares totes Wissen. Nach Schopenhauer ist dem Leiden an diesem Verhängnis nur zu entgehen, wenn man den Lebenswillen abtötet und Weltentsagung übt – das fernöstliche Nirwana als Ziel. Gerade das Dilemma zwischen ungestümer Schöpferkraft und intellektueller Anschauung musste Wagner für Schopenhauer einnehmen. Wagners Musikdramen durchzieht der Gegensatz von Wille und Geist, von Leben und Erkenntnis. Schon vor Wagners Bekanntschaft mit Schopenhauer über Brockhaus in Leipzig, hatte er Themen zu Ausweglosigkeit, Tragik, Fluch, Verdammnis, Erlösung aus der romantischen Literatur bezogen. Sie sollen in seiner „Produktion, von den Feen bis zum Parsifal lebendig“ gewesen sein, so Lessing (SWN 1906, S. 215). Lebensbejahung und Verneinung liegen in Wagners Musik von vornherein nebeneinander. Schon im Fliegenden Holländer treffen ein dämonisch irrender und verdammter Seefahrer und eine Fischerstochter zusammen und hier, wie auch in den Folgedramen, Liebe und Tod. Beide sind gleichermaßen erlösend und, in Verbindung gebracht, die Lösung für ein Verhängnis, das dem blinden Menschenwillen anzulasten ist (SWN 1906, S. 218). Es ist eine Wagnersche Besonderheit, dass im Kampf zwischen Lebenswillen und Intellekt schon im Fliegenden Holländer und noch mehr im Ring das weibliche Element den Intellekt, die überlegene Logik und Objektivität präsentiert, während sich beim Mann das Gefühls- und Triebleben in seiner Unbeherrschtheit vorfindet – ganz im Gegensatz zur damaligen und sicher auch noch heutigen öffentlichen Meinung. Wie Holländer und Senta, so stehen sich Wodan, die Personifikation des Weltwillens, des blindwütenden, nie erlösten, rastlos strebenden Willens zum Leben. Und Urda, die Allmutter Weisheit, die an den Wurzeln der Weltesche hockend, das Verhängnis der Welt erkennt und im Erkennen erfüllen muss. Sie stehen da, als der Schopenhauersche Urgegensatz von Wille und Intellekt (SWN 1906, S. 219).
Die Gegensätzlichkeiten werden bis in ihre anthropologischen und gesellschaftspolitischen Konsequenzen fortgeführt: im Tannhäuser der Gegensatz von Chris-
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tus und Venus, von Todessehnsucht und Lebensdrang: hier vollbringt das Weib die Erlösung des im Banne der Willensbejahung befangenen Mannes. Im Lohengrin geht es um den Wert der Wahrheit, um das Verhältnis von Glück und Wissen. Hier wird gezeigt, wie sich Intellektualisierung am natürlichen Menschen vollzieht und zugunsten des Unbewussten, Instinktiven entschieden wird: Nur im Glauben und Fühlen liegt das Heil der Herzen, während der Mensch, welcher fragt und sein Glück begrübelt, damit auch den besten Teil seines Glückes vernichtet…Wir zergrübeln unser bestes Glück, bis der kranke Zwang zur Objektivität uns auch die eigene Persönlichkeit unerträglich macht. Bis jedes starke und naive Gefühl unter der Lupe des Wissens in graue Asche auseinanderfällt (SWN 1906, S. 221).
Der Wagnersche Urkontrast von naiver Lebensbejahung und bewusster Abkehr vom Leben findet sich im Tristan; hier ist Tristan der suchende, ehrgeizige, begehrende Mann. Isolde wieder das besänftigende, zügelnde und vom Willen erlösende Weib. Eine grandioseste Bejahung des Lebens, die noch im Sterben zum Leben „Ja“ sagt und seine müde, weltabgewandte Überwindung; Liebe und Tod, so ineinandergeflochten, dass im Untergang des Individuums der Wille der Gattung das Leben segnet (SWN 1906, S. 221f.).
3 L ebensabschnittsgefährten – Theodor Lessings Nietzsche contra Wagner Wagner und Nietzsche gingen von Schopenhauer aus und fanden sich in ihm – aber nur für kurze Zeit. Ein Dreißigjähriger und ein Sechzigjähriger mussten sich wieder trennen, denn „Wagner wollte von der Erde zum Himmel, Nietzsche vom Himmel zur Erde“ (SWN 1906, S. 231). So fanden sich Jüngling und Mann, jeder auf dem Wege, dem der andere entfloh. Beide entwinden sich Schopenhauer auf ihre Weise. Nietzsche kann der Schopenhauerschen, wollenden Persönlichkeit viel abgewinnen und kämpft ums Führungspersonal eines anderen Lebens. Wagner sträubt sich gegen die Verwerfung des Lebens. Kunst und Religion seien Erneuerungsmittel und sollen den Kern der Religion retten. Für Nietzsche hat sich dieser Gegensatz von Apollinisch-Harmonischem und Dionysisch-Orgiastischem nur einmal versöhnt, nämlich in der antiken Tragödie des tragischen Zeitalters. Da war das Drama „die apollinische Versinnlichung dionysischer Kräfte“, die sich aus dem Schoße der Musik entladet (SWN 1906, S. 230). Lessing deutet Nietzsches hoffnungsvolles Verhältnis
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zu Wagner zwischen der Geburt der Tragödie und der Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung folgendermaßen: die Anwendung dieser Erkenntnisse und Umdeutungen der antiken Tragödie erfolgte nun im Hinblick auf das neue Musikdrama Wagners… Und wieder scheint aus dem Geiste der Musik die Tragödie geboren zu sein! – So stand Nietzsche damals zu Wagner. Er war ihm höchste Verkörperung und Hoffnung einer pangermanischen Kultur. Das Festspielhaus zu Bayreuth, der Tempel deutschen Geistes, das Heiligtum unseres neugeborenen Volkes, welches künftighin die Führerschaft Europas übernehmen soll (SWN 1906, S. 231).
Die Trennung von Wagner war für Nietzsche ein unabdingbarer Akt, sobald er sich neuen Interessen zuwandte, eine Arbeit im Stile der französischen Moralisten sich vorgenommen hatte. Die sich kreuzende Postsendung: Menschliches Allzumenschliches gegen Parsifal wird anekdotisch als postalisches Pendant zu einem geistigen Klingenkreuzen gedeutet. Sie markiert den Eintritt Nietzsches in seine skeptische Periode und zugleich Nietzsches Abschied von der Jugend.5 Er wollte ab jetzt Gelehrter sein, ein klarer, kalter, nüchterner Gelehrter. Es fällt Nietzsche wie Schuppen von den Augen, die ihm sein Verehrungsdrang verschlossen hatte. Lessing: „Und ein bewundernd trauriges Kind wird zum unersättlichen, gellend lachenden Skeptiker“ (SWN 1906, S. 239). Die Erlösungshoffnungen Wagners standen plötzlich gegen Nietzsches Skepsis in psychologischem Gewande. Es war Ludwig Klages, der sich den „psychologischen Errungenschaften Nietzsches“ 1930 eingehend widmen sollte. Das besagte postalische Klingenkreuzen symbolisiert den Trennungsvorgang. Die übereilte Abreise von der Bayreuther Eröffnungsfeier 1876 bestätigte ihn noch einmal. Die Frage wäre dahingehend zu präzisieren: Was hat Nietzsche dazu gebracht, in seinem Leben ein neues Blatt aufzuschlagen? – Wie ist er zum skeptischen Schriftsteller, zum Voltairianer geworden, als der man dann nicht mehr Freundschaften pflegen kann, zumindest Nietzsche nicht, und sich in eine Vereinsamung begibt. Da findet Theodor Lessing eine Fährte. Über Wert- und Ethikfragen im Rahmen des Allkonzepts Leben war Nietzsche auf das Problem der frommen Lüge, des notwendigen Scheins, des lebenserhaltenden Irrtums gestoßen. Als streng erzogenes Pfarrerskind kam er bei Abwägung von todbringender Wahrheit gegen lebensrettenden Meineid aus dem seelischen Gleichgewicht. Dies verlangte nach einer zurechtrückenden Welterklärung.
5 Lessing sieht Nietzsches Skepsis durch eine (1) ästhetische, (2) eine intellektuelle und (3) eine religiöse Periode – alle 3 Perioden sind durchzogen vom „Problem der Kultur“ als treibende Kraft.
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Schopenhauer und Wagner unterstellen einmütig: der Intellekt leistet Hilfe, einmal gegen das unbeherrschbare Wollen, sodann bei der Abkehr vom Leben, bei der Negation des Willens. Nietzsche sieht dagegen, dass sich die Lebensmächte Kunst, Religion und Philosophie vom Lebenswillen gar nicht abhängen lassen, von ihm in seinen Dienst gezwungen werden. Nietzsche leugnet die Rolle und Fähigkeit der intellektuellen Lebensmächte zur Weltabkehr (SWN 1906, S. 273). Er stellt sie in den Dienst der Weltbewältigung (SWN 1906, S. 273; vgl. WL, KSA 1, S. 880f.): In Millionen Fällen erweist sich die lebenfördernde Kraft der Lüge! Und gerade die reichsten, offensten Seelen bedürfen ihrer als Schutzabwehr für ein durch großartige Offenheit gefährdetes Leben… – sollte vielleicht auch noch in der sittlichen Welt die Lüge das Prinzip der Erhaltung des Lebens und letzter Hintergrund auch aller „Wahrheit“ sein? (SWN 1906, S. 274).
Das ist nach Theodor Lessing Nietzsches „grauenerregende Unruhfrage“. Darauf gibt es zwei Antworten. Die eine lautet: Das Leben ist nach der Wahrheit ausrichten; Nietzsche dagegen: Die andere lautet – Die Wahrheit wird sich nach den Lebensnotwendigkeiten richten: Die Vieldeutigkeit aller Phänomene, die den Menschen umgeben, sein kurzes Gedächtnis, sein untilgbarer Wille bewirken, dass alle ‚Wirklichkeit‘ beständig umgestellt, verfälscht und verfärbt wird. Das lässt Nietzsche nicht mehr los. Er beginnt daraufhin, die menschlichallzumenschlichen Unter- und Hintergründe auszugraben und widmet das erste Werk dieser Periode gleich Voltaire. Die Gründe für Nietzsches skeptische Wende zu Voltaire sind gleichzeitig die Gründe für die Trennung von Wagner. Sie stehen in einem engen Zusammenhang mit einem entscheidenden Schritt Nietzsches in seiner geistigen Entwicklung. Damit aber war denn der Bruch mit seiner Vergangenheit vollzogen. Er war das geworden, als was er uns am vorbildlichsten ist, ein Vivisektor des Geistes, Eingeweideschauer, Herzund Nierenprüfer, Psychologe. Wie konnte er nun noch Freund seiner Freunde sein? Er durchschaute und analysierte Seelen mit unheimlichem Auge. Den naiven Bewunderer der Griechen konnte Wagner ertragen, der wissenschaftliche Skeptiker aber kann ein bildendes Genie nur lähmen. Der Dichter hatte Freunde, die Wärme geben, … er ist von nun an völlig einsam (SWN 1906, S. 288).
Eine Einsamkeit, die ihm guttut. Er wird, so Lessing, ein echter Dichter, der aus jedem Elend Poesie schlägt: Ein Mensch, der nichts mehr zu verlieren hat, weil er va banque spielte, dem auch der Tod keine Überraschung bringen kann, weil er hundertfach gestorben ist, der sich über nichts mehr wundert , weil er alles und nichts erwartet – ein solcher Mensch ist unbezwinglich! – Er kann alles und wagt alles (SWN 1906, S. 288).
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Nietzsche wagt es, Erkenntnis und Bewusstsein, die sich ursprünglich in Wechselwirkung mehren und vervollständigen, nun gegeneinander in Stellung zu bringen. Es ist ein Stück Kühnheit, nachdem die gesamte Geisteswissenschaft seit dem deutschen Idealismus im Banne des Bewusstseins stand, im Bewusstsein nur ein, von Leibesfunktionen abgeleitetes, fehlerhaftes Ergebnis zu sehen. Nietzsche sah sich veranlasst, alles das zu Ehren bringen, was er in der „Griechenperiode“ noch geschmäht hatte: Aufklärung, Französische Revolution, dann Sokrates, Aristoteles, Kant – An die Spitze aller Werte tritt jetzt der souveräne Weise“ (SWN 1906, S. 290f.).
4 „ moderne deutsche Philosophie“ – ein Pessimismus der Moderne Die von der Lebensphilosophie aufgegriffenen schroffen Gegensätze von Wille und Intellekt, sowie Leben und Geist bringt Theodor Lessing in eine „moderne deutsche Philosophie“ ein. Sie bewirken weitergehende Widersprüche, die an die Grundlagen philosophischen Denkens und seiner Weltanschauungen rühren. Die nächste optimistische Option angesichts einer unentwirrbaren Wirklichkeit wäre, den Erkenntnisapparat zu schärfen (Philosophie, Wissenschaft), um unser Wissen ständig anzupassen. Das hieße, mit schwachen untauglichen Mitteln eine starke Wirklichkeit ausrichten zu wollen. Ein vergebliches Bemühen eine „Intellektualisierung“. Erst die „antiintellektuellen Seelenkräfte“ begreifen das Chaos und ziehen die richtigen Schlüsse, nämlich die Negation des Lebenswillens. Solche Seelenkräfte wenden sich vom Chaos aus Willen, Interessen und Strebungen ab, auch um den Preis des eigenen Untergangs; sie sind stets antiintellektueller Natur. Und ihnen sehen wir alle Genien unserer Zeit sich zuwenden…was sie dazu treibt, ist eine heiße Sehnsucht nach Halt, Sicherheit und Ruhe; eine Sehnsucht, weil sie keine Ruhe zum Leben mehr finden kann, zu einer Sehnsucht nach Ruhe vor dem Leben werden muss, zu der weltverzweifelten, ‚unzeitgemäßen‘, romantischen Stimmung, die wir […] an den drei großen Repr äsentanten unseres Zeitalters – an Schopenhauer, Wagner und Nietzsche – zu begreifen haben…es ist dieselbe romantische Weltauffassung […], die in Schopenhauer und Wagner zu buddhistischer Abkehr vom Leben und Negation des Lebenswillens, bei Nietzsche dagegen zu qualvoll jauchzender Bejahung des Lebens in nie endender Wiederkehr geführt hat (SWN 1906, S. 100f.).
Eine abschließende Frage an Theodor Lessing würde lauten, wo die Essenz einer „modernen deutschen Philosophie“ aufzusuchen wäre – was würde sie nach diesen Betrachtungen umfassen?
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Sie ist durchweht vom essentiellen und tödlichem Widerspruch von Leben und Geist, von Verzweiflung über entzauberte lebensdienliche Seelenkräfte, von Dekadenzangst oder – physikalisch gesprochen – von Entropie: dem Lauwärmetod aus allseitig weggeräumten Hindernissen in einer sklavenmoralischen Zivilisation. Gegen diese illusionäre Weltsicht, die einer Substanz aus zweiter Hand, dem Geist, den Fortschritt anvertraut, wird die Wucht eines agonal-heraklitischen Weltbildes und einer vorwissenschaftlichen Wirklichkeit aufgeboten. Es gilt nicht mehr, sich ihr zu entziehen, sondern sie als Bewährungsfeld für ein wachsendes, steigendes Menschentum zu sehen.
Literaturverzeichnis Albert, Karl (1995): Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács. Freiburg, München. Decker, Kerstin (2012): Nietzsche und Wagner – Geschichte einer Hassliebe. Berlin. Grunwald, Ernst (1934): Das Problem einer Soziologie des Wissens. Wien, Leipzig. Lersch, Philipp (1932), Lebensphilosophie der Gegenwart. Berlin. Lessing, Theodor (1906), Schopenhauer – Wagner – Nietzsche. Einführung in die moderne deutsche Philosophie. München. (Sigle: SWN 1906). Lessing, Theodor (1919/1921), Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München. Lessing, Theodor (1981): Die verfluchte Kultur [1921]. München. Lessing, Theodor (1930a), Europa und Asien – Untergang der Erde am Geist. Leipzig. Lessing, Theodor (1930b): Der jüdische Selbsthass. Nachdruck von 2004. München. Lessing, Theodor (1985): Nietzsche [1925]. Mit einem Nachwort von Rita Bischof. Berlin, München. Lichtblau, Klaus (1996): Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende – Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt am Main Magee, Bryan (2000): Wagner and Philosophy. London. Marwedel, Rainer (1987): Theodor Lessing 1872 – 1933. Darmstadt-Neuwied. Seidel, Alfred (1927): Bewusstsein als Verhängnis. Bonn.
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Keller contra Wagner Einige Gemeinsamkeiten zur Kritik Nietzsches Dass man über ihn [Parsifal] ge l a ch t hat, möchte ich am wenigsten bestreiten, Gottfried Keller auch nicht… (NW, KSA 6, S. 430).
Das Zitat ist ein Auszug aus dem dritten Fragment von Nietzsches „Aktenstück“ „Wagner als Apostel der Keuschheit“, das sich in Nietzsche contra Wagner findet. Dieses Buch ist eine Art Collage, eine Auswahl von Selbstzitaten Nietzsches aus früheren Werken, die er mit dem Ziel zusammenstellte seine kritische Haltung aus Der Fall Wagner als eine sich beständig über die Jahre entwickelnde auszuweisen1 und klarzustellen, dass, wie er an Avenarius2 schreibt, seine „‚Sinnesänderung‘ […] nicht von gestern“ war (KGB III/5, Bf. 1184). In diesem Fall stammt das Fragment aus Zur Genealogie der Moral (GM, KSA 5, 341), allerdings fehlt in der älteren Vorlage genau der Hinweis auf Gottfried Keller.3 Die Beziehung zwischen Nietzsche und dem Schweizer Dichter bestand aus einer kurzen Korrespondenz (sechs Briefe zwischen 1882 und 1886) und einer Begegnung in Zürich (1884) und lässt sich als ungleichgewichtig bezeichnen: „Nietzsche hat Keller verehrt“ (Wysling 1990, S. 404), aber „Keller seinerseits
1 „Thatsächlich führe ich seit 10 Jahren Krieg – Wagner wußte es selbst am besten – : ich habe keinen allgemeinen Satz, psychologischer oder streng aesthetischer Natur, im ‚Fall Wagner‘ ausgesprochen, den ich nicht schon in meinen Schriften auf das Ernsthafteste vorgetragen habe. Unter diesen Umständen will ich, um diesen Frage auf die Höhe und bis zum Kriege zu bringen, jetzt noch eine Schrift gleicher Ausstattung und gleichen Umfangs wie der ‚Fall Wagner‘ herausgeben“ (KGB III/5, Bf. 1189). 2 Avenarius kritisiert den Text, er hält den Tonfall für „unerfreulich“ und „daß Friedrich Nietzsche diesmal wie (ein) Feuilletonist geschrieben hat“ (Avenarius 1888, S. 52–56). 3 „[W]ie? war dieser Parsifal überhaupt e r n s t gemeint? Man könnte nämlich versucht sein, das Umgekehrte zu muthmaassen, selbst zu wünschen, – dass der Wagner’sche Parsifal heiter gemeint sei, gleichsam als Schlussstück und Satyrdrama, mit dem der Tragiker Wagner auf […]“ (GM, KSA 5, S. 341); „wie? war dieser Parsifal überhaupt e r n s t? Denn dass man über i h n ge lacht , möchte ich am wenigsten bestreiten, Gottfried Keller auch nicht… Man möchte es nämlich wünschen, dass der Wagnersche Parsifal heiter gemeint sei, gleichsam als Schlussstück und Satyrdrama, mit dem der Tragiker Wagner gerade auf […]“ (NW, KSA 6, S. 430).
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wird der ihm so wesensfremden Erscheinung des Philosophen mit zweifelndem Respekt gegenüberstanden haben“ (Rilla 1978, S. 364).4 Trotz der großen Bewunderung des Philosophen für den Schriftsteller findet sich nur eine öffentliche Huldigung Kellers im Aph. 109 in Der Wanderer und sein Schatten.5 Angesichts der Tatsache, dass „im letzten Jahr von Nietzsches bewusstem Leben […] sich keine briefliche Erwähnung Kellers“ (Groddeck/Morgenthaler 1994, S. 120) findet, überrascht diese rätselhafte Erwähnung im Eingangszitat umso mehr und hat darum auch bereits zu verschiedenen Vermutungen und Thesen angeregt.6 Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es nicht, diese Änderung zu erklären und die Frage zu beantworten, warum Nietzsche erst jetzt und nicht schon vorher in GM auf Keller rekurriert, sondern das komplexe und teilweise problematische Beziehungsgeflecht zu analysieren, das dem Text nach Kellers Inkorporation erwächst, sowie zu untersuchen, in welcher Weise Nietzsche Keller zu seinem Komplizen im Kampf gegen Wagner macht.
4 Den Briefwechsel und die persönliche Beziehung haben Groddeck/Morgenthaler 1994 analysiert. 5 „Der S chatz de r d eu tsch en Pro sa. – Wenn man von Goethe’s Schriften absieht und namentlich von Goethe’s Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen Buche, das es giebt: was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Litteratur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenberg’s Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stilling’s Lebensgeschichte, Adalbert Stifter’s Nachsommer und Gottfried Keller’s Leute von Seldwyla, – und damit wird es einstweilen am Ende sein“ (WS, KSA 2, S. 599). 6 Sommer 2012, S. 770f. schlägt zwei Möglichkeiten vor: einerseits könne die Änderung Nietzsches „genereller Einschätzung Kellers“ entspringen (Karl Grobs Vermutung) oder andererseits durch die Annahme von Groddeck und Morgenthaler aus ihrem Aufsatz zu der Beziehung von Nietzsche und Keller erklärt werden, die darin eine „Reminiszenz“ an das Treffen mit Keller aus den letzten Tagen von Nietzsches bewusstem Leben sehen: „Es ist so unwahrscheinlich nicht, daß der gut gelaunte Nietzsche den alten Keller zum Lachen gebracht hat vielleicht sogar mit ebender Behauptung, Wagner habe seinen Parsifal zwar ‚katholisch gemacht‘, aber nicht ‚ernst gemeint‘“ (Groddeck/Morgenthaler 1994, S. 120). Ich möchte noch eine dritte Möglichkeit diskutieren: angesichts der Tatsache, dass die Entscheidung, NW zu schreiben zu einem großen Teil durch den Artikel von Avenarius motiviert war – „Avenarius’ Stellungnahme jedoch traf ihn zutiefst“ (Janz 1978/1979, Bd. 2, S. 661), den Nietzsche als klares Indiz dafür wertete, dass „Niemand meine S ch r i f te n ke n n t “ (KGB III/5, Bf. 1189) und die Bekanntschaft zwischen Nietzsche und Avenarius auf einer Empfehlung Kellers basierte – „Avenarius ist ein Dichter… (Gottfried Keller sprach mir von ihm…)“ (KGB III/5, Bf. 903) – scheint es mir nicht abwegig, dass Nietzsches Erwähnung Kellers Avenarius, der diesen überaus schätzte, verletzen sollte. Allerdings ist auch diese Interpretation nur eine Vermutung.
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1 Man erinnere sich, wie begeistert seiner Zeit Wagner in den Fusstapfen des Philosophen Feuerbach gegangen ist. Feuerbach’s Wort von der „gesunden Sinnlichkeit“ […] wie das Wort der Erlösung. Hat er schliesslich darüber umgelernt? (NW, KSA 6, S. 430)
Es lässt sich nicht nachweisen, dass Nietzsche Feuerbach besonders geschätzt hätte7, und selbst die Erwähnungen dieses Philosophen in Nietzsches Gesamtwerk sind überaus gering. Im Nietzsche-Zitat ist Feuerbachs Erwähnung nicht einmal die Folge einer Originallektüre Nietzsches, sondern über das Werk Kuno Fischers vermittelt (Sommer 2012, S. 772). Seine Auseinandersetzung mit Feuerbach hing vielmehr von der Entwicklung seiner Beziehung zu Wagner ab, wie schon das erwähnte Zitat zeigt, in dem die Referenz auf Feuerbach zugleich mit einer Kritik am Komponisten verbunden wird. Mit der Erwähnung Feuerbachs stößt Nietzsche zudem auf eine theoretische Übereinstimmung zwischen Wagner und Keller, auf deren beider Leben und Werk Feuerbach gleichermaßen großen Einfluss hatte. So wie seit 1854 Schopenhauer und sein Die Welt als Wille und Vorstellung den größten Einfluss auf Wagner ausübten und seine vorhandenen künstlerischen und intellektuellen Ansichten bestätigten und bestärkten, übernahm Feuerbach diese Rolle in Wagners letzten Jahren in Dresden und seiner Anfangszeit in Zürich. In den Züricher Kunstschriften vertiefte Wagner „die Vorstellung der historischen Aufeinanderfolge durch eine direkte Auseinandersetzung mit Gedanken des anthropologischen Materialismus von Feuerbach“ (Venturelli 2008, S. 353) und entwickelte seine eigene Vorstellung einer Kunstphilosophie, die auf der Beziehung zwischen Natur, Kunst und Gemeinschaft basierte. Durch Feuerbach befreite sich Wagner aus dem mythisch-christlichen Nebel und gelangte zu der Überzeugung, dass der Philosoph „der Repräsentant der radikalen Befreiung des Individuums vom Drucke hemmender, dem Autoritätsglauben angehörender Vorstellungen“ (Gregor-Dellin 1983, S. 292) sei. Klarstes Zeugnis dieses Einflusses ist Das Kunstwerk der Zukunft, in dem Wagner nicht nur das philosophische Vokabular Feuer-
7 Brobjer belässt Aussagen zu Nietzsches Lektüre Feuerbachs im Hypothetischen: „That year he read […] probably Feuerbach’s Das Wesen der Christentums“ (Brobjer 2008, S. 44) und: „this may have been Feuerbach’s Das Wesen des Christentums“ (Brobjer 2008, S. 133). Sommer zitiert Henri de Lubac (Le drame de l’humanisme athee 1943, S. 40–54) und dessen These, dass „Nietzsche keine besondere Hochschätzung Feuerbachs erkennen lasse, dieser aber dennoch durch Schopenhauer und Wagner auf Nietzsche abgefärbt haben dürfte“, nimmt aber eine Untersuchung der Parallelen zwischen Der Antichrist und Das Wesen des Christentums vor (Sommer 2000, S. 50ff.), die belegen, dass Nietzsche sich mit dem Werk auseinandergesetzt haben muss.
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bachs aufgreift, sondern dessen erster Ausgabe er auch ein Widmungsschreiben an ihn beifügt. Doch auch in seinem künstlerischen Werk finden sich Einflüsse, etwa im Lohengrin, der das gesamte Feuerbach’sche Denken enthält. Bei Keller gilt die Begegnung mit Feuerbachs Philosophie als größter Einschnitt in seinem Denken. So erfuhr Kellers Welt- und Geschichtsbild eine radikale Veränderung, als er in Heidelberg wohnte (1848–1850) und regelmäßig Feuerbachs Vorlesungen über das „Wesen der Religion“ besuchte. In seinen Briefen an Wilhelm Baumgartner8, in denen er Rechenschaft zu Religionsfragen ablegt, die ihn nach seiner Begegnung mit Feuerbach zunehmend umtrieben, schreibt er: Ich werde tabula rasa machen (oder es ist vielmehr schon geschehen) mit allen meinen bisherigen religiösen Vorstellungen, bis ich auf dem Feuerbachischen Niveau bin. Die Welt ist eine Republik, sagt er, und erträgt weder einen absoluten, noch einen konstitutionellen Gott (Rationalisten) (Keller 1950, Bd. 1, S. 274).
Wie schon bei Wagner zeigen sich die Nachwirkungen des Feuerbacherlebnisses auch bei Keller nicht nur in seinen Aufsätzen und Briefen. Nach seiner Bekanntschaft mit dem Philosophen schreibt er die Jugendgeschichte seines bekanntesten Romans Der Grüne Heinrich um, in dem er die Probleme Heinrichs schildert, der mit den traditionellen Wertvorstellungen in Konflikt gerät, und inkorporiert Figuren (Dortchen und der Graf), die als Sprachrohr der Feuerbach’schen Philosophie fungieren. Aufgrund seiner Begegnung mit Feuerbachs Philosophie wendet sich Keller von der grundsätzlichen Vorstellung einer christlichen Heilsgeschichte ab und der Gegenwart zu, um „die Natur […] mit allen seinen Fibern in ihrer ganzen Tiefe“ (Keller 1950, Bd. 1, S. 274) zu ergreifen. Er verneint das Jenseits und bejaht das Diesseits, das Hier und Jetzt, die bloße Immanenz, denn nur in der reinen Gegenwart könne der Mensch sich voll entfalten und das Leben in seiner ganzen Intensität erleben:
8 Wilhelm Baumgartner war ein Schweizer Chordirigent, der Teil von Wagners „Zürcher Freundeskreis“ war und zu einer wichtigen Verbindung zwischen Wagner und Keller wurde. In einem Brief an den Dichter schreibt er: „Von einer neuen Bekanntschaft wüsste ich Dir sehr viel zu schreiben: […] Richard Wagner, der mit dem ganzen Feuer seines Geistes und seiner Energie auf mich zündend einwirkt, ähnlich wie Feuerbach auf Dich, natürlich überwiegend in musikalischer Beziehung. Er ist durch und durch genialer Natur und in seiner Kunstanschauung durch und durch Revolutionär. Ich möchte Dich einstweilen auf seine hier geschriebene Arbeit, die er in Leipzig bei Wigand herausgab, aufmerksam machen, nämlich seine Kunst und Revolution, besonders auf sein Kunstwerk der Zukunft (worunter er das Drama in Verbindung und Mitwirkung aller Künste verstanden wissen will“ (Keller, 1950, S. 285).
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Die Welt ist mir unendlich schöner und tiefer geworden, das Leben ist wertvoller und intensiver, der Tod ernster, bedenklicher und fordert mich nun erst mit aller Macht auf, meine Aufgabe zu erfüllen […], da ich keine Aussicht habe, das Versäumte in irgend einem Winkel der Welt nachzuholen (Keller 1950, Bd. 1, S. 290).
Diese theoretische Übereinstimmung mit Feuerbachs Lehren sowohl bei Wagner als auch bei Keller ist meiner Meinung nach für die großen Ähnlichkeiten in der Analyse der beiden zum Verhältnis von Kunst und Gesellschaft verantwortlich, die sich in der Auseinandersetzung Kellers mit verschiedenen Texten des Komponisten klar nachweisen lassen.
2 Die Auseinandersetzung Kellers mit Wagner begann viele Jahre vor ihrem persönlichen Treffen in Zürich.9 Schon in Heidelberg hatte Keller die Programmschriften Wagners gelesen, und sich später, 1851, mit größtem Interesse mit Wagners Schriften Das Kunstwerk der Zukunft und Ein Theater in Zürich beschäftigt. In diesen Schriften befasst sich Wagner mit Problemen, die auch den Schweizer Schriftsteller umtrieben, etwa den Zustand des Schweizer Nationaltheaters und die Beziehungen von Kunst und Gemeinschaft, weshalb Keller die Bedeutung und den Wert von Wagners Schaffen anerkannte. Er war noch in Berlin, wo er versuchte als Bühnenautor Fuß zu fassen, als er Wagners Ein Theater in Zürich las, und dies ist auch der Grund, weshalb der Text ihn so besonders berührte, wie
9 Wagner wohnte von 1849 bis 1858 in Zürich und – nach Gregor-Dellin (1983) und Ermatinger (1950) – lernte Keller ihn 1855 kennen. Laut Ermatinger war Wagner „eine der ersten geistigen Grössen die Keller nach der Rückkehr aus Berlin kennen lernte“, er zitiert ihn: „Er war noch nicht der Prophet […] sondern der durchaus liebenswürdige Mensch“ (Ermatinger 1950, S. 338). In den frühen Briefen Kellers finden sich nur lobende Worte zu Wagner: „ist ein sehr genialer und kurzweiliger Mann, von der besten Bildung und wirklich tiefsinnig. Sein neues Opernbuch, die Nibelungen-Trilogie, ist eine glut- und blütenvolle Dichtung an sich schon und hat einen viel tieferen Eindruck auf mich gemacht, als alle anderen poetischen Bücher, die ich seit langem gelesen“ (Ermatinger 1950, S. 338). Ein Jahr später verdross ihn Wagners „Selbstbeweihräucherung und Ästhetentum“, an Freiligrath heißt es: er ist „einen sehr begabten Menschen, aber auch etwas Friseur und Scharlatan“ (Ermatinger 1950, S. 338). Wagner fand Keller „zwar spröde und behandelte ihn in ‚Mein Leben‘ merkwürdig herablassend, stellte aber seine Novellen über alles. Aus den ‚Leuten von Seldwyla‘ las er gern vor, seine Lieblingsstücke waren ‚Spiegel, das Kätzchen‘, ‚Die drei gerechten Kammacher‘ und ‚Romeo und Julia auf dem Dorfe‘, und so etwas wie der ‚Grüne Heinrich‘, äußerte er noch Cosima gegenüber, sei in Deutschland nach Goethe nicht entstanden“ (Gregor-Delin 1983, S. 405).
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aus einem Schreiben an Baumgarten hervorgeht: der Aufsatz hatte ihn „in der Hoffnung bestärkt, dass er in der Heimat einmal ein Feld für sein eigenes dramatisches Schaffen finden werde“ (Ermatinger 1950, S. 338).10 Ein Theater in Zürich (1851) ist Teil jener Zürcher Kunstschriften, die Wagner verfasste, als er wegen seiner Teilnahme am gescheiterten Dresdner Maiaufstand nach Zürich flüchtete. Der Text ist eine Auseinandersetzung mit dem kritischen Zustand des Zürichers und, noch allgemeiner, des europäischen Theaters. In dieser Schrift übt Wagner nicht nur Kritik, sondern versucht auch einen konstruktiven Plan zur Verbesserung der Schauspielkunst zu entwerfen. Der Komponist führt den „ganzen Übelstand, an dem fast alle Theater Europas bis zur Hinfälligkeit leiden“ darauf zurück, dass es „keine Originaltheater gibt als die Pariser, und alle übrigen nur Kopien von diesen sind“ (Wagner 1912, S. 24). Dieses Problem bringe eine „grosse Theilnahmlosigkeit“ mit sich, die auf „einer tiefen inneren Unbefriedigung“ beruhe. Allerdings versammle sich jedes Winterhalbjahr „ein großer Theil der Einwohnerschaft Zürichs“ im Theater, um sich eine „gemeinsame Unterhaltung zu verschaffen“, was für Wagner eindeutig ein „Symptom eines gemeinsamen höheren Bedürfnisses“ (Wagner 1912, S. 37) sei. Dieses Bedürfnis, von dem Wagner bereits 1849 in Das Kunstwerk der Zukunft spricht, ist fundamental für Keller, der zehn Jahre später einen programmatischen Entwurf schreibt, um das Drama aus dem Geist des Volksfests zu erneuern und in diesem Sinne mit Wagners Schriften in Beziehung tritt. Sowohl Wagner als auch Keller ist das Anliegen gemein, dass die angestrebte kulturelle „Blüte“ der Schweiz nicht durch den Import ausländischer Ideen und Kunstwerke erreicht werden dürfe, sondern Eigenes darstellen müsse. Bei Keller ist das Schauspiel diejenige Kunst, „in welcher das Schweizervolk mit der Zeit etwas Eigenes und Ursprüngliches ermöglichen kann“ (Keller 1996, S. 181). Kellers Aufsatz Am Mythenstein (2. und 9. April 1861, im Morgenblatt für gebildete Leser), der sich mit diesem Thema befasst, ist in zwei Teile geteilt. Der erste Teil ist die Beschreibung – durchzogen von kulturgeschichtlichen Betrachtungen – einer Reise in die Urschweiz zur Einweihung des „Schillersteines“, eines Naturdenkmals zu Ehren des hundertsten Geburtstags Schillers (1859). Nachdem
10 Keller an Baumgartner: „Richard Wagner habe ich schon in Heidelberg in seinen ersten Schriften kennen gelernt und seither alles mit großem Interesse verfolgt, was ich von ihm erfuhr, z. B. den Aufsatz von Liszt über ihn. Sein Schriftchen über ein Theater in Zürich habe ich mir kommen lassen und mit Freuden gelesen; und obgleich es leider zunächst nicht viel Folgen haben wird, so hat es doch meine schon früher gehegte Hoffnung bestärkt, daß ich, nachdem ich mir in Deutschland vielleicht einigen Erfolg und Erfahrungen erworben haben werde, zu Laufe nicht ganz abgeschnitten sein, sondern ein Feld zur Wirksamkeit in vaterländischer Luft finden werde“ (Keller 1950, Bd. 1, S. 294).
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er dieses „einfach liebliche Fest“ eingehend beschrieben hat und mit der Feststellung schließt, dieses Volksfest sei „selbst wieder ein kleines Drama geworden“ (Keller 1996, S. 179), beginnt er mit dem zweiten Teil, in dem er ein „Bedürfnis nach Schauhandlung“ bemerkt, das sich „wie ein roter Faden durch alle Lebensäußerung der Völker“ (Keller 1996, S. 179) ziehe, und Überlegungen über das Verhältnis zwischen Volk, Fest und Kunst anstellt, die in seinem träumerischen Entwurf eines neuen nationalen Festspiels münden. Es ist nicht meine Absicht eine Paraphrase der Texte durchzuführen, aber um die Beziehung zwischen beiden Texten (und Autorenpositionen) zu erklären, ist es wichtig hervorheben, dass es konkrete Parallelen zwischen den Betrachtungen Wagners und Kellers gibt, obwohl Kellers Aufsatz insgesamt eher als Gegenentwurf zum Konzept des Gesamtkunstwerks, das Wagner in Das Kunstwerk der Zukunft entwirft, gesehen werden kann. Beide Autoren gehen von denselben Überlegungen aus, dass Kunst und Leben nichts Geschiedenes seien. Sowohl Wagner als auch Keller stellen sich ein Theater vor, das nicht nur durch professionelle Theaterleute, sondern auch vom Laien umgesetzt werden kann11: „Alle Stände, Bauern, Philister, Weltstädter und Hofleute suchen gleich beharrlich ihren Durst nach einem erhöhten Spiegelbild der Existenz, nach poetischer Gerechtigkeit oder auch nach Rechtfertigung ihrer Laster zu befriedigen“ (Keller 1996, S. 180). Dies ist für Keller die Funktion der nationalen Volksfeste: „Die Telldichtung […] bildete die Grundlage eines neuen Freundschaftsbündnisses“ (Keller 1996, S. 176). Keller sieht, besonders vor dem Mythenstein, wie das Volk durch die vaterländischen Festspiele – an denen es aufgrund jenes gemeinsamen Bedürfnisses aktiv teilhabe – zu sich selbst komme und sich erst als Volk konstituiere.12 Bei Wagner ist das Volk, wie er in Das Kunstwerk der Zukunft schreibt: „der Inbegriff aller derjenigen welche
11 „Ich meine hiermit das allmähliche Erlöschen des Schauspielerstandes als einer besonderen, von unserem bürgerlichen Leben geschiedenen Kaste, und sein Aufgehen in eine künstlerische Genossenschaft, an der nach Fähigkeit und Neigung mehr oder weniger die ganze bürgerliche Gesellschaft Theil nimmt. Die absolute Sonderstellung des Schauspielerstandes muß bei fortschreitender schöner Bildung der bürgerlichen Gesellschaft immer unhaltbarer werden“ (Wagner 1912, S. 46). 12 Der Topos des Festes als einer idealen Einheit der Gemeinschaft taucht nicht nur in diesem Essay auf, sondern findet sich immer wieder in Kellers literarischem Werk (vgl. Pestalozzi 2007, S. 32–35 und Schweizer 1973). Allerdings lässt sich im letzten Drittel des Jahrhunderts eine Enttäuschung bei Keller feststellen, sodass er sich von der Idee der Gemeinschaftsbildung durch das Fest abwendet. In Martin Salander (1886), in dem er den politischen Alltag in der Schweiz ungeschminkt darstellt, wird in der Schilderung der Hochzeit eine Feier von jenem Typ parodiert, der im Mythenstein-Aufsatz skizziert ist. Andererseits ist es auffällig, dass der zweite Teil von Am Mythenstein, jener Gegenentwurf eines neuen Gesamtkunstwerks, im Gegensatz zur Beschreibung des Festes im Konjunktiv verfasst ist und Keller seinen Entwurf als „Träumerei“ (Keller 1996, S. 179) und „Luftschloss“ (Keller 1996, S. 189) bezeichnet.
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eine gemeinschaftliche Not empfinden…nur ein gemeinsames Bedürfnis ist aber wahre Bedürfnis“13 (Wagner 1850, S. 11). Die Funktion des Gesamtkunstwerkes sei es, die unbefriedigten Massen zu einer Einheit zu bringen: „Im Gesamtkunstwerk ‚werden wir Eins sein‘“ (Wagner 1850, S. 14). Obwohl Kellers Aufsatz Am Mythenstein mit Wagners Festspielidee in Beziehung gesetzt werden kann14, lehnt der Schweizer das künstlerische Programm Wagners in seinen letzten Konsequenzen ab: „Ich bin mit dem Schriftchen [Ein Theater in Zürich – A. Z.] ganz einverstanden, nicht so mit den letzten Konsequenzen von Wagners Ideen über die Kunst der Zukunft“ (Keller 1950, Bd. 1, S. 294). Laut Wagner solle das Gesamtkunstwerk alle Einzelkünste in sich aufnehmen und so die Unterschiede zwischen ihnen aufheben: Das große Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesamtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses große Gesamtkunstwerk erkennt er nicht als die willkürlich mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft (Wagner 1850, S. 32).
Im Gegensatz dazu verteidigt Keller die Notwendigkeit individueller Fähigkeiten, die sich in den Einzelkünsten zeigten: „Das lyrische Gedicht, das Staffeleibild […] und alle solche Dinge entsprechen einer bestimmten und vorhandenen Gemütslage und Fähigkeit“ (Keller 1950, Bd. 1, S. 294). Er wertet die einzelnen Kunstarten gerade deshalb auf, da sie eine grundsätzliche Ausdrucksform des einzelnen Menschen, des Individuums seien. Für Wagner folgt die „Vernichtung“ der einzelnen Künste im Gesamtkunstwerk derselben Logik wie die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, bei der Ersteres Letzterer untergeordnet ist: „Es gibt für den Menschen nur ein Höheres als er selbst: die Menschen“ (Wagner 1850, S. 46). Eine solche Entmachtung lehnt Keller kategorisch ab, sind es für ihn doch immer erst die Einzelnen, die das konkrete Werk schaffen, wenn auch im Einklang mit dem allgemeinen Empfinden: „Es wäre die Aufgabe des Dichters, durch die Zucht der Musik wieder eine rein und rhythmisch klingende Sprache zu finden“ (Keller 1996, S. 188). In diesem Zusammenhang kritisiert er Wagner auch direkt:
13 „In Das Kunstwerk der Zukunft versuchte er [Wagner] eine Definition des Volkes als der Gemeinschaft der Not“ (Gregor-Dellin 1983, S. 329). 14 „[…] Es soll ein Gesamtkunst sein, die kühne Übersetzung einer romantischen Utopie ins Republikanische, der Wagnerschen Zukunfstmusik wohl verwandt, aber mit ihr nicht zu verwechseln“ (Muschg 1977, S. 281).
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Richard Wagner hat den Versuch gemacht, eine Poesie zu seinen Zwecken selbst zu schaffen, allein ohne aus der Schrulle der zerhackten Verschen herauszukommen, und seine Sprache, so poetisch und großartig sein Griff in die deutsche Vorwelt und seine Intentionen sind, ist in ihrem archaistischen Getändel nicht geeignet, das Bewußtsein der Gegenwart oder gar der Zukunft zu umkleiden, sondern sie gehört der Vergangenheit an (Keller 1996, S. 188).
Der gekünstelte Stil, den Keller Wagner vorwirft, lässt sich z. T. darauf zurückführen, dass, während das Kellersche Gesamtkunstwerk auf der Festspieltradition der Schweizer basiert, Wagner auf eine mythische Vergangenheit rekurriert, eine neue Mythologie aus dem Geist der Vorzeit. Für Wagner kann nur der Mythos die Gemeinschaft vereinigen und verbinden. Der frühe Nietzsche, „mit einer Artisten-Metaphysik im Hintergrunde“ (GT, KSA 1, S. 13), stimmt dieser Sichtweise Wagners weitestgehend zu. In den ersten Werken stellt er „dem deutschen Volk, das Bild der griechischen ‚Gemeinschaft‘ als beispielhaft und ihren Auflösungsprozess als bedeutsam hin“ (Campioni 1976, S. 83) und befindet sich damit in absoluter Übereinstimmung mit Wagners Gemeinschaftspathos (Barbera/Campioni 2010, S. 127). Mit dem Verschwinden des mythischen Horizonts aber verschwinde auch das, was die Gemeinschaft zusammenhält, an deren Stelle trete das Individuum: „Ohne Mythus […] geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab“ (GT, KSA 1, S. 145; vgl. auch GT, KSA 1, S. 117). Der Mythos repräsentiere die Verbindung mit dem Naturgrund und das Fest (in GT das Fest des Dionysos) erscheine als „Loslösung von den Banden der Individualität“ (Campioni 1976, S. 89). Allerdings schreibt Nietzsche – wie bereits andere Untersuchungen gezeigt haben (Wapnewski 1989; Borchmeyer/Salaquarda 1994) – zu derselben Zeit, in der er in seinen veröffentlichten Texten behauptet, „dass die Tragödie das Wunder der ‚Transfiguration‘ vollbringt, die das principium individuationis durchbricht“ (Sánchez 2003, S. 90 – Übers. A. Z.), zugleich Werke wie Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1872) und Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873), von denen er Letzteres lieber unveröffentlicht ließ und in denen klare Anzeichen für seine Autonomie gegenüber den Lehren des Komponisten zu finden sind. Nietzsche bleibt nicht Wagners romantisch-metaphysischer Auslegung verhaftet, die eine „natürliche – nicht gewaltsame – Vereinigung“ (Wagner 1850, S. 216) propagiert, sondern erkennt die Unmöglichkeit einer Wiedergeburt des Mythos. Er befreit sich endgültig aus den Fängen des „alte[n] Zauberer[s]!“ (WA, KSA 6, S. 16) und tritt nun ganz offen und öffentlich für die Erkenntnis, die passio nova (vgl. Brusotti 1997), das „Bedürfnis der Wahrhaftigkeit“ ein, deren „Leidenschaft der Redlichkeit“ die kritische Kraft darstelle, die den Mythos und damit die totalitäre Gemeinschaft auflöse. Nietzsche wendet sich angesichts der Tyrannei der Gemein-
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schaft den einzelnen Individuen zu: „Je individueller der Einzelne wird, um so produktiver für die Cultur wird sein Glück sein“ (NL 1880, KSA 9, S. 99).
3 Auch wenn kaum behauptet werden kann, dass Nietzsches und Kellers Überlegungen zum Konzept der Gemeinschaft und der Rolle des Individuums identisch seien, so denke ich doch, dass die Gemeinsamkeiten in ihrer Kritik an Teilen von Wagners Programm und seiner Art, die Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft im 19. Jahrhundert zu denken, durchaus die durch Nietzsche im Eingangszitat hergestellte Komplizenschaft mit Keller in einen Sinnzusammenhang stellen.15 Laut Rüdiger Görner lässt sich für Kellers Am Mythenstein behaupten: „sein eigentliches Ziel heisst Richard Wagner“ (Görner 2009, S. 11). Sowohl Keller als auch Wagner waren „Schüler“ Feuerbachs, doch laut Nietzsche scheint der Komponist dessen Lehren in der Folge vergessen zu haben: „Hat er schliesslich darüber umgelernt?“. Bei ihm „ist der Hass auf das Leben“ Herr geworden. Sein Parsifal sei „eine Apostasie und Umkehr zu christlich-krankhaften und obskurantistischen Idealen“, „ein Werk der Tücke, der Rachsucht, der heimlichen Giftmischerei gegen die Voraussetzungen des Lebens“ (NW, KSA 6, S. 431). Bei Keller hingegen kann man ein klares Bewusstsein für das Verschwinden und den endgültigen Gültigkeitsverlust der Vorstellung einer transzendenten göttlichen Instanz und damit verbunden auch der daraus folgenden Konzepte einer „Hinterwelt“ und der Unsterblichkeit feststellen, wobei er dieses Bewusstsein in ein heftiges und starkes Gefühl der Immanenz umwandelt, das in der konkreten sinnlichen Realität die einzig existierende Realität findet, die eine Realität der „allernächsten Dinge“ (WS, KSA 2, S. 541) ist, frei von der Last, dem Erbe „der letzten Dinge“. Obwohl es bei Nietzsche keinen feststellbaren Einfluss der Feuerbachschen Philosophie gibt, teilen der Schriftsteller und der Philosoph diese Weltsicht der Immanenz, bei der es laut Nietzsche darum geht, sich zu „gute[n] Nachbarn der nächsten Dinge“ (WS, KSA 2, S. 551) zu machen, weshalb er davor warnt, dass jegliche Angriffe auf dieses Leben und diese Welt eine schwerwiegende und unverzeihliche Sünde bedeuteten. Die Absage ans Jenseits bedeutet
15 Um die Gemeinsamkeiten sichtbar zu machen, habe ich nur einige Aspekte des Verhältnisses Keller-Wagner-Nietzsche erwähnt: die Bedeutung Feuerbachs und die des Fests für die Beziehung Gemeinschaft-Individuum.
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zugleich eine Bejahung des Diesseits, Nietzsche und Keller fordern, jeder auf seine eigene Weise, eine Weltlichkeit und ein „Erden-Leben“ (GM, KSA 5, S. 283), einen „Erden-Kopf“ (Za, KSA 4, S. 37). Nach der Feuerbach-Erfahrung muss das Individuum also versuchen das Leben mit „Sinn und Sinnlichkeit, mit Geist und Gefühlskraft zu erfüllen“ (Sautermeister 2010, 70). Wagner hingegen vergesse Feuerbachs Lehren und damit die „gesunde Sinnlichkeit“ (NW, KSA 6, S. 430f.).16 Keller stellte sich die „Hauptfrage“: „Wird die Welt, wird das Leben prosaischer und gemeiner nach Feuerbach?“. Oder auch: Wird das Leben prosaischer und gemeiner, wenn es kein Jenseits gibt? Wenn wir nur das irdische Leben besitzen? „Bis jetzt muß ich des bestimmtesten antworten: Nein! im Gegenteil, es wird alles klarer, strenger, aber auch glühender und sinnlicher“ (Keller 1950, Bd. 1, S. 274). Das würde Keller am wenigsten bestreiten. Friedrich Nietzsche auch nicht.
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16 „Das Wort von der ‚gesunden und frischen Sinnlichkeit‘ oder auch nur ‚gesunde Sinnlichkeit‘ lässt sich bei Feuerbach selbst nicht nachweisen. N. ist Fischers Zitat-Suggestion aufgesessen“ (Sommer 2012, S. 772).
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Dieter Borchmeyer
Wagner, Nietzsche und das Judentum 1 Richard Wagners Verhältnis zum Judentum gehört zu den prekärsten Seiten seines Charakters.1 In einem Brief an Liszt vom 18. 4. 1851 hat er gestanden, sein „groll gegen diese Judenwirthschaft“ sei seiner Natur „so nothwendig wie galle dem blute“ (Wagner 1967, Bd. 3, S. 544). Dieser Groll nimmt im Laufe der Jahre immer mehr Züge eines Verfolgungswahns an, der durch keinerlei Fakten gedeckt ist (seine Hauptwidersacher waren so gut wie niemals Juden, umgekehrt hat er aber von jüdischen Freunden, Mentoren und Anhängern immer wieder bedeutende Unterstützung erfahren), so daß man von einer regelrechten Obsession reden kann. Sie drückt sich nirgends deutlicher aus als in Wagners Brief an König Ludwig II. vom 22.11.1881, wo er bekennt: „dass ich die jüdische Race für den geborenen Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr halte: dass namentlich wir Deutschen an ihnen zu Grunde gehen werden, ist gewiss, und vielleicht bin ich der letzte Deutsche, der sich gegen den bereits alles beherrschenden Judaismus als künstlerischer Mensch aufrecht zu erhalten wusste“ (Wagner 1967, Bd. 3, S. 230). In einer Aufzeichnung vom Frühling-Sommer 1878 hat Nietzsche sich fassungslos gefragt, wie sich durch seinen „Judenhass […] ein solcher Mann so tyrannisiren lassen kann!“ (NL 1878, KSA, 8, S. 502). Und er begründet das durch einen möglichen jüdischen Selbsthaß: „sollte Wagner ein Semite sein? Jetzt verstehen wir seine Abneigung gegen die Juden“ (NL 1878, KSA 8, S. 500). „Der Mensch haßt nur“, wird es später in Otto Weiningers Geschlecht und Charakter heißen, „durch wen er sich unangenehm an sich selbst erinnert fühlt“. Der Hass sei wie die Liebe ein „Projektionsphänomen“: „wer immer das jüdische Wesen haßt, der haßt es zunächst in sich: daß er es im anderen verfolgt, ist nur sein Versuch, vom Jüdischen auf diese Weise sich zu sondern; er trachtet sich von ihm zu scheiden dadurch, daß er es gänzlich im Nebenmenschen lokalisiert, und so für den Augenblick von ihm frei zu sein wähnen kann“ (Weininger 1980, S. 407).
1 Der erste Teil dieser Studie greift auf frühere Publikationen des Autors zu diesem Thema zurück (insbesondere auf den Artikel „Judentum“ in: Sorgner 2008).
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Spekulationen über eine jüdische Abstammung und Wesensart Wagners – als Motiv seines Judenhasses – waren nicht erst seit Nietzsche in Umlauf. Als „Rabbi von Bayreuth“, „Judenbengel“, dessen „lange Talmud-Schnüfflernase“ den Verdacht semitischer Abstammung errege, geisterte Wagner im 19. Jahrhundert durch Karikatur und Kritik (vgl. Tappert 1968).2 Die Vermutung, sein Stiefvater Ludwig Geyer sei sein eigentlicher Vater, dieser aber habe aufgrund seines Namens im Verdacht gestanden, Jude zu sein, ist aus der Polemik um und gegen Wagner bis heute nicht verschwunden. In einer Fußnote der „Nachschrift“ zu Der Fall Wagner fragt Nietzsche ironisch: War Wagner überhaupt ein Deutscher? Man hat einige Gründe, so zu fragen. Es ist schwer, in ihm irgend einen deutschen Zug ausfindig zu machen. Er hat, als der grosse Lerner, der er war, viel Deutsches nachmachen gelernt – das ist Alles. Sein Wesen selbst widerspricht dem, was bisher als deutsch empfunden wurde: nicht zu reden vom deutschen Musiker! – Sein Vater war ein Schauspieler Namens Geyer. Ein Geyer ist beinahe schon ein Adler (WA, KSA 6, S. 41).
Adler ist ein häufig vorkommender jüdischer Name, Geyer hingegen ein traditioneller deutscher Familienname, so dass diese boshafte Spitze selbst dann nicht träfe, wenn Geyer – eine nicht auszurottende Legende – der Vater Wagners gewesen wäre. Er entstammte einer alten sächsisch-anhaltischen Pastoren- und Kantorenfamilie, war also entgegen den Vermutungen Nietzsches kein Jude. Die ablehnende Haltung Wagners gegenüber dem Judentum taucht in seinen schriftlichen Äußerungen erst um 1850 auf. Weder seine früheren Beziehungen zu jüdischen Bekannten wie Samuel Lehrs (dem Gefährten der Pariser Elendsjahre), zu Ferdinand Hiller oder Berthold Auerbach scheinen durch antijüdische Affekte getrübt gewesen zu sein, noch gehen vereinzelte antijüdische Affektäußerungen, wie sie sich auch bei jüdischen Autoren finden, über das Zeitübliche hinaus. Verächtliche Bemerkungen über Juden gehörten im 19. und frühen 20. Jahrhundert nach Jean-Paul Sartres Réflexions sur la question juive (1946) fast zum „Gesellschaftsspiel“ unter Gebildeten. Wenn Wagner einmal in einem Brief an den Freund Theodor Apel aus dem Jahre 1834 von „verfluchtem Judengeschmeiß“ redet, handelt es sich im Übrigen bei diesem angeblich frühen ,Beleg‘ für Wagners Antisemitismus um keine Äußerung über jüdische Personen, sondern ist eine grobianische Metapher für die ihn überhäufenden „Weinrechnungen – Schneiderrechnungen“ und sonstigen finanziellen Verpflichtungen (Wagner 1967, Bd. 1, S. 177f.).
2 Darin ,Jude‘, ‚Judenbengel‘, ‚Judenschnapper‘ und ‚Talmud-Schnüfflernase‘; sowie Kreowski/ Fuchs 1907, S. 58f.
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Seinen antijüdischen Affektäußerungen steht etwa die großherzige Verteidigung Heinrich Heines in der „Dresdner Abendzeitung“ vom 6. Juli 1841 gegenüber, zu der die spätere Verdrängung und Herabsetzung des für sein musikdramatisches und theoretisches Werk fundamental bedeutsamen Autors in krassem Gegensatz steht. Von der Jahrhundertmitte an artikuliert sich Wagners antijüdische Haltung freilich um so drastischer, beginnend mit seinem unter Pseudonym veröffentlichten Aufsatz Das Judenthum in der Musik (erschienen 1850 in der Leipziger „Neuen Zeitschrift für Musik“; als selbständige Publikation neu aufgelegt, partiell revidiert und mit einleitenden Aufklärungen über das Judenthum in der Musik versehen im Jahre 1869). Wagners Pamphlet schaltete sich 1850 in eine von seinem Freund Theodor Uhlig angefachte, zumal gegen Meyerbeer gerichtete Kampagne ein, wobei er im Grunde nur Argumente versammelte, die quer durch das gesamte politische Spektrum der Zeit verbreitet waren und zumal im Umkreis der Revolution von 1848 Konjunktur hatten. Auch die sogenannten Jungdeutschen, die linkshegelianische und sozialistische Bewegung waren von antijüdischen Vorurteilen nicht frei. Den „eigentlichen Sündenfall“ Wagners sieht Jens Malte Fischer erst in der von Verfolgungswahn und Verschwörungsphobie gekennzeichneten Zweitpublikation der Judentum-Schrift im Jahre 1869. Sie sei mutwillig in eine Situation relativ friedlicher Entwicklung des Judentums in Deutschland hineingeplatzt und habe nun erst – im Gegensatz zu der fast wirkungslosen Erstpublikation – üble Folgen gehabt. Fischer rechnet sie der Phase eines „Frühantisemitismus“ zu, der noch nicht von einer ausgeformten rassistischen Voraussetzung her argumentiert, aber bereits mit unveränderlichen Wesensbestimmungen des Jüdischen operiert (Fischer 2000, S. 26). Der Begriff des Antisemitismus, der seit den späten 1860er Jahren vereinzelt auftaucht, ist erst 1879 durch das Pamphlet Der Sieg des Judentums über das Germanentum von Wilhelm Marr als Kampfbegriff zum Schlagwort geworden und hat sich dann schnell auch in den anderen europäischen Sprachen verbreitet. Die Prägung dieses Begriffs markiert äußerlich den trotz vielfacher Überschneidungen deutlichen Unterschied zwischen der traditionellen Judenfeindschaft und ihrer modernen Metamorphose, welche erst aus der politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklung der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts erklärbar ist. Erst jetzt verschmolzen Rassentheorien (wie diejenige Gobineaus, der zwar die Ungleichheit der Rassen zum Thema seines Hauptwerks machte, aber von Antisemitismus noch entfernt war) mit der bisher religiös oder soziokulturell motivierten Judenfeindschaft zum eigentlichen Rassenantisemitismus. Der moderne Antisemitismus setzt historisch die grundsätzliche Lösung der Judenfrage durch die politische und soziale Gleichstellung der Juden voraus. Der Abschluss dieses Emanzipationsprozesses ist in Deutschland durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 3. Juli 1869 markiert, die zwei Jahre später
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zum Reichsgesetz erklärt wird. Erst im Jahr der Reichsgründung werden die letzten Ghettos geschlossen. Die antisemitische Bewegung seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die im endlich geeinten deutschen Reich natürlich Ausfluss des neuen nationalen Identitätsgefühls und der aus ihm resultierenden Abwehr von ,Fremdgruppen‘ ist, sucht den historischen Prozess der jüdischen Assimilation rückgängig zu machen, strebt die Juden wieder in eben die Separation zurückzudrängen, welche gerade der Erklärungsgrund für die traditionelle Judenfeindschaft gewesen ist. Wagners Aufsatz von 1850 steht auf der Grenze zwischen traditionellem Antijudaismus und modernem Antisemitismus. Unter dem vermeintlich aufklärerischen Vorwand, das Abstoßende der „jüdischen Erscheinung“ (Wagner 1911, Bd. 5, S. 69) aufdecken zu müssen, um zu einer Befreiung von „Selbsttäuschung“ gelangen zu können, beschreibt Wagner nun die Merkmale dieser Erscheinung, welche im Nichtjuden die „instinktmäßige Abneigung“ auslösen. Verräterischer Weise gibt Wagner in ein und demselben Satz zunächst vor, die Antipathie gegen Juden „erklären“ zu wollen, um dann zuzugestehen, die Erklärung diene dazu, „diese instinktmäßige Abneigung zu rechtfertigen [!], von welcher wir doch deutlich erkennen, dass sie stärker und überwiegender ist, als unser bewusster Eifer, dieser Abneigung uns zu entledigen“ (Wagner 1911, Bd. 5, S. 67). Die vorgeblich aufklärerische Methode dient also einem durch und durch antiaufklärerischen Ziel: der Rechtfertigung, nicht der Überwindung der ins Bewusstsein gehobenen Aversion gegen alles Jüdische. Letztere erhält von Wagner gewissermaßen eine moralische Unbedenklichkeitsbescheinigung. Berthold Auerbach hat in einer Aufzeichnung vom 2.5.1881 Wagner als den ersten bezeichnet, der „die Stirn hatte, in den Sphären der Bildungswelt offen und geradezu auszusprechen, er empfinde eine Idiosynkrasie gegen die Juden“, und ihnen „das Recht und die Fähigkeit absprach“, sich in der Kunst „schaffend zu erweisen“. Wagner „begann den kühnen Frevel an der Bildung und Humanität. Nach seinem Vorgange legten andere die sittliche Scham ab, sich offen zu Vorurteil, zu Haß und Verfolgung zu bekennen“. Nie zuvor habe „ein Künstler seinen Namen mit absolutem Judenhaß befleckt, und so gewiß Richard Wagner in der Geschichte der Kunst stehen wird […], so gewiß wird sich mit seinem Namen die traurige Kunst verbinden, die dazu gehört, der Vernunft und der Humanität ins Gesicht zu schlagen“ (Fischer 2000, S. 353f.). Wagner entwickelt in seinem Pamphlet ein durch und durch negatives Klischeebild der jüdischen Art: der abstoßenden äußeren Erscheinung des Juden, seiner in Artikulation und Syntax hässlichen Sprache, seiner leidenschaftslosen Rationalität, des Mangels genialer künstlerischer Produktivität, der „Fratze“ des jüdischen Gottesdienstes, insbesondere des Synagogengesanges (Wagner 1911, Bd. 5, S. 76) – merkwürdig demgegenüber seine spätere Rühmung von Jacques Halévys Jüdin,
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einer seiner Lieblingsopern, in der er besonders die Darstellung des Passahfestes als „besten Ausdruck des jüdischen Wesens“ preist (Cosima Wagner 1976/1977, Bd. 2, S. 970) – oder der genuinen Befähigung ausschließlich zum Geldgeschäft. Wagners Argumentationsziel ist es, das Scheitern, ja die Unmöglichkeit der echten Assimilation der Juden herauszustellen. Damit weist er unwiderleglich über die Grenzen des traditionellen Antijudaismus auf den modernen Antisemitismus voraus – von dem ihn andererseits das Fehlen einer ausgeprägt rassenideologischen Perspektive, die ausdrückliche Beschränkung auf die Betrachtung der Rolle des Judentums im modernen Kunstbetrieb und der Verzicht auf politisch-rechtliche Forderungen, welche der Emanzipation der Juden entgegenwirken würden, noch trennen. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die Kardinalthese des modernen Antisemitismus in Wagners Judentum-Aufsatz bereits in nuce enthalten ist: die Emanzipation hat nicht zur Aufgabe der Sonderstellung der Juden geführt, so die Argumentation des politischen Antisemitismus, sondern die Unterdrückung ist in Herrschaft umgeschlagen, die Juden haben sich (aufgrund ihrer rassischen Fremdheit) nicht wirklich assimiliert, sondern suchen als gleichbleibend geschlossene Gruppe Kultur, Wirtschaft und Politik zu monopolisieren. Diesem Prozess kann nach der Überzeugung des politischen Antisemitismus nur durch Aufhebung der Gleichberechtigung der Juden entgegengewirkt werden. Wagners Angriff gilt vornehmlich der Rolle der Juden in der Musik, deren Einfluss an dem verächtlich abgefertigten und nicht einmal mit Namen genannten Meyerbeer (seinem großmütigen Mentor, den er mit Undankbarkeit straft) und an der weit differenzierter gewürdigten „tragischen“ Gestalt Felix Mendelssohns demonstriert wird, welch letzterer bei aller musikalischen Begabung nie über einen epigonalen Formalismus hinausgekommen sei, da ihm die volkstümliche Basis gefehlt habe, aus dem allein das schöpferische, „Herz und Seele ergreifende“ Kunstwerk hervorgehe (Wagner 1911, Bd. 5, S. 79). Dass erst nach dem Tode Beethovens jüdische Komponisten so starken Einfluss auf das musikalische Leben ausüben konnten – Wagner will nicht wahrhaben, dass das mit der rasch fortschreitenden Emanzipation der Juden zusammenhängt –, wird von ihm erklärt durch die Erstarrung, „innere Lebensunfähigkeit“ der zeitgenössischen Musik im allgemeinen, in der sich nun fremde Elemente einnisten können wie – eine wiederholt für die Juden verwendete Metapher – Würmer in einer Leiche (Wagner 1911, Bd. 5, S. 84). Die zunehmende Bedeutung der Juden demonstriert also die „Unfähigkeit unserer musikalischen Kunstepoche“ (Wagner 1911, Bd. 5, S. 83), ja den unkünstlerischen Charakter der modernen Zivilisation überhaupt, deren „übles Gewissen“ das Judentum bilde (Wagner 1911, Bd. 5, S. 85). Das Judenthum in der Musik ist für Wagner nur das Paradigma einer depravierten, kunstfernen, bloß noch von Marktgesetzen bestimmten Zivilisation.
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Scheint Wagner bis zum vorletzten Absatz seines Pamphlets den Juden keine Chance zu lassen, in irgendein positives Verhältnis zur gegenwärtigen Menschheit treten zu können, so eröffnet er im Schlussabsatz eine bisher nicht vorbereitete und nur von der verborgenen Idee des „Kunstwerks der Zukunft“ her erklärbare Perspektive. Aus ihr ergibt sich nun doch ein spürbarer Gegensatz zum Antisemitismus der nächsten Jahrzehnte – wenn auch gerade aus den letzten Sätzen des Aufsatzes in der Wagner-Literatur unzulässig eine Brücke zum Genozid-Antisemitismus geschlagen worden ist. Wagner erinnert an Ludwig Börne: Aus seiner Sonderstellung als Jude trat er Erlösung suchend unter uns: er fand sie nicht und mußte sich bewußt werden, daß er sie nur mit auch unserer Erlösung zu wahrhaften Menschen finden können würde. Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für den Juden aber zu allernächst so viel als: aufhören, Jude zu sein (Wagner 1911, Bd. 5, S. 85).
Diese Formel vom ‚Aufhören, Jude zu sein‘ verbindet Wagner mit den Traktaten zur Judenfrage auch aus dem liberalen und sozialistischen Lager (etwa Karl Marx’ Schrift Zur Judenfrage, 1843), die allesamt auf die These hinauslaufen, die vollständige Emanzipation der Juden sei erst möglich, wenn sie ihre Sonderexistenz als Juden aufgäben. Wolle der Antisemit, so Jean-Paul Sartre, den Juden „als Menschen vernichten, um nur den Juden, den Paria, den Unberührbaren bestehen zu lassen“, so strebe der Liberale „ihn als Juden zu vernichten, um ihn als Menschen zu erhalten, als allgemeines abstraktes Subjekt der Menschen- und Bürgerrechte“ [Übersetzung aus dem Französischen – D. B.]. Diese menschen- und bürgerrechtliche Ansicht verwandelt Wagner in eine Erlösungsideologie. Aufhören, Jude zu sein, könne man nicht durch die bequeme äußerliche Assimilation an den Menschen der bestehenden Gesellschaft, sondern nur durch die Teilnahme der Juden am revolutionären Selbstvernichtungs- und Erlösungsprozess des gegenwärtigen, seiner wahrhaften Menschheit entfremdeten Menschen. Nun folgt in der ursprünglichen Fassung der Schrift der Appell an die Juden: „Nehmt rückhaltlos an diesem selbstvernichtenden blutigen Kampfe teil, so sind wir einig und untrennbar!“ In der Neuauflage von 1869 – eben dem Jahr, in dem die bürgerliche Gleichstellung der Juden durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes formell verankert wird – hat Wagner diesen Satz bezeichnend verändert: „Nehmt rückhaltlos an diesem, durch Selbstvernichtung wiedergebärenden Erlösungswerke theil, so sind wir einig und ununterschieden.“ Und er fährt fort: „Aber bedenkt, daß nur eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluch sein kann: die Erlösung Ahasver’s, – der Untergang!“ (Wagner 1911, Bd. 5, S. 85) Nicht nur von Selbstvernichtung (deren Freiwilligkeit bereits den Gedanken an eine physische Liquidation ausschließt) ist die Rede, sondern von Wiedergebärung, von Erlösung durch diese (Selbst-)Vernichtung – welche
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selbstverständlich nur ein symbolischer Akt ist, der eine mystische Umwandlung des ganzen menschlichen Wesens zur Folge haben soll. Durch sie wird der Jude erst zum wahrhaften Menschen – was der assimilierte Jude nicht sein kann, weil derjenige, an den er sich assimiliert, vom wahrhaften Menschen nicht weniger weit entfernt ist als er. Es kann kein Zweifel sein, dass diese quasi mystische Transsubstantiation des Juden, welche sich jenseits aller konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Erfahrung vollzieht, nichts anderes ist, als die Wirkung des ungenannten „Kunstwerks der Zukunft“. Allein dieses kann aus Wagners Sicht den Juden ‚erlösen‘, sofern er sich bedingungslos dem Selbstvernichtungsprozess unterwirft, der aus der depravierten Zivilisation zum utopischen Ideal jenes Kunstwerks hinführen soll. Von daher erklärt sich auch Wagners sonderbare Attraktion von Juden in seinem weiteren und engeren Wirkungs- und Lebenskreis, das zwischen Demütigung und Heilsangebot fluktuierende Ritual seines Umgangs mit seinen jüdischen Freunden, zumal mit seinem Parsifal-Dirigenten Hermann Levi. Joseph Rubinstein z. B. hat den Schluss des Judentum-Aufsatzes genau in dem hier erörterten Sinne verstanden, wenn er in seinem Brief vom Februar 1872 den Zugang zu Wagner sucht und die Bereitschaft, sich vollständig dem Bayreuther Unternehmen zu widmen, damit begründet, „daß die Juden untergehen müssen“ (WagnerArchiv Bayreuth). Der materialistische Philosoph und radikale Antisemit Eugen Dührung hat in seinem Buch Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage (1881) Wagners Erlösungsattitude gegenüber den Juden einer höhnischen Kritik unterzogen. Sie sei ein Zeichen dafür, „daß Herr Wagner sich selbst nicht hat von den Juden erlösen können“; gerade sie stünden „im Gefolge der Leier des Bayreuther Orpheus“, da sein Judentum-Aufsatz sie zu der Hoffnung berechtige, durch Anschluss an sein Werk „in eine höhere Geistessphäre erhoben“ zu werden „und daß auf diese Weise der Gegensatz ausgeglichen würde. Die zur Bayreuther Orphik beisteuernden Leute vom Judenstamme werden also hiermit von ihren Judeneigenschaften losgesprochen. Das ist mehr als Ablaß.“ Doch „was nicht einmal Christus erreicht“ habe, werde Wagner erst recht nicht gelingen: „die Juden von sich selbst zu erlösen“ (Dühring 1881, S. 74). In seinen Aufklärungen über das Judenthum in der Musik von 1869 hat sich Wagner, nicht ohne scheinheiligen Gestus, dagegen gewehrt, daß man ihm eine „für unsere aufgeklärten Zeiten so schmachvolle, mittelalterliche JudenhaßTendenz“ unterstellt habe (Wagner 1911, Bd. 8, S. 241). Von ihr glaubt Wagner sich – in Übereinstimmung mit dem „höheren Judenthum“ – durchaus frei. Die „Schlußapostrophe des Aufsatzes“ zeuge doch von einer für die Juden „hoffnungsreichen Annahme“: „Wie nämlich von humanen Freunden der Kirche eine heilsame Reform derselben […] als möglich gedacht worden ist, so faßte auch ich die großen Begabungen des Herzens wie des Geistes in das Auge, die aus dem
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Kreise der jüdischen Sozietät mir selbst zu wahrer Erquickung entgegengekommen sind“ (Wagner 1911, Bd. 8, S. 258). Wagner beschließt seine Aufklärungen mit einer auf die „Schlußapostrophe“ des Judentum-Aufsatzes zurückgreifenden – und seine scharfe Kritik am modernen Erscheinungsbild des Juden rechtfertigenden – Feststellung: solle das Judentum „uns in der Weise assimilirt werden, daß es mit uns gemeinschaftlich der höheren Ausbildung unserer edleren menschlichen Anlagen zureife“, so sei es freilich „ersichtlich, daß nicht die Verdeckung der Schwierigkeiten dieser Assimilation, sondern nur die offenste Aufdeckung derselben hierzu förderlich sein kann“ (Wagner 1911, Bd. 8, S. 260). Wagners Judenthum in der Musik ist nach seiner Wiederveröffentlichung im Jahre 1869 immer wieder vorgehalten worden, er greife mit dem Judentum seine eigenen intellektuellen und künstlerischen Grundlagen an: „Denn gestehen wir’s nur, mit dem Aufsatze Das Judentum in der Musik hat der humoristische Mensch nur eine genaue Charakteristik seiner selbst gegeben“, heißt es in einem Artikel des „Beobachters an der Spree“ vom 24. Mai 1869 (Tappert 1968, S. 56f.), in Übereinstimmung mit zahllosen anderen Polemiken gegen Wagner. Die „Eigentümlichkeiten und Schwächen“ seines eigenen Künstlercharakters entsprächen genau dem, so Gustav Freytag in seinem Aufsatz Der Streit über das Judentum in der Musik (1869), was er am jüdischen Künstlertum tadle. „Im Sinne seiner Broschüre erscheint er selbst als der größte Jude“ (Freytag 1869, S. 329f.) Wagner, „der tiefste Antisemit“, so später Weininger, sei „von einem Beisatz von Judentum, selbst in seiner Kunst, nicht freizusprechen“. Er mute „erst das Judentum in sich überwinden, ehe er die eigene Mission fand“ (Weininger 1980, S. 409). Wagners Judenfeindschaft ist offenbar die Nachwirkung seiner Pariser Notjahre 1839–1841. Der stark von Juden geprägte Pariser Kunstbetrieb, in dem er nicht reüssierte, die Demütigung durch ständige Misserfolge, die Konkurrenzspannung zu Meyerbeer, trotz oder gerade wegen der Protektion, die er ihm verdankte, die Verquickung eines tiefsitzenden Neidkomplexes mit frisch angelesener Ideologie: zumal dem von antijüdischen Akzenten nicht freien Gedankengut des französischen Frühsozialismus (Fourier, Toussenel, Proudhon) – all dies erklärt zu einem guten Teil die aufkeimende Idiosynkrasie Wagners gegen alles Jüdische. In Wagners Schriften nach 1850 spielt die Judenfrage (abgesehen von der Neuauflage des Judentum-Aufsatzes von 1850) nur noch eine periphere Rolle – ganz zu schweigen von seinem musikdramatischen Werk, in dem trotz gegenteiliger Spekulationen in der Wagner-Literatur der letzten Jahrzehnte keine philologisch dingfest zu machenden jüdischen Figuren oder antisemitischen Anspielungen auftauchen, weder in seinen romantischen Opern vor seiner antijüdischen ‚Wende‘ um 1850 noch in Ring, Tristan, Meistersingern und Parsifal (vgl. Danuser 2000). Das Thema des Judentums ist – abgesehen von der biblischen Gestalten-
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welt im Hintergrund der Meistersinger – allein für sein letztes Musikdrama: Parsifal von Bedeutung, das, wie von der jüngsten Forschung demonstriert, stark von Wagners Beschäftigung mit den jüdischen Geheimlehren zur Zeit des Urchristentums und der Kabbala geprägt ist (vgl. Hartwich 2000). Erst in seinen letzten Lebensjahren gewinnt die Judenfrage wieder an Bedeutung in Wagners Schriften und das hängt zweifellos mit der seit Wilhelm Marrs Pamphlet Der Sieg des Judentums über das Germanentum (1879) heftig um sich greifenden antisemitischen Agitation zusammen. Obwohl Wagner den Begriff des Antisemitismus nur in Anführungszeichen gebraucht und in seinem Brief vom 23.2.1881 an den Berliner Theaterdirektor Angelo Neumann, einen seiner zahlreichen jüdischen Freunde, bekundet, der „gegenwärtigen ‚antisemitischen‘ Bewegung“ stehe er „vollständig fern“, zeigen die Tagebücher Cosima Wagners doch, dass er die Anfänge der antisemitischen Agitation um 1880 nicht nur mit Aufmerksamkeit verfolgt, sondern sich immer wieder, wenn auch nicht immer mit ihren Zielen, so doch mit ihren ideologischen Prämissen identifiziert hat. Die genannte Schrift von Wilhelm Marr hat er sofort nach ihrem Erscheinen gelesen. Cosima vermerkt im Tagebuch vom 27.2.1879 über diese Broschüre, sie enthalte „Ansichten […], die, ach! Richards Meinung sehr nahe stehen“ (Cosima Wagner 1976/77, Bd. 2, S. 309). Die späteren antisemitischen Pamphlete Marrs – die ihm regelmäßig zugesandt wurden – hat er zumindest in einem Falle allerdings als „etwas sehr seicht“ empfunden (vgl. Cosima Wagner 1976/77, Bd. 2, S. 382 [14.7.1879]). Jedenfalls hat Wagner nahezu alle entscheidenden antisemitischen Publikationen gelesen, die um 1880 erschienen sind, ob es sich um die einschlägigen Schriften von Constantin Frantz, Paul de Lagarde, Wilhelm Marr oder Eugen Dühring u. a. handelt. Trotz mancher Skepsis hat er dem antisemitischen Schrifttum im Prinzip, seinen privaten Äußerungen zufolge, seine Zustimmung nicht versagt. Auch mit dem einflussreichsten politischen Repräsentanten der Bewegung: dem preußischen Hofprediger Adolf Stöcker hat er unverhohlen sympathisiert. Stöcker gründete 1878 die „Christliche-soziale Bewegung“, aus der 1880 die „Berliner Bewegung“ hervorging, die Keimzelle der in den nächsten Jahrzehnten aus dem Boden schießenden antisemitischen Parteien bis hin zur „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ (seit 1919). Stöcker entfachte eine zelotische Agitation gegen die „jüdische Vorherrschaft“ in Wirtschaft, Politik und Presse mit dem Ziel der Aufhebung der politischen Rechte der Juden. In seinen Gesprächen mit Cosima nimmt Wagner wiederholt positiv Stellung zu Stöckers Programm. „Ich lese eine sehr gute Rede des Pfarrers Stöcker über das Judentum“, schreibt Cosima am 11.10.1879 in ihr Tagebuch. „R[ichard] ist für völlige Ausweisung. Wir lachen darüber, daß wirklich, wie es scheint, sein Aufsatz über die Juden den Anfang dieses Kampfes gemacht hat“ (Cosima Wagner 1976/77, Bd. 2, S. 424). Hier
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wird also von Wagner selber sein Aufsatz über das musikalische Judentum als Initialzündung der antisemitischen Agitation ausgegeben. In den Tagebüchern Cosimas finden sich häufig freilich auch positive Worte über die Juden, wobei die Skala der Affirmation von ironischer Anerkennung bis zu unverhohlener Bewunderung reicht. Das betrifft zumal das antike Judentum, mit dem er durch August Friedrich Gfrörers mehrbändige Geschichte des Urchristentums (1838) bekannt wurde, die er in der Parsifal-Zeit eingehend studierte. Die Juden allein hätten „den Sinn für das Ächte sich bewahrt […] den die Deutschen so ganz verloren hätten“, bemerkt er einmal, weshalb „manche sich an ihn klammerten“ (Cosima Wagner 1976/77, Bd. 2, S. 829 [22.11.1881]). Als die Repräsentanten der ältesten Religion seien sie „doch die allervornehmsten“ (Cosima Wagner 1976/77, Bd. 2, S. 129 [2.7.1878]) – ein Gedanke, der auch in einem Gespräch über Joseph Rubinstein anklingt: „So ein Jude benimmt sich doch ganz anders wie wir Deutschen, sie wissen, ihnen gehört die Welt, wir sind dés hérités!“ (Cosima Wagner 1976/77, Bd. 2, S. 94 [15.5.1878]) Eine Anschauung, die in den Gesprächen mit Cosima ständig wiederkehrt, ist die, „daß die Juden mindestens 50 Jahre zu früh uns amalgamiert worden sind […] wir mußten erst etwas sein“, d. h. wir hätten erst selbst – nach so langer Abhängigkeit vom romanischen Vorbild – kulturell emanzipiert sein müssen (Cosima Wagner 1976/77, Bd. 2, S. 247 [1.12.1878]). So aber hätten die Juden „zu früh in unsere Kulturzustände eingegriffen“ und verhindert, „daß das allgemein Menschliche, welches aus dem deutschen Wesen sich hätte entwickeln sollen, […] auch dem Jüdischen zugute“ gekommen wäre (Cosima Wagner 1976/77, Bd. 2, S. 290 [13.1.1879]). „Wenn ich noch einmal über die Juden schriebe, würde ich sagen, es sei nichts gegen sie einzuwenden, nur seien sie zu früh zu uns Deutschen getreten, wir seien nicht fest genug gewesen, um dieses Element in uns aufnehmen zu können“ (Cosima Wagner 1976/77, Bd. 2, S. 236f. [22.11.1878]). Wagner hat aus seiner theoretischen Judenfeindschaft im Übrigen kaum Konsequenzen für seinen persönlichen Umgang gezogen, wie sein jüdischer Freundeskreis zeigt (zu dem u. a. Karl Tausig, Heinrich Porges, Joseph Rubinstein, Hermann Levi und Angelo Neumann gehörten). Trotz seiner vielfach privat geäußerten Sympathie mit der antisemitischen Bewegung hat Wagner eine offizielle Verteidigung ihrer Ziele konsequent vermieden, ja sich in dem erwähnten Brief an Angelo Neumann vom 23.2.1881 ausdrücklich von ihr distanziert. Als Bernhard Förster, einer der rüdesten Vertreter des politischen Antisemitismus zu dieser Zeit, 1880 eine „Massenpetition gegen das Überhandnehmen des Judentums“ initiiert, lehnt Wagner eine Unterschrift seinerseits ab (vgl. Tagebucheintrag Cosimas vom 16.6.1880). Wenn er sich in seinem Brief an Angelo Neumann von der „gegenwärtigen ‚antisemitischen‘ Bewegung“ distanziert, will er ihn sicher beruhigen, da durch die Gerüchte über eine antisemitische Bayreuther Aktion Neumanns großangelegte Berliner Theaterpläne
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gefährdet waren. Wagner hat freilich über derartige diplomatische Erwägungen hinaus Angelo Neumann gegenüber einen theoretischen Grund für seine Ablehnung der antisemitischen Bewegung genannt: „ein nächstens in den ‚Bayreuther Blättern‘ erscheinender Aufsatz von mir wird dies in einer Weise bekunden, daß Geistvollen es sogar unmöglich werden dürfte, mich mit jener Bewegung in Beziehung zu bringen“ (Brief Wagners an Angelo Neumann vom 23.2.1881). Es handelt sich hier um den Aufsatz Heldenthum und Christenthum (1881), in dessen Mittelpunkt der Gedanke einer Überwindung der Rassengegensätze steht. Man könne sich nicht davor verschließen, „daß das menschliche Geschlecht aus unausgleichbar ungleichen Racen besteht“ (Wagner 1911, Bd. 10, S. 275), heißt es zunächst unter Berufung auf Gobineaus Essai sur l’inégalité des races humaines (1853–1855). Und doch sei „beim Überblick aller Racen die Einheit der menschlichen Gattung unmöglich zu verkennen“; in dem sie konstituierenden Moment sei „die Anlage zur höchsten moralischen Entwicklung“ zu erfassen (Wagner 1911, Bd. 10, S. 276f.). Gegen die Ungleichheit der Rassen gibt es für Wagner ein „Antidot“, dessen Genuß gerade den „niedrigsten Racen“ – im Abendmahl als „dem einzigen ächten Sakramente der christlichen Religion“ – zur Gleichheit mit den höheren verhilft: das „Blut Jesu“ (Wagner 1911, Bd. 10, S. 283): Das Blut des Heilandes, von seinem Haupte, aus seinen Wunden am Kreuze fließend, – wer wollte frevelnd fragen, ob es der weißen, oder welcher Race sonst angehörte? Wenn wir es göttlich nennen, so dürfte seinem Quelle ahnungsvoll einzig in Dem, was wir als die Einheit der menschlichen Gattung ausmachend bezeichneten, zu nahen sein, nämlich in der Fähigkeit zu bewußtem Leiden (Wagner 1911, Bd. 10, S. 280f.).
Das ist indirekt gegen Gobineau gerichtet. „Gedenkt man des Evangeliums“, bemerkte Wagner bereits am 14. Februar 1881 – einen Tag, nachdem er, zunächst aus zweiter Hand, mit Gobineaus Essai bekannt wurde –, wisse man, „daß es auf etwas andres ankommt als auf Racenstärke“ (Wagner, Cosima 1976/1977, Bd. 2, S. 690). Trotz aller persönlichen Sympathie und Bewunderung für Gobineau protestiert er in den Gesprächen mit Cosima immer wieder gegen dessen fatalistischen Rassengedanken. So merkwürdig es heute klingen mag: Wagner war zwar Antisemit, aber kein Rassist, Gobineau hingegen Rassist, aber kein Antisemit. „Bei Tisch explodiert er förmlich zu Gunsten des Christlichen gegenüber dem Racengedanken“, heißt es am 2.6.1881 (Wagner, Cosima 1976/1977, Bd. 2, S. 744). Seine eigene Musik, sein Tristan ist in seinen Augen „die Musik für die Aufhebung aller Schranken, also auch der Racen“ (Wagner, Cosima 1976/1977, Bd. 2, S. 751). Das „Blut des Heilandes“ konnte als „göttliches Sublimat“ der „ganzen leidenden menschlichen Gattung […] nicht für das Interesse einer noch so bevorzugten Race fließen; vielmehr spendet es sich dem ganzen menschlichen Geschlechte“. So Wagner in Heldenthum und Christenthum (Wagner 1911, Bd. 10, S. 282f.). Im
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Geiste Jesu soll sich die Verwandlung der Menschheit von einem „natürlichen“, durch den Antagonismus der Rassen bestimmten Zustand zu einem „moralischen“ vollziehen, der die allgemeine Übereinstimmung der menschlichen Gattung verwirklicht (Wagner 1911, Bd. 10, S. 284f.).3 Vor diesem Hintergrund ist die widersprüchliche Haltung zum Judentum beim späten Wagner zu sehen. Einerseits kann er sich nicht von seiner grundlosen neurotischen Zwangsvorstellung einer Verfolgung seiner Person und seines Werks von jüdischer Seite befreien, sieht sich vielmehr in ihr durch die neue antisemitische Bewegung bestätigt, anderseits widerspricht diese Bewegung seiner Überzeugung von der Einheit des Menschengeschlechts und der bloßen ,Vorläufigkeit‘ des Rassengegensatzes. In dieser Überzeugung aber sieht er die Grundlage seines eigenen musikdramatischen Werks, das sich dergestalt über die antisemitische Obsession seines Autors erhebt.
2 Durchaus entgegensetzt entwickelte sich Nietzsches Verhältnis zum Judentum. Während wir beim frühen Wagner noch kaum antisemitische Spuren finden, die vielmehr erst nach seiner Pariser Zeit immer deutlicher zutage treten, sind Nietzsches Äußerungen aus seiner Bonner und Leipziger Studentenzeit durchaus Zeugnisse einer zeittypischen pauschalen Diskriminierung der Juden. So schreibt er in einem Brief an Mutter und Schwester vom 22. April 1866, er habe nun endlich mit Gersdorff eine Kneipe gefunden, „wo man nicht Schmelzbutter und Judenfratzen zu genießen hat, sondern wo wir regelmäßig die einzigen Gäste sind“ (KGB I/2, Bf. 502). Und am 18. Oktober 1868 bemerkt er, mit diesem Tage sei die Leipziger Messe zu Ende gegangen, „und damit sind wir von dem Fettgeruch und den vielen Juden glücklich erlöst“ (KGB I/2, Bf. 593). In der Zeit der Freundschaft mit Wagner bringt er das Jüdische in einen negativen Gegensatz zum „Germanischen“. Schon in seinem ersten Brief an Wagner vom 23. Mai 1869 ist von der „Atmosphäre einer ernsteren und seelenvolleren Weltanschauung“ im Umkreis Wagners die Rede, „wie sie uns armen Deutschen durch alle möglichen politischen Miseren, durch philosophischen Unfug und vordringliches Judenthum über Nacht abhanden gekommen war“. Und weiter heißt es: „Ihnen und Schopenhauer danke ich es, wenn ich bis jetzt festgehalten habe an dem germanischen (!) Lebensernst, an einer vertieften Betrachtung dieses
3 Diese Zusammenhänge sind am vorzüglichsten dargestellt bei Hartwich 1996, S. 297–323.
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räthselvollen und bedenklichen Daseins“ (KGB II/1, Bf. 4). Das „Judenthum“ wird für Nietzsche zur Gegenpartei Wagners schlechthin, der nicht nur Juden angehören. So schreibt er in einem Brief an Carl von Gersdorff vom 11. März 1870: „Unsern ,Juden‘ – und du weißt, wie weit der Begriff reicht – ist vornehmlich verhaßt die idealistische Art Wagners, in der er mit Schiller am stärksten verwandt ist“ (KGB II/1, Bf. 65). Nietzsche versteht das Judentum also nicht rassisch, sondern als negative geistige Macht, der sich auch Nichtjuden verschrieben haben, als die (materialistische) Gegenwelt zum „Idealismus“, dessen vorzügliche Repräsentanten für ihn Schiller und Wagner sind. Nietzsche ist freilich schon vor dem Ende seiner Freundschaft mit Wagner allmählich auf Distanz zu dessen Judenfeindschaft gegangen. Eine wichtige Rolle dabei hat der junge jüdische Philosoph Paul Rée gespielt, den Nietzsche 1873 in Basel kennengelernt hatte und zu dem sich eine immer engere Freundschaft entwickelte (die 1882 infolge der Ménage à trois mit Lou von Salomé zerbrach). In seinen nachgelassenen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1874 macht er Wagners Antisemitismus gar für das drohende Scheitern seines Bayreuther Unternehmens mitverantwortlich. Zu seinen Hauptfehlern gehörte, dass er „die Juden, die jetzt in Deutschland das meiste Geld und die Presse besitzen“, ohne Not „beleidigte“ (Borchmeyer/Salaquarda 1994, S. 492f). Mit der ‚Loslösung‘ von Wagner vollzieht sich endgültig die Trennung Nietzsches vom Antisemitismus. Durch Paul Rée ist er mit jenem Typus des gebildeten assimilierten Juden bekannt geworden, der ihm zum Vorbild eines kosmopolitisch-freien Geistes wird, zum Wegbereiter eines metanationalen Europäismus. „Ihre Gescheutheit hindert die Juden, auf unsere Weise närrisch zu werden: zum Beispiel national“, wird es in einer nachgelassenen Aufzeichnung vom Juli– August 1888 heißen: sie verfallen nicht leicht mehr unsrer rabies, der rabies nationalis. Sie sind heute selbst ein antidoton gegen diese letzte Krankheit der europäischen Vernunft. – Die Juden allein haben im modernen Europa an die supremste Form der Geistigkeit gestreift: das ist die geniale Buffonerie. Mit Offenbach, mit Heinrich Heine ist die Potenz der europäischen Cultur wirklich überboten (NL 1888, KSA, 13, S. 532).
Für die Bayreuther ist Nietzsches Freundschaft mit Rée umgekehrt ein Beispiel mehr für die verhängnisvolle Wirkung des Judentums, das nun auch Nietzsche in seinen Bann gezogen habe. Bereits am 1.11.1876, als Paul Rée bei Wagners in Sorrent zu Gast ist, nimmt Cosima in ihrem Tagebuch missfällig seine jüdische Herkunft zur Kenntnis, die Wagners aus seiner „Kälte“ – einem der typischen antisemitischen Klischees – folgern: „Abends besuchte uns Dr. Rée, welcher uns durch sein kaltes pointiertes Wesen nicht anspricht, bei näherer Betrachtung finden wir heraus, daß er Israelit sein muß“ (Cosima Wagner 1976/77,
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Bd. 1, S. 1012). Dass Rée hinter Menschliches, Allzumenschliches steckt, ist für sie später ein Faktum und sie können sich durch einen Aphorismus wie den 475 aus Menschliches, Allzumenschliches I – Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen – nur bestätigt fühlen. Hier konstatiert Nietzsche: das ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre Thatkräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und Willens-Capital, in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss, so dass die litterarische Unart fast in allen Nationen überhand nimmt – und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden –, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen (MA I, KSA 2, S. 309f.).
Dass Nietzsche hier auch und vor allem an Wagner und seinen verhängnisvollen Traktat Das Judenthum in der Musik (1850) gedacht hat, ist kaum zu verkennen. Bemerkenswert freilich, dass Nietzsche stets zwischen Wagner und den Wagnerianern unterscheidet, dass er auch ihn auf die Seite des Metanationalen hinüberzuziehen sucht. Das geschieht zumal in den Schriften nach Wagners Tod mehr und mehr. „Das Undeutsche an Wagner“ ist ein wichtiger Punkt in der Planskizze der nicht ausgeführten Wagner-Schrift vom Sommer 1878. Das ist hier freilich noch nicht ganz positiv gemeint, denn es wird folgendermaßen erklärt: „es fehlt die deutsche Anmuth und Grazie eines Beethoven Mozart Weber, das flüssige heitere Feuer (allegro con brio) Beethovens Webers, der ausgelassene Humor ohne Verzerrung“, und es fehle die „Bescheidenheit“, die „Goethisch[e]“ Ruhe gegenüber Nebenbuhlern (Borchmeyer/ Salaquarda, 1994, S. 776). Das alles sind für Nietzsche also deutsche Tugenden! Gerade die Tatsache aber, daß diese Tugenden Wagner fehlen, bringt seine Kunst aus Nietzsches Sicht den Juden besonders nahe. In einem Fragment vom Sommer 1878 heißt es: „Furchtbare Wildheit, das Zerknirschte Vernichtete, der Freudenschrei, die Plötzlichkeit, kurz die Eigenschaften, welche den Semiten innewohnen – ich glaube, semitische Rassen kommen der Wagnerischen Kunst verständnissvoller entgegen als die arische“ (NL 1878, KSA, 8, S. 549). Das Judentum bildet für Nietzsche seit Menschliches, Allzumenschliches ein Antidot gegen alle Arten von nationalistischem Chauvinismus, es wird ihm zum Wegbereiter eines europäischen Menschentums. Und zudem: der Jude ist ihm gerade aufgrund seiner ‚Heimatlosigkeit‘ der natürliche Bruder des Künstlers, des ‚Artisten‘. Mag das Judentum ein nationales Problem sein, ein europäisches ist es nicht – im Gegenteil. Europa braucht den Juden. Gewiss: jede Nation habe, wie auch jeder Mensch, „unangenehme, ja gefährliche Eigenschaften“, und „es ist grausam, zu verlangen, daß der Jude eine Ausnahme machen soll“. Obwohl Nietzsche auch vor herabsetzenden Charakterisierungen von Juden nicht zurück-
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scheut – so bezeichnet er den „jugendlichen Börsen-Juden“ als „die widerlichste Erfindung des Menschengeschlechts überhaupt“ –, rühmt er doch die Leidensstärke des jüdischen Volkes. Schließlich habe es „nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat“, und er hebt hervor, dass man diesem Volk „den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt“ (GM, KSA 5, S. 304). Ähnlich argumentiert er im Aph. 205 der Morgenröte: „Vom Volke Israel“ (M, KSA, 3, 180), der eindringlichsten Äußerung, die Nietzsche – ja man möchte fast sagen: das 19. Jahrhundert – zur Mentalitätsgeschichte des Judentums getan hat. Hier führt er die negativen Charakteristika der Juden auf die sie diskriminierenden Umstände zurück, insofern man sie „in die schmutzigeren Gewerbe hineinstiess“ (M, KSA, 3, S. 181). Doch ihre Ausgrenzung und Sonderstellung wird sich – so die Prophetie Nietzsches, die durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf furchtbare Weise widerlegt worden ist – in einem dialektischen Umschlag aus Fluch in Segen verwandeln: Zu den Schauspielen, auf welche uns das nächste Jahrhundert einladet, gehört die Entscheidung im Schicksale der europäischen Juden […] In Europa aber haben sie eine Schule von achtzehn Jahrhunderten durchgemacht, wie sie hier kein andres Volk aufweisen kann, und zwar so, daß nicht eben der Gemeinschaft, aber um so mehr den einzelnen die Erfahrungen dieser entsetzlichen Übungszeit zugute gekommen sind […] Jeder Jude hat in der Geschichte seiner Väter und Großväter eine Fundgrube von Beispielen kältester Besonnenheit und Beharrlichkeit in furchtbaren Lagen, von feinster Überlistung und Ausnützung des Unglücks und des Zufalls; ihre Tapferkeit unter dem Deckmantel erbärmlicher Unterwerfung, ihr Heroismus im spernere se sperni übertrifft die Tugenden aller Heiligen […] Zu alledem verstanden sie es, ein Gefühl der Macht und der ewigen Rache sich aus eben den Gewerben zu schaffen, welche man ihnen überließ (oder denen man sie überließ); man muß es zur Entschuldigung selbst ihres Wuchers sagen, daß sie ohne diese gelegentliche angenehme und nützliche Folterung ihrer Verächter es schwerlich ausgehalten hätten, sich so lange selbst zu achten. Denn unsere Achtung vor uns selber ist daran gebunden, daß wir Wiedervergeltung im Guten und Schlimmen üben können […] Inzwischen haben sie dazu nötig, auf allen Gebieten der europäischen Auszeichnung sich auszuzeichnen und unter den Ersten zu stehen: bis sie es so weit bringen, das, was auszeichnen soll, selber zu bestimmen. Dann werden sie die Erfinder und Wegzeiger der Europäer heißen und nicht mehr deren Scham beleidigen. Und wohin soll auch diese Fülle angesammelter großer Eindrücke, welche die jüdische Geschichte für jede jüdische Familie ausmacht, diese Fülle von Leidenschaften, Tugenden, Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen, Siegen aller Art, – wohin soll sie sich ausströmen, wenn nicht zuletzt in große geistige Menschen und Werke! Dann, wenn die Juden auf solche Edelsteine und goldene Gefäße als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europäischen Völker kürzerer und weniger tiefer Erfahrung nicht hervorzubringen vermögen und vermochten, wenn Israel seine ewige Rache in eine ewige Segnung Europas verwandelt haben wird: dann wird jener siebente Tag wieder einmal da
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sein, an dem der alte Judengott sich seiner selber, seiner Schöpfung und seines auserwählten Volkes freuen darf, – und wir alle, alle wollen uns mit ihm freun! (M, KSA 3, S. 180ff.)
Die besondere Mission des Judentums erblickt Nietzsche in der Tatsache, dass es Hüter und Bewahrer der Aufklärung ist. Im schon erwähnten Aph. 475 aus Menschliches, Allzumenschliches I begründet er das folgendermaßen: in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte und Aerzte, welche das Banner der Aufklärung und der geistigen Unabhängigkeit unter dem härtesten persönlichen Zwange festhielten und Europa gegenüber Asien vertheidigten (MA I, KSA 2, S. 310).
Sie hätten so wesentlich dazu beigetragen, „dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römischen Alterthums zusammenknüpft, unzerbrochen blieb“. Nicht also die Juden sind für Nietzsche „Asien“, sondern das mittelalterliche Christentum. „Wenn das Christenthum Alles getan hat, um den Occident zu orientalisiren, so hat das Judenthum wesentlich mit dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisieren“ (MA I, KSA 2, S. 310f.) Damit stellt Nietzsche das antisemitische Klischee auf den Kopf, das sich selbst der Jude Walther Rathenau zu Eigen gemacht hat, wenn er 1897 in seinem Artikel „Höre Israel!“ die orthodoxen Juden folgendermaßen kennzeichnet: „Inmitten deutschen Lebens ein abgesonderter fremdartiger Stamm […], auf märkischem Sand eine asiatische Horde“ (Rathenau 1987 [1897], S. 172). Die „Zukunft Europas“ ist für Nietzsche ohne die Juden undenkbar, denn sie seien „ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt“ (JGB, KSA 5, S. 193). Durch das Aufgreifen des Rassenbegriffs schlägt er die rassistischen Ideologen mit ihrer eigenen Waffe, so auch, wenn er sich im Aph. 377 der Fröhlichen Wissenschaft, mit dem Titel „Wir Heimatlosen“, dagegen wendet, „dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben können“ und bekennt: „Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach gemischt, als ‚moderne Menschen‘, und folglich wenig versucht, an jener verlogenen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht theilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt[…]“ (FW, KSA 3, 630). In Nietzsches Spätwerken bleibt die Einschätzung des Judentums als zentralen Faktors der europäischen Kultur zwar erhalten; andererseits rückt mit der immer schärfer werdenden Kritik des Christentums auch seine Basis: das Judentum, immer wieder in ein fragwürdiges Licht: mit ihm beginne „der SklavenAufstand in der Moral“ (JGB, KSA 5, S. 117). Das betrifft allerdings nicht die ursprüngliche jüdische Religion, deren alttestamentarischen Zeugnissen Nietz-
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sche voller Bewunderung gegenübersteht, sondern die Zeit des zweiten Tempels und der Priesterherrschaft. Dem Antisemitismus hat Nietzsche jedenfalls bis in seine „Wahnsinnbillette“ hinein rigoros den Kampf angesagt, wie zumal die Auseinandersetzungen mit seiner Schwester angesichts ihrer Ehe mit dem Antisemiten Bernhard Förster und seinen einschlägigen Aktionen belegen, ja er vertritt wiederholt die Ansicht, dass es „vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen“ (JGB, KSA 5, S. 194). Für Nietzsche sind die Antisemiten Menschen des Ressentiments und der Lüge – und „ein Antisemit wird dadurch durchaus nicht anständiger, dass er aus Grundsatz lügt“ (AC, KSA 6, S. 238).
3 Abschließend möchte ich eine zusammenfassende Kontrastierung der Beziehung Wagners und Nietzsches zum Judentum skizzieren. Diese beiderseitige Beziehung hätte sich kaum gegensätzlicher entwickeln können. Beide wachsen – mit der Zeitverschiebung einer Generation – in eine von selbstverständlichen antijüdischen Klischees geprägte bürgerliche Gesellschaft hinein: Antisemitismus als „Gesellschaftsspiel“ (Sartre). Diese Klischees werden in Wagners Jugend freilich noch deutlich überlagert von der aufklärerischen Bereitschaft des liberalen Bürgertums, den Juden ihre Emanzipation zu gönnen, ja diese zu protegieren. Wagner selbst schreibt in seinem Pamphlet Das Judenthum in der Musik, längst seien die Juden „auf dem Felde der Religion und Politik“ keine „hassenswürdigen Feinde“ mehr, und auf dem Felde der Gesellschaft „hat uns die Sonderstellung der Juden ebenso lange als Aufforderung zu menschlicher Gerechtigkeitsübung gegolten, als in uns selbst der Drang nach sozialer Befreiung zu deutlicherem Bewußtsein erwachte. Als wir für die Emanzipation der Juden stritten“ – Wagner macht sich durch dieses „wir“ zum Sprecher des „Liberalismus“ – „waren wir aber doch eigentlich mehr Kämpfer für ein abstraktes Prinzip, als für den konkreten Fall: […] denn bei allem Reden und Schreiben für Judenemanzipation fühlten wir uns bei wirklicher, thätiger Berührung mit Juden von diesen stets unwillkürlich abgestoßen“ (Wagner 1911, Bd. 5, S. 66f.). Also: Einerseits gibt es das Engagement für die „Gleichberechtigung der Juden“ (Wagner 1911, Bd. 5, S. 67), anderseits kann dieses abstrakte Engagement doch nicht die konkrete Abneigung gegen die Juden ausmerzen. Immerhin tritt diese beim jungen Wagner doch so weit zurück – schließt beispielsweise seine Sympathie und Verteidigungsbereitschaft für Heinrich Heine nicht aus –, dass man sagen darf: das „Judentum“ ist für ihn noch kein relevantes (negatives) Problem.
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In einer ganz anderen geschichtlichen Situation befindet sich eine Generation später der junge Nietzsche, der in die Entstehungszeit des militanten Antisemitismus hineinwächst. Seine diskriminierenden Äußerungen über Juden werden in der ersten Zeit der Bekanntschaft und Freundschaft mit Wagner ideologisch aufgeladen, wenn er sich in seinem ersten Brief an denselben vom 22. Mai 1869 den „happy few“ zurechnet, welche die „Atmosphäre einer ernsthafteren und seelenvolleren Weltanschauung“ teilen, die er – als germanische – durch das Vordringen des „Judenthum[s]“ bedroht sieht (KGB II/1, Bf. 4); mag hier auch eine Art ideologischer Gefälligkeit gegenüber Wagner eine Rolle spielen. Mit der Loslösung von Wagner vollzieht sich auch Nietzsches Trennung von seinem frühen unreflektierten Antisemitismus, die zwar nicht einfach durch jene Loslösung motiviert ist, aber unmittelbar mit ihr zusammenhängt; hat ihm doch Wagners Einstellung den Antisemitismus in seiner ganzen Inferiorität handfest offenbart. Hinzu kommt die Freundschaft mit Paul Rée, dem Repräsentanten eines hochgebildeten assimilierten Judentums, dessen Intellektualität ihm den Judenhass ad absurdum führte. Seit Menschliches, Allzumenschliches vollzieht sich eine grundsätzliche Wende in Nietzsches Verhältnis zum Judentum. Dieses wird ihm nun – wie schon der Titel des Aph. 475 zeigt: „Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen“, der eine der wichtigsten Würdigungen der Rolle des Judentums in Geschichte und Gegenwart bei Nietzsche darstellt (MA I, KSA 2, S. 309–311) – zum Antidot gegen alle Arten von nationalistischem Chauvinismus, zum Wegbereiter eines europäischen Menschentums, zum Garanten der bedrohten Aufklärung und Wahrer der Tradition des griechisch-römischen Altertums – gegen die „orientalisierenden“ Einflüsse des Christentums. Auch Wagner kennt und benennt in seinen „Aufklärungen über das Judenthum in der Musik“, die er der Wiederveröffentlichung seines Pamphlets im Jahre 1869 beigegeben hat, die diskriminierenden Umstände, unter denen die Juden in der europäischen Gesellschaft leben mussten und welche ihre negativen Eigenschaften hervorriefen, aber jene veranlassen ihn nicht, die Juden deshalb moralisch zu entlasten. Nietzsche ist wie Wagner ganz selbstverständlich von der Existenz und Verschiedenartigkeit menschlicher „Rassen“ überzeugt, aber er wehrt sich (wohl auch in Opposition zu Gobineau) gegen die „verlogene Rassen-Selbstbewunderung“ zumal in Deutschland, da der moderne Mensch nun einmal eine „gemischte“ Rasse ist (FW KSA, 3, S. 630). Anderseits nennt Nietzsche die Juden „die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt“ (JGB, KSA 5, S. 193). Obwohl Wagner den Rassenunterschied durch die – für ihn im Christentum gründende – Idee der Einheit der menschlichen Gattung für aufhebbar hält, hat ihn dies freilich nicht vor aggressiven antisemitischen Ressentiments bewahrt, während
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Nietzsche sich mehr und mehr zum Anti-Antisemiten entwickelt, der es für das Beste hält, „die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen“ (JGB, KSA 5, S. 194). In seinen späten Schriften problematisiert Nietzsche freilich auch im Zusammenhang mit seiner immer militanter werdenden Polemik gegen das Christentum die historische Rolle des Judentums als eines Vorreiters der christlichen „Umkehrung der Werthe“, welche in der Antike dominierten: Mit dem jüdischen Volk beginne der „Sklaven-Aufstand in der Moral“ (JGB, KSA 5, S. 117). Demgegenüber hat Wagner in der Zeit der Vollendung des Parsifal, in dem für Nietzsche jener Sklavenaufstand gewissermaßen kulminiert, dem Judentum zurzeit Christi erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. Die Grenzen zwischen Kritik am und Respekt vor dem Judentum sind bei Nietzsche wie Wagner unter unterschiedlichen Voraussetzungen und je nachdem, ob das antike oder moderne Judentum gemeint ist, nicht immer klar zu ziehen, obwohl an der Dominanz des Antisemitischen bei Wagner und der Sympathie für das Judentum bei Nietzsche nicht zu zweifeln ist.
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Nietzsches Siegfried oder: Das Motiv der Vatersuche als Ariadnefaden im Nietzsche/ Wagner-Labyrinth? [I]ch liebte nur den Wagner, den ich kannte, d. h. einen rechtschaffnen Atheisten und Immoralisten, der die Figur Siegfrieds, eines sehr freien Menschen, erfunden hat. (NL 1885, KSA 11, S. 491)
Die politische Geschichte um Wagners Siegfried scheint relativ überschaubar, ebenso wie die Gründe, die Siegfried nach 1870/71 „zur Symbolfigur des Deutschen im neuen, noch jungen Kaiserreich“ werden ließen: als „der Deutsche, der als ‚Zuspätgekommener‘ die politische Bühne betritt und sein ungelenkes, polterndes Auftreten als Ausdruck jugendlich-unbändiger Kraft verstanden wissen will“ (von See 2005, S. 141). Am Ende der damit eröffneten Reihe sitzt Siegfried unter dem Namen Adolf Hitler im Führerbunker und zerbeißt lustlos eine Zyankalikapsel, zugleich das Ende ‚des Deutschen‘ schlechthin markierend. Dies jedenfalls das Bild, das Joachim Köhlers (1997, S. 95ff.) brillante Darstellung dieser Zusammenhänge inspiriert. Was aber hat es eigentlich mit Nietzsches Siegfried auf sich? Ist er wirklich, wie der Antisemitenpate Theodor Fritsch offenbar meinte, ehe er sich im März 1887 eine entsprechende Abfuhr durch Nietzsche einhandelte (vgl. Niemeyer 2011, S. 56ff.), so ohne weiteres für die völkische Sache in Dienst zu stellen, gemäß des von Fritsch 1907 wiederholten, nun aber namensmäßig unbelegtem Kalküls auf „de[n] gewaltigste[n] Held aller Zeiten, de[n] eigentliche[n] Drachentöter, de[n] wahren Siegfried“, der die Judenfrage löst, „um wieder deutsches und arisches Leben zu ermöglichen“ (zit. nach: Pross 1959, S. 256)? Anders gefragt, gleichsam mit dem Abstand von zwei Weltkriegen und somit auch zwei ‚deutschen Katastrophen‘: Ist Nietzsche, kaum anders als Wagner, ein Steigbügelhalter des Faschismus? Zu denken gibt hier die als Motto vorangestellte Bemerkung Nietzsches. Denn vordergründig politisch klingt sie nicht. Im Übrigen: Folgt aus diesem Satz, dass Nietzsche jenen anderen, jenen politischen Wagner nicht liebte? Oder nicht kannte? Oder nicht wirklich kennen wollte? Also: Dass er ihn am liebsten vergessen gemacht, deutlich: verdrängt hätte, wenn nicht gar: verdrängt hat?
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Um auf diese schwierigen Fragen sinnvoll antworten zu können, muss man die Geschichte wohl etwas anders, etwas psychologischer erzählen als üblich – etwa als Geschichte des Drachentöters Siegfried, der den sich ihm als Ersatzvater anbiedernden Schmied Mime tötet und schließlich Erlösung findet in den Armen des von ihm erlösten Traumweibs Brünnhilde, eine Szene, die durchaus als eine, in selbsttherapeutischer Absicht von Wagner verfasste, gelesen werden darf. Vorauszusetzen ist dabei, dass, so Franz Strunz, das „Trauma des Verlusts“ das Wagners Leben „beherrschende, allerpersönlichste Leitmotiv“ (Strunz 1986, S. 560) gewesen ist, wie beispielhaft die von Cosima Wagner dokumentierten über vierhundert (Alp-)Träume Wagners offenbaren. Denn der Sache nach geht es hierbei immer wieder um die Vision der „Erlösung des unbegünstigten Helden durch ein liebendes Weib“ (Strunz 1986, S. 560). Wagners von Nietzsche beklagte späte Rückkehr zum Christentum gewinnt ausgehend von diesem Erlösungsmotiv weniger den Charakter einer „religiösen Erlösung“ denn das Merkmal einer „Erlösung von Allein-, Ausgeliefert-, Ungeborgen-, Unerkanntsein in diesem Leben und ihre Aufhebung in einer mütterlichen Protektorin“ (Strunz 1986, S. 562). Noch spannender ist ein anderes, damit zusammenhängendes Motiv: das der Vatersuche, wobei hier nur ein Aspekt erwähnt sei: der Umstand, dass sich die von Marc Weiner (2000) überzeugend als Judenkarikatur dechiffrierte Figur des angeblichen Siegfried-Vaters Mime auch so interpretieren lässt, als habe Wagner hiermit seinem Stiefvater Ludwig Geyer ein (fragwürdiges) Denkmal setzen wollen (vgl. Niemeyer 1998, S. 124ff.). Nicht absehen kann man in diesem Zusammenhang von Ludwig II., seit Oktober 1864 (für zunächst drei Jahre) gleichsam der Sponsor Wagners. Ende November 1865 wird er, schwer traumatisiert von seinem 1864 verstorbenen Vater, von seinem ihm gegenüber mitunter als „erziehender Vater“ auftretenden Idol Richard Wagner darüber in Kenntnis gesetzt wird, es gelte, zwei wichtige Figuren im Umfeld des Königs, die zwischen beiden unter den Chiffren ‚Mime‘ und ‚Fafner‘ abgehandelt wurden, zu entlassen, damit, wie Verena Naegele formulierte, „Siegfried-Ludwig endlich Brünnhilde-Deutschland erwecken konnte“ (Naegele 1995, S. 350). Auf Vorarbeiten wie dieser aufbauend, hatte Wagner keine Sorge, vom König richtig verstanden zu werden, als er ihm mitteilte: „Ich kann und darf nicht weitergehen als der hoffende Wanderer und das gutgelaunte Waldvöglein. Da steht er! Seht den Holden, den Kühnen! Vertraut ihm! Schon hält er das selbstgeschmiedete Schwert am Griff. Der Ekel wird ihm den Augenblick der That eingeben!“ (Wittelsbacher Ausgleichs-Fond 1936, Bd. I, S. 224) Ludwig antwortete wie erhofft: „Siegesgewißheit und Freude spricht aus Ihrem Brief; jubelnd und muthentbrannt will ich dem tückischen Mime und Fafner entgegeneilen, unter Jauchzen will ich sie besiegen“ (Wittelsbacher AusgleichsFond 1936, Bd. I, S. 228). Soweit kam es dann zwar nicht mehr – vielmehr musste Wagner München Ende 1865 aufgrund des Bekanntwerdens von derlei Aktivitä-
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ten verlassen – , aber der Befund ist auch so kaum abweisbar: Wagner nutzte im Fall Ludwigs dessen Vaterübertragung skrupellos für politische Absichten aus, und nichts gibt Anlass zu der Vermutung, dass er dies nicht auch im Fall Nietzsche unter anderen Vorzeichen zu wiederholen beabsichtigte. Dies also ist meine These, die ich im Folgenden erläutern möchte, mit der Pointe – drittens –, dass Nietzsche, dieser Vaterübertragung wegen, die politische Problematik Wagners und der Siegfriedfigur erst verzögert und im Ergebnis unzulänglich erkannte. Dabei ist vorab daran zu erinnern (vgl. Niemeyer 2011, S. 63ff.), dass Nietzsche Wagner und dessen Musik zunächst durchaus skeptisch gegenüberstand, um ihm dann umso heftiger zu verfallen, mit dem Ergebnis von peinlichen Bekenntnissen wie dem folgenden (aus einem dann doch nicht verwendeten Entwurf eines Wagner gewidmeten Vorworts für die Geburt der Tragödie vom Februar 1871): „Nun wünschte ich nichts mehr, als daß mir einmal […] ein Wesen von zürnender Hoheit, stolzestem Blick, kühnstem Wollen, ein Kämpfer, ein Dichter, ein Philosoph zugleich [begegne], mit einem Schritte, als ob es gälte über Schlangen und Ungethüme hinweg zu schreiten“ (NL 1871, KSA 7, S. 353). Soll man hier ergänzen: ein Wesen wie Wagner also, eine Art Super-Siegfried oder Vor-Übermensch, der den Gegentypus zum „Unmensch ohne Rast und Ziel“ (NL 1871, KSA 7, S. 331) zur Vollendung treibt und Nietzsche inspiriert, die „[k]ünstlerische Erfüllung der germanischen Begabung“ (NL 1870/1872, KSA 7, S. 241) voranzutreiben? Die Frage ist rhetorisch, und auch über den Zeitpunkt, an dem diese Verwandlung Nietzsches hin zum unkritischen, auf Wagners Aktivismus vertrauenden Wagnerianer sich erstmals andeutet, scheint kaum Streit möglich: Es war jener Abend im November 1868, an dem Nietzsche im Hause Brockhaus in Leipzig Wagner vorgestellt wurde und über den er seinem Freund Erwin Rohde ausführlich Bericht erstattete, kaum in Zweifel lassend, dass die Erhebung Wagners in den Rang eines Ersatzvaters durch Nietzsches Vision beschleunigt worden sein dürfte, dass so ungefähr wie Wagner auch sein eigener, gleichfalls 1813 geborener Vater hätte werden können, wenn er nicht in jenem Jahr (1849) gestorben wäre, in dem der damalige Revolutionsanhänger Wagner noch gegen den Absolutismus zu Felde zog, als dessen Anhänger sich Nietzsches Vater begriff. – Die weitere Entwicklung, insbesondere Nietzsches Berufung nach Basel und die dadurch erleichterten Besuche Nietzsches in Tribschen betreffend, kann als bekannt vorausgesetzt werden, nur an einige im Zusammenhang des verhandelten Themas besonders wichtige Daten sei erinnert. So bestimmt Wagner Nietzsche im Juni 1870, anlässlich von Siegfrieds (Fidi) erstem Geburtstag (der „Gedächtnisstag Ihres ersten Aufenthaltes in meinem Hause“) als „Wächter über diese Angedenken an mich“ (Bf. an Nietzsche, 4.6.1870, KGB II/2, Bf. 106). Zwei Jahre später legte er nach: „Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn den mir das Leben zugeführt: nun kommt zwar glücklicher Weise noch Fidi dazu; aber zwischen dem und mir bedarf es eines Gliedes, das nur sie bilden können, etwa wie der Sohn zum Enkel“ (Bf. an Nietzsche,
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25.6.1872, KGB II/4, Bf. 333). Dies war die gleichsam offizielle Erhebung Nietzsches in den Rang eines – zugleich als Nachlassverwalter bestellten – Ersatzsohnes, ausgesprochen auf dem Höhepunkt der Beziehung beider. Nietzsche blieb dabei nichts schuldig, wie sein Brief zu Wagners 61. Geburtstag zeigt: „So feiere ich Ihren Geburtstag auch zur Feier meiner Geburt“ (Bf. an Wagner, 20.5.1874, KGB II/3, Bf. 365) – der zweiten geistigen Geburt Nietzsches, wie man noch ergänzen muss im Rückblick auf seinen 1867er Dank an Ritschl, ihn „zum Philologen geboren“ (BAW, Bd. 3, S. 300) zu haben. Freilich: Dieser zweite Nietzsche war noch keineswegs der ‚wahre‘ Nietzsche, wie dieser selbst im Übrigen schon längst ahnte. Ein interessantes Dokument dazu ist ein Brief Nietzsches, in dem es zunächst mutig heißt: „Ich wünschte mir so oft wenigstens den Anschein einer größeren Freiheit und Selbständigkeit […]“, ehe der fügsame Ersatzsohn dem Rebellen in den Arm fällt und den Satz fortführt: „…aber vergebens. Genug, ich bitte Sie, nehmen Sie mich nur als Schüler“ (Bf. an Wagner, 18.4.1873, KGB II/3, Bf. 304). Wagner wusste diese Hilflosigkeit Nietzsches mit großer Instinktsicherheit zu konservieren und nahm ihn dabei in eine Art „Schule der Unterwerfung“ (Köhler 1996, S. 62). Unzufriedenheit fungierte dabei offenbar als ‚Erziehungsmaxime‘. So klagte Nietzsche: „Gott weiß übrigens, wie oft ich dem Meister Anstoß gebe: ich wundere mich jedes mal von Neuem und kann gar nicht recht dahinter kommen, woran es eigentlich liegt“ (Bf. an Carl von Gersdorff, 2.3.1873, KGB II/3, Bf. 298). Ängste dieser Art – in der Regel basierend auf Auftritten ähnlichen Charakters – befielen Nietzsche in der Folge in schöner Regelmäßigkeit (vgl., Förster-Nietzsche 1897, S. 178f.) und finden einen wohl letztmaligen Niederschlag in den Entwürfen für (an die Wagners adressierte) Begleitschreiben vom Juli 1876 zu Richard Wagner in Bayreuth (vgl. Niemeyer 2011, S. 111ff.). In der Summe spricht vieles für die Annahme einer 1868 anhebenden Vaterübertragung Nietzsches auf Wagner, die ihn in (geistiger) Abhängigkeit hielt und nicht zu einem authentischen Sprechen kommen ließ. Die Folgen sind in Nietzsches Frühwerk zu besichtigen: Es dient in vielen Passagen der Einverständniserklärung gegenüber dem, der von ihm die Mitwirkung an der Errichtung eines geistigen Überbaus für sein eigenes Streben erwartete: eben Wagner. Dessen Siegfried kommt dabei besondere, gleichsam Initial gebende Bedeutung zu. „Als ich das letzte Mal dort [in Tribschen – C. N.] war“, so protokollierte Nietzsche im August 1869 mit bedeutungsschwangerem Unterton, „wurde Wagner gerade fertig mit der Composition seines ‚Siegfried‘ und war im üppigsten Gefühl seiner Kraft“ (Bf. an Erwin Rohde, 15.8.1869, KGB II/1, Bf. 22). Über ein Jahr später besteht erneut Anlass zur Freude: „Zu Weihnachten“, so jubelte Nietzsche via Naumburg, „bekam ich ein prachtvolles Exemplar des ‚Beethoven‘ […] und – etwas ganz Einziges – das erste Exemplar vom Klavierauszuge des ‚Siegfried‘ erster Act, eben fertig geworden“ (Bf. an Franziska und
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Elisabeth Nietzsche, 30.12.1870, KGB II/1, Bf. 116). Dass beide Geschenke und die ihnen unterliegende Verpflichtung auf Wagners geistiges Erbe ambivalent waren, deutet der Umstand an, dass sich Nietzsche noch im Oktober 1872 sicher ist, die kompositorische Unterlegung der ambivalenten Danksagung Brünnhildes („Verwundet hat mich, der mich erweckt!“) an ihren sie mit seinem Schwert befreienden, quasi-deflorierenden Helden Siegfried bei seinem ersten Besuch in Tribschen im Mai 1869 vom Garten aus heimlich belauscht zu haben (Bf. an Richard Wagner, 15.10.1872, KGB II/3, Bf. 260). Dies ist vermutlich eine nachträgliche Mystifikation (vgl. Janz 1978, S. 294f.), die dartun sollte, schon damals habe ihm das Waldvöglein Wagner gewarnt, die ihm zu verdankende geistige ‚Erweckung‘ werde nicht ohne langfristig zutage tretende ‚verletzende‘ Folgen von statten gehen. Dessen ungeachtet entschließt sich Nietzsche, vorerst nur die ‚erweckte‘ Habensseite in Betracht zu ziehen, wie die im März 1872 auch in Tribschen mit großer Aufmerksamkeit (vor-)gelesenen Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten zeigen, in dessen zweiten sich die Wendung findet: Was […] sich jetzt mit besonderem Dünkel „deutsche Kultur“ nennt, ist ein kosmopolitisches Aggregat, das sich zum deutschen Geiste verhält, wie der Journalist zu Schiller, wie Meyerbeer zu Beethoven: hier übt den stärksten Einfluß die […] ungermanische Civilisation der Franzosen […]. Mit dieser angeblich deutschen, im Grunde unoriginalen Kultur darf der Deutsche sich nirgends Siege versprechen (BA, KSA 1, S. 690).
Zu beachten ist hier vor allem der antisemitische Geheimcode (‚Journalist‘; ‚Meyerbeer‘), der auf Nietzsches Vertrautheit auch mit Wagners, 1869 neu aufgelegtem, Pamphlet Das Judentum in der Musik verweist und der sich auch in Nietzsches Geburt der Tragödie wiederfindet, etwa, wenn er die „lange Entwürdigung“ tadelt, „unter der der deutsche Genius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienste tückischer Zwerge lebte“ (GT, KSA 1, S. 154). Für den Eingeweihten war hiermit erkennbar, dass Nietzsche sein Einverständnis mit Wagners Absicht bekundet hatte, den Ring des Nibelungen als Moritat auf die Unterdrückung des ‚deutschen Genius‘ Siegfried durch die jüdischen ‚tückischen Zwerge‘ Mime und Alberich aufzubereiten – eine Zielsetzung, der Wagner auch treu blieb, als er in „Erkenne dich selbst“ (1881) nachtrug, der Ring des Nibelungen müsse als Kommentar zur „Kunst des Geldmachens aus Nichts“ und insoweit zu dem Umstand verstanden werden, dass „unsere ganze Zivilisation ein barbarisch-judaistisches Gemisch ist, keineswegs aber eine christliche Schöpfung“ (Wagner 41907 [1881], Bd. X, S. 268). Angesichts von derlei Äußerungen ist es absurd und wohl nur vom Zweck der Freisprechung Wagners inspiriert, wenn Nietzsche in Ecce homo seine Empörung, die ihn 1876 zur Abwendung von Wagner geführt habe, mit den Worten erklärt (vgl. Niemeyer 2013, S. 106ff.):
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Man hatte Wagner ins Deutsche übersetzt! Der Wagnerianer war Herr über Wagner geworden! – Die deutsche Kunst! der deutsche Meister! das deutsche Bier! …Wir Andern, die wir nur zu gut wissen, zu was für raffinirten Artisten, zu welchem Cosmopolitismus des Geschmacks Wagners Kunst allein redet, waren ausser uns, Wagnern mit deutschen „Tugenden“ behängt wiederzufinden (EH, KSA 6, S. 323f.).
Dies klingt wunderbar, geradezu rührend, nur: Wer die Details kennt – sei es nur die der spezifisch ‚Bayreuther‘ Nietzscherezeption (vgl. Ferrari Zumbini 1990) – , weiß, dass es Wagners Deutschtumsvision war und nicht die der Wagnerianer, die hier als kausal zu setzen ist, ein Zusammenhang, um den Nietzsche als intimer Zeuge der Tribschener Vorgänge wusste, die er sich nun allerdings, in Ecce homo gleichsam auf sein Leben und Werden zurückschauend, nicht mehr einzugestehen getraut. Weit ist der Weg von diesem allein noch an Autohagiographie interessierten Nietzsche (vgl. Niemeyer 2013, S. 88ff.) zurück zu jenem kühlen Spötter aus der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches II, der Wagner noch mit dem souveränen Urteil ad acta legte, seine Art der „Aneignung der altheimischen Sagen“ stünde für „den allerletzten Kriegs- und Reactionszug […] gegen den Geist der Aufklärung“ (VM, KSA 2, S. 451). Immerhin: Damals findet Nietzsche mit seiner aus Gründen des bei ihm anhebenden Anti-Antisemitismus erklärbaren Abwendung von Wagner (vgl. Niemeyer 2011, S. 115ff.) auch zu einer neuen Lesart des Rings und damit des Siegfried. Der Höhepunkt dessen ist zwei Jahre nach Wagners Tod erreicht, mit dem im Motto dieses Artikels bereits angeführten Bekenntnis. In ähnliche Richtung weist auch der Aph. 256 von Jenseits von Gut und Böse (1886), vor allem aber Der Fall Wagner (1888): Nietzsche betont nun, erkennbar in Nachbearbeitung seines Versuchs, die „Siegfried-Caricatur“ (NL 1885, KSA 11, S. 592) Parsifal (und dessen Schöpfer) unter den Vorzeichen des Verfalls zu deuten, dass Wagner Siegfried als „typische[n] Revolutionär“ konzipiert habe, dessen Abkunft aus Ehebruch und Blutschande für eine „Kriegserklärung an die Moral“ zeuge und in dessen Liebe zu Brünnhilde sich „die Götterdämmerung der alten Moral“ (WA, KSA 6, S. 19f.) zur Anzeige brächte – um dann nachzutragen, dass Wagner diese Idee letztlich nicht in Einklang mit seinem SchopenhauerVerständnis habe bringen können. Schon sechs Jahre zuvor, in Die fröhliche Wissenschaft (1882), hatte Nietzsche der Substanz nach ganz ähnlich geredet und diagnostiziert, Wagners „ganze Kunst“ habe sich „als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerschen Philosophie“, nicht aber als ein solches „der menschlichen Erkenntniss und Wissenschaft“ (FW, KSA 3, S. 455) geben wollen – ein Fehler, wie der Leser lernen soll; und ein Auftrag, wie man erkennen kann, insofern kaum verhüllt die Aufforderung im Raum steht, Wagners Kunst daraufhin zu testen, unter welchen Umständen sie als Seitenstück seiner [Nietzsches] Philosophie – ein, wie man sagen darf, bis dato (und wohl auch
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seitdem) unerreichter Höhepunkt in Sachen ‚menschlicher Erkenntnis und Wissenschaft‘ – in Betracht komme. Spätestens an dieser Stelle freilich scheint ein Einwand unabweisbar. Denn von Nietzsches Philosophie zu reden – zusammengehalten auch noch, um nur dies zu nennen, durch die im Zarathustra exponierte Lehre vom Übermenschen –, fällt manchem Nietzscheforscher (vgl. Stegmaier 2009, S. 20f.) heutzutage schwer. Freilich: Darf man ihn eigentlich einfach so ignorieren – Nietzsches Stolz gerade auf diese Schrift? Bände spricht Nietzsches geradezu drängender Appell gegenüber einem Freund: „Laß Dich durch die legendenhafte Art dieses Büchleins nicht täuschen: hinter all den schlichten und seltsamen Worten steht mein tiefster Ernst und meine ganze Philosophie“ (Bf. an Carl von Gersdorff, Ende Juni 1883, KGB III/1, Bf. 427). Nimmt man noch Nietzsches Ärger hinzu über sein Image als „neuer unmöglicher unvollständiger aphoristischer Philosophus“ (Bf. an Paul Rée, Ende August 1881, KGB III/1, Bf. 144), wird es nicht überraschen, dass es ihm um Entkräftung dieses für ihn verheerenden Images ging – und sei es dadurch, dass er seine Philosophie in ihrer Besonderheit als sachkundigen Kommentar zu Wagners Kunst entwickelte: „Erst meine Philosophie ist recht dafür“ (NL 1882, KSA 9, S. 685), lautete der diesbezüglich Auftrag vom Sommer 1882. Was dies im Einzelnen hieß und erforderte, verdeutlicht ein Nachlassvermerk von 1885, der dahingehend lesbar ist, dass nur Nietzsches Philosophie geeignet sei, Siegfried als „Figur […] eines sehr freien Menschen“ (NL 1885, KSA 11, S. 491) auszulegen. Von hier ist es nicht weit bis zur ‚Figur‘ des Übermenschen, dessen zentrale Eigenschaften bereits in den klagenden, rhetorischen Fragen an das Bayreuther Publikum von 1876 anklingen: „Wo sind […] die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich Wachsenden und Blühenden, die Siegfriede unter euch?“ (WB, KSA 1, S. 509) Deutlicher: Schon diese Vokabeln zeigen, dass sich Nietzsche nun nicht länger als Verfechter jener in der Geburt der Tragödie (1872) noch mitgetragenen völkischen Utopie Wagners versteht, sondern fast ausschließlich der Aufklärung verpflichteten Vokabeln Auftrieb gibt, erkennbar die Pointe vorbereitend, auf die Nietzsches vielfältige und nicht immer ganz einfach auf ein Leitmotiv zu bringende Erläuterungen zum Übermenschen, recht verstanden (vgl. Niemeyer 2011, S. 163ff.), zulaufen: Es geht darum, dem Menschen in der Logik einer neu zu begründenden „Theorie vom ‚freien Willen‘ […] ein Anrecht [zu] schaffen, sich für seine hohen Zustände und Handlungen als Ursache denken zu dürfen“ (NL 1888, KSA 13, S. 308). Bedenkt man diesen Nietzsche at it’s best vom Frühjahr 1888, sollte man Nietzsches Siegfried aus der sechzehn Jahre älteren Tragödienschrift, jenen „Führer“, dem am „‚Wiederbringen‘ aller deutschen Dinge“ (GT, KSA 1, S. 149) gelegen war, besser in den Orkus werfen. Vielleicht kann man einiges an ihm Nietzsches Vaterübertragung auf Wagner in Rechnung stellen.
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Christian Niemeyer
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IV. Das Kunstwerk der Zukunft
Andreas Rupschus
Der Nutzen des Effekts Meyerbeer als Referenzpunkt von Nietzsches Kritik an Wagners Instrumentarium der Täuschung Giacomo Meyerbeer wird von Nietzsche nur selten ausdrücklich erwähnt. Er scheint ihn auch nie sonderlich geschätzt, ja bereits vor seiner Bekanntschaft mit Wagner entschieden abgelehnt zu haben.1 Wie sich durch kontextuelle Untersuchungen zeigen lässt, bildet sein Werk dennoch über Jahre hinweg immer wieder einen verborgenen Hintergrund für Nietzsches Auseinandersetzung mit Wagners Kunst. Nietzsches Analyse von Wagners Beziehung zu Meyerbeer kreist dabei um Wagners berüchtigten Vorwurf an ihn, seine Musik sei nur Effekt. Diese insbesondere in Wagners theoretischem Hauptwerk Oper und Drama entwickelte Kritik am prägenden Opernkomponisten seiner Zeit muss daher zunächst in ihren Grundzügen rekapituliert werden, ehe ihrer Rezeption und sukzessiven Umwertung durch Nietzsche nachgegangen werden kann.
1 Wagners Kritik an Meyerbeer Den entscheidenden Schritt hin zu dem bedauernswerten Ist-Zustand der Kunstform Oper, über den der Leser im ersten Teil von Oper und Drama versichert werden soll, habe, so Wagner, Rossini getan: Sei es Gluck noch auf die „lebendige Rede“ angekommen, in der allein er „eine Rechtfertigung für die Melodie fand“, war „diese Rede“ „seit Rossini […] gänzlich durch die absolute Melodie aufgezehrt“ (Wagner 1983, S. 90). Rossini hatte angesichts der „inneren Widersprüche
1 Während er sich über eine Aufführung der Hugenotten 1865 in Köln nur unbestimmt äußert (Bf. an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 2.2.1865, KGB I/2, Bf. 460), ist sein Urteil über Meyerbeers letzte Oper L’Africaine deutlich negativ: „Die Afrikanerin […] habe ich auch gesehen, die Musik ist bedauerlich schlecht, die Personen sehen abscheulich aus, und man glaubt nach Beendigung des Stückes lebhaft an die Abstammung des Menschen vom Affen […] wenn man mir Freibillete schenkt, ich gehe nicht wieder hinein“ (Bf. an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 29.5.1866, KGB I/2, Bf. 507; auch Bf. an Hermann Mushacke, 27.4.1866, KGB I/2, Bf. 504) Gleichwohl scheint er die Oper im Laufe des Jahres 1866 mehrfach gesehen zu haben (Bf. an Carl von Gersdorff, Ende August 1866, KGB I/2, Bf. 517). Siehe auch Anm. 8.
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des ganzen Genres“ das Drama der Melodie geopfert. Meyerbeer aber trieb es in Wagners Augen noch weiter. Er, der, so Wagner, „[a]ls Jude […] keine Muttersprache [hatte], die mit dem Nerve seines innersten Wesens untrennbar verwachsen gewesen wäre“, sei „gegen den Geist jeder Sprache“ gleichgültig und gerade dadurch fähig gewesen, sich „ihr Äußerliches mit leichter Mühe […] zu eigen zu machen“, ohne je in ihr Inneres vordringen zu können (Wagner 1983, S. 89f.). Dieses Unverständnis für Wesen und Bedeutung der Sprache habe dazu geführt, dass er es sich nicht, wie Rossini, „in der prächtigen Opernkutsche […] eben recht musikalisch bequem und melodiös behaglich“ machen konnte, „unbekümmert darum, wie und wohin der wohlgeübte Kutscher“, d. h. der Dichter, „den Wagen lenkte“. Vielmehr fiel er, so Wagner, „dem Kutscher selbst in die Zügel“, „um durch das Zickzack der Fahrt das nötige Aufsehen zu erregen“ (Wagner 1983, S. 95). Eben in diesem vom Komponisten ausgeübten „Zwang“ liege der Grund, dass der sonst so verständige Librettist Eugène Scribe „für Meyerbeer den ungesündesten Schwulst, den verkrüppeltsten Galimathias, Aktionen ohne Handlung, Situationen von der unsinnigsten Verwirrung, Charaktere von der lächerlichsten Fratzenhaftigkeit“ verfertigt habe. Denn Meyerbeer habe keine von Scribes üblichen, „mit vielem natürlichen Geschick ausgeführte[n] dramatische[n] Dichtungen“ gewollt, sondern ein „dramatisches Wirrwarr“ (Wagner 1983, S. 96f.). Nicht die „wirklich dichterische[] Situation“ (Wagner 1983, S. 103) rege Meyerbeers Musik an, sondern sie sei im Gegenteil auf die Abwesenheit stimmiger dramatischer Situationen hin kalkuliert. Denn erst vor diesem leeren Hintergrund sei der „vollste Triumph“ der „ungeheuer bunt gemischten Phrase“ denkbar gewesen, die Meyerbeer aus seinem Repertoire von abgeschauten musikalischen Ideen anderer Komponisten verfertigt habe (Wagner 1983, S. 91 und S. 98). Das „Mittel des Ausdruckes“ war hier ganz zum Selbstzweck geworden, die „Absicht des Dramas“ nicht nur nicht mehr zu erkennen, sondern nicht einmal mehr vorhanden (Wagner 1983, S. 105). Diese Aufhebung des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, die nur noch eine „Wirkung ohne Ursache“ zurücklasse, brachte Wagner auf den Begriff Effekt (Wagner 1983, S. 98).2
2 Es ist hinlänglich nachgewiesen, dass die bis heute wirkenden zentralen Motive der Meyerbeer-Kritik des 19. Jahrhunderts, die Wagner in Oper und Drama und Das Judenthum in der Musik verdichtet hat, sich auf außermusikalische, antisemitische Gemeinplätze beschränken (vgl. Dahm 2007, S. 96–118). Dies betrifft auch den zur Abklassifizierung Meyerbeers verwendeten Effektbegriff, der, so Dahlhaus 1979, S. 38f., eine bloß polemische, moralisierende, aber keine musiktheoretisch analytische Dimension habe. Über Entwicklung und biographische Hintergründe von Wagners Kritik an Meyerbeer: Linhardt 1998 und Döhring 2000.
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2 N ietzsches Rezeption von Wagners MeyerbeerKritik in der Zeit seiner Wagnerverehrung In Nietzsches frühem Denken hinterließ Wagners, aus seiner Charakteristik Meyerbeers erwachsener und wesentlich an ihn gekoppelter Begriff des Effekts, den er zum Symbol für „das Wesen der modernsten Oper“ stilisierte (Wagner 1983, S. 102), deutliche Spuren. Nietzsche, der vor seiner Bekanntschaft mit Wagner „Effekt“ stets nur in einer positiven oder neutralen Bedeutung gebraucht hatte3, übertrug die negative Symbolik des Effekts auf verschiedene Themengebiete seiner in Wagners Namen betriebenen Kulturkritik: Er nutzte sie für seine Analyse der Degeneration des tragischen zum theoretischen Menschen und schrieb in GT Euripides gleichsam die Rolle eines antiken Meyerbeer zu, indem er, dessen durch die Brille Wagners gesehenen Charakter auf den griechischen Dichter projizierend, ihn eine „in einem höhern Sinne […] durchaus unmusikalische Natur“ nannte, die „aus eben diesem Grunde leidenschaftlicher Anhänger der neuen dithyrambischen Musik“ gewesen sei und „mit der Freigebigkeit eines Räubers alle ihre Effectstücke und Manieren“ verwendet habe (GT, KSA 1, S. 113; vgl. Schmidt 2012, S. 330; vgl. NL 1870, KSA 7, S. 193). Andererseits nutzte Nietzsche sie, um die in seinen Augen eklektische, unfruchtbare, unoriginale deutsche Kultur der Gegenwart im Ganzen zu kritisieren (vgl. Rupschus 2013, S. 21–29). So prangerte er den „wirkliche[r] ächte[r] deutsche[r] Bildung“ (DS, KSA 1, S. 161) entgegengesetzten „tönenden Effekt der Bildungsworte“ des Bildungswesens seiner Zeit an (BA, KSA 1, S. 698) und warf David Friedrich Strauss vor, sein Buch Der alte und der neue Glaube entspringe nicht aufrichtigen philosophischen und theologischen Intentionen, sondern einer kühlen Berechnung „ästhetische[r] Effectmittel“, die durch „Kontrast[e]“ im formalen Aufbau inhaltliche „Helle und Vernünftigkeit“ fingieren wolle (DS, KSA 1, S. 215; vgl. NL 1873, KSA 7, S. 650). Der Vorwurf des bewusst eingerichteten „Zickzack[s]“ um der sachlich unbegründeten Wirkung willen, den Wagner gegenüber Meyerbeer erhebt (Wagner 1983, S. 95), ist hier repliziert. Dass Nietzsche mit seiner Adaption von Wagners Weltanschauung im Allgemeinen wie seiner Meyerbeer-Kritik im Besonderen deren antisemitische und antikosmopolitische Gehalte übernahm, sei hier nicht verschwiegen, ohne dass in diesem Zusammenhang näher darauf eingegangen werden kann (vgl. Rupschus 2013, S. 21–24).
3 Vgl. Bf. an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 27.9.1864, KGB I/2, Bf. 445; Bf. an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 24./25.10.1864, KGB I/2, Bf. 449; Bf. an Hermann Mushacke, KGB I/2, Bf. 586.
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Die operntheoretische Negativfolie, die sich Wagner aus Meyerbeer zurechtgemacht hatte, führte also in Nietzsches Texten der frühen 1870er Jahre eine erstaunliche Schattenexistenz, entwickelte aber, vorerst wenigstens, noch kein signifikantes Eigenleben, sondern blieb ganz die Kreatur ihres ursprünglichen Schöpfers Wagner. Diese Diagnose trifft auch auf Richard Wagner in Bayreuth zu, wo sich die letzte ausdrückliche Erwähnung Meyerbeers in Nietzsches veröffentlichtem Werk findet. Nietzsche hält sich dort ganz an Wagners Darstellung aus Eine Mitteilung an meine Freunde und Oper und Drama: Wagner habe zunächst die „grosse Oper als sein Mittel“ gesehen, „durch welches er seinen herrschenden Gedanken ausdrücken könnte“, ehe er sich über das „überaus künstlich gesponnene Gewebe von Beeinflussungen aller Art“ klar geworden sei, mit dem „Meyerbeer jeden seiner grossen Siege vorzubereiten“ gewusst habe. So sei er, „von beschämter Erbitterung“ ergriffen, „zum Kritiker des ‚Effectes‘“ und erst in diesem radikalen Bruch mit allem, wofür Meyerbeer stand, wahrhaft Musiker und Künstler geworden (WB, KSA 1, S. 473f.). Die Forschung hat gezeigt, dass die vierte UB ein letzter und vergeblicher Versuch Nietzsches war, Wagner für sich zu retten, indem er diesem seine eigenen, längst von denen Wagners divergierenden Auffassungen unterschob, jedoch in so raffinierter Verfugung mit Auslegungen von und Zitaten aus dessen eigenen Schriften, dass Wagner es gar nicht merken und so quasi zu einem neuen Bild von sich selbst überredet werden sollte (Montinari 1978; Rupschus 2013, S. 40–43). Zu diesem Verfahren gehörte es, dass Nietzsche offensichtliche Abweichungen von und kritische Äußerungen über Wagners eigene Doktrin, die sich in den Entwürfen zu Richard Wagner in Bayreuth häufig finden, im finalen Text fortließ. Auch was die Erörterung der Beziehung Wagners zu Meyerbeer angeht, spricht der Nachlass eine andere Sprache als der in dieser Passage weithin Wagner reproduzierende veröffentlichte Text. In der Oper, so Nietzsche in einer Vorstufe, „wollte man den Effekt und war ehrlich genug dazu, fern von der vornehmen Gleißnerei, welche die ‚Würde der effektlosen Kunst‘ vertritt; da bekam man allmählich eine ganze große Summe von Effekten d. h. von verständlichen symbolischen Formen“ (NL 1875, KSA 8, S. 199f.). Das kam einer vollkommenen Umkehrung von Wagners Auffassung gleich, der im Effekt gerade das Verlogene und das bewusst Unverständliche und erst in dieser Unverständlichkeit Anziehende, weil Mysteriöse sah. Noch auffälliger ist jedoch das positive Potential, das Nietzsche dem später in WB dann wieder dezidiert abwertend konnotierten Effekt zuschreibt, wenn er anfügt, „nun“ könne „ein Genie kommen“, „sich ihrer [der Effekte] bemächtigen“ und sie „zum Ausdruck des Höchsten und Edelsten“ umdeuten. In dieser Interpretation sah es plötzlich nicht mehr so aus, als hätte sich Wagner von Meyerbeers Effekten ganz verabschiedet – sondern vielmehr so, als habe er diese geläutert, umgewertet und künstlerisch zur Vollendung geführt. Nietzsche hat offenbar klar gesehen, dass die damit angedeu-
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tete Kontinuität zwischen den Werken Meyerbeers und Wagners über den Rienzi hinaus nicht Wagners Selbstbild entsprechen konnte. So verwundert es nicht, dass er die entsprechenden Abschnitte nie veröffentlicht hat.4
3 D er Effekt als Begriff für die Unterwerfung der Musik unter den Text Dass Meyerbeers und Wagners Kunst mehr miteinander zu tun hatten als Wagner lieb sein durfte, davor konnte Nietzsche die Augen offenbar bereits zu einem Zeitpunkt, da er noch die auftretenden Divergenzen zwischen sich und Wagner überbrücken wollte, nicht mehr verschließen. War er im zitierten Notat von 1875 noch bemüht, die gerade in der Handhabung des Effekts sich zeigende Linie zwischen Meyerbeer bzw. der Großen Oper im Ganzen und Wagner zu verklären, bestand dafür nach dem Bruch mit ihm kein Anlass mehr: 1878 wirft er Wagner in einem Notat vor, er habe sich durch die Verlockungen des „Effekt[s]“ von dem gemeinsam verfolgten ästhetischen Programm abbringen lassen (NL 1878, KSA 8, S. 541). Nietzsche würde von diesem besagten Programm, das er an gleicher Stelle als „eine sich mit dem Drama deckende Symphonie“ beschrieb, später selbst abrücken. Davon hingegen, den pejorativen Effektbegriff Wagners auf Wagner selbst rückzuspiegeln, rückte er nicht mehr ab. Dies bleibt eine immer wieder aufscheinende Konstante seiner Wagnerkritik. So heißt es 1885: {Die} sklavische[] Unterthänigkeit des […] {Künstlers vor seinem Publikum} […] sind {ist} aus der Musik heraus {vielleicht} schwerer zu erkennen, aber sie […] {steckt […] um so tiefer darin u gründlicher darin.}. In einer später von ihm gestrichenen Passage hatte Nietzsche hieran angefügt: zb. b{B}ei R. W. welcher vor dem „Publikum der großen Pariser Oper“ usw mit Meyerbeerschen Effekten auf dem Bauche lag (NL 1885, KGW IX/1, N VII 1, S. 167f.; vgl. NL 1885, 34[42], KSA 11, S. 433).5
Zu diesem Zeitpunkt hatte Nietzsche für sich längst eine ganz eigene Theorie zur Entwicklung der Oper im 19. Jahrhundert aufgestellt, die insbesondere die von
4 Unter der Hand hatte Nietzsche bereits in HL angedeutet, dass ein produktiver Effekt-Begriff denkbar und zumal bei Wagner denkbar sei (vgl. Rupschus 2012). 5 Bereits 1883/84 hatte er notiert: „Wag n e r – französischer Cultus des Grässlichen und der grossen Oper“ (NL 1883/84, KSA 10, S. 646). Bei Zitaten nach KGW IX werden Durch- und Unterstreichungen als solche kenntlich gemacht und nachträgliche Einfügungen Nietzsches in geschweiften Klammern wiedergegeben.
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Wagner gezogene Linie von Rossini zu Meyerbeer infrage stellte. War für Wagner der Effekt in den Opern Meyerbeers das zur willkürlichen, anlasslosen Kompilation verzerrte Extrem der absoluten Melodie Rossinis, wurde die absolute Melodie in Nietzsche Augen statt zum tertium comparationis gerade zum Distinktionsmerkmal Rossinis und Meyerbeers. Rossinis „Geringschätzung des Wortes“ hatte Nietzsche in FW 80 ausdrücklich als für die Oper einzig vernünftigen Standpunkt gelobt, denn, so Nietzsche unter bewusster Umkehrung der Argumentation von Oper und Drama (Vgl. Wagner 1983, S. 90), „es liegt Nichts an den Reden!“ (FW, KSA 3, S. 436).6 Der Großen Oper hingegen lag Nietzsche zufolge, ganz anders als Wagner behauptet hatte, sehr viel an diesen Reden, und gerade daraus, nicht etwa aus der Geringschätzung des Librettos, erklärte sich für ihn ihr Hang zum Effekt. „{Es scheint mir}“, so notierte sich Nietzsche 1885, „Wagner bringt noch einmal den französ. Geschmack zum Übergewicht über den italianisirenden […] d. h. über Mozart, Haydn, Rossini, Bellini {Mendelsohn)} aber den {es ist der} Geschmack Frankreichs von 1830: die Litteratur Herr geworden über die Musik […]. ‚Programm-musi‘, das ‚sujet‘ voran!“ (NL 1885, KGW IX/4, W I 3, S. 70f.; vgl. NL 1885, KSA 11, S. 539). Die Tradition der italienischen Oper, wie sie insbesondere der von ihm bis zuletzt verehrte Rossini repräsentierte, wird hier explizit abgetrennt von dem „Geschmack Frankreichs von 1830“. Mit diesem Geschmack waren gewiss auch Aubers La Muette de Portici von 1828 und Berlioz’ Symphonie fantastique gemeint, die 1830 Premiere feierte. Aber mindestens ebenso sehr gemeint war der, die Pariser Musikkultur dieser Zeit für Wagner und nicht nur für Wagner mehr als jeder andere verkörpernde, Meyerbeer7 und konkret dessen Oper Robert le Diable, deren Premiere 1831 einhellig als Zeitenwende der Kultur- und Operngeschichte wahrgenommen wurde und von der Nietzsche aus seiner Jugend nachweislich zumindest Auszüge kannte.8 Inwiefern aber konnte Nietzsche davon reden, dass
6 Nietzsches Lob für Rossini dokumentiert die zunehmend kritische Haltung gegenüber Wagners, aus seiner Musikdrama-Konzeption folgenden, Ablehnung ‚absoluter Musik‘ in der Oper. Dazu Kropfinger 1985, S. 5–8, der schon in GT eine Distanz zwischen Nietzsche und Wagner konstatiert, und Georg-Lauer 2011, S. 89–104. 7 Diese Deutung deckt sich mit einem späten Notat, in dem „der Romantiker-Ehrgeiz […] der dreißiger Jahre Frankr.“ explizit mit Meyerbeer assoziiert wird (NL 1888, KGW IX/9, W II 6, S. 126). 8 So berichtet Nietzsche am 7. Juli 1862 seiner Schwester über den Besuch eines Konzerts, in dem auch die „Gnadenarie“ auf dem Programm stand (KGB I/1, Bf. 323). Es handelt sich um die Arie der Isabelle aus dem 4. Akt von Robert le Diable, nicht, wie stattdessen der Nachbericht KGB I/4, S. 201, angibt, um „die Arie der Fides aus Der Prophet von Giacomo Meyerbeer, Akt 5, Szene 1“. Auch am 27. Oktober 1868 wurde in einem Leipziger Konzert, das Nietzsche besuchte, eine Arie aus Robert le Diable gegeben (Bf. an Erwin Rohde, KGB I/2, Bf. 596 und Nachbericht,
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Meyerbeer die Musik der „Litteratur“, dem Text, d. h. der jeweiligen dramatischen Situation unterordnete, wo doch Wagner das Gegenteil behauptete? Dieses von Nietzsche, einen Terminus Berlioz’ aufgreifend und ins Negative wendend, „Programmmusik“ genannte Verfahren lässt sich durchaus wie eine (freilich wenig gewogene) Umschreibung genau jener für Meyerbeer so charakteristischen Form des Ideendramas verstehen, die der Komponist mit Robert erstmals realisiert hatte. Die Musik war präzise abgestimmt auf das seinerseits von den Librettisten Eugène Scribe und Germain Delavigne unter engster Zusammenarbeit mit Meyerbeer minutiös entworfene dramatische „sujet“, wie Nietzsche es nannte.9 Meyerbeer hatte damit das Konzept des Musikdramas, der untrennbaren Einheit von Musik und Text, vorweggenommen. Gerade das machte ihn zum Vorläufer nicht nur der frühen, sondern auch der reifen Werke Wagners.10 Wenn aber die „Litteratur“ in der Großen Oper und später bei Wagner „Herr über die Musik“ geworden war, so bedeutete dies, dass der Denker Wagner immer Herr über den Musiker Wagner bleiben musste. Gerade dies könnte die Pointe einer Bemerkung Nietzsches sein, die er gleichfalls 1885 notierte und mit der er bezeichnenderweise auf eine, wiederum Meyerbeer aufs Korn nehmende, Passage der Einleitung von Oper und Drama (Wagner 1983, S. 17) anspielte: Den Denker Wagner müsse man sich „mit einer qualmenden Fackel in der Hand, begeistert und eben über einen Stein stolpernd“, vorstellen. „Wenn Wagner ‚denkt‘, stolpert er.“ In der Logik einer Herrschaft des Textes über die Musik konnte dies für den Musiker Wagner nichts Schmeichelhaftes bedeuten, wenn Nietzsche auch einräumte, dieser Musiker Wagner gehe „uns“, anders als der Denker, durchaus noch an (NL 1885, KSA 11, S. 555).
KGB I/4, S. 525). Ob Nietzsche nach dem Bruch mit Wagner nochmals in Oper oder Konzert mit Meyerbeers Werken in Kontakt kam, ist nicht bekannt. Über den enormen Widerhall, den der in vielerlei Hinsicht (etwa in Bezug auf die Geschichte des Balletts) revolutionäre und nachhaltig prägende Robert auslöste: Everist 1994, S. 211–214, Jackson 2011, S. 91–106, jeweils mit weiterführender Literatur. 9 Meyerbeers entscheidende Rolle für die ideelle Konzeption und Gestaltung der Libretti seiner Opern haben am Beispiel von Les Huguenots nachgewiesen: Becker 1981 und Miller 1985. 10 Wagner war sorgsam darauf bedacht, diesen Umstand unkenntlich zu machen. Seine moralisierende, insbesondere an Le Prophète exemplifizierte Anschuldigung, Meyerbeer habe Scribe zu sinnlosen Libretti voller leerer Worthülsen gezwungen, die den bloßen Vorwand für „kuriose[ ] Musik“ bildeten (Wagner 1983, S. 95–97, S. 101), ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Für eine scharfe Kritik an Wagners unhaltbarer Aburteilung der dramatischen Qualität von Le Prophète (vgl. Dahlhaus 1979, S. 38).
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4 D er meyerbeersche Effekt als Schlüssel zum Verständnis des Schauspieler-Genies Wagner Von einem Begriff zur Beschreibung musikalischen Selbstzwecks war Nietzsche der Effekt zum Begriff der Unterwerfung der Musik unter den Text geworden. Dabei war eine weitere Konzeptualisierung des Effekts in den Hintergrund gerückt, zu der Nietzsche bereits 1874 erste Gedanken entwickelt, dann aber nicht weiterverfolgt hatte. Schon damals hatte er geschrieben, Wagner habe begriffen, „daß der Effekt, den die ganze Oper macht“, nicht etwa „aus einer Menge von einzelnen Effekten zusammen addirt sei, zu denen jede Kunst“, die Musik wie das Drama, „eine völlig gleiche Zahl beigesteuert habe“, sondern dass im Gegenteil „eine große Schauspielerin“ wie Wilhelmine Schröder-Devrient auch „eine unbedeutende Musik und ein oberflächliches, marionettenhaftes Theaterstück durch ihr Spiel zu der Wirkung tragischer Größe“ zu bringen vermöge (NL 1874, KSA 7, S. 788; auch NL 1874, KSA 7, S. 756). Diese Wagner zugeschriebene Einsicht, dass nicht der musikalische oder dramatische Gehalt, sondern allein die Form der Aufführung es sei, die den Effekt einer Oper hervorrufe, würde Nietzsche über ein Jahrzehnt später aufgreifen, im Kontext eines Problems, das ihn mit der Zeit immer stärker beschäftigt hatte: dem Problem des Schauspielers Wagner.11 Während jedoch im NL 1874 der Primat des Performativen ein Phänomen war, das Wagner an Opern anderer – z. B. denjenigen des von ihm verachteten Meyerbeer – beobachtet und durchschaut hatte, wird es nun prägend für Wagners Werke selbst: Schon in FW 368 charakterisiert Nietzsche die „Praxis“ des „Theatermensche[en] und Schauspieler[s]“ Wagner folgendermaßen: „‚die Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist immer nur ihr Mittel‘“ (FW, KSA 3, S. 617; vgl. bereits NL 1885, KSA 11, S. 453). Im Umfeld von Der Fall Wagner schließlich koppelt er diesen Zug von Wagners Kunst wieder an dessen Abhängigkeit von Meyerbeer. Zwar würden im finalen Text von Der Fall Wagner nur implizite Anspielungen daran erinnern, dass man zum Verständnis Wagners immer auch nach seinen Wurzeln in der Kunst Meyerbeers fragen musste. Wagner sei es nur um „die Wirkung, […] Nichts als die Wirkung“ gegangen, heißt es so in WA 8, unter deutlichem Verweis auf die berüchtigte „Wirkung ohne Ursache“ (WA, KSA 6, S. 31). In einer umfangreichen Vorstufe hingegen hatte Nietzsche das „Schauspieler-Genie“ Wagner (WA, KSA 6, S. 30) explizit zum gelehrigen Schüler Meyerbeers gemacht. Von Musik ist dort bezeichnenderweise überhaupt nicht
11 Zum Problem der Schauspielerei im Denken Nietzsches: Stegmaier 2012, S. 326–351, zum Schauspieler Wagner: Rupschus 2013, S. 162–169.
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die Rede. Das „Entscheidende“ an „der Wagnerschen Künstlerschaft“ sei etwas anderes: „der Histrionismus, {das in-Scene-Setzen}, die Kunst […] der étalage[,] mise en scène, […] das Genie des Histrionismus, des {des Vortragens, Vorstellens, und} Nachmachens von Genre, Kunst – Darstellens, Bedeutens, Scheinens“ (NL 1888, KGW IX/9, W II 6, S. 127; vgl. NL 1888, KSA 13, S. 408). Wagners Kunst als „Kunst […] der étalage“, als nur auf die äußerliche Form bedachte Schaufensterkunst jenseits dramatischer wie musikalischer Rechtfertigung – mit dieser Diagnose reichte Nietzsche abermals einen Vorwurf, den Wagner Meyerbeer gemacht hatte, an Wagner weiter: Die „mise en scène“, die Inszenierung samt Bühneneffekten und Bühnenbild, spielte für Meyerbeers Ideendrama, das sich zur Eröffnung eines philosophischen Reflexionsraums sämtlicher dramaturgischer, musikalischer und eben auch theatertechnischer Mittel bediente, eine eminente Rolle.12 Wagner hatte in Oper und Drama am Beispiel der Bühnen-Sonne, die er im dritten Akt der Pariser Inszenierung von Le Prophète während der berühmten Arie des Jean hatte aufgehen sehen, Meyerbeers gezielten Einsatz von Theatertechnik als „Meisterstück der Mechanik“ verspottet, das dem „Auge“ die Illusion einer gar nicht vorhandenen dramatischen „Bedeutung“ vorgaukle (Wagner 1983, S. 101). Derselbe Wagner nun hatte, so Nietzsche, auch diese „Meyerbeerschen Mittel“, „sammt allem, was durch M. errungen war“ (NL 1888, KGW IX/9, W II 6, S. 126f.), aufgenommen, und zwar nicht bloß, wie Wagner selbst meinte, im Frühwerk, von dem er sich später distanzierte, sondern auch in seinen späteren Werken (Nietzsche nennt „Lohengrin, Tristan, Parsival“, NL 1888, KGW IX/9, W II 6, S. 127).13
12 Zu Meyerbeers Konzept des Ideendramas: Döhring/Henze-Döhring 1997, S. 144–164 und S. 217–223. 13 Die Verbindung zwischen Meyerbeer und Wagner lag für zeitgenössische Beobachter klar zutage. Dabei war umstritten, ob Meyerbeers Einfluss eher im frühen Werk Wagners, wie Rienzi oder Tannhäuser, zu merken (Hanslick 2000, S. 109f.) oder auch Wagners reifes Schaffen deutlich von Meyerbeer geprägt war (so zumindest für den Aspekt der Leitmotivik August Wilhelm Ambros in seinen Culturhistorischen Bildern aus dem Musikleben der Gegenwart von 1865: vgl. Sommer 2012, S. 55). Die neuere Forschung hat das Fortwirken nicht allein von Meyerbeers Musiksprache, sondern von seinem dramatischen System noch in Wagners Spätwerken bestätigt, bis hin zur Beeinflussung der Bühnenbilder der Götterdämmerung durch diejenigen von Le Prophète (vgl. Döhring/Henze-Döhring 1997, S. 144, S. 147, S. 153, S. 260–267).
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5 Schluss: Nietzsches Umwertung des Effekts Bei aller Kritik sprach aus Nietzsches Analyse beider ‚Effekt-Genies‘ doch auch eine nicht zu verkennende Bewunderung: Die Würdigung der Errungenschaften Meyerbeers („[…] was durch M. errungen war“) und die Anerkennung der „Begabung“ Wagners, die zudem, wie Nietzsche positiv hervorhebt, keine „deutsche“ Begabung war, sondern über den Lehrmeister Meyerbeer dem kosmopolitischen „Genie Frankreichs“ entsprang (NL 1888, KSA 13, S. 408; vgl. NL 1888, KGW IX/9, W II 6, S. 127). Diese eigentümliche Spannung zwischen Kritik und Anerkennung kam nicht von ungefähr: Nietzsche war klug genug zu wissen, dass er selbst ein ebenso großer Schauspieler wie Wagner war, mehr noch, dass er die, um im Bild zu bleiben, ungemein effektreiche Pathetisierung seiner eigenen Spätwerke wesentlich von Wagners Fähigkeit, etwas mit solcher Schwere zu sagen, „bis man’s glaubt“ (WA, KSA 6, S. 14), gelernt hatte (vgl. NL 1888, KSA 13, S. 406 und Rupschus 2013, S. 167–169). So war die polemisch überspitzte Stilistik seiner Spätwerke, selbst da, wo sie sich gegen Wagner richtete, auch ein Vermächtnis Wagners und seines stilistischen Lehrers Meyerbeer. Beide werden als Vertreter des „Genie[s] Frankreichs“ auch zu einem verborgenen Bezugspunkt für Nietzsches eigenes Narrativ vom französischen Charakter seiner späten Sprachkunst. Einen wesentlichen Unterschied zwischen Wagners und Nietzsches Erhebung der Performanz zum Prinzip gab es freilich: Der Effekt, dessen Definition es für Wagner gewesen war, um seiner selbst willen betrieben zu werden, war bei Nietzsche wenigstens dem Anspruch nach zum Mittel philosophischer Aufrichtigkeit und zum Schlüssel philosophischer Verständigung nach dem Brüchigwerden hergebrachter Wahrheitskonzeptionen geworden. Diese Umwertung von Wagners Methodologie des Effekts in Nietzsches später Schriftstellerei einer detaillierten Analyse zu unterziehen, kann nicht mehr Teil dieser, sondern muss Aufgabe einer eigenständigen Untersuchung sein.
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Die Kunst des Fragens bei Richard Wagner und Friedrich Nietzsche […] die präzisen Fragen finden, aus den Fragen die Summen ziehen, aus der Summe wieder die neuen Fragen holen. Ilse Aichinger, Nach der weißen Rose (1987, S. 29)
Fragen bilden Freiräume, jedoch nur dann, wenn sie von Rücksichtnahmen unverstellt sind. In ihnen drückt sich Freiheit aus, sofern sie sich nicht an Tabus einer doktrinär verstandenen political correctness orientieren. Das Befragen oder Infragestellen von Normen und Konventionen bedingt den Grad der Authentizität einer Frage. Doch bedeutet das nicht, dass die Formulierung einer Frage die Sprachethik missachten dürfte. Fragen sollen ergründen, nicht beleidigen. Sie können Mittel zur Selbstklärung, ja Selbstwerdung sein; und sie wollen Erforschen, geweckte Neugierde konkretisieren, eine These auf die Probe stellen. Fragen stehen zwischen Behauptung und Nachweis. Es kann ihnen eine Brückenfunktion zuwachsen und gleichzeitig kann eine unvermittelte, unkonventionelle Frage die Brücke hinter sich abbrechen. „Das Fragen erst schafft sich den Ort und krümmt den Raum. Keine höhere Steigerung der Wirklichkeit als durch die Entdeckung einer Frage“, das behauptet die Figur des Spielverderbers in Peter Handkes Stück Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (Handke 1990, S. 134f.). Der Spielverderber imaginiert einen internationalen Autorenkongress zum Thema „Von der Bedeutung der Frage in der heutigen Zeit“ (Handke 1990, S. 115). Einer seiner Gegenspieler namens Parzival bekennt: „Das Fragen ist beständig in mir, aber ich konnte es nie äußern, auch nicht in Haltung oder Blick. Das Nichtfragenkönnen: mein Lebensproblem“ (Handke 1990, S. 131). Zu Anfang des Stückes hatte ein Mauerschauer das ‚Projekt Frage‘ beschrieben: Der Palast des Fragens muß neu aufgebaut werden. Die steinernen Standbilder der Fragen müssen Atem holen und die Ohren spitzen. Die Phantasie des Fragens darf nicht gefesselt bleiben. Der Frage-Kirschgarten darf nicht abgeholzt werden (Handke 1990, S. 53).
Handkes Kunstfigur versteht mithin die Frage als lebendigen Sinnraum. In einem Gespräch mit dem befreundeten Regisseur, Luc Bondy, bemerkte Handke: „Parsifal hat mich immer beschäftigt. Einer verpasst den Moment, wo er einen Men-
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schen erlösen könnte durch Fragen. Das hat mich immer beschäftigt, den Moment versäumt zu haben der richtigen Frage.“1 Gemeint sind hier offenbar sowohl der mittelalterliche Parzival Eschenbach’scher Prägung als auch der Parsifal Wagners. Wagners „reiner Tor“ stellt keine erlösenden Fragen; Handke ist hier zuzustimmen. Ob er freilich den richtigen Zeitpunkt versäumt, um die entscheidenden Fragen zu stellen, verbleibe als Gegenstand der Interpretation deutungsoffen. Unbequem können Fragen allemal sein, wenn sie an das Eigene rühren, unzeitgemäß scheinen. Wie verhält es sich aber im ästhetischen Sinne mit der Frage in der Musik? Charles Ives komponierte ein ganzes symphonisches Stück über die Unanswered Question, ohne dass sich diese Frage musikalisch eindeutig bestimmen ließe. György Kurtág respondierte 1989 mit seinem op. 31b The Answered Unanswered Question, wobei er seine „Antwort“ als eine „Message-Hommage à Frances-Marie Uitti“ personalisierte, sie also nicht wie Ives in der Abstraktion beließ. In der LiederLiteratur des 19. Jahrhunderts erinnert man Mendelssohn-Bartholdys Komposition „Frage“ (op. 9 Nr. 1): „Ist es wahr / dass du stets dort / in dem Laubengang / an der Weinwand / meiner harrst?“2 Und das dritte der Wesendonck-Lieder Wagners fragt nach dem Grund, weshalb die fremden Gewächse „Im Treibhaus“ klagen. Fragen oder eine fragenähnliche Wirkung erzeugen in der Musik bestimmte Intervallstrukturen, Umkehrungen eines Motivs, die seine Infragestellung anzudeuten scheinen. Verwandtes gilt für die Erzeugung einer musikalischen Fragestimmung durch die Wiederholung einer Phrase in der Ober- oder Unteroktave, in der Quinte oder Quarte im Sinne einer fragenden Echowirkung. In Theorien zur musikalischen Phrasenlehre und der ihr zugeordneten Interpunktionslehre, die maßgeblich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im französischsprachigen Raum entwickelt wurden3, fehlen explizite Verweise auf die musikalische Gestaltung von Fragen. Weder lässt sie sich aus der Kadenzstruktur als einem musikästhetischen Ordnungssystem ableiten, wie es Jérôme-Joseph de Momigny entwickelt hatte, noch war sie in dessen musikalischer Syntax vorgesehen.4 Hervorzuheben aber ist die – von Momigny nicht berücksichtigte – soge-
1 „Handke/Bondy“ in: DIE ZEIT, Nr. 19 vom 3. Mai 2012, S. 51. 2 Zur Analyse dieses Frageliedes: Vgl. Jeßulat 2001, S. 150–154. Den Hinweis auf diese grundwichtige Studie wie auch einen fruchtbaren Austausch zum Thema der musikalischen Frage verdanke ich meiner Mitarbeiterin, Frau Dr. Isabel Wagner (London). 3 Vgl., Palm 1969, bes. S. 179–198. 4 Im Notationssystem sind bekanntlich Frage- und Ausrufungszeichen ausgeschlossen. Momigny zählte sie zu den „metaphysischen Zeichen“, die der Notation inhärent seien; sie gehörten zu jenen „ohrenfälligen Merkmalen“ einer Komposition, die den „Tonablauf gliedern und ordnen“ (Palm 1969, S. 195). Fragen oder eine fragenähnliche Wirkung erzeugen bestimmte
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nannte „phrygische Wendung“, ein auch bei Wagner vorkommender Fragetopos, der auf die barocke Figurenlehre zurückverweist, namentlich auf die rhetorische Interrogatio-Figur, die von einer aufsteigenden Melodielinie geprägt wird und den Fragegestus der Stimme nachbildet (so auch in Bachs Matthäuspassion „Warum hast Du mich verlassen?“). Bei dieser Figur handelt es sich, technisch gesprochen, um eine über einem fallenden Halbton im Bass gebildete Kadenz, die zum Ausdrucksregister eines musikalischen Historismus gehört, der sich unter anderem bei Beethoven, Mendelssohn-Bartholdy und eben Wagner nachweisen lässt (vgl. Jeßulat 2001). Eine solche Figur verweist, da im Baß vorkommend, auf das Untergründige, ja Unterminierende des Fragegestus. Im übertragenen Sinne schließen sich daran stets auch Überlegungen zur „Interrogativität“ (Dutt 2013, S. 240) eines Werkes im Allgemeinen an, also seine Befragenswürdigkeit, sein Fragepotential, ein Faktor, der gerade für Nietzsche im Umgang mit Wagners Werk eine entscheidende Rolle spielen sollte. „Wer bist du, sag, / die so schön und ernst mir erscheint?“ Es ist zu Beginn der vierten Szene des Zweiten Aufzugs in Die Walküre die Schlüsselfrage, durch die sich die Götter- und Menschenwelt begegnen in Gestalt Brünnhildes und Siegmunds (Wagner 1983, Bd. 3, S. 117). Dieses mit dieser Frage verbundene sogenannte „Schicksalkundemotiv“, das Wagner bereits 1853 in der einsätzigen AsDur-Sonate für Mathilde Wesendonck vorgebildet hatte (a – gis – h//h – ais – cis), bewegt sich in Regionen „mythischer Sprachfindung“ (Jeßulat 2001, S. 24, S. 149– 294).5 Die Prägnanz dieses von Fragen umrankten Motivs, der dem Hörer aufgenötigte Harmoniewechsel und die Erinnerung durch das Schicksalkundemotiv (vgl., Breig 1970, bes. S. 231ff.) an die Begegnung Wotans mit Erda im Rheingold, dürften gerade dem musikalisch hoch gebildeten Nietzsche nicht entgangen sein. Um einstweilen noch bei den Voraussetzungen für die Behandlung dieses Themas zu bleiben, sei noch dieser, die Linguistik betreffende, Befund angemerkt: Überraschend, dass selbst die linguistische Sprechakttheorie die Frage und das Fragen als einer der zentralen sprachlich-intellektuellen Tätigkeiten allenfalls beiläufig behandelt (vgl. Hindelang 1983). Überhaupt ist eine Ästhetik der Frage ein kulturwissenschaftliches Desiderat. Ableitbar wäre sie von existentialphilosophischen Ansätzen, die mit Martin Heidegger die Frage stellen:
Intervallstrukturen, Umkehrungen eines Motivs, die seiner Infragestellung gleichzukommen scheinen. Verwandtes gilt für die Erzeugung einer Fragestimmung durch die Wiederholung einer Phrase in der Ober- oder Unteroktave, in der Quinte oder Quarte im Sinne einer fragenden Echowirkung. 5 Jeßulat streift die philosophischen Implikationen der Frageproblematik und des Schicksalkundemotivs nur, unterlässt es aber, in ihrem Nietzsche-Abschnitt die Bedeutung der Frage in seinem Philosophieren zu thematisieren (Jeßulat 2011, S. 234ff.).
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„Was ist das Sein?“ (Heidegger 1927, S. 105ff.) und in der „ontologischen Mitteilung“ einen Anlass sehen für Wesens- und Grundfragen6, ableitbar auch von den Untersuchungen der philosophischen Hermeneutik (vgl. Vasilache 2003, S. 43ff., S. 94–110). Fragen gelten etwa Hans-Georg Gadamer als Garanten für die Offenheit des Gesprächs, wogegen Michel Foucault Fragen als „Pfeiler von Machttechniken“ verstanden hat (Vasilache 2003, S. 103), die einem quasi-nietzscheanischen ‚Willen zum Wissen‘ dienen. Doch lassen sich darin allenfalls Vorstudien für eine Ästhetik der Frage erkennen, die sich von der Überlegung leiten lässt, die Formen des Fragens im Kunstwerk führen zum philosophischen Destillat der Kunst. Sofern sich die Kunst – im vorliegenden Fall primär die Musik – als ein ständiges Arbeiten mit den Grenzen der Tradition im Sinne einer fortschreitenden Umwertung ihrer scheinetablierten Werte versteht, gelingt ihr dies wesentlich durch Infragestellungen. Und diese wiederum verbinden sich mit teils rhetorischen, teils inhaltsdeterminierenden Fragen. Fragen eignet stets auch etwas Rituelles. Beim jüdischen Pessachfest etwa stellt der Jüngste der Familie vier Fragen zum Besonderen der Pessach-Nacht, die das Oberhaupt der Familie zu beantworten hat. Die Umkehrung findet sich in Wagners Parsifal: Der väterlich-fordernde Gurnemanz stellt Fragen, die der Tor Parsifal nicht zu beantworten vermag: „Wo bist du her?“, „Wer ist dein Vater?“, „Wer sandte dich dieses Weges?“, „Dein Name denn?“ (Wagner 1983, Bd. 4, S. 292). Es handelt sich dabei weniger um rituelle als um existentielle Fragen, die Gurnemanz jenen anschließt, die im Zusammenhang mit Parsifals Freveltat stehen, dem Abschuss des Schwans auf heiligem Gebiet. Die Fragen nach Name, Herkunft und Weg waren im Lohengrin die verbotenen Fragen. Ortrud fragt nach dem Grund des Frageverbots und verleitet Elsa dazu, dieses Tabu, das Lohengrin zur Bedingung seiner Liebe zur Brabantin erklärt hat, zu durchbrechen. Im Lohengrin wird erstmals in einer Wagner-Oper die Frage selbst, beziehungsweise ihr Verbot, zum Handlungsträger und psychologischen Motiv. Soll man bei diesen Identitätsfragen von einem Zeitphänomen sprechen, das die Spätromantik in der Oper mit dem tragikomischen Realismus teilt, den Verdi ein Jahr nach Lohengrin mit Rigoletto auf die Bühne brachte? Denn Gildas Fragen nach Name und Herkunft Rigolettos und jenen der Mutter bleiben gleichfalls bis zuletzt unbeantwortet.
6 Rombach 1988, S. 9, S 28–32. Rombachs Arbeit versteht sich als eine Ableitung von Martin Heideggers Ontologie der Frage, wobei Rombach jedoch die Fragemodi übergeht, also die Gestimmtheit, in der Fragen gestellt werden, und die Stimmung, die durch bestimmte Fragen erzeugt wird. Genau hier jedoch müsste eine Ästhetik der Frage ansetzen. Rombach orientiert sich primär an den Fragen in Platons, Schellings und Kierkegaards Denken.
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Die Fragen nach Lohengrins Identität nun werden gerade deswegen so verlockend, weil dieser sie untersagt hat. Elsa stellt sie zuletzt wider besseres Gewissen. Die Reinheit des Liebens sieht sich konfrontiert mit der modernen Welt des Wissen-Wollens um jeden Preis und des Zweifels. Solche Fragen beantworten würde bedeuten, das heilige Geheimnis und auch das Geheimnis des Heiligen zu verraten. In einem eigentlichen Sinne genügt schon die Ankunft Lohengrins, um die – nach einem Wort Thomas Manns – „Ankunft und Verwirklichung des Heiligen“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 250) zu symbolisieren. Musikalisch gesprochen ergibt sich im Lohengrin jedoch eine reizvolle Spannung zwischen dem affirmativen A-Dur-Gralsmotiv, das keine fragenden Modulationen zuzulassen scheint, und der Fragestruktur, die das Verhältnis zwischen Elsa und Lohengrin bestimmt. An einer Stelle, in der dritten Szene des ersten Aktes, wird dies besonders deutlich. Lohengrins Frage: „[…] willst du wohl ohne Bang’ und Grau’n / dich meinem Schutze anvertraun?“ (Wagner 1983, Bd. 2, S. 162) entspricht musikalisch kein Fragemotiv; vielmehr entfalten sich die Töne des „Dich meinem Schutze anvertraun?“ zur strahlenden Offenbarung des Gralsmotivs; sie werden zum Mittel dieser Offenbarung umfunktioniert und damit zu einer Bejahung der Frage bevor Elsa antwortet. Die musikalische Stimmung determiniert oder präfiguriert damit die diskursive Situation. Es ist das eigentümliche Phänomen, dass durch die Musik eine im Text durchaus ernst gemeinte Frage zu einer rhetorischen wird, ein Phänomen, das im Zusammenhang mit Nietzsche eine ganz eigene Bedeutsamkeit gewinnen wird. Dieser wird in Der Fall Wagner die Lohengrin-Stelle: „Das kann ich dir nicht sagen; / und was du frägst, / das kannst du nie erfahren“ kritisch kommentieren: „Der Lohengrin enthält eine feierliche In-Acht-Erklärung des Forschens und Fragens. Wagner vertritt damit den christlichen Begriff ‚du sollst und musst glauben‘. Es ist ein Verbrechen am Höchsten, am Heiligsten, wissenschaftlich zu sein“ (Wagner 1983, Bd. 2, S. 1062f.). Wagners wissender, aber das Heilige bewahren wollender Lohengrin nun begeht durch seine schließlich gewährten Antworten auf Elsas Fragen, die ursprünglich seine an sich selbst gerichtete sind, Verrat an Monsalvat im Namen einer Wahrheit, die niemandem nützt. Lohengrin gibt sogar Antwort auf eine Frage, die ihm – anders als Parsifal – gar nicht gestellt wurde: jene nach seinem Vater. Dieser ist Parzival, der nach Titurels und Amfortas Ableben über Monsalvat gebietet. Wagners Parsifal wiederum, der selbst zu keiner Antwort fähig ist, sollte gut dreißig Jahre nach Lohengrin die Überraschungsfrage schlechthin stellen: „Wer ist der Gral?“ Die beiden anderen zuvor gestellten Hauptfragen Parsifals richten sich auf das, was gut und was böse sei. Die Antworten, die er darauf von Gurnemanz und Kundry erhält, sind bestenfalls ausweichend. Von Gurnemanz, einer Sarastro-Figur, vernimmt er, seine Mutter sei gut gewesen und derjenige banne das Böse, „Wer’s mit Gutem vergilt.“ Doch erfährt er gleichzeitig von Kundry, dass
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seine Mutter tot sei. Sie sagt es mit Worten, die nun nicht zu Wagners bedeutendsten zählen: „Ich ritt vorbei und sah sie sterben: / dich Toren hieß sie mich grüßen“ (Wagner 1983, Bd. 4, S. 294). Für den Verlauf des Bühnenweihfestspiels entscheidend freilich sind die Vorgänge, die sich im Umfeld der Frage nach der personalen Identität des Grals ereignen. Geben wir das kommentierende Wort dazu Wolfgang Rihm: Parsifal erfuhr vom Tod seiner Mutter, suchte den Schlaf, gerät in einen somnambulen Zustand, erfährt in diesem Zwischenzustand vom Gral, der „sich nicht“ nennen (sagen) läßt, von dem aber bekannt ist, daß der „Erkorene“ ihn findet. Das Somnambule wird wörtlich ins Bild gerückt. Die Regieanweisung Wagners ist sehr präzise: „Gurnemanz hat Parsifals Arm sich sanft um den Nacken gelegt und dessen Leib mit seinem eigenen Arm umschlungen; so geleitet er ihn bei sehr allmählichem Schreiten.“ Parsifal wird also halb getragen, Gurnemanz macht den Halbschläfer gehen. Der ambulant schlafende Parsifal äußert nur noch zwei Sätze: „Wer ist der Gral?“ und „Ich schreite kaum, doch wähn ich mich schon weit.“ Hierauf folgt nun der axiomatische Satz. Gurnemanz antwortet: „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“ Man muß es sich klarmachen: Ein Halbohnmächtiger äußert das Gefühl gesteigerter Bewegungserfahrung bei minimaler Eigenbewegung; derjenige, welcher ihn schleppt, antwortet, daß hier die Zeit zum Raum würde. Hört das Parsifal? Spricht Gurnemanz zu sich selbst? […] Musikalisch folgt darauf das Ineinanderübergehen kleinster Übergänge als musikalische Form: das Zwischenspiel das die Tonarten durchschreitet, bis kein Grund mehr besteht, und dessen Klangstrom doch immer wieder ankommt, immer wieder mündet. Währenddessen optischer Übergang, Übergänge des Raumes (des Bühnenraumes) durch die Stadien der Natur und der bebauten Welt über die Dunkelheit (kosmischer Tiefpunkt) in den Saal der Gralsburg (Rihm 2002, S. 186).
Worauf Rihm hinweist? Auf die Transposition der Grundfrage nach dem Gral ins Räumliche, in die zwischenspielhaft intonierte, musikalisch verräumlichende Verwandlung. Wagners Musikdramatik kreist beständig um Wesensfragen. Sie sind die eigentliche in motivisch strukturierte Musik umgesetzte Triebkraft der dramatischen Entwicklung in seinem Werk. In den theoretischen Schriften spielen Fragen eine vergleichsweise untergeordnete Rolle, da diese zumeist thetisch angelegt sind: behauptend, Thesen aufstellend – mit Ausnahme der Essayfrage Was ist deutsch?, deren Beantwortung – Nietzsches These, dass diese niemals aussterbe im Voraus bestätigend – sich über dreizehn Jahre erstreckte (vgl. Wagner 1983, Bd. 10, S. 84–103). Bedenken wir einige Fragequalitäten in Wagners Musikdramatik, die sich immer auch einer spezifischen Fragedynamik verdankt. Tristan und Isolde gleicht einer Frageoper. Die Fragenhäufung im Tristan unterstreicht das Zweideutige, Zwischenzustände und existentielle Ungewissheiten. Richten wir hier unser Augenmerk jedoch besonders auf den Ring des Nibelungen als einer Tetralogie der Fragen nach Identität und Dasein, nach Herkunft und Sinn.
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Fragen unterbrechen das verspielte Wogen und Wellen der Rheintöchter bis die Fragen selbst in ihr Spiel eingebunden werden. Alberich hat sich mit einer Frage eingeführt („Stör’ ich eu’r Spiel, / wenn staunend ich still hier steh’?“; Wagner 1983, Bd. 3, S. 13), mit Fragen spöttischer und rhetorischer Art, halb naiv, halb verschlagen. Diese Fragen umkreisen das Geheimnis des Goldes, des Rings, übertragen sich auf Mime, Loge und Wotan. Wotan signalisiert seine göttliche Ohnmacht dadurch, dass er keine Antworten, sondern nur Fragen kennt. Er sieht sich gezwungen Loge zu fragen: „Wie schüf’ ich mir das Geschmeid?“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 36). Loge antwortet kryptisch: „Ein Runenzauber / zwingt das Gold zum Reif: / keiner kennt ihn“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 36) – am wenigsten ein Gott, möchte man ergänzen. Die nächste Frage Wotans entzaubert ihn noch mehr, potenziert gewissermaßen seine Ohnmacht. Als Fafner von ihm fordert, den „rauhen Riesen“ das Gold des Nibelungen auszuliefern, fragt Wotan entgeistert: „Seid ihr bei Sinn? / Was nicht ich besitze, / soll ich euch Schamlosen schenken?“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 36). Eine Fangfrage wiederum entzaubert daraufhin den Nibelungen Alberich. Loge, der Scheinallwissende, stellt sie, Wotan zu Willen: „Doch wie du wuchsest, / kannst du auch winzig / und klein dich schaffen?“ Alberich, längst in seiner Ehre gekränkt, geht auf diese Frage mit einer Frage ein: „Wie klein soll ich sein?“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 53). Er beantwortet seine Frage mit einer Tat, indem er sich qua Tarnhelm in eine Kröte verwandelt, sich damit aber Wotan buchstäblich in die Hände spielt. Von nun an werden nur noch die Fragen Siegfrieds ‚naiv‘ sein; ansonsten haben sie ihre Unschuld verloren. Die Frage nach dem Eigentum, dem rechtmäßigen Besitzer des Ringes treibt die Handlung voran ebenso wie der Umstand, dass Alberichs letzte im Rheingold an Wotan gerichtete Frage: „Bin ich nun frei?“ er selbst dadurch beantwortet, dass er den Ring und dessen künftige Besitzer verflucht (Wagner 1983, Bd. 3, S. 59). Zum Fluch wurde hier die Frage. Doch bevor die Rheintöchter alles Fragen am Ende in Ausrufe auflösen, stehen weitere Fragen im mythischen Raum: „Wer bist du, mahnendes Weib?“ fragt Wotan die unheimliche und Unheimliches kündende Erda (Wagner 1983, Bd. 3, S. 65) Fricka fragt Wotan: „Was willst du, Wütender?“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 66) und – besänftigter: „Wo weilst du, Wotan?“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 68). Und sie fragt zuletzt nach der Bedeutung des Namens „Walhall“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 70) Diesen Fragen ist gemein, dass sie ohne Antwort bleiben. Sie geraten ihrerseits ins Kreisen. Die Entsprechung zum Anfang und Ende von Das Rheingold, dem Spiel der Rheintöchter, aber auch zum Reigen der acht geharnischten Walküren, vor dem Auftritt des strafenden Wotans bildet die Nornenszene zu Beginn von Götterdämmerung. Wie die Rheintöchter bilden die Nornen ein Trio, und zwar – deutlicher noch als im Falle der Rheintöchter – ein Trio der Fragen. Schon ihre Einsätze
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bestehen aus Fragen; es sind Fragen, die das Wesen des Wissens umkreisen, wobei musikalische Modulationen sprachlich durch leichte, vokalisch prononcierte Tempusverschiebungen vorgezeichnet werden. Von: „weißt du wie das ward?“ zu „weißt du wie das wird?“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 245f.). Danach personalisieren die Nornen diese temporal nuancierte Fragekonstellation: „weißt du was aus ihm ward?“, ins Zukünftige verschoben: „weißt du was aus ihm wird?“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 247). Hans Mayer sah in dieser Szene in erster Linie die „Ambivalenz des Wissens“ thematisiert. Das Einst und Dereinst ist zweideutig geworden. Doch eine Art des Wissens ist eindeutig und daher sprechen die Nornen es nicht aus: das Zukunftswissen, das „Wissen von dem, was bevorsteht“ (Mayer 1998, S. 177). Bezeichnend ist, dass die Nornen zuletzt befinden, dass das Wissen zu Ende sei; denn „der Welt melden/Weise nichts mehr“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 249). Entsprechend fragenlos verabschieden sie sich und gehen zurück zur Erdmutter Erda. Doch erst daraufhin vollzieht sich das Drama des Wissens durch Täuschung und Betrug. Siegfried glaubt das eine Wissen, über das er verfügt, könne genügen: „daß mir Brünnhilde lebt“ (Wagner 1983, Bd. 3, S. 249). Doch er verwechselt Wissen mit Gefühl und verkennt folglich die wahren Verhältnisse, die paradoxerweise auf Lüge beruhen und echtes Fragen verunmöglichen. Wie nun verhält sich dieses in seiner Musikdramatik so auffällige Fragen Wagners aus der Sicht Nietzsches? Bei Nietzsche, so viel sei vorweggenommen, lässt sich zunächst ein Fragen aus dem Geist Wagners feststellen, das nach 1872 zunehmend in ein kritischeres Befragen des Werkes und danach in ein radikales Infragestellen von Werk und Person des Komponisten als einem problematischen Kulturphänomen übergeht. Recht präzise kann man zum Beispiel beantworten, wie sich die zweite Nornen-Frage („weißt du was aus ihm ward / wird“?; Wagner 1983, Bd. 3, S. 247) bei Nietzsche stellt. In den Vorarbeiten zur Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung, „Richard Wagner in Bayreuth“, notierte er die Frage mit Bezug auf den Ring: „Was Wagner sein wird?“ (NL 1875, KSA 8, S. 243). Die Frage begleitet eine zweite: Wie vermag seine Musik die Zukunft Siegfrieds zu schauen, zu künden, vorwegzunehmen? Diese Frage nach der Zukunft – nicht Loges und Wotans wie bei den Nornen, sondern von deren künstlerischem Urheber – verband sich in Nietzsche mit der ebenso konkreten wie spekulativen Frage nach einer „Zukunft der Kunst“ und ihrem Charakter: „Ich könnte mir auch eine vorwärtsblickende Kunst denken, die ihre Bilder in der Zukunft sucht. Warum giebt es solche nicht?“ (NL 1875, KSA 8, S. 187) Nietzsche fragt gerade zu dieser Zeit noch entschieden als Vertreter der Philologie, der er gleichfalls eine neue Zukunft zubilligt, und damit nach eigener Aussage als ein „Skeptiker in unseren Zuständen der Bildung und Erziehung“, der „Cultur“ überhaupt und bald schon der musikalischen Kunst. Nichts ver-
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anschaulicht jedoch deutlicher die Wirkung, die das Prinzip des Fragens in Wagners Werk auf Nietzsche ausgeübt hatte, als einer der Projekttitel, die er sich im Umkreis der vierten Unzeitgemäßen (Anfang 1875 und Frühjahr 1876) notierte: „Die Frage in der Musik“ (NL 1875, KSA 8, S. 11). Und das bedeutet: die Frage als ein [musik-]ästhetisches Problem, das den Zeichencharakter der Frage, aber auch ihre Verweisfunktion in einem scheinbar diskursfreien Medium betrifft. Die Reflexionen dazu sollten in ein, wie er sagt, „grosses Buch für die täglichen Einfälle und Erfahrungen“ (NL 1875, KSA 8, S. 11) eingehen. Entsprechend mündet das Notat in ein „mihi scribere“ (NL 1875, KSA 8, S. 11), ein Sich-selbst-Schreiben, und damit ein Beitrag zur Beschreibung der eigenen Identität. Das wiederum bedeutet, das Thema „Die Frage in der Musik“ hatte begonnen, eine wesenhafte Bedeutung anzunehmen. Das Selbstgebot des „mihi scribere“ sollte Nietzsche bis in seine Spätphase bleiben, wo ihn bekanntlich die Frage nach dem ‚Problem Wagner‘ wieder einholen, ja monopolisieren, wenn nicht paralysieren sollte. Das aus der „Frage in der Musik“ hervor gehende Identitäts- und Kulturproblem greift dann auch jene Frage auf, die recht genau den Beginn des Entfremdungsprozesses von Wagner bezeichnet: „Was aus unserer Zeit drückt Wagner aus?“ (NL 1878, KSA 8, S. 492). Nie ist er um eine Antwort verlegen: „Das Nebeneinander von Roheit und zartester Schwäche, Naturtrieb-Verwilderung und nervöser Über-Empfindsamkeit, Sucht nach Emotion aus Ermüdung und Lust an der Ermüdung“ (NL 1878, KSA 8, S. 492). Die Tonlage für die spätere Kritik hatte Nietzsche mithin bereits gefunden. Nietzsches Fragen, die Wagner betreffen, gelten sowohl ästhetischen Problemen als auch seiner Herkunft im Sinne von: Wer war Wagner wirklich? Ein Phänomen? Ein Kulturproblem? Als ‚Verhängnis‘ oder ‚Schicksal‘ befragt er ihn nicht; das reservierte Nietzsche für sich selbst. Dabei sah Nietzsche Wagners Modernität in der Zweideutigkeit seiner Musik und Person begründet, also in einem kritischen Wert, der jedoch bestätigte, dass Nietzsche in Wagner einen befragenswürdigen Gegenstand sah. Das diesem Befragen übergeordnete Prinzip sprach Nietzsche in einem späten Brief an Georg Brandes aus, in dem er die „letzten Werthfragen“ vom Standpunkt der Musik aus für „löslich“, also lösbar erklärte (Za, KSB 4, S. 19). Doch dieses ‚Lösen‘ konnte, wieder auf Wagner bezogen, bei Nietzsche gerade in seiner Spätphase den Charakter einer in ernste Scherzfragen mündenden Parodie annehmen: Diese sehr zweideutig gewordene Personnage, auf deren Grab nichtsdestoweniger ein Wagner-Verein – der Münchener – einen Kranz mit der Inschrift niederlegte: Erlösung dem Erlöser! … Man sieht, das Problem ist groß, das Mißverständniß ungeheuer.
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Wenn Wagner zum Erlöser werden konnte, Wer erlöst uns von dieser Erlösung? Wer erlöst uns von diesem Erlöser? (NL 1888, KSA 13, S. 243).
Wollten wir die Terminologie der diskursiven Pragmatik bemühen, dann ließe sich behaupten, Nietzsche habe durch sein Fragen gegen Wagner handeln oder einen Handlungsersatz finden und gegen die Wagnerianer eine neue kommunikative Situation schaffen wollen. Maßgeblich sind jedoch die Problematisierungen der [sprach-] handlungsleitenden Normen, um aus einer solchen Kommunikation einen wirklichen Diskurs werden zu lassen (vgl. Habermas 1981). Es sind dann wiederum die – oft rhetorischen – Fragen, durch die Nietzsche eine solche Problematisierung der eigenen Position wenigstens andeutet. Das Interesse, das Nietzsche zunächst mit der Musikdramatik Wagners verbunden hatte, bestand, wie er in der Geburt der Tragödie zum Ausdruck brachte, im kommunikativen Charakter von dessen Kunst. Nietzsche wertete sie im Einklang mit dem „Urproblem der Tragödie“, das er im sechzehnten Kapitel der Geburt mit folgender Frage zu „berühren“ hofft: „Welche aesthetische Wirkung entsteht, wenn jene an sich getrennten Kunstmächte des Apollinischen und des Dionysischen neben einander in Thätigkeit gerathen? Oder in kürzerer Form: wie verhält sich die Musik zu Bild und Begriff?“ (GT, KSA 1, S. 104) Hier findet es sich bereits, dieser noch positiv konnotierte Verweis auf das Nebeneinander. In der Antwort auf die zuvor zitierte kulturkritisch gemeinte Frage: „Was aus unserer Zeit drückt Wagner aus?“ (NL 1878, KSA 8, S. 492), die annährend den Beginn von Nietzsches reflektierter Entfremdung von ihm markierte, wertet er das Nebeneinander negativ. Aus den „Kunstmächten des Apollinischen und Dionysischen“ ist „Über-Empfindsamkeit“ und „Naturtrieb-Verwilderung“ geworden. Das Thema ‚Frage‘ wäre nicht annährend zu beantworten, gedächte man des Fragezeichens nicht. Und dieses semiotische Zwischenspiel gewinnt im Spätwerk Nietzsches eine eigentümliche Bedeutung oder Note, die hier nun auszuhorchen ist. Der Musiker Nietzsche wusste, dass es im musikalischen Notationssystem kein Fragezeichen gibt. Umso intensiver wandte er sich ihm diskursiv zu und das sogar auf personalisierende Weise, wie dieses Notat belegt: Für Jeden, der mit einem großen Fragezeichen wie mit seinem Schicksale zusammengelebt hat und dessen Tage und Nächte sich in lauter einsamen Zwiegesprächen und Entscheidungen verzehrten, sind fremde Meinungen über das gleiche Problem eine Art Lärm, gegen den er sich wehrt und die Ohren zuhält: überdies, gleichsam etwas Zudringliches Unbefugtes und Schamloses, von Seiten solcher, welche, wie er glaubt, kein Recht auf ein solches Problem besitzen: weil sie es nicht gefunden haben (NL 1885/1886, KSA 12, S. 157).
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Im Antichrist steigert Nietzsche dann das „große“ ins „ungeheure Fragezeichen“, für ihn gleichbedeutend mit dem „Christenthum“ (AC, KSA 6, S. 208). Doch damit nicht genug. Den Kreuzigungstod bezeichnet Nietzsche als „das schreckliche Fragezeichen“, verbunden mit zwei Fragen, die er den Jüngern in den Mund legt: „wer war das? was war das?“ (AC, KSA 6, S. 213). In den Notizen im Umkreis von Der Fall Wagner stellt Nietzsche dann eine Behauptung umwendende Frage, die sich auch auf Jesus beziehen könnte. Gemünzt ist sie aber auf Wagner und in Ecce homo wird Nietzsche sie auf sich selbst ummünzen: „Und man hat ihn mißverstanden – Hat man ihn mißverstanden?“ (NL 1888, KSA 13, S. 349) Und schließlich sieht sich Zarathustra in den Dionysos-Dithyramben als ein ‚Fragezeichen‘ beschrieben, dort als „zwischen zwei Nichtse/eingekrümmt“ (DD, KSA 6, S. 392), worauf der Historisch-kritische Kommentar zu den späten Werken Nietzsches aufmerksam macht (Sommer 2012, S. 680). Dieser Kommentar ist es auch, der eine weitere Stelle der Dionysos-Dithyramben („Fragezeichen für Solche, die Antwort haben“) entsprechend kontextualisiert, und ich zitiere Andreas Urs Sommer: Mit diesem Verweis auf das Fragezeichen charakterisiert Nietzsche sein Verfahren, alles in Frage zu stellen, was bisher als fraglos gewiss angenommen wurde, insbesondere das geltende Wertesystem, die ‚Moral‘. ‚Fragezeichen‘ haben bei ihm, wie die häufige tatsächliche Verwendung von Fragezeichen in seinen Schriften […] zeigt, auch die Funktion, Suchbewegungen zu initiieren oder, am Ende suggestiv gestellter rhetorischer Fragen, schon Antworten zu provozieren. Deshalb nimmt er das am Anfang exponierte Problem der ‚Antwort‘ am Ende ringkompositorisch wieder auf: ‚gebt Antwort auf die Ungeduld der Flamme‘ (Sommer 2012, S. 680).
Diese Formulierung der ringkompositorischen Wiederaufnahme einer problematisierten, also in Frage gestellten Antwort am Ende, erscheint mir aus naheliegenden Gründen besonders glücklich; denn sie trifft im übertragenen Sinne haargenau, was sich aus dem Frage- und Antwortspiel im Ring des Nibelungen am Ende ergibt, nämlich ein bizarrer Flammenzauber, vom Feuerring um Brünnhilde bis zum brennenden „Scheithaufen“ für Siegfried und der „rötlichen Glut“, in der die Götterburg versinkt. In den Dionysos-Dithyramben freilich haben die „Feuerzeichen“ zu denen die Fragezeichen geworden sind, ein anderes Vorbild, wie der Kommentar zeigen kann: die vulkanischen Ausbrüche von Ätna und Stromboli. Doch bleiben Festlegungen von gelungenen metaphorischen Sprachbildungen wie dieser deutungsoffen und im besten Sinne – befragenswürdig. Wenden wir uns abschließend einer Fragenkonstellation bei Nietzsche zu, die unmittelbarer zu Wagner zurückführt, wobei die entsprechenden Fragezeichen eine – nochmals mit dem Kommentar gesprochen – „Suchbewegung“ in Richtung Wagner und Nietzsches eigener Identität indizieren. Gemeint ist die
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Fragestruktur in Nietzsche contra Wagner sowie im nachgestellten Dithyrambus Von der Armuth des Reichsten. Die Verwendung der Frage als einer der rhetorischen Formen in dieser psychologisch begründeten Polemik weist mehrerlei Auffälligkeiten auf: Fragen betreffen zum einen die physiologische Wirkung der Musik Wagners („Protestirt aber nicht auch mein Magen? Mein Herz? Mein Blutlauf? betrübt sich nicht mein Eingeweide? […] was will eigentlich mein ganzer Leib von der Musik überhaupt?“; NW, KSA 6, S. 418f.); zum anderen ironisiert Nietzsche fragend die Musik Wagners, indem er auf sie jene Frage anwendet, die er mit Wagner teilt. Aus deren beider Anliegen: „Was ist deutsch?“ wird Nietzsches „Ist das noch deutsch?“ (NW, KSA 6, S. 429), [dieses, nun auf Wagners Musikdramen bezogen] „schwüle Kreischen“, „Sich-selbst-Zerfleischen“, „weihrauchdüftelnde Sinne-Reizen“ etc. (NW, KSA 6, S. 429). Der dritte, dem Parsifal gewidmete Abschnitt des Kapitels „Wagner als Apostel der Keuschheit“ – man denkt an das Keuschheits-Kapitel in Also sprach Zarathustra – besteht quasi nur aus Fragen, bezeichnend genug, wenn man an die Frageproblematik in Wagners letztem Werk denkt. Nietzsches Versuch, Wagners Keuschheitstor Parsifal als eine Art Anti-Dionysos darzustellen, gipfelt in der Frage: „Ist der Parsifal Wagner’s sein heimliches Überlegenheits-Lachen über sich selber […], ein Sich-selbst-Verneinen, Sich-selbst-Durchstreichen vonseiten eines Künstlers, der bis dahin mit aller Macht seines Willens auf das Umgekehrte, auf höchste Vergeistigung und Versinnlichung seiner Kunst ausgegangen war?“ (NW, KSA 6, S. 430f.). Und die weitere Auffälligkeit besteht in der Poetisierung der Frage in Nietzsche contra Wagner. Diese ergibt sich aus zweierlei quasi sprachkompositorischen Kunstgriffen Nietzsches: Zum einen indem er sein Venedig-Gedicht „An der Brücke stand / jüngst ich in brauner Nacht“ (NW, KSA 6, S. 421) als „Intermezzo“ einschaltet, wodurch dieses insgesamt der Frage gilt, was er, Nietzsche von der Musik erwarte, auf die Frage zuläuft: „– Hörte jemand ihr zu?“ (NW, KSA 6, S. 421), nämlich seiner eigenen, einem „Saitenspiel“ gleichen singenden Seele. Zum andern mündet der Epilog zu Nietzsche contra Wagner in Fragen („Sind wir nicht eben darin – Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum – Künstler?“; NW, KSA 6, S. 439), die dann wie die Frage nach dem Künstlertum durch einen letzten Dionysos-Dithyrambus beantwortet werden. In dessen Mitte wiederum stellt Nietzsches lyrisches Ich Herkunftsfragen, die ihrerseits an jene Wagners erinnern: „Wer sind mir Vater und Mutter?“ Die Antwort darauf behält den Frageduktus bei: „Ist nicht mir Vater Prinz Überfluss / und Mutter das stille Lachen?“ (DD, KSA 6, S. 442). Wie wesentlich Nietzsche der Fragemodus in dieser Dichtung als Abschluss seiner Polemik gewesen ist, belegt überdies der Umstand, dass er am Ende des Dithyrambus die anfänglichen auf sich selbst bezogenen Feststellungen als
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Fragen an Zarathustra richtet: „Zehn Jahre dahin –, / und kein Tropfen erreichte dich? / Kein feuchter Wind? Kein Thau der Liebe?“ (DD, KSA 6, S. 444). Am Ende steht jedoch die alle Fragen scheinbar beseitigende Behauptung des lyrischen Subjekts: „Ich bin deine Wahrheit…“ (DD, KSA 6, S. 445), jene nämlich des am Ende vielleicht sogar Wagner vergessen machenden Zarathustra: Das dichterische Ich apostrophiert sich somit selbst als das Letztgültige seiner poetisch-philosophischen Hervorbringung. Das Identitätsproblem scheint auf diese Weise gelöst, das Würdige im Fragen bestätigt.
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Andrew Huddleston
Kunstreligion Redeemed: From Religion to Art in Parsifal „Aber ich leide und litt mit ihnen: Gefangene sind es mir und Abgezeichnete. Der, welchen sie Erlöser nennen, schlug sie in Banden: – In Banden falscher Werthe und Wahn-Worte! Ach dass Einer sie noch von ihrem Erlöser erlöste!“ (Za, KSA 4, p. 117).
„Erlösung dem Erlöser“ are the words with which Wagner’s Parsifal closes (Wagner 1898, p. 375). It is certainly a work about the redemption of a redeemer. Yet what redeemer is it who is supposed to be redeemed? And what form does the redemption take? A specifically Christian redemption, too many, is the obvious answer. The word ,redemption‘, after all, has most obvious purchase in that religious framework of sin, atonement, and deliverance. Parsifal, on this reading, is God’s agent, who after turning away from the temptations of the flesh, in turn leads the way for Amfortas and Kundry to be redeemed from their past sexual sins and for things to be made right for the Grail Order, with its lost purity restored. In this brief essay, I would like to challenge this standard reading and explore another option for the sort of redemption that might be at work in Parsifal. My reading is in part inspired by an unlikely source: namely, Nietzsche. In his published work anyway, he speaks of Parsifal with scathing disdain. He describes Wagner, in writing Parsifal, as slumping prostrate at the foot of the cross and championing a life-poisoning form of chastity (see NW, KSA 6, pp. 429–432). But I think there is an interpretation of Parsifal – admittedly against the grain – that takes a cue from Nietzsche and that makes good sense of the sort of redemption that the opera shows the Grail Order as really needing. The strenuously anti-sexual form of asceticism is the Grail Order’s basic problem, not their route to salvation. They, in a sense, stand in need of redemption from their perceived redeemer, insofar as they need to get out from under the system of self-flagellating guilt-mongering that would interpret natural sexual activity and desire in general as sinful in the first place. This religious outlook has been their undoing. Yet it is not a matter of dispensing with their current redeemer entirely. In Parsifal, we see that the Grail Knights’ form of religion needs to be fundamentally transformed, not wholly discarded. The opera portrays the existential succor that their liturgical ritual offers as something that is vital in human life. Its spiritual force must be preserved, while distancing it from key aspects of the moral system with which it is entwined. In this way, the redeemer must be redeemed, saved
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from a destructive obsession with chastity and asceticism. The opera’s suggested solution, as I see it, is for the spiritual sustenance of Christianity to be transmuted into Wagnerian Kunstreligion. We don’t see this transformation happen within the confines of the narrative. The work sets up the problem and makes it vivid, and then, I want to argue, presents itself as the solution to this problem, manifesting this replacement for religion in the form of Bühnenweihfestspiel that it itself is. Let us begin by softening up the terrain for a non-Christian reading. To those who still stubbornly insist that Parsifal is a devout Christian work, one must point to its most blatant suggestion to the contrary: Surely it is significant that the day of redemption in the opera comes on Good Friday. Yet if it were really a Christian work, as some contend, wouldn’t Easter Sunday be the day of redemption? Good Friday is a day of great religious significance, true. But in the Christian tradition, it is Christ’s resurrection, not his death, that is the pivotal point for human redemption. Indeed, of all the days in the calendar to pick as the day of redemption, Good Friday in fact seems a very odd choice. It is usually commemorated as a day of mourning, with the church crucifix draped in black. It is not celebrated, as Wagner iconoclastically does, as a day of verdant beauty and blooming flowers, with bright, vernal music to match. But the baptisms in Act III, surely, one might retort, those are Christian. Yet given what happened with Wagner’s Good Friday choice itself – invoking the exalted Christian image of the death of Christ and turning it upside down by celebrating the resplendence of pagan nature, we should read the baptism similarly, also as an inverted Christian ritual. Rather than being an initiation into the Christian church, it is more naturally understood as purification by water of the soul from the weight of sin. Washing away sin would acquire a new meaning. A large swath of it is really removed, because the worldview that countenances it would be supplanted. Though traditional baptism purports to be a freeing from original sin, it is in fact an initiation into a system, at least in the form it takes in the Grail Community, where sexual sin becomes a central and organizing category of one’s life; far from lessening the weight of sin, it only serves to intensify it. This dual recognition that we see suggested in Parsifal as a whole – that consoling ritual is deep and important, and the demonization of sexuality highly detrimental – is one mirrored in the wisdom that the character Parsifal, as I see it, himself acquires. The standard story would of course maintain the contrary. Parsifal’s enlightenment, on such a view, involves being awakened to the need for turning away from sexual desires in order to secure one’s redemption. His rejection of Kundry’s advances is usually interpreted as the pivotal moment when Parsifal allegedly sees the need to embrace a form of chastity. He remains pure, on this account, because he resists the temptations of sexuality. But this reading is questionable. After all, we know that Parsifal is Lohengrin’s father, so if he
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does embrace chastity, he must later give it up. I would advocate reading this key scene differently: Parsifal is not rejecting sexuality in general as sinful. Quite the contrary. He comes to realize how awful it is to live one’s life, and to experience the world, in thrall to these notions of sexual sin. What is it that provokes this intense reaction on Parsifal’s part, when he bursts out with „Amfortas! Die Wunde!“? (Wagner 1898, p. 358) Parsifal and Kundry, we should notice, are in essence psychologically re-enacting the fall of Amfortas, with Kundry reprising her role and Parsifal playing the disgraced knight. Parsifal becomes so engrossed in this role that he imagines he can feel Amfortas’s pain as his own. „Die Wunde seh’ ich bluten / nun blutet sie in mir!“ (Wagner 1898, p. 358). It is this intense quasi-artistic sort of Mitleid, of intense compassion, that the prophecy fortells, and that ultimately leads to Parsifal’s enlightenment. „Durch Mitleid wissend / der reiner Thor“ (Wagner 1898, p. 333). With the imaginative identification this intense, for the first time can Parsifal see in piercingly vivid terms how things seem to Amfortas and the rest of the Grail Knights. Up to this point, Parsifal seems basically oblivious of the very idea of sexual sin. He here, though, gets a sudden glimpse of the sort of worldview that sees sin as all-pervasive, and sexuality, and indeed even desire as such, as the source of evil: Das Sehnen, das furchtbare Sehnen Das alle Sinne mir fasst und zwingt O! Qual der Liebe! Wie alles schauert, bebt, und zuckt In sündigem Verlangen (Wagner 1898, pp. 358f.).
This is not an outlook Parsifal advocates. It is instead one from whose wanton infliction of suffering he recoils. Parsifal’s thoughts right away double back to Grail ritual he was awed by in Act I: Es starrt der Blick dumpf auf das Heilsgefäss Das heil’ge Blut erglüht Erlösungswonne, göttlich mild durchzittert weithhin alle Seelen nur hier – im Herzen will die Qual nicht weichen (Wagner 1898, p. 359).
For the first time he is able to see that although „redemptions’s rapture“ – the sort he experienced while watching the Mass in Monsalvat in Act I – has the capacity to uplift the soul, it is mixed with something else in the hearts of the Grail Knights.
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In his newly-gained empathy and the attendant compassion for Amfortas and the Knights, he at last sees what it is like to be trapped in the worldview of seeing the entire world trembling in sin and the huge weight of suffering this puts on a person. This realization floods Parsifal’s body with pain. He now sees that he must free the Grail Knights from the destructive ideology they have foisted on themselves and mankind. His language here has a juridical edge: Das Heilands Klage da vernehm’ ich die Klage, ach die Klage! um das entweihte Heiligtum ‚Erlöse, rette mich! Aus Schuldbefleckten Händen‘ So rief die Gottesklage furchtbar laut mir in die Seele (Wagner 1898, p. 359).
The Grail Order, is, so to speak, in the dock. They are guilty, and guilty of a real sin, not of the pseudo-sin of having sexual desires and acting on them. They, for reasons that are unclear but pervasive, have taken the profound elevations and consolations of religious ritual and weighed it down with the futile anti-sensual apparatus of sexual guilt and sin. A benevolent God, Parsifal’s lines suggest, has a legitimate grievance against the tremendous human suffering they wrongly perpetuate in His name. The original locus of religious worship has now become an „entweihte Heiligtum“, literally a de-sacralized holy place, in the hands of these sinning and sin-obsessed preachers of asceticism and chastity. Parsifal now recognizes that in order to save the Grail Order from themselves, their holy place must be re-consecrated. It must keep the sacral spirit of the Catholic Mass without including the system of sexual sin that has been characteristic of their worldview thus far. Now what, on this unorthodox reading I am proposing, are we are to make of the opera’s seeming villain, the „evil“ sorcerer Klingsor? He is our foremost object lesson in why the Grail’s strictures against sexuality are so destructive. What we know about Klingsor’s fall from grace is limited to what we learn from Gurnemanz, who warns us of his own relative ignorance on the matter. We at minimum know from Gurnemanz that Klingsor either was or wanted to be a member of the Grail community. Yet he was unable to master his desires: „Ohnmächtig, in sich selbst die Sünde zu ertöten / an sich legt er die Frevlerhand“ (Wagner 1898, p. 332). Now, to what does Gurnemanz’s euphemism „turning the sinning hand on himself“ refer? This is usually taken to point, rather obliquely, to Klingsor’s self-castration, the supposed source of his nefarious power, in what we assume to be a tremendous redirection of sexual energy. Yet this ambiguous phrase of Gurnemanz’s is at
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once interestingly suggestive of masturbation, that great 19th century bugbear, as well: Unable to master his sinful sexual desires, Klingsor is tempted to selfpleasure – and then out of his extreme guilt, to self-retribution. In any event, putting aside the question of exactly what his sins are, if we are to make sense of Klingsor’s sexual economy, we must give special attention to the curious strategy he takes up in order to get the spear. Presumably this theft is intended to be a kind of revenge once he has been barred from the Grail Order for his sexual transgressions. But he doesn’t fight Amfortas for the spear, as one might expect from an ordinary evil-doer. Instead he wants to ensnare Amfortas with Kundry when the two of them are in flagrante delicto. For Klingsor, I take it, the satisfaction is not just in getting the spear but in the vicious pleasure of getting to mock the paragon of virtue who has now fallen into sin, as the „evil“ magician himself once did. And maybe things are even more complicated than this. Given this acquisition plan of Klingsor’s, one has to on some level suspect that his motives are overdetermined. How many men, put in Klingsor’s place, would choose to get the spear vis à vis a plan that called for spying on their male enemy having sex, when there were a number of strategies open that did not call for this sort of sexual spectatorship? Maybe voyeurism, or perhaps even latent homosexuality, is lurking somewhere in Klingsor’s unconscious and influencing what he does. Cigars may sometimes just be cigars, and spears may sometimes just be spears. But Klingsor’s obsessive goal is to get his hands on Amfortas’s phallus-like spear – a point which, if nothing else, is rather suggestive. After he has grabbed the spear, he goes on to stab Amfortas. Presumably, with Amfortas weaponless – and, we presume, naked as well – Klingsor could have killed him, if he wished, and still have kept the spear for himself as a trophy. But Klingsor wants to demoralize the grail community. And what better way to do it than to send Amfortas limping back with a perpetually suppurating wound? Indeed, perhaps even with a bleeding wound in the genitals, if some sources are to be believed – the Scarlet Penis, as it were. Though it is often supposed that the wound is in Amfortas’s side, paralleling Christ’s made by Longinus, as Mike Ashman points out, in the Celtic versions of the myth: Amfortas is wounded in the genitals, not in the side – a fact hinted at in Wagner’s first prose draft of the drama and seemingly confirmed by rehearsal accounts of the Wagner family (such as that of Daniela von Bülow when directing Herbert Janssen in the late 1930s.) It is hard to say whether prudish conventions or a deliberate desire for ambiguity stopped Wagner from establishing this fact. Either way there is a profitable gain in suggestive imagery and the parallel between Klingsor and Amfortas … becomes even clearer … (Ashman 1986, pp. 9f.).
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In light of all this, it would be wrong to see Klingsor as innately evil. He begins as a normal human being, with the standard human range of sexual desires, if maybe a bit more exotic than most. But the Grail Knights demonize his sexual desires as sinful. The pull of their ascetic ideals on him is so strong that he castrates himself. But once he regrets this extreme self-punishment, his counter-reaction to the Knights’ Christianity is a gross overcorrection. Since he no ideals of his own to strive for, he can’t carve out any sort of positive character for himself; the only thing he can do is negative – he must react against his former order in the most hysterical fashion. But even as he does this, he remains in the grip of the Grail’s asceticism: Far from turning into the Dionysian celebrant of bodily life, dancing ecstatically in the Magic Garden now that he is free from Christian morality, Klingsor is left with nothing to live for except to plot the demise of his previous tormenters. He, as much as Amfortas, is a victim of the Grail’s morality. And what of Kundry herself? What is her fundamental sin? We learn in the course of the drama that she laughed, presumably at Christ when he was on the cross – although here, as elsewhere, Wagner assiduously avoids mentioning Christ by name. We know that her behavior can be impetuous and insensitive in other ways as well. She has little concern for Parsifal’s feelings when she just bursts out with the announcement in Act I that his mother is dead. She, of course, also becomes an arch manipulator once she is forced to do Klingsor’s bidding. But that cannot be counted against her as a character flaw either. Yet at the same time, we see that she has a tremendous innate capacity for sympathy and kindness. Her example of Christian charity in fact upstages the Grail Knights. She’s the one trekking to Arabia to get the balsam for Amfortas, not the Grail Knights, save for Gawan, whom we never meet and only hear about. In lieu of Balsam fetching, the Grail Knights, or at least the puerile ones we encounter in Act I, mock Kundry. They degrade her as of less worth than a wild animal. At least Gurnemanz, a person whose gravid music suggests his fundamental goodness, has the decency to parry their attacks and to come to Kundry’s defense. But even after his benevolent intervention, they still see her as „eine Heidin … ein Zauberweib“ (Wagner 1898, p. 329). And most disturbingly of all, when Gurnemanz mentions, in the sketchiest terms, that Kundry is atoning for some sort of guilt, one knight, on this scant evidence alone, tries to turn Kundry into the scapegoat for the community’s woes: „So ist’s wohl auch jen’ ihre Schuld / was uns so manche Not gebracht“ (Wagner 1898, p. 330). The Sunday school stories of Eve and Delilah have obviously made an impression: Woman is man’s undoing; and so no further evidence for Kundry’s culpability is necessary for this knight to accuse her. But we could ask the question more rigorously ourselves: Is Kundry responsible for Amfortas’s downfall? We don’t know from the text whether she was in league with Klingsor from the start. Even if she were, it’s not clear whether she
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would have been acting under her own volition, or if dazzled by Klingsor’s magnetic force, whether she instead would have been acting as the instrument of his will. Much more likely the latter, given what we know from Act II about his bewitching powers over her. Her main „sins“, so far as I can tell, are the misfortunes to have fallen under Klingsor’s mind control and to be a woman in the misogynist, homosocial world epitomized by the Grail Order and its outlook. Parsifal is the one to save her at last. In sprinkling her with water, notice that he doesn’t tell her to have faith in God or in Jesus. He tells her to have faith simply in the Redeemer (see Wagner 1898, p. 371). And it is left open who – or what – that redeemer is. But moments later we learn, for we see that her redeemer is Parsifal himself. Her redemption comes simply in being looked upon as a human being, precisely what has so far been refused her in her centuries of wandering the earth and what, I suspect, has precluded her from developing, up to this point, the depth of compassion that Parsifal himself eventually gains. To the extent that she has outbursts demonstrating gross insensitivity to the claims of others, it is largely attributable to the fact that she has never been treated as truly human herself (see Leslie 2012). The Knights demonized her as a heathen and a sorceress, going so far as to blame her for their downfall. Without Gurnemanz’s intervention, they might well have burned her at the stake for witchcraft. But Parsifal sees the goodness in her – goodness that, miraculously, has persisted undiminished in the face of her demeaning mistreatment. Many more points might be explored here. I have used the case studies of these three characters as the start of an interpretation cutting against the conventional wisdom about how Parsifal should be read. My reading is bracingly heterodox. I certainly don’t offer it as what Wagner himself intended. But I think it brings out potent undercurrents in Parsifal that have been hitherto neglected. Pointing out the superficial, in their view, similarity between the central image in Parsifal – the spear healing the wound it smote – and the oft-quoted Hegelian dictum, Slavoj Žižek and Mladen Dolar suggest in Opera’s Second Death that a Hegelian interpretation of the opera is precisely the wrong one. They say: In contrast to Hegel, Wagner’s Parsifal does not sublate the Fall in a later reconciliationthrough-synthesis; rather, he travels back in time retroactively to undo the Fall. In short, the Wagnerian formula ,the wound is healed only by the spear that smote you‘ means that the only way to undo the Fall (the wrong turn of events) is to return back to the moment of wrong decision and repeat the choice, this time making the right decision (Žižek/Dolar 2002, p. 164).
They are not alone in thinking that redemption in Parsifal involves a return to the original state of things – or at least to the time before the fall of Amfortas.
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A related sort of reading – more general in theme, but similar in spirit – would hold that Parsifal is in its essence cyclical. The world is redeemed by a „restitutio in integrum“, as Dieter Borchmeyer calls it, in which the „end is the beginning“ (Borchmeyer 2003, p. 238).1 Amfortas’s wound is closed, the spear is returned to Monsalvat to be reunited with the Grail, and the Brotherhood is reinvigorated, through Parsifal’s intervention, to its original spiritual calling. It could be that this redemption is final – cyclical, but with only one revolution. Or it could be that this restoration is only temporary relief, and that, some time in the future, another fall will come, necessitating once more the process of redemption. But either way, the idea shared by Borchmeyer, Žižek, Dolar, as well as many other interpreters, is that at the end of Parsifal, things are returned to the way they were before the fall. Yet the world in Parsifal, I have argued here, is one that the opera primes us to think would be better off changed. Rather than simply erasing the fall, our hope is that Parsifal, based on his newly found wisdom, will lead Amfortas and the Knights of the Grail to a transformed state. What we see gestured toward throughout Parsifal is not the need for a restitution of the original Grail Order, but rather the far more dire need to move from a problematic, ascetic form of the Christian religion to something else. And the opera, it seems to me, implicitly suggests itself to be that something else, in keeping with the 19th-century ambition that art might fill that gap that crumbling religion left behind. As the opera draws to a close, choral lines intertwine together in the most exquisite way to the words, „Höchsten Heiles Wunder! / Erlösung dem Erlöser!“ (Wagner 1898, p. 375). Those final words float up ethereally, and to the sound of twinkling harps, the opera performance itself and the fictional world within it come together at last: What was a church choir singing in exultation in Monsalvat we now come to see as an opera chorus in Bayreuth, one whose hymn to fills us, and them, with the hope that the Knights’ Christianity can heal the wound it smote by raising itself to Kunstreligion.2
1 Borchmeyer writes: „In short, the ending of Wagner’s Bühnenweihfestspiel (literally, ,a festival play with which to dedicate the stage‘) cannot be interpreted as part of a linear development that ends with the prospect of a wholly new world, a prospect suggested by many recent stagings of the work“ (Borchmeyer 2003, p. 239). I have tried to call into question that conventional wisdom here. 2 My gratitude to Mark Johnston for comments on an earlier version of this paper, as well as to an audience in Naumburg, where I presented a version of the material.
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Literature Ashman, Mike (1986): „A Very Human Epic“. In: Nicholas John (ed.): Parsifal [English National Opera Guide No. 34]. London. Borchmeyer, Dieter (2003): Drama and the World of Richard Wagner. Trans. by Daphne Ellis. Princeton. Leslie, Sarah-Jane (2012): „Eros and the Redemption of the Gods“. In: Andy Hamilton/Nick Zangwill (eds.): Scruton’s Aesthetics. London. Wagner, Richard (1898): Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 10. Leipzig. Žižek, Slavoj/Mladen Dolar (2002): Opera’s Second Death. London.
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Gegen eine Theorie der Musik als „Sprache des Gefühles“ 1 Eine chronologische Vorbemerkung Es ist unleugbar, dass zwischen allen Figuren, die in irgendeiner Form eine bedeutende Rolle im Leben und Werk Friedrich Nietzsches innehatten, Richard Wagner die einflussreichste, wenn auch vielleicht die unbequemste, war. Es war unvermeidlich, dass Nietzsche sich mit dieser entscheidenden Figur seiner Entwicklung in besonderem Maße auseinandersetzte, viel mehr als mit anderen Denkern, die er als geringere Pflicht – und geringere Last – empfand. Die Geschichte dieses Verhältnisses ist ziemlich bewegt: nach einer ersten enthusiastischen Zustimmung zu den Ideen des Meisters Wagner fand 1876 der Bruch anlässlich der Bayreuther Festspiele statt, dem eine lange scheinbare Ruhephase des Konfliktes folgte.1 Anlässlich der Veröffentlichung des Fall Wagner (WA, 1888), in dem Wagner als der Held der modernen Kultur der Décadence beschrieben wird, zeigte er sich aber von neuem. Wie aber schon Montinari behauptete, sollte man die Entfernung Nietzsches von den Anschauungen Wagners einige Jahre vor dem echten Bruch von 1876 ansetzen. Wenn man den Briefwechsel und den Nachlass analysiert, sieht man ab 1873 einen unverhohlenen Skeptizismus. Zudem verraten die Notizen im Nachlass zu UB IV eine unwiderrufliche Entfernung vom Werk des Meisters und eine harte Kritik an ihm, als ob der zweifelnde Ton der veröffentlichten Schrift selbst nicht genug wäre. UB IV, die allgemein als die letzte Huldigung Wagners gilt, ist eher als Endpunkt einer zuvor begonnenen kritischen Reflexion über sein Werk und seine Persönlichkeit zu verstehen: sie ist schon ein antiwagnerischer Text. Meines Erachtens kann man die Keime der Wagner-Kritik Nietzsches schon seit 1865 finden. Keime, die schon zur GT offenbar sind. Diese Überzeugung festigt sich, wenn man beobachtet, dass die Typologie der musikalischen Analysen und Betrachtungen über den Inhalt, technische und musikalische Mittel und die Ziele des Werkes des Musikers in der Entwicklung der Reflexion über Wagner
1 Eine Ausnahme ist der unvollendete Versuch von 1885, eine neue Unzeitgemäße Betrachtung über Wagner zu schreiben. Es ist eine Serie von neun Kapiteln (NL 1885, KSA 11, S. 669–678). Nach WA sammelte er Exzerpte aus seinen Werken, die als Nietzsche contra Wagner (NW, 1888) belegen, seine Wagner-Kritik sei immer kohärent gewesen.
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kohärent blieb. Nämlich, nur die Anwendung dieser Argumente auf besondere Fälle sich ändert. Der thematische Keim der Wagner-Kritik, der die Analyse der These bestimmt, dass die Musik von Affekten handle, war schon vor dem ersten Treffen Nietzsches mit Wagner angelegt.
2 Ü ber verschiedene Wirkungslehren der Musik zwischen Antike und Moderne Wie schon viele erkannt haben, ist der theoretische Keim der späteren Kritik Nietzsches an Wagners Musik derselbe, den Hanslick herausarbeitete, und den Nietzsche sich aneignete und um einen originellen Vergleich mit dem Kunstwerk der griechischen Antike bereicherte.2 Hanslick behauptete, die moderne Musik, Wagner in primis, verwechsle den Begriff des Effekts der Musik mit jenem des Affekts. Damit verzichtete sie auf eine Theorie des Effekts, wie sie zum Beispiel die Antike mit der Theorie der ēthē (Charakter) hatte. Nach dieser Theorie3 war jedes poetische und musikalische Werk durch eine Union von Tonart, Metrum und musikalischem Rhythmus so kodifiziert, um eine bestimmte Wirkung auf das Publikum zu erreichen, die zur jeweiligen öffentlichen und staatlichen Gelegenheit für passend gehalten wurde: Freude über den Sieg, Verherrlichung des Siegers, Trauer über den Tod, Lobpreisung des Gottes, Lustigkeit des Symposiums. Es war keine um eine einfache Erregung dieser Gefühle, sondern, das Gemüt der Hörer bereitete sich dauerhaft zu einem verschiedenen Gefühl, das dem Charakter der Komposition, entsprach. Gegen diese alte Musik, die eine Wirkung auf den Charakter, auf das Ethos erreichen wollte, hätte Wagner seine
2 Ein interessantes Anzeichen für die konstanten Maßstäbe, die Nietzsche an Wagners Musik legte, ist, wie Friederike Felicitas Günther gezeigt hat, Nietzsches Verwendung von Hanslicks Werk von 1854. Dieses Werk gilt, neben Jahn 1866, als eines der wichtigsten in der musikalischen Ausbildung Nietzsches. In den Jahren der GT stellt Nietzsche sich deutlich gegen Hanslick, wegen dessen feindlicher Einstellung zu Wagner. Er benutzt aber dessen Argumente für die Analyse von Wagners Musik, aber ohne deren polemische Absicht. Dieselben Argumente inspirieren die spätere Kritik, wenn Nietzsche Hanslick nun kritisch gegen Wagner benutzt. 3 Erster Theoretiker der Lehre war Damon (5. Jhd. v. Chr.). Nietzsche bedient sich ihrer in den Vorlesungen über die Geschichte der griechischen Literatur und in der Einleitung in die Tragödie des Sophokles, um die spezifische Wirkung jeder griechischen poetischen Gattung zu bewerten. Nach ihr wirkt jede Gattung nach drei Typologien: „Die alten griechischen Techniker unterschieden die cantica nach dem ēthos (wie das Gemüht des Hörers afficirt wird) Drei Haupt-ēthē, das diastaltikòn Ausdruck der megaloprépeia [Großmut], das systaltikòn das Gegenteil, unmännlicher Schmerz und die niedrig komische Poesie. Drittes das ēsykastikòn“ (KGW, II/3, S. 15).
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Musik zugunsten einer Theorie der Affekte, der von der Musik erregten Gefühle, orientiert, die keine ethische, sondern eine pathetische Wirkung durch pathetische Mittel erreichen wollte. Hanslick leugnete dagegen, dass die musikalische Sprache als eine Sprache der Leidenschaft betrachtet werden sollte: er stritt ab, dass der Effekt der Musik in einer Wirkung auf die Gefühle gesucht werden sollte. So schrieb Nietzsche schon 1865, nach Hanslick: Was hat die Poesie gemeinsam mit der Musik? Bewegung, und zwar geordnete Bewegung. Dort Folge von Worten (im Laut und Reim die verwandte Seite). Hier von Tönen. Die Musik ist analog dem Gefühl, nicht identisch oder Sprache des Gefühls. Das Ziel der Musik, alles Bewegte in der Natur umzusetzen in die Bewegung der Töne (NL 1865, KGW I/4, 26[1]).
Sowohl die Musik als auch die Poesie würden auf einem verschiedenen Niveau des Ausdrucks wirken; sie sprechen nicht die Sprache der Gefühle, sondern diejenige der Formen, und, im Fall der Musik, der rhythmischen Formen, der Zeitdauern, der Tonhöhen usw. Hier musste bloß theoretisch festgestellt werden, ob die Musik fähig sei, ein bestimmtes Gefühl darzustellen. Die Frage war zu verneinen, da die Bestimmtheit der Gefühle von konkreten Vorstellungen und Begriffen nicht getrennt werden kann […] Einen gewissen Kreis von Ideen hingegen kann die Musik mit ihren eigensten Mitteln reichlichst darstellen. Dies sind, entsprechend dem sie aufnehmenden Organ, unmittelbar alle diejenigen Ideen, welche auf hörbare Veränderungen der Kraft, der Bewegung, der Proportionen sich beziehen, also die Idee des Anschwellenden, des Absterbenden, des Eilens, Zögerns, des künstlich Verschlungenen, des einfach Fortschreitenden und dgl. – Es kann ferner der ästhetische Ausdruck einer Musik anmutig genannt werden, sanft, heftig, kraftvoll, zierlich, frisch: lauter Ideen, welche in Tonverbindungen eine entsprechende sinnliche Erscheinung finden (Hanslick 1854, Bd. II, S. 14).
Wenn man die skizzierte Chronologie des Verhältnisses Nietzsche/Wagner betrachtet, und wenn man sich auf die „wagnersche Epoche“ im engeren Sinne – von 1869 bis zur Zeit der Vorbereitung und Niederschrift der GT (1871) – konzentriert, findet man schon dort die Elemente der zukünftigen Kritik gegen die Musik Wagners, nur, dass diese Kritiken noch nicht gegen Wagner adressiert werden. Nietzsche war zu jener Zeit daran interessiert, die Elemente der Décadence innerhalb der antiken griechischen Gesellschaft zu bestimmen, er wollte sie in jener Änderung des Grundverhältnisses zwischen dem Kunstwerk und seinem Publikum erkennen, das die Seele des alten Kunstwerkes gewesen sei. Der Wegfall des Kontaktpunktes zwischen dem Kunstwerk und dem Publikum, oder, wie im Fall Euripides, die Überzeugung, dass diese vorausgesetzte Gemeinschaft nachlässt, zwang die antiken Autoren dazu, neue Mittel anzuwen-
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den, um das Publikum für den Effekt des Kunstwerks wiederzugewinnen. Wenn also früher jedes Kunstwerk auf der Basis seiner konstitutiven Elemente und der Tradition, in die es eingeschrieben war, mit einem eigenen besonderen Ethos konnotiert war, das Publikum dieses erkannte und sich in demselben Gemütszustand wiederfand, musste nun der Autor durch neue Mittel diese Seelenzustände in sein Werk einfügen, da es aufgrund des Werkes selbst keine Übereinkunft mehr darüber geben konnte. Das Phänomen des Niedergangs der Strukturen des antiken Kunstwerkes, die dazu bestimmt waren, das Kunstwerk als eine ethische Einheit – d. h. als eine allgemeine Geisteshaltung, eine Stimmung – zu konzipieren und zu erfahren, wurde nach Nietzsches Meinung in der Form des Neuen Attischen Dithyrambus offenbar, mit dem die von ihm genannte „Tonmalerei“ zum ersten Mal in Griechenland eingeführt wurde: Durch jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum imitatorischen Konterfei der Erscheinung z. B. einer Schlacht, eines Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffenden Kraft gänzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsere Ergötzung nur dadurch zu erregen sucht, dass sie uns zwingt, äußerliche Analogien zwischen einem Vorgange des Lebens und der Natur und gewissen rhythmischen Figuren und charakteristischen Klängen der Musik zu suchen, wenn sich unser Verstand an der Erkenntnis dieser Analogien befriedigen soll, so sind wir in eine Stimmung herabgezogen, in der eine Empfängnis des Mythischen unmöglich ist. […] Jetzt ist die Musik zum dürftigen Abbilde der Erscheinung geworden und darum unendlich ärmer als die Erscheinung selbst: durch welche Armut sie für unsere Empfindung die Erscheinung selbst noch herabzieht, so dass jetzt z. B. eine derartig musikalisch imitierte Schlacht sich in Marschlärm, Signalklängen usw. erschöpft, und unsere Phantasie gerade bei diesen Oberflächlichkeiten festgehalten wird (GT, KSA 1, S. 112f.).
So offenbarte sich jener Intellektualismus, dem Nietzsche die Verantwortung für das Ende des attischen Dramas zuschrieb. Der Grund der Entscheidung für die Tonmalerei war nach Nietzsches das Misstrauen gegenüber der Musik selbst, ihrer Ausdrucksfähigkeit und ihren Mitteln, durch die sie traditionsgemäß ihre Effekte erzielt. Teilt man dieses Misstrauen, sieht man sich genötigt, die Mittel der Musik zu verstärken, sie durch Leidenschaften und Erklärungen zu stützen, um das Publikum zu überzeugen. Das Beispiel des neuen Dithyrambos zeigt, wie der Autor die Aufmerksamkeit von den rhythmischen und tonalen Strukturen der Komposition ablenkte – von den musikalischen Strukturen, die den musikalischen Effekt erzeugten – , indem er in sie jene externen Effekte einführte, die ursprünglich erst von den musikalischen Strukturen erzeugt werden sollten. Es handelt sich also nicht mehr um eine Komposition, die in dem Zuhörer die Aufregungen einer Schlacht wiedererweckt, sondern die Schlacht wird selbst wiedergegeben, mimisch in
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Tönen dargestellt, sodass der Zuschauer sie erkennen und vor seinen Augen dargestellt sehen kann: Musik gar nicht mehr für das Ohr, sondern für das Auge zu componieren. Die Augen sollten das kontrapunktische Geschick des Komponisten bewundern: die Augen sollten die Ausdrucksfähigkeit der Musik anerkennen. Wie war dies zu bewerkstelligen? Man färbte die Noten mit der Farbe der Dinge, von denen im Texte die Rede war, also grün, wenn Pflanzen, Felder Weinberge, purpurrot, wenn die Sonne und das Licht erwähnt wurden. Es war dies Literaturmusik, Lesemusik (GMD, KSA 1, S. 517).
Nicht mehr Musik, also, sondern Literatur, Literaturmusik.
3 D er Präzedenzfall: die musikalische Kritik der Walküre von Richard Wagner Wie schon erwähnt, werden die Beobachtungen über den Niedergang des alten Kunstwerkes in den Jahren der GT nicht als Argumente gegen Wagner benutzt. Wie ist es nun möglich, dass sich gerade auf diese Elemente – Diskrepanz zwischen dem Kunstwerk und seinem Effekt, Verstärkung der Affekte, Aufmerksamkeit für die Erklärung der Inhalte, Tonmalerei der deskriptiven Musik – nach 1888 die Kritik Nietzsches gegen Wagner stützt? Wenn wir ins Jahr 1866 zurückkehren, zwei Jahre, bevor Nietzsche 1868 Wagner traf, drei Jahre vor den persönlichen Besuchen in Tribschen, fünf Jahre vor der Veröffentlichung der GT –, bemerken wir, dass wesentliche Punkte der Kritik an Wagner schon bestimmt waren. Im Herbst 1866 schrieb der junge Nietzsche einen Essay über die Eindrücke, die er nach der Darbietung des Arrangements für Klavier4 der Walküre von Wagner gewonnen hatte. Die allererste Kritik, die Nietzsche an dieses Werk richtet, ist, dass es die Musik und die Literatur, und besonders deren jeweilige Effekte, verwechselt.5 Die Walküre sei ein Beispiel für die moderne Tendenz, literarische Musik zu komponieren; sie sei Musik, die erzählt und eine nicht-musikalische Sprache spricht: Das Vorspiel hat die Überschrift ‚Stürmisch‘; dem Orchester kann unmöglich damit geheißen sein, stürmisch zu spielen; das wäre unordentlich, wild. Nicht das Orchester darf stür-
4 „Die Walküre vo n Rich ard Wag n er. Vo llstän d ige r K l avi e r au sz ug vo n Ka r l Klindwor th“ (NL 1866, KGW I/4, 43[1]). Vgl. Bf. an von Gersdorff, 11.10.1866, KGB I/2, Bf. 523). 5 Hier ist auf Hanslick zu verweisen, der den alten caveat des Laookon von Lessing gegen das Motto ut pictura poesis in das Feld der neuen musikalischen Richtungen übersetzt hat.
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misch sein, wohl aber – die Komposition. Der Dirigent mag ein schnelles Tempo nehmen, der Leser aber der Partitur oder des Klavierauszugs mag wissen, dass das Vorspiel einen Sturm schildere. Die Überschrift ist also ein Programm, das dem Zuhörer ein poetisches Bild vor die Seele zaubert. Wüssten wir nicht, dass Sturm gemalt werden soll, so würden wir raten zunächst auf ein wirbelndes Rad, dann auf einen vorbeibrausenden Dampfzug. Wir hören das Klappern der Räder, den einförmigen Rhythmus, das pausenlose dahinjagende Getöse. Es wird uns bei längerem Anhören schwindelnd: der Sturm ist aber schnell vorüber, er mäßigt sich, wir ruhen aus und sind eben so „todtmüde“, wie der erschöpft auftretende Sigmund (NL 1866, KGW I/4, S. 128).
Zuerst beobachtet Nietzsche, dass die Anweisung für das Tempo, „stürmisch“, nicht ihre normale Funktion als Vorgabe für die Ausführung des Orchesters habe, sondern wie eine Legende ist: sie erklärt, wovon die Oper handelt, was sie darstellt. Sie handelt von einem Sturm, unabhängig, wie man ihn spielt. „Stürmisch“ ist in diesem Fall nicht nur eine Anweisung, wie das Vorspiel gespielt werden soll, sondern die Beschreibung seines Inhaltes, der mimetisch-musikalischen Darstellung der Wirbel des Sturmes: es ist nicht das Verdienst der Musiker und ihrer Ausführung, ob das Publikum den Sturm erfährt, sondern dieser selbst wird vor den Augen des Publikums entfesselt, weil er in Tönen in der Partitur geschildert ist, sodass der Zuschauer, so wie Siegmund im Werk, sich endlich todmüde fühlen wird. Auf der einen Seite gibt es also eine Form von extremem Rationalismus, indem man offensichtlich macht, was alles im Werk passiert, sodass sich ein übertriebener, deskriptiver Naturalismus ergibt; auf der anderen Seite wirkt der Autor auf die Leidenschaften der Zuhörer, indem er sie in die Konzeption des Werkes aufnimmt und auf die irrationale Seite des Zuhörers selbst einwirkt.6 In Wagner in Bayreuth war diese Kritik gegen den Rationalismus Wagners schon zu hören: „Von Wagner, dem Musiker, wäre im Allgemeinen zu sagen, dass er Allem in der Natur, was bis jetzt nicht reden wollte, eine Sprache gegeben hat: er glaubt nicht daran, dass es etwas Stummes geben müsse“ (WB, KSA 1, S. 490f.). Die traditionelle Musik teilt keine Leidenschaft unmittelbar mit, sondern sie spricht eine nicht emotional konnotierte und rein formale Sprache, eine musikalische Sprache, die in Zeiten, Dauern, Tonhöhen und raumzeitlichen Verhältnissen besteht. Zu behaupten, dass diese Sprache „nicht sprechen könne“, dass sie eine Implementierung von Bedeutung seitens der modernen Musiker brauche, ist das Resultat eines Verlustes an musikalischer Sensibilität im modernen Menschen.
6 „Die Wortmusik soll zunächst auf die Affekte des Zuhörers wirken, als deklamiertes Wort: die Musik ist auf den Nich t m u s i ke r berechnet, der ihr nur mit Affekten beikommt. Dieser affektuose Nichtmusiker ist der geträumte Ur z u h ö re r, der die Gesetze diktiert: er will einfache und starke Empfindungen erregt haben und dem Gedanken entfliehn“ (NL 1871, KSA 7, S. 325).
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4 D ie unendliche Melodie: eine echte musikalische Reform? Neben dieser Kritik der pseudo-rationalistischen Obsession Wagners, die Musik die Sprache des Gefühls sprechen zu lassen, sodass sie intensivere Effekte auf das Publikum hat, führt Nietzsche einen zweiten polemischen Angriff, dieses Mal gegen die vermeintliche musikalische Reform Wagners. Die unendliche Melodie7, für die Musikwissenschaft die echte formale Revolution der Musik Wagners, ist nach Nietzsche ein „hölzernes Eisen“ (NL 1881, KSA 9, S. 521), eine Unmöglichkeit, eine contradictio in adiecto, aber auch, in diesem besonderen Fall, eine Fälschung. Nietzsche weigert sich, der Musik Wagners den Status einer Neuerung im musikalischen Feld zuzuerkennen: „Ich habe erklärt, wohin Wagner gehört – nicht in die Geschichte der Musik“ (WA, KSA 6, S. 37). Wagner erfindet nichts Neues, revolutioniert nichts, führt keine Neuerung ein, er nimmt einfach die alte klassische musikalische Theorie und verneint sie. Er wendet die alten musikalischen Strukturen an8 und zerlegt sie, reißt sie nieder: was übrigbleibt, Ruinen, das ist die absolute Musik. Die unendliche Melodie ist eine absolute Musik, im Sinne einer von allen Normen der Kunst gelösten Musik, eine Melodie, die auf die rhythmische Struktur und auf die ihr sonst natürlich entsprechende tonale Lösung verzichtet. Aber dass man keine Regel hat, heißt für Nietzsche noch nicht, eine Regel zu haben. Die unendliche Melodie ist nichts Erzeugtes, Gebildetes, Positives: sie entsteht aus Negation, aus der Beraubung traditioneller Strukturen. Wagner versucht eine „Entfesselung des Rhythmus“ (NL 1871, KSA 7, S. 317), die er als „Befreiung“ versteht (NL 1871, KSA 7, S. 310), als wäre der Rhythmus der Antike oder der klassischen Musik gefesselt gewesen und müsste jetzt entfesselt werden, um seine Kraft zu befreien.9 Wagner vergisst aber, dass es das Wesen des Rhythmus selbst ist, „gebunden zu sein“, weil er Ordnung der Zeit ist.10 Selbst die Arrhythmien, die synkopischen Bewegungen der Zeit, die Taktwechsel, finden ihre Daseinsberechtigung darin, dass sie als Zerstreuung, als Ablenkung vom grundlegenden
7 Die „unendliche Melodie“ war bereits 1868 negativ besetzt: „Die Rose’sche Gelehrsamkeit ist eine Melodie ohne Ende: man ist erstickt, ehe man sie zu Ende gesungen hat“ (BAW, V, S. 97). 8 Die Wagner-Forschung beginnt in diesen Jahren in diese Richtung zu ermitteln (vgl. Lütteken 2012 und Zoppelli 2012; siehe auch: Viviani 2008). 9 Günther 2008 hat eine Lektüre der Entfesselung des Prometheus und der Abbildung auf der ersten Seite der GT unternommen und diese als symbolische Darstellung des Verhältnisses zwischen gebundenem und Regel überwindenden Rhythmus und dem Rhythmus gedeutet. 10 Nach der berühmten Definition von Aristoxenos von Tarent (vgl. KGW II/3, S. 104).
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Rhythmus gelten. Man gewinnt keine rhythmische Reform nur durch die Verwerfung jeder rhythmischen Regel: Das Aufhören der großen rhythmischen Perioden, das Übrigbleiben der Taktphrasen, macht allerdings den Eindruck der Unendlichkeit, des Meers: aber es ist ein Kunstmittel, nicht das reguläre Gesetz, zu dem es Wagner stempeln möchte. Wir haschen zuerst darnach, suchen uns Perioden, werden immer wieder getäuscht, und endlich wirft man sich in die Wellen (NL 1874, KSA 7, S. 767).
Dieses Bild des Sich-in-die-Wellen-Werfens als einzig mögliches Ende der ungelösten tonalen Flucht der Musik Wagners11 wird von Nietzsche mehrmals wiederaufgenommen, und es wird ein Kennzeichen der Kritik an der unendlichen Musik. Er definiert die Wirkung der Musik Wagners auf den Hörer als ein Zwang zu schwimmen, ein fortwährendes Schweben, ohne den Halt des Rhythmus, als ob man in einem melodischen Strom ohne Mündung verloren sei. Wie nach der neueren Musik sich die Seele bewegen soll. – Die künstlerische Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich, als „unendliche Melodie“ bezeichnet wird, kann man sich dadurch klar machen, dass man ins Meer geht, allmählich den sichern Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergibt: man soll schwimmen. In der bisherigen älteren Musik musste man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wieder, Schneller und Langsamer, tanzen: wobei das hierzu nötige Maß, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende B esonnenheit erzwang: auf dem Widerspiele dieses kühleren Luftzuges, welcher von der B esonnenheit herkam, und des durchwärmten Atems musikalischer Begeisterung ruhte der Zauber jener Musik (VM, KSA 2, S. 434).
Die alte Musik, die Musik der Griechen insbesondere, hatte einen ganz anderen Respekt vor dem Zuhörer, den sie auf eigenen Beinen laufen ließ, anstatt ihn mit all ihren Paradoxien und Erschütterungen12 zu überraschen, zu entführen. Nach Nietzsche unternimmt Wagner systematisch eine Überwindung der Regel: er beansprucht, sich von den engen Grenzen der Kunst, als ordentliche Struktur und Technik verstanden, zu lösen, und seine Musik zur totalen Sprache erheben, die fähig sei, die Totalität der Existenz bis zum Wesen ihrer ursprünglichen Instinkte auszudrücken und zu bedeuten. Aber von Instinkt dürfte man
11 In der klassischen Musik sind die musikalische Elemente durch verschiedene Verhältnisse in der Komposition verbunden, wie in dem, das die Tonika mit der Dominante bindet: die Dominante strebt naturgemäß nach einer Lösung in der Tonika. 12 Andere Formeln für die Bezeichnung des Charakters der Musik Wagner sind: „Wagners Genie der Wolkenbildung“ (WA, KSA 6, S. 37) oder „Polyp der Musik“ (WA, KSA 6, S. 14).
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in diesem Fall gerade nicht sprechen, und auch nicht von einer revolutionären Anarchie, die gegen die Sklerotisierung der Gefühle in der vorhergehenden Kunst und Musik kämpft. Nietzsche beobachtet, dass Wagner zu viele Regeln verletzt, mit zu viel Klugheit und Bewusstsein die Grenzen seiner Kunst überschreitet, sodass man hinter seiner Kunst ein bestimmtes Projekt sehen muss, für das er bestimmte Instrumente anwendet: Maasslosigkeit als Kunstmittel. – Künstler verstehen wohl, was es sagen will: die Maßlosigkeit als Kunstmittel zu benützen, um den Eindruck des Reichtums hervorzubringen. Es gehört das zu den unschuldigen Listen der Seelenverführung, auf welche sich die Künstler verstehen müssen: denn in ihrer Welt, in der es auf Schein abgesehen ist, brauchen auch die Mittel des Scheins nicht notwendig ächt zu sein (VM, KSA 2, S. 442).
Dass Wagner zu solchen Listen in der Komposition greift, verrät nach Nietzsche eine dreifache Ohnmacht des Musikers, die sich auf dem Niveau des Gefühls, der Form und der Kunst, d. h. der praktischen Anwendung der Mittel der Kunst, zeige.
5 Ohnmacht des Musikers Dem décadent Wagner ist zuerst eine Ohnmacht des Gefühls zuzuschreiben, eine Unfähigkeit, groß zu fühlen. Er ist kein hoher Charakter, sein Geist neigt nicht zu großen Gedanken. Man könnte sagen, es fehle ihm konstitutiv die megaloprépeia, die Fähigkeit, große Konzeptionen zu haben, die charakteristisch für die Tragiker war. Wagner ist mehr ein Komiker als ein Tragiker, sein Gemüt ist klein, er ist nur zu geringer Intensität fähig: seine Kunst würde besser den niederen Formen des Dramas entsprechen. Er hat sich jedoch die höchste Gattung gewählt, so dass sein Stil notwendigerweise falsch und ekelhaft klingt, weil er begeistert scheinen soll, ihm dies aber nicht gelingt. Darum wird Wagner in seinem Publikum dieselben Effekte des höchsten Dramas durch künstliche Mittel erregen, er wird den Zuschauer nur gewinnen, indem er dessen kritische Aufmerksamkeit zur Erschöpfung treibt. Zweitens verrät Wagner eine Ohnmacht in der Erreichung der Form, eine Unfähigkeit, etwas Abgeschlossenes zu konzipieren und seinem Stil eine Form zu geben. In seiner Musik fallen verschiedene Mängel zusammen: einerseits die Unfähigkeit, neue Ideen zu haben, die die Kraft und die Gültigkeit haben könnten, als künstlerische und kulturelle Werte sich durchzusetzen. Andererseits handelt es sich um eine stilistische Unfähigkeit, einen Mangel in der Mitteilungskraft, weil, so Nietzsche, die erste Regel für den guten Schriftsteller und Stilisten ist, etwas zu sagen zu haben und es klar zu erfassen. Wagner fehlen
Gegen eine Theorie der Musik als „Sprache des Gefühles“
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die Ideen, aber er wollte trotzdem eine künstlerische, eine stilistische Revolution bewirken. Sein Stil ist so artikuliert, um die Abwesenheit von Ideen zu verstecken, um den Zuhörer zu begeistern, so dass er glaubt, von der Idee verführt zu werden, während im Gegenteil nur sein irriges Gefühl verschärft wird, er habe eine Idee erfasst. Die unendliche Melodie ist eine fortwährende Spannung, die „mit hundert Atmosphären drückt“ (WA, KSA 6, S. 29). Sie ist ganz Pathos, man erreicht aber nie die gewünschte Lösung13, weil es keine Lösung gibt. In Wagners Stil ist offenbar, so Nietzsche, dass er keinen klaren Gedanken hatte: Vor Allem kein Gedanke! Nichts ist compromittirender als ein Gedanke! Sondern der Zustand vor dem Gedanken, das Gedräng der noch nicht geborenen Gedanken, das Versprechen zukünftiger Gedanken, die Welt, wie sie war, bevor Gott sie schuf, – eine Recrudescenz des Chaos … Das Chaos macht ahnen … In der Sprache des Meisters geredet: Unendlichkeit, aber ohne Melodie (WA, KSA 6, S. 24).
Eher als einem negativen stilistischen Vorbild, stehen wir nach Nietzsche einem Mangel an Stil gegenüber. Das dritte Ohnmachtszeichen, das Nietzsche bei Wagner findet, ist seine stilistische Unfähigkeit, der Mangel an Beherrschung der Mittel seiner eigenen Kunst. Wenn der ‚Große Stil‘ in der vollen Souveränität über die Mittel der Kunst bestand, die eine Art zweiter Natur für den Künstler war, so wird der Stil Wagners das Gegenteil des großen Stiles sein: ein Stil, der natürlich sein will, aber nur künstlich sein kann. Wenn der Grosse Stil der Sieg des Schönen über das Ungeheure war (WS, KSA 2, 596), der Grenzen über das Unendliche, wurden im Gegenzug das Ungeheure, das Unendliche, das Unförmige zum Charakter von Wagners Stil.
6 Schluss Nietzsches Wagner-Kritik stützt sich auf formale Elemente und musikalische Beobachtungen. Die musikalische Kritik, ab 1866 sichtbar, entwickelt sich in zwei Richtungen: zum einen im Kielwasser Hanslicks, haben wir die Kritik an der Konzeption der Musik als Sprache der Affekte. Zum anderen steht die Kritik des Niedergangs der formalen rhythmischen Strukturen des Kunstwerks im Namen einer angeblich neuen musikalischen Sprache, die aber keine neuen Regeln einführt.
13 „Nach einem Them a ist Wagner immer in Verlegenheit, wie we i te r. Deshalb l a nge Vorbereitung – Spannung. Eigene Verschlagenheit, seine Schwächen als Tugenden umzudeuten. So das Improvisatorische“ (NL 1878, KSA 8, S. 492).
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Dass diese Kritik so früh deutlich wird, und auch nicht in der Zeit der Begeisterung für Wagner verstummt, zeigt, dass der Konflikt Nietzsche contra Wagner nicht nur eine Auseinandersetzung von Persönlichkeiten ist und ebenso wenig nur einen Kampf von Ideologien. Die Kritik gegen Wagner steht im Werk Nietzsches auf dem Boden der Kritik an der modernen Kultur, einer Kritik, die sich zwar auf dem formalen Niveau des Stils und der Sprache bewegt, aber von hier zum ethischen Niveau des Inhaltes, der Ideen, fortschreitet.
Literaturverzeichnis Dufour, Éric (2001): „La physiologie de la musique de Nietzsche“. In: Nietzsche-Studien 30, S. 222–245. Günther, Friederike Felicitas (2008): Rhythmus beim frühen Nietzsche. Berlin, New York. Hanslick, Eduard (1854): Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst. Leipzig. Hinrichsen, Hans-Joachim: „Musikalische Rhythmustheorien um 1900“. In: Barbara Nauman (Hg.): Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften. Würzburg, S. 141–156. Jahn, Otto (1866): Gesammelte Aufsätze über Musik. Leipzig. Lütteken, Laurenz (Hg.) (2012): Wagner-Handbuch. Stuttgart, Weimar. Viviani, Giada (2008): Wagner italiano. Il Musikdrama e gli insegnamenti del melodramma italiano. Diss., Université de Fribourg. http://ethesis.unifr.ch/theses/index.php#Lettres Zoppelli, Luca (2012): „Wagner und die Oper seiner Zeit“. In: Laurenz Lütteken (Hg.): WagnerHandbuch. Stuttgart, Weimar.
Personenregister Adler, Guido 186 Adorno, Theodor W. 104, 107, 126 Aischylos 23, 97–98 Alexander der Große 15 Ambros, August Wilhelm 253 Andrassy, Franziska Gräfin von 62 Apel, Theodor 216 Aristoteles 27, 161, 201 Aristoxenos von Tarent 284 Ashman, Mike 273 Auber, Daniel François 250 Auerbach, Berthold 216, 218 Avenarius, Ferdinand 70, 203–204 Bach, Johann Sebastian 188, 258 Bahr, Hermann 182, 185 Balzac, Honoré de 56, 97, 131–132 Baudelaire, Charles 136, 182, 185 Baumgartner, Marie 62 Baumgartner, Wilhelm 206, 208 Beardsley, Aubry 48, 53, 77 Beethoven, Ludwig van 111, 113, 157, 169, 219, 228, 238–239, 258 Bellini, Vincenzo 250 Benjamin, Walter 52 Benn, Gottfried 184 Berg, Alban 103 Bergson, Henri 195 Berlioz, Hector 250–251 Bernard, Claude 32 Biser, Eugen 144, 146 Bismarck, Otto von 65 Bizet, Georges 99–100, 103–104 Bleichröder, Gerson von 62 Bloch, Ernst 193 Bondy, Luc 256, 257 Borchmeyer, Dieter 148, 211, 227, 228, 276 Börne, Ludwig 220 Brandes, Georg 264 Brobjer, Thomas H. 205 Brochard, Victor-Charles-Louis 33 Brockhaus, Hermann 95, 197, 237 Bronsart, Ingeborg (Lena) Frau von 62 Buch, Ludwig August Freiherr von 64
Bülow, Bernhard Fürst von 62 Bülow, Daniela von 273 Cagliostro, Alessandro Graf von (eigentlich: Guiseppe Balsamo) 36, 101 Calderon de la Barca, Pedro 97 Catulle-Mendès, Judith 62 Cecilie, Kronpression von Preußen 67 Coudenhove, Paula Gräfin von 62 Dahlhaus, Carl 246, 251 Damon 279 Dante Alighieri 11, 97 Darwin, Charles 97, 158, 195 Daumier, Honoré 48, 52, 75 Decker, Kerstin 140 Delbrück, Rudolf von 62 Deleuze, Gilles 121, 122 Demosthenes 15 Dilthey, Wilhelm 95 Dolar, Mladen 275–276 Dom Pedro II. 47 Dönhoff, Marie Gräfin von 62 Doré, Gustave 48 Dostojewski, Fjodor 33 Drüner, Ulrich 78, 186 Dühring, Eugen 85, 221, 223 Düsing, Edith 158 Eckermann, Johann Peter 99, 204 Eckhart Meister 97 Eger, Manfred 51, 63 Ehlert, Louis 56 Eschenbach, Wolfram von 172, 257 Euripides 23, 247, 280 Faber-Castell, Ottilie Gräfin von 66 Féré, Charles 32 Feuerbach, Ludwig 185, 205–207, 212–213 Fiedler, Konrad 63 Fischer, Jens Malte 217–218 Fischer, Kuno 205, 213 Flaubert, Gustave 58, 132 Fleischer, Margot 141
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Personenregister
Förster, Bernhard 224, 231 Förster-Nietzsche, Elisabeth 46, 61, 63, 69, 94, 238 Foucault, Michel 259 Fourier, Charles 222 Frantz, Constantin 223 Frenzel, Karl 46, 47, 50, 56 Freud, Sigmund 58, 86 Freytag, Gustav 222 Friedrich Franz II. Großherzog von Mecklenburg-Schwerin 62 Fritsch, Theodor 235 Fuchs, Carl 104 Fuchs, Eduard 47, 48, 50, 51, 53, 55, 56, 61, 64 Furtwängler, Wilhelm 157 Gadamer, Hans-Georg 259 Gasparin, Valérie Comtesse de 62 Gautier, Theophile 62 Geiger, Moritz 188 Georg Prinz von Preußen 62 Gerber, Gustav 23 Gerhardt, Volker 167 Gersdorff, Carl von 63, 64, 86, 97, 226–227, 238, 241, 245, 282 Geyer, Ludwig 216, 236 Girod, Michael 15, 17 Gobineau, Arthur Graf de 217, 225, 232 Goehr, Lydia 114 Goethe, Johann Wolfgang von 94, 97, 99, 111, 157, 168, 169, 175, 183, 204, 207 Görner, Rüdiger 121 Großmann-Vendrey, Susanne 47–50, 55, 59, 62 Guarrieri-Gonzaga, Emma Marchese de 62 Gulbranson, Olaf 48, 59, 78 Günther, Friederike Felicitas 279, 284 Haase, Marie-Luise 123–125 Habermas, Jürgen 265 Halevy, Jacques 218 Handke, Peter 256–257 Hanslick, Eduard 47–51, 54–55, 59, 70, 253, 279–280, 282, 287 Hartmann, Eduard von 23 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 181–188, 275
Heidegger, Martin 258–259 Heine, Heinrich 169, 217, 227, 231 Held, Anna Helene Emilia 67–69 Helene Großfürstin von Russland 62 Helmholtz, Anna von 64 Helmholtz, Hermann von 23, 62 Hillebrand, Eduard 62 Hiller, Ferdinand 216 Hillert, Olaf 67 Hindenburg, Paul von 194 Hitler, Adolf 104, 235 Holm, Henrik 155 Homer 97 Janz, Curt Paul 70, 83, 86, 90, 91, 96, 204, 239 Jaspers, Karl 158 Jeßulat, Ariane 257, 258 Jünger, Ernst 183, 184 Juvenal (eigentlich: Decimus Iunius Iuvenalis) Kahlbeck, Max 50, 59 Kalergis, Marie von 62 Kant, Immanuel 24–25, 88, 90–91, 156, 161, 201 Kastan, Isidor 61 Keller, Gottfried 203–213 Kessler, Marie 62 Kierkegaard, Søren 259 Klages, Ludwig 193–195, 199 Kleist, Heinrich von 60, 156 Klic, Karl 47 Klindworth, Karl 282 Köhler, Joachim 235, 238 Kopernikus, Nikolaus 30 Köselitz, Heinrich 11, 96, 119, 122, 172 Krockow, Elisabeth Gräfin von 62 Kurtág, György 257 Kurzke, Hermann 155 Lagarde, Paul de 223 Lange, Friedrich Albert 23, 90 Langenbach, Elise 68 Langenbach, Julius 68 Laussot, Jessie 62 Lehmann, Lilli 49 Lehr, Samuel 216
Personenregister Lepsius, Johannes 62 Lersch, Philipp 195 Lessing, Gotthold Ephraim 282 Lessing, Theodor 193–202 Levy(i), Hermann 221, 224 Levy(i), Mary 63 Lichtenberg, Georg Christoph 204 Lichtenberger, Henri 182 Liszt, Franz 65, 172, 208, 215 Longinus 273 Lubac, Henri de 205 Ludwig II. 47, 215 Mahler, Gustav 185 Maier, Mathilde 63 Malten, Therese 60, 78 Mann, Thomas 104, 181, 182, 184, 185, 260 Marées, Hans von 188 Marr, Wilhelm 49, 62, 217, 223 Marx, Karl 26, 220 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 219, 257–258 Menzel, Adolf von 62 Metternich, Pauline Fürstin von 62 Meyer, Clara 62 Meyer, Julius 63 Meyerbeer, Giacomo 217, 219, 222, 239, 245–254 Meysenbug, Malwida von 61, 63 Minghetti, Marco 62 Momigny, Jérome-Joseph de 257 Montinari, Mazzino 248, 279 Mozart, Wolfgang Amadeus 50, 228, 250 Naegele, Verena 236 Napoleon Bonaparte 169 Neumann, Angelo 223–225 Nietzsche, Carl Ludwig 95–96 Oberländer, Adolf 48, 74 Oehler, Adalbert jun. 68–69 Oehler, Agnes 67–69 Offenbach, Jacques 227 Oldenburg, Elisabeth Großherzogin von 62 Ott, Luise 63 Ottmann, Henning 125 Overbeck, Franz 119, 157, 172, 179
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Panizza, Oskar 55 Pfitzner, Hans 185 Planckh, Marcus 137 Platon 22, 145, 187, 259 Poe, Edgar Allan 136 Porges, Heinrich 47, 49, 59, 224 Pourtalés, Helene Gräfin von 62 Proudhon, Pierre Joseph 222 Raffael (eigentlich: Raffaello Santi) 23 Rathenau, Walther 230 Rée, Paul 227–227, 232, 241 Rihm, Wolfgang 261 Ritschl, Friedrich Wilhelm 283 Rohde, Erwin 46, 155, 237–238, 250 Rombach, Heinrich 259 Rosenkranz, Karl 70 Rossini, Gioacchino 113, 145, 250 Rubinstein, Joseph 221, 224 Salome, Lou von 96, 140, 227 Sartre, Jean Paul 216, 220, 231 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 156, 187, 259 Schiller, Friedrich 94, 97, 111, 157, 208, 227, 239 Schleinitz, Alexander von 65 Schleinitz-Wolfenstein-Trostburg, Marie Gräfin von 62–65, 81 Schmidt, Jochen 247 Schönberg, Arnold 103 Schopenhauer, Arthur 12, 23–24, 30, 61, 65, 83, 85, 88, 90, 95, 97, 101, 107, 118, 134, 138, 153–188, 193–202, 205, 226, 240 Schröder-Devrient, Wilhelmine 252 Scott, Walter Sir 97 Scribe, Eugène 246, 251 Seebach, Marie 62 Seydlitz, Reinhart von 171–172 Shakespeare, William 97 Simmel, Georg 194–195 Sokrates 22, 90, 201 Sommer, Andreas Urs 204–205, 213 Sophokles 23, 97, 279 Spengler, Oswald 195 Spinoza, Baruch 176, 179, 229
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Personenregister
Spir, African 23–27 Stein, Heinrich von 65 Stendhal (eigentlich: Henri Beyle) 131–132, 169 Stifter, Adalbert 204 Stöcker, Adolf 223 Strauss, David Friedrich 247 Strauss, Richard 118, 126 Tacitus, Publius Cornelius 65 Tauler, Johannes 97 Tausig, Karl 224 Teichmüller, Gustav 24 Tischendorf, Konstantin von 91 Tönnies, Ferdinand 194 Toussenel, Alphonse de 222 Troyes, Chrétien de 172 Türcke, Christoph 143–144, 146 Usedom, Hildegard Comtesse von 62 Voltaire (eigentlich: François-Marie Arouet) 38, 200
Volz, Pia Daniela 94 Wagner, Cosima 12, 62, 64, 67, 97, 171, 207, 219, 223–225, 227, 236 Wagner, Nike 60 Wagner, Siegfried (Fidi) 97, 237 Wapnewski, Peter 112, 211 Weber, Carl Maria von 228 Weber, Max 51, 194 Webern, Anton Friedrich Wilhelm 103 Weininger, Otto 215, 222 Wesendonck, Mathilde 63, 257–258 Wilette, Adolf 47, 73 Wilhelm I. 47, 65 Wilke, Johannes 94 Winckelmann, Johann Joachim 105 Wolkenstein-Trostburg, Anton Graf von 64 Wundt, Wilhelm 195 Ziegler, Clara 62 Zimmern, Helen 61 Žižek, Slavoj 275–276 Zöllner, Carl Friedrich 23
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