Wagner, Nietzsche und die deutsche Rechte 1871–1933 (German Edition) [1. Aufl. 2023] 3662672146, 9783662672143

Dieses Buch befasst sich mit der Wirkung Richard Wagners und Friedrich Nietzsches auf die Ideologien der radikalen Recht

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German Pages 241 [235] Year 2023

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Richard Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus
1 Communitas-Träume: Richard Wagner in der Revolution von 1848
2 Neujustierung des Fundamentalismus: Von Zürich nach München
3 Zum „Gott, der in uns wohnt“
4 Degeneration und Regeneration
5 Meister und Jünger
II. Schattenlinien: Richard Wagner im Spiegel der intellektuellen Rechten
1 Alter Nationalismus
2 Deutsch oder undeutsch? Die Völkischen im Streit über Wagner
3 Der Fremde in Bayreuth: Houston Stewart Chamberlain
4 Im Wettstreit der Künste: Ästhetische Fundamentalisten contra Bayreuth
5 Ausblick
III. Vom ästhetischen Fundamentalismus zum Übermodernismus: Friedrich Nietzsche
1 Im Banne Schopenhauers
2 Wege zu Wagner – und über ihn hinaus
3 Vom „Meister-Singer“ zum Lehrer ohne Schüler
4 Revision des Fundamentalismus I: Erlösung als Décadence-Phänomen
5 Revision des Fundamentalismus II: Überbietung der Moderne
IV. Schattenlinien: Friedrich Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten
1 Fundamentalistische Deutungen
2 Nationalisten als Leser Nietzsches
3 Planetarische Perspektiven
4 Neuen adel den ihr suchet
5 Nietzsche in völkischer Sicht
Anhang
Siglen
Literatur (in Auswahl)
Personenverzeichnis
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Wagner, Nietzsche und die deutsche Rechte 1871–1933 (German Edition) [1. Aufl. 2023]
 3662672146, 9783662672143

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Stefan Breuer

Wagner, Nietzsche und die deutsche Rechte 1871–1933

Wagner, Nietzsche und die deutsche Rechte 1871–1933

Stefan Breuer

Wagner, Nietzsche und die deutsche Rechte 1871–1933

Stefan Breuer Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Universität Hamburg Hamburg, Deutschland

ISBN 978-3-662-67214-3 ISBN 978-3-662-67215-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-67215-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: Richard Wagner (links): © Röhnert/Keystone/picture alliance; Nietzsche (rechts): © Ken Welsh/Design Pics/picture alliance Planung/Lektorat: Oliver Schütze J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhaltsverzeichnis

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Richard Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Communitas-Träume: Richard Wagner in der Revolution von 1848. . . . . 12 2 Neujustierung des Fundamentalismus: Von Zürich nach München. . . . . . 19 3 Zum „Gott, der in uns wohnt“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 4 Degeneration und Regeneration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5 Meister und Jünger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 II. Schattenlinien: Richard Wagner im Spiegel der intellektuellen Rechten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1 Alter Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2 Deutsch oder undeutsch? Die Völkischen im Streit über Wagner . . . . . . . 86 3 Der Fremde in Bayreuth: Houston Stewart Chamberlain. . . . . . . . . . . . . . 101 4 Im Wettstreit der Künste: Ästhetische Fundamentalisten contra Bayreuth. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 III. Vom ästhetischen Fundamentalismus zum Übermodernismus: Friedrich Nietzsche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1 Im Banne Schopenhauers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2 Wege zu Wagner – und über ihn hinaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3 Vom „Meister-Singer“ zum Lehrer ohne Schüler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4 Revision des Fundamentalismus I: Erlösung als Décadence-Phänomen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5 Revision des Fundamentalismus II: Überbietung der Moderne. . . . . . . . . 166 IV. Schattenlinien: Friedrich Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 1 Fundamentalistische Deutungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2 Nationalisten als Leser Nietzsches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3 Planetarische Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 V

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Inhaltsverzeichnis

4 Neuen adel den ihr suchet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5 Nietzsche in völkischer Sicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Literatur (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Personenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Einleitung

1930 erschien ein Buch mit dem ambitiösen Untertitel „Deutsche Geistesgeschichte seit 1890“.1 Das war ein grotesker Mißgriff, beschränkte sich das Werk doch explizit auf „Stefan George und die Blätter für die Kunst“, wie es im Obertitel hieß. Bei aller Bedeutung, die George für die moderne Lyrik zukommt: daß sie in irgendeiner Weise repräsentativ für den „deutschen Geist“ seit Ausgang des 19. Jahrhunderts gewesen wäre, war ein Anspruch, der von kaum jemandem akzeptiert wurde und nicht einmal im Kreis um George auf ungeteilte Zustimmung stieß.2 Auch ein Buch, das den gleichen Anspruch für Richard Wagner oder Friedrich Nietzsche erhöbe, wäre ein solcher Mißgriff, allein schon deshalb, weil sich beider Werk in schroffer Gegenstellung gegen das entfaltete, was ihnen als der ‚Geist der Zeit‘ galt. Die „Zeitpolitik“, ließ Wagner 1864 seinen königlichen Gönner wissen, habe ihn nie wirklich berührt und stehe auch künftig nicht auf seiner Agenda.3 Die Mitwelt erschien ihm beherrscht von der „kosmopolitische[n] Synagoge der ‚Jetztzeit‘“, zu der man nicht weit genug auf Abstand gehen könne.4 „Die Gegenwart gehört uns nicht“, hieß es im August 18695, sie sei geprägt von der Erhebung des Geldes zur „allvermögende[n] Kulturmacht“, durch eine fehlgeleitete Entwicklung der Nationalökonomie sowie der modernen Staats- und Kirchenverfassung, die zu einer Herrschaft der „drei J.s“ geführt habe – der Juden, der Jesuiten und der

1 Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930. 2 Vgl. nur Hans-Jürgen Seekamp, Raymond C. Ockenden, Marita Keilson: Stefan George. Leben und Werk. Eine Zeittafel, Amsterdam 1972, S. 366, 369 u.ö. 3 Richard Wagner: Über Staat und Religion [1864], DS 8, S. 217–246, 218. 4 Richard Wagner: Deutsche Kunst und deutsche Politik [1867/68], DS 8, S. 247–351, 265. 5 CWT 1, S. 140 (Eintrag vom 13.8.1869).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Breuer, Wagner, Nietzsche und die deutsche Rechte 1871–1933, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67215-0_1

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Einleitung

Journalisten.6 Das Ergebnis sei eine „erschreckende Gestaltung unseres äußeren wie inneren sozialen Lebens“, die in einer „künstlich geleiteten Verderbnis des europäischen Völkergeistes“ zu enden drohe.7 Mit einigen Einschränkungen sah das auch Nietzsche so, stellte er doch gleich mehrere seiner frühen Interventionen unter den passenden Titel Unzeitgemäße Betrachtungen. Wenn Kultur, wie es in der ersten Folge der Reihe hieß, „vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“ sei, dann könne für das öffentliche und private Leben in Deutschland von einer solchen „ersichtlich nicht“ gesprochen werden.8 Dieses stehe vielmehr im Zeichen einer „völligen Verweltlichung“, die sich im „Trieb nach möglichster Verallgemeinerung der Bildung“ bei gleichzeitiger „Unterordnung der Bildung als eines Mittels unter den Erwerb, unter das roh verstandene Erdenglück“ manifestiere, worin letztlich nichts anderes zu erblicken sei als „ein Vorstadium des Communismus“, d. h. der „Barbarei“.9 Solle es anders werden, sei ein umfassender „Kampf gegen die Zeit“ erforderlich, eine rigorose „Zeitkritik“, die zugleich in positivem Sinne der „Herstellung des wahren deutschen Geistes“ dienen werde.10 Aufgabe der Philosophie wie der Pädagogik sei, kurz gesagt: „Vorbereitung des Genius: denn wir haben keine Kultur“.11 Es ist hinlänglich bekannt, welch große Hoffnungen Wagner und der frühe Nietzsche in die Bayreuther Festspiele als Bedingung der Möglichkeit einer „Reinigung“ und „Weihung“ des Volkes „durch die erhabenen Zauber und Schrecken ächter deutscher Kunst“ setzten.12 Verglichen mit dem George-Kreis, der nie über den Status einer Literatensekte hinausgelangte – gleichzeitig, so hat man ermittelt, gehörten ihm nie mehr als 20–40 Personen, insgesamt ungefähr 85 an13 – erschienen die Anfänge zunächst auch durchaus verheißungsvoll. Der Bayreuther Patronatsverein brachte es bis 1880 immerhin auf fast 1700 Mitglieder, von denen etwa ein Drittel zum Adel als der gesellschaftlich und politisch führenden Schicht gehörte.14 Die zweiten Festspiele (1882) mit der Uraufführung des Parsifal waren ein künstlerischer und erstmals auch ein finanzieller Erfolg. Sie legten den Grundstein für eine Ausweitung der Wagnerbewegung, die den nach

6 Richard

Wagner: „Erkenne dich selbst“ [1881], GSD 10, S. 263–274, 268; Was ist deutsch [1865–1878], DS 10, S. 84–103, 91 f.; Wollen wir hoffen? [1879], GSD 10, S. 118–136, 128; CWT 1, S. 226 f. (Eintrag vom 1.5.1870). 7 Wagner, Wollen wir hoffen? GSD 10, S. 121; Beethoven [1870], DS 9, S. 38–109, 63. 8  Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen I: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller [1873], KSA 1, S. 157–242, 163 f. 9 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 243. 10 Ebd., S. 777, 696, 259. 11 Ebd., S. 545. 12 Friedrich Nietzsche: Mahnruf an die Deutschen [1873], KSA 1, S. 891–897, 897. 13 Vgl. Hans Norbert Fügen: Der George-Kreis in der ‚dritten Generation‘, in: Wolfgang Rothe (Hrsg.), Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik, Stuttgart 1974, S. 334–358, 341. 14 Vgl. Veltzke, Vom Patron zum Paladin, S. 109.

Einleitung

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dem Tod des Meisters gegründeten Allgemeinen Richard-Wagner-Verein binnen weniger Jahre auf über 8000 Mitglieder anwachsen ließ.15 Wagner selbst allerdings beobachtete diese Entwicklung mit Skepsis. In Religion und Kunst schien es ihm denkbar, die hochgerüstete Zivilisation könne sich durch „ein unberechenbares Versehen“ selbst in die Luft sprengen, worauf man sich beizeiten einzustellen und an Auswanderung zu denken habe.16 Zwei Jahre später relativierte er seine Erwartungen hinsichtlich des Bayreuther Unternehmens deutlich und meinte, daß „eine Kritik des Publikums […] nicht zu übergehen“ sei.17 Zwar sei auch weiterhin am Bayreuther Gedanken festzuhalten, jedoch zugleich mit der von Gobineau gewiesenen Perspektive zu rechnen, „dass in zehn Jahren Europa von asiatischen Horden überschwemmt und unsere ganze Zivilisation nebst Kultur zerstört werden möchte“.18 Sein einstiger Mitstreiter hatte da schon längst alle Hoffnungen auf die Wagnerianer aufgegeben, deren Schrifttum ihm nun als so gefährlich galt, „als nur irgendeine Hegelei sich erwiesen hat“.19 Seine eigenen Bemühungen um öffentliche Resonanz beurteilte er allerdings nicht weniger skeptisch. Seine Schriften, ließ er die Schwester im August 1885 wissen, seien „Elite-Schriften für Elite-Menschen, d. h. für ganz Wenige.“ Und er beklagte, „daß ich jetzt, im 41.ten Lebensjahre isolirt bin, keinen Schüler habe und es täglich empfinde, daß ich gerade in meiner besten Kraft stehe, um eine große Schul-Thätigkeit als Philosoph auszuüben.“20 Zwei Jahre später konstatierte er erbittert, „daß die lieben Deutschen es in fünfzehn Jahren noch nicht zu einer einzigen auch nur mittelmäßig gründlichen und ernsthaften Recension irgend eines meiner 12 Bücher gebracht haben“.21 Und noch einmal einige Monate später hieß es gegenüber Overbeck: „Nach einem solchen Anrufe, wie mein Zarathustra es war, aus der innersten Seele heraus, nicht einen Laut von Antwort zu hören, nichts, nichts, immer nur die lautlose, nunmehr vertausendfachte Einsamkeit – das hat etwas über alle Begriffe Furchtbares, daran kann der Stärkste zu Grunde gehn – ach, und ich bin nicht ‚der Stärkste‘!“.22 Schon wenige Jahre später hatte sich die Lage geändert, und dies so grundlegend, als sollte für Wagner und Nietzsche wahr werden, was für den GeorgeKreis zu keinem Zeitpunkt erreichbar war. Nach dem Tod Wagners gelang es seiner Witwe, die Bayreuther Festspiele zu institutionalisieren und zu einem festen Bestandteil der Eventkultur des Kaiserreichs zu machen. Durch die Heirat

15 Vgl.

ebd., S. 341. Richard Wagner: Religion und Kunst [1880], DS 10, S. 117–163, 162, 151. 17 Richard Wagner: Brief an H. v. Wolzogen, in: BBl 5, 1882, S. 97–100, 100. 18 Richard Wagner: Offenes Schreiben an Herrn Friedrich Schön in Worms, in: BBl 5, 1882, S. 193–197, 194. 19 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft [1882], KSA 3, S. 343–651, 456. 20 Friedrich Nietzsche an Elisabeth Förster, Brief vom 15.8.1885, KSB 7, S. 81 f. 21 Friedrich Nietzsche an Elisabeth Förster, Brief vom 26.1.1887, KSB 8, S. 15. 22 Friedrich Nietzsche an Franz Overbeck, Brief vom 17.6.1887, KSB 8, S. 93 f. 16 Vgl.

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Einleitung

ihrer Tochter Eva mit Houston Stewart Chamberlain, dem Autor des Bestsellers Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, erhielt Bayreuth ab 1908 einen weithin wirksamen Propagandisten, der das Erbe Wagners nach der ideologischen Seite entwickelte. Seine in Millionenauflagen gedruckten Kriegsaufsätze erreichten zwischen 1914 und 1918 ein Massenpublikum. Wagners Sohn Siegfried sicherte 1915 durch seine Heirat mit Winifred Marjorie Williams den Fortbestand der Dynastie, die unter der energischen Leitung seiner Frau ab 1923 ein Bündnis mit der NS-Bewegung einging. Was Richard Wagner vergeblich von Wilhelm I. und Cosima Wagner ebenso erfolglos von Wilhelm II. erhofft hatte, das politische Protektorat für Bayreuth, wurde nach 1933 Wirklichkeit. Wagners Mitstreiter und späterem Antipoden erging es nicht anders. Schon bald nach Nietzsches Erkrankung wurde sein Werk in ganz Europa und den USA, ja selbst in Japan rezipiert und erlebte vor allem in Deutschland eine Resonanz, die derjenigen Wagners nicht nachstand. Gewiß war die Nietzsche-Rezeption insofern im Nachteil, als es ihr an einer eigenen Zeitschrift und regelmäßig wiederholten Festspielen fehlte, zu denen sich die Anhänger versammeln konnten. Doch gab es seit 1897/98 mit der Villa Silberblick in Weimar sowie der zehn Jahre später dort eingerichteten ‚Stiftung Nietzsche-Archiv‘ ein organisatorisches Zentrum, das sich als Pilgerstätte eignete, darüber hinaus auch die Rezeption zu steuern verstand.23 Unter der Führung eines mit dem Haus Wahnfried vergleichbaren Clans, der aus Nietzsches Schwester und weiteren Mitgliedern der Familie der Mutter bestand, verengte sich die zunächst ein breites Spektrum von Positionen umfassende „Nietzsche-Bewegung“ (wie es seit 1895 hieß) immer stärker in Richtung einer „Nationalisierung und Vereinnahmung“, in deren Gefolge Nietzsche zu einer Ikone der politischen Rechten wurde.24 Zwar erreichte die Identifikation der Nationalsozialisten mit Nietzsche nie das Ausmaß, das für das Verhältnis zu Bayreuth bestimmend war, doch läßt die offizielle Förderung, die dem Werk wie der Verehrung der Person zuteilwurde, keinen Zweifel daran, daß man Nietzsche neben Wagner zu den Ahnherren der „Bewegung“ zählte.25 Der 1926 vollzogene Friedensschluß zwischen Bayreuth und Weimar26 bereitete darüber hinaus den Boden für eine Verwischung aller Differenzen, die Nietzsches Neffen, Richard Oehler, 1935 fragen ließ: „Bayreuth und Weimar, müssen sie jetzt noch Gegensätze bleiben? Der Führer fährt nach Weimar ins Nietzsche-Archiv und von dort zur Eröffnung der Festspiele in Bayreuth.“27

23  Grundlegend

dazu sind die Studien zu den Formen der Nietzsche-Bewegung und des Nietzsche-Kults in Deutschland, die Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier vorgelegt haben: vgl. dies., Philolog und Kultfigur, S. 153 ff. 24 Vgl. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, S. 144. 25 Vgl. Riedel, Nietzsche in Weimar, S. 136 ff. 26 Vgl. Cancik und Cancik-Lindemaier, Philolog und Kultfigur, S. 184. 27 Richard Oehler: Nietzsche und die deutsche Zukunft, Leipzig 1935. Zit. n. Eckhard Heftrich: Nietzsches tragische Grösse, Frankfurt am Main 2000, S. 173.

Einleitung

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Es bedarf keiner weit ausholenden Erörterungen, um zu zeigen, daß diese Zusammenführung per Automobil eben nur dies war und keine sachliche Synthese, von der man sich aufgrund der offen zutage liegenden Gegensätze zwischen Wagner und Nietzsche auch nicht vorstellen könnte, wie sie durchzuführen sein sollte. Der Nationalsozialismus jedenfalls war gewiß nicht das höhere Dritte, in dem die Gegensätze ihre Aufhebung hätten finden können. Er war, nach dem treffenden Ausdruck von Woodruff D. Smith, eine aggregate ideology28, eine lockere Zusammenfügung von Bausteinen, die aus anderen, kohärenteren und z. T. einander entgegengesetzten Ideologien entstammten, ohne daß es ihm gelungen wäre, die sich daraus ergebenden Widersprüche zum Austrag zu bringen – eine Konstellation, die durch das Charisma des Führers sowie die Prädominanz der rituellen Integration und des präsentativen Symbolismus zwar überdeckt und in gewissem Sinne kompensiert werden konnte, jedoch nicht grundsätzlich aufgehoben wurde. Welche zentrale Bedeutung dem Charisma und dem ‚schönen Schein‘ im NSRegime zukam und welche Rolle Bayreuth im Rahmen des ‚Liturgietransfers‘ spielte, ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen.29 Dieses Buch dagegen befaßt sich, in Erweiterung zweier Vorstudien30, ausschließlich mit den Beziehungen zwischen dem theoretischen Werk Wagners und Nietzsches einerseits und den Ideologien der radikalen Rechten andererseits, die in der einen oder anderen Form Eingang in die Sammlungsbewegung des NS gefunden haben – Beziehungen, die zu den von Thomas Nipperdey umrissenenen „Schattenlinien“ gehören.31 Nicht daß die von Wagner und Nietzsche ausgehenden Impulse nur in diese Richtung gewirkt hätten. Wagners Frühwerk war auch für Strömungen assimilierbar, die am entgegengesetzten Pol des politischen Spektrums angesiedelt waren, wie die Deutungsgeschichte von George Bernhard Shaw bis zu Martin Gregor-Dellin und Udo Bermbach zeigt. Selbst sein Antipode, bei dem sich dies nicht ohne weiteres aufdrängt, hat Auslegungen stimuliert, die politisch nach links wiesen, angefangen von den ‚Jungen‘ in der SPD über Gustav Landauer bis hin zu den

28 Woodruff

D. Smith: The Ideological Origins of Nazi Imperialism, New York und Oxford 1986, S. 14 f. 29 Vgl. statt vieler nur Franz Dröge und Michael Müller: Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder die Geburt der Massenkultur, Hamburg 1995; Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, Hamburg 2006; Udo Bermbach: Liturgietransfer. Über einen Aspekt des Zusammenhangs von Richard Wagner mit Hitler und dem Dritten Reich, in: Friedländer und Rüsen (Hrsg.), Richard Wagner im Dritten Reich, S. 40–65. 30  Vgl. Stefan Breuer: Religion – Kunst – Politik, in: Kiem und Holtmeier (Hrsg.), Richard Wagner und seine Zeit, Laaber 2003, S. 145–181; Nietzsche-Translationen. Typen der NietzscheRezeption in der deutschen Rechten, in: Andreas Schirmer und Rüdiger Schmidt (Hrsg.), Widersprüche. Zur frühen Nietzsche-Rezeption, Weimar 2000, S. 271–290. 31 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 812 ff.

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Einleitung

„Left-Wing Nietzscheans“ des deutschen Expressionismus.32 Politisch sind jedoch nicht diese Adaptionen zur Geltung gekommen, sondern die ihrer Gegner, und dies rechtfertigt es, sich auf sie zu konzentrieren. Da zur Rezeption durch einzelne Repräsentanten der NS-Bewegung wie des Regimes bereits verschiedene Studien vorliegen33, hingegen die Quellen, aus denen sie schöpften, bislang wenig erschlossen sind, wird der NS in diesem Buch nur indirekt präsent sein, als Fluchtpunkt, der nur am Horizont auftaucht, ohne selbst in die Untersuchung einbezogen werden. Es wird sich zeigen, daß auf diese Weise dennoch viel über ihn zu erfahren ist. Gewidmet ist dieses Buch dem Gedächtnis der Wagnerianer in meiner Familie, meinen Großeltern Albert und Grete Jordan und ihrer Tochter Christa, meiner Mutter. Ihnen verdankt es viele Anstöße für die beiden ersten Kapitel: durch die reichhaltig mit Wagneriana ausgestatteten Hausbibliotheken in Bad Ems und Wiesbaden; durch die nicht immer ganz freiwillige Einbeziehung in die Radioübertragungen der Bayreuther Festspiele bei den Großeltern in Wiesbaden; und vor allem durch deren Freundschaft mit der Familie Wagner seit den späten 20er Jahren, die sich aus verschiedenen Aufenthalten von Siegfried und Winifred Wagner, Daniela Thode von Bülow, Verena, Friedelind, Wolfgang und Wieland Wagner im Eisenacher Rautenkranz ergab, seit 1920 im Besitz der Großeltern. Von wahrscheinlich lebensrettender Bedeutung wurde diese Freundschaft während der NS-Zeit, als Winifred Wagner die Entlassung meines Großvater aus dem Gefängnis erwirkte, in das er durch eine Intrige des Kreisleiters geraten war.34 Nach dem Krieg besuchte sie die Großeltern in Bad Ems und Wiesbaden und unternahm in den frühen 60er Jahren mit ihnen eine Reise nach Griechenland. Als ich alt genug war, um zu wissen, wer da aufkreuzte, habe ich es vorgezogen, auf Tauchstation zu gehen. Immerhin habe ich ihr für zwei wertvolle Mitbringsel zu danken: eine Lederhose, die in den 50er Jahren die Prügel meiner Volksschullehrer etwas abfederte; und Prescotts Eroberung von Mexiko, das die Grundlage

32 Vgl.

Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, S. 174 ff.; Seth Taylor: Left-Wing Nietzscheans. The Politics of German Expressionismus 1910–1920, Berlin und New York 1990; Dominique F. Miething: Anarchistische Deutungen der Philosophie Friedrich Nietzsches. Deutschland, Großbritannien, USA (1890–1947), Baden-Baden 2016, S. 149 ff. 33 Vgl.

für Wagner Joachim Köhler: Wagners Hitler. Der Prophet und sein Vollstrecker, München 1999; Müller, Richard Wagner und die Deutschen, S. 143 ff.; Katharina Wagner u. a. (Hrsg.): Sündenfall der Künste? Richard Wagner, der Nationalsozialismus und die Folgen, Kassel etc. 2018; Alex Ross: Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne, Hamburg 2020, S. 467 ff., 597 ff.; für Nietzsche: Taureck, Nietzsche und der Faschismus; Zapata Galindo, Triumph des Willens zur Macht; dies.: Friedrich Nietzsche und die Politik. Zur Nietzsche-Rezeption in Deutschland in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Barbera und Müller-Buck (Hrsg.), Nietzsche nach dem ersten Weltkrieg, S. 169–198. 34 Vgl. Brigitte Hamann: Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth, München und Zürich 2002, S. 418.

Einleitung

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für ein ­lebenslanges Interesse an Archäologie und Geschichte gelegt hat. Meine Mutter hat 1983 an die Wagner-Tradition ihrer Eltern wieder angeknüpft und die folgenden 33 Jahre gemeinsam mit ihrem zweiten Mann, Franz Schill, die Bayreuther Festspiele besucht. 2016 erlitt sie während einer Parsifal-Vorstellung die Herzschwäche, an der sie einige Tage später starb.

I. Richard Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

was wert die Kunst, und was sie gilt, das ward ich der Welt zu zeigen gewillt (Die Meistersinger von Nürnberg)

Richard Wagners größte Leidenschaft galt der Musik, in ihr entfaltete er sein eigentliches Talent. Darüber wären nicht viele Worte zu verlieren, würde diese Tatsache nicht immer wieder verwendet, um seine Einlassungen zu anderen Gebieten, etwa den übrigen Künsten, der Philosophie, der Ökonomie oder der Politik zu Augenblickseinfällen eines Dilettanten herabzustufen. Es ist richtig: die moderne Nationalökonomie hat er niemals mit der gleichen Intensität studiert wie sein Zeitgenosse Marx, aber seine auf diesem Gebiet erworbenen Kenntnisse und die daraus abgeleiteten Folgerungen stehen nicht prinzipiell hinter dem zurück, was damals von deutschen Lehrstühlen als Wissen verbreitet wurde. In der Philosophie mag es ihm an einem wirklich gründlichen Kant-Studium gefehlt haben (wenn man von der späten Lektüre der Anthropologie absieht), und auch mit Hegel dürfte er weniger vertraut gewesen sein, als manche meinen. Feuerbach jedoch kannte er, desgleichen Bruno Bauer und wohl auch Stirner; und was Schopenhauer angeht, so hat er sich mehrmals durch seine Werke durchgearbeitet, was nicht jeder professionelle Philosoph von sich behaupten kann. Die Register der Tagebücher Cosima Wagners sind dafür wie auch für das Folgende ein beredtes Zeugnis. Aus der gleichen Quelle kann man sich für die Jahre ab 1869 davon überzeugen, welch umfängliches Lektürefeld die Wagners nahezu Tag für Tag durchpflügten: neben der Sagen- und Märchenwelt Alteuropas und Asiens die Literatur und Philosophie der archaischen und klassischen Antike unter Einschluß der großen Geschichtsschreiber von Herodot bis Thukydides sowie der modernen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Breuer, Wagner, Nietzsche und die deutsche Rechte 1871–1933, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67215-0_2

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

Forschung hierzu, von Gibbon über Otfried Müller und Bachofen bis zu Droysen; die deutsche Literatur von der höfischen Epik über die Volksbücher der frühen Neuzeit, die Autoren des Sturm und Drang, der Klassik und Romantik bis hin zum Realismus Gustav Freytags, Friedrich Hebbels und Gottfried Kellers; die Literatur des Siglo de oro von Cervantes bis Calderon; daneben immer wieder Shakespeare, aber auch andere Engländer wie Laurence Sterne und Byron; Franzosen wie Balzac und Dumas oder Russen wie Turgenjew und Tolstoi. Weitere Schwerpunkte bildeten Theologie und Religionsphilosophie von der deutschen Mystik über Luther bis zu zeitgenössischen Autoren wie Görres, Gfrörer, Renan, Lagarde, Overbeck und Eduard von Hartmann; Klassiker der politischen Theorie wie Macchiavelli und neuere Vertreter derselben wie Constantin Frantz; Historiker wie Simonde de Sismondi mit seiner Histoire des républiques italiennes du Moyen Âge; sogar Naturforscher wie Darwin, mit dessen Werken über Die Entstehung der Arten und Die Abstammung des Menschen sich Wagner im Sommer 1872 und im Herbst 1877 befaßte. Neben den großen Namen fehlten übrigens auch kleinere nicht, etwa in der Trivialliteratur der Fortsetzer und Koautor John Retcliffes, Gregor Samarow bzw. Oskar Meding1; in der politischen Pamphletistik eine Fülle von antisemitischen Elaboraten, die zwar unter stilistischen Gesichtspunkten nicht immer gefielen, gleichwohl nur zu oft in sachlicher Hinsicht zustimmend registriert wurden. Richard Wagner hat diese Lektüreerfahrungen in zahlreichen Texten verarbeitet, die neben seinen Musikdramen ein eigenständiges Corpus bilden. Die Frage, wieviel aus diesem Corpus Eingang in das musikalische Werk gefunden hat, ist vollkommen berechtigt und insbesondere im Hinblick auf einen möglichen antisemitischen Einschlag von erheblicher Bedeutung – Udo Bermbach und Richard Klein haben dazu wichtige Überlegungen beigesteuert.2 Sie wird jedoch im Folgenden nicht Gegenstand sein, zum einen, weil mir dazu die nötige musikalische Kompetenz fehlt, zum andern, eben weil es sich um ein eigenständiges Corpus handelt, das beanspruchen kann, für sich erschlossen zu werden. Wagners Interventionen in das Feld der politisch-ästhetischen Publizistik waren zweifellos niemals ein bloßer Selbstzweck, sie erfolgten im Hinblick auf eine Legitimierung, Durchsetzung und Absicherung dessen, was er als sein eigentliches

1  „Sir

John Retcliffe“ alias Hermann Goedsche (1816–1878) war der Verfasser des Romans Biarritz [1868], der als Vorlage für die Protokolle der Weisen von Zion gilt. Wie Hannes Heer zu Recht feststellt, gibt es keinen Hinweis, daß Wagner die dort entwickelten Szenarien einer jüdischen Weltverschwörung zur Kenntnis genommen hätte: vgl. Verschwörungstheorien und Vertreibungspläne. Die skandalöse Neuedition von Richard Wagners Pamphlet „Das Judenthum in der Musik 1869“, in: ders. u. a. (Hrsg.), Richard Wagner und Wien, S. 23–66, 52. Angesichts seines Interesses für die Schmöker von Samarow/Meding ist es immerhin naheliegend. Vgl. CWT 1, S. 562 ff., 890. 2 Vgl. Udo Bermbach: Wieviel Antisemitismus ist in Wagners Musikdramen? Anmerkungen zu einer nicht abschließbaren Diskussion, in: ders., ‚Blühendes Leid‘, S. 313–349; Richard Klein: Der negative Körper und die Rückseite des Spiegels. Versuch mit Paul Bekker über Antisemitismus in Wagners Werk, in: Musik & Ästhetik 20, 2016, S. 42–58, 55.

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Werk ansah. Das aber war nur möglich, indem er sich auf den modus operandi des politischen Feldes einließ, auf ein Spiel mit eigenen, impliziten Regeln und Teilungsprinzipien, bei dem es um die Generierung von Zustimmung geht.3 In diesem Spiel, das besser als Kampf zu bezeichnen wäre, hat Wagner anfangs am linken Pol des Feldes Stellung bezogen. Eine Erweiterung der politischen und ökonomischen Rechte in Richtung auf mehr Gleichheit schien ihm damals das probate Mittel zu sein, um eine ‚Erlösung‘ in Richtung auf das ‚Reinmenschliche‘ zu voranzutreiben, dessen Vorschein sich in der Kunst, insbesondere in seiner Kunst zeigen sollte. Nach Oper und Drama, in der Urschrift abgeschlossen im Januar 1851, ging Wagner hierzu auf Abstand. Aus dem „ästhetischen Idealismus“, der Anregungen Schillers aufnahm und doch zugleich weit über sie hinausging4, indem er die Entzweiung des Lebens in unterschiedliche Handlungssphären im Wege eines Progresses ins Unendliche und einer Hypostasierung der Kunst zu überwinden in Aussicht stellte, wurde ein „Fundamentalismus“5, der auf Stillstellung und Abbruch einer zunehmend als destruktiv empfundenen Dynamik setzte und ‚Erlösung‘ bis auf weiteres nur mehr für den kleinen Kreis der in das ‚Kunstwerk der Zukunft‘ Initiierten vorsah und nicht religiöser, sondern ästhetischer Natur war. Auf den Umschlag des ästhetischen Idealismus in den ästhetischen Fundamentalismus bin ich in zwei älteren Studien eingegangen, die im ersten Abschnitt resümiert werden.6 Der Schwerpunkt der folgenden Darstellung liegt auf dem Werk des mittleren und späten Wagner, dem Wagner der Münchner und Bayreuther Jahre, der Unterstützung für seine Ziele zunächst bei der Spitze der Herrschaftsordnung suchte. Als diese Erwartung sich nicht in dem von ihm

3 Vgl. Pierre Bourdieu: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 47, 51, 72 u.ö. 4 Für Schillers Auffassung über die Grenzen des Ästhetischen vgl. nur die Schlußzeilen seines Gedichts „Am Antritt des neuen Jahrhunderts“ (1801): „In des Herzens heilig stille Räume/Mußt du fliehen aus des Lebens Drang, / Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, / Und das Schöne blüht nur im Gesang.“ 5 Nike Wagner: Wagner Theater, Frankfurt am Main 1998, S. 206, 210 u.ö.; vgl. auch Voigt, Richard Wagners autoritäre Inszenierungen, S. 75; Drüner, Richard Wagner, S. 266. Über den originären, d. h. religiösen Fundamentalismus gibt es eine längst nicht mehr überschaubare Literatur, die es noch nicht zu einer einheitlichen Begriffsbildung gebracht hat. Viele Anregungen dazu bei Martin Riesebrodt: Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Amerikanische Protestanten (1910–28) und iranische Schiiten (1961–79) im Vergleich, Tübingen 1990. 6  Vgl. Richard Wagners Fundamentalismus, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73, 1999, S. 643–664. Für weiterführende Überlegungen vgl. Wolfram Ette: Mythos und negative Dialektik in Wagners Ring – mit einem Anhang zur ‚modernen Mythos-Forschung‘, in: Richard Klein (Hrsg.), Narben des Gesamtkunstwerks. Wagners Ring des Nibelungen, München 2001, S. 133–165, 163; Richard Klein: Zwangsverwandtschaft. Über Nähe und Abstand Adornos zu Richard Wagner, in: Kiem und Holtmeier (Hrsg.), Richard Wagner und seine Zeit, S. 183–236, 187; Franz, Die Religion des Grals, S. 87 f. Mit Einschränkung auch Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 240, 367.

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gewünschten Maße erfüllte, ging er dazu über, den ästhetischen Fundamentalismus zu einem nationalreligiösen Fundamentalismus zu erweitern, der die für den ersteren typische Erlösungserwartung auf die Nation übertrug, sich vom konventionellen Nationalismus aber durch eine scharfe Kritik an der aktuellen Verfassung der empirischen Nation unterschied.7 Unterstützung dafür suchte und fand Wagner sowohl bei den verschiedenen in den Gründerjahren aufkommenden Bestrebungen zu einer Lebensreform als auch in der sich gleichzeitig formierenden antisemitischen bzw. völkischen Bewegung, ohne daß er sich zumal mit der letzteren vollständig identifiziert hätte. Erst nach seinem Tod hat der „Bayreuther Kreis“ den Fundamentalismus des „Meisters“ verabschiedet und sich auf engere Allianzen teils mit dem völkischen, teils mit dem ‚alten‘ Nationalismus eingelassen.

1 Communitas-Träume: Richard Wagner in der Revolution von 1848 Als im März 1848 auch die Staaten des Deutschen Bundes von der Revolution erfaßt wurden, die kurz zuvor in Frankreich begonnen hatte, war Richard Wagner seit fünf Jahren Königlich Sächsischer Hofkapellmeister in Dresden. Über seine Rolle in den kommenden Ereignissen, die mit der Niederschlagung des Aufstandes im Mai 1849 und Wagners Flucht in die Schweiz endeten, liegen Deutungen vor, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Während die ältere, vor allem von Bayreuth favorisierte Lesart Wagners Interventionen auf die Rede im Vaterlandsverein im Juni 1848 einschränkte und seine Beteiligung an der Mairevolution von 1849 entweder abstritt8 oder auf die Rolle eines ‚Gastes und Beobachters‘ reduzierte, dem es allein um „Versöhnung, Vereinigung, Ausgleichung zerstörender und verderblicher Gegensätze“ zu tun gewesen sei9, glaubten spätere Interpreten in den Texten dieser Zeit die Grundlinien einer primär politischen Motivation zu erkennen, die für die einen in Richtung einer ‚konservativen Revolution‘ wies10, für andere in die einer umfassenden institutionellen Modernisierung, die sich bei allen teils eschatologischen, teils sozialistisch-anarchistischen Einschlägen doch in

7 Vgl.

dazu ausführlicher Breuer, Die radikale Rechte in Deutschland, S. 11, 68 ff. Houston Stewart Chamberlain: Richard Wagner und die Politik, in: BBl 16, 1893, S. 137– 158, 139. 9 Carl Friedrich Glasenapp, Das Leben Richard Wagners in sechs Bänden, Bd. 2, Leipzig 19054, S. 270, 308. Auf dieser Linie noch (oder wieder), nun unter dem Vorzeichen ‚Metapolitik‘: Rüdiger Jacobs, Revolutionsidee und Staatskritik in Richard Wagners Schriften. Perspektiven metapolitischen Denkens, Würzburg 2010; Richard Wagner. Konservativer Revolutionär und Anarch. Kritik von Staat und Gesellschaft aus Sicht eines „Unpolitischen“, Graz 2013. 10 Vgl. Zelinsky, Richard Wagner – ein deutsches Thema, S. 9. 8 Vgl.

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„inhaltlicher Übereinstimmung mit den großen Vertretern der politischen Neuzeit“ von Locke und Hume bis zu Kant, Hegel und womöglich auch noch Habermas befunden habe.11 Keine dieser Lesarten wird den Texten Wagners und seinen politischen Aktivitäten voll gerecht.12 Der Brief, den Wagner im Mai 1848 an Professor Franz Wigard, den Mitbegründer des Dresdner Vaterlandsvereins und Vertreter der Stadt in der Frankfurter Nationalversammlung richtete, forderte das Parlament auf, sich zur einzigen konstitutionellen Gewalt zu erklären, sich eine eigene exekutive Gewalt zu geben, ein Schutz- und Trutzbündnis mit dem revolutionären Frankreich zu schließen und die Ungleichheit unter den deutschen Bundesstaaten zu beseitigen, indem fortan keine Staaten unter drei Millionen Einwohner und keine über sechs Millionen mehr zugelassen sein sollten.13 Die Forderung, offen reaktionär und feindselig agierende Fürsten unter Anklage zu stellen, milderte Wagner einige Wochen später in seiner Rede im Vaterlandsverein ab, doch war auch sie alles andere als eine „Hymne der Königstreue“.14 Die Anerkennung der Erbmonarchie war doppelt eingeschränkt durch die Forderung nach einer aus dem allgemeinen Wahlrecht hervorgehenden Volksvertretung sowie durch die nach einer „großen, zweckmäßig hergestellten, jeden Standesunterschied vernichtenden Volkswehr“15 – Neuerungen, die geeignet gewesen wären, die Exekutive der ultima ratio regis zu berauben und sie so zu entmachten. Besonders originell war dies aber nicht. Mit Recht hat Hans Mayer Wagner deshalb als ‚geistigen Mitläufer‘ eingestuft, der sich aus den seinerzeit flottierenden Ideen zusammengesucht habe, was er für die „Verwirklichung seiner künstlerischen Projekte“ benötigte.16 Damit ist freilich noch nicht alles gesagt, waren doch die politischen Forderungen bei Wagner Teil eines umfassenderen Programms, das auf nicht weniger zielte als auf die „Beglückung des ganzen großen Menschengeschlechtes“, auf die Herbeiführung einer „neue[n] Zeit unvergänglichen Glückes“ nicht allein in Sachsen, sondern in ganz Deutschland und Europa.17 Hatten schon die amerikanischen Revolutionäre ihre Unabhängigkeitserklärung mit dem Willen begründet, fortan dem pursuit of happiness folgen zu wollen, hatte Saint-Just im März 1794 dem Konvent die Maxime verordnet: Le bonheur est une

11 Vgl.

Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 64 f., 229, 243 f. Richard Klein: Der linke und der rechte Wagner. Revolution – Mythos – Modernität, in: Musik & Ästhetik 2, 1998, S. 91–105. Zu Bermbach auch meine Besprechung von dessen Buch: Richard Wagner in Bayreuth, in: Wagnerspectrum 7, 2011, S. 177–182. 13 Vgl. Richard Wagner: Ein Brief an Professor Franz Wigard, DS 5, S. 262 f. 14 Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 2, S. 236. 15 Ebd., S. 213. 16 Hans Mayer: Richard Wagner, Reinbek 1959, S. 59, 55. 17 Richard Wagner: Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtum gegenüber? [1848], DS 5, S. 211–221, 216, 219. 12 Vgl.

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idée neuve en Europe, so schrieb auch Wagner sich in diese eudämonistische, in Deutschland von den Jungdeutschen bis zu den „wahren Sozialisten“ reichende Tradition ein und verkündete im Februar 1849 in August Röckels Volksbättern: „Des Menschen Bestimmung ist, durch die immer höhere Vervollkommnung seiner geistigen, sittlichen und körperlichen Fähigkeiten zu immer höherem, reineren Glücke zu gelangen. Des Menschen Recht ist, durch die immer höhere Vervollkommnung seiner geistigen, sittlichen und körperlichen Fähigkeiten zum Genusse eines stets wachsenden, reineren Glückes zu gelangen.“18 Dazu bedurfte es nicht allein der politischen Aktion. Gefordert war vielmehr auch und vor allem eine solche der Kunst als der „höchste[n] Tätigkeit des im Einklang mit sich und der Natur sinnlich schön entwickelten Menschen“, in der das „unbewußte Leben des Volkes“ zum Bewußtsein gelange, „und zwar deutlicher und bestimmter als in der Wissenschaft“ und einer von der letzteren bestimmten Politik.19 Fand die Wissenschaft im Erkennen des Notwendigen, des Wahren, ihre Grenze, ihr Ende, so bot allein die Kunst „das Bild des Wahren, des Lebens“.20 Wie Georg Herwegh (1817–1875), mit dem Wagner im Juli 1851 in Zürich Freundschaft schloß21, schrieb er ihr vor allem die Aufgabe zu, „die notwendige Erlösung des Menschengeschlechts von der plumpesten und entsittlichendsten Knechtschaft gemeinster Materie“ herbeizuführen, indem sie „das von neuem, und schöner, edler, allgemeiner gebären“ werde, „was sie dem konservativen Geiste einer früheren Periode schöner, aber beschränkter Bildung, entriß und

18 Richard Wagner: Der Mensch und die bestehende Gesellschaft [1849], DS 5, S. 229–233, 230 f. (i.O.gesperrt). 19 Richard Wagner: Die Kunst und die Revolution [1849], DS 5, S. 273–309, 281; Das Künstlertum der Zukunft [1849], DS 5, S. 242–261, 248. 20 Wagner, Das Künstlertum der Zukunft, DS 5, S. 249. 21 Vgl. Kröplin, Richard Wagner-Chronik, S. 192. Die Freundschaft bestand bis zum Ende des Jahrzehnts und wurde im Sommer 1853 sogar zur Brüderschaft ausgebaut. Erklärte Wagner noch im März 1858 Herwegh zu dem ihm ‚liebsten männlich geformten Mensch‘ seiner unmittelbaren Umgebung (SB 9, S. 207), so revidierte er diese Ansicht ein Jahr später, allerdings nicht aus primär politischen Gründen. „Namentlich seitdem ich dahinter gekommen, dass es denn doch mit seinem Geiste nicht auch zu weit her ist, was bei einem so gänzlich unselbständigen Menschen sich einige Zeit verbergen kann, vermag ich ihn nicht mehr vor meinem Urtheil u. Gefühle aufrecht zu halten. Das ewige Kneipenleben und was damit zusammenhängt, hat ihn auch vollends immer mehr heruntergebracht“ (Richard Wagner an Minna Wagner, Brief vom 18.4.1859, SB 11, S. 39 f.). 1871 unternahm Wagner noch einmal einen Versuch zur Erneuerung der Freundschaft, doch war man inzwischen auch politisch weit auseinander: Herwegh war Mitglied im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein Lassalles und bald darauf – wie übrigens auch Feuerbach – der 1869 von Bebel und Liebknecht gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands: vgl. Reinhardt, Georg Herwegh – eine Biographie, S. 505, 549, 560 f. Bei Wagner hingegen war es keineswegs ein Kompliment, wenn er über seine Begegnung mit Lassalle schrieb: „Ich erblickte in ihm den Typus des bedeutenden Menschen unserer Zukunft, welche ich die germanisch-jüdische nennen muß“. Zit. n. Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 4, 19043, S. 21.

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verschlang.“22 Gewiß war er Realist genug, um zu wissen, daß die Kunst dies allein nicht vermochte, befand doch auch sie sich aktuell in jenem „Zustande zivilisierter Barbarei“, der Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Verfassung charakterisierte. Gleichwohl hegte er die Hoffnung, diesen Zustand durch eine Parallelaktion auf allen diesen Feldern zu überwinden. Auf den „Schultern unserer großen sozialen Bewegung“ könne sich die Kunst „zu ihrer Würde erheben“ und erkennen, daß sie mit dieser Bewegung „ein gemeinschaftliches Ziel“ besaß. „Dieses Ziel ist der starke und schöne Mensch: die Revolution gebe ihnen die Stärke, die Kunst die Schönheit!“23 Das war, als Feier dessen, was Victor Turner als „spontane Communitas“ bezeichnet hat, leicht dahin geschrieben.24 Je mehr sich Wagner jedoch bemühte, seine Ideen auszubuchstabieren und die „spontane Communitas“ in eine dauerhafte, „ideologische Communitas“ zu überführen, desto deutlicher traten die bis dahin latent gebliebenen Widersprüche hervor.25 Auf der einen Seite zeigte Wagner sich höchst beunruhigt vom Auftreten einer ‚kommunistischen‘ Strömung, der er vorwarf, „alle Errungenschaften einer zweitausendjährigen Zivilisation auf vielleicht lange Zeit spurlos aus[zu]rotten“ zu wollen26 – eine Kritik, die darauf hinauslief, signifikante Handlungsfelder für sakrosankt zu erklären und die notwendige Erlösung auf die Beseitigung bestimmter „Vorrechte“ zu beschränken.27 Auf der anderen Seite blieb ihm nicht verborgen, daß die auch von ihm geforderte Freiheit dazu tendierte, „die einige Menschheit in feindliche Völker, in Mächtige und Schwache, in Berechtigte und Rechtlose, in Reiche und Arme“ zu teilen und „aus allen nur Unglückliche“ zu machen.28 Je mehr er diesen Gedanken vertiefte und bald nicht mehr nur die politisch-rechtliche Verfassung unter Anklage stellte, sondern von der „Sünde der Gesellschaft und Zivilisation“ sprach, die es bewirkt

22  Wagner,

Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtum gegenüber? DS 5, S. 214; Die Kunst und die Revolution, DS 5, S. 281, 297. Zu diesem gegenüber Schiller wesentlich radikaler gefaßten ästhetischen Idealismus bei Herwegh vgl. William J. Brazill: Georg Herwegh and the Aesthetics of German Unification, in: Central European History, 5, 1972, S. 99–126. Zu kurz kommt diese Dimension aus je unterschiedlichen Gründen bei Ulrich Enzensberger: Herwegh, Berlin 1999 und Reinhardt, Georg Herwegh – eine Biographie. 23 Wagner, Die Kunst und die Revolution, DS 5, S. 300. 24 Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt am Main und New York 1989, S. 74 f. Über die Verbindungen, die sich von Turners Konzepten zu Max Webers Soziologie der charismatischen Herrschaft ziehen lassen, vgl. meine Hinweise in: Max Webers tragische Soziologie, Tübingen 2006, S. 43, 78 f., 255. 25 Vgl. dazu auch die Spezifizierungen, die Boris Voigt in seiner Anwendung von Turners Unterscheidungen auf Wagner vorgenommen hat: Richard Wagners autoritäre Inszenierungen, S. 35, 59. 26 Wagner, Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtum gegenüber? DS 5, S. 215. 27 Richard Wagner: Deutschland und seine Fürsten [1848], DS 5, S. 222–228, 225. 28 Richard Wagner: Die Revolution [1848], DS 5, S. 234–241, 238, 240.

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habe, „daß aus den gesündesten Völkern im gesündesten Klima Elende und Krüppel geworden“ seien, desto drängender wurde die Frage nach dem Subjekt der „Erlösung in die Gemeinsamkeit“.29 Wagner war zunächst schnell bei der Hand mit dem Hinweis auf das „Volk“ als den eigentlichen Erfinder aller zivilisatorischen Errungenschaften, der diese „unbewußt“ hervorgebracht habe und daher auch fähig sei, „das Neue zustande [zu] bringen“.30 Bei näherer Betrachtung erwies sich ihm dieses vermeintliche Subjekt jedoch als zunehmend residuale Größe. Aus ihr schieden aus Wagners Sicht sämtliche Erhalter der „verworfenen Zustände“ aus, allen voran: „Soldaten, Beamte, Spekulanten und Geldfabrikanten“, die „ihre kräftige Jugend im geschäftigen Müßiggange“ vertrödelten.31 Hinzu kamen: die Kirchenchristen, die Industriellen, die Philosophen, überhaupt alle „Egoisten“, die die „gemeinsame Not“ nicht spürten, nach Willkür handelten und sich darin als „Feinde“ des Volkes erwiesen.32 In dem im Oktober und November 1849 in Zürich geschriebenen Traktat über Das Kunstwerk der Zukunft erweiterte Wagner diese Liste noch einmal um die Virtuosenzünfte im Schauspiel und in der Oper, die Professoren und Doktoren der Literatenzunft, die vornehmen Klassen mit ihrem Luxus, ja sämtliche bloß leiblichen Sinnenmenschen, reinen Gefühls- oder Verstandesmenschen und Nützlichkeitsmenschen.33 Die im August 1850 verfaßte Schrift über Das Judenthum in der Musik schloß in diese Gruppe bekanntlich auch die Juden mit ein, doch folgte dem ein Jahr später eine ähnliche, immerhin weniger demagogisch und aggressiv gehaltene Kritik am kunstfeindlichen und -kunstunfähigen Christentum.34 Auch den Erwartungen, die die Kommunisten auf die Arbeiterschaft setzten, erteilte Wagner eine Absage.35 Das alles summierte sich zu einem fundamentalistischen Generalverdikt über die „Nichtswürdigkeit der modernen Welt“, ihre „politischen und sozialen Zustände“ und nicht zuletzt

29 Wagner,

Die Kunst und die Revolution, DS 5, S. 294; Das Künstlertum der Zukunft, DS 5, S. 259. 30 Wagner, Das Künstlertum der Zukunft, DS 5, S. 244. 31 Wagner: Die Revolution, DS 5, S. 240. 32  Vgl. Wagner, Die Kunst und die Revolution, DS 5, S. 281, 284, 278; Das Kunstwerk der Zukunft [1849], DS 6, S. 9–157, 37; Das Künstlertum der Zukunft, DS 5, S. 247. 33 Vgl. Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, DS 6, S. 87, 78, 25, 48, 104. 34 Vgl. Fischer, Richard Wagners „Das Judentum in der Musik“. Darin Wagners Text S. 139–196; Eine Mitteilung an meine Freunde [1851], DS 6, S. 199–325, 215. 35 „Daß ich je etwas auf die Arbeiter, als Arbeiter, gab“, hieß es Ende 1851 in einem Brief an Ernst Benedikt Kietz, „muß ich jetzt empfindlich büßen: mit ihrem Arbeitergeschrei sind sie die elendsten Sklaven, die jeder in die Tasche stecken kann, der ihnen heute recht viel ‚Arbeit‘ verspricht. In allem wurzelt bei uns der Knechtssinn: daß wir Menschen sind, weiß keiner in Frankreich außer höchstens etwa Proudhon – und auch der nur unklar! – im ganzen Europa sind mir aber die Hunde lieber als diese hündischen Menschen.“ Zit. n. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 350. Zu dem hier anklingenden, in der Literatur bisweilen überschätzten Einfluß Proudhons auf Wagner vgl. Frédéric Krier: Sozialismus für Kleinbürger. Pierre Joseph Proudhon – Wegbereiter des Dritten Reiches, Köln etc. 2009, S. 283 ff.

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die „ganze moderne Kunstöffentlichkeit“36, dessen Sprengkraft unterschätzt wird, wenn man darin nur das „Konzept einer von unten nach oben aufgebauten, kommunikativ vernetzten und dezentral strukturierten Gesellschaft“ sieht, das „unzweifelhaft dem linken gesellschaftstheoretischen Denken“ zuzuordnen sei.37 Den Schlüsselsatz der vormärzlichen Linken – „Auf diese absolute Armut mußte das menschliche Wesen reduziert werden, damit es seinen innern Reichtum aus sich herausgebäre“38 – hätte Wagner niemals unterschrieben. Allerdings brauchte er einige Zeit, um sich über die Konsequenzen klar zu werden, die sich hieraus ergaben. Daß er sich schon im Mai 1849, unmittelbar nach der Flucht aus Dresden, von der Revolution verabschiedet hätte, wie es in einem Brief an seine Frau aus diesen Tagen heißt39, war eher an die mitlesende Polizei adressiert und steht im Widerspruch zu vielen anderen Äußerungen, nicht zuletzt in den sogenannten „Reformschriften“, die diesen Titel zu Unrecht tragen40 – es sei denn, man wollte in Forderungen wie der nach „Vernichtung des Staates“ einen Aufruf zu Reformen sehen.41 Im Oktober 1850 träumte er nach wie vor von der Revolution, die mit dem „Niederbrande von Paris“ beginnen werde, und noch im Juli des folgenden Jahres hieß es, er „verlange mit Leidenschaft nach der revolution, und nur die hoffnung, sie noch zu erleben und sie mitzumachen, giebt mir eigentlich lebenslust“.42 In Oper und Drama, das im November 1851 erschien, machte er sich für die freie Liebe stark und verlangte die „Aufhebung der unmenschlichen Ungleichheit der Menschen in ihrer Stellung zum Leben“. Eine Versöhnung mit dem Bestehenden sei ausgeschlossen. „Wollen wir mit dieser Welt Verträge schließen? – Nein! Denn auch die demütigendsten Verträge würden uns als Ausgeschlossene hinstellen.“43 Zwei Monate später, kurz nach dem Staatsstreich Louis Bonapartes, bekannte er noch immer trotzig, an einer Zukunft nicht zu verzweifeln und weiterhin auf „die furchtbarste und zerstörendste Revolution“ zu hoffen, die allein „aus unseren civilisirten Bestien wieder ‚Menschen‘ machen“ werde.44 Wie tief dieser destruktive, auf den Ernst Jünger des Abenteuerlichen

36 Wagner,

Eine Mitteilung an meine Freunde, DS 6, S. 281, 286, 269. Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 238. 38 Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Ergänzungsband, Berlin 1968, S. 465–588, 540. 39 Vgl. Richard Wagner an Minna Wagner [ca. Mitte Mai 1849], SB 2, S. 654. 40 Noch in der von Borchmeyer besorgten Ausgabe von 1983 firmieren sie unter dieser Überschrift (DS 6), in Abgrenzung von den „Revolutionstraktaten“ (DS 5) und Oper und Drama (DS 7). 41 Richard Wagner: Oper und Drama [1851], DS 7, S. 191. Der Text findet sich zwar nicht in dem mit „Reformschriften“ überschriebenen Band, stammt aber aus dem gleichen Zeitraum. 42 Richard Wagner an Theodor Uhlig, Brief vom 22.10.1850, SB 3, S. 460 f.; an Ernst Benedikt Kietz, Brief vom 2.7.1851, SB 4, S. 70. 43 Wagner, Oper und Drama, DS 7, S. 345, 367. 44  Richard Wagner an Ernst Benedikt Kietz, Brief vom 19.1.1852. Zit. n. Kröplin, Richard Wagner-Chronik, S. 198. 37 Bermbach,

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Herzen vorausweisende Impuls bei ihm saß, belegt noch dreißig Jahre später der in Wahnfried ausgebrochene Dissens über die Attentate der russischen Nihilisten, die Cosima Wagner nicht bewundern wollte, während ihr Mann meinte: „Hier handelt es sich um Kräfte, um Recht als Jus, Kraft, wie die Römer es nannten; seitens der Herrschenden gibt es keine Kraft, seitens dieser Verschwörer aber eine.“45 Dem ließ er einige Zeit später das Bekenntnis folgen, „daß das Beste der Nation gewiß bei den Nihilisten stäke, oben sei alles vermodert und verwest.“46 Für das Westeuropa der 50er Jahre entwarf Wagner allerdings andere Prioritäten. Oper und Drama skizzierte einen „unerhört neuen Entwicklungsgang […] zu neuer Lebensentfaltung durch Zusammenfügung und neues Verwachsenlassen der getrennten Organe“ in Form des „Gesamtkunstwerks“ weithin im Wege kunstinterner Überlegungen, ohne sich detaillierter auf die dafür erforderlichen gesellschaftlichen Bedingungen einzulassen.47 In der Mitteilung an meine Freunde, begonnen Mitte Juli 1851, behauptete Wagner, schon den Tannhäuser (1845) nicht mehr für die ‚fremde Masse‘ und irgendein Publikum geschrieben zu haben, sondern ausschließlich für „die individuellen Persönlichkeiten, die mir nach ihrer Stimmung und Gesinnung deutlich gegenwärtig waren“.48 Damals habe für ihn die ganze moderne Kunstöffentlichkeit immer grundsätzlicher zu existieren aufgehört und er selbst sich wie „außerhalb der modernen Welt in einem klaren heiligen Ätherelemente“ gefühlt, das ihn in der Verzückung seines Einsamkeitsgefühls „mit den wollüstigen Schauern erfüllte, die wir auf der Spitze der hohen Alpe empfinden, wenn wir, vom blauen Luftmeer umgeben, hinab auf die Gebirge und Täler blicken“49 – ein Bild, das an Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer denken läßt.

45 CWT

2, S. 716 (Eintrag vom 24.3.1881). 2, S. 867 (Eintrag vom 5.1.1882). Daß dieser Topos für eine Kontinuität in Wagners Denken steht, ist Udo Bermbach (Der Wahn des Gesamtkunstwerks) zuzugeben. Für eine Zuordnung Wagners zur Linken spricht dies aber nur, wenn man die scharfe Kritik ausblendet, die Marx an seinen anarchistischen Zeitgenossen geübt hat. Die von ihm und anderen vertretene Linke wollte am gedeckten Tisch Platz nehmen, nicht tabula rasa machen. Verglichen damit stand Wagner in der Tradition älterer, am Wunschbild der moral economy orientierter Konzeptionen: vgl. Münkler, Marx, Wagner, Nietzsche, S. 359 ff. 47 Wagner, Oper und Drama, DS 7, S. 108; Das Kunstwerk der Zukunft, DS 6, S. 28. Näher zu diesem Konzept Odo Marquard: Gesamtkunstwerk und Identitätssystem. Überlegungen im Anschluß an Hegels Schellingkritik, in: Harald Szeemann (Hrsg.), Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Zürich 1983, S. 40–49; Der Schritt in die Kunst. Über Schiller und Heidegger, in: Martin Heidegger: Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, hrsg. von Ulrich von Bülow, Marbach 2005, S. 191– 206; Roger Fornoff: Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk. Studien zu einer ästhetischen Konzeption der Moderne, Hildesheim etc. 2004; Anke Finger: Das Gesamtkunstwerk der Moderne, Göttingen: 2006, S. 49 ff.; Hilda Meldrum Brown: The Quest for the Gesamtkunstwerk and Richard Wagner, Oxford 2016. 48 Wagner, Eine Mitteilung an meine Freunde, DS 6, S. 257; vgl. ebd., S. 267. 49 Ebd., S. 270. 46 CWT

2  Neujustierung des Fundamentalismus: Von Zürich nach München

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Als Beschreibung für Wagners Stimmungslage und Haltung während der späten 40er Jahre ist das sicher nicht zum Nominalwert zu nehmen, wohl aber als Aussage darüber, wie er sich jetzt, 1851, gesehen wissen wollte: als jemand, der von tiefer Sehnsucht nach dem „ewig Reinmenschlichen“ erfüllt sei, diese als im „modernen Leben […] durchaus unstillbar“ empfinde und sich daher zur „Flucht vor diesem Leben“ genötigt sehe50, wenn schon nicht ohne die Gewißheit, in der eigenen Kunst über ein Mittel zu verfügen, mit dem sich die Flucht in einer Achsendrehung zum Ausgangspunkt einer Erneuerung im Wege der spontanen Communitas machen ließe. Seinen Glauben daran hatte er noch Ende 1851 nicht gänzlich aufgegeben, wie seine Hoffnung auf ein großes dramatisches Fest am Rhein zeigt, mit dem er dereinst „den menschen der Revolution […] die bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten sinne, zu erkennen“ geben werde. Der Nachsatz indes, erst „dieses publikum“ werde ihn verstehen, „das jetzige kann es nicht“51, zeigt das Dilemma, dessen er sich zunehmend bewußt wurde: daß es zur Durchführung einer Revolution eines Trägers bedurfte, der erst das Ergebnis einer Revolution sein konnte. Es überrascht deshalb nicht, neben dem ‚exoterischen‘, unentwegt sich selbst und anderen Mut machenden Wagner zur gleichen Zeit einen ‚esoterischen‘ Wagner zu vernehmen, der sich von allen aktuellen politischen und sozialen Bestrebungen nichts mehr versprach und „Erlösung“ einzig von der Kunst, genauer gesagt: seiner Kunst erwartete. Nur vier Wochen nach dem oben zitierten Brief an Uhlig hieß es an den gleichen Adressaten: „Du wirst, mein lieber freund, nächstens von Dingen hören, die Dir begreiflich machen werden, daß ich schon jetzt jeden Versuch zur bekämpfung der herrschenden Dummheit, Stumpfsinnigkeit und Elendigkeit – vollständig aufgebe, daß ich das faule faulen lasse, und meine noch rüstigen kräfte für produktion und genuß nicht zur qualvollen und gänzlich erfolglosen bemühung, den leichnam der europäischen Civilisation zu galvanisiren, abnutze. Ich habe nur noch im sinne zu leben, zu genießen, d. h. als Künstler – zu schaffen und zur Darstellung zu bringen: dieß aber nicht dem kritischen Dreckgehirne unsrer bevölkerungen gegenüber.“52

2 Neujustierung des Fundamentalismus: Von Zürich nach München Der in der zuletzt zitierten Passage bei aller politischen Resignation noch mitschwingende Hedonismus wurde in den folgenden Jahren durch eine Reihe sich häufender Rückschläge stark erschüttert. Seine prekären Einkommensverhältnisse, die Krise seiner Ehe, gescheiterte Affären und das Ausbleiben des Erfolgs

50 Ebd.,

S. 311. Wagner an Theodor Uhlig, Brief vom 12.11.1851, SB 4, S. 176. 52 Richard Wagner an Theodor Uhlig, Brief vom 18.12.1851, SB 4, S. 233. 51 Richard

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

seiner Werke steigerten Wagners Zeitkritik zu einer stets massiver werdenden Weltablehnung, die sich nicht selten in Todeswünschen entlud. In seinen Briefen an Franz Liszt (1811–1886), den einzigen von ihm (cum grano salis) als gleichrangig empfundenen zeitgenössischen Komponisten53, erklärte er, den Tannhäuser wie den Lohengrin den Juden überlassen zu wollen, um mit dieser Welt nichts mehr gemeinsam zu haben.54 Sie sei keiner anderen Beachtung wert als der „Verachtung; nur diese gebührt ihr: aber keine Hoffnung, keine Täuschung für unser Herz auf sie gesetzt! Sie ist schlecht, schlecht, grundschlecht; nur das Herz eines Freundes, nur die Thräne eines Weibes kann sie uns aus ihrem Fluche erlösen. – Aber so respectiren wir sie auch nicht, und zwar in nichts, was irgend wie Ehre, Ruhm oder – wie sonst die Allfanzereien heissen – aussieht. – Sie gehört Alberich: Niemand anders!! Fort mit ihr!“55 Diese Einstellung fand bald darauf Bestätigung und Unterstützung durch die Entdeckung und intensive Rezeption der Philosophie Arthur Schopenhauers (1788–1860). Ein großes Geschenk, ein „Himmelsgeschenk“, hieß es gleichlautend im Herbst und Winter 1854 in Briefen an Hans von Bülow und Liszt, sei ihm zuteilgeworden: „durch die Bekanntschaft mit den Werken des grossen (35 Jahre lang absichtlich von den Professoren ignorirten) Philosophen Schopenhauer. Seine Hauptwerke mußt Du Dir sogleich kommen lassen […]. Du wirst staunen, wenn Du diesen Kopf kennen lernst.“56 Dessen opus magnum, Die Welt als Wille und Vorstellung, das er bis zum Sommer des folgenden Jahres nicht weniger als viermal las, erschien ihm als attraktiv, weil es die Welt als eine Objektivation des Willens deutete, der sich mit sich selbst in Widerstreit befand und dadurch unentwegtes Leid hervorrief, woraus sich die „Verwerflichkeit der Welt“ ergab57 – und zwar nicht nur der gegenwärtigen, wie der 48er Revolutionär angenommen hatte, sondern der Welt schlechthin. Habe er bisher einer Philosophie gehuldigt, die mit seinen künstlerisch gewonnenen Einsichten inkompatibel sei, hieß es 1856 an Röckel, so habe Schopenhauer ihm den Weg eröffnet, wie dieser Widerspruch zugunsten der letzteren zu beseitigen sei. Mit seinen Ausführungen über das Wesen der ästhetischen Kontemplation habe der Philosoph darüber hinaus gezeigt, wie sich „wenigstens auf Zeit eine Aufhebung

53 Vgl.

dazu den Themenschwerpunkt „Wagner und Liszt“, in: Wagnerspectrum 7, 2011 mit Beiträgen von Dorothea Redepenning, Egon Voss, Klaus Döge, Dieter Borchmeyer. Zu Liszt vgl. Alan Walker: Franz Liszt, 3 Bde., London 1983, 1989, 1997. 54 Richard Wagner an Franz Liszt, Brief vom 7.(?)10.1854, SB 6, S. 248. 55 Ebd., S. 249. 56 Richard Wagner an Hans von Bülow, Brief vom 26.10.1854, SB 6, S. 261; Richard Wagner an Franz Liszt, Brief vom 16.(?) 12.1854, SB 6, S. 298. Vgl. auch Richard Wagner: Mein Leben, hrsg. von Martin Gregor-Dellin, München 1983, S. 521 ff.; Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 3, Leipzig 19054, S. 48 ff. Näher zur Schopenhauerrezeption Hartmut Reinhardt: Richard Wagner und Schopenhauer, in: Ulrich Müller und Peter Wapnewski (Hrsg.), RichardWagner-Handbuch, S. 101–113; Milton E. Brener: Wagner and Schopenhauer. A Closer Look, Bloomington 2014. 57 Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Zweiter Band, SW 6, S. 336.

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der Willensherrschaft über den Menschen“ erreichen lasse, biete die Kunst doch einen der „Erlösung gleichkommende[n] Zustand, in dem sich die Idee als Wesen des Dinges offenbare“. Besonders wertvoll sei dabei die Einsicht, daß unter den Künsten eine besonders privilegierte existierte, die nicht auf Ideen bezogen sei und sogar ein „Erkennen der Gefühle als solcher“ ermögliche, mittels dessen das Individuationsprinzip zu überwinden sei: die Musik.58 Schopenhauers Diktum, die Musik spreche „zum Herzen, während sie dem Kopf unmittelbar nichts zu sagen hat“, mußte Wagner wie die endlich gefundene begriffliche Fassung für seine eigene, schon in Oper und Drama formulierte Intuition erscheinen, wonach das „Sprachvermögen des Orchesters“ „das Vermögen der Kundgebung des Unaussprechlichen“ sei.59 In der Forschung besteht eine starke Tendenz, diese Wendung zu Schopenhauer zu relativieren, wenn nicht gar zu minimieren.60 Wagner, so Günter Zöller in einer pointierten Zusammenfassung der Argumente, habe schon bald nach der Kenntnisnahme Schopenhauers dessen Kernlehre den Prämissen seiner „linkshegelianische[n] Philosophie der sinnlichen Liebe“ adaptiert und diese als „alternativen Heilsweg zur vollkommenen Beruhigung des Willens“ geltend gemacht, wofür vor allem Tristan und Isolde stehe. Auch der Parsifal liege noch auf dieser Linie, sei es doch das sexuelle Erwachen des Protagonisten in Kundrys Umarmung, dem er „das Wissen um die Macht von Liebe und Sehnen“ verdanke. Schließlich habe Wagner von Schopenhauer zwar die Annahme einer unmittelbaren, nicht durch gegenständliche Erkenntnis vermittelten Beziehung der Musik auf den Willen übernommen, jedoch diese „Kunst von der an Form und Distanz gebundenen ästhetischen Kategorie des Schönen [entfernt], um sie der Gegenkategorie des Erhabenen zuzuweisen.“ Nehme man das mit Schopenhauers Musikästhetik unvereinbare „kulturrevolutionäre Abzielen der Kunst auf die ästhetische Schöpfung des neuen, befreiten Menschen“ hinzu, müsse man gar von einer „weitgehende[n] Inkompatabilität von Schopenhauers und Wagners Musikästhetik“ sprechen.61 Im Grunde, so die an anderer Stelle erteilte Auskunft, sei Wagner auch nach 1854 ein Feuerbachianer geblieben, der sich allenfalls in „gezielter Auswahl und freier Anverwandlung“ einige zu dieser Voraussetzung passende Gedanken und Einschätzungen Schopenhauers angeeignet habe.62

58 Brigitte Scheer, Ästhetik, in: Koßler und Schubbe (Hrsg.), Schopenhauer-Handbuch, S. 61–72, 64, 71. 59 Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Zweiter Band, SW 6, S. 462 (§ 222); Wagner, Oper und Drama, DS 7, S. 309. 60  Vgl. nur Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 388 ff.; Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 286 ff. (besonders das Resümee S. 313 f.); differenzierter, aber mit zu starker Akzentuierung des Hegel-Bezugs Drüner, Richard Wagner, S. 388 ff., 393, 480. 61 Vgl. Günter Zöller: Schopenhauer, in: Sorgner u. a. (Hrsg.), Wagner und Nietzsche, S. 355– 372, 361 f., 363, 365 f. 62 Vgl. Günter Zöller: Musik, in: Koßler und Schubbe (Hrsg.), Schopenhauer-Handbuch, S. 366– 371, 368. Vgl. auch ders., ‚Wahnspiel‘. Staat, Religion und Kunst in Richard Wagners Münchner Meta-Politik, in: Bolz und Schick (Hrsg.), Richard Wagner in München, S. 103–116.

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Diese Darstellung macht Wagners Denken konsistenter als es war und unterschätzt insbesondere den Grad der Abwendung von Feuerbach. Die Briefe, die Wagner 1855 im Anschluß an sein erstes Schopenhauer-Studium geschrieben hat63, zeigen, daß er sich dessen Philosophie wie auch dessen Sicht der Religionsgeschichte weitgehend zu eigen gemacht hatte und sich nur schwer tat, dies mit seiner individuellen Lebensführung in Einklang zu bringen. Die theoretisch erkannte „Notwendigkeit der Resignation“, hieß es an Liszt, kollidiere mit seinem „schrecklich wilden Lebenstrieb“, der sich nur mühsam unterjochen lasse und nicht nur der körperlich-sinnlichen Askese entgegenstehe, sondern auch die künstlerische Tätigkeit beeinflusse.64 Schwankte Wagner noch 1856 zwischen zwei Stoffen, dem Tristan, der gegen Schopenhauer so etwas wie einen erotischen Erlösungsweg offerierte (freilich einen solchen zum Tode)65, und den in der indisch-buddhistischen Sphäre angesiedelten Siegern mit ihrer zur Heiligkeit führenden ethischen Erlösung66, so entschied er sich zunächst für den Tristan, von dem er sich „bald u. schnell gute Revenuen“ erhoffte67 – eine Entscheidung, deren Inkonsequenz er vor sich selbst und anderen mit dem Argument rechtfertigte, damit eine Art Vorstufe zu den Siegern zu geben.68 Aus den Siegern wurde bekanntlich nichts, und über dem Tristan geriet Wagner bald in solche Begeisterung, daß er im Widerspruch zu früheren Einsichten Schopenhauer korrigieren zu können glaubte, indem er „in der Anlage der Geschlechtsliebe ein[en] Heilsweg, zur Selbsterkenntnis und Selbstverneinung des Willens, und zwar nicht eben nur des individuellen Willens“ ausmachte.69 Das war allerdings, hält man sich allein an den Text, gleich doppelt fragwürdig, handelte es sich doch eher um eine Erlösung von der sinnlichen Liebe als durch dieselbe, und überdies schon gar nicht um eine kollektive, wie die obige Formulierung nahelegt. Wagner selbst scheint dies immerhin erkannt zu haben, denn obschon er sich vom Tristan niemals so explizit distanzierte wie von seinen

63 Besonders aufschlußreich ist das lange Schreiben an Franz Liszt vom 7.6.1855, SB 7, S. 203– 209. 64 Richard Wagner an Franz Liszt, Brief vom 16.5.1855, SB 7, S. 162. 65  Das dort angestrebte Erlösungsziel: das Reich des ‚Urvergessens‘, wurde, wie zu Recht bemerkt worden ist, „nicht im Sinne Schopenhauers durch die Verneinung des Willens, […] also durch geschlechtliche Entsagung erreicht […], sondern durch die Steigerung und Sublimierung der Geschlechtsliebe bis zur Aufhebung der Individuation“: Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 269 f. 66 Vgl. Richard Wagner an Franz Liszt, Briefe vom 12.6. und 20.6. 1856, SB 8, S. 75, 122. Ganz aufgegeben wurde dieser Stoff freilich nie. Vgl. nur den Brief an Mathilde Wesendonck vom 10.8.1860, SB 12, S. 236 sowie Oswald Panagl: Wege und Umwege eines musikdramatischen Entwurfs: Die Sieger und Parsifal, in: Ulrich Müller, Oswald Panagl u. a., Ring und Gral, Würzburg 2002, S. 246–260; Urs App: Richard Wagner und der Buddhismus, Kyoto 2011, S. 11 ff.; Danielle Buschinger: Durch Mitleid wissend. Wagner und der Buddhismus, Würzburg 2017. 67 Richard Wagner an Franz Liszt, Brief vom 28.6.1857, SB 8, S. 356. 68 Richard Wagner an Franz Liszt, Brief vom 20.7.1856, SB 8, S. 122. 69 Richard Wagner an Arthur Schopenhauer, Brief vom Dezember 1858, SB 10, S. 208.

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früheren Werken, korrigierte er sich doch implizit mit dem Parsifal, der die schon 1855/56 formulierte Leitidee umsetzte, den Weg zur Erlösung nicht über den Eros als bloßer Perpetuierung des Leidens zu suchen, sondern über Mitleid und „Agape“.70 Unterstützung fand dies durch die im Beethoven-Essay von 1870 vorgenommene Abwertung des Schönen zugunsten einer „Ästhetik des Erhabenen“71 die wohl manche Akzente anders setzte als Schopenhauer72, jedoch dessen begriffliche Architektonik insofern wahrte, als es sich auch in diesem Fall um eine „Selbstüberwindung“ handelte, d. h. um ein „Ausschalten jeder Bedrängung durch den Willen“ und eine dadurch ermöglichte „Konzentration auf das rein Objektive bei der Betrachtung des Gegenstands“.73 Das alles mögen Präzisierungen sein, zu denen Wagner erst in der 70er Jahren gelangte. Wie sehr die Schopenhauer-Lektüre jedoch auch schon davor geeignet war, ihn von den im Vormärz gefaßten Überzeugungen abzubringen, zeigt die Revision des Verhältnisses von Kunst und Politik, die zwar schon vor 1854 einsetzte, nun aber ein stabileres Fundament erhielt. Daß die Musik, ja die Kunst schlechthin, nicht bloß ein Werkzeug, ein Vehikel sei, um Erlösung zu erlangen, sondern ein Moment des Erlösungsvorgangs selbst, hatte er schon früher behauptet und deshalb in der „Befreiung der öffentlichen Kunst“ einen Beitrag, aber eben nur einen Beitrag, zur allgemeinen Befreiung gesehen.74 In den Züricher Jahren verstärkte sich jedoch die Überzeugung, daß diese Eigenschaft nicht der Kunst schlechthin, sondern nur seiner Kunst und allenfalls noch derjenigen Franz Liszts zuschreiben sei, und dies auch und gerade dann, wenn kurz- oder mittelfristig auf eine öffentliche Aufführung nicht gerechnet werden könne und die Rezeption auf den kleinen Kreis derjenigen beschränkt bliebe, die Partituren zu lesen vermöchten. „Hinsichtlich der Aufführung meiner Nibelungendramen“, hieß es schon im Januar 1852 an Franz Liszt, „siehst Du guter, theilnehmender Freund, die Zukunft wohl zu heiter für mich: ich rechne auf ihre Aufführung gar nicht, wenigstens nicht daß ich sie erleben werde, und am allermindesten in Berlin oder Dresden. Diese und ähnliche große Städte mit ihrem Publikum sind für mich gar nicht mehr vorhanden: ich kann mir unter meiner Zuhörerschaft nur eine Versammlung von Freunden denken, die zu dem Zwecke des Bekanntwerdens mit meinem Werke eigens irgendwo zusammenkommen, am Liebsten in irgend einer schönen Einöde, fern von dem Qualm und dem Industrie=pestgeruche unsrer städtischen

70 Vgl.

Ulrike Kienzle: Parsifal and Religion. A Christian Music Drama? In: William Kinderman und Katherine R. Syer (Hrsg.), A Companion to Wagner’s Parsifal, Rochester NY 2005, S. 81–130, 98; Nikolaus Knoepffler: Parsifal, in: Sorgner u. a. (Hrsg.), Wagner und Nietzsche, S. 409–417, 414. 71 Voigt, Richard Wagners autoritäre Inszenierungen, S. 175 ff. Vgl. Wagner, Beethoven, DS 9, S. 83, 76, 106 u.ö.; Albrecht Riethmüller: Aspekte des musikalisch Erhabenen im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Musikwissenschaft 40, 1983, S. 38–49. 72 Vgl. meine Studie: „Ach, das Erhabene“. Zum ästhetischen Diskurs der radikalen Rechten, in: Musik und Ästhetik 22, 2018, H. 86, S. 30–48, 35 f. 73 Brigitte Scheer, Ästhetik, in: Koßler und Schubbe (Hrsg.), Schopenhauer-Handbuch, S. 67. 74 Wagner, Die Kunst und die Revolution, DS 5, S. 306.

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Civilisation: als solche Einöde könnte ich höchstens Weimar, gewiß aber keine größere Stadt ansehen.“75

Vier Jahre später wollte Wagner selbst von einer Aufführung der bis dahin geschaffenen Werke, insbesondere des Tannhäuser und des Lohengrin, nichts mehr wissen und erklärte sie „als völlig abgethan und nicht mehr mir an gehörig“. „Was ich jetzt schaffe soll nie, oder nur unter ihm ganz angemessenen Umständen in das Leben treten. Darauf will ich denn fortan alle meine Kraft – und allen meinen Stolz – alle meine Entsagung vereinigen. Sterbe ich, ohne diese Werke aufgeführt zu haben, so hinterlasse ich sie Dir; und stirbst Du, ohne sie würdig aufgeführt haben zu können, so – verbrennst Du sie: das sei abgemacht!“76 Dazu kam es bekanntlich nicht, doch vermochte auch die bisweilen aufkommende Zuversicht Wagners Zweifel an der Aufführbarkeit lange nicht zu beseitigen.77 Die Idee jedenfalls, daß dem Erlösungswerk der Kunst durch eine Aktivierung der sozialen Natur des Menschen zugearbeitet werden könne, verlor für ihn zunehmend an Evidenz, und auch der moralische Aktivismus, wurde, wenn schon nicht gänzlich aufgegeben, so doch aller über das Mitleid hinausgehenden Bezüge beraubt.78 Seinen äußeren Ausdruck fand dieser Sinneswandel im Gnadengesuch an den sächsischen König vom 16.5.1856, in dem Wagner von der inneren Umkehr spricht, die es ihm erlaubt habe, seine frühere Grundansicht über das Verhältnis des Ideals zur Wirklichkeit alles Menschlichen auf Erden zu revidieren.79 Mit der durch Schopenhauer gestützten Einschränkung des sozialmoralischen Utopismus ergab sich für Wagner die Möglichkeit einer Neubewertung eben jener Institutionen, zu deren Vernichtung er noch in Oper und Drama aufgefordert hatte. Unter Schopenhauerschen Prämissen konnte er seine Deutung von Staat und Recht als Manifestationen der Willkür und des Egoismus beibehalten und ihnen doch zugleich insofern einen Eigenwert zugestehen, als sie die „Eris“, jenen aus dem Egoismus hervorgehenden Kampf aller gegen alle, eindämmten und damit, wenn schon nicht den Egoismus beseitigten, so doch wenigstens dessen nachteilige Folgen, „welche aus der Vielheit egoistischer Individuen ihnen allen wechselseitig hervorgehen und ihr Wohlseyn stören“.80 Da das „Wohlseyn“, die öffentliche Sicherheit, die conditio sine qua non war für die ‚freiere Entwicklung der geistigen Anlagen‘ und nicht zuletzt auch für die Produktion und Rezeption von

75 Richard

Wagner an Franz Liszt, Brief vom 30.1.1852, SB 4, S. 270. Wagner an Franz Liszt, Brief vom 20.(?) 3.1855, SB 7, S. 56. 77  Vgl. Richard Wagner an Mathilde Wesendonck, Briefe vom 2.5. und 23.12.1860, SB 12, S. 136, 304 ff. 78 Vgl. Wagner, Mein Leben, S. 522 f. 79 Richard Wagner an König Johann von Sachsen, Brief vom 16.5.1856, SB 8, S. 59. 80 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, SW 2, S. 408; vgl. auch Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, SW 3, S. 676 ff.; Parerga und Paralipomena. Zweiter Band, SW 6, S. 256 ff. 76 Richard

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Kunst, konnte dem so verstandenen Staat zumindest indirekt eine Heilsbedeutung zugeschrieben werden – ein Weg, den Wagner 1864 in seiner Schrift Über Staat und Religion beschritt.81 Auch die Spitze des Staates, die erbliche Monarchie, fand eine neue Legitimation. Hatte Schopenhauer die Grundidee des Königtums darin gesehen, einer einzigen Person soviel Macht, Reichtum, Sicherheit und Unverletzlichkeit zu geben, daß sie kein Bedürfnis nach mehr haben würde und somit in ihrem Egoismus neutralisiert wäre, was es ihr wiederum ermögliche, ganz im Dienste des öffentlichen Wohls tätig zu sein82, so übernahm Wagner auch dies und erklärte den König zum über den Interessen stehenden Garanten der Gnade und der Gerechtigkeit, dem eine „fast übermenschliche Stellung“ zukomme.83 Von ihm hätten nicht nur die ‚reinmenschlichen‘ und religiösen Interessen alles zu erwarten, sondern auch die Vertreter der wahren Kunst. Aufgabe der letzteren sei es, dem König die so nötige Zerstreuung, eine zeitweilige Erholung von seinen alltäglichen Geschäften zu verschaffen und ihm damit der „freundliche[n] Lebensheiland“ zu sein, „der zwar nicht wirklich und völlig aus dem Leben hinausführt, dafür aber innerhalb des Lebens über dieses erhebt und es selbst uns als ein Spiel erscheinen läßt, das, wenn es selbst zwar auch ernst und schrecklich erscheint, uns hier doch wiederum nur als ein Wahngebilde gezeigt wird, welches uns als solches tröstet und der gemeinen Wahrhaftigkeit der Not entrückt.“84 Die wohldosierte Mischung, die das Streben nach maximaler Macht ebenso legitimierte wie dasjenige nach zeitweiliger Weltflucht, war genau zugeschnitten auf den neuen König von Bayern, Ludwig II. (1864–1886), der bereits als Kronprinz den Lohengrin wie den Tannhäuser gehört hatte und seitdem zu Wagners größten Verehrern zählte.85 Sogleich nach seiner Thronbesteigung am 10.3.1864 gab er Order, Wagner ausfindig zu machen und präparierte sich für die Anfang Mai erfolgende erste Begegnung in München durch die ausgiebige Lektüre von Oper und Drama, das Kunstwerk der Zukunft und sogar Kunst und Revolution.86 War es auch etwas störend, daß er sich mehr für Architektur als für Musik interessierte und seine Begeisterung vor allem aus der Lektüre der Libretti und der theoretischen Schriften schöpfte87, so erkannte Wagner doch sofort, welche

81 Vgl.

Wagner, Über Staat und Religion, DS 8, S. 222 ff. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, SW 3, S. 683 f. 83 Wagner, Über Staat und Religion, DS 8, S. 224, 243. 84 Ebd., S. 245. 85  Vgl. Jens Malte Fischer: Der Alt-Revoluzzer und der Dulderkönig: Richard Wagner und Ludwig II. Ein Märchen ohne gute Fee, in: Ulrich Raulff (Hrsg.), ‚Vom Künstlerstaat‘. Ästhetische und politische Utopien, München 2006, S. 104–126; Verena Naegele: Richard Wagner und Ludwig II. von Bayern – Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft in München, in: Wagnerspectrum 8, 2012, Nr. 2, S. 41–84. 86 Vgl. Tauber, Ludwig II., S. 89. 87 Vgl. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 514 f. 82 Vgl.

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

Chancen sich ihm durch die neoabsolutistischen Neigungen des Wittelsbachers eröffneten.88 „Was aller Welt ein stilles, unerfaßbares Geheimniß bleibe“ hieß es am 30.5.1864 an Ludwig, „wovon sie kaum wissen und begreifen soll, daß, und wie es vorhanden ist, das soll in edelsten Thaten und Werken laut zu ihr sprechen, und für alle Zeiten Zeugniß seines göttlichen Ursprunges geben. Denn nun ist mein König mir die Welt“.89 Schon kurze Zeit nach Beginn der persönlichen Bekanntschaft überschlug sich Wagner gegenüber Dritten vor Begeisterung über dieses Ereignis. Ein unerhörtes Wunder, erfuhr Hans von Bülow, sei in sein Leben getreten, das Unglaubliche wahr geworden. „Ein junger König ist mein treuester Jünger: er übernimmt die Sendung, all meine Werke der Welt in der von mir gewollten Weise vorzuführen und mich selbst gegen jede Sorge zu schützen.“ Dies sei nun seine „schönste Eroberung: da ist kein Flecken, kein Wölkchen, reine, tiefe, vollständige Hingebung des begeisterten Jüngers an den Meister. Einen so vollkommen mir eigenen Schüler, wie diesen, habe ich nicht weiter. Es ist nicht zu glauben! Man muß diesen herrlichen Jüngling hören, sehen und fühlen. ‚Parzival‘“. Wobei sich das, was Wagner hier sah, hörte und fühlte, näher besehen als sein eigenes Produkt erwies. „Ich habe mir dieses Wunder gezeugt, mit meinem eigensten Sehnen und Leiden, und eine Königin mußte diesen Sohn mir gebären […] Er ist mein verkörperter Genius, den ich außer mir sehe und lieben kann.“90 Wagner wäre nicht Wagner gewesen, wenn er seinen König nicht sogleich auf die Aufgabe einer umfassenden „Organisation des gemeinsamen öffentlichen, wie des häuslichen Lebens“ verwiesen hätte, um mit ihrer Hilfe wie „von selbst zu einer schönen Gestaltung des menschlichen Geschlechtes“ zu gelangen.91 Ludwig wiederum zögerte nicht, sich öffentlich als Gläubigen des wahren Gottes, Richard Wagners, zu bekennen und dessen Angebot zur Berauschung anzunehmen. „Glühend Geliebter! Himmlischer Freund! […] Wie hat mich Ihr Brief begeistert! Ich sehe die Straße gekrönt vom Prachtbau der Zukunft; es strömt das Volk zur Vorführung der Nibelungen, des ‚Parcival‘!- Die Vorurtheile schwinden, Bewunderung, höchste Freude hat sie Alle ergriffen; Alle Menschen werden Brüder, wo Dein sanfter Flügel weilt! – Seht ihr’s Freunde, säht ihr’s nicht? O die

88 Zu

diesen Neigungen, die sich in der Bewunderung für die Hofkunst der französischen Könige von Ludwig XIV. bis Ludwig XVI. niederschlug und auf eigentümliche Weise mit einer Vorliebe für die germanische Sagenwelt verband, vgl. Tauber, Ludwig II., S. 52 f., 206, 212 ff., 266 ff.; Katharina Weigand: König Ludwig II. – politische und biografische Wirklichkeiten jenseits von Wagner, Kunst und Oper, in: Bolz und Schick (Hrsg.), Richard Wagner in München, S. 47–62. 89 Richard Wagner an König Ludwig II., Brief vom 30.5.1864, KLRW 1, S. 13 ff. 90 Richard Wagner an Hans von Bülow, Briefe vom 12.5, 18.5. und 1.6.1864, in: ders., Briefe an Hans von Bülow, S. 209, 211, 215. 91 Wagner, Über Staat und Religion, DS 8, S. 219. Zur Chronologie der Ereignisse vgl. Kröplin, Richard Wagner-Chronik, S. 344.

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blinde Menge, die die Bedeutung dieses Werkes nicht faßt!“92 Man sieht, die Bahn für einen ‚protestantischen Rasputin‘ war frei.93 Da Wagner schon einmal dabei war, den bestehenden Institutionen Sinn abzugewinnen, streckte er seine Fühler auch gleich noch in Richtung Kirche und Adel aus. Nicht nur würdigte er am Christentum nun genau das, was ihm einmal ein Stein des Anstoßes gewesen war – die Weltablehnung – , vielmehr erkannte er ausdrücklich auch das Prinzip der Kirche an, indem er das Dogma als „das der Welt einzig Erkenntliche der Offenbarung, welches sie daher auf Autorität anzunehmen hat“, bezeichnete.94 Seine Kritik an dem schrecklichen Unrecht, das die Verteidiger des Glaubens in der Vergangenheit verübt hätten, nahm er nicht zurück, legitimierte es jedoch, indem er es zur Abwehrreaktion gegen die Angriffe der Aufklärer erklärte.95 Im Bund mit dem Königtum und in „Übereinstimmung mit dem höchsten religiösen Prinzip der Kirche“ könnten diese Fehler behoben werden.96 Auch der Adel, dessen Abschaffung Wagner einst gefordert hatte, fand nun Anerkennung im Sinne eines zu schaffenden Ordens, welcher ganz der Förderung und Verbreitung der Wagnerschen Kunst gewidmet sein sollte.97 Für dieses zwischen 1864 und 1868 skizzierte Programm fand der einstige Revolutionär Wagner die Formel vom „ideal konservativen Standpunkt“.98 Gemeint war damit allerdings zunächst nicht mehr als das Bestreben, „alle vorhandenen Elemente uns in ihren natürlichen Eigenschaften als fortbestehend, und nur der Entwickelung und Umbildung fähig zu denken“99, wobei als ‚natürlich‘ vor allem die politisch-staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungen galten, die im Sinne Schopenhauers als Spielfelder des Willens und dadurch von jeglicher Heilsbedeutung ausgeschlossen vorgestellt wurden. Andererseits beinhaltete dies nicht notwendig eine bloße Festschreibung des Status quo, sollte es in diesen Feldern doch Faktoren und Konstellationen geben, die den eigentlichen Heilsmächten – Kunst und Religion – mehr oder weniger förderlich waren, sei es, indem sie der wahren Kunst Unterstützung gewährten, sei es, indem sie die Ausbreitung der falschen, ‚modischen‘ Kunst begünstigten. Das erforderte und legitimierte politische Interventionen, die die vorhandenen Elemente nicht nur als bewahrenswert, sondern auch als der Entwicklung und „Umbildung“ fähig behandelten – eben im „ideal konservativen Sinne“.100

92 Ludwig

II. an Richard Wagner, Brief vom 16.9.1865, KLRW 1, S. 182. der treffende Ausdruck von Oliver Hilmes, Herrin des Hügels, S. 109. 94 Vgl. Wagner, Über Staat und Religion, DS 8, S. 237, 239. 95 Ebd., S. 240. 96 Wagner, Deutsche Kunst und deutsche Politik, DS 8, S. 247–352, 327. 97 Vgl. ebd., S. 338 ff. 98 Ebd., S. 346. 99 Ebd., S. 338. 100 Ebd., S. 343, 347, H.v.m. 93 So

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Gemeint waren damit Interventionen, die Wagners Vorstellung von Kultur zunächst für Bayern, nach Möglichkeit aber auch für das übrige Deutschland verbindlich machen sollten. Wagner dachte dabei in langen Zeiträumen. Zuerst galt es, die Vollendung seiner Werke sicherzustellen, wofür es ihm gelang, Ludwig nicht nur einen formellen Auftrag zur Fertigstellung des Rings zu entlocken, sondern vor allem auch beachtliche Mittel.101 Sodann sollte eine Musikschule eingerichtet werden, aus der eine neue Generation von Musikern und Sängern im Wagnerschen Sinne hervorgehen würde.102 Für die zukünftigen Aufführungen wurde der Bau eines großen Theaters nach seinen Vorstellungen ins Auge gefaßt, mit dessen Realisierung Gottfried Semper (1803–1879) betraut wurde, wie Wagner ein ehemaliger 48er, der Architektur als baulichen Ausdruck welthistorischer Ideen verstand, die es nach der von Ludwig übernommenen Auffassung „als ‚ideographische Zeichen‘ in seiner Gegenwart wie Leuchttürme aus der Vergangenheit wiederzuentzünden galt.“.103 Anstelle der früher von Wagner geplanten außerordentlichen dramatischen Feste, sollte ein repräsentativer Kunsttempel aus Stein treten, „dauerhaft dem Gottesdienst geweiht, der den genialen Künstler zum Gott erhebt.“104 Auch wenn die durchaus elitären Wünsche seines Königs, nur die ‚Geweihten, Kunstentflammten‘ zu den Aufführungen zuzulassen, nicht Wagners eigenem, langfristig auf Volkserziehung ausgerichteten Kunstprogramm entsprachen, ja sogar nach den von Ludwig erzwungenen, für das Publikum geschlossenen Uraufführungen des Rheingold im September 1869 und der Walküre im Juni des folgenden Jahres zu einer deutlichen Abkühlung der Beziehungen führten105, vermochte dies doch das Patronageverhältnis nicht dauerhaft zu erschüttern. Wagners Einfluß auf den König, seine Eingriffe in die bayerische Politik und vor allem seine weitausgreifenden städtebaulichen Pläne, die darauf zielten, München in eine auf sein Theater zentrierte „Kunstresidenz“ zu verwandeln106,

101  Vgl.

Manfred Eger: Richard Wagner und König Ludwig II., in: Müller und Wapnewski (Hrsg.), Richard-Wagner-Handbuch, S. 162–174, 164. Nach verläßlichen Schätzungen beliefen sich die Zuwendungen Ludwigs an Wagner in den Jahren 1864/65 auf fast 300.000 Gulden, ungefähr die Summe, die dem König im Rahmen seiner Zivilliste für seine privaten Zwecke pro Jahr zur Verfügung stand: vgl. Naegele, Parsifals Mission, S. 218 ff.; Dirk Heißerer: Ludwig II., Reinbek 2003, S. 29. 102 Vgl. Naegele, Parsifals Mission, S. 116. 103 Tauber, Ludwig II., S. 49. Vgl. Harry Francis Mallgrave: Gottfried Semper. Architect of the Nineteenth Century, New Haven und London 1996, S. 251 ff. Dort auch weiteres über die schon von Dresden her datierende Freundschaft mit Wagner. Ferner Hermann Sturm: Alltag & Kult. Gottfried Semper, Richard Wagner, Friedrich Theodor Vischer, Gottfried Keller, Gütersloh und Berlin 2003; Karin Moelling: Auf den Spuren von Semper, Wagner und den anderen: Hamburg, Paris, Athen, Dresden, London, Zürich, Wien, Rom, Berlin 2019. 104 Gebhardt und Zingerle, Pilgerfahrt ins Ich, S. 46. 105 Vgl. ebd.; Tauber, Ludwig II., S. 101. 106 Vgl. Naegele, Parsifals Mission, S. 144 ff., 198 f.; Markus Kiesel: „Was geht mich alle Baukunst der Welt an!“ Wagners Münchner Festspielhausprojekte, in: Bolz und Schick (Hrsg.), Richard Wagner in München, S. 79–102.

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lösten bekanntlich einen breiten Widerstand aus, der sich bis zur Staatskrise steigerte und im Dezember 1865 zur Flucht Wagners aus München führte. Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, daß es dazu nur deshalb kam, weil Wagner nicht auf die Bestechungsangebote der Ultramontanen einging, die ihm die Erfüllung vieler seiner kulturpolitischen Wünsche versprachen.107 Und im übrigen: auch wenn der Gegenwind stärker war als erwartet, kann man doch nicht sagen, Wagner habe einem gänzlich unpraktischen und abstrakten Utopismus gehuldigt. Sein Programm einer „Veredelung der Staatstendenz“ mittels Sozialgesetzgebung blieb zugegebenermaßen etwas vage108, war aber zumindest ausbaufähig, wenn auch gewiß nicht auf der Linie jenes ihm bisweilen unterstellten ‚liberal-utopischen Konzepts‘109, sondern vielmehr im Sinne seines „absolut konservativen Standpunkt[es], den wir den idealen nennen wollen.“110 Auch dieser letztere ist allerdings erläuterungsbedürftig. Ideal war er allenfalls im subjektiven Sinne Wagners. Und konservativ im historischen Sinn des Begriffs schon gar nicht, und das gleich auf doppelte Weise, selbst wenn der Vorschlag, den administrativen Zentralismus durch korporative und föderalistische Strukturen zu konterkarieren, prima facie an die Tradition der alteuropäischen societas civilis anknüpfte.111 Unvereinbar damit war, erstens, Wagners Strategie, die neoabsolutistischen Neigungen Ludwigs sowohl in außen- als in kulturpolitischer Hinsicht zu bekräftigen, während er, zweitens, eben diese Neigungen in der Innenund Wehrpolitik durch die Forderung nach einer Wehrverfassung nach Schweizer Vorbild konterkarierte – eine Idee,, die auf besonders drastische Weise mit dem solipsistischen Stil seines Königs kollidierte, den man sich kaum, wie von Wagner gewünscht, vor einer ‚halben Million waffenkundiger Bauern‘ vorstellen kann, die ihm auf dem Lechfeld ihre Huldigung erwiesen.112 Als im Juni 1866 der Konflikt zwischen Preußen und Österreich eskalierte, entwarf Wagner ein weiteres Programm, demzufolge Bayern die Initiative zur

107 Vgl.

Eger, Richard Wagner und König Ludwig II., S. 166. Wagner, Deutsche Kunst und deutsche Politik, DS 8, S. 329 f. 109 Vgl. Naegele, Parsifals Mission, S. 337 u.ö. 110  Wagner, Deutsche Kunst und deutsche Politik, DS 8, S. 338. Das übersieht Naegele, die Wagners Konflikte mit dem realen bayerischen Konservatismus zum Anlaß nimmt, ihn umstandslos dem liberalen Lager zuzuschlagen. Was man dort von Wagner hielt, machte ein Artikel Gustav Freytags in den Grenzboten deutlich, der eindringlich davor warnte, die Grenzen zwischen Kunst und Politik zu verwischen, zum Wohle der Politik, aber auch zu demjenigen des Künstlers. „Auch von dem Künstler gilt, daß er zu einer Specialität seines Faches werden muß, um in der Kunst das Höchste zu leisten […] Der Künstler hat thatsächlich aufgehört Client der Vornehmen zu sein, er ist der Schützling eines großen Volkes geworden, und er soll sich doch hüten, diese unabhängige Stellung aufzugeben.“ Das war deutlich auf Wagner gemünzt, der auch namentlich genannt wurde: [Gustav Freytag] Fürst und Künstler, in: Die Grenzboten 25, 1866, Nr. 1, S. 34–36, 36. 111 Vgl. grundlegend: Kondylis, Konservativismus. 112 Wagner, Tagebuchaufzeichnungen September 1865, KLRW 4, S. 29 ff.; Tauber, Ludwig II., S. 94. 108 Vgl.

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

Gründung eines engeren Bundes unter Ausschluß der beiden Kontrahenten ergreifen und damit eine dritte deutsche Macht gründen sollte, die imstande wäre, im Konflikt zu vermitteln. Die Kontinuität des Deutschen Bundes sollte dadurch gewahrt werden, daß der engere Bund auf Erweiterung angelegt sein und später für Preußen und Österreich, aber auch für die Schweiz, Holland, Belgien und Dänemark offenstehen sollte113 – ein Programm, das mancherlei Berührungspunkte mit der großdeutschen Trias-Politik aufwies, wie sie namentlich von Julius Fröbel (1805–1893), ebenfalls einem ehemaligen 1848er, verfolgt wurde114, darüber hinaus auch mit den Zielen der Fortschrittspartei, zu deren Unterstützung Wagner seinen König aufforderte.115 Zu einem Anhänger dieser Partei wurde er dadurch aber nicht.116 Gegenüber Röckel, der ihr inzwischen beigetreten war, äußerte er sich abfällig über die Dummheit und Unehrlichkeit dieser Leute, warf dem liberalen Minister Neumayr vor, die wichtigsten Arbeiten der Sozialgesetzgebung vernachlässigt zu haben und gestand schließlich seine „ganz natürliche Gleichgiltigkeit, ja Verachtung vor unsren Liberalen und Demokraten“: „ich brauch’ nur mit einem solchen mich berühren, so weiss ich bis in meine Fusszehe, dass ich nichts mit ihnen zu thun habe“.117 Mit Fröbel kam es später sogar zu einem förmlichen Zerwürfnis, als dieser sich herabsetzend über die 1868 in zweiter Auflage erschienene Schrift Oper und Drama äußerte und seinem einstigen Mitstreiter vorwarf, sich als Gründer einer „Sekte“ zu gerieren, „die Staat und Religion durch ein Operntheater zu ersetzen und von ihm aus zu herrschen beabsichtige.“118 Wagner geriet über den ersten Teil dieses Textes derart in Wut, daß er den zweiten Teil ungelesen ins Feuer warf.119 Schon zuvor hatte er einen anderen Kandidaten für die von ihm geplante offiziöse Zeitung ins Auge gefaßt, der zwar wie Fröbel föderalistisch gesonnen

113 Vgl. Wagners politisches Programm, KLRW 4, S. 147 ff. Vgl. CWT 1, S. 404 (Eintrag vom 22.6.1871); CWT 2, S. 296, 442 (Einträge vom 24.1. und 13.11.1879); Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 6, 1911, S. 175. 114 Vgl. Hans Lülfing: Die Entwicklung von Julius Froebels politischen Anschauungen in den Jahren 1863–71 mit besonderer Berücksichtigung seiner Stellung zur deutschen Frage, Phil. Diss. Leipzig 1931; Rainer Koch: Demokratie und Staat bei Julius Froebel 1805–1893. Liberales Denken zwischen Naturrecht und Sozialdarwinismus, Wiesbaden 1978. In der von Fröbel geleiteten Süddeutschen Presse erschien im Herbst 1867 Wagners Schrift Deutsche Kunst und deutsche Politik, die allerdings nach der 13. Folge abgebrochen werden mußte – wie Fröbel später behauptete: auf königlichen Druck. Vgl. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 581 f. 115 Vgl. Naegele, Parsifals Mission, S. 376 f. 116 Das ist der Darstellung von Naegele entgegenzuhalten: vgl. ebd., S. 281, 296, 310, 348, 376. Was Wagner in seiner Münchner Zeit mit dem Nationalverein und der Fortschrittspartei verband, war aus seiner Sicht eine strategische Partnerschaft, keine Identifikation mit deren Zielen. 117 Richard Wagner an August Röckel, Briefe vom 12.12., 26.10., 16.12. 1865, KLRW 4, S. 113, 99, 117. Vgl. Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 4, S. 213, 268. 118 Zit. n. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 607. 119 Vgl. CWT 1, S. 29 (Eintrag vom 10.1.1869).

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war, dies aber mit einer schroffen Absage an Liberalismus und Demokratie verband und für eine Repräsentativverfassung auf neuständisch-korporativer Grundlage eintrat – Constantin Frantz (1817–1891).120 Eben diesen Frantz, der im übrigen auch durch seinen ausgeprägten Antisemitismus hervorstach121, empfand Wagner im März 1866 so sehr als ‚gleichstrebend‘, daß er ihn zum Austausch einer Reihe von offenen Briefen aufforderte.122 Zu dem anvisierten „gemeinsamen Angriff gleichdenkender Genossen gegen die so wohlgegliederte Phalanx des Gemeinen und Verderblichen“ kam es dann vorerst freilich nicht, war Frantz doch nicht bereit, sich auf die mit Königgrätz geschaffene neue Machtlage einzulassen und verschärfte seinen antipreußischen Kurs sogar noch. Erst einige Jahre nach der Reichsgründung näherte man sich wieder einander an. Wagner dagegen justierte zwei Wochen nach der bayerischen Niederlage bei Kissingen und zehn Tage vor der endgültigen Entscheidung bei Königgrätz seine Strategie neu und richtete sich auf den Sieg Preußens ein.123 Schon im Februar 1867 gab er Röckel zu verstehen, wer die Sache genau kenne, müsse finden, „dass der That Preussens grosser, grosser Dank“ gebühre.124 Durch sie sei es nun möglich, die Herrschaft der Jesuiten in Bayern und vielleicht sogar in Österreich zu brechen. Seinem König empfahl er das Bündnis mit Preußen, denn im Gegensatz zu Österreich könne es Bayern niemals annektieren. Erst durch dieses Bündnis werde Deutschland in die Lage versetzt, der Welt zu zeigen, welche Kraft in ihm stecke. Das zielte bereits gegen den nächsten Gegner, Frankreich, dessen „Unverschämtheiten und Drohungen“ in Wagners Augen seit langem die „Ehre Deutschlands“ antasteten. Eine machtvolle Antwort darauf sei „im ganzen Volke ersehnt. Der volksthümlichste Krieg steht bevor: wer entscheidenden Theil an ihm nahm, wird vom deutschen Volk über Alles hochgeehrt sein. Jetzt oder niemals!“125 Überblickt man diese mittlere Periode in Wagners Denkweg, so erscheint als der entscheidende Einschnitt die Annäherung an die Philosophie Schopenhauers. Je mehr Wagner sich mit dieser vertraut machte, desto mehr radikalisierte sich seine Zeitablehnung zur Weltablehnung, zur Entwertung dessen, was irgendwie auf Wille und Vorstellung beruhte. Diese Weltablehnung wurde bei ihm indessen,

120 Vgl. Constantin Frantz: Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaft, Leipzig 1870, ND Aalen 1964, S. 323 ff., 345 ff., 299 f. Zu Person und Werk vgl. Manfred Ehmer: Constantin Frantz. Die politische Gedankenwelt eines Klassikers des Föderalismus, Rheinfelden 1988; Winfried Becker: Der Föderalist Constantin Frantz. Zum Stand seiner Biographie, der Edition und der Rezeption seiner Schriften, in: Historisches Jahrbuch 117, 1997, S. 188–211. 121 Vgl. Michael Dreyer: Judenhass und Antisemitismus bei Constantin Frantz, in: Historisches Jahrbuch 111, 1991, S. 154–172; Constantin Frantz, der Außenseiter des Antisemitismus, in: Werner Bergmann (Hrsg.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009, S. 39–59. 122 Vgl. Richard Wagner an Constantin Frantz, Brief vom 20.3.1866, KLRW 4, S. 132 ff. 123 Vgl. Richard Wagner an August Röckel, Brief vom 23.6.1866, KLRW 4, S. 154; ferner den Brief an König Ludwig vom 24.7.1866, KLRW 2, S. 80 f. 124 Richard Wagner an August Röckel, Brief vom 29.1.1867, KLRW 4, S. 178. 125 Vgl. Richard Wagner an König Ludwig, Brief vom 25.4.1867, KLRW 2, S. 167 f.

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

erstens, nicht so total wie bei Schopenhauer, kannte Wagner doch inmitten des Leidens einen „Quell fortwährender Erneuerung“, den er im deutschen Volksgeist und seiner künstlerischen Anlage gegeben und auch dann noch wirksam sah, wenn er sich aktuell nur in wenigen Exemplaren zeigte126; und sie führte, zweitens, auch keineswegs zur Weltabwendung. Im Gegensatz zu seinem königlichen Gönner, den in seinem Amt zu halten er alle Mühe hatte, betrieb Wagner eine Variante der Weltablehnung, die mit Weltzuwendung einherging – ein aus der Religionssoziologie durchaus vertrauter Sachverhalt.127 Unter der Voraussetzung, daß Erlösung für eine weit größere Zahl eher auf dem ästhetischen als auf dem ethischen Heilsweg zu erreichen war, war es durchaus konsequent, sich der Welt zuzuwenden – nicht um in ihr direkt das Heil zu erlangen, wohl aber, um sie so zu gestalten, daß die wahre Kunst optimale Bedingungen fand. In diesem Sinne war Wagners politische Praxis dieser Jahre weder Egomanie noch Opportunismus. Sie folgte aus dem Bestreben, in einer Welt, die als Hölle galt, eine Tür frei zu halten, die nach draußen führte; und das war, wenn man die Prämissen zugab, durchaus folgerichtig gedacht. Am Ende kam vieles so, wie von Wagner gewünscht. Dank königlicher Unterstützung wurden die musikalischen Werke vollendet, und das Festspielhaus wurde gebaut, zwar nicht, wie geplant, in München, doch immerhin in Bayreuth.

3 Zum „Gott, der in uns wohnt“ Wagners Hoffnung, Bayern könne und müsse nach der Niederlage von 1866 einen ‚deutschen Beruf‘ ausüben, indem es auf dem Gebiet der Kulturpolitik so vorbildlich wirke wie Preußen auf demjenigen der ‚Nützlichkeitszwecke‘128, erfüllte sich nicht. Die Einigung Deutschlands, die 1871 zum Abschluß kam, war ausschließlich das Werk Preußens, Ludwig II. dagegen hatte sich in praktischpolitischer Hinsicht als Fehlbesetzung erwiesen.129 Der König gewährte Wagner

126 Wagner,

Deutsche Kunst und deutsche Politik, DS 8, S. 268. im Anschluß an Max Weber Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung, 2 Bde., Frankfurt am Main 1988, Bd. 2, S. 102. Sehr deutlich kommt diese Haltung auch in den Briefen Cosima Wagners an Nietzsche zum Ausdruck. So warnte sie, zweifellos in Abstimmung mit Richard Wagner, den Freund davor, die durch Schopenhauer begründeten „richtigen Formen des Denkens und diese sichere Art der Anschauung“ allzu direkt „mit dem Leben in Contakt“ zu bringen, da sonst „eine grosse Gefahr im Anzug“ sei: Cosima Wagner an Friedrich Nietzsche, Brief vom 20.2.1870, in: Die Briefe Cosima Wagners an Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 31. 128 Vgl. Wagner, Deutsche Kunst und deutsche Politik, DS 8, S. 350. 129  Letzteres scheint Wagner spätestens 1869 klar gewesen zu sein. Im Tagebucheintrag vom 5.11.1869 berichtet Cosima Wagner vom Wunsch ihres Mannes, den gemeinsamen Sohn Siegfried mit Eintritt der Pubertät wegzugeben, damit er unter Menschen komme, die „Adversität“ kennenlerne und sich herumbalge, „sonst wird er zum Phantasten, vielleicht 127 Vgl.

3  Zum „Gott, der in uns wohnt“

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wohl weiterhin seine Unterstützung, konzentrierte jedoch sich und die ihm zur Disposition stehenden Mittel auf den Bau seiner ebenso orts- wie zeitenthobenen, mehr und mehr die späteren Produkte der Disney-Studios antizipierenden Schlösser, der Bayern und die Monarchie in den 80er Jahren in eine Finanz- und Staatskrise stürzen sollte. Wagner brauchte nicht lange, um sich auf die neue Lage einzustellen. Hatte er noch 1866 seinen Antipathien gegen Preußen freien Lauf gelassen130, so beeilte er sich jetzt, dem Weltgeist den fälligen Tribut zu zollen. Zwei Tage nach der französischen Kriegserklärung im Sommer 1870 hoffte er, der Krieg werde „nicht kurz abgemacht“, gelte es doch ein für allemal, „durch eine furchtbare Anstrengung die Deutschen […] für ihre Bestimmung“ zu retten.131 Mit Begeisterung verfolgte er die Kampagne in Frankreich und sah im „Verlangen aller Guten nach dem endlichen Aufblühen des deutschen Wesens den Grund zu unsrem Sieg über dieses so gefürchtete Frankreich und seine unglaublich scheinende Organisation.“132 Volle Zustimmung fand die Broschüre Wolfgang Menzels, die von einem Krieg nicht nur gegen Napoleon III., sondern gegen das französische Volk sprach, das „seit Jahrhunderten unser bösester Nachbar“, „unser Erbfeind“ und durch seine Kämpfe in Algerien vollends vertiert und verwildert sei.133 Zu der dort erhobenen Forderung nach einer Annexion von Elsaß-Lothringen notierte Cosima Wagner kurz: „sie stimmt mit R.’s Ansichten überein.“134 Nach der Proklamation im Spiegelsaal von Versailles bekannte Wagner, wie sehr sich sein Vertrauen auf die Zukunft belebt habe. „Der Gang der Bildung des neuen Reiches ist wundervoll. Hier hat Alles aus tiefem Instinkte und unvertilgbaren Anlagen gewirkt. Wer diese Figuren, wie Bismarck, Roon u. Moltke gerade um diesen König Wilhelm nicht begreift, – der ist zu beklagen.“135

zum Crétin, wie wir so etwas an dem König von Bayern sehen“ (CWT 1, S. 167, Eintrag vom 5.11.1869). Sein königlicher Freund und Wohltäter, hieß es ein Jahr später, liebe zwar seine Arbeiten ‚abgöttisch‘, habe aber „so wenig gebildeten Kunstsinn, dass es ihm ganz gleichgültig ist, wie sie ihm aufgeführt werden“: Richard Wagner an Oswald Marbach, Brief vom Januar 1870, SB 22, S. 57. Gegenüber der ihm historisch zugewiesenen Aufgabe, „als eigentlicher Gründer des Reiches der deutschen Kunst ihre Stätte [zu] bilden“, habe er versagt (CWT 1, Eintrag vom 11.1.1874, S. 779), statt dessen habe er es vorgezogen, sich bei einem seiner Schlösser einen Hirschpark nach dem Muster von Louis XV bauen zu lassen – eine Nachricht, über die sich Wagner „förmlich entsetzt“ zeigte (CWT 2, Eintrag vom 12.10.1882, S. 1022). 130 Vgl. Richard Wagner an König Ludwig, Brief vom 29.4.1866, KLRW 2, S. 26 f. 131 Richard Wagner an Hans Herrig, Brief vom 21.7.1870, SB 22, S. 179. 132 CWT 1, S. 268 (Eintrag vom 11.8.1870). 133 Wolfgang Menzel: Elsaß und Lothringen sind und bleiben unser, Stuttgart 1870, S. 51 f., 8, 56. Der Urburschenschaftler und als Literarhistoriker seinerzeit weithin bekannte Menzel (1798– 1873) ist von der neueren Forschung bislang stiefmütterlich behandelt worden. Vgl. einstweilen Gerhart Söhn: Wolfgang Menzel. Leben, Werk, Wirkung; Bibliographie. Düsseldorf 2006. 134 CWT 1, S. 285 (Eintrag vom 15.9.1870). 135 Richard Wagner an Allwina Frommann, Brief vom 1.2.1871, SB 23, S. 37.

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

Um solche Stimmen im Keim zu ersticken, verfaßte er im Januar 1871 ein Gedicht An das deutsche Heer vor Paris und widmete es Bismarck; der preußische König und nunmehr Deutsche Kaiser erhielt einen Kaisermarsch. Der ganze deutsche Krieg, erschien es ihm, sei „nur gemacht, um mir zu meinem Ziele zu verhelfen“.136 Einige Wochen später empfing ihn Bismarck zu einem Besuch in Berlin, von dem er „höchst befriedigt“ und „ganz entzückt“ zurückkehrte.137 Mit nicht geringerer Zustimmung verfolgte Wagner bald darauf, was seinem Stichwortgeber Wolfgang Menzel als konsequente Fortführung des Krieges gegen Frankreich erschien138: den Kulturkampf gegen die katholische Kirche, mit der eine Verständigung unmöglich sei. Daß diese ‚Pest der Welt‘ noch immer bestehe, erschien ihm als Skandal, sei doch das „jetzige einzig mögliche Katholikon […] die Musik und Beethoven als Großpriester“.139 Seine Hoffnung richtete sich auf eine Allianz von Rom, Frankreich und Österreich, „dann kommt es vielleicht zu der deutschen Kirche und ist es zu Ende mit den Habsburgern, dem Pfahl in unserm Fleisch“.140 Im November 1872, ein halbes Jahr nach dem berühmten Diktum Bismarcks „Nach Canossa gehen wir nicht“, schwärmte Wagner: „Er ist und bleibt unser größter deutscher Mann“, in einer Reihe mit den großen Figuren des protestantischen Deutschtums wie Luther, Gustav Adolf und Friedrich II. von Preußen.141 Wie groß seine Erwartung war, der neu geschaffene, kleindeutsch-protestantische Staat könne, frei von ultramontanen Hemmnissen, die kulturpolitischen Aufgaben bewältigen, die sich für Bayern als zu groß erwiesen hatten, zeigt noch sein im Juni 1873 an Bismarck als den „großen Neubegründer deutscher Hoffnungen“ gerichteter Brief, in dem er (wie bekannt: vergeblich) um dessen Teilnehmung am Bayreuther Unternehmen warb.142 Auch die Mediatisierung der Eisenbahnen wurde begrüßt, als „ein großer Schritt gegen den Wucher.“143 Die Tagebuchaufzeichnungen Cosimas lassen erkennen, wie weit Wagner sich inzwischen von seinen demokratischen Anfängen entfernt hatte. Im März 1873 äußerte er sich bekümmert darüber, daß Bismarck alles der Kammer vortragen

136 Richard

Wagner an Ferdinand Praeger, Brief vom 25.11.1870, SB 22, S. 240. 1, S. 384 (Eintrag vom 3.5.1871). 138  Vgl. Wolfgang Menzel: Rom’s Unrecht, Stuttgart 1871; Geschichte der neuesten Jesuitenumtriebe in Deutschland 1870–1872, Stuttgart 1873. Wagner las diese Schriften – genauer gesagt: Hetzschriften – im Frühjahr 1872: vgl. CWT 1, S. 502, 506, 646 (Einträge vom 19.3. und 2.4.1872 bzw. 3.3.1873). 139 Vgl. CWT 2, S. 224 f. (Eintrag vom 10.11.1878); CWT 1, S. 826 (Eintrag vom 7.6.1874). Näher zu diesem Konflikt Michael B. Gross: The War against Catholicism. Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in Nineteenth-Century Germany, Ann Arbor 2004; Manuel Borutta: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 20112. 140 CWT 1, S. 542 (Eintrag vom 30.6.1872). 141 CWT 1, S. 601, 451 f. (Einträge vom 25.11.1872 und 22.10.1871). 142 Richard Wagner an Otto von Bismarck, Brief vom 24.6.1873, SB 25, S. 162. 143 CWT 1, S. 740 (Eintrag vom 14.10.1873). 137 CWT

3  Zum „Gott, der in uns wohnt“

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müsse und von dieser abhängig sei; viel besser sei es, die Landtage aufzulösen „und dann Gesetze oktroyieren und mit der Armee sie aufrechterhalten“.144 Im Juni der Wunsch, „daß dem unsinnigen Parlamentarismus ein Ende gemacht werde“, im Januar 1874 „Schrecken über die Wahlen – Deutschland durchaus nicht für allgemeines Stimmrecht geeignet. Die Guten, zufrieden mit der Regierung, enthalten sich, und nur die Schlimmen sind tätig (Juden, Ultramontane, Sozialisten)“.145 Die Frage, ob man in Deutschland der Revolution von 1789 etwas verdanke, wird verneint: „wir sind aus unserer eigentlichen Entwickelung in uns fremde Bahnen durch sie geführt, Parlamentarismus, Freiheit der Presse, anstatt daß alle Interessen durch Korporationen vertreten sein sollten, und wären diese Interessen befriedigt, dann die Beschlüsse kund getan, ohne Raisonnements der Leute, die nichts wissen und nichts davon verstehen“.146 Eine autoritäre Politik, gedeckt durch die Erbmonarchie, mit sozialem Touch und korporativer Gliederung der Gesellschaft – zumindest eine Zeitlang war die Welt Bismarcks auch diejenige Richard Wagners. Als diese Ordnung sich jedoch in wachsendem Maße gleichgültig zeigte gegenüber den Wünschen, die von Bayreuth aus an sie herangetragen wurden, reagierte Wagner mit Enttäuschung und Wut. Sie richtete sich gegen Bismarck, diese „Karikatur des homme fort“, der der „Großzüchtung des Judenthums im deutschen Volksleibe“ Vorschub leiste147, durch seine Zoll- und Steuerpolitik das Volk in die Armut treibe und überhaupt alle wichtigen Fragen nach Gutsherrenart behandele.148 Sie richtete sich auch gegen Preußen, gegen die Armee, die ständig wachsenden Militärlasten und eine Zivilisation, die nur auf Gewalt, Krieg und Eroberung ausgerichtet sei.149 Die Zeit seit der Reichsgründung erschien ihm jetzt als „die elendeste Zeit, welche Deutschland je erlebt, mit diesem Sauhetzer an der Spitze“.150 „Und so ekelt mich dieses neue Deutschland an! Das soll ein Kaiserreich sein? Ein ‚Berlin‘ als Reichshauptstadt! Es ist ein reiner Spott von oben herab, der nun von unten herauf erwidert wird. Wo bleiben unsere Fürsten, die zum Rath zusammentreten? Giebt es nur noch vom Büreau auf gediente Minister, die sich in Berlin um den grünen Tisch setzen, um sich von einem pommerschen Junker Beschlüsse diktiren zu lassen? In wessen Händen ist die deutsche Ehre? Der deutsche Genius, wer pflegt ihn?“151

144 CWT

1, S. 662 (Eintrag vom 27.3.1873). 1, S. 697 (Eintrag vom 19.6.1873); ebd., S. 783 (Eintrag vom 18.1.1874). 146 CWT 1, S. 724 f. (Eintrag vom 10.9.1873). 147 CWT 2, S. 686; Ludwig Schemann: Meine Erinnerungen an Richard Wagner, Stuttgart 1902, S. 46. 148 Vgl. CWT 2, S. 284, 315, 1047 (Einträge vom 5.1. und 12.3.1879 sowie 14.11.1882). 149  Vgl. Vgl. CWT 1, S. 816, 843, 912 (Einträge vom 8.5.1874; 6.8.1874; 22.4.1875); CWT 2, S. 245, 446 (Einträge vom 29.11.1878; 19.11.1879); Wagner, Religion und Kunst, DS 10, S. 141 ff. 150 CWT 2, S. 506 (Eintrag vom 18.3.1880). 151 Richard Wagner an König Ludwig, Brief vom 15.7.1878, KLRW 3, S. 128 f. 145 CWT

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

Von Resignation wollte Wagner jedoch nichts wissen. Wo alles taub und mürbe war, gab es doch einen Grund zu hoffen: die Gewißheit, daß es ein angeborenes Gegengift gegen den Willen und die aus ihm hervorgehende Leidenswelt gab, einen „Gott in uns“, „im Inneren der Menschenbrust“. Dieser Gott war nicht der Schöpfergott des Judentums, auch nicht der Gott Fausts, sondern der Gott der Mystiker, „der lebendige Gott in unserem Busen“, „der keiner wissenschaftlich nachweisbaren Himmelswohnung bedurfte“.152 Die Sprache, in der er sich bevorzugt artikulierte, war die Musik, speziell die deutsche Musik von Bach bis Beethoven, die „man wirklich unter dem Begriff des Erhabenen verstehen“ könne.153 Während allen anderen Kulturvölkern die Musik nur ein „Akkompagnement zu Gesangs- oder Tanz-Virtuosität“ sei, sei sie den Deutschen „etwas Eigenes, ja Göttliches“, das ihre Geweihten zu Märtyrern mache und durch sie alle Heiden lehre. „Nur wir kennen die ‚Musik‘ als Musik, und durch sie vermögen wir alle Wiedergeburten und Neugeburten“, heißt es in Zur Einführung in das Jahr 1880, und gleich darauf: „Uns Deutschen ist durch unsere große Musik die Macht verliehen, weithin veredelnd zu wirken; nur muß die Macht mächtig sein, um die Leuchte zu entzünden, in deren Lichte wir endlich wohl auch manchen Ausweg aus dem Elende erkennen, welches uns heute überall umschlossen hält“.154 Völlig neu war dies nicht, hatte doch das Deutschtum, der deutsche Volksgeist, in seinem Denken schon immer einen wichtigen Platz eingenommen.155 Bereits der 48er Revolutionär wollte in Übersee deutsche Kolonien gründen und es allenthalben „deutsch und herrlich machen“; die „Strahlen deutscher Freiheit und deutscher Milde“ sollten „den Kosaken und Franzosen, den Buschmann und Chinesen erwärmen und verklären“.156 Oper und Drama bescheinigte, ganz auf den Spuren Fichtes, der deutschen Sprache als einziger einer gewisse Wurzelechtheit, weshalb auch sie nur befähigt sei, zur Belebung des künstlerischen Aus-

152 Richard

Wagner: Zur Einführung in das Jahr 1880, GSD 10, S. 27–31, 30. 2, S. 227 (Eintrag vom 11.11.1878). 154 Ebd., S. 31 f. 155 Vgl. den Überblick bei Hannu Salmi: Imagined Germany: Richard Wagner’s National Utopia, New York etc. 1999; Hein, Richard Wagners Kunstprogramm, S. 27 ff. 156 Wagner, Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtum gegenüber? DS 5, S. 215 f. Die Überzeugung, daß die Gründung von Kolonien, vor allem im Sinne von Siedlungskolonien, zu den Kulturaufgaben Deutschlands gehöre, hat ihn auch später nicht losgelassen: vgl. CWT 2, S. 481 (Eintrag vom 18.1.1880); Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 6, S. 175; Richard Wagner: Brief an Heinrich von Stein [1883], DS 10, S. 164–171, 169 f. Wagner befand sich darin übrigens durchaus in Übereinstimmung mit zentralen Zielen der liberalen Nationalbewegung. Vgl. Frank Lorenz Müller: ‚Der Traum von der Weltmacht‘. Imperialistische Ziele in der deutschen Nationalbewegung von der Rheinkrise bis zum Ende der Paulskirche, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 6, 1996/97, S. 99–183. Ähnliche Töne waren von Demokraten wie Herwegh zu hören, der in seinem „Flottenlied“ die Deutschen als „das Hoffnungsvolk der Erde“ feierte und ihm die Aufgabe zuwies, „der Welt Erneuerer“ zu sein. Vgl. Reinhardt, Georg Herwegh, S. 57. 153 CWT

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drucks verwandt zu werden.157 In den 60er Jahren schob sich diese Denkfigur immer mehr in den Vordergrund, woran der Tannhäuser-Skandal von 1861 und Wagners wachsender Franzosenhaß einen nicht geringen Anteil hatten.158 Beinahe alles, worunter er litt, projizierte Wagner auf Frankreich und baute via negationis ein ideales Bild vom Deutschtum dagegen auf, wie es besonders in den Meistersingern (und dort vor allem in der später gern zitierten Schlußansprache von Hans Sachs) zum Ausdruck kommt.159 Frankreich: das war der Kulturbetrieb, die Herrschaft der Mode, unter der sich alles um Zerstreuung, Amusement, Unterhaltung drehte, war das Regime der Mittelmäßigkeit, des bloßen Talents, der Virtuosität, des Irrglaubens an Vernunft und Rationalität.160 Daran ließ sich nahtlos jene seit den Tagen des Sturm und Drang geläufige Kritik an der höfischen civilisation anknüpfen, die sich an der Konvention, an der Künstlichkeit und Äußerlichkeit der höfischen Umgangsformen, an der „Umformung der Schönheit in die Eleganz, der Anmut in den Anstand“ stieß und dagegen das Leben, die Originalität und Spontaneität, die Produktivität des Genies setzte.161 Fügte man dann noch die in den deutschen Bildungsschichten ebenfalls beliebte Polemik gegen das Nützlichkeits- und Zweckmäßigkeitsdenken hinzu, die Klage über die Organisation des öffentlichen Lebens nach Maßgabe eines Mechanismus162, so waren alle Elemente eines nationalistischen Diskurses beisammen, der dem französischen Volksgeist die Fähigkeit absprach, auch nur ein einziges Werk der Kunst zu schaffen163, die Deutschen dagegen als ein Volk ideal gesinnter Helden und redlicher Arbeiter stilisierte, die nichts anderes im Sinn hätten, als „die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen [zu] treiben“.164 Unter solchen Prämissen war es folgerichtig, wenn Wagner 1870 den deutschen Einmarsch begeistert begrüßte und seinen Haß bis zu dem Wunsch steigerte, „dass Paris vertilgt wäre.“165 Noch zwei Jahre später, als die Wogen des Chauvinismus

157 Vgl.

Wagner, Oper und Drama, DS 7, S. 350 f. Hein, Richard Wagners Kunstprogramm, S. 157 ff. 159  Vgl. Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg [1862], DS 4, S. 107–212, 212; Drüner, Richard Wagner, S. 543 ff., 549 ff., 566 ff. 160 Richard Wagner: Publikum und Popularität [1878], GSD 10, S. 61–90, 65; Beethoven, DS 9, S. 97. Vgl. CWT 1, S. 671 (Eintrag vom 21.4.1873). 161 Wagner, Deutsche Kunst und deutsche Politik, DS 8, S. 249. 162 Vgl. ebd., S. 329. 163 Wagner, Beethoven, DS 9, S. 101. 164 Wagner, Deutsche Kunst und deutsche Politik, DS 8, S. 320. 165  Richard Wagner an Édouard Schuré, Brief vom 3.9.1870, SB 22, S. 196. Für seine zeitweise in Paris eingeschlossenen Freunde hatte er mitfühlenden Trost eigener Art bereit. Die Zerstörung ihrer Stadt würde immerhin das Gute haben, daß damit der Schlund untergehe, in dem der wahre Geist der Nation immer untergegangen sei. So wäre immerhin eine „Erneuerung des französischen Volkes“ möglich: Richard Wagner an Catulle und Judith Mendès, Brief vom 12.9.1870, SB 22, S. 280. 158 Vgl.

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

wieder einmal höher schlugen, sprach er sich dafür aus, „daß ein erneuerter Krieg mit Frankreich auch die Industrie dieses heillosen Landes völlig vernichte, damit dieser Einfluß gebrochen würde.“166 Was Wagner hier verlangte, war barbarisch. Andererseits war es eine Äußerung im privaten Kreis und stand im Widerspruch zu vielem, was er öffentlich sagte. Auch 1870 galt noch, was er 1865 seinem königlichen Herrn ins Stammbuch geschrieben hatte: „dass das eigentlich deutsche Volk, im Gegensatz zu den übrigen Stämmen der grossen germanischen Völkerfamilie, in seinen Neigungen nicht aggressiv-revolutionär, sondern defensiv-conservativ ist“. Deutschland sei auf äußere Eroberungen nicht bedacht, es bedürfe zu seiner Anregung „nur des Anschauens des ausserhalb Liegenden“, nicht seiner Aneignung durch Verschlingung.167 Ein Patriotismus, statuierte Wagner zwei Jahre später, der sich in Ungerechtigkeit und Gewaltsamkeit gegen andere Staaten und Völker äußere, sei entartet.168 Nationale Freiheitsbestrebungen wie die der Iren oder der Italiener galten ihm jedoch als gerecht und konnten stets mit seiner Sympathie rechnen, die sich im Falle Garibaldis zu höchster Verehrung steigerte.169 Den Aufstand in Transvaal vom Dezember 1880, mit dem die Buren ihre Unabhängigkeit von England zurückgewannen, begrüßte er mit Begeisterung, trat dem Komitee zur Unterstützung der Rebellen bei und träumte von einer „Auswanderung zu den Boers“.170 Über den von diesen praktizierten „alttestamentlich inspirierten Rassismus, der die Sklaverei ohne jede Scham einschloss“, ging er hinweg.171 In Wagners Nationalismus verbanden sich partikularistische und universalistische Züge. Partikularistisch war die Behauptung einer besonderen Sendung des deutschen Volksgeistes172; universalistisch der Gedanke, diese zeige sich in bestimmten, ‚reinmenschlichen‘ Potentialen: einer Sprache, die bis ins „Urmenschenthum“ hinabreiche und die sie Sprechenden sich „nicht mehr als eine Race, als eine Abart der Menschheit, sondern als einen Urstamm der Menschheit selbst fühlen läßt“; und einer Musik, die große Komponisten wie Beethoven „in der reinsten Sprache aller Völker“ reden lasse.173 Das entsprach einer bis in die Zeit der deutschen Klassik zurückreichenden Sichtweise, nach der der weltgeschichtliche Beruf Deutschlands in der Stärkung des Kosmopolitismus zu sehen

166 CWT

1, S. 770 (Eintrag vom 27.12.1873). Tagebuchaufzeichnungen September 1865, KLRW 4, S. 29 f. 168 Vgl. Wagner, Über Staat und Religion, DS 8, S. 228. 169 Zu Irland vgl. CWT 2, S. 582, 649, 849 (Einträge vom 13.8. und 29.12.1880 sowie vom 16.12.1881). Zu Garibaldi vgl. CWT 2, S. 917, 953 f. (Einträge vom 27.3., 3.4. und 4.4.1882). 170  Vgl. CWT 2, S. 645 f., 850 (Einträge vom 24.12.1880 und 17.12.1881); Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 6, S. 418, 443, 445. 171 Martin Bossenbroek: Tod am Kap. Geschichte des Burenkriegs, München 2016, S. 31. 172 Vgl. CWT 2, S. 958 (Eintrag vom 11.6.1882). 173 Wagner, „Erkenne dich selbst“, GSD 10, S. 272 f.; Beethoven, DS 9, S. 63. 167 Wagner,

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sei, wie denn auch in der englischen und französischen Klassik der eigenen Nation jeweils eine universale Sendung zugesprochen worden war.174 So war es auch kein Widerspruch zu seinem Nationalismus, wenn Wagner sich darüber freute, „im deutschen Geiste die Anlage zu erblicken, welche über die engeren Schranken der Nationalität zu einem Erfassen des rein Menschlichen in jedem fremden Gewande hinleitet und ihn mir so dem griechischen Geiste verwandt erscheinen ließ“.175 Je schärfer allerdings der Sendungsgedanke gefaßt wurde, desto heftiger richtete er sich auch gegen dessen prospektiven Träger. Galt die Kritik noch in den 60er Jahren vornehmlich jenen Fürsten, welche die eigentliche Stätte der Wiedergeburt des deutschen Geistes, das Theater, für partikulare Machtzwecke mißbrauchten – seine welterlösende Aufgabe, hieß es damals, könne der deutsche Geist nur erfüllen, wenn Deutschlands Fürsten so deutsch wären wie seine großen Meister – , so zielte sie nun zunehmend auf die Defizite des Nationalcharakters, und das hieß: auf alles am deutschen Wesen, was nicht Dürer, Bach, Beethoven und – Wagner war.176 Jetzt geißelte er ‚das blöde Bedürfnis der Nachahmung des ausländischen Wesens‘, das auch durch die ungeheuren äußeren Erfolge der deutschen Politik nicht ausgelöscht worden sei, beklagte die mangelnde Empfänglichkeit seiner Landsleute für große schwungvolle Gedanken und beschimpfte sie als Crétins und Dummköpfe: „Zu dem deutschen Gehirn kommt man immer wie durch eine Art von Stockschnupfen“.177 Hieß es im Februar 1878 noch unentschieden, die deutsche décadence sei nicht mehr aufzuhalten, doch wolle er trotzdem alles tun, um sie zu bremsen178, so kam er schon im Dezember desselben Jahres zu dem Schluß: „Des Allemands, il n’y en a plus!“179 Im März 1879 bekräftigte er diesen Befund180, um wiederum ein Jahr später mit dem Gedanken einer Auswanderung nach Amerika zu spielen, da er immer mehr verzweifeln

174 Vgl.

Conrad Wiedemann: Deutsche Klassik und nationale Identität. „Eine Revision der Sonderwegs-Frage“, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Klassik im Vergleich, Stuttgart 1933, S. 541–569. 175 Wagner, Mein Leben, S. 221. 176  Vgl. Wagner, Deutsche Kunst und deutsche Politik, DS 8, S. 305 ff., 321. Zu Wagners Selbsteinschätzung vgl. die Notiz im sogenannten Braunen Buch vom 11.9.1865: „ich bin der deutscheste Mensch, ich bin der deutsche Geist. Fragt den unvergleichlichen Zauber meiner Werke, haltet sie mit allem Übrigen zusammen: Ihr könnt für jetzt nichts anderes sagen als – es ist deutsch. Aber was ist dieses Deutsche? Es muss doch etwas wunderbares sein, denn es ist menschlich schöner als alles Übrige? – O Himmel! Sollte dieses ‚Deutsche‘ einen Boden haben! Sollte ich mein Volk finden können! Welch herrliches Volk müsste das werden? Nur diesem Volke könnte ich aber angehören“ (Richard Wagner: Das braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1882. Vorgel. u. komm. von Joachim Bergfeld, Zürich 1975, S. 86). 177  Vgl. Richard Wagner: Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth [1873], DS 10, S. 21–44, 43; Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 654; CWT 2, S. 674 (Eintrag vom 23.1.1881); vgl. ebd., S. 386 (Eintrag vom 23.7.1879). 178 Richard Wagner an König Ludwig, Brief vom 10.2.1878, KLRW 3, S. 116. 179 CWT 2, S. 274 (Eintrag vom 24.12.1878). 180 Vgl. ebd., S. 312 (Eintrag vom 3.3.1879).

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müsse, „in dem so tief degenerirten deutschen Volke mein Werk wirkliche Wurzeln fassen zu sehen“.181 Verdikte dieser Art durften freilich nicht zu weit getrieben werden, wenn die These vom universalen Beruf der Deutschen nicht Schaden nehmen sollte.182 Da Wagner sein eigenes Werk aufs engste mit ihr verquickte – „mit dem Heil Deutschlands steht und fällt auch mein Kunstideal“183 – , mußte er sich nach Gründen umsehen, weshalb das reale Volk immer wieder hinter dem idealen zurückblieb. Hierfür stand ihm ein ganzes Bündel von Argumenten zur Verfügung, die sich teils aus dem um 1848/49 erworbenen Vorrat an modernitätskritischen Topoi speisten und durch die Schopenhauer-Rezeption eher noch radikalisiert wurden, teils aus der Denkfigur der Überfremdung abgeleitet wurden, die in Deutschland eine längere, bis auf Herder und die Romantik zurückreichende Tradition besaß: „fort mit dem Fremden im Einheimischen“, hatte sich schon Achim von Arnim in Des Knaben Wunderhorn ereifert.184 Besondere Bedeutung kam dabei Wagners Sicht des Judentums zu.185 Erhebliche Ressentiments in dieser Richtung hatte er schon während seines ersten Pariser Aufenthaltes von 1839 bis 1842 aufgebaut und war darin sowohl von seinen jungdeutschen wie seinen frühsozialistischen Gewährsleuten bestärkt worden, die vielfach ähnliche Affekte pflegten.186 Kurz nach der Revolution von 1848/49 hatten sie sich in der pseudonym publizierten Broschüre Das Judentum in der Musik entladen, die vermutlich als Teil einer von Theodor Uhlig entfesselten Kampagne gegen den damals erfolgreichsten Komponisten der Welt, Giacomo

181 Richard Wagner an König Ludwig, Brief vom 1.1.1880, KLRW 3, S. 165. Vgl. auch CWT 2, S. 529 (Eintrag vom 5.5.1880): „R. will aus dem Reich treten und sich in Amerika naturalisieren lassen.“ 182 Vgl. Wagner, Deutsche Kunst und deutsche Politik, DS 8, S. 254, 301. 183 Richard Wagner an Constantin Frantz, Brief vom 19.3.1866, KLRW 4, S. 134 f. 184 Zit. n. Stefan Matuschek: Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik, München 2021, S. 314. 185 Aus der Fülle der kontroversen Literatur zu diesem Thema seien hervorgehoben: Jakob Katz: Richard Wagner. Vorbote des Antisemitismus, Königstein 1985; Dieter Borchmeyer: Richard Wagner und der Antisemitismus, in: Müller und Wapnewski, Richard-Wagner-Handbuch, S. 137– 161; Dieter David Scholz: Richard Wagners Antisemitismus, Würzburg 1993; Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, S. 14–138; Borchmeyer u. a. (Hrsg.): Richard Wagner und die Juden; Heer (Hrsg.): Richard Wagner und Wien; Münkler, Marx, Wagner, Nietzsche, S. 453 ff.- Im Folgenden halte ich mich, wie auch sonst, ausschließlich an das theoretische Schrifttum und klammere die Frage nach einer Präsenz antisemitischer Motive in den Musikdramen aus. Daß die Werke über jeden Verdacht des Antisemitismus erhaben seien, hat Richard Klein zu Recht bestritten, jedoch zugleich die „Mehrdeutigkeit dessen“ betont, „was sich bei Wagner antisemitisch konnotieren lässt.“ (Der negative Körper und die Rückseite des Spiegels, S. 55). Auf welch unsicherem Boden sich viele Deutungen bewegen, die überall Judenbilder oder -karikaturen zu erkennen meinen, zeigt der Überblick von Udo Bermbach: Wieviel Antisemitismus ist in Wagners Musikdramen? Anmerkungen zu einer nicht abschließbaren Diskussion, in: ders., ‚Blühendes Leid‘, S. 313–349, 328 ff. 186 Vgl. Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, S. 33 ff.

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Meyerbeer, konzipiert war.187 In ihr entwarf Wagner ein Bild ‚des‘ Juden als einer Figur, die sowohl dem deutschen als auch dem Wesen aller übrigen Völker entgegengesetzt sei. Vom idealen deutschen Wesen sollte sich der Jude durch seinen „Mangel rein menschlichen Ausdrucks“ unterscheiden, der ihn vollständig in der Sphäre der reinen Sinnlichkeit, der Nützlichkeit etc. aufgehen ließ; vom empirischen deutschen Wesen wie auch demjenigen der anderen Nationen durch die Zugehörigkeit zu „einem zersplitterten, bodenlosen Volksstamme, welchem alle Entwicklung aus sich versagt bleiben mußte, wie selbst die eigentümliche (hebräische) Sprache dieses Stammes ihm nur als eine tote erhalten ist“. Angehöriger eines Volkes ohne Volksgeist, ausgeschlossen aus der „großen gleichstrebenden Gemeinsamkeit“ seiner Gastvölker, könne ‚der Jude‘ nur existieren, indem er sich auf äußere Nachahmung, ja Nachäffung seiner Umgebung verlege; dies aber habe er mit einer solchen Energie und Virtuosität getan, daß er es sehr bald zu einer beherrschenden Stellung im öffentlichen Leben und nicht zuletzt in der Kunst gebracht habe.188 Auch die dehumanisierende Metaphorik, die die späteren, von Cosima Wagner festgehaltenen Äußerungen durchzieht, kündigte sich hier bereits an, wenn Wagner anläßlich des Eintritts der Juden in die Musik von der „wimmelnde[n] Viellebigkeit von Würmern“ sprach, die das Fleisch des Leichnams zersetzten.189 Auf dieses Phantasma, das sein Hofbiograph als „Grundlage einer Neuschöpfung im Gebiet der musikalischen Ästhetik“ feierte190, griff Wagner seit den 60er Jahren verstärkt zurück, um sich seine Erfolglosigkeit (was für ihn immer zugleich hieß: das Zurückbleiben des empirischen deutschen Volksgeistes hinter dem idealen) zu erklären. In den Tagebuchaufzeichnungen für Ludwig II. vom September 1865 warf er den deutschen Fürsten vor, sie hätten die Öffentlichkeit den Juden überlassen, die sich ihrer daraufhin wie Parasiten bemächtigt hätten. Die Folge davon sei das Aufkommen der Demokratie, des Parlamentarismus, des Pressewesens und des Kunstbetriebs.191 Vier Jahre später benutzte Wagner die Gelegenheit der Neupublikation des Judentums in der Musik zu einem Rundumschlag, bei dem er sich die antisemitischen Ressentiments der ‚römischen Ultras‘ gegen die vermeintliche Judenherrschaft in der liberalen und fortschrittlichen Presse ausdrücklich zu eigen machte und sich selbst als Opfer einer jüdischen Verfolgung stilisierte.192 Der Blick in die Gegenwart zeige „den vollständigen Sieg des Judentums auf allen Seiten“, die Hoffnung, „den Einfluß der Juden auf unsere Musik“ noch erfolgreich bekämpfen zu können, sei

187 Vgl.

ebd., S. 26. Wagner: Das Judentum in der Musik, in: Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, S. 139–196, 150 ff. 189 Ebd., S. 172. 190 Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 4, S. 307. 191 Vgl. Wagner, Tagebuchaufzeichnungen September 1865, KLRW 4, S. 19 f., 28. 192 Wagner, Das Judentum in der Musik, S. 181 ff. 188 Richard

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obsolet.193 In privater Runde pflegte er sich weiter zu erregen und jede Zurückhaltung fallen zu lassen. Als 1878 auf dem Berliner Kongreß die Emanzipation der Juden in Rumänien statuiert wurde, war dies für ihn Anlaß zu äußerster Entrüstung.194 Ein Jahr später sprach er von den Juden als „Ratten und Mäuse[n]“, im November verglich er sie mit Trichinen, im Februar 1882 mit einem Schwarm Fliegen, der sich auf eine Wunde gestürzt habe.195 Die Judenhetze in Rußland erschien ihm folgerichtig als „Äußerung der Volkskraft“ und ein Beweis dafür, daß die Russen sich noch als Christen fühlten.196 Als 1881 in Wien das Theater abbrannte und zahlreiche Tote zu beklagen waren, registrierte der Verkünder der Schopenhauerschen Mitleidsethik mit unverhohlener Befriedigung die hohe Zahl der jüdischen Opfer und wünschte sich, immerhin „im heftigen Scherz“, die Verbrennung aller Juden in einer Aufführung von Lessings Nathan.197 Gleichwohl: wenn Wagner am Ende der zweiten Fassung seiner Schrift über das Judentum in der Musik die Frage aufwarf, ob „der Verfall unsrer Kultur durch eine gewaltsame Auswerfung des zersetzenden fremden Elements aufgehalten werden könne“, dann fiel die Antwort weniger eindeutig aus, als dies oft dargestellt wird.198 Die Einschränkung „vermag ich nicht zu beurteilen“ ist zweifellos nicht das, was ein Menschenrechtsaktivist sich wünschen mag, macht die genannte Frage aber noch nicht zu einer rhetorischen. Zudem sollte die gleich darauf folgende Erwägung nicht unterschlagen werden, ob und wie „dieses Element uns in der Weise assimiliert werden“ könne, „daß es mit uns gemeinschaftlich der höheren Ausbildung unsrer edleren menschlichen Anlagen zureife“. Auch wenn diese Perspektive im privaten Kreis wiederum relativiert, ja abgelehnt wurde199:

193 Ebd.,

S. 193. CWT 2, S. 132, 136 (Einträge vom 6.7. und 12.7.1878). 195 CWT 2, S. 293, 454, 888 (Einträge vom 19.1. und 30.11.1879, 9.2.1882). In Ausfällen dieser Art findet Herfried Münklers Befund, „dass Wagner zu den bösartigsten Antisemiten in Deutschland zu rechnen ist“, seine volle Bestätigung (Marx, Wagner, Nietzsche, S. 476). 196 CWT 2, S. 780 (Eintrag vom 14.8.1881). 197 Vgl. Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 6, S. 551; CWT 2, S. 852 (Eintrag vom 18.12.1881). 198  Jens Malte Fischer sieht darin „die entscheidende Verschlimmerung gegenüber der Erstfassung“ (Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, S. 108), da Wagner es an einer wie immer gearteten Distanzierung oder Kritik an dieser eventuellen ‚gewaltsamen Auswerfung‘ habe fehlen lassen. 199 Die „Amalgamierung“, also die Emanzipation, sei „etwas Unmögliches“, die zunehmenden Mischehen eine Bedrohung: „das deutsche blonde (!) Blut sei nicht kräftig genug, um dieser ‚Lauge‘ zu widerstehen, wir sehen ja, wie die Normannen und Franken zu Franzosen geworden seien, und das jüdische Blut sei noch viel korrosiver als das romanische. Er, R., habe nur noch eine Hoffnung, daß ‚die Kerle‘ so übermütig würden, daß sie keine Mesalliance mehr mit uns eingingen, womöglich auch die deutsche Sprache aufgäben, wir würden dann hebräisch lernen, um gut fortkommen zu können, blieben aber Deutsche“: CWT 1, S. 525, 667 (Einträge vom 25.5.1872 und 7.4.1873). 194 Vgl.

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ein entschieden eliminatorischer Antisemitismus liest sich anders, wie etwa bei Dühring oder Theodor Fritsch zu studieren ist.200 Das Schwanken zwischen heftigen antisemitischen Ressentiments auf privater Ebene und einer öffentlichen, wie immer motivierten Zurückhaltung hinsichtlich der daraus abzuleitenden Forderungen kennzeichnet auch Wagners Haltung gegenüber der in den späten 70er und frühen 80er Jahren aufkommenden antisemitischen Bewegung. Er studierte mit Interesse die einschlägige Pamphletliteratur vom Talmudjuden über Wilhelm Marr, Ottomar Beta, Otto Glagau und Eugen Dühring bis hin zum akademischen Antisemitismus Eduard von Hartmanns und Paul de Lagardes und machte allenfalls gegen Niveau und Stil einige Einwendungen201, las ebenso aufmerksam die antisemitische Presse von der Deutschen Reichspost über die Deutsche Wacht, die Deutsche Reform und den Kulturkämpfer bis zu Schmeitzners Internationaler Monatsschrift und verfolgte mit Sympathie die Bestrebungen Adolf Stoeckers und seiner ChristlichSozialen.202 Nicht alles war dabei nach seinem Geschmack. Den Avancen Marrs entzog er sich ebenso wie dem Ansinnen Bernhard Försters, die Antisemitenpetition zu unterschreiben.203 Ausschlaggebend hierfür war vor allem seine Kritik an der politischen Ausrichtung, namentlich an der zu engen Anlehnung an Bismarck.204 Auch die Bereitschaft einiger seiner Anhänger wie Ludwig Schemann oder Bernhard Förster, ihre antisemitischen Ziele im Bündnis mit den Konservativen (und damit: mit dem Adel) durchzusetzen, dürfte ihn gestört haben, wie sein Degoût gegenüber der „degenerirende[n] Vermischung des heldenhaften Blutes edelster Racen mit dem, zu handelskundigen Geschäftsführern unserer Gesellschaft erzogener, ehemaliger Menschenfresser“ bezeugt – eine wie immer auch verklausulierte Kritik an den Heiratspraktiken des Adels, der nach der positiven Seite die Idee entsprach, gerade „den niedrigsten Racen [dürfte]

200  Vgl. nur Eugen Dühring: Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit für Existenz, Sitte und Cultur der Völker. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort, Karlsruhe 18863. Der dort gebotene Forderungskatalog reicht von der Aufhebung des Gleichheitsprinzips gegenüber den Juden über ‚äußerliche Einschränkung, Einpferchung und Abschließung‘, Berufsverbote und Niederlassungsbeschränkungen bis hin zur Deportation, die allerdings nur im Falle eines kollektiven Landesverrats vorzunehmen sei (S. 113, 151 u.ö.). Und wenn dann die Juden als „ein inneres Carthago“ (S. 159) dargestellt wurden, wußte jeder mit mäßiger Schulbildung, welches Schicksal ihnen zugedacht war. 201 Die entsprechenden Einträge in Cosima Wagners Tagebüchern sind leicht über das Personenregister zu erschließen. 202 Vgl. CWT 2, S. 50, 428, 674, 687, 1105 f., 424 (Einträge vom 25.2.1878; 22.10.1879; 24.1.1881; 10.2.1881; 3.2.1883; 11.10.1879); Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 6, S. 266. 203 Vgl. Veltzke, Vom Patron zum Paladin, S. 241 ff. 204 Vgl. CWT 2, S. 564, 672, 694 (Einträge vom 6.7.1880; 22.1.1881; 17.2.1881); Hein, Richard Wagners Kunstprogramm, S. 262. Ein weiteres Motiv mag taktischer Natur gewesen sein: die Sicherung von Aufführungsmöglichkeiten für den „als eine Art von Nationalunternehmung“ gedachten Ring in den europäischen Hauptstädten: Richard Wagner an Franz Schott, Brief vom 13.4.1871, SB 23, S. 78. Vgl. Drüner, Richard Wagner, S. 655.

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

der Genuß des Blutes Jesu, wie er in dem einzigen ächten Sakramente der christlichen Religion symbolisch vor sich geht, zu göttlichster Reinigung gedeihen.“205 Auffassungen wie diese mögen erklären, wie er einerseits behaupten konnte, der gegenwärtigen antisemitischen Bewegung ‚vollständig fern‘ zu stehen, während er an ihr andererseits „das späte Wiedererwachen eines Instinktes“ würdigte, „der in uns gänzlich erloschen zu sein schien“.206 Wagners Antisemitismus war ambivalent, kontext- und stimmungsabhängig und daher nicht auf einen eindeutigen ‚Erlösungs-‘ oder gar ‚Vernichtungsantisemitismus‘ zu reduzieren, demzufolge das deutsche Wesen nur in dem Maße verwirklicht werden könne, wie das jüdische ausgelöscht werde. Im Unterschied zu den Vertretern eines paranoiden Antisemitismus wie etwa Wilhelm Marr sah Wagner im Judentum keineswegs den Urheber all dessen, was er an der Moderne ablehnte. Wagner attackierte das Judentum als „das üble Gewissen unserer modernen Zivilisation“207, nahm es also als eine Instanz, die eine Defizienz ausdrückte, diese aber nicht selbst verursacht hatte. Er hob vor allem die Fremdartigkeit, Zurückgebliebenheit und Geschichtslosigkeit hervor, die er am jüdischen Wesen zu entdecken vermeinte, und stellte dies alles expressis verbis in Gegensatz zur modernen Zivilisation. In einer Umdeutung der von ihm Anfang der 80er Jahre rezipierten Lehre Gobineaus (auf die noch zurückzukommen sein wird), nahm er die Juden ausdrücklich von der postulierten Dynamik des Rassenverfalls aus und attestierte ihnen, sich durch alle Rassenmischung hindurch unverändert zu erhalten.208 Dank dieser Eigenschaft seien sie lediglich Nutznießer des qua Mischung bewirkten Rassenverfalls und des damit in Zusammenhang stehenden Niedergangs von Kultur und Kunst. Wenn sie aber solchermaßen weder für das Geld noch für die Wissenschaft, noch für die Mode als die treibenden Kräfte dieses Niedergangs verantwortlich seien, allenfalls aus diesen Erscheinungen (wie andere auch, nur geschickter und erfolgreicher) ihren Profit zögen, wenn sie, wie Wagner brieflich noch einmal hervorhob, „sich erst in unsre Kunst mischen konnten, als sie organisch lebensunfähig geworden war“ – was etwas ganz andres sei als die ihm unterstellte Behauptung, „unsre Kunst sei in Verfall gerathen, weil die Juden sich in sie gemischt hätten“209 –, dann besteht kein Grund für die Annahme, nur durch ihre Vernichtung ließe sich Erlösung gewinnen. Öffentlich hat sich Wagner ‚nur‘ gegen die „an die Juden ertheilte Vollberechtigung, sich in jeder erdenklichen Beziehung als Deutsche anzusehen“ ausgesprochen und die „Frivolität unserer Staats-Autoritäten“ kritisiert, „die eine

205 Richard

Wagner: Heldenthum und Christenthum [1881], GSD 10, S. 275–285, 284, 283. an Angelo Neumann Anfang 1881, zit. n. Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 6, S. 441; Wagner, „Erkenne dich selbst“, GSD 10, S. 264. 207 Wagner, Das Judentum in der Musik, S. 173. 208  Vgl. Wagner, „Erkenne dich selbst“, GSD 10, S. 271; Voigt, Richard Wagners autoritäre Inszenierungen, S. 154 f. 209 Richard Wagner an Eduard Bernsdorf, Brief von Ende Oktober 1850, SB 3, S. 462 f. Die zitierte Passage ist im Druck kursiv wiedergegeben, das „weil“ gesperrt. 206 Brief

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so ungeheure, unabsehbar folgenschwere Umgestaltung unseres Volkswesens, ohne nur einige Besinnung von dem, was sie thaten, dekretiren konnten“.210 Das ging gewiß über den gemäßigten Antisemitismus à la Stoecker oder Treitschke hinaus und deckte sich mit dem radikalantisemitischen Programm211, unterschied sich von diesem allerdings insofern, als Wagner zwar eine staatsrechtliche Gleichstellung der Juden, nicht aber „eine größere moralische Gleichheit“ ausschloß212, schien ihm doch „die Einheit der menschlichen Gattung“ in all ihren Teilen evident zu sein.213 Ihr näher zu kommen bedurfte es allerdings einer ‚großen Lösung‘, einer grundlegenden Umgestaltung jener „ganzen, weit umfassenden Staats- und National-Ökonomie“, die dem Judentum so günstig wie dem deutschen Geiste ungünstig sei.214 Aus den Aufzeichnungen Cosimas ist zu erkennen, daß er damit nicht weniger meinte als den gesamten frühsozialistischen Forderungskatalog, von dem er sich in den 50er Jahren verabschiedet hatte: die „Wiedereinrichtung der Gleichheit der Güter“; die „Abolition des Grundbesitzes“ und des Bank- und Aktienkapitals; die Abschaffung des Geldes oder doch wenigstens die Herausnahme ‚gewisser Dinge‘ aus der Waren- und Geldwirtschaft.215 Und wenn er Heinrich von Stein, der auf eine gütliche Lösung der „sozialistischen Fragen“ hoffte, entgegenhielt, „es könne nur konvulsivisch hergehen“216, dann deutete das ebenfalls auf einen Abstand zu den Radikalantisemiten, deren Mainstream mit Revolution und Sozialismus nichts zu tun haben wollte.

4 Degeneration und Regeneration Daß Wagners Antisemitismus durchaus eigener Art war und sich nicht ohne weiteres mit dem zur Deckung bringen ließ, was manche seiner Anhänger forderten, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß sich sein Glaube an eine „Entartung des menschlichen Geschlechtes“217 aus einer Reihe von Deutungen

210 Wagner, „Erkenne dich selbst“, GSD 10, S. 265. Vgl. in diesem Sinn auch seinen Wutausbruch gegenüber dem Marchese San Giuliano, als dieser bei einem Besuch die Ansicht vertrat, es sei ein Vorteil für Italien, sich die Juden amalgamiert zu haben: vgl. Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 6, S. 584. 211  Vgl. CWT 2, S. 247, 240, 236 f. (Einträge vom 1.12.1878; 25.11.1878; 22.11.1878). Zur Unterscheidung zwischen gemäßigtem Antisemitismus und Radikalantisemitismus vgl. Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur ‚Judenfrage‘ der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1987, S. 114. 212 CWT 2, S. 627 (Eintrag vom 29.11.1880); vgl. ebd., S. 700 (Eintrag vom 24.2.1881). 213 Wagner, Heldenthum und Christenthum, GSD 10, S. 277. 214 Wagner, „Erkenne dich selbst“, GSD 10, S. 274. 215 CWT 2, S. 394, 483, 607 (Einträge vom 7.8.1879; 22.1.1880; 29.9.1880). 216 Ebd., S. 429 (Eintrag vom 23.10.1879). 217 Wagner, Religion und Kunst, DS 10, S. 144.

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speiste, die dafür auch andere Erklärungen parat hatten. Prozesse, die in diese Richtung wirkten, machte Wagner etwa in der Geschichte der christlichen Religion aus, deren „Verderb“ wohl auch durch die „Herbeiziehung des Judentums zur Ausbildung ihrer Dogmen“ erklärbar sei, jedoch in keineswegs geringerem Maße durch ihre Umwandlung in „eine Staats-Religion für römische Kaiser und KetzerHenker“.218 In einem Brief an Wolzogen, in dem er die Streichung verschiedener Passagen in einem für die Bayreuther Blätter bestimmten Aufsatz Bernhard Försters verlangte, relativierte er dessen Tendenz zur monokausalen Zuspitzung in antisemitischem Sinne, indem er von einer „alexandrinisch-judaisch-römischdespotischen Verunstaltung“ sprach, von der das Christentum zu reinigen sei219, faßte also die Ursachenkette deutlich breiter. An anderer Stelle fügte er seiner Ablehnung dessen, was mit Max Weber als Veralltäglichung des Charisma zu fassen wäre, eine Attacke auf die überwiegend kriegerische Ausrichtung hinzu, welche für die historischen Zivilisationen und die für sie typische wissenschaftlich-technische Apparatur charakteristisch sei.220 Es müsse Bedenken erwecken, „daß die fortschreitende Kriegskunst immer mehr, von den Triebfedern moralischer Kräfte ab, sich auf die Ausbildung mechanischer Kräfte hinwendet! Hier werden die rohesten Kräfte der niederen Naturgewalten in ein künstliches Spiel gesetzt, in welches, trotz aller Mathematik und Arithmetik, der blinde Wille, in seiner Weise einmal mit elementarischer Macht losbrechend, sich einmischen könnte. Bereits bieten uns die gepanzerten Monitors, gegen welche sich das stolze herrliche Segelschiff nicht mehr behaupten kann, einen gespenstisch grausenhaften Anblick: stumm ergebene Menschen, die aber gar nicht mehr wie Menschen aussehen, bedienen diese Ungeheuer, und selbst aus der entsetzlichen Heizkammer werden sie nicht mehr desertieren: aber wie in der Natur alles seinen zerstörenden Feind hat, so bildet auch die Kunst im Meere Torpedos und überall sonst Dynamit-Patronen u. dgl. Man sollte glauben, dieses alles, mit Kunst, Wissenschaft, Tapferkeit und Ehrenpunkt, Leben und Habe, könnte einmal durch ein unberechenbares Versehen in die Luft fliegen.“221

Eine weitere Bestätigung seiner Auffassung, derzufolge mehrere äußere Faktoren in Richtung einer allgemeinen ‚Entartung‘ wirkten – dieser seit der einschlägigen Abhandlung Morels breit diskutierten Obsession222 – , fand Wagner in dem Buch Thalysia oder das Heil der Menschheit, das er im Januar 1880 las.223 Die dort

218 Ebd.,

S. 140, 120. Wagner an Hans von Wolzogen, Brief vom 17.1.1880. Zit. n. Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 6, S. 298. 220 Vgl. Wagner, Religion und Kunst, DS 10, S. 142. 221 Ebd., S. 162. Vgl. Wolf-Daniel Hartwich: Religion und Kunst beim späten Richard Wagner, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 40, 1996, S. 297–323, 310 f. 222  Vgl. Benedict Augustin Morel: Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine et des causes qui produisent ces variétés maladives; accompagné d’un atlas de XII planches, Paris 1857. 223 Vgl. CWT 2, S. 472 (Eintrag vom 8.1.1880). Das französische Original war 1840 erschienen, eine deutsche Übersetzung 1872. Vgl. Felix Belussi: Cibus innoxius. Richard Wagner und die Naturphilosophie des Jean-Antoine Gleizès, in: Wagnerspectrum 11, 2015, S. 49–72; Martin 219 Richard

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vom Verfasser, Jean-Antoine Gleizès (1773–1843), aufgestellte Behauptung, mit dem Fleisch essenden Menschen beginne auch der böse Mensch in der Welt224, beeindruckte Wagner so stark, daß er einen ganzen Abschnitt in Religion und Kunst darauf aufbaute.225 Zwar gab es gewisse Schwierigkeiten, den Optimismus von Gleizès, der sich vom Vegetarismus eine Überwindung der Entartung erwartete, mit dem Pessimismus Schopenhauers (und nicht zuletzt mit den eigenen Ernährungsgewohnheiten) zu vereinbaren226, doch ließ sich Wagner dadurch in seiner Begeisterung nicht beirren. Sein Ausweg bestand in der Annahme, daß die Natur wohl unverständig, jedoch nicht auf absolute Zerstörung ausgerichtet sei, weshalb durch eine Änderung der Eßgewohnheiten vieles zum Besseren hin bewirkt werden könne.227 Religion und Kunst ließ sich ausführlich über die Chancen einer solchen Regeneration aus, die Wagner sich von den „Vereine[n] der sogenannten Vegetarianer“ wie auch von denjenigen zum Schutze der Tiere erhoffte – Assoziationen, die insbesondere dann eine „nicht zu unterschätzende Macht“ bilden könnten, wenn sie sich mit den „sogenannten MäßigkeitsVereine[n]“ und vor allem den „großen Arbeiter-Vereinigungen“ verbänden.228 Anregung und Bestätigung bezog Wagner schließlich auch aus den Schriften seines Altersgenossen Arthur Graf Gobineau (1816–1882), den er von zwei Begegnungen in Rom und in Venedig her kannte.229 Befaßte er sich zunächst nur mit dessen literarischen Arbeiten, den Nouvelles Asiatiques (1876), welche er sehr rühmte, dem nur erst im Manuskript vorliegenden Amadis und vor allem der Renaissance (1876), die ihn in seiner nachgerade phobischen Ablehnung dieser Kunstepoche bestärkte230, so begann er im März des folgenden Jahres mit der Lektüre des umfangreichen Hauptwerkes, dem 1853–1855 erschienenen Essai sur

Thurner: Die Erlösung des Tieres. Richard Wagners ‚vegetarischer‘ Christus – und sein Preis, in: Münchener theologische Zeitschrift 70, 2019, S. 366–395. 224 Vgl.

CWT 2, S. 484 (Eintrag vom 26.1.1880). Wagner, Religion und Kunst, DS 10, S. 146 ff. 226 Vgl. CWT 2, S. 510 (Eintrag vom 23.3.1881): „Mit den Vegetarianern aber möchte er nichts zu tun haben“, „denn die hätten immer das Nützlichkeits-Prinzip vor sich.“ 227 Vgl. CWT 2, S. 501 (Eintrag vom 10.3.1881). 228 Wagner, Religion und Kunst, DS 10, S. 147 ff. 229  Vgl. CWT 1, S. 1017 (Einträge vom 29.11.-3.12.1876); CWT 2, S. 613 (Eintrag vom 22.10.1880); Eugène, Wagner et Gobineau, S. 53 ff.; Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 349 ff.; Wagner und Gobineau, in: Wagnerspectrum 9, 2013, H. 1, S. 243–258. 230  Vgl. CWT 2, S. 620, 641, 649 ff. (Einträge vom 13.11., 18.12., 29.12.1880). Zum Affekt gegen die Renaissance als einer Epoche, welche „der germanischen Entwicklung ungeheuer geschadet“ habe, vgl. CWT 1, S. 506 (Eintrag vom 2.4.1872). „Die ganze Renaissance mitsamt der Malerei“, hieß es acht Jahre später, „erkläre ich für eine Barbarei trotz der großen Genies, die darin waren“: CWT 2, S. 491 (Eintrag vom 17.2.1880). Entsprechend scharf fiel seine Ablehnung des „Renaissance-Mann Burckhardt“ aus, und selbst Goethe mußte sich den Vorwurf gefallen lassen, sich mit ‚Iphigenie‘ und ‚Tasso‘ dieser Kultur genähert zu haben: CWT 2, S. 837, 865 (Einträge vom 1.12.1881 und 3.1.1882). Bei Glasenapp ist die Bemerkung festgehalten, Garibaldi hätte Rom bombardieren sollen: Das Leben Richard Wagners, Bd. 6, S. 309. 225 Vgl.

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l’inégalité des races humaines231, das er bis Ende Mai vollständig las, angeregt nicht zuletzt durch die Gegenwart des Autors, der sich im Mai/Juni 1881 sowie im Frühsommer Zeit 1882 für jeweils vier Wochen in Bayreuth aufhielt.232 Noch im Jahr des ersten Besuchs erschien Heldenthum und Christenthum, das der Kernthese des Essai eine ‚erschreckende Überzeugungskraft‘ bescheinigte: „Wir können uns der Anerkennung der Richtigkeit dessen nicht verschließen, daß das menschliche Geschlecht aus unausgleichbar ungleichen Racen besteht, und daß die edelste derselben die unedleren wohl beherrschen, durch Vermischung sie aber sich nicht gleich, sondern sich selbst nur unedler machen konnte“.233 Im Briefwechsel mit seinem König pries Wagner den Ring des Nibelungen als „das der arischen Race eigentümlichste Kunstwerk“ und bezeichnete Gobineau gegenüber Cosima als seinen einzigen „Contemporain“, als einzigen Autor, den er neben Schopenhauer (und sich selbst) noch lese.234 In Heldenthum und Christenthum habe er Gobineaus Ansichten „vollständig mit hinübergenommen“ und sie lediglich dahingehend erweitert, daß er ihnen etwas Tröstliches zugeführt habe.235 Seine Übereinstimmung dokumentierte er durch ein Vorwort zu Gobineaus Essay über die aktuelle Weltlage, der 1881 in den Bayreuther Blättern abgedruckt wurde.236 Im folgenden Jahr verteidigte er dessen Werk gegen eine Kritik Malwidas von Meysenbug und konstatierte, er sei „immer gobinistischer gesinnt.“237 Die Bayreuther Blätter begannen mit dem Druck einer mehrteilige Serie von Gobineau über das persische Theater sowie einer ebenfalls mehrteiligen Zusammenfassung des Essai durch Hans von Wolzogen238, die allerdings im letzten Heft durch einen nur mit „Wahnfried“ gezeichneten Nachruf unterbrochen werden mußte, den wohl Cosima Wagner verfaßt und mit ihrem Mann abgestimmt hat.239 Drei Jahre, nachdem auch Wagner gestorben war, brachten die Bayreuther Blätter eine weitere

231 Näher zu diesem Werk und seinem Kontext: E. J. Young, Gobineau und der Rassismus. Eine Kritik der anthropologischen Geschichtstheorie, Meisenheim a.G. 1968. 232 Vgl. CWT 2, S. 737 ff., 943 ff. In dieser Zeit las Wagner auch noch Gobineaus Les Religions et les philosophies dans l’Asie centrale (1865), die Histoire d’Ottar Jarl, pirate norvégien (1879) und die Histoire des Perses (1869): vgl. CWT 2, S. 744 ff., 942 f., 1044 ff. 233 Wagner, Heldenthum und Christenthum, S. 275. 234 Richard Wagner an König Ludwig II., Brief vom 17.5.1881, KLRW 3, S. 208; CWT 2, S. 751, 944 (Einträge vom 20.6.1881; 21.5.1882). 235 CWT 2, S. 789 (Eintrag vom 1.9.1881). 236 Vgl. Ein Urtheil über die jetzige Weltlage. Als ethnologisches Resumé vom Grafen Gobineau. Eingeführt durch Richard Wagner, in: BBl 4, 1881, S. 121–140. 237 CWT 2, S. 923 (Eintrag vom 3.4.1882). 238  Vgl. Das Persische Theater. Vom Grafen Gobineau, in: BBl 5, 1882, Jan.-Juli; Hans von Wolzogen: Die Ungleichheit der menschlichen Racen. Nach des Grafen Gobineau Hauptwerke, in: BBl 5, Sept. 1882 – BBl 6, Jan.-März 1883; [o.V.]: Graf Arthur Gobineau. Ein Erinnerungsbild aus Wahnfried, in: BBl 5, 1882, Nov.-Dez., S. 341–352. 239 Vgl. CWT 2, S. 1039 (Eintrag vom 5.11.1882). Anders dagegen Hans von Wolzogen: Aus deutscher Welt. Gesammelte Aufsätze über deutsche Art und Kultur, Berlin 1905, S. 99, der die Verfasserschaft Richard Wagner zuschreibt.

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Erinnerung an Gobineau aus der Feder von Philipp von Hertefeld sowie in den 90er Jahren eine wiederum mehrteilige Übersetzung von Auszügen aus dem Buch über die Renaissance. Ab 1894 erschienen dort auch die Berichte der im gleichen Jahr mit starker Unterstützung der Wagner-Vereine gegründeten GobineauGesellschaft.240 Die Gobineau-Rezeption hat Wagners Neigung verstärkt, Geschichte im Lichte der Rassenanthropologie zu deuten. Sie stützte seinen Glauben an den Unterschied zwischen welthistorischen Völkern und geschichtslosen Barbaren sowie den Beruf der ersteren zu weitausgreifender Kolonisation.241 Für seinen Antisemitismus war sie dagegen nicht verantwortlich, denn erstens war dieser deutlich älteren Datums, und zweitens war der Essai, um nur von diesem zu reden, nicht antisemitisch. Gobineau schilderte die Juden darin „als Krieger, als Ackerbauer, als Kaufleute“, die mit großer Erfindungskraft die Landwirtschaft betrieben und lange Jahrhunderte des Wohlstandes und Ruhmes durchlebten, geleitet von einer „eigentümlich verwickelten Regierungsform, bei der Monarchie und Theokratie, die patriarchalische Macht der Familienhäupter und die demokratische Volksgewalt, vertreten durch die Volksversammlungen und die Propheten, sich auf eine höchst wunderliche Weise das Gleichgewicht hielten“, insgesamt „ein Volk, geschickt in Allem, was es unternahm, ein freies, ein starkes, ein kluges Volk, das, ehe es tapfer, die Waffen in der Hand, den Ehrennahmen einer unabhängigen Nation verlor, der Welt fast ebenso viele weise Meister als Kaufleute geliefert hatte.“242 Cosima Wagner, die sonst akribisch über die zwischen ihrem Mann und Gobineau geführten Gespräche berichtete, ging auf die daraus sich ergebenden Differenzen kaum ein. An einer Stelle aber kamen sie doch zur Sprache, als sie von der „Verteidigung der Inkarnation des assyrisch-semitischen Wesens“ durch Gobineau berichtete und Wagners Widerspruch notierte.243 Auch die Ansichten über das Christentum gingen auseinander, vermochte Wagner doch im Unterschied zu seinem Gesprächspartner keinen Vorwurf darin zu sehen, daß es für die Armen eingetreten sei.244 Gobineau unterschätze die Bedeutung des Christentums, lasse außer acht, „was einmal der Menschheit gegeben wurde, einen Heiland, der für sie litt und sich kreuzigen ließ!“245 Wenn er andererseits in der katholischen Kirche „die einzige, eine lebendige Kraft des ordnenden Bestehens vorstellende Macht“ inmitten einer allgemeinen Verwüstung erblicke, so sei demgegenüber an „die wahre Herkunft dieser Kirche […] aus dem Schoße der ungemein mannigfaltigen

240 Vgl. Hildegard Châtellier: Wagnerismus in der Kaiserzeit, in: Puschner u. a. (Hrsg.), Handbuch zur ‚Völkischen Bewegung‘, S. 575–612, 585 ff.; Julian Köck: Ludwig Schemann und die Gobineau-Vereinigung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59, 2011, S. 723–740. 241 Vgl. CWT 2, S. 409, 481 (Einträge vom 13.9.1879 und 18.1.1880). 242 Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen. Vom Grafen Gobineau. Deutsche Ausgabe von Ludwig Schemann, 4 Bde., Bd. 1, Stuttgart 19022, S. 76 f. 243 Vgl. CWT 2, S. 957 (Eintrag vom 9.6.1882). 244 Vgl. CWT 2, S. 739 (Eintrag vom 18.5.1881); [o.V.]: Graf Arthur Gobineau, S. 347. 245 CWT 2, S. 936 (Eintrag vom 23.4.1882).

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Rassenvermischung unter semitischem Einfluß“ zu erinnern, der „in der sog. ‚lateinischen‘ Rasse durch alle ihr widerfahrenen neuen Vermischungen einen letzten Niederschlag“ gefunden habe.246 Der Protestantismus dagegen sei immerhin „der letzte Ausdruck des germanischen Bewußtseins gewesen“, und wenn ihm etwas vorzuwerfen sei, dann, daß er zu wenig Anhänger zu gewinnen vermocht habe.247 Gobineau, hieß es wiederholt, „habe großen Scharfsinn, keinen eigentlichen Tiefsinn.“248 Überdies überschätze er die Auswirkungen der Rassenmischung, sei doch das Eigentum der „Grund alles Verderbens“, denn es bedinge „die Ehen in Rücksicht darauf und dadurch die Degeneration der Race. Das hat mir gefallen von Heinse in seinen ‚Seligen Inseln‘, daß er sagt: Sie hatten kein Eigentum, um den vielen Übelständen vorzubeugen, die damit verbunden sind.“249 Die größte Abweichung aber bestand darin, daß Wagner in diametralem Gegensatz zu Gobineau das kulturelle Potential der Menschheit nicht mit fortschreitender Rassenmischung verschwinden sah. Statt dessen behauptete er eine Befähigung der Gattung zur Mutation. Die historische Gestalt Christi, die Gobineau ihm zugunsten des ‚Racengedankens‘ unterschätzt zu haben schien250, stand ihm als Beleg für die, wie er selbst einräumte, äußerst gewagte Spekulation, die von der Rassenmischung bedrohte Lebenskraft der Gattung habe sich im Augenblick der höchsten Gefährdung noch einmal verdichtet und einen qualitativen Sprung bewirkt – dergestalt, daß ein Paar ein höher organisiertes Individuum erzeugt habe: den Erlöser bzw. den Gottmenschen, der zum Ausgangspunkt einer Regeneration, einer Achsendrehung der Verfallsgeschichte werden könne.251 Was dies genau bedeutet, ist weniger klar, als was es nicht bedeutet: Wagner folgte nicht dem Gobineauschen Entropie-Modell, demzufolge das edle Blut eine von der Natur gegebene, durch die Geschichte fortschreitend verknappte und verdünnte Ressource war.252 Statt dessen faßte er es als eine, wenn nicht jederzeit, so doch unter Extrembedingungen sich selbst erneuernde Energie. Er schrieb diese wohl speziell der „weißen Race“ zu, aber nicht ausschließlich, sondern nur „in besonderem Grade“, und auch nicht in toto, sondern letztlich nur einem einzigen, herausragenden Exemplar, dem Heiland als dem „Inbegriff des bewußt wollenden Leidens selbst […], das als göttliches Mitleiden durch die ganze menschliche

246 [o.V.]:

Graf Arthur Gobineau, S. 346; Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 6, S. 525; dort auch weiteres über die religionspolitischen Differenzen zwischen Gobineau und Wagner, S. 525, 596 ff. 247 CWT 2, S. 957 (Eintrag vom 10.6.1882). 248 CWT 2, S. 944, 1109 f. (Einträge vom 21.5.1882 und 9.2.1883). 249 CWT 2, S. 1107 (Eintrag vom 5.2.1883). 250 Vgl. CWT 2, S. 744 (Eintrag vom 3.6.1881). 251 Vgl. Wagner, Heldenthum und Christenthum, GSD 10, S. 282. 252 Vgl. Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur, S. 129 ff.

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Gattung, als Urquell derselben, sich ergießt.“253 Da der Erlöser sich bekanntlich nicht fortgepflanzt hat, hat man es auch nicht mit den Anfängen einer ‚HeldenRasse‘ zu tun.254 Die ganze Konzeption lief im Prinzip darauf hinaus, die Rassenlehre Gobineaus an den entscheidenden Punkten auszuhebeln: hinsichtlich des unterstellten Zusammenhangs zwischen physiologischen und seelisch-geistigen Momenten und hinsichtlich der perhorreszierten Rassenmischung.255 Das Blut des Erlösers sollte eine mythische Größe sein, die das Raum-Zeit-Gefüge, das Kontinuum der Geschichte, durchbricht; und die Rassenmischung Bedingung der Möglichkeit der Regeneration einer nicht mehr in Rassen gegliederten Menschheit. Während Gobineau der Gattung jegliche Einheit und Vervollkommnungsfähigkeit absprach, hielt Wagner es dagegen für denkbar, daß durch die „Vermischung sich ähnlich gewordener Racen“ die bestehende, auf die Beherrschung der „niederen Racen“ durch die „edelste[n]“, sprich: die weiße Rasse gegründete „schlechthin unmoralische Weltordnung“ überwunden und zunächst einer „allgemeinen moralischen Übereinstimmung“ entgegengeführt werde, „wie das wahrhaftige Christenthum sie auszubilden uns berufen dünken muß“; auf deren Grundlage, sei zu hoffen, könne dann irgendwann einmal „eine wahrhaftige ästhetische Kunstblüthe einzig gedeihen“256 – eine bemerkenswerte Umkehrung Schopenhauers, der eher die Ästhetik für die Zwecke der Ethik instrumentalisiert hatte, im übrigen auch den inneren Widerstreit des Willens mit sich selbst für unaufhebbar hielt.257 Auch die nationalistischen und chauvinistischen Züge wurden durch diese Konzeption, wenn schon nicht aufgehoben, so doch relativiert. Gewiß war

253  Wagner,

Heldenthum und Christenthum, GSD 10, S. 280 f. Mit der Zuordnung zum Blut der „weißen Race“ wird allerdings die jüdische Herkunft Christi bestritten und dem Ideologem vom ‚arischen Christus‘ zugearbeitet, das in der völkischen Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg Verbreitung gefunden hat: vgl. Wagner, Religion und Kunst, DS 10, S. 140; Publikum und Popularität, GSD 10, S. 86 f.; Martin Leutzsch: Karrieren des arischen Jesus zwischen 1918 und 1945, in: Puschner und Vollnhals (Hrsg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus, S. 195–217. 254 Das ist besonders den nachstehenden Deutungen entgegenzuhalten: Doris Mendlewitsch: Volk und Heil. Vordenker des Nationalsozialismus im 19. Jahrhundert, Rheda-Wiedenbrück 1988, S. 59 ff.; Paul Lawrence Rose: Richard Wagner und der Antisemitismus, Zürich und München 1999, S. 209 ff.; Hartmut Zelinsky: Verfall, Vernichtung, Weltentrückung. Richard Wagners antisemitische Werk-Idee als Kunstreligion und Zivilisationskritik und ihre Verbreitung bis 1933, in: Friedländer und Rüsen (Hrsg.), Richard Wagner im Dritten Reich, S. 309–341. 255 So zu Recht Eugène, Wagner et Gobineau, S. 111 ff., der seine These freilich überzieht, wenn er Wagner nachgerade zum Antipoden Gobineaus stilisiert. Von 1880 bis zu seinem Tod 1883 gab es für Wagner keinen wichtigeren Autor als Gobineau. 256 Wagner, Heldenthum und Christenthum, GSD 10, S. 284 f. Vgl. Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 354 f. 257  Vgl. Barbara Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik, Berlin etc. 1996, S. 422 f.; Hartwich, Religion und Kunst beim späten Richard Wagner, S. 314 ff.

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es immer noch Nationalismus, wenn Wagner in der zweiten Ausführung zu Religion und Kunst das „Wiedererwachen eines deutschen Instinktes“ feierte258, und Chauvinismus, wenn er auch weiterhin die Franzosen mit Tiervergleichen bedachte und England den schlechtesten Staat nannte.259 Aber dieser ‚deutsche Instinkt‘ wurde erstens nicht rassen-, sondern sprachtheoretisch begründet und zweitens auch nicht mehr als der alleinige Träger der Hoffnungen auf Regeneration vorgestellt. Neben ihn traten, wie erwähnt, die Bewegungen der Arbeiter, der Vegetarier und Antivivisektionisten, welche letzteren er mit Geld und einem offenen Brief an den Verfasser der Folterkammern der Wissenschaft (1879), Ernst von Weber, unterstützte.260 Sie alle zusammen, hoffte Wagner, könnten eine Art Metanoia des Menschengeschlechtes bewirken. Durch eine von ihnen propagierte und geleitete massenhafte Auswanderung aus den Kernzonen der Zivilisation in die einer naturgemäßen Lebensweise günstigeren tropischen Regionen könne ein neuer Anfang zu einer „freien und gesunden Entwickelung friedfertiger Gemeinde-Zustände“ gemacht werden, in denen die Probleme der bisherigen Geschichte verschwunden sein würden.261 An den Nationalstaat, auf den er noch 1870 so große Hoffnungen gesetzt hatte, glaubte Wagner zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Als Cosima im November 1881 die Bemerkung machte, die Deutschen schienen ihr eigentlich nicht geschaffen, einen Staat zu bilden, stimmte Wagner ihr sofort zu: „Ja, es ist eine assyrisch-semitische Idee; wir Deutschen waren geschaffen, um kleine arbeitsame Gemeinden zu bilden wie die Boers … Aus dem deutschen Reiche müsse man treten, meint R., um nicht zu vielen Kummer daran zu haben“.262 Das war, entgegen einer naheliegenden Deutung, keine Bekräftigung oder Wiederaufnahme der proudhonistischen und bakunistischen Ideen, mit denen Wagner 1849/50 sympathisiert hatte. So sehr der späte Wagner mit seinen Regenerationsideen über den von Schopenhauer gesetzten Rahmen hinausdrängte, so stark blieb doch die von diesem übernommene Skepsis gegenüber der Vorstellung, das Kontinuum des Leidens ein für allemal sprengen zu können. „Zu einem paradiesischen Behagen an sich selbst zu gelangen, kann daher unmöglich

258 Wagner,

„Erkenne dich selbst“, GSD 10, S. 272. CWT, S. 909, 582 (Einträge vom 12.3.1882 und 13.8.1880). 260 Vgl. CWT 2, S. 390 ff. (Eintrag vom 31.7.1879 u.f.); Richard Wagner: Offenes Schreiben an Herrn Ernst von Weber, GSD 10, S. 194–210; Religion und Kunst, DS 10, S. 147 ff. Vgl. Ulrich Tröhler und Joachim Thiery: Richard Wagner als Gegner von Tierversuchen – ein visionärer Zivilisationskritiker, in: Wagnerspectrum 11, 2015, S. 73–104; Udo Bermbach: Richard Wagners Weg zur Lebensreform. Zur Wirkungsgeschichte Bayreuths, Würzburg 2018. Zu den verschiedenen Bewegungen vgl. Dieter Kerbs und Jürgen Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998, S. 35 ff., 127 ff., 141 ff. 261 Wagner, Heldenthum und Christenthum, GSD 10, S. 284; vgl. Religion und Kunst, DS 10, S. 151. 262 CWT 2, S. 823 (Eintrag vom 10.11.1881). 259 Vgl.

4  Degeneration und Regeneration

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die letzte Lösung des Rätsels dieses gewaltsamen Triebes sein, welcher in allen seinen Bildungen als furchtbar und erschreckend unserem Bewußtsein gegenwärtig bleibt“.263 Eben dieses Argument spricht jedoch auch dagegen, Wagners späte Anschauungen einseitig den völkischen Regenerationsprojekten zuzuschlagen, die seit den 80er Jahren rasch an Stärke gewannen. Es ist richtig, daß gerade die Bayreuther Blätter mit diesen Projekten aufs engste verknüpft waren. Unter der Federführung Hans von Wolzogens öffneten sie ihre Seiten für die Brüder Paul und Bernhard Förster, die in persona die Synthese von Tierversuchsgegner, Vegetarier, Antisemit und Kolonisator verkörperten. Sie gaben völkischen Anhängern der Bodenreform wie Ottomar Beta ebenso das Wort wie Ernährungsreformern im Stil Robert Springers.264 Sie alle konnten sich auf Wagner berufen – und konnten es doch wiederum auch nicht, insofern sie sich tiefer auf jene Willenswelt einließen, als Wagner dies, bei allen Versuchen, sich aus dem Sog der Schopenhauerschen Philosophie zu befreien, je akzeptiert hätte.265 Was Wagner veranlaßte, in den verschiedenen Lebensreformbestrebungen einen Hoffnungsschimmer zu sehen, war nicht deren je spezifische Praxis, sondern lediglich der in ihnen wirkende Geist, die „Erkenntnis der tiefen Unsittlichkeit unserer Zivilisation“, die ihm als erste Voraussetzung zur Rettung galt.266 Die Kritik an der ‚Zivilisation‘, die sich in diesen Bewegungen artikulierte, schien ihm auf eine Kraft zu deuten, wie sie „nur aus dem tiefen Boden einer wahrhaften Religion“ erwachsen konnte; wahre Religion aber sei mit wahrer Kunst „vollkommen Eines“, so daß man es mit den Vorboten für einen „bessere[n] Zustand der künftigen Menschheit“ zu tun habe.267 Die spezifische Auslegung, die dieser Gedanke in der Folgezeit durch den „Wagnerismus“ erfuhr, lehrt, daß sich Wagner darin einmal mehr gründlich getäuscht hat.268

263 Wagner,

Religion und Kunst, DS 10, S. 154. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 188 ff.; Hein: ‚Es ist viel Hitler in Wagner‘, S. 171 ff. 265 Auf das Auswanderungsprojekt seines Anhängers Bernhard Förster setzte Wagner denn auch „kein großes Vertrauen“ (CWT 2, S. 1109, Eintrag vom 9.2.1883) – mit Recht, wie das Debakel in Paraguay gezeigt hat. Siehe dazu näher Ben Macintyre: Vergessenes Vaterland. Die Spuren der Elisabeth Nietzsche, Leipzig 1994; Daniela Kraus: Bernhard und Elisabeth Foersters NUEVA GERMANIA in Paraguay. Eine antisemitische Utopie, Diss. Wien 1999; Bermbach, Richard Wagner in Deutschland, S. 295 ff. 266 Wagner, Religion und Kunst, DS 10, S. 149. 267 Ebd., S. 152, 161. 268 Für einen ebenso knappen wie konzisen Überblick vgl. Hildegard Châtellier: Wagnerismus in der Kaiserzeit (wie oben, Anm. 183). In der literatur- und musikwissenschaftlichen Forschung wird der Begriff dagegen meist in einem umfassenderen Sinne auf alles bezogen, was in der einen oder anderen Weise an Wagner anschließt. Vgl. Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de Siècle, Berlin 1973; Der Wagnerismus – Begriff und Phänomen, in: Müller und Wapnewski (Hrsg.), Richard Wagner-Handbuch, S. 609–624; David C. Large und William Weber (Hrsg.): Wagnerism in European Culture and Politics, Ithaca 1984; Annegret Fauser und Manuela Schwartz (Hrsg.): Von Wagner zum Wagnerismus, Leipzig 1999. 264 Vgl.

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

5 Meister und Jünger Im April 1883, nur wenige Wochen nach Wagners Tod in Venedig, beschwor sein Biograph, Carl Friedrich Glasenapp, seinen Gesinnungsgenossen Ludwig Schemann, fortan „als wahre Apostel und Evangelisten eines neuen Bundes und als lebendige Zeugen das von uns Erschaute weiter zu überliefern“.269 Evoziert wurde damit die Apostelgeschichte des Neuen Testaments, zugleich aber auch die Vorstellung, Zeuge einer Hierophanie gewesen zu sein, einer Erscheinung des Göttlichen im Irdischen, in der Person des Menschen Richard Wagner. Durchaus neu war diese Vorstellung nicht. Schon vierzehn Jahre zuvor hatte seine spätere Frau Cosima, damals noch von Bülow (1837–1930), einen ähnlichen Eindruck notiert, als er ihr aus dem zweiten Akt des Tristan vorspielte: „Ob ich jetzt immer empfänglicher oder stets krankhafter empfindsam werde, weiß ich nicht, doch kann ich gewisse mächtige Eindrücke kaum mehr vertragen. Mir graut förmlich vor der Gewalt des Genius´, welche die unergründlichen Geheimnisse des Daseins jählings vor uns aufdeckt, wenn ich auch nichts hoch halte und preise als diese göttlich dämonische Gewalt.“270 Noch einmal acht Jahre früher, bei den Proben zum Pariser Tannhäuser, war Malwida von Meysenbug (1816–1903), die Freundin von Revolutionären wie Alexander Herzen und Giuseppe Mazzini, von dem Eindruck überwältigt worden, „daß hier ein Genius den Schlüssel gefunden habe, der das Reich des schönen bewussten Wahns erschliessen sollte, in dem die sogenannte Wirklichkeit zum Wahnbild und das Ideal zur wahren Wirklichkeit werden würde.“ Die Gewißheit, „wie von etwas Heiligem ergriffen“, „einer unfehlbaren Offenbarung“ teilhaftig geworden zu sein, war so stark, daß sich die ehemalige Junghegelianerin gleich auch noch zu Wagners Hausphilosophen Schopenhauer bekehrte.271 Nicht anders, aber noch einmal früher, war es Hans von Bülow (1830–1894) ergangen.272 Mit Wagner seit 1846 bekannt, hatte er schon 1848 seinem Schöpfer gedankt, daß er ihn in die Lage versetzt habe, „die ganze Heiligkeit und Göttlichkeit der Musik“, die Wagners Werk zur Entfaltung bringe, „zu erfassen und die Sendung des Apostels Wagner zu verstehen.“273 Aus dem Apostel wurde schon bald „die größte künstlerische Erscheinung unseres Jahrhunderts“, die

269 Carl Friedrich Glasenapp an Ludwig Schemann, Brief vom 29.4.1883. Zit. n. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 53. 270 CWT 1, S. 42 f. (Eintrag vom 24.1.1869). 271 Vgl. Malwida von Meysenbug: Memoiren einer Idealistin, Bd. 3, Berlin 19066, S. 253 f., 285, 283 f. Über sie zuletzt Joachim Radkau: Malwida von Meysenbug. Revolutionärin, Dichterin, Freundin. Eine Frau im 19. Jahrhundert, München 2022. 272 Zu Person und Werk vgl. Alan Walker: Hans von Bülow. A Life and Times, Oxford etc. 2010; Kenneth Birkin: Hans von Bülow. A Life for Music, Cambridge 2011. 273 Hans von Bülow an die Mutter, Brief vom 26.8.1848, in: ders., Briefe und Schriften, hrsg. von Marie von Bülow, Bd. 1, Leipzig 18992, S. 123.

5  Meister und Jünger

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„vielleicht noch von hoher welthistorischer Bedeutung“ sein werde. Es sei ihm klar geworden, berichtete er 1851 seiner Schwester, daß er (wenn schon kein Leibeigener) so doch „ein Geisteigner dieses Mannes sein könnte, sein Schüler, sein Apostel zu werden vermöchte, und mit einem solchen Streben, einem solchen Ziele schien mir das Leben lebenswerth“.274 Das schloß Differenzen in künstlerischer wie in politischer Hinsicht nicht aus275, ließ aber bis zur Trennung und Scheidung von seiner zu Wagner übergegangenen Gattin die unbedingte Verehrung unberührt, die er diesem als einem „der wenigen legitimen Erben und Nachfolger des incarnirten Musikgottessohnes Beethoven“ entgegenbrachte.276 Hyperbeln dieser Art waren freilich nicht nur dem so Verehrten zuviel. Sie waren auch gegenüber einer Öffentlichkeit schwer zu vertreten, die aufgrund ihrer traditionellen religiösen Prägung darin nichts anderes sehen konnte als Blasphemie. Schon früh verständigte man sich deshalb im Kreis um Wagner auf den prima facie harmloseren, weil rein professionell klingenden Titel des „Meisters“, lud ihn jedoch mit einer neuen Bedeutung auf. Hatte Wagner ihn für ältere Kollegen wie Louis Spohr oder Meyerbeer reserviert und damit sowohl seinen Respekt zum Ausdruck gebracht als auch dem Sachverhalt Rechnung getragen, daß es wie in jeder Zunft mehrere gab, denen diese Ehre gebührte, so attrahierte die Bezeichnung in seinem näheren Umfeld bald eine Dimension, die dem so Angesprochenen einen singulären Rang verlieh. Schon 1857 nannte

274 Hans

von Bülow an die Schwester, Brief vom 26.1.1851, ebd., S. 298. den künstlerischen Differenzen gehörte etwa die unterschiedliche Einstellung zu Brahms, dessen Geringschätzung durch Wagner sich Bülow nicht zu eigen machte. In politicis brachte Bülow ähnlich wie Liszt für den Bonapartismus ein Maß an Sympathie auf, welches dasjenige Wagners weit übertraf (vgl. z. B. Bülow, Briefe und Schriften, Bd. 4, Leipzig 1898, S. 228 f., 379 ff., 397). Wagner sprach einerseits vom „inneren Despotismus L.N.’s“ und deutete ihn als „Nachfahren von Louis XIV“ (SB 11, S. 131 f.; DS 8, S. 249), hielt ihm aber andererseits als Schwäche vor, was Max Weber später als antiautoritäre Umdeutung des Charisma bezeichnen wird: sein „Zugeständnis des allgemeinen Stimmrechts“ (CWT 1, S. 804, Eintrag vom 23.3.1874). Während des Krieges zwischen Frankreich und Österreich 1859 zollte er wohl der „unglaublichen Zähigkeit, Vorsicht u. Schlauheit“ Napoleons Respekt (SB 11, S. 147), attestierte ihm später sogar rückblickend, zum „Wohltäter seiner Nation“ geworden zu sein (CWT 2, S. 574; Eintrag vom 20.7.1880), hielt es aber in summa doch lieber mit „Schopenhauers Wort: nicht der Welteroberer, sondern der Weltüberwinder ist der Bewunderung werth! Gott soll mir diese ‚gewaltigen‘ Naturen, diese Napoleone etc. vom Halse halten“ (SB 11, S. 297). Auch für Lassalle hatte Bülow deutlich mehr übrig als Wagner. 1863 vertonte er bekanntlich das von Herwegh verfaßte Bundeslied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. Vgl. z. B. Bülow, Briefe und Schriften, Bd. 4, S. 344 ff., 398, 488, 502, 508, 531 f. (ad vocem Lassalle); S. 346, 629 ff. (zum ADAV). 276  Hans von Bülow: Ueber Richard Wagner’s Faust-Ouverture, Leipzig 1860, S. 31 (i.O. gesperrt). An Louis Köhler hieß es im gleichen Jahr, Tristan und Isolde sei ein Werk von schlechterdings ‚niederdonnernder Wirkung‘, „so fabelhaft himmelhoch, daß alles Andere pygmäenhaft dagegen erscheint“. Was seit Beethoven sonst noch entstanden sei, „wäre ohne Schaden zu destruiren“. In: ders., Briefe und Schriften, Bd. 4, S. 324. Zu den Pygmäen rechnete Bülow durchaus auch sich selbst. 275 Zu

I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

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ihn Cosima von Bülow, ihrem Standesbewußtsein wie ihrem Lebensgefühl nach in vieler Hinsicht noch im Ancien Régime wurzelnd, „notre gracieux Maître et Seigneur“277 und kombinierte damit den Meistertitel mit der Bezeichnung, die im Mittelalter für einen Feudalherren üblich war. Eingefordert wurde auf diese Weise eine Verehrung, die „nicht dem zufälligen Eigentümer besonderer Kunstfertigkeit [galt], sondern der Persönlichkeit, auf deren einzigartigem Sein und Wirken die Besonderheit und Unersetzlichkeit“ für einen dem Meister zugehörigen „Jünger“ beruhte.278 Max Weber hat soziale Beziehungen dieser Art zum Kreis charismatischer Herrschaftsverhältnisse gerechnet, die aus der Faszination für diejenige Qualität einer Persönlichkeit erwachsen, „um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften begabt“ erscheint.279 Obwohl Wagner die Anrede als Meister keineswegs einforderte, ja mitunter sogar zurückwies280, setzte sie sich doch seit den 1860er Jahren durch. Sie findet sich, wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird, im Kreis um Nietzsche, der schon früh auf diesen Sprachgebrauch einschwenkte, aber auch bei Mitarbeitern wie dem jungen Dirigenten Hans Richter (1843–1916), in dessen Tagebüchern und Aufzeichnungen Wagner als der „Meister“ schlechthin figuriert, als der ‚erhabene Meister‘, der ‚gottbegnadete Mann‘, vor dessen mächtiger Intuition die ‚staubgeborenen Menschen‘ das Haupt zu neigen hätten.281 Hans von Wolzogen verwendete den Meistertitel im gleichen ehrfurchtheischenden Sinne.282 Für Engelbert Humperdinck (1854–1921), der sich im Alter von 25 Jahren in München den ‚Rittern des Ordens vom Gral‘ angeschlossen hatte und Wagner im Winter 1879/80 in Italien kennenlernte, war er von Anfang an der „Meister“, dessen Werk

277 Gregor-Dellin, 278  Joachim

Richard Wagner, S. 423. Vgl. Hilmes, Herrin des Hügels, S. 134 f. Wach: Meister und Jünger. Zwei religionssoziologische Betrachtungen, Leipzig

1925, S. 8. 279 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, hrsg. von Knut Borchardt u. a., MWG I/23, Tübingen 2013, S. 490. Zur Anwendung dieser Kategorie auf den Kreis um Wagner vgl. Voigt, Richard Wagners autoritäre Inszenierungen, S. 199 ff.; Tim Blanning: Richard Wagner and Max Weber, in: Wagnerspectrum 1, 2005, S. 93–110; Hilmes, Herrin des Hügels, S. 278. 280 So beschwerte er sich am 10.9.1867 in einem Brief an Bülow: „Was sagst Du mir, wenn Du mich fortgesetzt ‚verehrter Meister‘ nennst?“ In: Wagner, Briefe an Hans von Bülow, S. 258. 281 Zit. n. Eva Rieger und Dagny Beidler: Malwida von Meysenbug und die Wagnerfamilie, in: Marlis Wilde-Stockmeyer und Alfred Röver (Hrsg.): Malwida von Meysenbug: Den eigenen Weg gehen, Kassel 2019, S. 49–64, 56 f.; Wolfgang Sandberger: Das Bach-Bild Philipp Spittas, Stuttgart 1997, S. 207; Richard Weltrich: Richard Wagners Tristan und Isolde als Dichtung. Nebst einigen allgemeinen Bemerkungen über Wagners Kunst, Berlin 1904, S. 166. 282  Vgl. nur Hans von Wolzogen: Die Tragödie und ihr Satyrspiel, Leipzig 1877, S. 17; Vom idealen Publikum, München 1885, S. 16; Wagneriana. Gesammelte Aufsätze über R. Wagner’s Werke vom Ring bis zum Gral, Leipzig 1888, S. 256. Auch in Wolzogens Aufsätzen in den Bayreuther Blättern taucht der Titel regelmäßig auf. Vgl. BBl 4, 1881, S. 1 (An unsere Leser); 5, 1882, S. 3 (Heutiges für Künftiges); S. 225 (Bayreuther Festworte).

5  Meister und Jünger

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ihm wie „eine unerhörte Offenbarung aus einer höheren Welt“ erschien.283 Selbst der deutlich ältere Peter Cornelius (1824–1874) zählte den „Meister“ zu den „Auserwählten unter den Berufenen“, dem als einzigen seiner Zeit „die Erhebung zum monumentalen Kunstwerk“ gelungen sei.284 Seinem Beispiel folgten Ludwig Schemann, Houston Stewart Chamberlain, Henry Thode und Bernhard Förster, der den Meister zum „Nachfolger Goethe’s“ erklärte.285 Gestützt auf diese im Kern charismatische Beglaubigung, die in Form des Erbcharisma auch den Tod des Meisters zu überdauern vermochte, entwickelte sich in den 70er und 80er Jahren eine Form der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, die sich in der Öffentlichkeit als „Wagnerbewegung“ präsentierte.286 Mit dem Allgemeinen Patronatsverein als der definitiven Vereinsbildung habe man „den wahren Anfangspunkt der neuen, organisirten, zukunftskräftigen Bewegung gewonnen“, hieß es 1877 in einem programmatischen Statement.287 Und obwohl schon fünf Jahre später die Vereinsidee eine starke Einschränkung erfuhr, indem als Hauptaufgabe die dauernde Sicherung der Bühnenfestspiele bestimmt wurde288, obwohl auch der ‚Meister‘ schließlich selbst mit wachsender Skepsis auf seine ‚Parteigänger‘ blickte, „die wie gemacht seien, um die Gedanken, die er ausspricht, der Lächerlichkeit preiszugeben“289, war doch auch weiterhin wie selbstverständlich von der „Wagnerischen Bewegung“ bzw. der „Wagnerbewegung“ oder gar dem „Wagnerianismus“ die Rede.290 Was genau unter einer „Bewegung“ zu verstehen sei, wurde nicht näher erläutert, doch befand man sich darin in Übereinstimmung mit einer Vielzahl von

283  Engelbert Humperdinck: ‚Parsifal‘-Skizzen [1907], in: Sven Friedrich (Hrsg.), Richard Wagner. Im Spiegel seiner Zeit, Frankfurt am Main 2013, S. 218–235, 220 f. 284 Peter Cornelius: Die Meistersinger von Richard Wagner [1868], in: ders., Literarische Werke, Bd. 3, hrsg. von Edgar Istel, Leipzig 1904, S. 169–178, 169; Deutsche Kunst und Richard Wagner [1871], ebd., S. 187–200, 192. 285  Vgl. Ludwig Schemann: Die Gral- und die Parzivalsage in ihren hauptsächlichsten dichterischen Verarbeitungen Teil III, in: BBl 2, 1879, S. 106–116, 116; Houston Stewart Chamberlain: Richard Wagner und die Politik, in: BBl 16, 1893, S. 137–158, 137; Henry Thode: Wie ist Richard Wagner vom deutschen Volke zu feiern? Vortrag, gehalten am 13.2.1903 in der Philharmonie zu Berlin, Heidelberg 1903, S. 3; Bernhard Förster: Richard Wagner als Begründer eines deutschen Nationalstils; mit vergleichenden Blicken auf die Kulturen anderer indogermanischer Nationen, in: BBl 3, 1880, S. 106–122, 113 f. 286 Vgl. Cornelius, Deutsche Kunst und Richard Wagner [1871], S. 198. 287 Hans von Wolzogen: Grundlage und Aufgabe des allgemeinen Patronatvereines zur Pflege und Erhaltung der Bühnenfestspiele zu Bayreuth, Chemnitz 1877, S. 54. 288 Vgl. Veltzke, Vom Patron zum Paladin, S. 350 ff. 289 CWT 2, S. 1110 (Eintrag vom 9.2.1883). Das schloß ausdrücklich die Bayreuther Blätter ein, von denen er niemals gedacht haben würde, daß sie „mehr als zwei Jahre dauern würden.“ 290 [o.V.]: Bayreuther Festworte: I. Das Bayreuther Patronat, in: BBl 5, 1882, S. 225–228, 225. Vgl. Wolzogen, Grundlage und Aufbau des allgemeinen Patronatvereines, S. 17; Unsere Zeit und unsere Kunst, Leipzig 1881, S. 230; Schemann, Die Gral- und die Parzivalsage in ihren hauptsächlichsten dichterischen Verarbeitungen Teil III, S. 109.

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

anderen Bewegungen, die seit dem Vormärz von sich reden machten.291 Einigkeit bestand immerhin darin, daß man nicht einzelnen ideellen oder materiellen Interessen, sondern einer „Welt-Anschauung“ zur Durchsetzung verhelfen wollte, deren Ziel Richard Wagner in seinen Spätschriften gewiesen habe: die „Erlösung“ aus der „Welt der Gewalt und des Schreckens“292, und Einigkeit auch in der Überzeugung, daß dabei der Kunst – nicht nur, aber vor allem: derjenigen Wagners – eine Schlüsselrolle zukommen mußte, wie es der fundamentalistischen Grundausrichtung des Komponisten entsprach. Was allerdings die zu diesem Ziel führenden Wege betraf, so wurden in der Wagnerbewegung im Anschluß an Schopenhauer schon früh unterschiedliche Akzente gesetzt, die mal mehr dem Idealtypus des ‚ästhetischen Heilsweges‘, mal mehr demjenigen des ‚ethischen Heilsweges‘ entsprachen.293 Stärker zum ersteren tendierte unter den frühen Bayreuthern der zeitweilige Erzieher von Wagners Sohn Siegfried, Heinrich von Stein (1857–1887).294 1877 mit einer Arbeit bei Eugen Dühring in Berlin promoviert, war er schon zuvor durch einen Besuch der Meistersinger in den Bann der damit völlig unvereinbaren Ideenwelt Schopenhauers und Richard Wagners geraten, über die er 1881 nach seiner Habilitation in Halle Vorlesungen hielt. In den Bayreuther Blättern war er vom zweiten Jahrgang an mit zahlreichen Aufsätzen präsent, die sich mit Shakespeare, Goethe, Luther, Rousseau, Schopenhauer und der Ästhetik der deutschen Klassiker beschäftigten. Seine Szenenfolge „Helden und Welt“ im 6. Jahrgang 1883 wurde durch einen Briefwechsel mit Richard Wagner eingeleitet, für dessen Werk er sich noch im gleichen Jahr mit zwei weiteren Arbeiten einsetzte: einem gemeinsam mit Carl Fr. Glasenapp zusammengestellten WagnerLexikon sowie der Herausgabe des zehnten Bandes von Wagners Gesammelten Schriften und Dichtungen, der die wichtigsten Texte des Spätwerks enthielt.295 Wie eng er mit dessen Gedankenwelt verbunden war, zeigen nicht nur seine Ausfälle gegen das Judentum und die Vivisektion296, sondern auch sein Bekenntnis zu der „durch das Kunstwerk geeinten, kleinen Gemeinde“ von Bayreuth, die sich

291  Vgl. Dieter Hein: Partei und Bewegung. Zwei Typen politischer Willensbildung, in: Historische Zeitschrift 263, 1996, S. 69–97. 292 Vgl. Cosima Wagner an Daniela von Bülow, Brief vom 3.4.1881, in: Cosima Wagners Briefe an ihre Tochter Daniela von Bülow 1866–1885, hrsg. von Max Frhr. von Waldberg, Stuttgart 1933, S. 185; Wagner, Religion und Kunst, DS 10, S. 158. 293 Vgl. Malter, Arthur Schopenhauer, S. 349, 329 ff. 294 Grundlegend zu Biographie und Werk ist die Studie von Bernauer, Heinrich von Stein. 295 Vgl. die Bibliographie ebd., S. 611 ff. 296 Vgl. Roderick Stackelberg: The Role of Heinrich von Stein in Nietzsche`s Emergence as a Critic of Wagnerian Idealism and Cultural Nationalism, in: Nietzsche-Studien 5, 1976, S. 178– 93, 191. Steins Interventionen in Sachen Vivisektion und Vegetarismus sind aus der in der vorigen Anmerkung genannten Bibliographie leicht zu erschließen.

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„gegenüber der herzlosen, herrschenden Gesellschaft“ in einem „Einklange der Empfindungen“ wisse.297 In der überschaubaren Literatur zum Werk Steins begegnet man der Auffassung, dessen Anliegen sei vor allem moralischer Natur gewesen.298 Das ist insofern richtig, als sich Steins Kritik an einer als „französisch“ empfundenen „Zivilisation“ mehrfach auf den dem Deutschtum zugeschlagenen Rousseau und dessen moralischen Fundamentalismus berief.299 Andererseits bekannte er sich zu einem Werk wie Nietzsches Geburt der Tragödie300, von dem der Autor später bei aller Selbstkritik gemeint hat, daß es bereits einen Geist verraten habe, „der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird“, um statt dessen einer „rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung den Boden zu bereiten“.301 Auch wenn Wolzogen rückblickend in Steins letzten Äußerungen eine Wendung vom Ästhetischen zum Ethischen zu erkennen glaubte302, hebt dies doch die Tatsache nicht auf, daß er sich seit seiner Hauslehrertätigkeit bei Wagner immer wieder energisch für eine „absichtsvolle Isolierung des Kunstwerks von Bayreuth“ und den gänzlichen Verzicht auf das Vorhaben ausgesprochen hat, „da Leben erwecken zu wollen, wo nicht die Werke des Meisters jenes Feuer entzündet haben, dessen herzliche Glut nicht mehr verlöschen kann.“303 Wie vor ihm Schopenhauer und Wagner blickte Stein „mit Entsetzen […] auf den geschichtlichen Zustand, aus dem mit Notwendigkeit die Vernichtung der Seele sich zu ergeben scheint“; mit Furcht auf „die Gespenster unter der Gestalt von

297  Heinrich von Stein: Luther und die Bauern [1882], in: ders., Zur Kultur der Seele. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Friedrich Poske, Stuttgart und Berlin 1906, S. 57–80, 77. 298  Vgl. Elisabeth Förster-Nietzsche: Das Leben Friedrich Nietzsches, Bd. 2, Leipzig 1904, S. 495. Auf dieser Linie auch Stackelberg (wie Anm. 209), S. 179 f., 190. 299  Vgl. Heinrich von Stein: Über Werke und Wirkungen Rousseaus [1881], in: ders., Zur Kultur der Seele, S. 41–56, 49; Rousseau und Kant [1888], ebd., S. 343–358. Diesem Faible für den Zivilisationskritiker Rousseau begegnet man auch bei anderen ‚Bayreuthern‘, etwa bei Henry Thode (Böcklin und Thoma. Acht Vorträge über neudeutsche Malerei, Heidelberg 1905, S. 122 ff.) und selbst bei Houston Stewart Chamberlain: Lebenswege meines Denkens, München 1919, S. 40, 58, 323, 356 ff. Auf die fundamentalistischen Züge im Werk Rousseaus bin ich an anderer Stelle eingegangen. Vgl. Rousseau und die Folgen, in: Moderner Fundamentalismus, S. 29–51. 300 Vgl. Heinrich von Stein: Idee und Welt. Das Werk des Philosophen und Dichters. Ausgew. und mit den Dokumenten seines Lebens hrsg. von Günter Ralfs, Stuttgart 1940, S. 162. 301 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 9–156, 17 f. Über die Nähe dieses Werks zur Gedankenwelt Wagners vgl. in diesem Band: Vom ästhetischen Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche. 302 Vgl. Heinrich von Stein: Idee und Welt, S. 379. 303  Heinrich von Stein: Zum ersten Lustrum. Ein offener Brief an den Herausgeber der Bayreuther Blätter [1881], in: ders., Zur Kultur der Seele, S. 211–215, 211, 214.

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

Menschen, welche unser Dasein so arg verschränken und verwüsten“; mit Zuversicht einzig auf jenen Differenzierungsvorgang, vermöge dessen sich die Kunst einen „eigenen Bereich“ erobert habe, den es „von der übrigen Welt als ein Heiligtum des schönen Wahnes“ abzusondern und zu verteidigen gelte.304 Regeneration, daran glaubte Stein mit Wagner und im Gegensatz zu allem bloßen Ästhetizismus, war noch möglich, allerdings nur unter Absage an die „Zivilisation“ mit ihren „barbarischen, kunstfeindlichen Staatsverfassungen“305 und unter Umständen nur im Wege räumlicher Abstandnahme: sei es durch den Rückzug in ein ‚ideales Kloster‘, wie ihn schon der junge Nietzsche propagiert hatte, sei es durch Auswanderung, von der der späte Wagner bisweilen träumte306, jedoch mit der stets festgehaltenen Perspektive einer Erneuerung der Lebenswelt von Grund auf. Stein starb zu früh, als daß er den Möglichkeitsraum des modernen Fundamentalismus breiter hätte ausloten können. Das geschah weit gründlicher, ja geradezu erschöpfend im doppelten Sinne des Wortes in den Schriften Hans von Wolzogens (1848–1938), den sein Freund Ludwig Schemann nicht zu Unrecht als „den Bayreuther“ bezeichnet hat.307 Ein Enkel Schinkels und weitläufig auch noch mit Schiller verwandt, jedoch ebensowenig ein Musiker von Profession wie Stein, geriet er schon während seines Studiums in Berlin in den Bann Schopenhauers und bald darauf, nach dem Besuch einer Tannhäuser-Aufführung 1866, auch in denjenigen Wagners, dessen persönliche Bekanntschaft er 1875 machte.308 Die Beziehung vertiefte sich bald so sehr, daß er 1877 nach Bayreuth in die unmittelbare Nachbarschaft seines Meisters zog, um bald darauf die Leitung der 1878 gegründeten Bayreuther Blätter zu übernehmen, eine Funktion, die er bis zu deren Einstellung 1938 ausübte.309 Wolzogen war kein origineller Kopf, wie seine ausufernden Referate zu Constantin Frantz oder Gobineau zeigen, die ihm wohl von Wagner aufgetragen

304 Heinrich

von Stein: Die Darstellung der Natur in den Werken Richard Wagners [1886], ebd., S. 90–104, 102; Die Ästhetik der deutschen Klassiker [1887], ebd., S. 107–208, 145. 305 Heinrich von Stein, Idee und Welt, S. 100. 306 Vgl. ebd., S. 142, 168, 208. Für die Auswanderung faßte Stein an der zuletzt genannten Stelle mit Wagner vor allem ‚südliche Länder‘ ins Auge. In seinem Nachlaß fand sich allerdings auch ein „Aufruf zur Bauernstiftung“, der das Problem der „Überfüllung der geistigen Berufsklassen“ dadurch zu lösen versprach, daß man bankrotte Bauerngüter aufkaufen und sie den „jungen Expektenten in den Städten“ anbieten sollte (ebd., S. 310 f.). Nach dem ersten Weltkrieg begegnet dieser Gedanke in verschiedenen Varianten erneut. Vgl. Klaus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1970 sowie meine Studie: Der völkische Flügel der Bündischen Jugend, in: Gideon Botsch und Josef Haverkamp (Hrsg.), Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik, Berlin und Boston 2014, S. 110–133. 307 Ludwig Schemann: Lebensfahrten eines Deutschen, Leipzig und Hartenstein 1925, S. 163. 308 Vgl. Hans von Wolzogen: Lebensbilder, Regensburg 1924, S. 68 ff. 309 Vgl. ebd., S. 75 ff. Zu Person und Werk Erik Böhm: Hans Paul Freiherr von Wolzogen als Herausgeber der „Bayreuther Blätter“, München, Univ., Diss., 1942; Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 86 ff.; Hein, „Es ist viel ‚Hitler‘ in Wagner“, S. 30 ff. (dort auch eine Bibliographie seiner Beiträge in den BBl, S. 276 ff.); Franz, Die Religion des Grals, S. 97–111.

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wurden.310 Mit Stein, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband, teilte er die massive Ablehnung der modernen Welt311, verlagerte allerdings den Akzent vom ästhetischen auf den ethisch-moralischen Fundamentalismus, indem er die Bayreuther Gesinnung auf eine „Ueberwindung des Egoismus“ festlegte, einen Wechsel auf jenen „Boden der Moralität“, in welchem mit Wagner der Grund jeder wahrhaftigen Kunstblüte zu sehen sei. Das Ästhetische allein genüge dem Deutschen nicht, der das Ethische überall suche, „und sollte er es in noch ungebildeter Naivetät nur erst als das bürgerlich Moralische verstehen.“312 Nicht daß die Ausrichtung auf den ästhetischen Bereich damit preisgegeben worden wäre. Es sei „kein leerer Wahn […] von dem Geiste der Musik eine Reinigung und Wiederherstellung echt deutscher Kultur erhoffen zu wollen“. Eben dies schließe jedoch ein, auch andere Gebiete diesem Geist zu unterwerfen, „denn deren Verwahrlosung und Verderbniss beruht auf gar tief im Wesen unserer ganzen Kultur liegenden Gründen“, anders gesagt: in der Herrschaft ‚kunstfeindlicher Mächte‘ über das gesamte Volksleben.313 Im Kampf gegen sie müsse die Kunst eine Kraft entfalten, „welche einerseits die Zeitlichkeit durch ein Ausserzeitliches besiegt, und uns andererseits auf die Möglichkeit hoffen lässt, diese überzeitliche Macht auch in der Zeitlichkeit als eine moralische Kultur zur Herrschaft bringen zu können.“314 Wolzogen ließ nicht im Unklaren, wen oder was alles er zu den zu besiegenden ‚zeitlichen Mächten‘ rechnete. Zu ihnen gehörten die Mächte des ‚Fortschritts‘, allen voran die moderne Wissenschaft, durch die der Rhythmus des Lebens via Telegraph und Eisenbahn zu einem ‚ungesunden und widernatürlichen Prestissimo‘ gesteigert und womöglich einem „gewaltigen Schlusskrache der gesammten modernen Periode“ entgegengetrieben werde315; gehörten der Geldhandel, die „Macht der Bankfürsten“ und das an der Börse reich gewordene „Gross-Kapital“, welches freilich sorgfältig vom „arbeitende[n] Kapital“ als dem

310 Vgl. Hans von Wolzogen: Unsere Zeit und unsere Kunst, in: BBl 3, 1880, S. 125 ff. Der fast hundert Seiten starke Konspekt zu Constantin Frantz´ Buch über den Föderalismus (1879) ist schon ein Jahr später in dem Buch gleichen Titels erschienen, aus dem im Folgenden zitiert wird: Unsere Zeit und unsere Kunst, Leipzig 1881, S. 3–98. Auch die dort folgenden Kapitel greifen immer wieder auf Frantz zurück. Vgl. außerdem Hans von Wolzogen: Die Ungleichheit der menschlichen Racen. Nach des Grafen Gobineau Hauptwerke, in: BBl 5, 1882, S. 263–279 (I); S. 280–292 (II); 293–304 (III); 330–340 (IV); BBl 6, 1883, S. 16–25 (V); 25–43 (VI). Auf Gobineau ist Wolzogen später noch mehrfach zurückgekommen. Vgl. die in seinem Buch Aus deutscher Welt gesammelten Texte (S. 70–141). 311 Vgl. Hans von Wolzogen: Nibelungendrama und Christentum [1877], in: ders., Wagneriana, S. 79–100, 97. Zur Freundschaft mit Stein vgl. Heinrich von Steins Briefwechsel mit Hans von Wolzogen. Ein Beitrag zur Geschichte des Bayreuther Gedankens, Leipzig 1910. 312 Hans von Wolzogen: Bayreuth, Berlin 1904, 47; Wolzogen, Aus deutscher Welt, S. 161. 313 Hans von Wolzogen: Unsere Lage, in: BBl 1, 1878, S. 6–22, 11, 19. 314 Hans von Wolzogen: Die Religion des Mitleidens, in: BBl 5, 1882, S. 232–252; 6, 1883, S. 96–146, hier: S. 238. 315 Wolzogen, Unsere Zeit und unsere Kunst, S. 10, 192.

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„Schöpfer unserer Kultur“ unterschieden werden müsse316; gehörte auch der moderne Staat, da dieser zunehmend unter die Herrschaft volksfremder Mächte gerate: sei es der „römische[n] Zentralisation unter dem Imperium der Welteroberer“, sei es des Judentums, dessen Gott für die „satanische[n] Macht der Willensbejahung“ stehe.317 Das Judentum sei die „unvertilgbare zweite Weltmacht“, die „Macht der List“, welche sich nicht nur bis heute neben der anderen Weltmacht, derjenigen der Gewalt, erhalten habe, sondern im Begriff stehe, „zur eigentlich Ersten über Allen“ zu werden, nicht zuletzt deshalb, weil sie dabei sei, sich auch des ihr „ursprünglich feindseligsten Sozialismus“ zu bemächtigen, „um voraussichtlich dereinst im sozialen Zukunftsstaate, wenn die Gewalttriumpfe (sic) des männlichen Heroismus im gefahrvoll blutigen Düster geschichtlichen Wahnes nicht mehr zu feiern sind, als die rechte Friedensmacht einer erschlafften, greisen Menschheit, den Staatsbegriff zu repräsentiren und alle nationalen Kräfte des Volkes, und somit das gesammte christliche Deutschland, zu seinem Sklaven erniedrigt zu haben.“318 In einem Vortrag vor dem Verein Deutscher Studenten zu Leipzig sprach er vom „Dämon einer fremdartigen Geschichtlichkeit“, der sich der Welt bemächtigt und diese in die „grosse lange Nacht der assyrischen [!] Weltgeschichte“ gestürzt habe.319 Zwar glaubte Wolzogen in den „großen Geisteskinder[n] des Ariertums“ noch genügend Kraft zu erkennen, sich „über die verderblichen Folgen der Blutmischung in ihren eigenen Reihen“ zu erheben und eine „‚Wiedergeburt‘ des Ariertums“ einzuleiten.320 Gewißheit gab es in dieser Hinsicht jedoch nicht. Ein „Ende mit Schrecken“ sei nicht auszuschließen, aber wenn es denn sein mußte, sollte es wenigstens ausfallen wie dasjenige der Nibelungen in Etzels Halle. Wenn Gobineau recht behielte, „wenn schließlich dennoch das Rassenverderbnis alles überwuchert und überwältigt, so geschieht im Ende noch das alte große arische Wunder der Heldenverklärung, das Gobineau selbst in seinem letzten Werke, dem ‚Amadis‘, feierlich dargestellt hat. Die letzten Helden, in denen der reine Geist der Edelrasse noch lebt, fallen im Endkampf mit der entarteten, völlig dem moralischen Untergange geweihten Mischlingsherrschaft; aber Ahriman, der Urschlechte, versinkt im eigenen Sumpf, und um die Leichen der Helden schimmert es wie ein stolzes Freudenlächeln der Gottheit: die Aureole des Lebens, das keinen Tod kennt, des ewigen Wesens alles Reinen, Edlen, Guten, des arischen Heroismus.“321

In dieser Lage erschien es Wolzogen geboten, alle Kräfte zu mobilisieren. Er, der von sich selbst behauptete, „im Wesensgrunde [,] immer ein Weltfremder“ geblieben

316 Ebd.,

S. 46, 42, 51. S. 190, 218. 318 Ebd., S. 214. 319 Hans von Wolzogen: Richard Wagner und die Deutsche Kultur, Leipzig 1883, S. 33, 14. 320 Wolzogen, Aus deutscher Welt, S. 88. 321 Ebd., S. 124. Angesichts der Parallelen, die sich bei diesen Sentenzen zur Stalingradrede Hermann Görings vier Jahrzehnte später aufdrängen, mutet es fast schon divinatorisch an, wenn Wolzogen an anderer Stelle zwar nicht Etzels Halle, aber Walhall an der Wolga lokalisiert: vgl. Urgermanische Spuren. Zweite Fahrt nach Europa. 2. An der Wolga, in: BBl 13, 1890, S. 1 ff. 317 Ebd.,

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zu sein322, entfaltete eine staunenswerte Publikationstätigkeit weit über die Bayreuther Blätter hinaus, neben der Tagespresse auch in etlichen Zeitschriften und Revuen von der Antisemitischen Correspondenz und der Deutschen Reform über Friedrich Langes Deutsche Welt bis hin zum Deutschen Volkstum und zum Türmer, um nur einige zu nennen. Darüber hinaus gab er die noch von Wagner geübte Zurückhaltung gegenüber der antisemitischen Bewegung auf (nota bene: der Bewegung), öffnete die Bayreuther Blätter für namhafte Vorläufer und Repräsentanten derselben, von Bruno Bauer über Adolf Wahrmund und Ottomar Beta bis hin zu Oswald Zimmermann und unterzeichnete die von Bernhard Förster und anderen 1880/81 auf den Weg gebrachte Petition zur Aufhebung der Judenemanzipation.323 Als sich Mitte der 90er Jahre die Christlich-sozialen um Stoecker von den Deutschkonservativen trennten, sprach er sich dafür aus, das Christlich-soziale „als anerkannte Leitidee aller inneren Politik“ zu deklarieren und insbesondere in der Judenfrage den von Stoecker beschrittenen Weg weiter zu gehen.324 Zugleich ließ er jedoch durchblicken, daß es damit nicht getan sein würde und selbst die vom Deutschbundgründer Friedrich Lange geforderten Ahnentafeln und Geschlechtsregister nicht ausreichten, vielmehr zu einem entschiedenen Mischungsverbot gesteigert werden müßten.325 Ohne sorgfältige ‚Rassenpflege‘ werde die ‚preußische Rasse‘ „allmählich in ein modernes Deutschtum sich auflösen […], welches selbst aus keltisch-slawisch-jüdischen Elementen zusammengeflossen, dem Ariertypus entschieden ferner steht als der nordgermanische Grund“.326 Formulierungen wie diese sprechen gegen den Befund Winfried Schülers, Wolzogen habe mit den Jahren manche Schroffheiten und überspannten Eigenheiten abgestreift und sei gegenüber Andersdenkenden sichtlich toleranter geworden.327 Der aggressive Ton steigerte sich eher und ließ den Bayreuther schließlich auch noch eine weitere Distanz kassieren, die für den späten Wagner

322 Wolzogen,

Lebensbilder, S. 15. Veltzke, Vom Patron zum Paladin, S. 246 f., 260 f.; Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 147. Von Bruno Bauer vgl. Luthers Pessismismus und Optimismus, in: BBl 4, 1881, Okt.Nov.; von Adolf Wahrmund vor allem: Die Bändigung Mammons. Vom deutschen Hochsinn und für ihn, in: BBl 22, 1899, Okt.-Dez. Der schon früh in der antisemitischen Bewegung aktive Oswald Zimmermann (1859–1910), 1883 mit einem Aufsatz in den BBl vertreten (Aus der Verstandeskultur der Gegenwart (I.-III. Stück), war von 1894 bis 1910 Vorsitzender der im antisemitischen Spektrum führenden Deutschsozialen Reformpartei und der später aus ihr hervorgegangenen Deutschen Reformpartei. Zu beiden Verbänden vgl. meine Studie: Die Völkischen in Deutschland, S. 71 ff. u.ö. 324 Wolzogen, Aus deutscher Welt, S. 42, 139; vgl. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 248. 325 Vgl. Wolzogen, Aus deutscher Welt, S. 146 f.; Friedrich Lange: Reines Deutschtum. Grundzüge einer nationalen Weltanschauung, Berlin 19043, S. 140 f., 246 ff. Einige der in Wolzogens Aufsatzsammlung Aus deutscher Welt publizierten Texte erschienen ursprünglich in der „Deutschen Welt“, einer Beilage zu der von Lange geleiteten Deutschen Zeitung. 326 Wolzogen, Aus deutscher Welt, S. 106. 327 Vgl. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 90, 247. 323  Vgl.

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charakteristisch war. Zum Dreikaiserjahr 1888 veröffentlichte er eine Huldigung an die preußische Monarchie, die ausgerechnet in einem Panegyrikus auf den Soldatenkönig kulminierte.328 Etwa zur gleichen Zeit wie Wolzogen fand sich Ludwig Schemann (1852– 1937) im Kreis um Wagner ein. Sein Initiationserlebnis hatte auch er schon in den 60er Jahren im Tannhäuser, es folgten der Holländer, der Lohengrin und die Meistersinger. Als er in Berlin 1873 erstmals ein vom Meister geleitetes Konzert hörte, schloß er sich, damals noch Student der Geschichte, dem Akademischen Wagnerverein an.329 Seine Überzeugung, an der „Eröffnung einer ganz neuen Ära der Kunst“ teilzuhaben, führte ihn 1876 zu den ersten Festspielen und im Jahr darauf zur konstituierenden Sitzung des Patronatsvereins nach Bayreuth.330 Die Lesung des Parsifal am 16.9., berichtete er später rückblickend, sei „für alle Jünger Wagners ein Ereigniß außerordentlichster Art“ gewesen. Er selbst sei von ihr als ein neuer Mensch heimgekehrt, als einer „der wenigen Berufenen“, aus denen sich hoffentlich bald eine „weitere Brüdergemeinde‘ entwickeln werde.331 Der Entschluß, „das Wirken für Wagners Sache an erster Stelle in mein Lebensprogramm“ aufzunehmen, manifestierte sich in der Folgezeit nicht nur in zahlreichen Besuchen in Bayreuth332, sondern auch in einem öffentlichen Vortrag in Goslar über Wagners Bedeutung für die nationale Kultur, der in Superlativen vom Genius und dessen gewaltigsten Taten schwärmte.333 Im Rückblick avancierte der Bayreuther Meister gar zum „erhabene[n] Seher und Seelsorger der besseren Theile der Menschheit“, zum „Gotterfüllte[n]“, der als „Bürger einer anderen Welt“ unter die Erdenbürger getreten sei und auch ihn, Schemann, mit seiner Gnade beglückt habe.334 Wagner: das sei eine „Naturkraft“ gewesen, die einem keine Wahl gelassen habe als „glauben oder fern bleiben, glauben nicht einen Buchstabenglauben, der beim ersten Ansturm zerschellt, sondern einen Geistesglauben, der felsenfest alles Einzelleben überdauert. Was hier von Wahrheit ausgestrahlt ward, lehrte ein Blick in dieses Antlitz, noch ganz anders aber ein Blick aus diesem Antlitz. Wer diesen Blick ausgehalten, ausgeschöpft, mit den Sinnen des Geistes erfaßt, in die letzten Tiefen seiner Seele hat hinabdringen lassen, dem kann kein göttliches Wunder, kein magnetisches Fortwirken in der

328 Vgl.

Wolzogen, Aus deutscher Welt, S. 205. dazu und zum Folgenden Schemann, Lebensfahrten eines Deutschen, S. 101 ff.; Meine Erinnerungen an Richard Wagner, S. 11 ff. Einiges zu Person und Werk bei Peter Emil Becker: Wege ins Dritte Reich. Teil II: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke, Stuttgart etc. 1990, S. 101–123. 330 Schemann, Lebensfahrten eines Deutschen, S. 105. 331 Schemann, Meine Erinnerungen an Richard Wagner, S. 19; an Hans von Wolzogen, Brief vom 31.7.1877, zit. n. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 103. 332 Vgl. Schemann, Meine Erinnerungen an Richard Wagner, S. 16; CWT 1, S. 1100; CWT 2, S. 85, 337, 359, 727, 746. 333 Vgl. Ludwig Schemann: Richard Wagner in seinen künstlerischen Bestrebungen und seiner Bedeutung für die nationale Kultur, Wolfenbüttel 1878, S. 4. 334 Vgl. Schemann, Meine Erinnerungen an Richard Wagner, S. 25, 64 f., 22. 329 Vgl.

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Geisteswelt, keine gewaltigste Szene irgendeines Dramas, sei es der Litteratur oder der wirklichen Geschichte, mehr unbegreiflich bleiben […] O nehmt es wahr, wenn ihr einem Großen nahen und nahe treten dürft, wenn solch‘ ein Weltauge auf euch ruht, solche Heroldsrufe der Ewigkeit in euer Ohr tönen: nehmt es wahr, ihr Jungen zumal, daß sie euch fort und fort im Leben nachtönen – wie wolltet ihr je eine sicherere Gewähr eines Göttlichen gewinnen?“335

Schemanns erster Beitrag zu dem, was auch er die „Wagner-Bewegung“ nannte, war ein umfangreicher Aufsatz über „Die Gral- und die Parzival-Sage in ihren hauptsächlichsten dichterischen Verarbeitungen“, der 1879 in vier Teilen in den Bayreuther Blättern erschien.336 Im Unterschied zur Gestaltung dieses Stoffes bei Chrétien und Wolfram sei Wagners Version ein „metaphysisches Kunstwerk“, das einen Weg zur Überwindung jenes auf allem Dasein lastenden Fluches weise, der Nötigung nämlich, in einer Zeit zu leben, in der Diesseitsverherrlichung und Materialismus die Menschheit in die „allunchristlichste, weil jüdische ‚Civilisation‘“ geführt hätten.337 Schopenhauer komme das Verdienst zu, gezeigt zu haben, „dass erst der alte Judengott, der sich in die ihm fremde christliche Welt eingeschlichen habe, zu vernichten sei, ehe ein neues, a-jehovanisches Christenthum wieder zur leitenden Kulturmacht werden könne.“338 Diese negative Leistung Schopenhauers habe Wagner durch die positive Leistung ergänzt, „einen neuen Weg durch die Kunst zur Religion, zu einem beseligenden Glauben, zu einem wahrhaftigen Christenthum“ gewiesen zu haben, wie dies nicht nur, aber vor allem im Parsifal der Fall sei.339 Im Besitz dieser Kunst, die alle ideellen Güter des Lebens in sich berge, seien nun insbesondere die „Auserlesenen“, die „Gralsritter“ gefordert340, „ein neues Leben nach ihr zu gestalten“, es nicht bei „ästhetische[m] Spiel“ zu belassen, sondern handelnd in der Welt, und wo nötig: gegen sie, tätig zu werden. Wohl gebe es Schäden, „die tief im Marke unserer Nation sich festgesetzt haben und denen doch beizukommen nicht in unserer Macht liegt. Aber ihnen allen, denen es obliegt, unsere Gesellschaft vor der gänzlichen Zersetzung zu bewahren, unser Volk einer schöneren Existenz und unsere nationale Politik wahrhaft grossen Zielen zuzuführen, ihnen allen können wir helfend zur Seite treten, indem wir ihnen eine durch ethischen, künstlerischen und religiösen Idealismus veredelte Genossenschaft als Beispiel darbieten.“341 Das war ein Programm, das in seiner Insistenz auf der „Möglichkeit eines neuen Christenthums“342 durchaus auf die Zustimmung Wagners wie Wolzogens rechnen konnte. Im Hinblick auf die Wolfram-Deutung äußerte sich Wagner

335 Ebd.,

S. 55 f. BBl 2, 1879, Januar bis April. Zur „Wagner-Bewegung“ vgl. ebd., S. 109. 337 Ebd., S. 108. 338 Ebd., S. 113. 339 Ebd. 340 Ebd., S. 77. 341 Ebd., S. 114. 342 Ebd., S. 113. 336 Vgl.

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allerdings im Gespräch mit Cosima reserviert und zeigte sich überrascht „durch eine Mischung von nachlässig und ungenau ausgedrückten, sehr guten und ziemlich verkehrten Gedanken!“343 Der Aufsatz, hieß es ein halbes Jahr später, mache ihm keine Freude, er sei pedantisch, der Autor jung und unreif.344 Obwohl er zweifellos wußte, was er an einem Propagandisten wie Schemann hatte, geriet er in der Folge mit ihm doch mehrfach auch über dessen musikalische Vorlieben aneinander, mit besonderer Heftigkeit über Schumann, den er, Wagner, zutiefst verachtete, des weiteren über den von Schemann verehrten Cherubini.345 Im Juni 1881 scheint man gar über einen „absonderlichen Brief von Dr. Schemann“ in Streit geraten zu sein, der Cosima Wagner veranlaßte, „über Meister und Jünger in ihrem Verhältnis zu einander nach[zu]sinnen!“346 In seinen Lebenserinnerungen betonte Schemann vor allem den Abstand, der ihn von vielen Autoren der Bayreuther Blätter getrennt und ihn 1887 bewogen habe, von diesem Organ Abstand zu nehmen.347 Tatsächlich zeigte er sich von Anfang an darauf bedacht, eine gewisse Selbständigkeit zu wahren, einmal, indem er sich beharrlich weigerte, seine Bibliothekarsstelle in Göttingen aufzugeben und nach Bayreuth zu ziehen348, sodann, indem er den überwältigenden Einfluß Wagners durch eine Erweiterung seines Pantheons abmilderte. Dafür bot sich in Göttingen Paul de Lagarde an, der zwar die Werke Wagners nicht schätzte, sich gleichwohl einem nicht weniger entschiedenen nationalreligiösen Fundamentalismus verschrieben hatte.349 Als dieser „Kreuzritter“, mit dem er seit 1875/76 engeren Umgang pflegte, im Dezember 1891 starb, widmete er ihm einen langen Nachruf in den Bayreuther Blättern, in dem er ihn als Vorkämpfer im Kampf gegen die Juden feierte, jenes Fremdvolk, „welches unsere Heiligthümer schänden, unser Volksthum vergiften, unsere Besitzthümer an sich reissen will, um uns Deutsche unter seine Füsse zu treten“.350 Im gleichen Text warb er für die deutsch-soziale Bewegung, „der

343 CWT

2, S. 156 (Eintrag vom 8.8.1878). ebd., S. 323 (Eintrag vom 28.3.1879); 369 (Eintrag vom 20.6.1879). 345 Vgl. CWT 2, S. 359 f., 895, 950 (Einträge vom 3./4.6.1879, 22.2. und 30.5.1882); Schemann, Lebensfahrten eines Deutschen, S. 151 ff. 346 CWT 2, S. 749 (Einträge vom 15./16.6.1881). 347  Vgl. Schemann, Lebensfahrten eines Deutschen, S. 159; Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 104. 348 Vgl. Schemann, Meine Erinnerungen an Richard Wagner, S. 16. 349  Vgl. Ludwig Schemann: Ueber die neuesten Publikationen von Paul de Lagarde, BBl 14, 1891, H. 12, S. 409–412. Näher zu Person und Werk Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, sowie meine Studie: Ausgänge des Konservatismus in Deutschland, S. 153 ff. 350 Ludwig Schemann: Paul de Lagarde. Ein Nachruf, BBl 15, 1892, H. 6, S. 185–210, 185, 191. Nach dem Ersten Weltkrieg hat Schemann dem von ihm Hochverehrten ein umfangreiches Buch gewidmet: Paul de Lagarde. Ein Lebens- und Erinnerungsbild, München und Hartenstein 1920. Seinen ausgeprägten Antisemitismus hatte Schemann schon im Juni 1882 zum Ausdruck gebracht, als er sich bei der Diskussion über ein neues Statut für den Wagnerverein dafür ein344 Vgl.

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hoffentlich die Zukunft in unserem Vaterlande gehört“.351 Gemeint war damit die Deutsch-soziale Partei um Liebermann von Sonnenberg, Theodor Fritsch und Paul Förster, die sich im Unterschied zur ebenfalls radikalantisemitischen Böckelbewegung um einen Schulterschluß mit den „Konservativen“ bemühte.352 Es blieb nicht bei diesem Engagement, das von Wolzogen mit deutlicher Skepsis betrachtet wurde.353 Dazu trug nicht zuletzt Schemanns Einsatz für das Werk Gobineaus bei, den er im Mai 1882 in Bayreuth noch persönlich kennengelernt hatte.354 1891 begann er damit, für die Bayreuther Blätter das Buch über die Renaissance zu übersetzen, es folgten 1893 die Asiatischen Novellen sowie 1898/99 der Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen. Die 1894 gegründete Gobineau-Vereinigung, die ihre Mitteilungen als Beilage der Bayreuther Blätter veröffentlichte, war im wesentlichen sein Werk. Aus ideologischen Motiven, aber auch um den Absatz des Gobineau-Wälzers zu fördern, bemühte er sich, diesen Verein mit zahlreichen anderen Verbänden des rechten Lagers zu vernetzen und trat auch selbst in einige ein, darunter die Freiburger Ortsgruppe der Gesellschaft für Rassenhygiene oder der Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation.355 Im Alldeutschen Verband gehörte er um 1904/05 sowohl

setzte, „das Judenfeindliche unserer Vereinigung“ besonders zu betonen: vgl. Veltzke, Vom Patron zum Paladin, S. 310. 351 Schemann, Paul de Lagarde. Ein Nachruf, S. 208. 352 Vgl. Dieter Fricke: Antisemitische Parteien, in: ders. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 1, S. 83 ff. Wie Winfried Schüler (Der Bayreuther Kreis, S. 106) gezeigt hat, war Schemann bereits 1887 Vertreter und Vertrauensmann der Deutschen Antisemitischen Vereinigung, dem Vorläufer der Deutsch-sozialen Partei. Für den von Theodor Fritsch hrsg. Antisemiten-Katechismus (Leipzig 1887) verfaßte er mehrere Artikel (vgl. ebd.) und unterhielt mit dem Herausgeber einen ausgiebigen Briefwechsel, der sich in seinem Nachlaß erhalten hat: Nachlaß Schemann, UB Freiburg, 12/1838. In seinem Buch über Lagarde bezeichnete er Fritsch als den „Treuesten der Treuen unter den Jüngern Lagardes“ (2. Aufl. 1920, S. 93). Vgl. auch Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen, S. 359, 432. 353  Wolzogen publizierte zwar selbst in der Antisemitischen Correspondenz (vgl. H.v.W.: „Neue Religion“, Nr. 11 vom März 1887), jedoch mit dem Ziel, sie von ihrem gegen Stoecker gerichteten Kurs abzubringen. In einem Brief an Schemann vom 27.12.1886 warnte er seinen Freund, sich nicht zu stark in dieser Richtung zu engagieren: „Keine große nationale Bewegung ist ohne Religion denkbar, sie verläuft ohne sie im Sande oder bricht sich den Hals. Die deutsche Religion ist aber Christentum, nicht judifizierter theologischer Materialismus, bis zu welchem höchstens der vor Verletzung seiner Modernität bange Antisemit nach der Art der Correspondenz sich zu versteigen wagt. In seiner Deutschheit fühlt er sich fast ebenso verpflichtet, AntiStöckerianer wie Antisemit zu sein, und glaubt damit, mit dem Christentum abgerechnet zu haben … Es regen sich sonst im Antisemitismus so bedeutsame und edle Kräfte, daß mich diese Mischung mit der Irreligiosität erschreckt. Je mehr ich mich davon überzeuge, daß der Antisemitismus die moralischste Bewegung unserer Zeit zu sein berufen ist, um so weniger gefällt mir der Weg, den er einschlägt, und ich finde denn doch noch immer am besten seine Sache bei uns geführt.“ Zit. n. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 248. 354 Schemann, Meine Erinnerungen an Richard Wagner, S. 26. 355 Vgl. Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, S. 177, 182.

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dem Geschäftsführenden Ausschuß als auch dem Gesamtvorstand an.356 Daß in seinem Herzen allerdings nach wie vor Bayreuth an erster Stelle stand, zeigt das umfangreiche Kapitel, das er dieser Stätte in seinen Erinnerungen gewidmet hat.357 Als letzter und jüngster Zugang stieß 1882 der Kunsthistoriker Henry Thode (1857–1920) zum Kreis in Bayreuth. Wie Schemann gehörte auch er zu den Besuchern der ersten beiden Festspiele von 1876 und 1882, und obwohl er der dort vertretenen Jüngergemeinde zunächst skeptisch gegenüberstand, änderte dies doch nichts an seiner Überzeugung, in Wagner eines „der universalsten Genies“ vor sich zu haben, „das die Welt hervorgebracht“.358 Dessen persönliche Bekanntschaft konnte er im Oktober 1882 in Venedig machen, wo er den ‚wohl eindrucksvollsten Tag seines Lebens‘ erlebte.359 Nach einem längeren Aufenthalt in Wahnfried gelang es ihm, sich dort auch persönlich zu verankern, durch die Verlobung mit Wagners Stieftochter Daniela von Bülow und die 1886 erfolgende Heirat.360 Wenn Thode sich in seinem letzten Kolleg über Bayreuth dazu bekannte, „daß alle seine Anschauungen auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften, vorzüglich aber der Kunst und ihrer Geschichte, […] auf die Gedanken des Meisters sich gründeten“361, war dies insofern zunächst nicht unzutreffend, als er sich in seinen Hauptwerken – dem Franz von Assisi von 1885 und dem mehrbändigen Werk über Michelangelo (1902–1912) – vorrangig Gestalten widmete, denen er eine starke Neigung zu fundamentalistischen Positionen in den Feldern der Religion und der Kunst bescheinigte – im ersten Fall bedingt durch die Nähe zu den häretischen Bewegungen des Hoch- und Spätmittelalters, im zweiten Fall durch eine von Thode behauptete Affinität zur Lehre Savonarolas.362 Überzeugend durchgeführt wurde dies jedoch nicht. Thode ließ seine Darstellungen zwar jeweils in

356 Vgl.

Nachlaß Schemann, UB Freiburg, 12/627–628. Schemann, Lebensfahrten eines Deutschen, S. 101 ff. Das Kapitel über Bayreuth ist das längste in diesem Buch, sogar länger als das folgende über Gobineau. 358 Henry Thode an Max Lehrs, Brief vom 20.7.1882. Zit. n. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 108. 359 Vgl. Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Bd. 6, S. 708. 360  Vgl. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 108. Nach seiner Habilitation (1886) sowie einer Interimstätigkeit als Direktor des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt am Main wurde Thode 1893 als Professor für Kunstgeschichte an die Universität Heidelberg berufen, wo er bis 1911 lehrte, übrigens zum Mißvergnügen seines Fakultätskollegen Max Weber, der ihn wegen seiner Neigung zu Pathos und Mystik wenig schätzte: vgl. Max Weber an Willy Hellpach, Brief vom 5.4.1905, in: Max Weber Gesamtausgabe, Bd. II/4, hrsg. von Gangolf Hübinger u. a., Tübingen 2015, S. 452. Zu Person und Werk vgl. Szylin, Henry Thode; Silvia Garinei: Henry Thode und die erste nationalistische Kunstkritik. In der Villa Cargnacco (Vittoriale): Wagner – Dürer – Thoma, in: Immacolata Amodeo und Bettina Vogel-Walter (Hrsg.): Kunst wird Macht. Gabriele d’Annunzio und Richard Wagner, Stuttgart 2020, S. 121–136. 361 Alfred Peltzer, BBl 27, 1904, zit. n. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 111. 362 Vgl. Henry Thode: Franz von Assisi und die Kunst der Renaissance in Italien, Berlin 1885, S. 31 ff., 370 f.; Michelangelo und das Ende der Renaissance, 3 Bde., Bd. 2, Berlin 1903, S. 212. 357 Vgl.

5  Meister und Jünger

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Ausblicke münden, die auf „die gewaltige Entwicklung der deutschen Musik“ verwiesen bzw. sich zum „Glauben an das Ewig- Weibliche“ bekannten und damit auf Wagner anspielten363, vermochte aber nicht darüber hinwegzutäuschen, daß er Tausende von Seiten einer Kunstrichtung widmete, die intra muros bestenfalls als eine Art Vorschule zu Wagner gelten konnte. Wenn er für das Quattrocento den Sieg der Malerei über die Plastik behauptete, die Plastik Michelangelos als den ‚letzten heroischen Akt der christlichen Plastik‘ deutete und im Spätwerk Michelangelos die Malerei und die Mystik die Oberhand über Plastik und Mythos gewinnen sah364, dann war dies eine Auslegung des Wettstreits der Künste, die derjenigen Wagners entgegengesetzt war, gab dieser doch dem Plastiker Michelangelo den Vorrang vor dem Maler und sah überhaupt die Plastik als einzige Kunst an, die neben der Musik nennenswert sei. „Eigentlich gibt es nur zwei Künste, die Plastik und die Musik, letztere unendlich über erstere erhaben, weil sie nichts von der Realität des Lebens entlehnt.“365 Einigkeit bestand immerhin in der Herabsetzung der neueren Malerei, soweit sie französisch war – ein Werturteil, das sich vor allem gegen den als „Sensationismus“ abqualifizierten Impressionismus richtete, dem Thode schlechthin absprach, ‚wahre Kunst‘ zu sein.366 Die Verdammung richtete sich gleichermaßen gegen die z. T. hieran anschließenden deutschen Sezessionisten, den Symbolismus und den Jugendstil und kulminierte in einer Ablehnung der gesamten ‚Moderne‘ als einer gänzlich „unkünstlerische[n]“, in unschlichtbarem Gegensatz zum „deutschen Wesen“ stehenden Richtung.367 Als wahrhaft deutsch dagegen sollten in der Malerei allein Böcklin und Thoma gelten, die über eine „Verdichtung großer Landschaftsstimmungen zu Persönlichem, Figürlichen“ zu den Grundlagen einer „neuen Mythologie“ gelangt seien.368 Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, daß Thode sich ab 1907 für einige Jahre im völkischen Werdandi-Bund engagierte.369 Auf der gleichen Linie lagen die zahlreichen Vorträge, die er über

363 Vgl.

Thode, Franz von Assisi, S. 526; Michelangelo, Bd. 3.2, Berlin 1912, S. 707. Thode, Michelangelo, Bd. 3.1, S. 50, 57; Bd. 3.2, S. 698. 365 CWT 1, S. 810 (Eintrag vom 8.4.1874). Vgl. auch die entsprechenden Urteile über die Malerei und Plastik Michelangelos, die über das Register leicht zu erschließen sind. In der fulminanten Diatribe gegen die deutsche „Michelangeloversessenheit“, die dazu geführt hat, daß nach 1900 mehr als drei Viertel der diesem Künstler gewidmeten Literatur im deutschsprachigen Raum erschienen sind, vermißt man ein Kapitel über Thode. Vgl. Joseph Imorde: Michelangelo Deutsch, Berlin 2009, S. 58, 27. 366 Vgl. Thode, Böcklin und Thoma, S. 102 f. 367 Ebd., S. 108 f. 368 Ebd., S. 130, 124. Zu Böcklin, der am 16.1.1901 gestorben war, vgl. bereits Thodes Nachruf in den BBl 24, 1902, S. 93–104. 369  Thode hielt 1908 die Eröffnungsrede zur ersten Kunstausstellung dieses Bundes, trat allerdings wieder aus, als 1910 im zweiten Band der Werdandi-Bücherei ein Angriff auf Schopenhauer erschien: Hermann Graf Keyserling, Schopenhauer als Verbilder. Vgl. Szylin, Henry Thode, S. 170 ff.; Rolf Parr: Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarischkulturellen Gruppierungen zwischen Vormärz und Weimarer Republik, Berlin 2000, S. 116. 364 Vgl.

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I. Wagner und die Abenteuer des ästhetischen Fundamentalismus

das Verhältnis von Kunst, Religion und Sittlichkeit hielt sowie die Unterstützung, die er Schemann bei der Sicherung des Gobineau-Nachlasses zuteil werden ließ.370 Daß er über all dem Wagner nicht aus den Augen verlor und auch weiterhin dessen zivilisationskritischem Fundamentalismus verpflichtet blieb, zeigt der WagnerVortrag von 1903371 wie auch sein Beitrag zum zweiten Kriegsjahr, in dem er der Wissenschaft, ganz im Sinne des frühen Nietzsche, vorwarf, die Bildung beeinträchtigt zu haben: „In ihrer Selbstherrlichkeit hörte sie nicht mehr auf die Stimmen, durch welche die Natur im Menschen ihre Rechte geltend machte, und verstärkte den verhängnisvollen Einfluß, den die von ihr in jedem Sinne geförderte Technik, in deren Wunderleistungen der Verstand seine kühnsten Triumphe feierte, mit ihrer Knechtung der Naturkräfte auf die Menschheit ausübte. In dem Siegestaumel, in den man durch die beispiellosen äußeren Erfolge der Erfindungen versetzt war, dachte man nicht an die inneren Güter, die aufs Spiel gesetzt und geopfert wurden, an die doch nahe liegende Frage, ob alle diese der Wissenschaft verdankte und vielfach des Denkens selbst sich bemächtigende Mechanisierung der Tätigkeiten dem Menschen statt zum Heile, nicht etwa zum Nachteil ausschlagen könne.“372

370  Vgl. Henry Thode: Kunst, Religion und Kultur, Heidelberg 1901; Kunst und Sittlichkeit, Heidelberg 1906; Schemann, Lebensfahrten eines Deutschen, S. 288. Zur hohen Wertschätzung, die Thode bei Schemann genoß, ungeachtet mancher Differenzen im Hinblick etwa auf die Rolle des Protestantismus, vgl. ebd., S. 192. 371 Vgl. Thode, Wie ist Richard Wagner vom deutschen Volke zu feiern? 372 Henry Thode: Unser bedrohtes Kulturideal und die Frage seiner Zukunft, in: BBl 39, 1916, S. 1–11, 5 f. Zit. n. Szylin, Henry Thode, S. 254.

II. Schattenlinien: Richard Wagner im Spiegel der intellektuellen Rechten

Untersuchungen zur Wirkungsgeschichte Richard Wagners gingen lange von der Annahme aus, mit der Reichsgründung von 1871 habe sich zwischen Staat, Wirtschaft und Wissenschaft einerseits, Kultur und Kunst andererseits eine Kluft geöffnet, die zu einer wachsenden Fremdheit zwischen den Sphären geführt habe.1 In der ästhetischen Kultur habe dies eine ‚Flucht aus der Zeit‘ (Hugo Ball) begünstigt, wie sie exemplarisch in Bayreuth mit seinem „Untergangs- und Götterdämmerungston“ anzutreffen gewesen sei.2 Gesellschaftlich gesehen habe die Kulturidee allenfalls eine „ideologische Funktion“ gehabt, eine „Ersatzbedeutung für ein religiös und politische erregtes, aber zugleich gebrochenes Dasein“.3 Obwohl man dieser Sichtweise immer noch begegnet, hat die neuere Forschung doch andere Akzente gesetzt. Richard Wagner, so der Befund Sven Oliver Müllers, habe „dem Adel, den bürgerlichen Eliten, aber auch dem Kleinbürgertum Mittel an die Hand gegeben, ihre Weltbilder zu bestätigen“, er habe Chiffren bereitgestellt, „nationale Überlegenheit zu kommunizieren, sie intellektuell legitimierbar und emotional erfahrbar zu machen.“4 Daraus könne allerdings gerade auf nicht Einheitlichkeit geschlossen werden. Denn erstens habe Wagner selbst in seinen Schriften „verschiedene Modelle eines Deutschtums“ entworfen, und zweitens seien auch auf Seiten der Rezipienten die Nationsvorstellungen nicht gleichartig, ja derart unterschieden gewesen, „dass strenggenommen stets von Nationalismen die Rede sein müsste.“5 Fügt man hinzu, daß in der zweiten Hälfte

1 Vgl. Otto Westphal: Feinde Bismarcks. Geistige Grundlagen der deutschen Opposition 1848– 1918, München 1930, S. 145; Theodor Schieder: Der Nationalstaat und die Kultur, in: ders., Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Göttingen 1992, S. 64–80, 66 ff. 2 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 749. 3 Helmuth Plessner: Die verspätete Nation, Frankfurt am Main 19883, S. 168. 4 Müller, Richard Wagner und die Deutschen, S. 67. 5 Ebd., S. 69, 68.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Breuer, Wagner, Nietzsche und die deutsche Rechte 1871–1933, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67215-0_3

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II. Schattenlinien: Richard Wagner im Spiegel der intellektuellen Rechten

des 19. Jahrhunderts mit der Kategorie der „Rasse“ eine weitere, mit der Nation potentiell in Spannung stehende Ordnungsvorstellung auftauchte, so wird deutlich, mit welch komplexer Gemengelage jede Rezeptionsgeschichte zu rechnen hat, selbst wenn sie sich, wie die folgende, mit der Rezeption von rechts begnügt. Ich beginne, wie naheliegend, mit dem Wagnerbild des ‚alten‘, oligarchischen Nationalismus und wende mich dann dem ‚völkischen‘ Nationalismus sowie der intermediären Position Houston Stewart Chamberlains zu. Angesichts der Rolle, die der ästhetische Fundamentalismus im Werk Wagners spielt, schien es mir geboten, auch einen Blick auf den Umgang anderer Repräsentanten dieser Richtung mit Wagner zu werfen. Den Abschluß macht eine tour d’horizon durch die Wagner-Rezeption der Weimarer Rechten.

1 Alter Nationalismus Nationalismus ist ein Phänomen, das in verschiedenen Erscheinungsformen aufgetreten ist. Im begrifflichen Minimum bedeutet es, dem Bezug auf die Nation ‚Höchstrelevanz‘ zuzuschreiben, sowohl im Verhältnis zu anderen Nationen, Staaten, politischen Verbänden, als auch zu ökonomischen, sozialen oder religiösen Ordnungskonfigurationen. Dies kann, wie die Geschichte lehrt, mit liberalen, demokratischen oder auch sozialistischen Einstellungen kombiniert werden, aber auch mit der für die politische Rechte typischen Präferenz für die Geltendmachung vorgegebener und als unveränderlich gedachter Ungleichheiten physischer und/oder geistig-seelischer Art, die mindestens ein „Dignitätsübergewicht“, wenn nicht gar eine Dignitatshierarchie legitimieren sollen.6 Vorstellungen dieser Art traten im deutschen Sprachraum verstärkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Anspruch auf eine monopolistische Repräsentation der Nation durch die besitzenden und gebildeten Schichten auf und verbanden sich in der Regel mit weiterer Selektivität in geschlechter- und ethnopolitischer Hinsicht: eine Konstellation, für die es sich mit Blick auf die späteren Lockerungen dieses Anspruchs empfiehlt, von mehr oder weniger oligarchischem bzw. ‚altem‘ Nationalismus’ zu sprechen.7 Getragen und auf Wagner bezogen wurde dieser Nationalismus von bestimmten Segmenten des Besitz- und Bildungsbürgertums. Zwar erfreute sich das Bayreuther Unternehmen allerhöchster Förderung durch etliche gekrönte und nicht gekrönte Mitglieder des Adels, doch galt diese in erster Linie den Festspielen als einem Begegnungsort der ‚feinen Leute‘ (Bourdieu), an dem sich

6  Vgl.

Bernd Estel: Nation und nationale Identität. Versuch einer Rekonstruktion, Wiesbaden 2002, S. 39. 7 Der Typus ist genauer entwickelt in meinem Buch: Die radikale Rechte in Deutschland, S. 11, 19 ff.

1  Alter Nationalismus

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Status repräsentieren ließ.8 Zu den auf eine grundlegende Kulturreform zielenden Ambitionen Bayreuths hielt man jedoch Distanz. Wohl hatte sich im Vorfeld das von Hermann Wagener herausgegebene Staats- und Gesellschafts-Lexikon über die künstlerischen Aspekte des Wagnerschen Werks erstaunlich positiv ausgesprochen, doch wurden die damit verbundenen politischen Aspekte als übereilt und wenig durchdacht beurteilt.9 Ein für den preußischen Konservatismus so wichtiges Theorieorgan wie die Berliner Revue widmete in den 60er und 70er Jahren Wagner keinen einzigen größeren Artikel.10 Kaiser Wilhelm I. und Wilhelm II. besuchten Bayreuth jeweils nur ein einziges Mal – 1876 und 1889 – und weigerten sich überdies beharrlich, das Patronat für die Festspiele zu übernehmen. Und obschon Wilhelm II. nach der Jahrhundertwende die persönliche Bekanntschaft Houston Stewart Chamberlains suchte und mit ihm einen Briefwechsel unterhielt, schloß dies doch keineswegs ein Bekenntnis zu Wagner und dessen Weltbild ein.11 Schon bald nach der Jahrhundertwende ging das kaiserliche Wort durch die Presse: „Wagner liebe ich nicht, er ist mir zu geräuschvoll.“12 Auch bei Wilhelms Standesgenossen war der Enthusiasmus eher auf Ausnahmen beschränkt, die als solche denn auch auffällig geworden sind: etwa bei Prinz Max von Baden, dem letzten Reichskanzler der Hohenzollernmonarchie13, dessen Freund Ernst zu Hohenlohe-Langenburg oder dem unglücklichen Philipp Graf zu Eulenburg, der Anfang 1888 bei seinem damaligen Intimus, dem Kronprinzen und noch im gleichen Jahr gekrönten Kaiser dafür warb, „daß Bayreuth im Sommer und Berlin im Winter die Pflegestätte der deutschnationalen Musik sein“ müsse. Einige Monate zuvor hatte er seinem Tagebuch anvertraut, daß er „das deutsche Element Wagnerscher Musik, verkörpert in den feststehenden Festspielen zu Bayreuth, für eine Kräftigung des nationalen Bewußtseins halte, deren der Deutsche mehr bedarf als andere Nationalitäten.“ Deshalb sei es „nicht nur politisch wichtig, die Festspiele zu erhalten, sondern sie zu fördern bedeutet auch eine deutsche Kultur-Aufgabe.“14

8 Vgl.

Gebhardt und Zingerle, Pilgerfahrt ins Ich, S. 77 ff. [o. V.]: Wagner, Richard, in: Staats- und Gesellschafts-Lexikon, hrsg. von Hermann Wagener, Bd. 21, Berlin 1866, S. 30–32; Oliver Cnyrim: Aspekte eines konservativen Weltbilds. Hermann Wageners Staats- und Gesellschaftslexikon (1858/59–1867), Ludwigshafen 2005, S. 292. 10 Vgl. Adalbert Hahn: Die Berliner Revue. Ein Beitrag zur Geschichte der konservativen Partei zwischen 1855 und 1875, Berlin 1934. 11 Vgl. Lamar Cecil: Wilhelm II., Bd. 2: Emperor and Exile, 1900–1941, Chapel Hill etc. 1996, S. 46 f. 12 Arthur Seidl: Vom kaiserlichen Wagner-Enthusiasmus, in: Der Kunstwart 18.3, 1902, S. 135. 13  Vgl. Lothar Machtan: Der Endzeitkanzler. Prinz Max von Baden und der Untergang des Kaiserreichs, Darmstadt 2018, S. 65, 92 f., 132; Karina Urbach und Bernd Buchner: Prinz Max von Baden und Houston Stewart Chamberlain. Aus dem Briefwechsel 1909–1919, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 52, 2004, S. 121–177. 14 Zit. n. Hartmut Zelinsky: Kaiser Wilhelm II. und die Werk-Idee Richard Wagners, in: John C. G. Röhl (Hrsg.), Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte, München 1991, S. 297–356, 309. 9  Vgl.

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II. Schattenlinien: Richard Wagner im Spiegel der intellektuellen Rechten

Vom wichtigsten Träger dieses nationalen Bewußtseins, dem besitzenden und gebildeten Bürgertum, kamen ebenfalls nicht nur Signale der Zustimmung. Prominente Wortführer des alten Nationalismus aus diesen Reihen, wie z. B. der Berliner Historiker Heinrich von Treitschke, teilten mit Wagner wohl das eigentümliche Nationsverständnis, das mit Blick auf die Kunst auf Inklusion, mit Blick auf die Politik dagegen auf Exklusion, insbesondere der Frauen, der Arbeiter und der Juden setzte, hielten aber Abstand zur Bayreuther Idee. Unter seiner Ägide brachten die Preußischen Jahrbücher ganze drei Artikel über Wagner15, von denen zwei aus der Feder Julian Schmidts stammten, der sich schon in den Grenzboten als Wagner-Kritiker profiliert hatte und sich bald darauf erneut das Mißfallen Cosima Wagners zuzog.16 Fachgenossen Treitschkes wie Johann Gustav Droysen oder Heinrich von Sybel pflegten Wagner in ihren Schriften zu ignorieren, obwohl gerade der erstere eine wichtige Quelle für Wagners Auffassung des griechischen Theaters und des Gesamtkunstwerks war.17 Ein in den Gründerjahren so viel gelesener, später politisch den Alldeutschen nahestehender Philosoph wie Eduard von Hartmann vertrat zwar gegenüber den polnischen und jüdischen Staatsbürgern eine Exklusionspolitik von nicht geringerer Härte als Wagner, bezog sich dabei aber nicht auf diesen und stand auch dessen künstlerischem Werk durchaus distanziert gegenüber, schien es ihm doch bei allen Verdiensten um die „Vereinigung von musikalischer Bedeutsamkeit und höchster dramatischer Ausdrucksfähigkeit“ aufgrund der Beseitigung des Chors, des Bruchs mit der Arienform und der Übertreibung der Leitmotivik durch das „Übergewicht einer reflexionsmäßigen Kompositionstechnik“ beeinträchtigt zu sein, „welche in dem Raffinement ihrer verstandesmäßigen Dialektik nur zu leicht Gefahr läuft, in Künstelei und Spielerei auszuarten.“18 Unter seinen Schülern fanden sich zwar Wagner-Enthusiasten wie Arthur Drews, aber auch solche wie Leopold Ziegler, der (von Wagner her gesehen) vom Paulus zum Saulus wurde.19

15 In

den Bänden 38 (1876), 50 (1882) und 51 (1883). Zu Schmidt vgl. auch die Einträge in CWT 1, S. 414 (16.7.1871); CWT 2, S. 63 (18.3.1878). In den Grenzboten hielten sich später kritische und zustimmende Äußerungen die Waage. Vgl. etwa Hermann Kretzschmar: Richard Wagners Parsifal, in: Die Grenzboten 41, 1882 (III), S. 485–505; [o.V.]: Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. Richard Wagner und die Aufregung, ebd. 46, 1887 (II), S. 526–529; Carl Fuchs: Schopenhauer und Richard Wagner, ebd. 49, 1890 (II), S. 461–471; 501–510. 16 Vgl. CWT 1, S. 414 (Eintrag vom 16.7.1871). 17 Vgl. Arno Forchert: Droysen und Wagner. Zum Konzept des musikalischen Dramas, in: Josef Kuckertz u. a. (Hrsg.), Neue Musik und Tradition. FS Rudolph Hermann zum 65. Geburtstag, Laaber 1990, S. 251–257. 18  Eduard von Hartmann: Philosophie des Schönen [1887]. Mit Benutzung des handschriftl. Nachlasses Eduard von Hartmanns neu hrsg. von Richard Müller-Freienfels, Berlin 1924, S. 790 f. Die Abneigung war wechselseitig, wie verschiedenen Tagebucheinträgen Cosima Wagners zu entnehmen ist (CWT 1, 192, 623, 643, 803). 19  Vgl. Arthur Drews: Richard Wagners ‚Ring des Nibelungen‘ in seinen Beziehungen zur modernen Philosophie, Leipzig 1898; Leopold Ziegler: Die Weltanschauung Richard Wagners und ihr Verhältnis zu Schopenhauers Metaphysik [1902], in: ders., Gesammelte Aufsätze I,

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Dem standen jedoch nicht wenige Stimmen gegenüber, die in Wagners Werk die begleitenden Fanfarenstöße zum 1871 erfolgten Einigungswerk sahen. Für den Novellisten Franz Merloff, von dem heute nicht einmal mehr die Lebensdaten bekannt sind, zeugte Wagners Werkentwicklung für die Bewegung vom Kosmopolitischen zum Germanischen, für die namentlich im Ring vollbrachte „Wiedergeburt des deutschen Nationaldramas“, die sich so recht zu dem Augenblick fügte, „wo Alldeutschland einig und treu um das deutsche Banner geschaart die Früchte des glorreichsten Sieges geniesst.“20 Ob diese Annahme allerdings mehr einschloß als ein Dignitätsübergewicht, ist dem Text nicht zu entnehmen, ebenso wenig wie einigen Kommentaren, die im Reichsgründungsjahrzehnt aus Deutschösterreich zu vernehmen waren. Für den Wiener Historiker und Sohn eines zum Katholizismus übergetretenen Juden Adalbert Horawitz (1840–1888) waren die Wagnerschen Musikdramen schlicht „Motoren der Begeisterung für die nationale Idee“ und der Komponist selbst „Einer der Bannerträger der Nation im Kampfe für die hehrsten Ideen, für die Idee des Vaterlandes, der echten Kunst, für die Idee der Menschenveredlung und Menschenbeglückung!“, welche allerdings für das Judentum nur cum grano salis gelten sollten.21 Für den Architekten und Stadtplaner Camillo Sitte (1843–1903), damals Direktor der Salzburger Staatsgewerbeschule und ein enger Freund Hans Richters, war Wagner durch seinen Brückenschlag zwischen dem als passiv und vorindustriell gedeuteten „Volk“ und einer Erlösung gewährenden Kunst zugleich konservativ und revolutionär22, womit er eine Formel prägte, die zwar nicht wesentlich bestimmungsreicher war als die zuvor genannten, jedoch bald darauf von Bernhard Förster aufgegriffen wurde, um insbesondere in der Weimarer Republik, und dann zumeist ohne Bezug auf Wagner, Karriere zu machen.23 Deutlicher in Richtung Dignitätsübergewicht wiesen in den 80er Jahren die Interventionen von Friedrich von Hausegger (1837–1899) und Max Koch

1901–1916, hrsg. von Renate Vonessen. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd. 6, Würzburg 2007, S. 61–68; Die Tyrannis des Gesamtkunstwerks [1910/11], ebd., S. 147–176, 167 ff. (mit bemerkenswerten Einsichten in den hohen Preis, den bei Wagner die Musik aufgrund ihrer Verbindung mit der Bühne sowie der Unterordnung des Klangs unter den verbal prozessierten Sinn zu entrichten hat). 20 Franz Merloff: Richard Wagner und das Deutschthum, München 1873, S. 13. 21 Adalbert Horawitz: Richard Wagner und die nationale Idee, Wien 1874, S. 27, 47. Näher zur Person die Beiträge von Malou Löffelhardt und Werner Hanak-Lettner, in: Heer u. a. (Hrsg.), Richard Wagner in Wien, S. 182, 188, 249 ff. 22  Camillo Sitte: Richard Wagner und die deutsche Kunst, Wien 1875, S. 28. Vgl. Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München 1984, S. 64 ff.; Michael Mönninger: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes, Wiesbaden 1998, S. 81 ff. 23 Vgl. Förster, Richard Wagner als Begründer eines deutschen Nationalstils, S. 113. Auf Förster bin ich an anderer Stelle ausführlicher eingegangen. Vgl. Die Völkischen in Deutschland, S. 38 ff.

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(1855–1931). Hausegger, einer der ‚zentralen Wagner-Netzwerker in Graz‘24, sah Wagners Leistung darin, die in der Nation „schlummernden Ideenkeime zur Entfaltung, die entfalteten zur organischen Fortbildung gebracht“ zu haben und „seinem Schaffen eine das innere Wesen erfassende Triebkraft zu verleihen“, die in der Musik als dem „eigentümlichste[n] Ausfluß germanischen Geistes“ ihren Ausdruck gefunden habe. Einzigartig und unverwechselbar, könne diese „Offenbarung des deutschen Wesens, aus seinem innersten Empfindungsleben heraus“ gleichwohl den Anspruch erheben „Träger einer großen Sendung für die Menschheit“ zu sein.25 Der in Marburg und Breslau lehrende Literaturhistoriker Max Koch fand im Werk Wagners den Wunsch Friedrich Theodor Vischers nach einer Musik erfüllt, aus der dem Deutschen „das Moment des Heroischen in der besonderen Bestimmung des Vaterländischen“ entgegentöne und sich mit der neu gewonnenen politischen Machtstellung der Nation verbinde.26 Wagners Kunst sei „die überall gesuchte neue nationale Kunst“, Bayreuth „eine Nationalbühne, wie Deutschland niemals etwas ähnliches gehabt“ habe. Allerdings verkörpere sie nur erst für das Ausland „den Triumph deutscher Kunst der sich den deutschen Siegen des Jahres 1870 anreiht“. Wie schon Schiller habe Wagner die Tatsache unterschätzt, daß die Wirkung der Kunst von einem gewissen Bildungsgrad abhänge, woraus sich zumindest für eine gewisse Zeit sowohl ein Bildungsauftrag wie auch ein Repräsentationsmonopol derjenigen ergab, bei denen sich das klassische Ideal „mit dem lebendigsten, bis zur Schroffheit gesteigerten Vaterlandsgefühle“ verband.27 Der hierin noch erkennbare Bezug auf Schillers Ideen zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts verlor sich in den Beiträgen Michael Georg Conrads (1846–1927) und Arthur Seidls (1863–1928). Verband Conrad (der übrigens zu den Mitherausgebern der Reihe gehörte, in der das Werk Kochs erschien) in seinen ersten Beiträgen in der von ihm gegründeten Zeitschrift Die Gesellschaft noch das als die „größte Kunstthat des Jahrhunderts“ gefeierte Werk Wagners mit allerlei Erwartungen an das von Wilhelm II. propagierte ‚soziale

24 Vgl.

dazu Oliver Rathkolb: Graz als ‚Epizentrum‘ des Wagnerismus, in: Heer u. a. (Hrsg.), Richard Wagner in Wien, S. 221–234, 226 ff. 25  Friedrich von Hausegger: Richard Wagners nationale Bedeutung, in: Der Kunstwart 1, 1887/88, 10. Stück, S. 121–125, 121 f., 123. Von diesem Autor bereits: Richard Wagner und Schopenhauer. Eine Darlegung der philosophischen Anschauungen R. Wagners an der Hand seiner Werke, Leipzig 1878. Auch für den Kunstwart gilt, was oben für die Grenzboten gesagt wurde. In seinem freilich sehr knapp gehaltenen Überblick über den Umgang mit Wagner in diesem Blatt schreibt Gerhard Kratzsch (Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen 1969, S. 248): „Man sang des ‚Meisters‘ Lob vom ersten Tage des Kunstwarts an […] Aber überzeugt vom Entwicklungsgedanken, bestimmt vom historischen Bewußtsein und geübt, psychologisch und soziologisch Personen und Gruppen zu beurteilen, distanzierte man sich von einem Fanatismus der WagnerVerehrung, dessen Kennzeichen gerade die Blindheit für Entwicklung und Wandel ist.“ Das gilt besonders für die zahlreichen Beiträge Richard Batkas (1868–1922). 26 Max Koch: Was kann das deutsche Volk von Richard Wagner lernen? Berlin 1888, S. 25, 37. 27 Ebd., S. 38, 41, 45.

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Kaisertum‘28, so hinderte ihn dies doch nicht, über den „Fluch des Parlamentarismus“ zu klagen und nach einer „wahrhaften Geistesaristokratie“ zu verlangen, welche berufen sei, „in der Litteratur, Kunst und öffentlichen Lebensgestaltung (!) die oberste Führung zu übernehmen, wenn es den Völkern deutscher Zunge gelingen soll, als Vorarbeiter und Muster menschlicher Kultur sich in Geltung zu erhalten“, mehr noch: „weltbeherrschend“ zu werden.29 Schon 1882 hatte er sich dazu Rückendeckung durch einen Besuch der ersten Parsifal-Aufführungen in Bayreuth geholt, bei dem er dem Meister „persönlich durch Liszt in Villa Wahnfried“ vorgestellt worden war.30 Dem schlossen sich in der Folge zahllose Evoës auf Wagner an, die Conrad nicht nur unter eigenem Namen, sondern auch unter Pseudonymen wie Fritz Hammer, Erich Stahl, Hans Frank u. a. in der Gesellschaft erschallen ließ. Mit Recht konnte er sich 1891 gegen den von Richard Sternfeld in der Neuen Zeitschrift für Musik erhobenen Vorwurf mangelnder Wagnertreue mit dem Hinweis verwahren, „daß fast in jedem Jahrgange dieser Zeitschrift begeisterte Wagner-Artikel von Conrad“ stünden, der „schärfer zu Felde gezogen [sei], als irgend ein anderer deutscher Publizist!“31 Welches Motiv ihn dabei leitete, verdeutlichte er 1906 mit einer Frage, die keine war: „Die Frage ist: Wollen wir Deutsche als neugeborenes Volk mit Wagners Geist und Kunst und ehernem Willen die Führerschaft haben in der Welt und die sittlichen Grundsätze unserer völkischen Repräsentanten durchsetzen …? […] Kürzeste Formel: Für oder gegen Bayreuth? Ein Mittleres gibt es nicht. Heilig bleibe uns des Meisters Wille und Werk: Bayreuth!“32 Wie Conrad es freilich fertigbrachte, Wagner zum Bundesgenossen des literarischen Naturalismus zu erklären33, ist ebenso sein Geheimnis geblieben wie die Verbindung mit einer Nietzsche-Idolatrie, die diesen zum „geistig und künstlerisch höchststehenden deutschen Schriftsteller[s] und Denker[s] in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts“ erhob und darin auch den

28 Vgl.

Michael Georg Conrad: Deutschlands junger Kaiser und seine Friedenspolitik, in: Die Gesellschaft 4.2, 1888, S. 721–725, 724. Näher zu dieser Zeitschrift: Strieder, „Die Gesellschaft“; Michel Durand: La revue Die Gesellschaft face aux incertitudes de l’ère wilhelmienne, in: Michel Grunewald und Uwe Puschner (Hrsg.), Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich, Bern etc. 2010, S. 179–194. 29  Michael Georg Conrad: Zwischenakts-Politik, in: Die Gesellschaft 3.1, 1887, S. 159–161, 159; Zur Einführung, in: Die Gesellschaft 1, 1885, S. 2. Vgl. auch die Wiederholung dieser Zielsetzung in: Siebenter Jahrgang! Ebd. 7.1, 1891, S. 1–4, 2; Strieder, „Die Gesellschaft“, S. 41 f. mit weiteren Belegen. 30 C[onrad]: Kritik, in: Die Gesellschaft 7.1, 1891, S. 438. 31 Ebd. 32 Michael Georg Conrad: Wagners Geist und Kunst in Bayreuth, München 1906, S. 99. Vgl. auch seinen Bericht über einen Besuch der Festspiele von 1882: Bayreuther Erinnerungen, in: Praktischer Wegweiser für Bayreuther Festspielbesucher 1909, S. 170 ff. (auch in Zelinsky, Richard Wagner – ein deutsches Thema, S. 114 f.). 33 Vgl. Michael Georg Conrad: Der Krieg ist der Friede. Ein Redaktions-Stimmungsbild statt des Vorworts, in: Die Gesellschaft 3.1, 1887, S. 1–8,5 f.

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späteren, wagnerkritischen Nietzsche einschloß.34 Wie leicht diese Verbindung zu Lasten Wagners ausschlagen konnte, zeigt das Beispiel seines Nachfolgers in der Leitung der Gesellschaft, Arthur Seidl, der nach anfänglicher Begeisterung für die Bayreuther Idee die Gewichte noch stärker in Richtung eines nietzscheanischen Neoaristokratismus verschob und damit die Skepsis Ludwig Schemanns bestätigte, der von Anfang an in ihm einen Apostaten gewittert hatte.35 Klarer fielen dagegen die Versuche, das Werk Wagners mit den Zielen des alten Nationalismus zu verbinden, in der Publizistik des Alldeutschen Verbandes aus. Noch eher in Richtung Dignitätsübergewicht lagen die Arbeiten von Karl Lamprecht (1856–1915), einem der bekanntesten, aber auch umstrittensten Historiker des Kaiserreichs, der gegen den Protest nicht minder prominenter Zunft- und Verbandskollegen wie Georg von Below für eine stärkere Berücksichtigung der Kulturgeschichte eintrat.36 Daß dabei dem Werk Wagners gleich

34 Michael

Georg Conrad: An unsere Leser und Freunde, in: Die Gesellschaft 5.2, 1889, S. 918; vgl. Strieder, „Die Gesellschaft“, S. 133. 35 Vgl. Ludwig Schemann: Die Bayreuther und der Antisemitismus (Zur Abwehr), in: DeutschSoziale Blätter 7, 1892, Nr. 224 vom 27.11., S. 570–572. Zu Seidls anfänglicher Wagneridolatrie vgl. seine Beiträge: R. Wagners ‚Parsifal‘ und Schopenhauers ‚Nirvana‘, in: BBl 11, 1888, H. 9, S. 277–306; Jesus der Arier – Christenthum oder Buddhismus? Eine religionsphilosophische Neujahrs-Betrachtung über „Undogmatisches Christenthum“, in: BBl 13, 1890, H. 1/2., S. 45–65. Elf Jahre später distanzierte er sich in einem Bericht über die Bayreuther Festspiele von 1901, der noch im gleichen Jahr in der Gesellschaft, ein Jahr später in erweiterter Fassung in seinem Buch Kunst und Kultur erschien, von den „Gesellschafts-Wagnermenschen“ mit ihrem „Herdenbewußtsein“ und wandte dies gegen Wagner selbst (vgl. Arthur Seidl: Kunst und Kultur. Aus der Zeit – für die Zeit – wider die Zeit! Berlin und Leipzig 1902, S. 441–486). Dessen großer Trugschluß sei es gewesen, daß er immer wieder die hohe Kunst „versozialisieren zu sollen glaubte“. Popularisierung aber führe immer zum Pöbel herab und sei außerstande, die misera plebs „hinan zu ziehen“. Wagner sei zeit seines Lebens von dieser berauschenden, im Kern kommunistischen Utopie nie losgekommen. „Wogegen Nietzsche nicht nur der Erste wieder war, der sie als eine solche klar erkannte und eben dieses unhaltbar schönen Traumes wegen dann von ihm abfiel, als er das ‚Publikum‘ der ‚Patrone‘ zu Bayreuth erst näher kennen lernte; sondern, der auch die Grundlagen zu einer neuen aristokratischen Auffassung der Kunst wie des Lebens wieder schuf, die fortan gar nicht aus dem Auge wieder verloren werden kann“ (Kunst und Kultur, S. 475 f.). Im Lichte dieser Bestimmung sei heute auch Wagner zu deuten, zumal, wie es an anderer Stelle hieß, sein Parsifal. Dieser bedeute „wohl oder übel nun einmal die Esoterik; Esoterik aber heißt, so wie die Welt schon beschaffen, stets Minorität“ oder, noch einmal anders: „sozial-aristokratische Auslese“ (Arthur Seidl: Vom und zum „Parsifal“-Bund, in: Die Gesellschaft 18.3, 1902, S. 270–274, 273; „Wiederkehr des Gleichen?“, ebd. 17.2, 1901, S. 1–5, 4). Deren Kriterium aber bestand letztlich in nichts anderem als in der Fähigkeit, sich den Aufenthalt in Bayreuth und die hohen Eintrittspreise leisten zu können (Kunst und Kultur, S. 476). 36  Vgl. Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971. Dort S. 257 eine Auflistung der wichtigsten Beiträge zu dem um 1896/97 geführten ersten Historikerstreit. Zu Person und Werk vgl. Roger Chickering, Karl Lamprecht. A German Academic Life; Karl Lamprecht. Das Leben eines deutschen Historikers (1856–1915), Stuttgart 2021; Luise Schorn-Schütte, Karl Lamprecht; Jonas Flöter (Hrsg.): Karl Lamprecht (1856–1915). Durchbruch in der Geschichtswissenschaft, Leipzig 2015.

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in dreifacher Hinsicht eine zentrale Bedeutung zukomme – für die moderne Tonkunst, die moderne Kunst insgesamt und darüber hinaus für die deutsche Nation, die auf beiden Gebieten führend sei – war der Leitgedanke eines Ergänzungsbandes, mit dem Lamprecht kurz nach der Jahrhundertwende sein Großprojekt einer Deutschen Geschichte bis zur ‚jüngsten deutschen Vergangenheit‘ vorantrieb.37 Standen darin Urzeit und Mittelalter im Zeichen des symbolischen, typischen, konventionellen Seelenlebens, die Frühe Neuzeit in demjenigen des individuellen Seelenlebens und die neueste Zeit in dem des Subjektivismus, so präsentierte Lamprecht die unmittelbare Gegenwart als „Periode der Reizsamkeit“ bzw. „Nervosität“.38 Was er darunter verstand, deckte sich in vielem mit dem, was von Paul Bourget 1883 unter dem Begriff der „Décadence“ gefaßt und bald darauf von Nietzsche und Hermann Bahr weiter ausgearbeitet worden war39, erhielt jedoch im Unterschied zu der eher auf Alarm gestimmten Sichtweise seiner Vorgänger eine neue, überraschend optimistische Wendung.40 Lamprecht konstatierte eine enorme „Erweiterung des ästhetischen Empfindungsvermögens“, eine „bisher unbekannte Feinheit der Nüancierung“41, eine Erhöhung der Reizbarkeit und Aufnahmefähigkeit, die ganz neue Dimensionen der Produktion und Rezeption in der Kunst eröffne: „Heute steht es fest: es ist eine erhöhte Aufnahmefähigkeit der Nerven für musikalische Eindrücke nach ihrer Abschattierung wie nach ihrem Zusammenklang und ihrer Aufeinanderfolge gewonnen, das Feld der zur Vorstellung gelangenden Nervenreize ist also nach Seiten hin erweitert, die bis dahin unangebaut lagen: tausend neue Empfindungsnüancen vor allem, und namentlich wieder Nüancen im Gebiet des Schwebend-Ätherischen, Geheimnisvollen, Ahnungsreichen, Nervös-Schmerzlichen sind uns zugänglich geworden. Hierin liegen die Haupttrümpfe der neuen Kunst.“42

Vorbereitet durch die späteren Werke Beethovens, weiter vorangebracht durch Liszt und „kleinere“ wie Peter Cornelius, sei die neue Musik durch Wagner in einer Weise begründet worden, die ihn als „die repräsentative Persönlichkeit der Anfänge der reizsamen Periode überhaupt“ erscheinen lasse.43 Wohl eigne seiner „symphonische[n] Dichtung“ im Vergleich mit den rein symphonischen

37  Vgl.

Karl Lamprecht: Deutsche Geschichte. Zwölf Bände und zwei unvollständige Bände, Berlin, Freiburg 1891 ff.; darin insbes. der erste Ergänzungsband: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit: Tonkunst – Bildende Kunst – Dichtung – Weltanschauung, Freiburg 1902. 38 Lamprecht, Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, S. VIII, 36. 39 Vgl. Paul Bourget: Essais de psychologie contemporaine, Paris 1883, S. 23 ff.; Joelle Stoupy: Maître de l’heure. Die Rezeption Paul Bourgets in der deutschsprachigen Literatur um 1890. Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Leopold von Andrian, Heinrich Mann, Thomas Mann und Friedrich Nietzsche, Frankfurt am Main 1996; Dieter Kafitz: Decadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2004. 40 So zu Recht Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München und Wien 1998, S. 266 f. 41 Lamprecht, Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, S. 30. 42 Ebd., S. 32. 43 Ebd., S. 41.

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Schöpfungen etwas „Springendes, Nervöses, Abbrechendes“, doch würden die membra disiecta durch die Leitmotive sowie durch Mittel wie die rhetorische Ellipse und die Synästhesie (Lamprecht spricht von ‚Synopse‘) zu einem Gewebe gestaltet, das sich durch Einheit und Ganzheit auszeichne.44 Der Wagner nachgesagte Pessimismus finde sich vor allem in den Werken der ersten Periode wie dem Fliegenden Holländer. In der zweiten Periode helle er sich auf: „aus dem Pessimismus von ‚Tristan und Isolde‘ und des ‚Nibelungenrings‘ erheben sich die ‚Meistersinger‘ zur Bejahung des Willens zum Leben, und im ‚Parsifal‘ folgt auf die Bejahung des Willens die That.“45 Damit aber wachse der Musik bzw. dem von ihr getragenen Gesamtkunstwerk eine neue, grundlegende Rolle zu, sei ihr doch zuzutrauen, eine „Wandlung und Erhöhung der Menschenseele“ herbeizuführen, aus der „eine neue, höhere Form“ der Religion hervorgehen könne.46 Eben dies mache das Werk Wagners „zu einer der wichtigsten – wenn nicht geradezu zur wichtigsten – Einleitungserscheinung der Periode der Reizsamkeit“.47 Lamprecht gehörte seit Anfang der 90er Jahre zum Alldeutschen Verband (ADV) und nahm in dessen stärkster Ortsgruppe in Leipzig eine führende Rolle ein.48 Die zunehmende Radikalisierung, die dieser Verband ab 1903 unter dem Einfluß von Heinrich Claß erfuhr, ließ ihn jedoch auf Distanz gehen, was sich unter anderem an seiner Verbindung zu pazifistischen Kreisen ablesen läßt.49 Zu einem liberalen Demokraten, wie Luise Schorn-Schütte meint50, machte ihn dies gleichwohl nicht. Dem stand nicht nur seine von Schorn-Schütte selbst notierte Ablehnung einer Parlamentarisierung nach westeuropäischem Muster entgegen, sondern auch sein Einsatz für eine deutsche ‚Weltpolitik‘, auch wenn diese mehr im Sinne eines ‚ethischen Imperialismus‘ bzw. ‚Kulturimperialismus‘ ausgerichtet sein sollte.51 Zu Beginn des Ersten Weltkrieges gehörte er zwar nicht zum annexionistischen Lager, machte aber aus seiner Überzeugung keinen Hehl, „daß einmal die Deutschen bestimmt seien, die Welt vorwärts zu reißen zu allem, was edel und gut ist“.52 Es sei „subjektiv anerkannt und objektiv erwiesen, daß wir des Höchsten in dieser Welt fähig, daß wir zur Weltherrschaft mindestens mit berufen

44 Ebd.,

S. 42 f., 62. S. 50. 46 Ebd., S. 51. 47 Ebd., S. 62. 48 Vgl. Hans-Thomas Krause: Karl Lamprecht und der Alldeutsche Verband, in: Gerald Diesener (Hrsg.), Karl Lamprecht weiterdenken. Universal- und Kulturgeschichte heute, Leipzig 1993, S. 182–206, 183, 191 f.; Chickering, Karl Lamprecht, S. 85 ff., 398 ff. Auch im Ostmarkenverein und im Flottenverein war Lamprecht vertreten: vgl. ebd., S. 400. 49  Vgl. Krause, Karl Lamprecht und der Alldeutsche Verband, S. 195 f.; Chickering, Karl Lamprecht, S. 409 ff. 50 Vgl. Schorn-Schütte, Karl Lamprecht, S. 153. 51 Vgl. ebd., S. 217, 269 ff. 52 Karl Lamprecht: Krieg und Kultur. Drei vaterländische Vorträge, Leipzig 1914, S. 15. 45 Ebd.,

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erachtet werden.“53 Die „Zeit der Nervosität“, wie sie in den 80er und 90er Jahren bestanden habe, hielt er nunmehr für überwunden zugunsten eines neuen Idealismus, unter dessen Vertretern der Name Richard Wagner nicht mehr auftauchte.54 Daß Lamprechts Vorstellungen noch überbietbar waren, zeigte sich nach der Jahrhundertwende, als zunehmend radikalere Kreise im ADV den Ton angaben.55 Auch bei ihnen erfreute sich Richard Wagner vielfach eines hohen Ansehens, wie dies etwa für den Verbandsvorsitzenden ab 1908, Heinrich Claß, oder für Theodor Reismann-Grone, Mitbegründer des ADV und langjähriges Mitglied der Hauptleitung, bezeugt ist.56 Otto Bonhard, Schriftleiter der Alldeutschen Blätter, feierte in seiner Geschichte dieses Verbandes Wagner als den bedeutendsten deutschen Tonkünstler, in dessen Werk „Dichtung und Tonsatz zu einer einzigen Kundgebung seines Deutschtums und deutschen Wesens“ verschmölzen und zugleich einen Anspruch auf Weltherrschaft anmeldeten. Es sei fesselnd zu sehen, wie er schon 1848 nach deutschen Kolonien verlangt und dabei die spanische Kolonisationsart ebenso verworfen habe wie die englische: „Von der öden Gleichmacherei der Sozialdemokratie hält sich sein politisches Glaubensbekenntnis gleich fern, wie von der undeutschen parlamentarischen Demokratie. Das Deutschsein ist ihm schließlich alles und der ‚Bayreuther Gedanke‘ ist ganz der künstlerischen Erziehung zum deutschen Volkstum gewidmet. In den ‚Meistersingern‘ und dem ‚Ring‘ hat er demgemäß seinem Volke auch seine deutschesten Gaben beschert. Sie sind in ihrer Art Bahnbrecher des nationalen Gedankens. Das wird man, je länger, desto mehr erkennen und auch in unsern Kreisen danken.“57

Das galt so uneingeschränkt ausgerechnet für den lange Zeit wohl entschiedensten Wagnerianer des Verbandes, Ludwig Schemann, nicht mehr, der 1904 zum Geschäftsführenden Ausschuß und ein Jahr später auch zum Gesamtvorstand des ADV gehörte.58 In seinen 1925 veröffentlichten Erinnerungen pries er den „Meister von Bayreuth“ zwar immer noch als einen „der großen Offenbarer deutschen Geistes“, ja als den ‚größten lebenden Menschen der Erde’ neben Bismarck.59 In diese Würdigung aber mischten sich nun deutlich kritischere Töne, gegen Schopenhauer, wegen dessen „Fernhalten von allem Nationalen“, gegen Wagner

53 Karl

Lamprecht: Geistige Mobilmachung, in: Neue Zeitschrift für Musik 81, 1914, S. 481 f. Krieg und Kultur, S. 19. 55 Vgl. Roger Chickering: ‚We Men Who Feeel Most German‘. A Cultural Study of the PanGerman League, 1886–1914, London etc. 1984, S. 50. 56  Vgl. Leicht, Heinrich Claß, S. 314; Stefan Frech: Wegbereiter Hitlers? Theodor ReismannGrone. Biographie eines völkischen Nationalisten (1863–1949), Paderborn etc. 2009, S. 67, 250. 57 Otto Bonhard: Geschichte des Alldeutschen Verbandes, Leipzig und Berlin 1920, S. 161 f. 58  Vgl. Alldeutsche Blätter 14, 1904, Nr. 9 vom 27.4.; 15, 1905, Nr. 51 vom 23.12., Nachl. Schemann, UB Freiburg, 12/627–628. Von Herbst 1913 bis Herbst 1918 leitete Schemann außerdem die Freiburger Ortsgruppe des ADV, in enger Zusammenarbeit mit dem Historiker Georg von Below. Vgl. Schemann, Lebensfahrten eines Deutschen, S. 350 f. 59 Schemann, Lebensfahrten eines Deutschen, S. XIV, 112. 54 Lamprecht,

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selbst, dem ein „dämonische[r] Zug‘ bescheinigt wurde, wie auch eine allzu einseitige Begrenzung auf die Machtsphäre der Kunst60, vor allem aber gegen dessen Anhänger in Bayreuth, von Heinrich von Stein über Glasenapp und Chamberlain bis hin zu Wolzogen. Galt ihm der erstere als „weltenfremde[r] Wolkenwandler“, der zweite als „Wagner-Fanatiker“, der dritte als Gegner in Sachen Gobineau, so selbst der letztgenannte, mit ihm freundschaftlich am meisten verbundene, als zu dogmatisch und ‚Wagnerozentrisch‘.61 Habe er, Schemann, sich „einst mit Stolz und Freude, zeitweise mit einer Art inneren Jubels“ als „Bayreuther“ verstanden, so sei es ihm mittlerweile unmöglich geworden, sich ohne Einschränkung weiterhin in diesem Sinne zu bekennen.62 Als Ursache hierfür nannte er neben unterschiedlichen Werturteilen auf dem Gebiet der Musik vor allem seinen zunehmenden Abstand von den fundamentalistischen Zügen, wie sie sowohl beim Meister als auch bei einigen Jüngern unverkennbar waren. Zwar erschienen ihm Wissenschaft und Technik nach wie vor als bedenkliche Erscheinungen, deren Resultate eine „Schändung und Verstümmelung der Natur“ und die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen seien, zwar waren ihm Großindustrie und Großstadt weiterhin zu groß gewordene Erscheinungen.63 Heute jedoch befinde man sich längst am point of no return: „Wir können die Großstädte nicht wieder in den Boden und die Millionen zu viel, die sie bewohnen, nicht ins Meer versenken, wir können die Maschine nicht unerfunden und Marx nicht ungeboren machen.“64 Wenn daher Heinrich von Stein vorwiegend an Wagners Spätschriften anknüpfe, die vor allem die Regenerationsidee in den Vordergrund stellten, so sei dies eine Auslegung, an die er, Schemann, nicht glauben könne und der er allenfalls symbolische Bedeutung zuzusprechen bereit sei.65 Zumal der „sogenannte vierte Stand“ – zur damaligen Zeit bereits mehr als die Hälfte der Bevölkerung – sei ein „Negativsammelsurium“, „so gründlich verdorben“, daß mit ihm derzeit und auf mittlere Sicht kein Staat zu machen sei: „Ja, noch mehr: nur wenn wir den Teil von ihnen, der ganz unmittelbar als der Krankheitsstoff in unserem Blutkreislaufe zu bezeichnen ist, teils aufsaugen, teils abstoßen, können wir überhaupt als Volk am Leben bleiben. Wohin wir die vielen faulen, selbstsüchtigen Schädlinge wünschen, sprechen wir am liebsten nicht aus, wie es auch am schwersten fällt, zu sagen, was mit ihnen werden soll. Von der Hauptmasse aber kann uns nur eine Siedlungsbewegung großen Stils, einschließlich Auswanderung in die uns noch offen-

60 Ebd.,

S. 59, 124; vgl. S. 116 ff. ebd., S. 186, 176, 190 f., 161. 62 Ebd., S. 147. 63 Ebd., S. 395, 361; vgl. ders.: Von deutscher Zukunft. Gedanken Eines, der auszog, das Hoffen zu lernen, Leipzig 1920, S. 58 ff., 113. 64 Schemann, Lebensfahrten eines Deutschen, S. 397. 65  Vgl. ebd., S. 179. „Wagner“, hieß es an anderer Stelle, „hat sich einst in seinen kühnsten Augenblicken dessen vermessen, mit seiner Kunst eine Regeneration der Menschheit anzubahnen: das war zu hoch gegriffen, selbst wenn wir unter den Menschen in diesem Falle nur seine Menschen verstehen“ (S. 223). 61 Vgl.

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stehenden Weltteile – selbst in die uns verschlossenen wird der Deutsche, wie einstens sein griechischer Vetter, sich immer zu ‚infiltrieren‘ wissen – befreien.“66

Angesichts seines schon früh bezeugten Antisemitismus liegt auf der Hand, wer mit dem „Krankheitsstoff“ gemeint war. Lag diese innerstaatliche Feinderklärung wie auch die dafür ins Auge gefaßte Lösung noch durchaus auf der Linie Wagners, so läßt sich dies für den zweiten, auf eine „Siedlungsbewegung großen Stils“ zielenden Vorschlag, nicht mehr behaupten, war beim späten Wagner doch die Auswanderung explizit mit dem Regenerationsgedanken verbunden, während sie bei Schemann mehr nach Schadstoffentsorgung klingt. Mag Wagner wohl eher das Vorbild der Mormonen vor Augen gestanden haben, wenn er von einer „Rettung“ durch „Verpflanzung“ des als „noch lebensvoll und zeugungskräftig“ erachteten Kerns sprach67, so ging es Schemann vor allem darum, überzählige und potentiell schädliche Volksteile los zu werden. „Erst wenn wir weiter verstädterten, würde der Teufel und Juda uns ganz und gar geholt haben.“68 Sich selbst stufte er zu dieser Zeit als „konservativ“ ein.69 Im Parteienspektrum suchte er dabei allerdings nicht die Nähe zu den Deutschkonservativen, sondern zur kleineren Schwesterpartei, der Reichs- und freikonservativen Partei, die bei den letzten Reichstagswahlen von 1912 nur mehr 3 % der Stimmen und 12 Mandate für sich verbuchen konnte, nachdem sie 1878 noch bei 13,6 % und 57 Mandaten gelegen hatte.70 Nicht viel erfolgreicher war ihr Auftreten in Freiburg, Schemanns Wohnsitz seit 1897, wo die Partei ein bürgerlicher Honoratiorenverein war und bei den Wahlen von 1912 lediglich eine Zählkandidatur betrieb.71 Aus der Einschätzung, daß selbst diese „nach meinem Empfinden reinst vaterländische Gruppe […] in deren letzter Zeit angefressen“ sei und, wie „die Gesamtmasse unserer neuen Rechten nicht den Mut gefunden [habe], sich vom Judentum so kategorisch loszusagen, wie es einzig noch frommen kann“72, zog Schemann nach dem Krieg

66 Schemann, Von

deutscher Zukunft, S. 126 f. Religion und Kunst, DS 10, S. 170. Daß ihm dieses Beispiel nicht unbekannt war, geht aus einem Gespräch mit Newell Sill Jenkins hervor: vgl. dessen „Recollections of Villa Wahnfried from Wagner’s American Dentist“, in: Thomas S. Grey (Hrsg.), Richard Wagner and His World, Princeton und Oxford 2009, S. 237–250, 241. 68 Schemann, Von deutscher Zukunft, S. 127. 69 Vgl. ebd., S. 96 ff. Vgl. zum Folgenden auch Köck, „Die Geschichte hat immer recht“, der Schemann an der ‚Schnittstelle zwischen Völkischen und Konservativen‘ plaziert (S. 184) und zu Recht darauf verweist, daß dieser Autor „dem bürgerlichen Lager nie völlig entfremdet“ wurde (S. 206). 70 Vgl. Dieter Fricke: Reichs- und freikonservative Partei, in: ders. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 3, S. 745–772, 745 f. 71  Vgl. Matthias Alexander: Die Freikonservative Partei 1890–1918. Gemäßigter Konservatismus in der konstitutionellen Monarchie, Düsseldorf 2000, S. 113. Nach eigenen Angaben hat Schemann schon im Februar 1913 vor der Freiburger Ortsgruppe dieser Partei einen Vortrag gehalten, in dem er wesentliche Partien seines Buches von 1920 vorstellte: vgl. Schemann, Von deutscher Zukunft, S. 85. 72 Schemann, Von deutscher Zukunft, S. 111. 67 Wagner,

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den Schluß, einzig die Verbindung dieser Partei mit den Alldeutschen und dem Bund der Landwirte zu einem „Nationalkonservatismus“ biete noch Aussicht auf Rettung.73 In diese Allianz schloß er auch den größeren Teil des antisemitischen Lagers ein, das er zehn Jahre zuvor in seinem Überblick über die deutsche Gobineau-Rezeption zu den zukunftsträchtigen Elementen gerechnet hatte, um es 1919/20 noch einmal den Konservativen als Bündnispartner zu empfehlen.74 Schemann verstand sich freilich viel zu sehr als ideologischer Unternehmer, um es dabei zu belassen. Noch im Kaiserreich erkannte er die Notwendigkeit, Brücken zur jüngeren, nach der Reichsgründungsära geborenen Generation zu bauen, und hier vorzugsweise zu denjenigen, die sich entschieden von Schopenhauers Pessimismus abwendeten, ohne deshalb auch mit Wagner zu brechen. Das traf insbesondere auf Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925) zu, der in seinen Schriften seit 1904 daran arbeitete, den alten Nationalismus in Richtung eines ‚neuen‘, über das Besitz- und Bildungsbürgertum hinausgreifenden Nationalismus zu erweitern, welcher freilich erst Jahre später festere Konturen gewann.75 Seine bis 1910 auf acht Bände anwachsende Reihe über Die Deutschen wurde jedenfalls von Schemann in zwei Rezensionen noch für den alten Nationalismus reklamiert, und dies im Hammer, einem Organ des völkischen Nationalismus, in dessen Redaktion deshalb einige Widerstände zu überwinden waren.76 Weitere, überaus lobende Texte, die auch Moellers Nachfolgewerk über Die italienische Schönheit einbezogen, folgten einige Jahre später in dem ebenfalls zum völkischen Lager gehörenden Deutschen Volkswart sowie in der Politisch-anthropologischen Monatsschrift77, woran sich 1925 in Schemanns Erinnerungen eine erneute Würdigung anschloß, die mit Attributen wie „genial“, „großartig“ und „himmelstrebend“ ebenso wenig sparte wie mit Bekundungen des Entdeckerstolzes. Schemann verschwieg nicht, daß ihn von diesem „weitaus moderneren Denker“

73 Ebd.,

S. 101. Ludwig Schemann: Gobineaus Rassenwerk. Aktenstücke und Betrachtungen zur Geschichte und Kritik des Essai sur l’inégalité des races humaines, Stuttgart 1910, S. 248 ff.; Über die Bedeutung der Rasse für die konservative Weltanschauung, in: Die Tradition. Wochenschrift für preußische Politik und monarchische Staatsauffassung 1, 1919/20, H. 24, S. 737–750. 75 Darauf bin ich an anderer Stelle näher eingegangen. Vgl. Arthur Moeller van den Bruck. Politischer Publizist und Organisator des Neuen Nationalismus in Kaiserreich und Republik, in: Gangolf Hübinger und Thomas Hertfelder (Hrsg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart und München 2000, S. 138–151, 327–331. 76 Vgl. Ludwig Schemann: Ein neuer Herold des Deutschtums, in: Hammer 7, 1908, H. 140; Möller van den Bruck: Die Deutschen, ebd. 10, 1911, H. 210. Wie dankbar Moeller hierfür angesichts der geringen Resonanz auf seine Bücher war, zeigen seine Briefe aus dieser Zeit an Schemann, später veröffentlicht in: Deutschlands Erneuerung 18, 1934, H. 6, S. 321–327; H. 7, S. 396–398. Zu den Meinungsverschiedenheiten mit dem Herausgeber vgl. Ein Briefwechsel zwischen Theodor Fritsch und Ludwig Schemann, in: Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Hammer, Leipzig 1926, S. 82–90. 77 Vgl. Ludwig Schemann: Arthur Moeller van den Bruck, in: Deutscher Volkswart 1, 1913/14, H. 7, S. 272–275; Moeller van den Bruck. Die italienische Schönheit, in: Politisch-anthropologische Monatsschrift 13, 1915/15, Nr. 3, S. 165–168. 74  Vgl.

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mancherlei trennte – er nannte Moellers Enthusiasmus für Nietzsche, hätte aber mit größerem Recht das Verhältnis zu Wissenschaft, Technik und Industrie anführen können, das bei dem späteren Wortführer des ‚neuen Nationalismus‘ uneingeschränkt positiv ausfiel-, zeigte sich aber nichtsdestoweniger tief beeindruckt von diesem „Feuergeist“ und seinen gewaltigen Plänen.78 Man geht nicht fehl, wenn man einen Hauptgrund für diese Würdigung in Moellers Bereitschaft sieht, Wagner den ihm (aus Schemanns Sicht immer noch) gebührenden Platz in der Ahnengalerie der deutschen Rechten zuzuweisen – Nietzsche hin oder her.79 Wagner erschien dort in einiger Verzerrung der Fakten als der große Überwinder Schopenhauers, dessen pessimistische Lehre ein einziger Verrat an den „Urgrundlagen des deutschen Denkens“ gewesen sei.80 Wagner habe wohl „den Gedanken Schopenhauers von einer ständigen Vernichtung und einem fortwährenden Niedergang der Menschheit“ angenommen, jedoch nur, um ihn sogleich umzuwenden: „in den Glauben und in die Zuversicht, daß es trotzdem für die Menschheit eine Erlösung, und zwar eine Erlösung auf Erden, in der Wirklichkeit und damit in der Bejahung, gab, und daß es die Kunst war, die diese Erlösung bringen konnte.“81 Daß sich Erlösungsgedanke und Weltbejahung streng genommen ausschlossen, war für Moeller kein Anlaß für weiteres Nachdenken, statt dessen häufte er weiteres Lob auf Wagner, weil dieser wie kein anderer im 19. Jahrhundert den deutschen Drang zur Einheit repräsentiert habe: „Das Nationale Wagners war die Größe Wagners. Im Nationalen lag der lebendige Untergrund seiner ganzen Natur. Er sagte selbst einmal, er sei ‚spezifisch germanisch auf die Welt gekommen‘. Seine frühe Liebe zu Weber, dem ‚deutschesten Musiker‘, wies schon auf diesen an- und eingeborenen Nationalismus. Und später, sobald aus dem Gefühl Bewußtsein, aus dem tiefen, sicheren Instinkt ein festes, klares Kunstprinzip bei ihm geworden war, nahm Wagner als Mensch und Persönlichkeit wie als Schöpfer und Bildner dann von diesem Nationalismus seine beste Kraft. Von ihm aus kam er dazu, sich mitten in Paris gegen Paris zu wehren, sich zu empören gegen Meyerbeer, Auber, Rossini und die Herrschaft der Großen Oper, der Ausstattung und des Balletts. […] Und wiederum von seinem Nationalismus aus, der da war wie die Zentrale und das Rückgrat des ganzen Menschen, nahm er vor allem den Blick für seine eigenen, unsere deutschen Stoffe, mit denen er dann, ein gewaltiger Neuerer, sein auf Rasse, Mythe und Religion gegründetes Drama dem bloß auf Spektakelsucht gegründeten französischen gegenüberstellte. Es war der Gedanke an einen deutschen Stil, der ihn leitete, als er den Wagnerstil schuf.“82

78 Vgl.

Schemann, Lebensfahrten eines Deutschen, S. 330 ff. Reverenz vor Nietzsche wurde für Schemann immerhin dadurch ausgeglichen, daß sie mit einem Seitenhieb gegen seinen Rivalen in Bayreuth endete: Chamberlain, hieß es an anderer Stelle, sei der Beweis, „daß man der große Deuter unserer Vergangenheit sein kann, ohne den größten Künder unserer Zukunft, und damit diese selbst, auch nur im Geiste zu grüßen.“ Moeller van den Bruck: Die Zeitgenossen. Die Geister – Die Menschen, Minden 1906, S. 121. 80 Moeller van den Bruck: Die Deutschen, Bd. 5: Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 252. Vgl. Volker Weiß: Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus, Paderborn etc. 2012, S. 51 f. 81 Moeller van den Bruck: Die Deutschen, Bd. 5, S. 255. 82 Ebd., S. 256 f. 79 Moellers

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II. Schattenlinien: Richard Wagner im Spiegel der intellektuellen Rechten

Dieser Eloge folgte allerdings sogleich die Einschränkung. Im Gegensatz zu Goethe, der Deutschlands „zentrales Genie“ gewesen sei, weil er beide Seiten des deutschen Wesens zu entfalten vermocht habe – die naiv-vitale, sinnlich-heidnische ebenso wie die ideologisch-problematische, christliche-, habe Wagner ausschließlich die letztere entwickelt und sich dabei nicht selten in den „Lyrismus hysterisch zersetzten, romantisch übertriebenen Prärafaelitentums“ verloren.83 Vollends verfehlt sei seine Botschaft, durch bewußtes Leiden zur Willensaufhebung und dadurch zur Befreiung zu gelangen, liege doch die Bestimmung des modernen Menschen „gerade umgekehrt“ in der „äußersten Willenssteigerung“.84 Das war nicht unbedingt ein Verdikt über den Parsifal, dem Moeller immerhin eine „tiefernst erprobte[n] Naivität der Heiligkeit“ bescheinigte. An seinen Präferenzen innerhalb des Wagnerschen Œuvres ließ er jedoch keinen Zweifel. Das „Weihespiel unserer Geistigkeit“ könne man sich anders denken als im Parsifal. Ein „echtes Weihespiel unserer Heldenhaftigkeit“ habe man dagegen im Ring, und hier besonders in der Siegfriedgestalt, in der Wagner „wirklich die Heldengestalt des jungen Germanen geschaffen [habe], der das Fürchten nicht lernen kann.“85 In ihr könnten auch die modernen Menschen das Höchste sehen: „die Kraft zum äußersten Handeln, wenn es sein muß, gewiß auch die Kraft zum Leiden, aber im Ziel doch immer die Kraft zur Tat, die freie Selbstverfügung und das klare Freiheitsbewußtsein.“86 Und da dies im modernen Drama von niemandem deutlicher ausgesprochen worden sei als von Gerhart Hauptmann, deutete sich an, wo möglicherweise die Zukunft lag: „in der Verschmelzung Richard Wagners und Gerhart Hauptmanns, als den beiden, die zum letzten und mächtigsten Nationaldrama vordrangen!“87 Denkbar, daß Hauptmann sich von dieser Perspektive geschmeichelt gefühlt hätte. Wagner dagegen hätte wohl einmal mehr seine Auswanderungspläne hervorgeholt.

2 Deutsch oder undeutsch? Die Völkischen im Streit über Wagner Unter den Versuchen, das Werk Wagners einer bestimmten Weltanschauung zuzuordnen, erfreut sich der Rekurs auf das ‚völkische‘ Denken besonderer Beliebtheit. Das war schon im Kaiserreich so, als der Verfasser eines Entwurfs zur Begründung eines „deutsch-sozialen Programms“ Wagners Kunstwerke in den Rang einer ideal

83 Ebd.,

S. 264 f. S. 269. 85 Ebd., S. 265. 86 Ebd., S. 269. 87 Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, S. 308. 84 Ebd.,

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verklärten Darstellung echt deutschen Wesens erhob88, und wurde knapp vierzig Jahre später im Hammer mit der Feststellung bekräftigt, Richard Wagner sei ein „Vorkämpfer der völkischen Gedankenwelt“ gewesen.89 Noch kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs feierte Winifred Wagner den „völkisch bedingten Schöpferwillen“ ihres Schwiegervaters, der in den Meistersingern seinen unsterblichen Ausdruck gefunden habe und „im gegenwärtigen Ringen der abendländischen Kulturwelt mit dem destruktiven Geist des plutokratisch-bolschewistischen Weltkomplotts unseren Soldaten die unüberwindliche Kampfkraft und den fanatischen Glauben an den Sieg unserer Waffen“ verleihe.90 Nach 1945 änderten sich die politischen Präferenzen drastisch, doch auch unter diesem neuen Vorzeichen erscheint es vielfach evident, daß Wagner ein ‚völkischer Magus‘ (Gardell) gewesen sei, mehr noch: als „Stammvater völkischer Ideologie“ (Ottmann) zu gelten habe, als „Kopf und Integrationsfigur des zunächst als ein Geheimbund angelegten völkisch-reformerischen Zusammenschlusses“ (Mittmann).91 Das Problem, das in dieser Zuordnung steckt, hat Thomas Nipperdey, wenn nicht bewältigt, so doch zutreffend angedeutet, als er dem weithin üblichen Verständnis von ‚völkisch‘ – „‚Völkisch‘, das hieß, daß die blutsmäßige, die rassische Herkunft die Deutschen definierte“ – sogleich die Aussage folgen ließ, eine derartige „Einfärbung des Weltanschauungsspektrums und die Gewöhnung an den Umgang mit solchen Kategorien, auch wenn man sie nicht übernahm“, reiche „durchaus weiter als der engere Zirkel der ‚völkischen‘ Kreise der neuen Rechten vor 1914.“92 Um diese Problematik zu vermeiden, die in nicht wenigen Darstellungen dazu führt, große Partien der deutschen Ideengeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert, wenn nicht gar diese insgesamt, als ‚völkisch‘ zu qualifizieren, habe ich an anderer Stelle vorgeschlagen, den Schwerpunkt der Definition

88  Vgl.

[o.  V.]: Zur Begründung unsres deutsch-sozialen Programms, in: Antisemitische Correspondenz 4, 1889, Nr. 55. 89 Vgl. Fritz Stumm: Richard Wagner als Vorkämpfer der völkischen Gedankenwelt, in: Hammer 27, 1928, Nr. 625, S. 323–32. Vgl. auch die kurz zuvor erschienene Dissertation von Elisabeth Bünemann: Richard Wagner und der völkische Gedanke, Tübingen 1927. 90 Zit. n. Jens Malte Fischer: Wagner-Interpretation im Dritten Reich. Musik und Szene zwischen Politisierung und Kunstanspruch, in: Friedländer und Rüsen (Hrsg.), Richard Wagner im Dritten Reich, S. 142–164, 146 f. 91 Vgl. Mattias Gardell: Gods of Blood. The Pagan Revival and White Separatism, Durham und London 2003, S. 20; Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 100; Mittmann, Vom „Günstling“ zum „Urfeind“ der Juden, S. 46. Ähnliche Urteile bei Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 2; Wolfgang Altgeld: Wagner, der ‚Bayreuther Kreis‘ und die Entwicklung des völkischen Denkens, in: Ulrich Müller (Hrsg.), Richard Wagner 1883–1983. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 35–64; Andrea Mork: Richard Wagner als politischer Schriftsteller. Weltanschauung und Wirkungsgeschichte, Frankfurt am Main und New York 1990, S. 105; Hein, ‚Es ist viel Hitler in Wagner‘, S. 103; Thomas Rohkrämer: A Single Communal Faith? The German Right from Conservatism to National Socialism, New York und Oxford 2007, S. 97. 92 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 305.

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von ohnehin notorisch unscharfen Begriffen wie ‚Rasse‘ bzw. ‚Rassismus‘ auf die besondere Stellung zum Prozeß der Modernisierung zu verlagern und diese genauer als eine solche zu bestimmen, die jenen Prozeß soweit bejaht, wie er sich auf ‚einfache Modernisierung‘ beschränkt, ihn aber ablehnt und dies mit nationalistischen Stereotypen untermauert, sobald er sich im Sinne der ‚reflexiven Modernisierung‘ erweitert.93 Eben diese intermediäre Position zwischen (ganz wertfrei zu verstehenden) ‚progressiven‘ und ‚fundamentalistischen‘ Einstellungen scheint mir auch eine Erklärung für die aus der Perspektive konventioneller Deutungen entweder gar nicht erst wahrgenommenen oder als sekundär beiseitegeschobenen Differenzen zu bieten, die für die Wagnerrezeption der Völkischen charakteristisch war. Das kann hier nur an einigen Beispielen gezeigt werden. Bei dem Aufsehen, das Wagner 1869 mit der Wiederveröffentlichung seines Pamphlets über Das Judentum in der Musik erregte94, nimmt es nicht Wunder, daß er sich bald von tatsächlichen oder vermeintlichen Gesinnungsgenossen in Anspruch genommen sah, die mindestens den Schulterschluß auf ideeller Ebene einforderten, oft aber auch darüber hinausgehend politische oder materielle Unterstützung verlangten. Ersteres galt bspw. für Otto Glagau (1834–1892), der 1874/75 mit einer zwölfteiligen Artikelserie über den „Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin“ Aufsehen erregte, die in der vielgelesenen Gartenlaube erschien und zunächst indirekt, dann immer offener einen Zusammenhang zwischen den Profiteuren dieses Schwindels, dem Liberalismus und den Juden herstellte.95 1878 wiederholte er seine Attacke in einer kürzer gefaßten Broschüre, die in den Schlußpassagen in der Behauptung kuliminierte: „Das Judenthum ist das angewandte, bis zum Extrem durchgeführte Manchesterthum.“96 Wagner, dem er diese Schrift zuschickte, äußerte sich zustimmend und nahm sie zum Anlaß für allerlei Räsonnements über die Herrschaft der ‚schwarz-rot-goldnen Internationale‘.97 Eine weitere Sendung wurde ebenso kritiklos aufgenommen wie der 1880 von Glagau gegründete Kulturkämpfer, für den fortan in den Bayreuther Blättern geworben wurde.98 Im Gegenzug wurde von Glagau das Bayreuther Unternehmen freundlich, wenn auch nicht allzu tiefgehend begleitet und gegen die Angriffe der „Semitisirten Presse“ in Schutz genommen.99

93 Vgl.

ausführlicher meine Studie: Die Völkischen in Deutschland. Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, S. 112 ff. 95 Vgl. Daniela Weiland: Otto Glagau und „Der Kulturkämpfer“. Zur Entstehung des modernen Antisemitismus im frühen Kaiserreich, Berlin 2004, S. 49 ff. Die Gartenlaube-Artikel erschienen kurz darauf in einer erheblich erweiterten zweibändigen Buchfassung. Vgl. Otto Glagau: Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. Gesammelte und stark vermehrte Artikel der „Gartenlaube“, Leipzig 1876 und 1877. 96 Otto Glagau: Der Bankerott des Nationalliberalismus und die „Reaction“, Berlin 1878, S. 71. 97 Vgl. CWT 2, S. 155, 157 (Einträge vom 6. und 11.8.1878). 98 Vgl. CWT 2, S. 674 (Eintrag vom 24.1.1881); Veltzke, Vom Patron zum Paladin, S. 253 f. 99 Vgl. [o. V.]: Der Kulturkämpfer 5, 1882, S. 1–16; 11, 1885, S. 271–273; 7, 1883, S. 430–438. 94 Vgl.

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Schon etwas aufdringlicher empfand man in Bayreuth die Aktivitäten Bernhard Försters (1843–1889), der seit Anfang der 80er Jahre als Mitbegründer des Berliner Wagnervereins mit Vorträgen hervortrat.100 An dem ersten Beitrag, den er bei den Bayreuther Blättern einreichte, bemängelte Wagner eine zu dezidierte Stellungnahme gegen Judentum und Christentum und erreichte deren Streichung; kurz darauf verweigerte er die ihm angetragene Unterschrift unter die von Förster und anderen initiierte ‚Petition des deutschen Volkes über die Judenfrage‘, die auf Aufhebung der Emanzipation zielte.101 Bessere Karten hatte Förster dagegen bei Wolzogen, den er so zu beeindrucken vermochte, daß er in den folgenden Jahren bis zu seiner oben erwähnten Auswanderung nach Paraguay mehr als ein Dutzend größerer und kleinerer Beiträge in den Bayreuther Blättern unterbringen konnte.102 Sein auch für ihn persönlich desaströs verlaufendes Kolonisationsprojekt feierte Wolzogen noch 1888 als das „grossartigste Beispiel der Bayreuther Arbeit“.103 Beschränkte Förster sich auf den Wunsch nach publizistischer und politischer Unterstützung, so gingen andere Exponenten der völkisch-antisemitischen Szene deutlich weiter. Im Mai 1873 empfing man in Bayreuth „mehrere vortreffliche Aufsätze ‚Die semitische und die germanische Rasse im neuen deutschen Reich‘“ aus der Feder von Ottomar Beta (1845–1913).104 Der Bitte, eine ausgearbeitete Fassung Wagner widmen zu dürfen, folgte wenige Wochen später eine weitere nach einem Darlehen von 20.000 Talern.105 Das Ansinnen wurde abschlägig beschieden, doch zeigte sich Wagner von Betas Ausführungen immerhin so beeindruckt, daß er dem Verfasser drei Tage später von der „grossen Theilnahme“ berichtete, mit der er sie gelesen habe. „Sie ziehen hervor und führen aus, was ich bisher vergeblich in dieser Weise in Buchform vollbracht zu sehen wünschte.“ Die ihm angetragene Widmung wies er nicht zurück, riet Beta

100  Vgl.

Förster, Richard Wagner als Begründer eines deutschen Nationalstils; Parsifal-Nachklänge. Allerhand Gedanken über deutsche Cultur, Wissenschaft, Kunst, Gesellschaft von Mehreren empfunden, Leipzig 1883. 101  Vgl. CWT 2, S. 564 (Eintrag vom 6.7.1880); Hannu Salmi: Die Sucht nach dem „germanischen Ideal“. Bernhard Förster als Wegbereiter des Wagnerianismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 6, 1994, S. 485–496; Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen, S. 194 ff. 102 Vgl. die Auflistung in Hein, ‚Es ist viel Hitler in Wagner‘, S. 220 f. 103 Wolzogen, Wagneriana, S. 260. 104 Vgl. CWT 1, S. 683 (Eintrag vom 15.5.1873). Der Autor selbst führt diese heute nicht mehr zu ermittelnde Artikelserie unter dem Titel „Die jüdische und germanische Rasse im neuen deutschen Reich“ an: vgl. Ottomar Beta, Deutschlands Verjüngung. Zur Theorie und Geschichte der Reform des Boden- und Creditrechts, Berlin 1901, S. 308. Zu Person und Werk dieses überaus rührigen Publizisten vgl. Gregor Hufenreuther: Beta, Ottomar, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 2, Berlin 2009, S. 76–77. 105 Vgl. CWT 1, S. 698 (Eintrag vom 24.6.1873).

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aber, sie besser an Bismarck zu richten (was dann auch geschah).106 Der Text blieb ungedruckt, doch gingen wesentliche Inhalte etwas später in die ebenfalls Bismarck gewidmete Schrift Darwin, Deutschland und die Juden ein, die ihrerseits den Weg nach Bayreuth fand.107 Daß sie, wie Beta später meinte, vor allem der Wiederherstellung des religiösen Friedens dienen sollte, wird man allerdings kaum einem Text abnehmen, der die „Vernichtung des deutschen Volks, die Corruption der germanischen Race“ zum bewußten oder unbewußten Ziel des vereinigten Jesuitismus und Judaismus erklärte.108 Cosima Wagner erklärte das Machwerk zwar für „stillos“ und „schlecht geschrieben“, bescheinigte ihm aber, „merkwürdige Blicke in das heutige Wesen der Dinge“ zu enthalten.109 Wagners Weigerung, mehr für ihn zu tun, hinterließ bei Beta einen Stachel. 1889 bekannte er, in Bayreuth gewesen zu sein und den Ring „wie ein römisches Seelenbad“ genossen zu haben, was angesichts seiner Einstellung gegenüber allem römischen Wesen nicht gerade ein Kompliment war. Zugleich fügte er hinzu, der „einseitige[n] Musikcultus“ wirke auf die „centraleuropäische Bourgeoisie“ lähmend und einschläfernd und lasse den „Character derselben entarten“. Man tue deshalb gut daran, sich einmal mehr an das „Vorbild Albions“ zu erinnern, das dem „Hyperästheticismus“ den Kampf angesagt habe und „dem Training, dem Feldsport, wieder erhöhte Pflege“ widme.110 Das hinderte Beta nach der Jahrhundertwende nicht, seine Texte den Bayreuther Blättern anzubieten, die diese auch bereitwillig publizierten, obwohl (oder weil) der Verfasser seit 1902 zu den Hauptautoren des Hammer gehörte.111 Von Wagner abgelehnt wurde 1879 auch der Vorschlag Wilhelm Marrs (1819– 1904), ihm gegen eine Beteiligung am Bruttoertrag die Verlagsrechte an Wagners Judentum in der Musik zu überlassen.112 Dabei kannte man sich schon länger, war

106 Beta,

Deutschlands Verjüngung, S. 313 f.; vgl. auch Richard Wagner an Ottomar Beta, Brief vom 18.5.1873, in: BBl 26, 1903, S. 89. 107 Vgl. Beta, Deutschlands Verjüngung, S. 325. Der reichlich barock gehaltene Titel lautete in vollem Umfang: Darwin, Deutschland und die Juden oder der Juda-Jesuitismus. Dreiundreißig Thesen nebst einer Nachschrift über einen vergessenen Factor der Volkswirthschaft. Sr. Durchlaucht dem Fürsten Bismarck in Ehrfurcht gewidmet von Ottomar Beta, Berlin 1875. 108 Beta, Darwin, Deutschland und die Juden, S. 20. 109 CWT 1, S. 954 (Eintrag vom 21./22.12. 1875). 110 Ottomar Beta: Die Greuel der „Französischen Revolution“, ihre Naturgeschichte und Pathologie der Gegenwart, Berlin 1889, S. 152 f. 111  Vgl. Ottomar Beta: Die Ursachen der geistigen Wohnungsnoth in Deutschland (Einiges über ‚Bodenreform‘ und Kultur), in: BBl 26, 1903, S. 90–121; „Deutschlands Verjüngung“. Die Anlässe zur Abfassung meines Buches, in: BBl 29, 1906, S. 81–99; Fass und Volk der Danaiden (Beitrag zur Bodenreform), in: BBl 32, 1909, S. 60–69; Ergänzung zu Frl. F. Baeumer „Die soziale Idee in den Weltanschauungen des neunzehnten Jahrhunderts“, in: BBl 34, 1911, S. 59–70. 112 Vgl. Veltzke, Vom Patron zum Paladin, S. 245.

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Marr doch ein Altersgenosse Wagners, der mit diesem das Engagement in der jungdeutschen Bewegung der 40er Jahre wie auch die ausgeprägte Judenfeindschaft teilte und ihn ab 1870 mit Huldigungsadressen und eigenen Schriften eindeckte.113 1876 hatte Marr, durch den Erwerb eines ganzen Patronatsscheins in Höhe von 300 Talern als Gemeindemitglied ausgewiesen114, in der Gartenlaube einen dreiteiligen enthusiastischen Artikel über die ersten Bayreuther Festspiele veröffentlicht, in dem er sich zu den „bestaccreditirten Verehrern des Meisters“ rechnete, in anbiederndem Ton von „Freund Wagner“ sprach und doch zugleich Distanz zu den „Fanatikern“ bekundete, „die in Bayreuth bereits das Bethlehem der neuen Kunstreligion bejubeln“. Es sei fraglich, ob man „dieser großartigen Erscheinung bereits die nationale Bürgerkrone geben“ könne, „denn wir (!) stehen bis jetzt noch sehr vereinzelt da, und die Geschichte macht keine Riesensprünge.“115 In Wahnfried las man die von Marr zugesandten Schriften, in denen die Judenfrage zur „Racenfrage“ erklärt wurde116, wohl mit Zustimmung, enthielten sie doch „Ansichten […], die, ach! R.’s Meinung sehr nahe stehen“, doch wurde eine nähere Befassung mit ihnen vertagt, da der Meister gerade mit der Partitur von Parsifal beschäftigt war und von Politik vorerst nichts hören wollte.117 An der 1879 in Berlin gegründeten Antisemitenliga, an der Marr, wenn auch nicht an führender Stelle, beteiligt war118, nahm man in Bayreuth keinen Anteil, obschon das Unternehmen, auch und gerade in der (von Marr allerdings durchaus taktisch motivierten) Hervorkehrung eines christlich begründeten Antijudaismus, manche

113  Vgl. CWT 1, S. 251, 321, 369 (Einträge vom 28.6. und 8.12.1870, 13.3.1871); CWT 2, S. 309, 312 (Einträge vom 27.2. und 3.3. 1879). 114 Vgl. Veltzke, Vom Patron zum Paladin, S. 242. 115 Vgl. Wilhelm Marr: Bayreuther Festtagebuch, in: Die Gartenlaube 24, 1876, H. 34, Nr. 1, S. 568–571; H. 35, Nr. 2, S. 584–586; H. 37, Nr. 3, S. 619–622 (hier S. 584 f., 622). Zu Person und Werk vgl. Zimmermann, Wilhelm Marr (über Wagner: S. 75 u. ö.). Vgl. auch Uwe Puschner: Marr, Wilhelm, NDB 16, 1990, S. 247–249. 116 Wilhelm Marr: Der Judenkrieg, seine Fehler und wie er zu organisieren ist, Chemnitz 1880, S. 3. Seinen Rassismus mag Marr in Mittelamerika ausgebildet haben, wo er in den 50er Jahren eine Zeitlang als Kaufmann tätig war – auch in diesem Beruf so erfolglos wie in allen anderen. Vgl. seinen Bericht: Reise nach Central-Amerika [1863], Hamburg 18702, Bd. 1, S. 118 ff., 168 f., 256, 294, 300; Bd. 2, S. 254 u. ö. 117 Vgl. CWT 2, S. 309, 385 (Einträge vom 27.2. und 21.7.1879). Zu diesen Ansichten gehörte die Forderung nach Aufhebung der Emanzipation (vgl. Wilhelm Marr: Der Gesellschaftsvertrag mit dem Judenthum, in: Die Deutsche Wacht. Monatsschrift für nationale Kulturinteressen 1, 1879, H. 2, S. 59–70; H. 3, S. 113–122, 114 ff.) wie auch die Polemik gegen einen Liberalismus, der es nicht nur zulasse, sondern nachgerade fördere, daß „der Landbau von einer ungesunden Großindustrie, noch mehr aber von der jüdischen Finanz- und Börsenwirthschaft in den Hintergrund gedrängt“ werde: Wilhelm Marr: Der Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum, Berlin 1880, S. 37. 118 Vgl. Zimmermann, Wilhelm Marr, S. 90 ff.

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Schnittmengen mit den aktuellen Gedankengängen Wagners aufwies.119 Von Marrs späterer Entwicklung, die über das Zwischenstadium eines ‚arischen Sozialismus‘ ab 1891 zu einer Abkehr von der antisemitischen Bewegung und einer Rückkehr zu seinen jungdeutschen Anfängen führte, scheint man dort keine Kenntnis mehr genommen zu haben.120 Seit 1884 stand Marr in Briefwechsel mit Theodor Fritsch (1852–1933), einem Newcomer der völkisch-antisemitischen Szene, der ihm Publikationsmöglichkeiten in der von ihm gegründeten Antisemitischen Correspondenz bot und ihn zur Mitarbeit am Antisemiten-Katechismus (1. Aufl. 1887) heranzog. Das Verhältnis verschlechterte sich jedoch rasch, weil sich Fritsch, obwohl eher zu Dühring und damit zum antireligiösen Antisemitismus neigend121, als ‚Bewegungsunternehmer‘ verstand, der schon aus geschäftlichen Gründen daran interessiert war, ein möglichst breites Publikum anzusprechen und sich dabei an Marrs allzu enger Ausrichtung stieß, namentlich an seinem immer wieder durchbrechenden Pessimismus.122 Die Intention auf Breite zeigte sich auch im Verhältnis zu Bayreuth. So zögerte Fritsch Anfang 1887 trotz seiner Gegnerschaft zu Stoecker nicht, Bernhard Förster das Wort zu einer Verteidigung der von Stoecker verfolgten Linie eines primär religiös begründeten Antisemitismus zu erteilen123 und brachte kurz darauf einen in die gleiche Richtung zielenden Artikel Wolzogens, in dem dieser sich gegen den von Fritsch unter Pseudonym vorgetragenen Gedanken wandte, der Antisemitismus werde ‚eine neue Weltanschauung und eine neue Sittenlehre‘, damit aber nicht weniger als eine ‚neue Religion‘ hervorbringen. Wolzogen hielt dieser Ansicht entgegen, an einer neuen Religion bestehe kein Bedarf, habe man doch „das Christentum des Erlösers“, das nur richtig verstanden werden müsse und sich alsdann als mit dem wahren Deutschtum identisch erweise.124 Fritsch stimmte

119  Vgl. in diesem Sinne den Schluß der oben zitierten Schrift (Der Weg zum Siege des Germanenthums), S. 48: „Mit Gott für den christlich-deutschen Kaiser und das christlichdeutsche Vaterland!“ (i. O. herv.). Das gilt auch für den im 2. Jahrgang der Deutschen Wacht erschienenen, namentlich nicht gezeichneten Beitrag „Die Juden in der Musik“, der stark an Wagner anknüpft (1880, 1. Quartalsband, S. 189–204). Allerdings war Marr zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr Herausgeber. 120 Vgl. Zimmermann, Wilhelm Marr, S. 106 ff.; Daniela Kasischke-Wurm: Antisemitismus im Spiegel der Hamburger Presse während des Kaiserreichs (1884–1914), Hamburg 1997, S. 240 ff. 121 Vgl. Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen, S. 327, 330 ff. 122 Vgl. Moshe Zimmermann: Two Generations in the History of Antisemitism. The Letters of Theodor Fritsch to Wilhelm Marr, in: Yearbook of the Leo Baeck Institute 23, 1978, S. 89–99. 123  Vgl. Bernhard Förster: Unsere Arbeit, unsere Ziele! In: Antisemitische Correspondenz 2, 1887, Nr. 9. 124 H.v.W.: „Neue Religion“, ebd., Nr. 11. Zum Hintergrund vgl. Hans von Wolzogen an Ludwig Schemann, Brief vom 27.12.1886, zit. n. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 248. Für eine genauere Darstellung dieser Position im völkischen Ideologienspektrum vgl. Uwe Puschner: Deutschchristentum. Eine völkisch-christliche Weltanschauungsreligion, in: Richard Faber und Gesine Palmer (Hrsg.), Der Protestantismus – Ideologie, Konfession oder Kultur? Würzburg 2004, S. 93–122.

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dem schließlich insoweit zu, als er die christliche Lehre „als arischen Protest gegen das vernunft- und sittenlose Semitentum“ anerkannte, jedoch zugleich um Verständnis für denjenigen Teil der Bewegung warb, der es „aus taktischen Gründen“ für geboten halte, „die Betonung des Christentums zu vermeiden“.125 Entsprechend dieser Maxime brachte Fritsch in der Folgezeit in seinen Blättern – bis 1890: der Antisemitischen Correspondenz, von 1890 bis 1894 den Deutsch-Sozialen Blättern, ab 1902 dem Hammer – immer wieder Artikel, in denen sowohl die Propagandisten Bayreuths zu Wort kamen als auch diejenigen, die größeres Gewicht auf die nationalistische oder rassistische Parole legten.126 Als sich nach dem Bochumer Kongreß von 1889 die Deutsch-soziale Partei konstituierte, die eine Zusammenarbeit mit den „Konservativen“ anstrebte, brachte die Antisemitische Correspondenz einen Beitrag des prospektiven Parteiführers Max Liebermann von Sonnenberg, der neben der Anerkennung der von den christlichen Kirchen geleisteten sozialen Arbeit für das Gebiet der Kunst ausdrücklich auf das Werk „Meister Richard Wagner’s“ hinwies, durch das „in immer weitere Kreise unseres Volkes […] die ideal verklärte Darstellung echt deutschen Wesens“ getragen werde.127 Im Oktober 1890 brach ein Traugott Pilf eine weitere Lanze für Wagner, weil dieser „der deutschen Kunst mit seinen erhabenen Werken den Weg gewiesen“ habe, „den Weg des echten, unverfälschten deutschen Volkstums“ in deutlicher Abgrenzung von allem fremden, insbesondere jüdischen Wesen.128 Auf der gleichen Linie bewegte sich dreizehn Jahre später ein Anonymus, der Wagners Gesammelte Schriften als einen „unvergleichlichen Schatz von Belehrung aus fast allen Gebieten der Kunst und Kultur“ würdigte und darunter vor allem Das Judentum in der Musik als „eines der klassischen Dokumente gegen Judentum und Judengeist“ hervorhob, das „für alle Zeiten“ gültig sei.129 Pro-wagnerisch gestimmt war allerdings auch die Opposition, die sich 1893 in der deutsch-sozialen Bewegung Leipzigs gegen Liebermann und Fritsch formierte.

125 [o. V.]: Kirchlicher und nationaler Antisemitismus, in: Antisemitische Correspondenz 3, 1888, Nr. 34. Vgl. Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen, S. 327, 330 ff. 126 Das sei hier nur anhand einer Auswahl aus dem Hammer während des Kaiserreichs belegt. Im ersten Jahrgang (1902) erschienen dort von Gg. Meurer in der Rubrik Zeit-Glossen: Bayreuther Eindrücke (S. 250 ff.). Es folgten Max Bewer: Bismarck, Wagner und Berlin (2, 1903, S. 320 ff.); Alfred Heil: Kundry und die Blumenmädchen, ebd., S. 510 ff.; A. Fetkenheuer: Richard Wagner als Dichter und Denker, 3, 1904, S. 246 ff.; Mela Escherich: Parsifal im Exil, ebd., S. 43 ff., 431 ff.; R. von Seydlitz: Parsifal in der Heimat, ebd., S. 380 ff.; [o. V.]: Richard Wagner und die Erneuerungs-Gemeinde, 8, 1909, S. 146 ff.; K.H. Wolff: Der Kampf um den Parseval (sic) – ein wahrer Kulturkampf, 12, 1913, S. 246 ff.; G. Hartog: Richard Wagner, 13, 1914, S. 411 ff.; [o. V.]: Zu Chamberlains Goethe-Buch, 13, 1914, S. 219 ff., 248 ff.; [o. V.]: Etwas über Houston Stewart Chamberlain, 17, 1918, S. 397 ff. 127 Liebermann von Sonnenberg: Zur Begründung unsres deutsch-sozialen Programm’s, in: Antisemitische Correspondenz 4, 1889, Nr. 55. 128 Vgl. Traugott Pilf: Nationalität und Kunst, in: Antisemitische Correspondenz 5, 1890, Nr. 113. 129 [o. V.]: Ein Denkmal Richard Wagners, in: Deutsch-Soziale Blätter 18, 1903, Nr. 790.

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An ihrer Spitze stand der Musikschriftsteller Moritz Wirth (1849–1917), Mitbegründer des Leipziger akademischen Wagnervereins, der seinen WagnerEnthusiasmus mit einer nicht geringeren Begeisterung für Bismarck und Rodbertus verband. Galt ihm Bismarck als Synonym für die Einheit und Größe des neuen Nationalstaates, Rodbertus für die noch zu erreichende wirtschaftspolitische Einigung durch Zähmung des Kapitalismus, so Wagner als „‚Meister‘ einer von Tag zu Tag wachsenden Gemeinde“, von dem „die Erlösung der Kunst, des deutschen Volkes, ja der ganzen Menschheit ausgehen“ sollte, freilich mit der Spezifikation, daß nur solche Kunstwerke, die unmittelbar oder mittelbar „aus dem eigensten Wesen eines Volkes hervorgegangen sind, […] sich bei demselben auch dauernd festsetzen.“130 Daß dies vor allem auf Wagners Werke zutraf, bemühte sich Wirth in zahlreichen Arbeiten zu zeigen, die sich von der Bayreuther „Buchstaben-Pietät“131 durch eine Aufwertung der früheren Werke und eine Abwertung vor allem des Parsifal unterschieden, stehe doch „der Held des Mitleids […] dem heutigen Zeitbewußtsein ziemlich fern.“132 Seit klar sei, wo die Ursache der gegenwärtigen Wirtschaftsprobleme läge, bestehe kein Grund zu Pessimismus mehr. Alle in diese Richtung weisenden Anschauungen, auch diejenigen des späten Wagner, müßten daher „für das deutsche Volk als ungehörig“, ja als „undeutsch“ „zurückgewiesen“ und der Versuch gemacht werden, „sich zu wirthschaftlich und sittlich höheren Daseinsformen zu erheben.“ Eben hierin, in der Aufgabe, „den Völkern der Erde auf der Bahn socialer Reformen voranzugehen, [bestehe] der eigenthümliche, der weltgeschichtliche Beruf des deutschen Volkes“.133 Nur am Rande sei bemerkt, daß der streitbare Wirth bald nicht nur mit Bayreuth überkreuz lag, dem er das Besitzrecht auf die Festspiele bestritt und dessen spiritus rector, Hans von Wolzogen, er kurzerhand für einen „Kraut- und Rübenkopf“ erklärte134, sondern auch mit den Leipziger Deutschsozialen, die ihn 1893 ungeachtet aller sonstigen Gemeinsamkeiten, etwa in puncto Antisemitismus, aus der Partei ausschlossen.135

130 Moritz Wirth: Bismarck, Wagner, Rodbertus, drei Deutsche Meister. Betrachtungen ueber ihr Wirken und die Zukunft ihrer Werke, Leipzig 18852, S. 32 f., 53. 131  Moritz Wirth: Die Entdeckung des Rheingolds aus seinen wahren Dekorationen, Leipzig 1896, S. 12. 132 Moritz Wirth: Die König-Marke-Frage. Eine Abwehr für das Kunstwerk, wider den Meister, Leipzig 1886, S. 27. 133 Wirth, Bismarck, Wagner, Rodbertus, S. 394. 134  Wirth, Die Entdeckung des Rheingolds, S. 73. Zu den Konflikten mit Bayreuth vgl. den Bericht der Neuen Freien Presse vom 22.7.1891 (Nr. 9663); Veltzke, Vom Patron zum Paladin, S. 341, 353, 359. 135 Vgl. die von Wirth verfaßte Schrift: Herr Liebermann von Sonnenberg als Parteiführer und Gesinnungsgenosse. Aufschlüsse über die Vorgänge in der deutsch-sozialen Bewegung Leipzigs. Von einigen Deutsch-Sozialen, Leipzig 1893. Aufschlußreich zu den Hintergründen: Deutsche Antisemiten-Chronik 1888–1894, Zürich 1894, S. 168 ff. Wirth war Herausgeber von Friedrich Zöllners Beiträgen zur deutschen Judenfrage (Leipzig 1894). In der Einleitung bezeichnete er als Ziel des ‚arischen‘, insbesondere deutschen Antisemitismus die „Befreiung der Welt von der auf ihr lastenden Judenherrschaft“ (S. XXXIII).

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Schon deutlich defensiveren Charakter trugen zwei weitere auf Wagner und Bayreuth bezogene Artikel in den Deutsch-Sozialen Blättern, die den „Meister“ gegen Insinuationen bezüglich seiner Abstammung in Schutz nahmen und unter Berufung auf Bernhard Förster die „Gemeinsamkeit der beiderseitigen End-Bestrebungen“ beschworen: den vollen Einklang „der Herzens-Töne der Bayreuther wie der deutschsozialen Bewegung“.136 Der Verfasser der zuletzt genannten Einlassungen war Ludwig Schemann, den seine ideologische wie politische Affinität zu dieser Bewegung schon um 1887 zur Antisemitischen Vereinigung geführt hatte, als deren „Vertreter und Vertrauensmann“ er agierte.137 Wie sehr es ihm trotz unterschiedlicher Akzente gelang, gemeinsam mit seinem Freund Wolzogen den Bayreuther Kreis mit der völkischen Bewegung zu verbinden, zeigt die umfangreiche Korrespondenz, die er mit Wortführern derselben wie Theodor Fritsch, Willibald Hentschel oder dem Hauptgeschäftsführer des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, Alfred Roth, führte.138 Auch im Hammer war er vertreten und beteiligte sich an der Festschrift zu dessen 25jährigem Bestehen.139 Unter den Gratulanten fand sich auch Wolzogen ein, der Hammer seinerseits revanchierte sich bei beiden mit Würdigungen zu ihrem 75. und 80. Geburtstag.140 Eine intermediäre Position zwischen Wagner-Enthusiasmus und moderater Kritik findet sich bei Friedrich Lienhard (1865–1929), der hier deshalb ausführlicher betrachtet werden soll.141 Nach einem ersten überschwenglichen, Wagner als Hauptrepräsentanten der Gegenströmung gegen die décadence des Fin de Siècle und vaterländischen Künstler par excellence feiernden Beitrag in der völkisch-antisemitischen Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert142 ließ er einige

136 Vgl. „Bg.“: „Antisemitismus und Wagnertum“, in: Deutsch-Soziale Blätter 5, 1890, Nr. 123; Ludwig Schemann: Die Bayreuther und der Antisemitismus, ebd. 7, 1892, Nr. 224. 137 Vgl. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 106. Einer Spendenquittung im Nachlaß Schemann ist darüber hinaus zu entnehmen, daß er etwa zur gleichen Zeit auch die Antisemitische Correspondenz und den von Theodor Fritsch eingerichteten „Agitationsfonds“ unterstützte: vgl. Nachl. Schemann, UB Freiburg, 12/1838. 138  Vgl. Nachl. Schemann, UB Freiburg, 12/1838, Kasten 110; 12/873, Kasten 87, Mappe 7; 12/2022, Kasten 115; 12/381, Kasten 32; 12/2680, Kasten 131. 139 Vgl. Ludwig Schemann: Ein neuer Herold des Deutschtums, in: Hammer 7, 1908, S. 225 ff.; ders.: Möller van den Bruck: Die Deutschen, ebd. 10, 1911, S. 150 ff.; [o. V.]: Festschrift zum fünfundzwanzigsten Bestehen des Hammer, Leipzig 1926, S. 82 ff. 140 Vgl. Hans von Wolzogen: Deutsche Sprüche – Die Wiederkunft Christi, in: Festschrift 1926, S. 125–127. Die Geburtstagsartikel für Schemann finden sich in: Hammer 26, 1927, S. 440 ff.; 31, 1932, S. 255 ff.; für Wolzogen vgl. ebd. 22, 1923, S. 444 f.; 27, 1928, S. 566 f. 141 Zu Person und Werk vgl. Hildegard Châtellier: Friedrich Lienhard, in: Puschner u. a. (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“, S. 114–131; dies.: Kreuz, Rosenkreuz und Hakenkreuz. Synkretismus in der Weimarer Zeit am Beispiel Friedrich Lienhards, in: Manfred Gangl und Gérard Raulet (Hrsg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, Frankfurt und New York 1994, S. 53–66. 142 Vgl. Fritz Lienhard: Richard Wagner als Vorbild, in: Das Zwanzigste Jahrhundert. Deutschnationale Monatshefte für sociales Leben, Politik, Wissenschaft, Kunst und Literatur 4.1, 1893/94, S. 229–237.

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Jahre später im Rahmen seiner Wege nach Weimar „Gedanken über Richard Wagner“ folgen, die sich gegen die Bayreuther Lehre vom Gesamtkunstwerk richteten, darüber hinaus auch weitere grundsätzliche Bedenken vorbrachten: gegen den ‚gefühlsmäßigen Kultus des Meisters‘, gegen dessen von Schopenhauer übernommenen metaphysischen Pessimismus, der insbesondere in den symbolischen Kultusformen des Parsifal und den dort artikulierten Erlösungssehnsüchten seinen Niederschlag gefunden habe, last, but not least gegen die „spekulativen Formen der Rassentheorie“, zu denen Lienhard in einem vorgeschalteten Beitrag über Gobineau auf Distanz ging.143 „Der letzte Sinn und Zweck […] des planetarischen Wachstums“, hieß es dort, könne „doch wohl nicht eine sinnlose Entartung sein“, die von Gobineau entwickelte und von Wagner übernommene „Degenerationslehre“ nicht das letzte Wort. Eben dieses letzte Wort sah Lienhard jedoch gleichfalls von Wagner gesprochen, habe dieser doch nicht nur an Degeneration gedacht, sondern auch die Bedingungen der Möglichkeit einer Regeneration dargelegt. Hatte er schon als Redakteur des Zwanzigsten Jahrhunderts der Tendenz seines Vorgängers Erwin Bauer entgegengewirkt, das Blatt für Wagner-kritische Autoren wie Heinrich Pudor zu öffnen144, so setzte sich dies in seiner Zeit bei der Deutschen Zeitung fort, für deren Unterhaltungsbeilage „Deutsche Welt“ er seit 1896 schrieb, bis 1898 als fester, danach als freier Mitarbeiter. In dieser von Friedrich Lange, dem Gründer des Deutschbundes geleiteten „Gesinnungszeitung“ (Leinemann) erschienen wohl nicht zuletzt durch Vermittlung Lienhards zahlreiche Texte aus der Feder Hans von Wolzogens, der dadurch ein Forum außerhalb des engeren Kreises der Bayreuther Blätter erhielt.145 Wie wenig auch die Wege nach Weimar darauf zielten, den Weg nach Bayreuth zu verstellen, zeigte allein schon der Eröffnungsband, der neben breiten Auszügen aus den Werken Heinrichs von Stein auch eine Würdigung dieses Wagnerianers brachten, der „die theoretische

143 Friedrich Lienhard: Gedanken über Richard Wagner, in: ders., Wege nach Weimar. Beiträge zur Erneuerung des Idealismus, 6 Bde., Bd. 5, S. 46–54, 47; Gobineaus Amadis und die Rassenfrage, ebd., S. 1–45, 6. Die Wege nach Weimar waren ein Sammelwerk von Texten, die erstmals 1905–1908 in Monatsheften erschienen, in der zweiten Fassung von 1910/11 in Buchform. Hier zit. n. der unv. 11. Aufl., Stuttgart, ca. 1924. 144  Lienhard stimmte mit Pudor zwar in der Wertschätzung Langbehns überein (vgl. Das Zwanzigste Jahrhundert 3.1, 1892/93, S. 339 ff.), doch erstreckte sich diese nicht auf dessen Wagner-Kritik. Unter seiner Ägide wie auch derjenigen seiner Nachfolger erschienen im Zwanzigsten Jahrhundert überwiegend positive Kommentare zu Wagner. Vgl. neben dem o. g. Aufsatz von Lienhard: Josef Stolzing: Die Meistersinger von Nürnberg und das deutsche Volk der Gegenwart, ebd. 3.2, 1892/93, S. 279 ff.; Hans v. Wolzogen: Die Hexe Fricka, ebd. 4.1, 1893/94, S. 353 ff.; Moritz Wirth: Wagner in der Schule, ebd. 5.1, 1894/95, S. 297 ff.; ebd. 5.2, 1895, S. 41 ff., 151 ff., 338 ff., 463 ff. 145  Vgl. Arnold Leinemann: Friedrich Lange und die Deutsche Zeitung (betrachtet im Abschn. 1896–1900), Phil. Diss. Berlin 1938, S. 73. Wolzogens Aufsätze in diesem Blatt sind auch in Buchform erschienen (Aus deutscher Welt).

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Verbindung zwischen Bayreuth und Weimar“ hergestellt habe. Ihm nicht allein, ihm aber ganz besonders sei es zu danken, daß „der Bayreuther Kreis die Fortsetzung Weimars“ geworden sei.146 Breiter ausgeführt wurde diese Deutung in zwei Schriften, die Lienhard am Vorabend des Ersten Weltkriegs veröffentlichte: dem Roman Der Spielmann und den Vorträgen über Parsifal und Zarathustra. Da zu dem Roman bereits eine ausgezeichnete Analyse vorliegt147, kann ich es im Folgenden bei dem Hinweis auf den Ausklang dieses Buches mit den Meistersingern belassen und mich auf die Vorträge beschränken. Auch sie sind, wie schon die Wege nach Weimar, nicht ohne Kritik an Wagner, etwa an der allzu schopenhauerisch geratenen Textgestaltung des Rings. Aber erstens würden diese Mängel kompensiert durch die Musik, die deutlich mache, daß es sich nicht um die Erlösung der Welt vom Fluch des Goldes handele, sondern um eine Wiederherstellung der ‚Ordnung der Dinge‘.148 Und zweitens habe Wagner, was immer in seinen früheren Werken auf Selbsterlösung ziele, mit dem Parsifal überwunden, der ganz auf Fremderlösung angelegt sei. Auf der Gralsburg gelte nicht der Wille zur Macht, sondern die Gnadenwahl aufgrund von Eigenschaften wie Mitleid und Güte.149 Dieser unverkennbar gegen Nietzsche gerichteten Argumentation nahm Lienhard allerdings sogleich die Spitze, indem er Parsifal zum eigentlichen ‚Übermenschen‘ erklärte, zum Symbol einer umfassenden Versöhnung sowohl zwischen den Konfessionen als auch zwischen Wagner und Nietzsche.150 Im Parsifal habe Wagner eine Apologie der schöpferischen Liebe gegeben. Der dort präsentierte „Wille zur weltumarmenden Liebe“ aber sei, näher besehen, „eine Steigerung des Willens zur Macht; Parsifal eine Steigerung Siegfrieds“, mit der sich der Schritt vom ‚altgermanischen Lebensideal‘ zu den ‚Seelenkräften des Christentums‘ vollziehe.151 Wie die näheren Ausführungen zeigen, war dabei freilich weniger an die Liebesreligion als an die ecclesia militans gedacht, galt doch für Parsifal wie für Siegfried, daß die Gnade nicht ohne Auswahl zu haben war. Hatte schon der letztere allerlei tückisches Zwergenvolk zu erschlagen, das sich ihm in den Weg stellte, so waren es bei Parsifal und den Gralsrittern gleich ganze Rassen und Kulturen wie die „Wollustgestalten“ der mediterranen und orientalischen Welt, die eine einzige „verdorbene Mischrasse“ repräsentierten.152 Ein Jahr später hatte Lienhard keine Mühe, die „Stillen im lauten Lande“ aufzufordern, „ein Volk der Wucht“ zu werden und den Feinden ringsum zu zeigen, wie die europäische Landkarte

146 Lienhard,

Wege nach Weimar, Bd. 1, S. 52, 63. Franz, Die Religion des Grals, S. 214 ff. 148 Vgl. Friedrich Lienhard: Parsifal und Zarathustra, Stuttgart 19142, S. 12. 149 Vgl. ebd., S. 21. 150 Vgl. ebd., S. 41. 151 Ebd., S. 40 f., 25. 152 Ebd., S. 20. 147 Vgl.

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in Zukunft aussehen werde: ein Abbild des Sonnensystems mit Deutschland als seiner Mitte im geistigen, seelischen aber auch materiellen Sinne.153 Über solchen Äußerungen sollte freilich nicht übersehen werden, welch starke Vorbehalte es in anderen Teilen des völkisch-antisemitischen Lagers gegen Wagner und Bayreuth gab. Besonders deutlich traten sie 1890 in einem nur mit A.Z. gezeichneten Artikel hervor, der es für einen weit verbreiteten Aberglauben erklärte, „daß jeder gesinnungstüchtige Antisemit als solcher auch Anhänger des Wagnertums sein müsse.“ Wagner hätte seinen Tempel überall auf der Welt gebaut, wo er einen Mäzen gefunden hätte, ihm sei es stets nur um seine Kunst gegangen, „ohne Rücksicht auf die Mittel“. Mehr noch: auch seine Werke zeigten „nicht das echt deutsche Wesen“ –: nicht auf inhaltlicher Ebene, wie die Verherrlichung des Inzests im Ring zeige („eine Versündigung an unserm Heiligsten“), aber auch nicht in formaler Hinsicht: seine Musik sei auf den Effekt zugeschnitten, „äußerliche, allerdings glänzende Mache“, so „international wie es der Duft eines Parfums oder sonst ein Sinneskitzel ist“, „ein Opiumrausch, in den wir entrückt werden, nicht die Stille, reinigende Klarheit und Heiterkeit der wahren Kunst“, wie sie bei Bach, Beethoven, Brahms zu finden sei. „Wagner ist eine Konsequenz Meyerbeer‘s und wird darum die deutsche Kunst nicht immer vor semitischem Geiste bewahren können.“154 Daß man die Polemik auch noch weiter treiben konnte, demonstrierte sechs Hefte später „ein Wissender“, der Bayreuth vollständig „in Juden-Händen“ sah.155 „A. Z.“ berief sich in seinem Beitrag auf das gerade erschienene Buch Rembrandt als Erzieher, das in den Deutsch-sozialen Blättern mit einem fünfteiligen Referat gewürdigt worden war.156 Dieses bekanntlich von Julius Langbehn (1851–1907) verfaßte Werk begann zwar in den Wagner gewidmeten Passagen mit einem Einstieg, der auf den ersten Blick als Würdigung gelesen werden konnte, insofern es der modernen Zeit mit ihrer demokratisch-naturwissenschaftlichen Richtung als notwendiges Supplement „einen cäsaristisch-künstlerischen Typus“ zuordnete, das „Hervortreten einer gewaltigen und rein geistig dominirenden

153 Vgl.

Friedrich Lienhard: Deutschlands europäische Sendung, Stuttgart 191512, S. 3, 29. Ausführlicher hierzu Barbara Beßlich: Von der ‚Westmark‘ nach Weimar. Friedrich Lienhards Weltanschauungswanderungen und ‚Deutschlands europäische Sendung‘ im Ersten Weltkrieg, in: Bomski u. a. (Hrsg.), Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs, S. 39–53. Nur am Rande sei vermerkt, daß Lienhards Kriegseinsatz nicht zur vollen Befriedigung Bayreuths ausfiel. 1917/18 kam es darüber im Deutschen Volkstum zu einer Kontroverse, als Wolzogen Lienhard eine zu große Zurückhaltung in der Rassenfrage vorwarf und dieser mit mühsam verhaltener Empörung replizierte. Vgl. Hans von Wolzogen: Idealismus und Rassenfrage, in: Deutsches Volkstum 19, 1917, S. 457–460; Friedrich Lienhard: Die Rassenfrage, ebd. 20, 1918, S. 14–18. 154 A. Z.: Antisemitismus und Wagnertum, in: Antisemitische Correspondenz 5, 1890, Nr. 116. 155 „Ein Wissender“: Semiten und Wagnertum, ebd., Nr. 122. 156 Vgl. Theodor Fritsch: Neue Sensations-Schriften II–VI, in: Deutsch-Soziale Blätter 5, 1890, Nrn. 91 ff.

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Einzelindividualität“.157 In Wagner habe das deutsche Volk jedoch nur einen ersten „Anlauf zu jener cäsaristischen Erscheinung“ genommen, der zum vollen Typus noch viel fehle. Sein Geist sei ‚hastig‘ und ‚ostensibel‘, er neige dazu, „Wirkung auf Wirkung“ zu häufen, ohne sich und den Hörern Ruhe zu gönnen. Er sei nervös und mache nervös, das ‚schöne Maß‘, welches Shakespeare und die Griechen aufwiesen, sei ihm versagt. „Shakespeare ist Kaiser, Wagner ist empereur; allerdings ist er es nicht im Sinne des dritten, sondern des ersten Napoleon.“ Seine Musik sei „betäubend und berauschend“, unfähig zum Adagio, welches doch „das spezifisch deutsche Tempo“ sei. Undeutsch seien auch viele Gestalten seiner Werke. Der „laute Liebeswahnsinn seiner Isolde dürfte eher keltisch sein“, wie auch der Parsifal bedenklich viel „Keltoromanisches“ aufweise. Die nordische Mythologie, aus der der Ring schöpfe, enthalte zahlreiche fremde Geisteselemente und sei damit eine trübe Quelle, aus der nur Undeutsches zu schöpfen sei, sehr im Gegensatz zum klassischen Nibelungenlied der höfischen Kultur, das „eine Ausgeburt des reinen ungemischten Volksgeistes“ sei, wie Langbehn unter Mißachtung des schon damals erreichten Kenntnisstandes behauptete. Am Ende flocht er auch gleich noch eine antisemitische Insinuation ein. Wagner könne, „trotz seines Abscheus vor dem Judenthum, einen gewissen Zusammenhang gerade mit Meyerbeer nicht verleugnen. Er hat dessen effektvolle Mache auf nationale Stoffe angewandt; und mit weit überlegener Fähigkeit; aber diese Mache selbst ist nicht national.“ In Summa: „Wagner ist bedeutend, aber er bezeichnet nur ein Vorstadium in der künstlerischen Entwickelung des Deutschen; er ist ein Romantiker, kein Klassiker; schon darum ist er zweiten Ranges.“ Unterstützung für diese Auffassung erhielt Langbehn, der Anfang der 90er Jahre in Dresden lebte, durch die dort ebenfalls ansässigen Publizisten Heinrich Pudor (1865–1943) und Max Bewer (1861–1921).158 Kritisierte Pudor nach Abklingen einer kurzen Phase des Enthusiasmus für Wagner dessen Musik als durchaus undeutsch, genauer: keltisch und semitisch159, so rechnete Bewer, der sich von Pudor durch seinen ausgeprägten Katholizismus unterschied, den Komponisten zu Philosophen und Künstlern wie Nietzsche und Thoma, „welche

157 [o. V.]: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen [d. i. August Julius Langbehn], Leipzig 18902, S. 258. Die folgenden Zitate finden sich auf den Seiten 259–261. Zum Forschungsstand über diesen Autor und sein Werk vgl. das Langbehn-Kapitel in meinem Buch: Ausgänge des Konservatismus, S. 170 f., 368 ff. 158 Vgl. Sven Brajer: Am Rande Dresdens? Das völkisch-nationale Spektrum einer ‚konservativen Kulturstadt‘ 1879–1933, Dresden und München 2022, S. 265 ff. 159 Vgl. Heinrich Pudor: Deutsche Musik, in: Das Zwanzigste Jahrhundert 2.1, 1891/92, S. 529 ff. sowie: Berichtigung, ebd. 2.2, 1892, S. 1083 f. Zum Wagner-Enthusiasmus vgl. Pudors Schrift: Das Heroentum in der Musik, Dresden 1891, S. 23 ff. Zu Person und Werk vgl. Thomas Adam: Heinrich Pudor – Lebensreformer, Antisemit und Verleger, in: Mark Lehmstedt und Andreas Herzog (Hrsg.), Das bewegte Buch: Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900, Wiesbaden 1999, S. 183–196.

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einer Kröte mit dem Diamant im Bauch gleichen; aber weder Diamant noch Kröte sind das Ideal der Kunst; jene Typen können nur als Vor- und Uebergangsstufen gelten; der echte Künstler ist innerlich und äußerlich: gesund rein ungebrochen eins.“ Bewer, nach der Jahrhundertwende einer der Hauptautoren des Hammer, veröffentlichte dieses Urteil in einem Buch mit dem Titel Der Rembrandtdeutsche, das deshalb oft Langbehn zugeschrieben wurde.160 Vom Original unterschied es sich freilich durch einen noch gesteigerten Judenhaß, der in Richtung des exterminatorischen Antisemitismus wies.161 Daß er manches davon nach genauerer Lektüre auch bei Wagner wiederfand, mag zu dem Stimmungsumschwung gegenüber Bayreuth beigetragen haben, der ein Jahrzehnt später in einem Beitrag in den Deutsch-Sozialen Blättern zum Ausdruck kam.162 Eine umgekehrte Entwicklung vollzog sich bei dem Literaturkritiker Adolf Bartels (1862–1945).163 Hatte dieser noch in der Vorkriegszeit Wagner als „das künstlerische Genie der Zeit“, als „charakteristische[n] Vertreter der Gesamtkultur im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts“ gefeiert, der „in Liebe oder Haß für fast alle seine Zeitgenossen von Bedeutung geworden“ sei164, so plazierte er ihn später neben anderen längst vergessenen Namen wie Wilbrandt, Jensen, Fitger und Richard Voß in einem Kapitel, das „Richard Wagner und der fortschreitende

160 [o. V.]: Der Rembrandtdeutsche. Von einem Wahrheitsfreund, Dresden 1892, S. 140 f. Vgl. Thomas Gräfe: Katholischer und völkischer Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Schnittmengen und Übergänge am Beispiel des Schriftstellers Max Bewer, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 20, 2010, S. 156–179. 161 Vgl. nur: S. 49, 60, 191 u. ö. 162  Vgl. Max Bewer: Bismarck, Wagner und – Berlin, in: Deutsch-Soziale Blätter 18, 1903, Nr. 776. Denkbar, daß auch der oben genannte, kurz darauf erschienene Artikel „Ein Denkmal Richard Wagners“ aus der gleichen Feder stammt. 163 Zu Person und Werk vgl. Thomas Rösner: Adolf Bartels, in: Puschner u. a. (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“, S. 874–894; Steven Nyole Fuller: The Nazi’s Literary Grandfather. Adolf Bartels and Cultural Extremism, 1871–1945, Frankfurt am Main etc. 1996; Rainer Brändle: Antisemitische Literaturhistorik. Adolf Bartels, in: Renate Heuer (Hrsg.), Antisemitismus – Zionismus – Antizionismus 1850–1940, Frankfurt am Main 1997, S. 35–73; Anja Oesterhelt: „Große deutsche Heimat“. Adolf Bartels, die Heimatkunst und Weimar, in: Bomski u. a. (Hrsg.), Ilm-Kakanien: Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs, S. 55–71; Gregor Hufenreuter: „Denn alles, was er der Welt gab, predigt das Evangelium der Rasse“. Adolf Bartels und die völkische Bewegung vor 1933, in: Julius H. Schoeps und Eerner Treß (Hrsg.), Verfemt und Verboten. Vorgeschichte und Folgen der Bücherverbrennungen 1933, Hildesheim etc. 2010, S. 47–64. 164 Adolf Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, 2 Bde., Bd. 2: Die neuere Literatur, 3. u. 4. Aufl., Leipzig 1905, S. 410. Der hier dominierende, insgesamt freundliche Ton mag allerdings der Absicht geschuldet sein, in einem als Standardwerk gedachten Buch großzügig zu verfahren. In der 3. Aufl. seines Buches über Die Deutsche Dichtung der Gegenwart äußerte sich Bartels bereits deutlich distanzierter und hob vor allem Wagners Zugehörigkeit zur „Hochdecadence“ hervor. Durchweg dränge sich der Eindruck auf, „als habe Wagner den germanischen Göttern und Helden das Mark aus den Knochen gesogen, und von den modernen Erlösern“ habe er, Bartels, „nie viel gehalten“: Die Deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen, Leipzig 19003, S. 183.

3  Der Fremde in Bayreuth: Houston Stewart Chamberlain

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Verfall“ überschrieben war.165 Schon seine Mutter sei „dunkler Herkunft“, was im Sinne des üblichen völkischen Codes als „jüdisch“ zu lesen war. Seine Theorie des Gesamtkunstwerks sei unhaltbar, die ersten Werke dichterisch wertlos, erst Tannhäuser und Lohengrin erreichten eine gewisse Qualität, die aber „statt wahrer Künstlerschaft vielfach nur eine große theatralische Bravour“ böten, von Einschlägen des Barocken und Trivialen zu schweigen. Der Ring sei wohl sein Hauptwerk; „wenn er aber auch als das Hauptwerk nationaldeutscher oder germanischer Poesie hingestellt“ werde, sei Protest angesagt. Die „wahre Größe und Gewalt unseres germanischen Mythos“ sei in ihm nicht zu finden, „der Geist des Ganzen ein moderner“. Tristan und Isolde seien „oratorienmäßig“, am Parsifal merke man Wagners Alter. Die Person, die er in seiner Autobiographie präsentiere, könne „unmöglich sympathisch berühren.“ Bartels‘ Fazit: „Mir als Historiker ist es immer ziemlich unwahrscheinlich gewesen, daß Wagner nach Mozart und Beethoven, Goethe und Schiller eine überragende Höhe der deutschen Entwicklung sei, doch ein ‚partielles Genie‘ wie Hebbel ist er wohl sicher, wenn auch ein ganz anders geartetes. Ich glaube zu erkennen, daß Wagner im deutschen Leben vielfach sehr unheilvoll gewirkt hat, und bin der Ansicht, daß zum Heile unserer Zukunft wenigstens der Wagner-Mythus überwunden werden muß.“166

3 Der Fremde in Bayreuth: Houston Stewart Chamberlain Das letzte Wort in Sachen Wagner war damit für Bartels allerdings nicht gesprochen. 1932, als sich erstmals eine mögliche Machtübergabe an die zur stärksten Partei aufgestiegene NSDAP abzeichnete, ruderte Bartels zurück und sprach von Wagner als dem „Große[n] dieser ganzen Zeit“, in einem Abschnitt, der ihn gewissermaßen als vertonten Felix Dahn erscheinen ließ.167 Man mag darin einen Akt des vorauseilenden Gehorsams sehen, dürfte doch dem Mitglied des ‚Kampfbundes für deutsche Kultur‘ nicht verborgen geblieben sein, in welchem Verhältnis Hitler, Goebbels und andere NS-Häuptlinge zu Wagner standen. Ebenso könnte es sich jedoch um einen Schritt zur Bereinigung einer ideologischen Inkonsistenz gehandelt haben, da Bartels schon in der Vorkriegs-

165  Adolf Bartels: Die deutsche Dichtung von Hebbel bis zur Gegenwart (Die Alten und die Jungen). Erster Teil: Die Alten, 10.–12. Aufl., Leipzig 1922, S. 275 ff. Die folgenden Zitate ab S. 289. 166 Ebd., S. 291. Nicht einmal Wagners Judentum in der Musik vermochte den Radikalantisemiten Bartels zufrieden zu stellen. Gewiß enthalte diese Schrift sehr viel Treffendes über das Judentum, doch beschränke sie sich zu sehr auf dessen Rolle in der Kunst und rede auch noch „von den großen Begabungen des Herzens wie des Geistes“, die dort anzutreffen seien. An die Spitze der neueren antisemitischen Bewegung könne man sie deshalb nicht stellen: Adolf Bartels, Der völkische Gedanke. Ein Wegweiser, Weimar 1923, S. 21 f. 167 Adolf Bartels: Einführung in das deutsche Schrifttum, Leipzig 1932, S. 421.

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zeit zu den Bewunderern Houston Stewart Chamberlains gehörte, der nicht nur der Verfasser der von ihm hochgeschätzten Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts war, sondern auch grundlegender Werke über Richard Wagner. In seiner Geschichte der Deutschen Literatur überging er Chamberlains Rolle in der Bayreuther Bewegung und würdigte ihn als einen derjenigen, die dazu beigetragen hätten, „die Mehrzahl der Gebildeten für die Rassentheorie“ zu gewinnen und damit (!) einem „entschiedene[n] Nationalismus“ die Bahn zu bereiten, womit natürlich der völkische Nationalismus gemeint war.168 Derselben Ansicht war der Vorsitzende des ‚Kampfbundes für deutsche Kultur‘, Alfred Rosenberg, der 1927 Chamberlain als „Verkünder und Begründer einer deutschen Zukunft“ feierte169 und damit nicht nur den Tenor für weitere Vereinnahmungen durch die NSBewegung, sondern auch für die spätere Forschung vorgab, für die Chamberlain mit nun freilich anderer Wertung zum „‚Kultautor‘ der völkischen Szene“ unter Einschluß des Nationalsozialismus avancierte.170 Vor einer Erörterung dieser Zuordnung ist zunächst jedoch die verbreitete Ansicht zu relativieren, Chamberlain sei „Bayreuths Chefinterpret und Chefideologie der post-Wagner-Jahre“ gewesen.171 Das ist zeitlich wie sachlich zu hoch gegriffen. Angemessener erscheint Georg Simmels Kategorie des „Fremden“, der innerhalb eines bestimmten sozialen Kreises fixiert ist, jedoch „nicht von vornherein in ihn gehört“, „Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt“ und ipso facto nah und fern zugleich ist.172 Der in England geborene, aber weitgehend in Frankreich aufgewachsene Chamberlain gehörte zwar seit Ende der 1870er Jahre zur organisierten Wagnerbewegung,

168 Vgl. Bartels, Geschichte der Deutschen Literatur, Bd. 2, S. 492. Vgl. auch: Rasse und Persönlichkeit, S. 151–164, 152, 155; Der deutsche Verfall, Leipzig 1913, S. 39; Der Nationalsozialismus Deutschlands Rettung, Leipzig 19253, S. 29. Daß er in Bartels´ Perspektive in eine Reihe mit Gobineau rückte, wird Chamberlain wenig gefallen haben, doch wußte er, was er an diesem Propagandisten hatte, mit dem er die gemeinsame Mitgliedschaft im Schiller-Bund, im Bund gegen die Überhebung des Judentums und nicht zuletzt im Bund für deutsche Kirche teilte. Sein Buch über Goethe schickte er ihm mit der Widmung: „Herrn Professor Bartels, mit der warmen Dankbarkeit, die jeder Germane ihm zollt.“ Zit. n. Hildegard Brenner: Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek 1963, S. 27. 169  Vgl. Alfred Rosenberg: Houston Stewart Chamberlain als Verkünder und Begründer einer deutschen Zukunft, München 1927. 170 Thomas Gräfe: Antisemitismus in Deutschland 1815–1918. Rezensionen – Forschungsüberblick – Bibliographie, Norderstedt 20163, S. 184. Vgl. in diesem Sinne statt vieler nur Mosse, Die völkische Revolution, S. 104 ff.; Barbara Liedtke: Völkisches Denken und die Verkündigung des Evangeliums. Die Rezeption Houston Stewart Chamberlains in evangelischer Theologie und Kirche während der Zeit des Dritten Reiches, Leipzig 2012. Bei Uwe Puschner (Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich) figuriert Chamberlain mal als „Altvölkischer“ (S. 12), mal vorsichtiger als „Wegbereiter“ (S. 280). In meinen eigenen Einlassungen zum Thema bin ich dieser Argumentationslinie enger gefolgt, als es mir inzwischen gerechtfertigt erscheint. 171 Bermbach, Richard Wagner in Deutschland, S. 180. 172 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 11, hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 20189, S. 765.

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besuchte auch 1882 erstmals die Festspiele, lebte aber bis 1889 in Genf und Dresden. Danach ließ er sich für fast zwei Jahrzehnte in Wien nieder, das zu dieser Zeit neben Bayreuth und München zu den Hochburgen des ‚Wagnerismus‘ zählte173, dem der von Anhängern Georg von Schönerers gegründete „Neue Richard Wagner-Verein zu Wien“ in den 90er Jahren eine dezidiert radikalantisemitische Ausrichtung verlieh.174 Erst nach seiner Heirat mit Wagners Tochter Eva Ende 1908 zog er nach Bayreuth und rückte dort in den engeren Kreis auf, von dem er bis dahin nicht nur räumlich, sondern auch durch sachliche Differenzen getrennt war, die auch durch eine langjährige Brieffreundschaft mit Cosima Wagner nicht überbrückt werden konnten.175 Erste Mißhelligkeiten hatten sich schon 1879 ergeben, als Wolzogen einen für die Bayreuther Blätter gedachten Aufsatz Chamberlains ablehnte und später die Begründung nachschob, ein Ausländer könne die Eigenart von Wagners Bestrebungen nicht erfassen – eine Abfuhr, über die der Autor später schrieb, sie habe ihm „eine schmerzhafte Wunde geschlagen und zugleich in ihm Erbitterung erzeugt; ich fühlte mich wie hinausgestoßen aus einer Sphäre, die mir als Heiligtum galt.“176 Wie richtig er damit lag, zeigt noch der 1891 von Wolzogen herausgegebene Wagnerianer-Spiegel, in dem als Vertreter des „ordnungsmäßigen Wagnerismus“ neben dem Herausgeber nur Glasenapp, Bernhard Förster, Ludwig Schemann und Heinrich von Stein genannt sind.177 Die Kränkung saß so tief, daß Chamberlain „den ganz plötzlichen Entschluß faßte, mich dem harten Studium der Naturwissenschaften zu widmen“.178 Bis Herbst 1884 nahm ihn dies vollständig in Beschlag, um nach einer längeren Krise ab 1889 in Wien erneut bei dem Professor für Anatomie und Physiologie der Pflanzen, Julius Wiesner, fortgesetzt zu werden.179 Während dieser ganzen Zeit, berichtete er später, habe er die Bayreuther Blätter grundsätzlich nicht mehr auf-

173 Vgl. dazu aus der biographischen Literatur insbesondere Field, Evangelist of Race, S. 17–168; Bermbach, Chamberlain, S. 11 ff.; Fritz, Chamberlain, S. 55 ff., 89 ff. In Wien lebten und lehrten zu dieser Zeit Wagnerianer wie der Orientalist Adolf Wahrmund (1827–1913) und der Indologe Leopold von Schroeder (1851–1920), von denen vor allem der letztere mit Chamberlain eng verbunden war. Vgl. aus seiner Feder: Houston Stewart Chamberlain, ein Abriß seines Lebens auf Grund eigener Mitteilungen, München 1918; Die Vollendung des arischen Mysteriums in Bayreuth, München 1911. 174 Vgl. die Beiträge von Michael Wladika und Sven Fritz in: Heer (Hrsg.), Richard Wagner und Wien. Antisemitische Radikalisierung und das Entstehen des Wagnerismus, S. 259–280; 281– 305. 175 Vgl. Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain im Briefwechsel 1888–1908, hrsg. von Paul Pretzsch, (im Folgenden kurz: Briefwechsel). Zum problematischen, weil selektiven Charakter dieser Edition vgl. Fritz, Chamberlain, S. 42 f. 176 Chamberlain, Lebenswege meines Denkens, S. 218. 177 Vgl. Wagnerianer-Spiegel [1891], zit. n. Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de Siècle, Berlin 1973, S. 70. 178  Houston Stewart Chamberlain an Cosima Wagner, Brief vom 24.11.1893, Briefwechsel, S. 364. 179 Vgl. Chamberlain, Lebenswege meines Denkens, S. 110, 118.

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geschlagen und dadurch „jede Fühlung mit dem betreffenden Kreise verloren“.180 Erst sein Buch Das Drama Richard Wagners (1892) öffnete ihm diese Zeitschrift, obschon immer noch nicht den Bayreuther Kreis, von dem er sich noch 1895 ausgeschlossen fühlte.181 Als 1899 Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts erschienen, wurden sie von Henry Thode, mit einer Rezension begrüßt, die das Werk als einen Aufguß der Ideen Wagners und Gobineaus (!) präsentierte und ihm vorwarf, ausschließlich von der germanischen Kultur zu sprechen und ihre christlichen Aspekte völlig zu ignorieren182 – eine Kritik, die den Autor so tief kränkte, daß er zu einer weitausgreifenden Gegenattacke ausholte.183 Nicht geringer waren die Gräben, die Wolzogen in mehreren Beiträgen aufriß, in denen er bei allen Lobesworten doch substantielle Vorbehalte gegen Chamberlains weitgefaßten Begriff der Germanen äußerte und eine Lanze für den nach seiner Ansicht unterbewerteten und mißverstandenen Gobineau brach.184 Auch die Bekundung, am Ende mit Chamberlain doch „wieder völlig eins“ zu sein, vermochte nichts daran zu ändern, daß das Verhältnis erkennbar beschädigt war.185 Mit Ausnahme Cosimas, hieß es im März 1904 an Hermann Graf Keyserling, sei der Bayreuther Kreis „eine unaufrichtige Gesellschaft“.186 War Chamberlain zwischen 1892 und 1899 noch mit zahlreichen Beiträgen in den Bayreuther Blättern vertreten, so waren es bis 1910 nur mehr zwei kleinere Texte und auch danach bis 1927 nur noch ein einziger größerer Aufsatz neben einigen Marginalien.187 Der heftigste Widerstand kam, wie naheliegend, von Schemann, mußte dieser sich doch in seiner Eigenschaft als Vermittler und Treuhänder Gobineaus durch Äußerungen angegriffen fühlen, mit denen Chamberlain seit 1898 immer offener Front gegen seinen Hausgott machte, um dessen Werk vollends „in die hybride Gattung der ‚wissenschaftlichen Phantasmagorieen‘ zu verweisen.“188 Bemühte sich Schemann noch 1901 in einer Besprechung des ersten Bandes der Grundlagen,

180 Ebd., 181 Vgl.

S. 219. Houston Stewart Chamberlain an Cosima Wagner, Brief vom 22.12.1895, Briefwechsel,

S. 418. 182 Vgl. Szylin, Henry Thode, S. 120 f. 183 Vgl. Houston Stewart Chamberlain: Wehr und Gegenwehr. Vorworte zur 3. u. zur 4. Aufl. der Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, München 1912; Bermbach, Chamberlain, S. 188 f.; Fritz, Chamberlain, S. 369. 184 Vgl. Hans von Wolzogen: Aus deutscher Welt, Berlin 1905, S. 70 ff., 102 ff., 112 ff., 126 ff. Ausführlicher hierzu: Bermbach, Chamberlain, S. 187 ff. 185 Wolzogen, Aus deutscher Welt, S. 125; vgl. Fritz, Chamberlain, S. 558. 186 Zit. n. Hilmes, Herrin des Hügels, S. 359. 187  Vgl. die Bibliographie bei Field, Evangelist of Race, S. 521 ff. Bei dem größeren Aufsatz handelt es sich um: Richard Wagner in Frankreich, in: BBl 34, 1911, S. 91–111. 188  Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts [1899], 2 Bde., München 194127, Bd. 1, S. 313 ff. Vgl. Richard Wagner [1896], München 194010, S. 223 f.; an Cosima Wagner, Brief vom 8.5.1898, Briefwechsel, S. 544 f.- Zum Werk Gobineaus und dessen Rezeption durch Chamberlain vgl. Lobenstein-Reichmann, Chamberlain, S. 499 ff.

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dem Autor gerecht zu werden, der ihm immerhin als ‚genialer Weiterbildner und Ausdeuter‘ erschien, so ließ er doch nicht im Zweifel, daß ihm Chamberlains Verhältnis zu Gobineau von „Verleugnung“, mangelnder Dankbarkeit und ungerechtfertigter „Animosität“ bestimmt zu sein schien.189 Neun Jahre später verwahrte er sich in seinem Überblick über die Gobineau-Rezeption gegen die „modische[r] Ueberschätzung bei der Verherrlichung Chamberlains“. Dessen Ideen behandelte er nicht im Abschnitt über „Die Schule Wagners“, sondern in den späteren Ausführungen über „Die literarischen Hauptvertreter des germanischen bezw. des deutschnationalen (Rassen-)Gedankens“, in denen er ihn als „schriftstellernden Nationalisten“ in der Art von Driesmans, Reimer, Moeller van den Bruck sowie „jüdische[n] Stimmen“ (!) präsentierte.190 Eher versteckt, aber für Eingeweihte durchaus erkennbar, beklagte er 1920, das „musik- und seelenlose“ England habe auch Bayreuth „ins Herz getroffen, vernichtet, zum Mindesten auf lange hinaus zur Ruine, zum Wallfahrtsort“ gemacht, was sich auf niemanden anders als die beiden Engländer in Bayreuth, Chamberlain und Winifred Wagner, beziehen konnte.191 Noch einmal kam er auf ihn in seinen Erinnerungen von 1925 zurück, wo er Chamberlain einerseits „echtes Deutschtum“ bescheinigte, ihn dabei aber auf gleiche Stufe wie den Dänen Gjellerup und den ‚Juden Trebitsch‘ stellte, deren „Bekenntnis zu dem von ihnen erwählten neuen [scil. Volk] einen etwas subjektiven Zug“ trage.192 Seine Abwertung Gobineaus sei zu einem „Sprengkörper“ geworden, „der uns auseinanderriß“ und das persönliche Verhältnis dauerhaft zerstört habe.193 Es war von hier aus gesehen nur folgerichtig, wenn Schemann sich ab 1901 weigerte, weitere Mitgliedsbeiträge Chamberlains für die GobineauVereinigung anzunehmen.194 In seinem späteren Überblick über die Entwicklung der Rassenlehren setzte er die Leistung Chamberlains ein weiteres Mal deutlich gegenüber derjenigen Gobineaus herab, da ihm, bei allen sonstigen Verdiensten, die rechte Grundlage in der Beurteilung der Rassenverhältnisse fehle.195 So begrenzt Schemanns politisches Urteilsvermögen aufgrund seiner Voreingenommenheit für die Weltsicht Gobineaus war: mit der Zuordnung zum Nationalismus sans phrase kam er Chamberlains Auffassungen näher als viele spätere Interpreten, die sogleich mit Etiketten wie „rassistisch“ oder „völkisch“

189 Vgl. Ludwig Schemann: Neue Bewegungen auf dem Gebiete der Geschichts- und Völkerkunde, Teil 6, in: Deutsch-Soziale Blätter 16, 1901, Nr. 684 vom 26.9. Der Text erschien ursprünglich als Teil einer Aufsatzreihe in der Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung 1901, Nrn. 130–132. 190 Schemann, Gobineaus Rassenwerk, S. 265 ff. 191 Schemann, Von deutscher Zukunft, S. 119. Den Hinweis auf diese Passage verdanke ich Voigt, Richard Wagners autoritäre Inszenierungen, S. 223 f. 192 Schemann, Lebensfahrten eines Deutschen, S. 190. 193 Ebd., S. 191. 194 Vgl. Schüler, Der Bayreuther Kreis, S. 124. 195  Vgl. Ludwig Schemann: Die Rasse in den Geisteswissenschaften, Bd. 1: Studien zur Geschichte des Rassengedankens, München 1928, S. 118, 462 ff.

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bei der Hand zu sein pflegen. Was zunächst den „Rassismus“ betrifft, so ist eine klare Überordnung von Rasse über Nation oder Volk in den frühen Schriften nicht zu erkennen.196 Wohl kommt bei der Besprechung des Judentums in der Musik und des Einflusses von Gobineau das „Rassenthema“ vor, jedoch in einer Weise, die diesen Begriff nicht klar von Volk bzw. Nation abgrenzt.197 Erst in den Grundlagen findet sich eine stärkere Differenzierung, indem zwischen „Rasse“ im Sinne einer natürlichen, Volk und Nation vorgeordneten Größe und einer zweiten Bedeutung unterschieden wird, bei der Rasse als eine diesen letzteren nachgeordnete, gewissermaßen deren Essenz enthaltende bzw. verkörpernde Kategorie figuriert: als etwas Gewordenes bzw. Werdendes, als Ergebnis einer immer weiter fortgetriebenen Sublimierung und Individualisierung, die sich in Europa seit dem Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte vollzogen habe. Edle Rasse, so Chamberlains Credo, könne in jedem Augenblick von neuem entstehen, sofern nur der erforderliche Wille und das nötige Rassenbewußtsein vorliege. Geschichte sei deshalb nicht durch die Arierdämmerung bestimmt, sondern im Gegenteil durch die Möglichkeit eines neuen, ‚moralischen Ariertums‘.198 „Nicht also aus Rassentum zur Rassenlosigkeit ist der normale, gesunde Entwicklungsgang der Menschheit, sondern im Gegenteil, aus der Rassenlosigkeit zur immer schärferen Ausprägung der Rasse“.199 Die in der Forschung geläufige Deutung, wonach ‚Nation‘ und ‚Religion‘ „Unterkategorien“ von „Rasse“ seien, vereinfacht diese begriffliche Architektonik.200 Auch die Bezeichnung „völkisch“ erscheint zumindest mit Blick auf Chamberlains frühe Wagnerschriften nur bedingt tauglich. Zwar lassen seine Aktivitäten während der Wiener Jahre eine deutliche Sympathie zur völkisch-antisemitischen Szene der Donaumonarchie erkennen201, doch folgt daraus nicht zwangsläufig, daß er sich deren gesamtes Weltbild zu eigen gemacht hätte. Den Affekt gegen die künstlerische Moderne, dem schon die moderatesten Erscheinungen derselben wie der Präraffaelitismus in England, der Symbolismus in Frankreich oder der Naturalismus in Skandinavien nur Symptome der Dekadenz waren, teilte er nicht202, erst

196 Vgl.

Field, Evangelist of Race, S. 223. insbesondere Chamberlain, Richard Wagner, S. 224. 198 Vgl. Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, S. 323 ff., 366, 320, 140. 199  Ebd., S. 347. Vgl. auch Houston Stewart Chamberlain an Cosima Wagner, Briefe vom 15.11.1893 und 8.5.1899, Briefwechsel, S. 360 ff., 544 f. 200 Vgl. statt vieler: Anja Lobenstein-Reichmann: Kulturchauvinismus. Germanisches Christentum. Austilgungsrassismus. Houston Stewart Chamberlain als Leitfigur des deutschnationalen Bürgertums und Stichwortgeber Adolf Hitlers, in: Hannes Heer und Sven Fritz (Hrsg.), „Weltanschauung en marche“. Die Bayreuther Festspiele und die „Juden“ 1876–1945, Würzburg 2013, S. 169–192, 175 f., 179. 201 Aufschlußreich dazu Fritz, Chamberlain, S. 152 ff. 202 Vgl. Chamberlain, Lebenswege meines Denkens, S. 388, 337 (zu Ruskin und Pater); S. 325, 330 (zu Baudelaire und Verlaine). Ferner im Briefwechsel mit Cosima Wagner, S. 85 f., 132 f., 214 f. (zu Ibsen). Vgl. auch Bermbach, Chamberlain, S. 542 ff. 197 Vgl.

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recht nicht die tiefsitzende Skepsis gegenüber Naturwissenschaft und Technik, die für das völkische Denken, wenn auch in einer im Vergleich zum modernen Fundamentalismus abgeschwächten Form, grundlegend ist, wie allein schon seine Autobiographie zeigt, in der den pflanzenphysiologischen Studien exakt soviel Raum zugemessen ist wie dem Kapitel über Bayreuth. Das zweite WagnerBuch spielte den Gegensatz seines Helden gegen die Naturwissenschaften stark herunter und verkündete deren vollkommene Harmonie mit Wagners Ideen.203 Im Briefwechsel mit Cosima Wagner schwang er sich zu wahren Elogen über die „beobachtende, experimentelle Wissenschaft“ auf und äußerte sich befremdet über das geringe Verständnis oder gar „Nichtverständnis der Naturwissenschaft“ „unter den besten meiner Freunde“.204 Auch wenn sich sein eigenes Verständnis bei näherer Betrachtung als durchaus unpräzis erwies, behauptete er doch eine „Verwandtschaft zwischen dem künstlerischen Denken“ und „der echten Naturforschung“ im Sinne einer „unvoreingenommene[n], liebevolle[n] Beobachtung der Natur“205, steht doch die Begeisterung außer Frage, die er angesichts des Pariser Eiffelturms, des Palais des Machines und aller übrigen modernen Eisenkonstruktionen empfand.206 Auf die Antwort seiner Briefpartnerin, die jetzigen Erfindungen wie z. B. der Phonograph brächten ihr eher die Beschränkung des Menschen näher und seien ein Ausweis der modernen Seelenlosigkeit207, reagierte er mit heftigem Widerspruch. Solche Aussagen machten ihn „wild“, alles sei beseelt, auch und gerade Phonograph und Telephon.208 Cosima Wagner wiederum, ganz die getreue Verwalterin des Erbes ihres Mannes, wünschte der armen Menschheit nichts weiter, als „daß die Historie aufhöre und sie zu sich komme. Anstatt dann, daß Bilder verbrannt werden, wie dieses Savonarola zuliebe geschah, werden Kanonen und alle Maschinen dem Altar des Friedens dargebracht werden.“209 Entsprechend skeptisch dürfte sie den Gliederungsentwurf für Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts aufgenommen haben, der für den Hauptteil breite Ausführungen über die moderne Chemie als „Ausgangspunkt einer neuen Naturwissenschaft“ sowie, „Dampf und Elektrizität: neue Lebensgewohnheiten, neue Industrie“ vorsah.210 Breite und Geschlossenheit des Entwurfs mögen sie zunächst bewogen haben, ihre Bedenken zurückzustellen, doch kamen sie bald darauf

203 Vgl.

Chamberlain, Richard Wagner, S. 240. Stewart Chamberlain an Cosima Wagner, Brief vom 21.6.1889, Briefwechsel, S. 120 f. 205 Chamberlain, Richard Wagner, S. 511; vgl. ebd., S. 221, 257. 206 Houston Stewart Chamberlain an Cosima Wagner, Brief vom 7.11.1889, Briefwechsel, S. 127. 207 Vgl. Cosima Wagner an Houston Stewart Chamberlain, Brief vom 24.11.1889, ebd., S. 129. 208 Houston Stewart Chamberlain an Cosima Wagner, Briefe vom 22.1. und 22.6.1890, ebd., S. 139, 168. 209 Cosima Wagner an Houston Stewart Chamberlain, Brief vom 20.4.1891, ebd., S. 223. 210 Houston Stewart Chamberlain an Cosima Wagner, Brief vom 18.2.1896, ebd., S. 443. Über Chamberlains Deutung von Schopenhauer vgl. den Überblick bei Lobenstein-Reichmann, Chamberlain, S. 526 ff. 204  Houston

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in ungewöhnlich schroffer Form zum Durchbruch, als sie gegen einen Vortrag Chamberlains über „Richard Wagners Philosophie“ Verwahrung einlegte. In einem langen, sehr ins Detail gehenden Brief beharrte sie gegen dessen Deutung auf der „Übereinstimmung des tragischen Abschlusses des ‚Ringes‘ mit dem Ergebnis der Schopenhauerschen Philosophie“, auf der Koinzidenz von Wagners Ausführungen über das Judentum mit der Ansicht Gobineaus sowie auf der Bedeutung, die insgesamt der Philosophie für das Denken Wagners zuzuschreiben sei, was Chamberlain bestritten hatte. Dessen Vortrag habe bei seinen Zuhörern den Eindruck erwecken müssen, die Gesammelten Schriften Wagners seien „philosophische Pfuscherei“, während in Wahrheit Chamberlain es sei, der „die Würde des Gegenstandes […] und den Adel der Sprache“ verloren habe.211 Der Briefwechsel kam nach einer Demutsgeste Chamberlains wieder in Gang, erreichte aber nie wieder die gleiche Intensität wie zuvor. Eine Analyse von Chamberlains im gleichen Jahr publizierten opus magnum, der Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, liegt außerhalb der hier behandelten Thematik, da von Wagner dort nur am Rande die Rede ist, sehr zur Verstörung und Verstimmung Bayreuths. Die bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Texte präsentierten Wagner als den „deutscheste[n] aller Künstler“, der in einer Zeit, als „der welsche Feind“ zwar „vom vaterländischen Boden vertrieben“ war, gleichwohl in geistiger Hinsicht „noch mächtig in Deutschland“ wirkte, gegen dessen Herrschaft angetreten sei und ihm in einer „zweiten Völkerschlacht“ Paroli geboten habe.212 Durch und durch Genie, in seinem Werk wie in seinem persönlichen Wesen, ja seinem ganzen Lebenslauf, sei Wagner der Schöpfer des ‚erhabenen deutschen Dramas‘ geworden, dem er durch die Musik allererst die Seele verliehen habe. Darin sei er höher selbst als Goethe zu stellen, von dem er sich überdies durch eine ungleich kräftigere Betonung des nationalen Standpunkts unterscheide: sei er doch der erste gewesen, „der mit schonungsloser Aufrichtigkeit und fanatischer Beharrlichkeit“ auf die eigentümlich germanische, der „gänzlich semitisierten sog. lateinischen Welt verloren“ gegangene Fähigkeit hingewiesen habe, ‚auf die Wurzeln‘ zurückzugehen.213 In Wagners „Genius“, und nur in ihm, sei der ‚Wille zur Volkheit‘ zum Ausdruck gekommen, der „einzig Deutschlands wahre Grösse“, die „heilige Sache seines Volkes“ im Auge habe.214 Gebildet auf „geschlechtlich-nationaler Grundlage“, schließe dieser Wille notwendig alle diejenigen aus, die weder durch gemeinsame Abstammung noch durch Sprache, Sitte sowie eine „hohe Kultur des Geistes“ an dieser Gemeinsamkeit teil hätten, was nach Chamberlain in allen Ländern Europas „einen grossen Teil der Bevölkerung“ betraf, der aus „mehr oder

211 Cosima

Wagner an Houston Stewart Chamberlain, Brief vom 26.3.1899, ebd., S. 556 ff. Richard Wagner, S. 35. 213 Houston Stewart Chamberlain: Richard Wagner’s Verhältnis zu den Klassikern der Dicht- und Tonkunst [1897], in: ders., Deutsches Wesen. Ausgewählte Aufsätze, München 1916, S. 132– 169, 137, 167 ff. 214 Chamberlain, Richard Wagner, S. 158, 156. 212 Chamberlain,

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weniger weissgetünchten Papuaner[n]“ bestehe – Menschen, denen „der umfassende Kulturgedanke, welcher Wagner’s ganzes Schaffen wie eine reichergeartete Lebensatmosphäre umgab“, Hekuba sei und auch fernerhin bleiben werde.215 Chamberlain zögerte nicht, dies für „die Mehrzahl gerade der ‚Gebildeten‘“ geltend zu machen, die „dem sogenannten Naturzustand viel näher [stünden] als sie selber vermuten“216, schloß in diese Gruppe aber nicht nur, wie in der Forschung breit erörtert, die Gesamtheit der Juden ein217, sondern auch die Frauen (und dies in einem Maße, das Cosima Wagner zum Protest veranlaßte, seien die Frauen doch die gerade von Chamberlain so geschätzten „Dilettanten“, und zwar „par excellence“).218 Zu diesem mit Exklusion gekoppelten, in heutiger Terminologie ‚ethnischen‘ Nationsbegriff komme bei Wagner noch die Forderung nach Kolonien hinzu, im weiteren ein kultureller Hegemonialanspruch, der sich nicht zuletzt auf die Kunst Wagners als des „Vorkämpfers und des echtesten Vertreters deutscher Eigenart“ gründe.219 Mit dieser Mischung von Exklusion, Fortschrittsbejahung und kulturellem Sendungsgedanken entsprach Chamberlains Wagnerbild in vielem den Vorstellungen, wie sie zur gleichen Zeit im bürgerlichen (‚alten‘) Nationalismus zirkulierten.220 Es überrascht deshalb nicht, dem Verfasser später, sogleich nach seiner 1916 vollzogenen Einbürgerung, als prominentem Mitglied des Alldeutschen Verbandes und Förderer der Deutschen Zeitung, bald darauf auch als Angehörigem der Vaterlandspartei und Mitherausgeber von Deutschlands Erneuerung zu begegnen.221 Von der dort dominierenden, nach außen expansiven, nach innen unter der Voraussetzung eines oligarchisch strukturierten Wahlrechts sogar zu Konzessionen in Richtung einer parlamentarischen Verfassung geneigten Richtung222, unterschied sich der frühe Chamberlain freilich durch eine Wagner-Deutung, die dem Komponisten kontrafaktisch eine weitgehende Vermeidung jeglicher „Zeitpolitik“ zuschrieb223, darüber hinaus in Anknüpfung an dessen Schriften aus der

215 Ebd.,

S. 495. S. 494; vgl. Bermbach, Richard Wagner in Deutschland, S. 181. 217  Vgl. 162, 220. Zu Chamberlains Radikalantisemitismus vgl. insbesondere seinen Beitrag über „Die jüdische Frage“ in Rumänien, der zunächst in rumänischer Fassung am 1.10.1900, auf deutsch unter dem Titel „Rasse und Nation“ am 7. und 9.5.1901 in der Täglichen Rundschau erschien. Näher dazu Fritz, Chamberlain, S. 388 f., ferner neben der in Anm. 200 genannten Literatur noch David Clay Large: Ein Spiegelbild des Meisters? Die Rassenlehre von Houston Stewart Chamberlain, in: Borchmeyer u. a. (Hrsg.), Richard Wagner und die Juden, S. 144–159. 218 Cosima Wagner an Houston Stewart Chamberlain, Brief vom 4.11.1889, Briefwechsel, S. 126. 219 Chamberlain, Richard Wagner, S. 162 f. 220 Für eine Skizze dieses Typus vgl. mein Buch: Die radikale Rechte in Deutschland, S. 31 ff. 221 Vgl. Field, Evangelist of Race, S. 376 ff.; Fritz, Chamberlain, S. 629, 654 ff., 675. 222  Vgl. nur Daniel Frymann: Das Kaiserbuch, Leipzig 19257, S. 43 f., 51. Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich bekanntlich der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß. 223 Vgl. Chamberlain, Richard Wagner, S. 158; Richard Wagner und die Politik, S. 138, 154. Mit Politik, so die Behauptung, habe Wagner sich nur ein einziges Mal, 1848, befaßt, als er seine Rede über das Verhältnis der republikanischen Bestrebungen zum Königtum hielt. Damit wird 216 Ebd.,

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Revolutionszeit dem oben skizzierten „logischen Bayreuther-Gedanken“ eine ‚mythisch-künstlerische‘ Fassung an die Seite stellte, welche die Möglichkeit einer breiteren Rezeption dieses Gedankens eröffnen sollte.224 Zwar sei es unmöglich, diesen „klipp und klar“ darzulegen, doch bedürfe es dessen auch nicht. Das für Wagner charakteristische anschauliche Denken, seine Verwendung klarer, scharf umgrenzter, plastischer Bilder, sei die Gewähr dafür, daß sein Werk „weit über den engen Kreis einer Minderzahl hinaus“ reiche und neben den „zuhöchst kultivierten Geister[n] […] auch auf die grosse gesunde Masse des Volkes unfehlbar wirken“ werde.225 Das dürfte, mit Blick auf die Entwicklung der Bayreuther Festspiele und ihre mangelnde Fähigkeit, bestimmte Milieugrenzen zu überschreiten, eine Überschätzung sein.226 Zumindest in ästhetischer Hinsicht ist Chamberlains Nationalismus indessen eine Tendenz auf Inklusion nicht abzusprechen.227

4 Im Wettstreit der Künste: Ästhetische Fundamentalisten contra Bayreuth Angesichts der Resonanz, die dem Werk Wagners in den Jahren um die Reichsgründung zuteil wurde, sollte man erwarten, daß sich dies auch auf dessen fundamentalistische Botschaft erstreckt hätte. Aber erstens wurde nicht jeder Wagnerianer auch zum Anhänger Schopenhauers (und umgekehrt); und zweitens erwies sich selbst dort, wo das Bekenntnis zu Wagner mit demjenigen zu Schopenhauer zusammenfiel, der Enthusiasmus als nicht sonderlich resistent. Bei Nietzsche war es, wie später ausführlich zu zeigen sein wird, spätestens seit 1876 mit der Wagner-Idolatrie vorbei, und auch seine Schopenhauer-Verehrung fand bald darauf ihr Ende.228 Etwas länger brauchten Nietzsches Freunde.229 Franz Overbeck lehnte es Ende 1877 in Reaktion auf Wolzogens als „Restaurationsversuch“ verstandenen Aufsatz „Nibelungendrama und Christentum“ ab, sich an den Bayreuther Blättern zu beteiligen, fuhr jedoch fort, die Festspiele zu besuchen.230

nicht nur sein Engagement während des Aufstandes von 1849 abgestritten, sondern auch sein Versuch, 1864/65 Einfluß auf die bayerische Politik zu gewinnen. 224 Chamberlain, Richard Wagner, S. 501. 225 Ebd., S. 501 f. 226 Vgl. Gebhardt und Zingerle, Pilgerfahrt ins Ich, S. 13 ff. Als Rekrutierungsfeld wird dort das Niveau-, Integrations- und Selbstverwirklichungsmilieu bestimmt. 227 Vgl. in diesem Sinn auch die Überlegungen bei Bermbach, Chamberlain, S. 86 f. 228 Vgl. Friedrich Nietzsche an Paul Deussen, Brief von Anfang August 1877, KSB 5, S. 264. 229 Zu ihnen ausführlicher weiter unten, III.1. 230 Vgl. Franz Overbeck an Hans von Wolzogen, Brief vom 1.12.1877. Zit. n. der Anm. d. Hrsg. in: Franz Overbeck – Erwin Rohde, Briefwechsel, hrsg. u. komm. von Andreas Patzer, Berlin und

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Erwin Rohde notierte wohl 1878, daß die Musik keinerlei sittlichen Inhalt besitze und Wagner sich irre, wenn er sich einbilde, „aus der Musik eine eigne, tiefere Art der sittlichen Empfindung hervorgehen lassen, wohl gar auf Musik eine Art von Religion gründen zu können.“231 Das hinderte ihn allerdings ebenso wenig wie Overbeck, in den 80er Jahren weiterhin nach Bayreuth zu pilgern. Noch 1895 gestattete er den Bayreuther Blättern den Abdruck seiner Heidelberger Prorectoratsrede, auf die Cosima Wagner durch Henry Thode aufmerksam gemacht worden war, nachdem sie schon drei Jahre zuvor mit Bewunderung Rohdes opus magnum Psyche gelesen hatte.232 Immerhin ließ er in seiner Antwort durchblicken, wie fern ihm inzwischen jene „Richtung des Seins und Denkens“ gerückt sei, die ihm in seiner Jugend so viel bedeutet habe.233 Gersdorff, der ebenfalls länger fortfuhr, die Festspiele zu besuchen und einen Briefwechsel mit Cosima Wagner unterhielt, berichtete Nietzsche 1883, er habe Wagner zwar mehr als eine Träne nachgeweint, doch gebe es in Bayreuth mittlerweile allzu viel, was ihn ent- und befremde.234 Fünf Jahre später begrüßte er das Buch seines Freundes über den ‚Fall Wagner‘ und sprach von seinem „tiefen innerlichen Abscheu dagegen, mich je wieder in solche Fesseln schlagen zu lassen.“235 Der einzige von Nietzsches Freunden, der Schopenhauer und Bayreuth die Treue bewahrte und dort von Cosima wie von Chamberlain hofiert wurde, war Paul Deussen.236 Von anderen prominenten Fundamentalisten scheint Paul de Lagarde (1827– 1891) kurz mit dem Gedanken gespielt zu haben, mit Wagner in eine gemeinsame Front zu treten. Im Januar 1876 schickte er seine Schrift Ueber die gegenwärtige Lage des deutschen Reiches nach Bayreuth und bat um deren Verbreitung, schlug

New York 1990, S. 266. Wolzogens Aufsatz ist bequem zugänglich in seinem Buch Wagneriana (1888). 231 Erwin Rohde, Cogitata, in: Otto Crusius, Erwin Rohde. Ein biographischer Versuch, Tübingen und Leipzig 1902, S. 255. 232 Vgl. Cosima Wagner an Houston Stewart Chamberlain, Brief vom 5.3.1892, Briefwechsel, S. 275; Erwin Rohde: Die Religion der Griechen, in: BBl 18, 1895, 7.–10. Stück, Juli-Oktober. Im gleichen Jahrgang war kurz zuvor im 4.–5. Stück die Schrift eines weiteren NietzscheFreundes erschienen: Paul Deussen, Ueber die Philosophie des Vedânta im Verhältniss zu den metaphysischen Lehren des Westens. 233  Vgl. die Anmerkung des Hrsg. zu: Franz Overbeck – Erwin Rohde, Briefwechsel, S. 501. Schon 1878 hatte er eine zuerst erteilte Zusage, einen Beitrag für die Bayreuther Blätter zu liefern, zurückgezogen und dies einige Zeit später gegenüber seiner Frau mit seiner Ablehnung dieses ‚Wurschtblattes‘ begründet (vgl. ebd., S. 264 ff., 315). 234 Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, Brief vom 2.8.1883, in: Die Briefe des Freiherrn Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, hrsg. von Karl Schlechta, 4 Bde., Bd. 3, Weimar 1936, S. 69. 235 Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, Brief vom 23.9.1888, ebd., S. 74. 236 Vgl. Houston Stewart Chamberlain: Dr. Paul Deussen’s Übersetzung der Sûtra’s des Vedânta, in: BBl 17, 1894, S. 249–264; Besprechung von Paul Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie, ebd. 20, 1897, S. 348–371; Houston Stewart Chamberlain an Cosima Wagner, Briefe vom 2.3. und 13.11.1897, Briefwechsel, S. 505, 521. Zu Deussen vgl. weiter unten, S. 130 f.

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dann aber eine postwendend erfolgte Einladung aus. Dasselbe geschah mit Wagners öffentlicher Einladung, in den Bayreuther Blättern in eine Erörterung der Frage zu treten: „Was ist deutsch?“. Nachdem er drei Jahre später in München eine Aufführung des Fliegenden Holländers erlebt hatte, berichtete er seiner Frau: „Ich bin völlig von Wagner geheilt, freiwillig setze ich mich einer derartigen Qual nicht ein andres Mal aus. Auch Wagner ist Welt, zwischen mir u. all dem hohlen großthuerigen Treiben eine gähnende Kluft.“237 Für Ludwig Schemann, der sich in seiner Zeit als Bibliothekar in Göttingen vergebens bemühte, dem von ihm hoch geschätzten Lagarde den nicht weniger bewunderten Wagner nahezubringen, war es „schier unbegreiflich […], daß Lagarde, der doch auch von Jakob Grimm ausgegangen war und auf deutsche Größe in jeder Form lossteuerte, hier das Gemeinsame gar nicht empfand. Es ist das Geheimnis des Weltgeistes, warum der Mann, der doch mehr als einmal nach Siegfried und Wotan gerufen hatte, nun nicht zu haben war, als sie in all ihrer Herrlichkeit vor uns hintraten.“ Lagarde, resümierte er resigniert, hatte einfach „keine Ahnung davon, wie vielen dieser (scil. Wagner) die heldische, die deutsche Ader gestärkt hat; und so mußte sich ihm die „vielberufene Überschätzung der Kunst durch Wagner, sein künstlerischer ‚Imperialismus‘, als ein Gespenst darstellen, das sich ihm in dem Maße vergrößerte, als er seine Deutschen, die er in erster Linie politisch-religiös, dann erst künstlerisch-wissenschaftlich gebrauchen konnte, dadurch in tatenlose Ästheten gewandelt zu sehen fürchtete.“238 Aber auch dort, wo man auf die Ästhetik größere Stücke hielt, erging es Wagner nicht besser, kam es doch in der wilhelminischen Ära zu einer Neuauflage jenes ‚Wettstreits der Künste‘ (Paragone)239, zu dem bereits Wagner seinen Beitrag geleistet hatte, der nun aber mehr und mehr zu Ungunsten der von ihm gewiesenen Lösung ausfiel. Daß nicht der Musik und auch nicht dem Musikdrama der Lorbeer gebühre, sondern allein der Dichtung, war eine Überzeugung, die wohl schon in der zweiten Hälfte der 90er Jahre im Kreis um die Blätter für die Kunst feststand, doch ist Genaueres hierüber nicht belegt.240 Ausführlichere Bezugnahmen finden sich erst in dem von 1910 bis 1912 erschienenen Jahrbuch für die geistige Bewegung, etwa im dritten Band mit einem Aufsatz von Karl Wolfskehl (1869–1948), von dem weiter unten die Rede sein wird, aber auch im zweiten Teil von Kurt Hildebrandts (1881–1966) Abhandlung über „Romantisch und dionysisch“, in dem Wagner der Romantik und damit der „zersetzung

237 Zit. n. Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, S. 180. 238 Schemann, Paul de Lagarde, S. 375 f. 239 Vgl. Annette Simonis: Der Vergleich und Wettstreit der Künste. Der „Paragone“ als Ort einer komparativen Ästhetik, in: Achim Hölter (Hrsg.), Comparative Arts. Universelle Ästhetik im Fokus der vergleichenden Literaturwissenschaft, Heidelberg 2011, S. 73–86. 240 Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 77. Generell zu diesem Organ Steffen Martus: Geschichte der Blätter für die Kunst, in: Aurnhammer u. a. (Hrsg.), Stefan George und sein Kreis, Bd. 1, S. 301–364.

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und auflösung“ zugeordnet wird.241 Zwölf Jahre später hat Hildebrandt diesen Gedanken zu einem Buch über Wagner und Nietzsche ausgearbeitet, das dem ersteren eine dämonische Natur bescheinigt, die von „barbarisch-dionysischer Kraft gespeist“ werde und sich durch ein „Unmaass“ vom „Platonischen Mittler zwischen Drang und Göttlichkeit“ unterscheide.242 „Daß Wagners Seele das Kampffeld war, auf dem Musik und Dichtung miteinander rangen, macht ihn zur europäischen symbolhaften Gestalt; daß er auf der Höhe seiner Erkenntnis der Dichtung den Preis zuerkannte, bezeugt ihn als bedeutenden Denker; daß trotzdem die Musik in ihm dämonisch herrschte, macht ihn zu einem Verhängnis der europäischen Kunst.“243 In einem kurz zuvor gemeinsam mit Hildebrandt veröffentlichten Band über Nietzsche bekräftigte Ernst Gundolf (1881–1945) dieses Urteil, ergänzte es aber durch eine Kritik an Wagners antisemitischen Ausfällen. Es müsse schlimm um das deutsche Volk bestellt sein, „wenn sein Leib und Geist schon so schwach wäre, daß es die an Zahl und Kräften so weit unterlegene Art nicht im Guten und Schlimmen nützen und bewältigen könnte, und also gezwungen wäre, sie als Fremdes völlig auszuscheiden. Wir haben eine höhere Meinung von der wahren Macht des Deutschtums und werden dabei bestärkt, wenn wir sehen, daß es selten dessen Beste sind, die solche Furcht am stärksten bekunden.“244 Die Liste ließe sich durch weitere Zeugnisse, etwa von Friedrich Gundolf, Erich Wolf und Carl Petersen ergänzen, doch würde dies keine neuen Gesichtspunkte ergeben.245 Ich belasse es deshalb bei einigen Hinweisen auf Stefan George (1868–1933), der aus seiner Ablehnung Wagners keinen Hehl gemacht hat. In den Gesprächen, die er während des Ersten Weltkriegs mit Edith und Julius Landmann führte, fand er Wagner „outriert“, nur romantisch, ohne ein „Urerlebnis“, wie es für große Kunst unerläßlich sei. „Wagners Werke“, hieß es in kategorischem Ton, „gehen letztlich aus Bildungserlebnissen hervor, aus der Konstruktion, wie Kunst sein solle.“246 Während eines Besuches in Heidelberg im April 1917 rechnete er Wagner zwar nicht zu den „zersetzten Menschen“, „doch sei zu untersuchen, ob nicht die Zersetzung der modernen Kunst von ihm ausgehe.“ Im übrigen erinnere „Wagners Sucht nach prunkvollen Mitteln“ an „Mackart“ (sic). Das Religiöse an ihm sei fragwürdig, die Musik reine Nervenkunst, die Diktion seiner Schriften unerträglich.247 Bei einer anderen Gelegenheit, ebenfalls in Heidelberg: im

241 Kurt Hildebrandt: Romantisch und dionysisch (II), Jahrbuch für die geistige Bewegung 3, 1912, S. 115–131, 117, 121. 242 Vgl. Kurt Hildebrandt: Wagner und Nietzsche. Ihr Kampf gegen das neunzehnte Jahrhundert, Breslau 1924, S. 30, 12. 243 Ebd., S. 29. 244 Ernst Gundolf: Nietzsche: Sein Amt, in: ders. und Kurt Hildebrandt: Nietzsche als Richter unserer Zeit, Breslau 1923, S. 1–62, 15. 245 Vgl. im Überblick Wolfgang Osthoff: Musikwissenschaft und George-Kreis (1908–1946), in: Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis, S. 357–376. 246 Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf und München 1963, S. 22, 60. 247 Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 108.

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September 1920, fand George auch scharfe Worte gegen Nietzsche, der Wagner seine „Erweckung“ und die Geburt der Tragödie verdanke und ihm dennoch die Treue gebrochen habe, erneuerte aber zugleich seine Vorbehalte gegen „diesen schlechten Mimen und seinen Walhall-Schwindel“.248 Mit Wagner war für George in jeder Hinsicht kein Staat zu machen. Von den Mitgliedern der sogenannten Kosmischen Runde, die sich um 1900 zeitweise mit dem George-Kreis kreuzte, ist gesagt worden, sie hätten eine Affinität zu Wagner gehabt.249 Inwieweit dies objektiv der Fall gewesen sein mag, sei hier dahingestellt. Subjektiv gesehen kann davon jedoch nicht die Rede sein. Alfred Schuler (1865–1923) hat sich nirgends auf Wagner bezogen und hätte dies auch nicht tun können, stand doch sein Kult des kaiserzeitlichen Rom in diametralem Gegensatz zu Wagners Antiromanismus.250 Ludwig Klages dagegen (1872–1956) fand die romanischen Rassen zu ‚mikrokosmisch‘ und sprach allein den Germanen ‚makrokosmische Elementarsubstanz‘ zu, „eine viel stärkere Neigung, die Götter nach außen in die Schauer der ungeformten Naturgewalten zu verlegen“, worin sich zugleich „eine Abneigung gegen die Anerkennung gottbesessener Cäsaren und Despoten“ manifestiert habe.251 Das disponierte Klages anfangs für eine gewisse Empfänglichkeit für Wagner, den er zusammen mit Böcklin und Nietzsche zu den großen ‚Abenteurern‘ auf der „Suche nach der verlorenen Urheimat der Seele“ zählte.252 In seiner Musik entdeckte er „seltene Kostbarkeiten“, die mit nichts, nicht einmal mit Beethoven, zu vergleichen seien: „Hier singt eine schwärmerische Fülle und Traurigkeit von ganz andrer Art als jene christliche, für die allein die klassische deutsche Tonkunst Klänge fand, und es zeigt sich vollendete Meisterschaft, um nicht zu sagen eine traumhafte Sicherheit in der Bewältigung des Stoffes.“ Zwar gehe vieles davon auf das Konto jenes Geistes der Romantik, „dessen dunkler Strom im Unterwasser des neunzehnten Jahrhunderts so heimlich als mächtig rauschte.“ Aber das hindere nicht, „daß das Verdienst der musikalischen Entdeckung immerdar am Namen Wagners hafte.“253

248 Edgar

Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, München und Düsseldorf 19542, S. 271. 249 Vgl. Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967, S. 225 ff. 250 Vgl. Alfred Schuler: Gesammelte Werke, hrsg., komm. u. eingel. von Baal Müller, München und Neustadt 20172, S. 218 ff. Näher zu Person und Werk Gerhard Plumpe: Alfred Schuler. Chaos und Neubeginn. Zur Funktion des Mythos in der Moderne, Berlin 1978. 251 Ludwig Klages: Rhythmen und Runen. Nachlass hrsg. von ihm selbst, Leipzig 1944, S. 265 f., 275. Die betreffenden Passagen stammen aus der Zeit von 1900–1913. Ähnlich lautende Ausführungen über „Rom und Germanien“ finden sich ebd. S. 245, 277 sowie (aus den Jahren bis 1915) S. 312, 317. 252 Ludwig Klages: Stefan George [1902]; 2. Aufl., hrsg. u. eingel. von Michael Großheim, Bonn 2008, S. 59. Vgl. Hans Eggert Schröder: Ludwig Klages. Die Geschichte seines Lebens. Erster Teil: Die Jugend, Bonn 1966, S. 111. 253 Ludwig Klages: Der Fall Nietzsche-Wagner in graphologischer Bedeutung, in: ders., Zur Ausdrucksbewegung und Charakterkunde. Gesammelte Abhandlungen, Heidelberg 1926, S. 108– 134, 377–383, 377 f. Der Text ist eine weitgehend unveränderte Wiedergabe eines 1904 unter

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Diese Würdigung stand jedoch bereits in einem Text, mit dem Klages sich auf Dauer von Wagner verabschiedete. Seine „Operntexte“ seien vielfach affektiert und geschmacklos, „seine Musik, als Ganzes genommen, […] einfach schlechte Musik, wenn auch effektvoll aufgedonnert“, „eine künstlerische Frucht am Baum der nämlichen Epoche“, die die Romane der Marlitt hervorgebracht habe – einer Zeit, die sich darin versteige, in Haeckel „das Nonplusultra des Naturforschers“, in der Dampfmaschine „einen unerhörten Kulturfortschritt“ und im Zweiten Kaiserreich „die Spitze der Weltgeschichte“ zu sehen. Es bedürfe daher auch keiner prophetischen Gaben, „um trotz der grade heute ins Breite gehenden Wirkung der Wagnerei mit Sicherheit vorauszusagen, daß der Stern dieses Ruhmes in schnellem Erbleichen begriffen ist und wohl noch vor Ablauf eines Menschenalters am Geisterhimmel der Unvergänglichen erloschen sein wird.“254 Nicht weniger ablehnend fiel das Urteil Karl Wolfskehls aus, der freilich schon 1903/04 im großen ‚Schwabinger Krach‘ aus unterschiedlichen Gründen aus der „Kosmischen Runde“ ausschied: teils, weil er die für den Urgrund des neuen geistigen Lebens gehaltene „Blutleuchte“ weder wie Schuler im Römertum, noch wie Klages in Germanien suchte, sondern im Zionismus; teils weil er sich im parallel geführten Streit über die Wirkungsmächtigkeit der Kunst auf die Seite Georges schlug, während Klages und Schuler die regenerative Kraft der Kunst deutlich geringer veranschlagten.255 Wie zu Recht bemerkt worden ist, hinderte dies Wolfskehl allerdings nicht, auch weiterhin an zentralen Prämissen der Kosmiker festzuhalten.256 Hatte er in der wohl noch 1903 fertiggestellten 7. Folge der Blätter für die Kunst eine Verfallsgeschichte des Dramas konstruiert, die ihren Tiefpunkt im Gesellschaftsdrama des 19. Jahrhunderts erreicht habe, zu dem auch die Opern von Richard Wagner zu rechnen seien257, so spitzte er dieses Urteil einige Jahre später in einem Beitrag zum dritten Jahrbuch für die geistige Bewegung zu einer Absage an die Musik schlechthin und diejenige Wagners im besonderen zu. Die Musik stehe rätselhaft und fremd unter den anderen Künsten. An sich „völlig irrational“, „fähig und willens, alle grenzenlosen, alle überstarken, alle unbestimmten Triebe zu wecken und zu befrieden“, sei sie doch zugleich „berechenbar wie keine Kunst, beweisbar fast“, und dabei völlig auf sich selber gestellt, „absoluten Wesens“, aus der künstlerisch-menschlichen Grundeinheit herausgelöst.258 Nirgends komme dies deutlicher zum Ausdruck als im „Werk des

dem Pseudonym Erwin Axel erschienenen Beitrags in den Graphologischen Monatsheften mit dem Titel: Der Fall Wagner. 254 Ebd., S. 377. 255  Vgl. Kolk, Literarische Gruppenbildung, S. 90 f.; Jürgen Egyptien: Die ‚Kreise‘, in: Aurnhammer u. a. (Hrsg.), Stefan George und sein Kreis, Bd. 1, S. 365–407, 372 ff. 256 So Karlhans Kluncker in der von ihm hrsg. Ausgabe des Briefwechsels von Karl und Hanna Wolfskehl mit Friedrich Gundolf 1899–1904, in: Castrum Peregrini 123–125, 1976, S. 313. 257  Vgl. Karl Wolfskehl: Über das Drama [1904], in: Landmann (Hrsg.), Der George-Kreis, S. 74–77, 77. 258 Karl

Wolfskehl: Über den Geist der Musik [1912], ebd., S. 187–195, 190 f.

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letzten grossen Musikers“, in dem „das alte Europa zum letztenmal aufrauscht, die letzten Erschütterungen erfährt, die es noch erfahren kann“: „Wagners Werk ist das logisch unausweichliche Ergebnis der gesamten musikalischen Entwicklung, und dass in ihm das grenzenlos gewordne Chaos zur ‚unendlichen Melodie‘ sich gewandelt hat, ist kein Abfall von den alten Prinzipien der Musik, sondern die letzte, wahrste Erscheinungsart ihres innersten Gehalts. Alle Lebensströme, aus denen nach dem Untergang der Antike das christliche Europa sich nährte und formte, vereinigen sich, von fremdesten süss zum Ende lockenden Schauern durchzittert, im Wagnerischen Werk, und dies dufterfüllte Aufschäumen alles Gewesenen, dies Meerleuchten, dies Heraufglänzen versunkener Horte bewirken die unentrinnbar laute, bis zur letzten Hingabe, zur Selbstverschleuderung reissende Zauberkraft seines Werkes. […] So ist er ein Erfüller geworden, die ganze Vergangenheit, die ganze bürgerliche Zeit, die ganze ‚Welt des Ich‘ – alles ist in ihn eingemündet und von ihm erschöpft worden: seine Musik ist der notwendige Abschluss der europäischen Musikentwicklung.“259

Was Max Nordau, Zionist wie Wolfskehl, jedoch ganz im Sinne des positivistischen Mainstream argumentierend, Anfang der 90er Jahre in einem großen Rundumschlag für die Literatur und bald darauf auch für die Malerei der Avantgarde behauptet hatte: daß sie im Zeichen einer Erkrankung und „Entartung“ der Zivilisation stehe260, übertrug Wolfskehl auf die Musik, nunmehr allerdings für diese Kunst ohne die Hoffnung auf Gesundung, die bei Nordau noch mitschwang: „Abhilfe und Rettung sind unmöglich. Denn wenn unsre gewisse Hoffnung wahr wird, wenn das neue Leben sich erkennt und das Reich sich erfüllt, dann muss die Entartung ein Ende haben, und mit ihr die Herrschaft der Musik.“261 So weit ging man im Kreis um Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) nicht, doch reichte auch hier die Skala der Einstellungen gegenüber Wagner von Distanz bis zu offener Ablehnung, ja Verwerfung. Hofmannsthal selbst ließ zwar in seinem Frühwerk durchaus Wagner-Reminiszenzen erkennen und fand auch später manches lobende Wort, etwa über die Meistersinger.262 Doch das geschah nichtöffentlich im Briefwechsel mit einem entschiedenen Wagnerianer wie Richard Strauss und muß à conto seiner auch sonst demonstrierten Konzilianz gesetzt werden. Selbst in diesem Kontext beschwerte er sich über die durchaus „unleidliche[n] Liebesbrüllerei ohne Grenzen, sowohl im Umfang als im Maß, – eine abstoßend barbarische, fast tierische Sache, dieses Aufeinanderlosbrüllen zweier Geschöpfe in Liebesbrunst, wie er es praktiziert.“263 In anderen Korrespondenzen, 259 Ebd.,

S. 194. Max Nordau: Entartung, 2 Bde., Berlin 1892 und 1893; Christoph Schulte: Psychopathologie des Fin de Siècle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau, Frankfurt am Main 1997, S. 201 ff. 261 Wolfskehl, Über den Geist der Musik, S. 195. 262 Vgl. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 335 f., 340; Der Mythos als Oper. Hofmannsthal und Richard Wagner, in: Hofmannsthal-Forschungen 7, 1983, S. 19–65; Karl Konrad Polheim: Hofmannsthal und Richard Wagner, in: Hans-Dietrich Irmscher und Werner Keller (Hrsg.), Drama und Theater im 20. Jahrhundert, Göttingen 1983, S. 11–23. 263 Hugo von Hofmannsthal an Richard Strauss, Brief vom 6.6.1910. Zit. n. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 342. 260 Vgl.

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insbesondere mit dem gegenüber Wagner ablehnend eingestellten Rudolf Pannwitz264, machte er keinen Hehl daraus, daß Wagner ihm „maßlos unheimlich“, mit dem „doppelte[n] Stigma des XIX. Jahrhunderts und der bocherie“ belastet erscheine.265 Er könne, hieß es an anderer Stelle, „das genre Wagner in Bezug auf die eigene Production nicht ausstehen, es ist mir ganz gegen die Natur.“266 Schon in der Romantik lägen „die Gifte dicht neben den heiligen und magischen Elixieren, in Wagner verkrampft sichs furchtbar, daher die Magie und die Gefahr seiner machtvollen Erscheinung, das seltsam doppelt-blickende des ganzen Werkes, jeder Zeile, jedes Tactes“.267 Es entsprach dieser Einstellung, daß sich in den anderthalbtausend Seiten der Reden und Aufsätze Hofmannsthals kein einziger nur Wagner gewidmeter Text findet und sein Name auch dort nicht begegnet, wo eine sachliche Referenz möglich gewesen wäre, in den beiden Reden über Beethoven von 1920.268 Dafür war neben der Abneigung gegen Wagners Musik nicht zuletzt auch der nach dem Ersten Weltkrieg deutlich hervortretende Wille verantwortlich, Bayreuth als ein lediglich „einem großen Künstler“ dienendes Unternehmen durch Festspiele in Salzburg zu überbieten, die „dem ganzen klassischen Besitz der Nation“ gewidmet sein sollten.269 Damit könne die Tradition des barocken Theaters und mit ihr die der habsburgischen Monarchen neu belebt werden, denen „ein großartiger repräsentativer Sinn“ bzw. eine „universal-monarchische[n] Gesinnung“ eigen gewesen sei, an der gemessen „Wagners Gesamtkunstwerk nur als das matte, in einer kunstmatten Spätzeit gewaltsam heraufbeschworene Gespenst erscheint.“270 Sein Briefpartner Rudolf Kassner, der zwischen 1900 und 1906 in Wien zum Freundeskreis Houston Stewart Chamberlains gehörte, beklagte

264 Vgl.

Rudolf Pannwitz an Hugo von Hofmannsthal, Brief vom 1.9.1917, in: Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz, Briefwechsel 1907–1926, hrsg. von Gerhard Schuster. Mit einem Essay von Erwin Jaeckle, Frankfurt am Main 1994, S. 54. In einem weiteren Brief vom 3.10.1919 heißt es etwas ausführlicher: „Wagners gestalten sind überhaupt nicht nordisch, das grosze was bei Wagner neben allem grässlichen ist ist nicht gestalt sondern gefühl gedanke und sage. seine gestalten sind deutscher kitsch“ (ebd., S. 405). 265 Hugo von Hofmannsthal an Rudolf Pannwitz, Brief vom 2.9.1918, ebd., S. 291. 266 Hugo von Hofmannsthal an Rudolf Pannwitz, Brief vom 16.1.1918, ebd., S. 181. 267 Hugo von Hofmannsthal an Rudolf Pannwitz, Brief vom 3.8.1918, ebd., S. 253. 268 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Reden und Aufsätze, Bd. 2, in: ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt am Main 1979, S. 69–86. 269  Hugo von Hofmannsthal: Die Salzburger Festspiele [1919], ebd., S. 258–263, 260. Vgl. auch die Spitze gegen die ideologischen Züge von Wagners Projekt, in: Das Reinhardtsche Theater [1918], ebd., S. 250–254, 252. Vgl. Norbert Christian Wolf: Ordnungsutopie oder Welttheaterschwindel? Hofmannsthals Salzburger Festspielkonzepte in ihrem kultur- und ideologiegeschichtlichen Kontext, in: Hofmannsthal Jahrbuch zur europäischen Moderne 19, 2011, S. 217–254. 270 Hugo von Hofmannsthal: „Denkmäler des Theaters“ [1924], in: Reden und Aufsätze, Bd. 2, S. 325–328, 327. Vgl. auch König, Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen, S. 145.

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nicht ohne Grund, Hofmannsthal habe zu keiner Zeit ein Verhältnis zu Wagner finden können.271 Von Hofmannsthals näheren oder ferneren Freunden gilt nichts anderes. Rudolf Pannwitz (1881–1969) ließ 1920 der brieflichen Kritik die öffentliche Absage folgen und geißelte Wagner als „eine mischung von barbar décadent caesar und bourgeois, halb schulmeister und halb artist halb sektierer und halb acteur halb schlauberger und halb frommer tölpel halb sachlich als lüstern“, der einen „nationalen kult“ habe stiften wollen „und dies natürlich nicht ohne jüdischen instinkt“ getan habe.272 Rudolf Borchardt (1877–1945) legte einige Jahre später mit einer Attacke gegen „den emphatischen und unzuverlässigen Germanismus Wagners und Chamberlains samt ihrer gleichfalls noch fortvegetierenden Nachkommenschaften“ nach, „in denen der naive deutsche Drang sich seine Weltmission dramatisch und reizvoll zu gestalten“ zum Ausdruck gelangt sei.273 Weder er noch Rudolf Alexander Schröder (1878–1962) verfaßten speziell auf Wagner bezogene Arbeiten. Erst Mitte der 30er Jahre sahen sie sich angesichts der Beziehungen zwischen Bayreuth und Hitler zu wütenden Attacken veranlaßt, die erst lange nach ihrem Tod veröffentlicht werden konnten. In ihnen zogen sie, wie hier nur angedeutet werden soll, eine gerade Linie von der „Wagnersche[n] Seuche“ über Stefan George bis Hitler, der den „organischen Anschluss an Wagner“ gebildet habe.274 Das muß man freilich auch als Selbstkritik lesen, hatte sich Borchardt doch noch im November 1930 vermessen, die NSDAP zur „kirchlichen und christlichen Tradition“ herüberziehen und der „allgemein conservativen Macht-Struktur“ hinzufügen zu können.275

5 Ausblick Es gehört zu den bekannten, nicht zu bestreitenden, eben deshalb aber auch nicht ein weiteres Mal auszubreitenden Fakten, daß das Haus ‚Wahnfried‘, insbesondere Siegfried und Winifred Wagner, schon in den Anfangsjahren der Weimarer

271  Zit. n. Sławomir Leśniak: Thomas Mann, Max Rychner, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Kassner. Eine Typologie essayistischer Formen, Würzburg 2005, S. 134. Vgl. Klaus E. Bohnenkamp (Hrsg.): Rudolf Kassner und Houston Stewart Chamberlain. Briefe und Dokumente einer Freundschaft, Berlin 2020. 272 Rudolf Pannwitz: Einführung in Nietzsche, München 1920, S. 24. 273 Rudolf Borchardt: Die Antike und der deutsche Völkergeist [1928], in: ders., Reden, hrsg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von R. A. Schröder und S. Rizzi, Stuttgart 1955, S. 274, 277. 274 Rudolf Borchardt: Aufzeichnung Stefan George betreffend. Aus dem Nachlaß hrsg. u. erl. von Ernst Osterkamp. Schriften der Rudolf Borchardt-Gesellschaft Bd. 6/7, Tübingen 1998, S. 76, 108. Zu den gleichzeitig entstandenen Texten von Schröder vgl. Eschenbach, Imitatio im GeorgeKreis, S. 305 ff. 275 Rudolf Borchardt an die „Arbeitsstelle für konservatives Schrifttum“, Brief nach dem 24.11.1930, in: ders., Briefe 1924–1930, bearb. von Gerhard Schuster, München und Wien 1995, S. 553.

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Republik die damals noch bedeutungslose, im Status einer bayerischen Regionalpartei verharrende NSDAP unterstützte und insbesondere deren Führer hofierte, welcher seinerseits sich gern mit dem Bekenntnis zu Wagner und den Bayreuther Festspielen schmückte. Die mit großem Propagandaaufwand inszenierten Besuche Hitlers auf dem Grünen Hügel, seine Segnung durch Chamberlain, der im Januar 1926 vollzogene Parteibeitritt des Ehepaars Chamberlain, dies alles scheint keinen anderen Schluß zuzulassen als den, der oft gezogen wird: daß in der Hitlerbewegung die Wagnerbewegung ihren lang gesuchten politischen Ausdruck gefunden hat. Näher besehen beruhte diese Allianz jedoch auf einer doppelseitigen Selektivität. Von der Hitlerseite her bestand, sieht man von den ästhetischen Aspekten ab, ein starkes Interesse an den Legitimitätsgewinnen, die eine Assoziation mit einem für die Elitenkultur so repräsentativen Ort wie Bayreuth erbrachte, Gewinne, die sich allerdings nur in dem Maße einstreichen ließen, wie man von einer Thematisierung des politischen Engagements absah, das insbesondere Chamberlain in die Nähe zunächst Wilhelms II., dann des Tirpitz-Lagers und schließlich der Vaterlandspartei geführt hatte, allesamt eben jenem „alten Nationalismus“ zugehörig, von dem Hitler sich in seinen Schriften und Reden nicht scharf genug distanzieren konnte.276 Von Bayreuth her gesehen war es wiederum ein Glücksfall, daß sein wichtigster Wortführer, Chamberlain, durch seine in den Nachkriegsjahren rapide fortschreitende Erkrankung nicht mehr in der Lage war, sich ein genaueres Bild von der Partei zu verschaffen, mit der er den Schulterschluß vollzog. Hitler und Bayreuth, das ging so lange gut, wie beide Seiten sich auf die Akzentuierung ästhetisch-ritueller Aspekte beschränkten und weiter ausgreifende ideologische Erörterungen anderen überließen.277 Diese letzteren bewegten sich nach 1918 so wenig in Richtung Einheit wie zuvor, ja sie fielen gerade infolge der für die Nachkriegslage typischen Neigung zur Radikalisierung eher noch heterogener aus. Die Erfahrung einer, wenn schon nicht ‚totalen‘, so doch alle bisherigen Eingriffe übertrumpfenden ‚Mobilmachung‘ während der Kriegsjahre ließ viele der für den alten Nationalismus charakteristischen Exklusionen als problematisch erscheinen und begünstigte eine Rhetorik der Volksgemeinschaft, in deren Licht der ‚Bayreuther Gedanke‘ zunehmend defizitär erschien. Es überrascht daher nicht, wenn ein für den aufkommenden ‚neuen‘, auf Erweiterung der Nation drängenden Nationalismus so zentraler Autor wie Moeller van den Bruck nicht nur zu den Alldeutschen und Chamberlain auf Distanz ging278, sondern auch von Wagner nichts mehr wissen wollte, obwohl gerade die von ihm präferierte ‚konservativ-revolutionäre‘ Auslegung des Nationalismus insofern an gewisse Bayreuther Vorgaben anknüpfte,

276 Vgl.

Breuer, Die radikale Rechte in Deutschland, S. 267 f. diesem Punkt zu Recht Udo Bermbach: Liturgietransfer. Über einen Aspekt des Zusammenhangs von Richard Wagner mit Hitler und dem Dritten Reich, in: Friedländer und Rüsen (Hrsg.), Richard Wagner im Dritten Reich, S. 40–65. 278 Vgl. Moeller van den Bruck: Das dritte Reich [1923], Hamburg 19314, S. 202. 277  In

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als sie sich ausdrücklich als eine „Bewegung von Oben, und nicht von Unten her“ verstand.279 Das traf auch auf die von Moeller mit auf den Weg gebrachte und geleitete Zeitschrift Gewissen zu, die weder Wagner noch Bayreuth größere Beachtung schenkte, und in noch stärkerem Maß für die in der zweiten Hälfte der 20er Jahre breit einsetzende neonationalistische Publizistik der Kreise um Ernst Jünger, Friedrich Hielscher, Franz Schauwecker oder Werner Laß.280 Kam dort, was selten genug geschah, auf Wagner einmal die Rede, so in einer Weise, die ihn der Romantik und damit einer überholten Position zuwies. Hans Freyer (1887–1969) setzte hier schon 1921 die Akzente, als er der von Schopenhauer ausgehenden und in Wagner und Nietzsche gipfelnden Reaktion gegen den Geist des 19. Jahrhunderts einen tief romantischen und von Grund auf unzeitgemäßen ‚Glauben an die metaphysische Bedeutung der Kultur‘ vorwarf, der sich in seiner völligen Entwertung des Wirtschaftlichen „im letzten Grunde als ein Kind dieses Geistes selbst“ erwiesen habe.281 Auf der gleichen Linie lag Carl Schmitt (1888–1985), noch in der Vorkriegszeit ein Autor der Bayreuther Blätter, der 1916 in Theodor Däubler einen neuen Leitstern fand, um 1929 den romantischen Ästhetizismus, zu dem er jetzt auch Wagner rechnete, für eine überwundene Zwischenstufe zwischen dem Moralismus des 18. und dem Ökonomismus des 19. Jahrhunderts zu erklären.282 Nicht viel anders argumentierte Alfred Baeumler (1887–1968), wenn er Wagners Tristan mit seiner „Todestrunkenheit“ zum „musikalische[n] Gipfelwerk der Romantik“ erklärte283, das durch seine Überakzentuierung des Mystischen eine ‚heroische Deutung‘ des dionysischen Phänomens lange verstellt habe, bis Nietzsche sich hiervon befreit und im „durchdringende[n], vom Schmerz

279 Vgl.

ebd., S. 234. Schauwecker und Laß ist mir keine längere Einlassung zu Wagner bekannt. Hielscher zählt ihn zwar neben Bismarck und Nietzsche zu den drei herausragenden Deutschen des 19. Jahrhunderts, befaßt sich aber hauptsächlich mit den beiden anderen (Das Reich, Berlin 1931, S. 217). Zu Jünger bemerkt der Herausgeber seiner politischen Publizistik aus den 20er und 30er Jahren zu Recht: „Neben einer knappen Bezugnahme auf Wagners Pamphlet Das Judentum in der Musik (1850) […] und dessen Reisebriefe […] sowie der für Jüngers Generation typischen oberflächlichen Kenntnis von Wagners Leben und Werk hat das Werk des Musikers keinen Einfluß auf den unmusikalischen Augenmenschen Jünger gehabt“, in: Ernst Jünger, Politische Publizistik 1919 bis 1933, hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 757 f. 281 Vgl. Hans Freyer: Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahrhunderts [1921], Hildesheim 1966, S. 150 f., 153. 282  Vgl. Carl Schmitt: Richard Wagner und eine neue ‚Lehre vom Wahn‘, in: BBl 35, 1912, S. 239–241; Theodor Däublers „Nordlicht“. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes [1916], Berlin 1991, S. 41; Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen [1929], in: ders., Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1979, S. 79–95, 83. Vgl. Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, S. 21, 41, 44, 47, 50 ff. u. ö. 283  Alfred Baeumler: Das mythische Weltalter. Bachofens romantische Deutung des Altertums [1926], München 1965, S. 212. 280 Von

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des Kampfes durchzitterte[n] Jubel des Siegers“ den „echte[n] Ausdruck des Dionysischen“ gefunden habe284 – eine Wendung, auf welche die von Ernst Bloch ins Spiel gebrachte Tarzan-Assoziation besser paßt als auf Ludwig Klages.285 Für die junge nationalistische Rechte, die sich in viel gelesenen Blättern wie der Tat ebenso zu Wort meldete wie in weniger gelesenen wie dem Vorkämpfer, der Sozialistischen Nation oder dem Umsturz, war Bayreuth offensichtlich kein Thema mehr. Dasselbe gilt für diejenigen, die statt auf eine Steigerung der Inklusion auf eine solche der Exklusion setzten. Mochte hier auch ein Max Hildebert Boehm (1891–1961) eine Lanze für die „Bayreuther Träume Richard Wagners“ brechen, so wurde dies doch durch die von Richard Benz (1884–1966) übernommene Frage relativiert, „ob die ‚Stunde der Musik‘ nicht für Europa vorbei sei und durch eine Wiedergeburt des Wortes abgelöst würde“.286 Uneingeschränkt bejaht wurde dies mit Blick auf Wagner von Edgar Julius Jung (1894–1934), der es als Berater und Redenschreiber von Franz von Papen 1932/33 zu einigem Einfluß brachte.287 In einer Zeit, die der Kunst generell nicht günstig sei, habe Wagner es vorgezogen, „in ein selbstgeschaffenes Reich des Wahnes zu flüchten, in ein zauberischbetäubendes Nirvana der Verzweiflung und des Traumes“, von dem ebenso wenig zu erhoffen sei wie von den Kompromissen mit der materialistischen Umwelt, die für den Naturalismus typisch seien.288 Auch die von seinem Antipoden Nietzsche vorgeschlagenen Lösungen hätten sich freilich als nicht zureichend erwiesen, so daß ganz neu einzusetzen sei, etwa durch eine Politik, die auf eine Restitution ständischer Ordnungsmuster ziele. Noch schärfer fiel das Wagnerbashing bei den Anhängern der ‚Nordischen Bewegung‘ aus, einer Strömung, die darauf setzte, den drohenden Untergang der Kultur im Wege einer rassenideologisch gesteuerten Heirats- und Geburtenpolitik abzuwenden: „durch eine Mehrung höherwertiger Erbanlagen, d. h. durch die höhere Kinderzahl der Erblich-Tüchtigsten und eine Hemmung der Fortpflanzung der Erblich-Minderwertigen“.289 Während der zweite Teil dieser

284 Alfred Baeumler: Bachofen und Nietzsche [1929], in: ders., Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1937, S. 220–239, 239. 285 Vgl. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit [1935], Frankfurt am Main 1973, S. 348. 286  Max Hildebert Boehm: Das eigenständige Volk. Grundlegung der Elemente einer europäischen Völkersoziologie [1932], Darmstadt 1965, S. 252; vgl. Richard Benz: Die Stunde der deutschen Musik, 2 Bde., Jena 1923 und 1927, Bd. 2, S. 229 ff. 287  Vgl. Roshan Magub: Edgar Julius Jung, Right-Wing Enemy of the Nazis. A Political Biography, Rochester, N.Y, 2017. 288 Edgar Julius Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich, Berlin 19302, S. 382. 289 Hans F. K. Günther: Der Nordische Gedanke unter den Deutschen, München 19272, S. 13. Zu Person und Werk vgl. Elvira Weisenburger: Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde, in: Michael Kißener, Joachim Scholtyseck (Hrsg.), Die Führer der Provinz. NSBiographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1997, S. 161–199 sowie meine Studie: Die Nordische Bewegung in der Weimarer Republik.

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Forderung in den 20er Jahren von den Rassenhygienikern aller Couleur vertreten wurde, ging der erste Teil deutlich weiter, richtete sich das Interesse doch exklusiv auf den nordischen Anteil, der als der einzig wertvolle oder zumindest der wertvollste erschien. Hans F. K. Günther (1891–1968), der Wortführer dieser Richtung, konzedierte wohl, daß die einzigartige Schöpferkraft der nordischen Rasse sich nicht ohne weiteres von selbst entfaltete, sondern nur in dem Maße, in dem sie herausgefordert werde: etwa durch eine bestimmte Landschaft, vor allem aber durch soziale Spannungslagen, wie sie sich als Folge des für die nordische Rasse charakteristischen Ausbreitungsmodus – der Eroberung – ergäben.290 Wo immer diese Rasse hingekommen sei, habe sich jene „Übereinanderschichtung zweier Rassen“ entwickelt, „einer unterworfenen einheimischen und einer herrschenden eingewanderten“, von welcher letzteren Günther zu wissen glaubte, daß sie allein zur Leitung und zu schöpferischer Leistung berufen sei.291 Woraus wiederum folgte, daß, wollte man diese bewahren, alle Anstrengungen sowohl auf die Erhaltung bzw. Wiederherstellung dieses Schichtungsgefüges zu richten seien, als auch auf die Erhaltung und Mehrung der darin sich entfaltenden rassischen Substanz; und dies vorzugsweise nicht in jener durch Mischung mit anderen Rassen verdünnten und damit verminderten Qualität, wie sie für die moderne Durchschnittsbevölkerung charakteristisch sei, sondern in ungemischtem, reinen Zustand: „die Erhaltung eines nordisch-bedingten Volkes, damit es keinem ‚Untergang‘ verfalle, hängt zusammen mit der Erhaltung eines starken reinrassig nordischen Volkskerns. Das nordische Blut darf nicht nur in der Blutmischung des Gesamtvolks überwiegen, es muß auch in einer ziemlich hohen Zahl rein-nordischer Menschen vertreten sein, in einer verhältnismäßig so hohen Anzahl rein-nordischer Menschen, daß diese die Führung des Volkstums aus sich heraus übernehmen können. […] Damit ist die Aufgabe gewiesen für jeden, der die Bedeutung der Nordrasse für ein nordisch-bedingtes Volkstum eingesehen hat: die Bildung dieses starken Kerns rein nordischer Menschen muß angestrebt werden.“292

Derartige Zielsetzungen stießen in Bayreuth durchaus nicht auf Abwehr, wie die Besprechung von Günthers Rassenkunde durch Hermann Seeliger bezeugt.293 Auch Ludwig Schemann, mit Günther durch den gemeinsamen Wohnsitz in Freiburg auch persönlich bekannt, erklärte sich im Grundsatz zustimmend zu einer Bewegung, die den Zusammenschluß aller Edelgesinnten zu fördern bestrebt war.294 Bei allem

290 Vgl.

Hans F. K. Günther: Rassenkunde des deutschen Volkes, München, 19233, S. 279, 163,

333. 291 Ebd.,

S. 153; vgl. auch S. 331 f. S. 424. 293 Vgl. BBl 47, 1924, S. 54 ff., hier zit. n. Bermbach, Richard Wagner in Deutschland, S. 150. Zu Seeliger vgl. auch ebd., S. 167 ff. 294 Vgl. Schemann, Lebensfahrten eines Deutschen, S. 396. Der Nachlaß Schemanns in der UB Freiburg enthält unter der Signatur 12/1952 zahlreiche Briefe Günthers aus den Jahren 1921 bis 1936. 292 Ebd.,

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Respekt, den der Jüngere dem Älteren bezeugte, mußte Schemann sich jedoch zutiefst von einer Lehre getroffen fühlen, die „bei Beethoven und noch viel mehr bei Wagner“ eine „nicht-nordische“ Beimischung heraushörte, die ihre Musik unvorteilhaft von der Kunst Bachs unterscheide.295 Die Beimischung entpuppte sich bei genauerer Prüfung im Fall Wagners als eine solche „ostbaltischen Wesens“, einer rassisch begründeten Qualität, welche sich als „Entschlußunfähigkeit“, „unruhigunzufriedene[s] Umherschweifen und Abschweifen“ manifestiere und zu „Formlosigkeit“ führe, darüber hinaus auch durch ihr beständiges Streben nach „Erlösung“ im Sinne eines „Auflösens aller Gestaltung“ mißliebig sei.296 Hinzu komme auch noch ein „dinarischer“ Einschlag, erkennbar an der „Neigung zum Eindringlichen und Schlagenden, zum Verkünderischen und zum ‚Wolkenschieberischen‘“, zur „Häufung der Kunstmittel, zur Aufbauschung des Stils“. Besonders dränge sich dieser „dinarische“ Zug im Parsifal auf, was im Umkehrschluß besagte, daß in den älteren Werken der nordische Anteil stärker zur Geltung komme, der in Wagners ‚nordisch-dinarisch-ostbaltischem‘ Mischwesen seine Grundlage habe.297 Schemann äußerte seine Vorbehalte zunächst nur brieflich, wie sich indirekt aus den Gegenbriefen Günthers erschließen läßt. Als letzterer jedoch seiner Versicherung, künftighin die ostische und ostbaltische Rasse milder zu behandeln298, keine Taten folgen ließ, ging Schemann auch öffentlich auf Distanz. Das geschah 1928 noch verhalten, richtete sich aber mit der Kritik an Kategorien wie der ‚westischen‘ und der ‚ostischen‘ Rasse durchaus auf ein Zentralstück von Günthers Rassenlehre.299 Ein Seitenhieb, ohne Namensnennung, zielte auf Günthers Skandinavienidolatrie, die nach Schemann darüber hinwegging, daß auch der Norden vom allgemeinen Niedergang der nordischen Rasse nicht ausgenommen werden könne. Zustimmend zitierte er einen Aufsatz aus der Schule Woltmanns, wonach hinter den heutigen Kulturvölkern keine jugendfrischen Naturvölker mehr bereitstünden und fügte hinzu: „Unsere Reserven scheinen erschöpft. Wie einst, heißt es auch heute wieder: ‚Die Germanen oder die Nacht‘. Aber keine Germanen wollen mehr am Horizonte auftauchen. So taumeln wir der Völkernacht entgegen.“300 Als Günther 1930 Gobineau vorwarf, sich in Gesinnung und Stimmung dem Stoizismus ergeben zu haben, der mit seinem Individualismus „der Verwurzelung des Einzelmenschen in Volkstum und Rasse den letzte[n] Stoß

295 Hans

F. K. Günther: Rasse und Stil, München 1926, S. 30. S. 81, 83. 297 Ebd., S. 86, 112. 298  Vgl. Hans F. K. Günther an Ludwig Schemann, Briefe vom 19.4. und 7.5.1927, Nachl. Schemann, UB Freiburg, 12/1952. 299 Vgl. Schemann, Die Rasse in den Geisteswissenschaften, Bd. 1, S. 362. Im Übrigen figuriert Günther in diesem Buch noch als „der jüngste bedeutende Rassenforscher“, als „kühner und besonnener jüngerer Forscher“, dessen Rassenkunde Europas nachgerade „meisterlich geglückt“ sei: ebd., S. 43, 359. 300 Ebd., S. 408 f. 296 Ebd.,

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gegeben“ habe301, revanchierte sich Schemann mit der Bemerkung, Günther habe „manche Fragen der Anthropologie zu früh als geklärt, ein Übergangsstadium dieser Wissenschaft als deren festen Stand angenommen“.302 Daß Günthers Schüler und Mitarbeiter Richard Eichenauer (1893–1956) ein Jahr später in Sachen Wagner noch einen Schritt weiter ging und die Frage aufwarf, ob bei dem Komponisten „leiblich vorderasiatische Rasseneinschläge“ zu finden seien, mag erklären, weshalb Schemann zu der von beiden vorangetriebenen „Nordischen Bewegung“ kein rechtes Verhältnis zu finden vermochte.303 Zum Abschluß sei noch ein Blick auf die eigentümliche Stellung geworfen, die Oswald Spengler (1880–1936) dem Werk Richard Wagners zugewiesen hat. Seit der Schulzeit ein Wagner-Enthusiast, in den Weimarer Jahren regelmäßiger Besucher der Bayreuther Festspiele304, stand für Spengler außer Frage, daß die abendländische „Instrumentalmusik“ in Tristan und Isolde und im Parsifal ihren Höhepunkt, zugleich aber auch ihren Zenit gefunden habe.305 Zusammen mit der großen Malerei (aber diese schließlich überholend und in den Schatten stellend) habe sie die Vollstufe der „faustischen“ Kunst repräsentiert, welche einerseits „nicht für das Weltgefühl des dörflichen und überhaupt des natürlichen Menschen“ gemacht sei, „sondern ausschließlich für den weltstädtischen Gehirnmenschen“; die aber andererseits, ungeachtet jener Ausweitung, nichtsdestoweniger auf Exklusion basiert habe, wie alle große Kunst „nicht für alle“ sei.306 Wenn heute diese Schranken fielen, so sei dies der Verwandlung von Kultur in Zivilisation geschuldet, durch die sich die Wahrheit in ‚Lüge‘ verwandle, wozu freilich schon Wagner selbst einen Beitrag geleistet habe, als er es zuließ, „daß der Kreis der Wagnerianer allzu weit werden konnte, daß allzu wenig von seiner Musik nur dem gewiegten Musiker zugänglich“ blieb.307 Zwar bedurfte es erst der national-

301 Hans F. K. Günther: Rassengeschichte des hellenischen und des römischen Volkes, München 1929, S. 108. 302 Schemann, Die Rasse in den Geisteswissenschaften, Bd. 3: Die Rassenfragen im Schrifttum der Neuzeit, S. 242. 303 Richard Eichenauer: Musik und Rasse, München 1932, S. 227. Man sollte meinen, daß diese Insinuation mit Blick auf Hitlers Wagnerkult nach 1933 nicht gerade karrierefördernd war. Aber Eichenauer war ein Protégé Darrés, wurde von diesem 1935 zum Leiter der Bauernhochschule in Goslar berufen und leitete sie bis 1945. Er starb 1956. Vgl. Annkatrin Dahm: [Der] Topos der Juden: Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musikschrifttum, Göttingen 2007, S. 252 ff., 261 ff.; Hans-Christian Harten: Himmlers Lehrer. Die Weltanschauliche Schulung in der SS 1933–1945, Paderborn 2014, S. 34 f. 304  Vgl. Detlef Felken: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988, S. 16, 193. 305  Vgl. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 374: „Im ‚Tristan‘ stirbt die letzte der faustischen Künste. Dies Werk ist der riesenhafte Schlußstein der abendländischen Musik.“ 306 Ebd., S. 48, 314. 307 Ebd., S. 420; vgl. S. 466.

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sozialistischen Inbesitznahme der Bayreuther Festspiele, um Spengler ab 1934 den weiteren Besuch zu verleiden, doch stand sein Urteil schon Jahre zuvor fest: „Unser großes Jahrhundert ist das neunzehnte gewesen. Gelehrte im Stile von Gauß, Humboldt, Helmholtz waren schon um 1900 nicht mehr da; in der Physik wie in der Chemie, der Biologie wie der Mathematik sind die großen Meister tot, und wir erleben heute das Decrescendo der glänzenden Nachzügler, die ordnen, sammeln und abschließen wie die Alexandriner der Römerzeit. Es ist das allgemeine Symptom für alles, was nicht zur Tatsachenseite des Lebens, zu Politik, Technik und Wirtschaft gehört. Nach Lysipp ist kein großer Plastiker mehr gekommen, dessen Erscheinung ein Schicksal gewesen wäre, nach den Impressionisten kein Maler, nach Wagner kein Musiker mehr. Das Zeitalter des Cäsarismus bedarf keiner Kunst und Philosophie.“308

308 Ebd.,

S. 548 f.

III. Vom ästhetischen Fundamentalismus zum Übermodernismus: Friedrich Nietzsche

Unter den frühen Streitern für sein Werk hat Richard Wagner keinen so geschätzt wie Friedrich Nietzsche. Als im Januar 1872 die Geburt der Tragödie erschien, schrieb Wagner ihm, Schöneres als dieses Buch habe er noch nicht gelesen. Es sei, hieß es im Gespräch mit Cosima, „das Buch, was ich mir ersehnt habe“. Die ihrerseits erteilte Nietzsche das denkbar größte Lob mit der Bemerkung, er habe in diesem Buche Geister gebannt, „von denen ich glaubte, daß sie einzig unserem Meister dienstpflichtig seien.“1 Ein halbes Jahr später ließ Wagner den Verfasser wissen, er sei, nach Cosima, der einzige Gewinn, den das Leben ihm zugeführt habe, fast so etwas wie ein Sohn.2 Mit ihm, so in anderem Zusammenhang, habe sein Leben eine wirkliche Wendung genommen, habe er bis dahin doch nur auf die Unterstützung von Gefolgsleuten zweiten Ranges zählen können.3 Wohl hatte die Wertschätzung auch ihre Grenzen, wie Wagners Reaktionen auf die musikalischen Versuche seines Freundes oder die Zweite Unzeitgemäße Betrachtung zeigen.4 Schon die Fortsetzung der Reihe mit Schopenhauer und erst recht Richard Wagner in Bayreuth lösten jedoch wieder Hochgefühle aus. „Freund! Ihr Buch ist ungeheuer!“ hieß es gleich nach dem Erscheinen im Juli 1876. Und: „Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her?“5 In dem Kreis, der sich ab 1872 um das Bayreuther Unternehmen bildete, teilte man diese Einschätzung, war doch zumal Cosima überzeugt, es in Nietzsche mit einem der treuesten Anhänger Wagners zu tun zu haben, dem man zusammen

1 Vgl. Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik zusammengestellt von Raymond J. Benders und Stephan Oettermann, München und Wien 2000, S. 257 f. 2 Vgl. ebd., S. 271. 3 Vgl. ebd., S. 283. 4 Vgl. ebd., S. 293, 315. 5 Zit. n. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 714.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Breuer, Wagner, Nietzsche und die deutsche Rechte 1871–1933, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67215-0_4

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

mit seinen Freunden Rohde, Overbeck und womöglich Lagarde die Bildung einer „Musterschule“ im Geiste des Bayreuther Gedankens anvertrauen könne.6 Als 1876 erneut der im Sommer 1871 von Nietzsche aufgebrachte und seitdem mehrfach diskutierte Plan zur Gründung einer eigenen Zeitschrift (der späteren Bayreuther Blätter) auf der Tagesordnung stand7, war es vor allem der Komponist und Musikschriftsteller Martin Plüddemann, der sich am nachdrücklichsten dafür einsetzte, Nietzsche darin einen herausragenden Platz zuzuweisen. In seiner von Wagner geschätzten Broschüre über die ersten Festspiele lobte er Nietzsches „tiefsinnige Schrift“ über Die Geburt der Tragödie, weil sie „eigentlich erst die metaphysische Grundlage zu Wagners ganzem System gelegt“ habe.8 Ihr Verfasser, hieß es brieflich an Wolzogen, sei deshalb prädestiniert, „das eigentliche Programm unseres Blattes“ vorzutragen und auszubauen. „Weil Nietzsche der erste war, der den Kampf für Wagner zu einem gegen unsere Kultur machte, deshalb müssen wir von ihm ausgehen, deshalb soll er unser Programmatiker sein.“9 Zwar entschied sich Wagner angesichts der sich häufenden Erkrankungen Nietzsches bald darauf, die Sache dem als verläßlicher eingestuften Hans von Wolzogen anzuvertrauen10, doch rechnete auch dieser damals noch Nietzsche zusammen mit Overbeck, Nohl und Constantin Frantz zu jener „vielgemischte[n], sich stäts vergrössernde[n] Schaar mehr oder minder lebhaft und innig interessirter, ergriffener, überzeugter, mitfortgerissener Freunde und Gesellen, eine[r] Gemeinde seltener Art“, die „eine neue idealistische Kultur zu erwirken vermöchte“.11 Auch Ludwig Schemann bekundete Nietzsche 1878 seine 6 Vgl.

CWT I, S. 966 (Eintrag vom 21.1.1876). Die von Erhart Thierbach hrsg. Briefe Cosima Wagners an Nietzsche füllen zwei Bände, während sie die Gegenbriefe später vernichtet hat. Aus der Fülle der Darstellungen seien hier nur die Überblicke von Borchmeyer genannt: Nietzsche, Cosima, Wagner; Nietzsche und Cosima Wagner – Geschichte einer Verblendung, in: Nietzscheforschung 19, 2012, S. 191–208. 7  Vgl. CWT 1, S. 390 (Eintrag vom 22.5.1871). In einem kurz darauf an Rohde gerichteten Brief sprach Nietzsche von der „Idee eines Reformations-journals“, über die er mit Wagner gesprochen habe: Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, Brief vom 7.6.1871, KSB 3, S. 198. Ein halbes Jahr später war dafür auch bereits der Name gefunden: „Baireuther Blätter“: Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, Brief nach dem 21.12.1871, KSB 3, S. 258. In Cosima Wagners Tagebuch hieß es am 3.1.1872: „Abends lesen wir in der Nietzsche’schen Schrift, die wirklich herrlich ist, R. gedenkt der Leute, die jetzt das große Wort in Deutschland führen, und frägt sich, welches Schicksal dieses Buch nun haben wird, hofft in Bayreuth eine Revue zu gründen, deren Redakteur Pr. Nietzsche sein würde“ (CWT 1, S. 476). 8 Martin Plüddemann: Die Bühnenfestspiele in Bayreuth, ihre Gegner und ihre Zukunft, Colberg 1877, S. 14; vgl. auch ebd., S. 45 ff. mit einem sich über zwei Seiten ziehenden Zitat aus der Geburt der Tragödie. Martin Plüddemann (1854–1897) war seit 1875 mit Wagner persönlich bekannt. Über seine Schrift äußerte dieser sich lobend. Vgl. Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 53 (1907), S. 81–85 (Richard Sternfeld). 9 Martin Plüddemann an Hans von Wolzogen, Brief vom 4.12.1876. Zit. n. Hein, ‚Es ist viel Hitler in Wagner‘, S. 34. 10 Vgl. CWT 1, S. 1024 (Eintrag vom 13.1.1877). 11  Hans von Wolzogen: Nibelungendrama und Christenthum [1877], in: ders., Wagneriana, S. 79–100, 97.

1  Im Banne Schopenhauers

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Sympathie und bescheinigte noch lange Jahre nach dem Bruch dessen Frühwerk, ‚im Besitz der Wahrheit‘ zu sein, womit er im Unterschied zu Richard Wagner durchaus nicht nur die Vierte Unzeitgemäße Betrachtung meinte.12 Heinrich von Stein wollte gar bis weit in die 80er Jahre die Hoffnung nicht aufgeben, Nietzsche in der einen oder anderen Form in die Bayreuther Bewegung zurückzuholen, bekanntlich ohne Ergebnis.13 Zu diesem Zeitpunkt war Nietzsche jedoch schon längst nicht mehr dafür zu haben. Seit der Veröffentlichung von Menschliches, Allzumenschliches, ließ er Heinrich Köselitz im Mai 1878 wissen, sei nicht nur sein Buch von Bayreuth aus in eine Art von Bann getan; auch über seinen Autor sei „die große Excommunikation“ verhängt.14 Wagners und seine Bestrebungen, erfuhr kurz darauf Reinhart von Seydlitz, liefen „ganz aus einander“.15 Wagners Kunst – eine „Barockkunst der Überspannung und der verherrlichten Maßlosigkeit“ – gehöre zu den Ursachen, die ihn, Nietzsche, krank und kränker gemacht hätten.16 Was aber hatte ihn von Wagner, und nicht nur von der Person, sondern zugleich von dem eine Zeitlang mit Wagner geteilten ästhetischen Fundamentalismus weggeführt?17 Und weiter vor allem: wohin hatte es ihn geführt? Dazu ist es nötig, weiter auszuholen.

1 Im Banne Schopenhauers In einem der frühesten Versuche, Klarheit über den wechselvollen Denkweg Nietzsches zu gewinnen, hat Lou Andreas-Salomé seine ‚erste Weltanschauung‘ ganz im Banne von Schopenhauers Welt- und Willensverneinung sehen wollen.18

12 Vgl.

Franz Overbeck an Karl Ludwig Schemann, Brief vom 9.3.1878, in: Franz Overbeck, Werke und Nachlaß, Bd. 8: Briefe, hrsg. u. komm. von Niklaus Peter und Frank Bestebreurtje, Stuttgart etc. 2008, S. 151; Schemann, Meine Erinnerungen an Richard Wagner, S. 40 f. 13 Vgl. Heinrich von Stein, Idee und Welt, S. 168. 14 Friedrich Nietzsche an Heinrich Köselitz, Brief vom 31.5.1878, KSB 5, S. 329. 15 Friedrich Nietzsche an Reinhart von Seydlitz, Brief vom 11.6.1878, KSB 5, S. 331. 16 Friedrich Nietzsche an Mathilde Maier, Brief vom 15.7.1878, KSB 5, S. 338. 17 Eine Vorstudie hierzu, die allerdings die ‚apollinischen‘ Züge des Frühwerks zu stark betont, habe ich vor längerer Zeit veröffentlicht: Nietzsches Transformation des Fundamentalismus, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, H. 1, 2000, S. 102–119. Die folgenden Ausführungen lehnen sich nur in einigen Passagen hieran an. 18 Lou Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894, S. 78, 232 u. ö. Vgl. Tobias Dahlkvist: Nietzsche and the Philosophy of Pessimism. A Study of Nietzsche’s Relation to the Pessimistic Tradition. Schopenhauer, Hartmann, Leopardi, Uppsala 2007; Stephan Atzert: Im Schatten Schopenhauers. Nietzsche, Deussen und Freud, Würzburg 2015; Martin Morgenstern: Vom Vorbild zum Antipoden. Die Bedeutung Schopenhauers für Nietzsches Denken, Würzburg 2018. Für einen ebenso knappen wie konzisen Überblick vgl. Barbara Neymeyr: Friedrich Nietzsche, in: Koßler und Schubbe (Hrsg.), Schopenhauer-Handbuch, S. 286–294.

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

Dafür gibt es zahlreiche Belege. Schon der Student sah sich existentiell betroffen von einem Werk, in dem er „Welt Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte“, in dem jede Zeile „Entsagung, Verneinung, Resignation schrie“ und „zur Heiligung und Umgestaltung des ganzen Menschenkerns“ aufrief.19 Zu diesem Zweck warb er eifrig um Neophyten und bekehrte nach und nach seinen Freundeskreis zur Lehre seines ersten „Meisters“.20 Mit seinem Schulfreund Carl Freiherr von Gersdorff traf er sich im Wintersemester 1865/66 alle zwei Wochen zur gemeinsamen Lektüre und hatte ihn bald so sehr für Schopenhauer gewonnen, daß auch er in ihm seinen „Meister“ sah.21 Im Dezember 1869 datierte er den Tag seiner wirklichen Geburt auf die Begegnung mit Nietzsche und den seiner Taufe auf den Augenblick, als dieser ihm Die Welt als Wille und Vorstellung nahe gebracht habe.22 Einem weiteren Mitschüler, Paul Deussen, empfahl Nietzsche im September 1868 Schopenhauer als den größten philosophischen Halbgott des ganzen letzten Jahrtausends, mußte in diesem Fall allerdings noch bis zum Februar 1870 warten, bis er Deussen endlich als „eine[n] der Unsrigen“ begrüßen durfte.23 Die Bekehrung war dafür um so nachhaltiger, gründete Deussen doch vier Jahrzehnte später die Schopenhauer-Gesellschaft und brachte

19 Zit.

n. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 179 f. Vgl. auch Nietzsches eigenen Rückblick in: Unzeitgemässe Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher [1874], KSA 1, S. 335–428, 341 ff. 20 Vgl. Hubert Treiber: Freunde, in: Ottmann (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch, S. 35–49. 21  Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, Brief vom 20.7.1868 und 25.12.1869, in: Die Briefe des Freiherrn Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, hrsg. von Karl Schlechta, 4 Bde., Weimar 1934–1937, Bd. 1, S. 83, 105. Gersdorff (1844–1904), Sohn eines preußischen Gutsbesitzers und Mitglieds des Herrenhauses, war von 1859 bis 1865 Mitschüler Nietzsches in Schulpforta und seit Obersekunda mit ihm befreundet (vgl. Carl von Gersdorff an Peter Gast, Brief vom 14.9.1900, ebd., Bd. 4, S. 56). Nach einem Studium der Rechtswissenschaft sowie anschließend der Landwirtschaft übernahm er 1879 das väterliche Gut, wurde Majoratsherr, Preußischer Kammerherr, Ehrenritter des Johanniterordens und seit 1886 Landesältester der Preußischen Oberlausitz (vgl. die biographischen Angaben in Bd. 1, S. XI f.). Seine Begeisterung für Schopenhauer fand ihren Ausdruck in den Schlußpassagen des Testaments, das er im Oktober 1870 während des Kriegseinsatzes in Frankreich verfaßte: „Sterbe ich, so sterbe ich als treuer unverbrüchlicher Anhänger der Philosophie Schopenhauers“ (ebd., S. 118). 22 Vgl. Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, Brief vom 25.12.1869, ebd., S. 107. 23 Friedrich Nietzsche an Paul Deussen, Brief vom September 1868, KSB 2, S. 316; Brief vom Februar 1870, KSB 3, S. 97 ff. Der vorangegangene Brief Deussens vom 8.1.1870, in dem er über seine Bekehrung zu Schopenhauer berichtet, ist nachzulesen im Anhang zu: Die Briefe Cosima Wagners an Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 90 f.- Paul Deussen (1845–1919) war wie Gersdorff ab 1859 Nietzsches Mitschüler in Schulpforta. Nach den ersten beiden gemeinsam in Bonn verbrachten Semestern trennten sich die Wege. Deussen wurde Gymnasiallehrer in Minden und Marburg, später Hauslehrer in Genf und in Rußland. Nach seiner Habilitation über „Das System des Vedanta“ wurde er Professor für indische Philosophie in Kiel. Unter den frühen Freunden war er derjenige, demgegenüber Nietzsche seine Überlegenheit besonders herauskehrte. In seinen Erinnerungen berichtet er, Nietzsche habe „in den sechs Jahren unseres Zusammenlebens einen mächtigen Einfluß geübt. Er hatte meiner Lage stets ein aufrichtiges Interesse gewidmet, zeigte aber eine Neigung, mich überall zu korrigieren, zu hofmeistern und gelegentlich recht sehr zu quälen“ (Paul Deussen: mit Friedrich Nietzsche, Leipzig 1901, S. 26).

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die erste historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke des Philosophen heraus.24 Daß er darüber auch den Weg in die Bayreuther Blätter fand, geschah zu einer Zeit, als Nietzsche sich darüber nicht mehr ärgern mußte.25 Im Wintersemester 1868/69 konnte er Gersdorff von einem weiteren Neuzugang zur Gemeinde der Schopenhauer-Verehrer berichten, seinem Leipziger Kommilitonen Erwin Rohde (1845–1898). Dieser hatte vier Jahre zuvor am Hamburger Johanneum sein Abitur gemacht, wie Nietzsche das Studium der Klassischen Philologie in Bonn aufgenommen, um es anschließend in Leipzig sowie später in Kiel fortzusetzen, wo er 1869 promovierte und sich im Jahr darauf habilitierte.26 Im Briefwechsel mit Nietzsche sprach er seit Sommer 1868 von Schopenhauer als dem „Meister“27, und schon zuvor hatte Nietzsche berichtet: „Wir haben beide diesen Sommer fast immer zusammen gelebt und eine seltne Zusammengehörigkeit unter uns empfunden. Daß auch über diesem Freundschaftsbunde der Genius des Mannes schwebte, dessen Bild mir Rohde noch vor wenig Wochen aus Hamburg schickte, Schopenhauers, versteht sich von selbst. Du wirst, wie ich mir denke, darüber eine lebhafte Freude empfinden, daß gerade solche starke und gute Naturen, wie Rohde im besten Sinne ist, von jener Philosophie gepackt werden.“28 Daß Nietzsche zum Sommersemester 1869 als Professor für klassische Philologie nach Basel berufen und fortan wenig Zeit für Philosophie hatte, änderte an diesem Enthusiasmus nichts, verstärkte ihn eher noch. Zwar gestand er Gersdorff, „daß die tägliche Last, die allstündliche Concentration des Denkens auf bestimmte Wissensgebiete und Probleme die freie Empfänglichkeit etwas abstumpft und den philosophischen Sinn in der Wurzel angreift“, doch zeigte er sich zuversichtlich, „dieser Gefahr mit mehr Ruhe und Sicherheit entgegen gehen zu können als die meisten Philologen“. Zu tief wurzele bei ihm schon der philosophische Ernst, „zu deutlich sind mir die wahren und wesentlichen Probleme des Lebens und Denkens von dem großen Mystagogen Schopenhauer gezeigt worden, um jemals einen schmählichen Abfall von der „Idee“ befürchten zu müssen. Meine Wissenschaft mit diesem neuen

24 Vgl.

Heiner Feldhoff: Nietzsches Freund. Die Lebensgeschichte des Paul Deussen, Köln etc. 2008. 25 Vgl. Paul Deussen: Ueber die Philosophie des Vedanta im Verhältniss zu den metaphysischen Lehren des Westens, in: BBl 18, 1895, S. 125–136. 26 Rohdes akademische Karriere führte ihn von Jena (1876) über Tübingen (1878/79) und Leipzig (1886) nach Heidelberg (1886). Zu seinen wichtigsten Arbeiten in seinem Fachgebiet zählen: Der griechische Roman und seine Vorläufer, Leipzig 1876; Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Freiburg 1894. Zu Person und Werk vgl. Crusius, Erwin Rohde; Hubert Cancik: Erwin Rohde – ein Philologe der Bismarckzeit, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprechts-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986. FS in 6 Bdn., Berlin etc. 1985, Bd. 2, S. 436–505. 27 Erwin Rohde an Friedrich Nietzsche, Brief vom 17.6.1868, in: Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rohde, hrsg. von Elisabeth Förster-Nietzsche und Fritz Schöll, Leipzig 1923, S. 46. 28 Friedrich Nietzsche an Carl von Gersdorff, Brief vom 24.11./1.12.1867, KSB 2, S. 238.

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

Blute zu durchdringen, auf meine Zuhörer jenen Schopenhauerischen Ernst zu übertragen, der auf der Stirne des erhabnen Mannes ausgeprägt ist – dies ist mein Wunsch, meine kühne Hoffnung: etwas mehr möchte ich sein als ein Zuchtmeister tüchtiger Philologen: die Lehrergeneration der Gegenwart, die Sorgfalt für die nachwachsende Brut, alles dies schwebt mir vor der Seele. Wenn wir einmal unser Leben austragen müssen, versuchen wir es, dieses Leben so zu gebrauchen, daß andere es als werthvoll segnen, wenn wir glücklich von ihm erlöst sind.“29

Es entsprach diesem Programm, wenn er bald darauf Schopenhauer als den ‚einzigen Philosophen in diesem Jahrhundert‘ feierte, dem es gelungen sei, durch seine Lehre „das schaudernde Gefühl des Erhabenen“ zu erregen, „uns in die höchste und reinste Alpen- und Eisluft“ zu tragen.30 Gemeinsam mit seinen Freunden sah er sich berufen, „an einer Culturbewegung unter den Ersten zu kämpfen und zu arbeiten, welche vielleicht in der nächsten Generation, vielleicht noch später der grössern Masse sich mittheilt“31, einer Bewegung, die ebenso vom Geiste Schopenhauers getragen sein sollte wie vom „Glauben an eine noch bevorstehende Wiedergeburt des hellenischen Alterthums“. Dafür schien ihm „kein besseres Symbol“ geeignet, als jener „Ritter mit Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet hat, den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, der seinen Schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Gefährten, und doch hoffnungslos, allein mit Ross und Hund zu nehmen weiss. Ein solcher Dürerscher Ritter war unser Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die Wahrheit. Es giebt nicht Seinesgleichen.“32 Dieses Bekenntnis findet sich in der Studie über Die Geburt der Tragödie, mit der Nietzsche erstmals einem breiteren Publikum bekannt wurde.33 Der Verfasser

29 Friedrich

Nietzsche an Carl von Gersdorff, Brief vom 11.4.1869, KSB 2, S. 385 f. Nietzsche: Das Verhältniss der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur [1872], KSA 1, S. 778–782, 782; Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 798. 31 Friedrich Nietzsche an Carl von Gersdorff, Brief vom 4.2.1872, KSB 3, S. 286. 32 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie [1872], KSA 1, S. 9–156, 131. Alle folgenden Seitenangaben im Text nach dieser Ausgabe. 33  Über sie gibt es eine kaum noch zu überblickende Literatur. Hilfreich sind insbesondere Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche ‚Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik’; Schmidt, Kommentar zu Nietzsches „Die Geburt der Tragödie“. Ferner in Auswahl: Robert Rethy: The Tragic Affirmation of the Birth of Tragedy, in: Nietzsche-Studien 17, 1988, S. 1–44; James I. Porter: The Invention of Dionysos. An Essay on the „Birth of Tragedy“, Stanford, CA 2000; Enrico Müller: „Aesthetische Lust“ und „Dionysische Weisheit“. Nietzsches Deutung der griechischen Tragödie, in: Nietzsche-Studien 31, 2002, S. 134–153; Manfred Landfester: Nietzsches „Geburt der Tragödie“: Antihistorismus und Antiklassizismus zwischen Wissenschaft, Kunst und Philosophie, in: Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof (Hrsg.), „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklassizistische Antikerezeption um 1900, Frankfurt am Main 2002, S. 89–111; Thomas Brobjer: Sources and Influences on Nietzsches „The birth of tragedy“, in: Nietzsche-Studien 34, 2005, S. 277–298; Friederike Felicitas Günther: Rhythmus beim frühen Nietzsche, Berlin etc. 2008; Christophe Bourquin: Nietzsches Tragödie des Dionysos (Zagreus), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 82, 2008, S. 598–630; Rainer Schäfer: Die Wandlungen des Dionysischen bei Nietzsche, in: NietzscheStudien 40, 2011, S. 178–202. 30 Friedrich

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zeigte sich darin selbstbewußt genug, auch Widerspruch zu äußern, z. B. gegen Schopenhauers Auffassung der griechischen Lyrik als einer „Halbkunst“ (S. 46 f.). Das bezog sich jedoch auf Einzelfragen und änderte nichts an der Würdigung, die er der Leistung des Philosophen zuteilwerden ließ, den „im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus“ überwunden zu haben, der in unterschiedlichen Ausformungen „der Untergrund unserer Cultur“ sei (S. 118). Jener erstmals von Sokrates verkündete Glaube, das dem Kausalitätsprinzip gehorchende Denken reiche bis in die tiefsten Abgründe des Seins und vermöchte dieses „nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren“, sei damit als „Wahnvorstellung“ enthüllt, in der nicht weniger als der „Vernichtungskeim unserer Gesellschaft“ liege (S. 99, 117). Die als Ausweg offerierte Lehre von der Verneinung des Daseins, hieß es bald darauf, müsse prima vista als die einzig wahrhaftige Haltung gelten, manifestiere sich doch in ihr jene mächtige „Sehnsucht nach Heiligung und Errettung […], als deren philosophischer Lehrer Schopenhauer unter uns entheiligte und recht eigentlich verweltlichte Menschen trat“.34 Durch ihn als den Vorkämpfer einer „weltfeindlichen und unzeitgemässen Grundgesinnung“ sei die Philosophie zur Gegenmacht gegen die für die moderne Zeit charakteristische „besinnungsloseste[n] Verweltlichung“ aufgewertet worden, die den Menschen unmißverständlich darauf verweise, daß das Ziel der „kommenden Cultur […] nicht in dieser Welt“ liege und er selbst „nicht nur ein historisch begrenztes, sondern auch ein ganz und gar ausserhistorisch-unendliches Wesen“ sei.35 In dieser Erwartung bestärkt sah sich Nietzsche durch den Rückblick auf die Religions- und Kulturgeschichte des antiken Griechenland. Zwar habe sich der von Homer und der Epik aufgezeigte Weg als nicht zureichend erwiesen, da deren ‚naive‘, ‚apollinische‘, d. h. vor allem auf „maassvolle Begrenzung“ und Beherrschung der „wilderen Regungen“ setzende Art von der aus Asien hereinbrechenden, rauschhaften und zuchtlosen ‚dionysischen Religion‘ ebenso verschlungen worden sei, wie bald darauf die allzu starre ‚dorische Kunst‘ (S. 41). Doch habe schließlich die attische Tragödie für eine bestimmte Zeit durch die ‚apollinische Zurüstung‘ der ‚dionysischen Mysterienordnung‘ einen ästhetischen Heilsweg eröffnet, der Griechenland Stabilität und eine einzigartige kulturelle Blüte beschert habe.36 Erreicht worden sei dies, indem die Tragödie weder wie die rein apollinischen Künste (Plastik, Lyrik) auf „Schönheit“ gesetzt, noch sich der „Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins“ überlassen habe, welche letztere nach ihrem Abklingen immer nur Ekel hinterlasse und eine „asketische, willensverneinende Stimmung“ begünstige (S. 56). Mittels der Einführung des Chors sei es möglich geworden, „jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des

34 Nietzsche,

Unzeitgemässe Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 372. Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 812 f. 36  Vgl. ebd., S. 175 f. Näher hierzu Koenraad Hemelsoet, Benjamin Biebuyck, Danny Praet: „Jene durchaus verschleierte apollinische Mysterienordnung“. Zur Funktion und Bedeutung der antiken Mysterien in Nietzsches frühen Schriften, in: Nietzsche-Studien 35, 2006, S. 1–28, 7 ff. 35 Nietzsche,

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt: diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden“ (S. 57). Das knüpfte an Schopenhauers Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen an, kehrte aber die Rangordnung um, die bei diesem zugunsten des Schönen ausgefallen war.37 Mit dem Erhabenen und dem Lächerlichen, hieß es schon im Sommer 1870 in einem der die Tragödienschrift vorbereitenden Texte, werde „ein Schritt über die Welt des schönen Scheins hinaus“ getan, doch blieben sie insofern in der ästhetischen Sphäre, als mit ihnen die Wahrheit ‚umschleiert‘ werde, auf eine Weise, „die zwar durchsichtiger als die Schönheit, aber doch noch eine Umschleierung“ sei: „eine Mittelwelt zwischen Schönheit und Wahrheit“, eine „neue Kunstwelt“, in der „eine Vereinigung von Dionysos und Apollo möglich“ sei: „Die neue Kunstwelt, die des Erhabenen und des Lächerlichen, die der ‚Wahrscheinlichkeit‘ beruhte auf einer anderen Götter- und Weltanschauung als die ältere des schönen Scheins. Die Erkenntniß der Schrecken und Absurditäten des Daseins, der gestörten Ordnung und der unvernünftigen Planmäßigkeit, überhaupt des ungeheuersten Leidens in der ganzen Natur hatte die so künstlich verhüllten Gestalten der Μοīρα und der Erinnyen, der Meduse und der Gorgo entschleiert: die olympischen Götter waren in höchster Gefahr. Im tragisch-komischen Kunstwerk wurden sie gerettet, indem auch sie in das Meer des Erhabenen und des Lächerlichen getaucht wurden: sie hörten auf, nur ‚Schön‘ zu sein, sie saugten gleichsam jene ältere Götterordnung und ihre Erhabenheit in sich auf.“38

Eine in diesem Sinne verstandene Kunst, von der Nietzsche ausdrücklich vermerkt, sie sei „überhaupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen“ (S. 104), bewirke, was sonst nur die Religion erreiche: eine „Weltcorrektion“.39 Im

37  In

Schopenhauers Darstellung rangierte das Schöne höher, weil es „den Betrachter fast ‚unmerklich‘ in den Zustand ästhetischer Betrachtung hinüberleitet“ und den Willen „völlig aus dem Bewusstsein“ schwinden läßt, wohingegen im Fall des Erhabenen „der allgemeine Willensanspruch […] stets im Bewusstsein bleibt“: Brigitte Scheer, Ästhetik, in: Koßler und Schubbe (Hrsg.), Schopenhauer-Handbuch, S. 61–72, 67 f. Zu Nietzsches Sichtweise vgl. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart etc. 1995, S. 304 ff.; Christian Lipperheide: Die Ästhetik des Erhabenen bei Friedrich Nietzsche, Würzburg 1999. 38 Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung [1870], KSA 1, S. 551–578, 567 f. 39  Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 101. Zur Apotheose der Kunst im Frühwerk vgl. Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 67 ff.; Renate Reschke: Ein Zustand ohne Kunst ist nicht zu imaginieren. Friedrich Nietzsches frühe Skizze zu einer Ästhetik der Moderne, in: Nietzsche-Studien 24, 1995, S. 1–16. Daß es sich hierbei nicht um „Ästhetizismus“ handelt, hat Brian Leites deutlich gemacht, vgl. Nietzsche and Aestheticism, in: Journal of the History of Philosophy 30, 1992, S. 275–290, allerdings vergeblich, wie die folgenden Arbeiten zeigen: vgl. Rebecca Bamford: Nietzsche’s Aestheticism and the Value of Suffering, in: Paul Bishop und R. H. Stephenson (Hrsg.), Cultural Studies and the Symbols 1, Leeds 2003, S. 66–81; Prange, Nietzsche, Wagner, Europe, S. 135 ff. ‚Ästhetizismus‘ ist viel zu eng auf die selbstreferentielle, anti-mimetische, esoterisch bis hermetische „ästhetische Kommunikation der Moderne“ bezogen, wie sie sich im Gefolge der L’art-pour-l’art-Bewegung seit 1850 herausbildete, als daß mit Blick auf Nietzsche oder Wagner davon die Rede sein könnte: vgl.

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griechischen Musikdrama sei dies in einer Weise erreicht, die über Zeit und Raum hinweg wirke, und dies in solcher Vollendung, daß eine werkgetreue Vergegenwärtigung „auf uns geradezu eine zerschmetternde Wirkung thun müßte, weil sie uns den künstlerischen Menschen in einer Vollkommenheit und Harmonie offenbaren würde, gegen die unsre großen Dichter gleichsam als schön begonnene, doch nicht zu Ende gearbeitete Statuen erscheinen möchten.“40 Unter den heute herrschenden Bedingungen allerdings werde es der Kunst schwer gemacht, eine solche Leistung zu erbringen. Die moderne Kultur sei eine ‚alexandrinische Kultur‘, ganz auf das Ideal des „mit höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen“ ausgerichtet, dessen Urbild und Stammvater Sokrates sei (S. 116). Die Wissenschaft aber sei der Kunst feindlich. Während Kunst auf Verschleierung und Verhüllung aus gehe, folge die Wissenschaft einem Drang zur Enthüllung (S. 98). Ihr Bestreben ziele auf völlige Vernichtung der Illusion, damit aber zugleich auf die Zerstörung jenes von der Kunst geschaffenen Scheins, von dem der Mythus, die Kultur, ja indirekt selbst der Staat abhingen. Der für sie typische Glaube, das auf dem Kausalitätsprinzip beruhende Denken reiche „bis in die tiefsten Abgründe des Seins“, habe „eine nie geahnte Universalität der Wissensgier in dem weitesten Bereich der gebildeten Welt“ entfesselt, die einem „deus ex machina“ huldige, dem „Gott der Maschinen und Schmelztiegel“ (S. 99, 115). Für dessen Anbetung aber müsse ein hoher Preis entrichtet werden: „Wenn ich von der furchtbaren Möglichkeit rede, daß die Erkenntniß zum Untergange treibt, so bin ich am wenigsten gewillt, der jetzt lebenden Generation ein Compliment zu machen: von solchen Tendenzen hat sie nichts an sich. Aber wenn man den Gang der Wissenschaft seit dem 15ten Jahrhundert sieht, so offenbart sich allerdings eine solche Macht und Möglichkeit.“41 Wenn Nietzsche diese Konsequenz gleichwohl für abwendbar hielt und eine „Weltcorrektion“ mit anderen Mitteln ins Auge faßte als denen der Wissenschaft – durch Aktivierung der ‚schöpferisch-affirmativen Kraft‘, die im Instinkt, im Unbewußten, in einer ‚mystischen Anlage‘ wurzele, aus deren Tiefe immer neue Emanationen hervorbrächen (S. 90 f.) –, so deshalb, weil er schon früh dazu gelangte, einige Akzente anders zu setzen als sein ‚Meister‘. Hatte dieser zwei Wege offeriert, die aus der ‚Hölle‘ der Willenswelt hinausführten – den ‚ethischen‘

Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, S. 138 ff.; Annette Simonis, Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Tübingen 2000. Nietzsches Postulate, „that the aesthetic realm must be protected from non-aesthetic influences, and that the non-aesthetic must be viewed from an aesthetic perspective“ (Prange, S. 135), weisen von hier aus gesehen eher in Richtung des ästhetischen Fundamentalismus als in diejenige des Ästhetizismus. Vgl. dazu weiter unten. 40 Friedrich Nietzsche: Das griechische Musikdrama [1870], KSA 1, S. 515–532, 523. 41 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 482.

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

und den ‚ästhetischen Heilsweg‘42 – so schloß Nietzsche den ersteren aus.43 Der Weg der Tugend und Heiligkeit, über die Mortifikation des Willens und die Läuterung durch Leiden, wurde von ihm der Dialektik zugeordnet, einer „von Grund ihres Wesens aus optimistischen Lehre“, die um den Glauben an „Ursache und Folge und damit an ein nothwendiges Verhältniß von Schuld und Strafe, Tugend und Glück“ kreise. In ihr manifestiere sich ein ‚sokratisches Bewußtsein‘, dem der „Tod der pessimistischen Tragödie“ und der auf ihr gegründeten Kultur zuzuschreiben sei44, der vorerst einzigen, welche „die volle Lust am Schein und am Schauen“ mit der Verneinung dieser Lust und der „Befriedigung an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt“ zu vereinen vermocht habe (S. 151). Im „Versuch einer Selbstkritik“, den Nietzsche 1886 der Neuausgabe voranstellte, hob er als Verdienst dieser Schrift hervor, daß sie bei allen Mängeln „einen Geist verräth, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird“ (S. 17). Aber auch der ästhetische Heilsweg wurde anders gefaßt als bei Schopenhauer. Hatte dieser das Wesen der Tragödie in der „Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens“ gesehen, die zur Resignation stimmen solle, zur „Verneinung des Willens zum Leben“45, so betonte Nietzsche sehr im Gegensatz dazu den „metaphysische[n] Trost“, mit dem „uns jede wahre Tragödie entlässt – dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei“ (S. 56).46 Seinen reinsten Ausdruck sollte dieser Trost – mehr noch: das Versprechen auf Erlösung (S. 132), auf „Erlöstwerden durch den Schein“ (S. 38) – in der Musik finden, aus der die Tragödie historisch entstanden sei – eine Deutung, die es Nietzsche ermöglichte, der auf Weltverneinung ausgerichteten Lehre Schopenhauers wenigstens in aestheticis ein Moment der Weltbejahung abzutrotzen, das er in der Formel ausdrückte: „‚Alles Vorhandene ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt‘. Das ist deine Welt! Das heisst eine Welt!-“ (S. 71). Ungeachtet dieser Modifikationen hat Nietzsche aber bis weit in die 70er Jahre keinen Zweifel daran gelassen, wieviel er Schopenhauer verdankte. In den nachgelassenen Notizen von Sommer 1872 bis Anfang 1873 würdigte er die „merkwürdige Erscheinung Schopenhauer’s: er sammelt alle Elemente, die zur Beherrschung der Wissenschaft noch taugen. Er kommt auf die die tiefsten Urprobleme der Ethik und der Kunst, er wirft die Frage vom Werth des Daseins

42 Zu

dieser Unterscheidung vgl. Malter, Arthur Schopenhauer, S. 332 ff. Drews: Nietzsches Philosophie, Heidelberg 1904, S. 37 f. 44 Friedrich Nietzsche: Socrates und die Tragoedie [1870], KSA 1, S. 533–550, 547. 45 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, SW 2, S. 298, 447. 46  Vgl. Friedhelm Decher: Nietzsches Metaphysik in der ‚Geburt der Tragödie‘ im Verhältnis zur Philosophie Schopenhauers, in: Nietzsche-Studien 14, 1985, S. 110–125, 123 f. Vgl. auch Barbara Neymeyr: Das Tragische – Quietiv oder Stimulans des Lebens? Nietzsche contra Schopenhauer, in: Hühn und Schwab (Hrsg.), Die Philosophie des Tragischen, S. 369–391, 389 f. 43 Vgl. Arthur

2  Wege zu Wagner – und über ihn hinaus

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auf“ und zeigt überhaupt „die tiefsten Eigenschaften des germanischen Geistes“.47 Bald darauf, in Aufzeichnungen von Frühjahr bis Herbst 1873, hieß es: „Schopenhauer steht zu allem in Widerspruch, was jetzt als ‚Kultur‘ gilt: Plato zu allem, was damals Kultur war. Schopenhauer ist vorausgeschleudert: wir ahnen jetzt bereits seine Mission. Er ist Vernichter kulturfeindlicher Kräfte, er öffnet wieder die tiefen Gründe des Daseins. Durch ihn wird die Heiterkeit der Kunst wieder möglich.“48 Und noch in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung stellte sich Nietzsche entschieden in das Lager derjenigen, die „ihr Ziel dahin bestimmen dürfen, die Wiedererzeugung Schopenhauer’s, das heisst des philosophischen Genius vorzubereiten.“49

2 Wege zu Wagner – und über ihn hinaus Schon in den späten 60er Jahren erweiterte sich Nietzsches Pantheon jedoch um einen zweiten Hausgott, der sich zwar ebenfalls zur Gemeinde des Frankfurter Philosophen zählte, gleichwohl Perspektiven entwickelte, die damit nicht durchweg vereinbar waren.50 Das geschah freilich nur in Etappen. Deussen erinnerte sich später, während des gemeinsamen Bonner Semesters 1865 mit Nietzsche häufig über Wagner gesprochen zu haben, den man jedoch „seiner Bedeutung nach als durchaus problematisch“ eingestuft habe.51 Aus dem folgenden Jahr ist ein Brief an Gersdorff überliefert, in dem Nietzsche über die Beschäftigung mit einem Klavierauszug der Walküre berichtet und die hiervon ausgelösten Empfindungen als „sehr gemischt“ beschreibt, „so daß ich kein Urtheil auszusprechen wage. Die großen Schönheiten und virtutes werden durch eben so große Häßlichkeiten und Mängel aufgewogen. +a+ (—a) giebt aber nach Riese und Buchbinder 0.“52 Immer noch ambivalent, aber bereits von wachsender Faszination zeugend, war die Stellungnahme zu den Aufsätzen, die sein ehemaliger Bonner Lehrer Otto Jahn in den Grenzboten veröffentlicht hatte. Jahn sei insofern zuzustimmen, als er Wagner für den Repräsentanten eines modernen, alle Kunstinteressen in sich aufsaugenden Dilettantismus halte, doch könne man gerade von diesem Standpunkt aus

47 Nietzsche,

Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 425. S. 619. 49 Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 407. 50  Vgl. dazu aus der längst nicht mehr zu überblickenden Literatur Dieter Borchmeyer und Jörg Salaquarda (Hrsg.): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung, 2 Bde., Frankfurt am Main 1994; Sorgner u. a. (Hrsg.), Wagner und Nietzsche; Armin Wildermuth: Nietzsche und Wagner. Geschichte und Aktualität eines Kulturkonflikts, Zürich 2008; Prange, Nietzsche, Wagner, Europe; Georg und Reschke (Hrsg.), Nietzsche und Wagner. Perspektiven ihrer Auseinandersetzung. 51 Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, S. 25. 52 Friedrich Nietzsche an Carl von Gersdorff, Brief vom 11.10.1866, KSB 2, S. 174. 48 Ebd.,

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

„nicht genug staunen, wie bedeutend jede einzelne Kunstanlage in diesem Menschen ist, welche unverwüstliche Energie hier mit vielseitigen künstlerischen Talenten gepaart ist: während die „Bildung“, je bunter und umfassender sie zu sein pflegt, gewöhnlich mit mattem Blicke, schwachen Beinen und entnervten Lenden auftritt. Außerdem aber hat Wagner eine Gefühlssphaere, die O. Jahn ganz verborgen bleibt: Jahn bleibt eben ein Grenzbotenheld, ein Gesunder, dem Tannhäusersage und Lohengrinathmosphaere eine verschlossene Welt sind. Mir behagt an Wagner, was mir an Schopenhauer behagt, die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft etc.“53

Der weitere Fortgang ist bekannt und deshalb hier nur stichwortartig in Erinnerung zu rufen. Am 27. Oktober 1868 berichtete Nietzsche höchst enthusiasmiert seinem Freund Rohde von einem Winterkonzert in Leipzig, bei dem die Einleitung zu Tristan und Isolde sowie die Ouvertüre zu den Meistersingern gespielt wurden.54 Zehn Tage später konnte er die persönliche Bekanntschaft Wagners machen, der ihn vollends mit seinem Bekenntnis zu Schopenhauer als des einzigen Philosophen gewann, „der das Wesen der Musik erkannt habe“.55 Wieder einen Monat darauf äußerte er sich seinem „Weltanschauungsbruder“ Rohde gegenüber zuversichtlich, sich mit ihm auch über diesen neuen Genius verständigen zu können, der sich ihm in mehreren Anläufen erschlossen habe. Dies sei „nun das zweite Beispiel, wo wir, fast unbekümmert um die herrschende und gerade unter Gebildeten gültige Meinung, uns unsre eignen Götzen aufstellen; und man thut schon das zweite Mal diesen Schritt mit mehr Sicherheit und Selbstvertraun. Wagner, wie ich ihn jetzt kenne, aus seiner Musik, seinen Dichtungen seiner Aesthetik, zum nicht geringsten Theile aus jenem glücklichen Zusammensein mit ihm, ist die leibhaftigste Illustration dessen, was Schopenhauer ein Genie nennt: ja die Ähnlichkeit all der einzelnen Züge ist in die Augen springend. Ach ich wollte, […] wir könnten zusammen den kühnen, ja schwindelnden Gang seiner umstürzenden und aufbauenden Aesthetik gehen, wir könnten endlich uns von dem Gefühlsschwunge seiner Musik wegreißen lassen, von diesem Schopenhauerischen Tonmeere, dessen geheimsten Wellenschlag ich mit empfinde, so daß mein Anhören Wagnerischer Musik eine jubelnde Intuition, ja ein staunendes Sichselbstfinden ist.“56

Vermutlich war Rohde der erste aus Nietzsches Bekanntenkreis, der nach Schopenhauer auch Wagner als ‚Meister‘ ansprach und ihn als den „neu erkannten Göttersohn“ begrüßte.57 Seit April 1870 übernahm auch Gersdorff die neue Titulatur und schwärmte von der „titanenhaften Kraft“, mit welcher ‚unser Meister‘ „seine Blitze […] gegen unsere verlogene Kultur“ schleudere, womit vor allem „das öde, eiskalte Berlin, die Hauptstadt des neujüdischen Reiches“ gemeint war.58 Im

53 Friedrich

Nietzsche an Erwin Rohde, Brief vom 8.10.1868, KSB 2, S. 322. Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, Brief vom 27.10.1868, KSB 2, S. 332: „Ich bringe es nicht übers Herz, mich dieser Musik gegenüber kritisch kühl zu verhalten; jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt als bei letztgenannter Ouvertüre.“ 55 Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, Brief vom 9.11.1868, KSB 2, S. 341. 56 Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, Brief vom 9.12.1868, KSB 2, S. 352 f. 57 Erwin Rohde an Friedrich Nietzsche, Brief vom 23.12.1868, in: Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rohde, S. 85 f. 54 Vgl.

58 Carl

von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, Brief vom 13.3.1872, in: Die Briefe des Freiherrn Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 24; Brief von Ende Dezember 1872, ebd., S. 47.

2  Wege zu Wagner – und über ihn hinaus

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November 1871 gehörte er zu den Mitbegründern des Berliner Wagner-Vereins und bald auch zur Entourage von Bayreuth, mit dem er neben der Begeisterung für die Musik den ausgeprägten Antisemitismus teilte; in seine Berichte über Begegnungen schloß er wie selbstverständlich die „Frau Meisterin“ ein.59 Im Januar 1872 berichtete er Nietzsche, beim Anhören des Walkürenritts „in jenen dionysischen Rauschzustand“ geraten zu sein, der ihn „in weniger gesetzten Jahren zur Zerstörung von Laternen, zur Umarmung von Menschen hätte treiben müssen“.60 Nietzsche seinerseits sprach Wagner noch in seinem ersten an ihn gerichteten Brief ganz konventionell mit „Sehr verehrter Herr“ an, ging aber ab Herbst 1870 ebenfalls zur Anrede „Lieber und verehrter Meister“ über, die im weiteren Verlauf zu „geliebter Meister“ oder superlativisch zu „verehrtester“ und „theuerster Meister“ gesteigert werden konnte.61 Zur Erhöhung der Temperatur trug dann vor allem die räumliche Nähe zu Wagner bei, die sich durch Nietzsches Berufung nach Basel zum Sommersemester 1869 ergab. Von den rund zwei Dutzend Wallfahrten nachTribschen am Vierwaldstätter See berichtete er den Freunden in Briefen, die wie Nachrichten aus dem Olymp klangen. Er habe, ließ er Gersdorff wissen, in der Schweiz „einen Menschen gefunden, der wie kein anderer das Bild dessen, was Schopenhauer ‚das Genie‘ nennt, mir offenbart und der ganz durchdrungen ist von jener wundersam innigen Philosophie.“ In ihm herrsche „eine so unbedingte Idealität, eine solche tiefe und rührende Menschlichkeit, ein solcher erhabner Lebensernst, daß ich mich in seiner Nähe wie in der Nähe des Göttlichen fühle.“62 Deussen berichtete er von seiner „beglückende[n] Annäherung der wärmsten und gemüthvollsten Art an Richard Wagner, das will sagen: den größten Genius und größten Menschen dieser Zeit, durchaus incommensurabel! Alle zwei, drei Wochen verlebe ich ein paar Tage auf seinem Landgute am Vierwaldstätter See und erachte diese Annäherung als die größte Errungenschaft meines Lebens, nächst dem, was ich Schopenhauer verdanke.“63 Und auch Rohde erfuhr, wie sehr er bei seinem „Juppiter“ „von Zeit zu Zeit aufathme und mich mehr erquicke, als sich meine ganze Collegenschaft vorstellen kann.“64 „Liebster Freund, was ich dort lerne und schaue, höre und verstehe, ist unbeschreiblich. Schopenhauer und Goethe, Aeschylus und Pindar leben noch, glaub es nur.“65 Und noch einmal gegenüber Gersdorff, nachdem dieser sich näher mit Wagner vertraut gemacht hatte: „Es ist eine unendliche Bereicherung des Lebens, einen solchen Genius wirklich nahe kennen zu lernen. Für mich knüpft sich alles Beste und Schönste an die Namen Schopenhauer und Wagner, und ich

59 Vgl.

Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, Briefe vom 26.11.1871 und 5.1.1872, ebd., Bd. 2, S. 10, 15. 60 Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, Brief vom 12.1.1872, ebd., Bd. 2, S. 17. 61  Friedrich Nietzsche an Richard Wagner, Brief vom 22.5.1869, KSB 3, S. 8; Brief vom 11.9.1870, ebd., S. 142; Brief vom 24.6.1872, KSB 4, S. 15; Brief vom 18.4.1873, ebd., S. 144 f. 62 Friedrich Nietzsche an Carl von Gersdorff, Brief vom 4.8.1869, KSB 3, S. 35. 63 Friedrich Nietzsche an Paul Deussen, Brief vom 25.8.1869, KSB 3, S. 46. 64 Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, Brief vom 15.8.1869, KSB 3, S. 42. 65 Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, Brief vom 3.9.1869, KSB 3, S. 52.

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

bin stolz und glücklich, hierin mit meinen nächsten Freunden gleichgestimmt zu sein.“66 Daß die Freundschaft mit Wagner im Zeichen Schopenhauers geschlossen wurde, sollte jedoch nicht über das Maß hinwegtäuschen, in dem man sich gemeinsam vom Philosophen entfernte. Nietzsches späteres Diktum, wonach „der, welcher den furor philosophicus im Leibe“ habe, „schon gar keine Zeit mehr für den furor politicus haben“ werde67, geht allzu schnell über die politische Erhitzung hinweg, die er wie Wagner während des Krieges von 1870/71 an den Tag legte. Gewiß fiel diese etwas geringer aus als bei Wagner. Während dieser, wie weiter oben gezeigt, sich vom Nationalchauvinismus Wolfgang Menzels zu verbalen Exzessen gegen die „Anmaßungen des römischen Geistes“ zunächst auf politischem Gebiet, später, anläßlich des Kulturkampfes, auch „auf dem kirchlichen Gebiete“ hinreißen ließ68, zeigte sich Nietzsche bei Kriegsausbruch zunächst noch besorgt, man könne bereits „am Anfang vom Ende sein!“ und warf die Klosterperspektive auf.69 Schon drei Tage später aber stimmte auch er in den chauvinistischen Chor ein: „Es gilt unsere Kultur! Und da giebt es kein Opfer, das groß genug wäre! Dieser fluchwürdige französische Tiger!“70 Sein Kriegseinsatz blieb bekanntlich von kurzer Dauer und ging nicht ohne einige Besorgnisse hinsichtlich der drohenden Präponderanz des preußischen Militarismus ab.71 Das hinderte ihn aber nicht, sich einer Rhetorik zu überlassen, die immer häufiger die singulären Qualitäten des „germanischen Wesen[s]“ hervorhob.72 Schon in einer Vorstudie zur Tragödienschrift hatte Nietzsche behauptet: „Die neue Stufe der Kunst wurde nicht von den Griechen erreicht: es ist die germanische Mission“; in einer weiteren Skizze von Anfang 1870: „Von dem unendlich vertieften germanischen Bewußtsein aus erscheint jener Sokratismus als eine völlig verkehrte Welt“.73 Sei die Entwicklung in Griechenland durch eine „Allmähliches Entschwinden des Dionysischen“ bestimmt gewesen, so verhalte es sich in der modernen Welt umgekehrt: „Rückkehr des germanischen Geistes zu sich selbst. Überhandnehmen des dionysischen Geistes, der nach einer Offenbarung sucht.“74 Kurz zuvor hatte er notiert: „Die germanische Begabung, die zuerst in Luther, dann wieder in der deutschen Musik ans Licht kam, hat uns wieder mit dem Dionysischen vertraut gemacht: es ist das bei weitem Übermächtige, auch die Weisheit des Dionysischen ist uns die vertrautere Form.

66 Friedrich

Nietzsche an Carl von Gersdorff, Brief vom 11.3.1870, KSB 3, S. 104 f. Unzeitgemässe Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 409. 68 Wagner, Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth, DS 10, S. 43. 69 Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, Brief vom 16.7.1870, KSB 3, S. 130. 70 Friedrich Nietzsche an Franziska Nietzsche, Brief vom 19.7.1870, KSB 3, S. 131 (Datum korrigiert nach KSB 15, S. 23). 71 Vgl. CWT 1, S. 303 (Eintrag vom 24.10.1870). 72 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 115. 73 Ebd., S. 206; Socrates und die Tragödie, KSA 1, S. 533–549, 541. 74 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 282 f. 67 Nietzsche,

2  Wege zu Wagner – und über ihn hinaus

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Wir sind ganz unfähig, zum Naiven zu kommen und mit Hülfe des Apollinischen. Wohl aber können wir die Welt uns rein dionysisch auslegen und die Erscheinungswelt uns durch Musik deuten. Wir bekommen so wenigstens wieder die künstlerische Weltbetrachtung, den Mythus. Dabei bemerken wir, wie die Oper, als die Form des romanischen unkünstlerischen Menschen, durch die germanische Tendenz unendlich vertieft und zur Kunst emporgehoben wird.“75

Erst im Herbst 1871, als er an der Schlußfassung der Tragödienschrift arbeitete, machte Nietzsche deutlich, daß die von ihm beschworene germanische Begabung auf anderen Gebieten zu suchen sei als auf denen des Krieges. Denn dieser drohe zunehmend zum Spielfeld des ‚praktischen Pessimismus‘ zu werden, der die Kehrseite des von Sokrates inaugurierten theoretischen Optimismus sei. Sollte diese Einstellung die Oberhand gewinnen, wie es im Potentialis hieß, so würde „wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdaurnden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste, wenn er, wie der Bewohner der Fidschi-Inseln, als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Völkermordes aus Mitleid erzeugen könnte“ (S. 100). Um so dringlicher erschien es Nietzsche, die Gegenkräfte stark zu machen, wie sie allein im Feld der Kultur, und hier vorzugsweise demjenigen der Musik, zu finden seien. Das 16. Kapitel sprach die Hoffnung auf eine „Wiedergeburt der Tragödie“ aus und begründete dies mit der „Befähigung der Musik, den Mythus d. h. das bedeutsamste Exempel zu gebären und gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der dionysischen Erkenntniss in Gleichnissen redet“ (S. 107). Das „Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und mythischer Offenbarung“ sei indessen mit der attischen Tragödie abgebrochen, „während die aus diesem Ringen geborne dionysische Weltbetrachtung in den Mysterien“ weitergelebt und nicht aufgehört habe, „ernstere Naturen an sich zu ziehen“. Viele Anzeichen sprächen aber dafür, daß sie heute im Begriff sei, „aus ihrer mystischen Tiefe […] wieder als Kunst empor[zu]steigen“ (S. 110 f.), dies aber vornehmlich in Deutschland, wo seit Goethe „der moderne Mensch die Grenzen jener sokratischen Erkenntnisslust zu ahnen beginnt und aus dem weiten wüsten Wissensmeere nach einer Küste verlangt“ (S. 116). Auch wenn sich der deutsche Genius lange Zeit nur am „Gängelband einer romanischen Civilisation“ zu entwickeln vermochte (S. 129), darüber hinaus auch „im Dienst tückischer Zwerge“ gestanden habe, unter denen unschwer die Juden zu verstehen sind76, so sei es ihm doch wie dem

75 Ebd.,

S. 275. dem der Neuausgabe der Tragödienschrift vorgeschalteten „Versuch einer Selbstkritik“ von 1886 hat Nietzsche vor allem den „antichristliche[n]“ Zug des Textes hervorgehoben (KSA 1, S. 19). In eine andere Richtung deutet jedoch die in der Erstfassung vorgenommene Abwertung der „Semiten“ gegenüber den „Ariern“ (S. 69), ferner die in einem Vortragsmanuskript vorgenommene Gleichsetzung des Sokratismus mit der jüdischen Presse (vgl. von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche ‚Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘, S. 39) sowie der ebenfalls unpublizierte Vortrag über den griechischen Staat, den Nietzsche 76 In

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

schlafenden Ritter ergangen, der „in herrlicher Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft unzerstört“ gelebt habe, um eines Tages aufzuwachen, Drachen zu töten, die tückischen Zwerge zu vernichten und Brünnhilde zu erwecken (S. 154).Während in Frankreich der nationale Genius so eng mit den Formen der „Civilisation‘ als einer „Art von abgeirrter Cultur“ verflochten sei77, daß eine Regeneration von dort aus nicht zu erwarten sei, habe sich in Deutschland der ‚edle Kern‘ des Volkscharakters’ erhalten, wenn auch vornehmlich in Musik und Literatur. Es bestehe deshalb Hoffnung, daß sich der deutsche Geist aller von außen ihm eingepflanzten Elemente, insbesondere der kulturwidrigen Doktrin des Liberalismus, entledige, sich auf sich selbst besinne und jene „deutsche Wiedergeburt der hellenischen Welt“ einleite, von der das Schicksal der modernen Kultur schlechthin abhänge.78 „Wir sind der Kultur zugekehrt: das ‚Deutsche‘ als erlösende Kraft!“79 Als Garant dafür galt Nietzsche, wie nicht eigens hervorzuheben ist, Richard Wagner. Aber noch während er dabei war, in dessen Kielwasser den ästhetischen Fundamentalismus zu einem nationalreligiösen zu erweitern80, begann er bereits,

Weihnachten 1872 Cosima Wagner zum Geschenk machte. Die überzeugte Antisemitin dürfte keinen Augenblick im Zweifel gewesen sein, wer mit den im Hintergrund wirkenden „wahrhaft internationalen heimatlosen Geldeinsiedler[n]“ gemeint war, „die, bei ihrem natürlichen Mangel des staatlichen Instinktes, es gelernt haben, die Politik zum Mittel der Börse und Staat und Gesellschaft als Bereicherungsapparate ihrer selbst zu mißbrauchen“ (Der griechische Staat, KSA 1, S. 764–777, 774). Eine Zusammenstellung weiterer judenfeindlicher Äußerungen dieser Zeit bei Schmidt, Kommentar zu Nietzsches „Die Geburt der Tragödie“, S. 205 ff., 368 ff.). Nach dem Bruch mit Wagner begann Nietzsche das Judentum zwar deutlich positiver zu sehen, doch hielt ihn dies nicht davon ab, seine Werke zwölf Jahre lang bei Ernst Schmeitzner zu publizieren, einem der profiliertesten Vertreter des Radikalantisemitismus in Sachsen. Vgl. Malcolm B. Brown: Friedrich Nietzsche und sein Verleger Ernst Schmeitzner, Frankfurt am Main 1987. Im Spätwerk schlug die Verschärfung seiner Kritik am Christentum auch auf das Judentum wieder durch, wenn auch nicht mehr in der einseitigen Weise wie zur Zeit der Zusammenarbeit mit Wagner. Immerhin hieß es: „Keine neuen Juden mehr! Und die Thore nach dem Osten zugeschlossen halten!“ (Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, S. 688). Kompromißlose Ablehnung erfuhr andererseits die in den 80er Jahren aufkommende antisemitische Bewegung, zu deren Wortführern neben Eugen Dühring und Theodor Fritsch auch Nietzsches Schwager Bernhard Förster zählte. Vgl. dazu aus der umfangreichen Literatur Menahem Brinker: Nietzsche and the Jews, in: Golomb und Wistrich (Hrsg.), Nietzsche, Godfather of Fascism? S. 107–125; Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen, S. 423 ff. 77 Ebd., S. 606, 813. 78 Nietzsche, Vorwort an Richard Wagner, KSA 7, S. 353, 355 f. 79 Ebd., S. 429. 80  Vgl. in diesem Sinne auch Udo Tietz und Cathleen Kantner: Staatskritik und Antiinstitutionalismus bei Nietzsche und Marx, in: Steffen Dietzsch und Claudia Terne (Hrsg.), Nietzsches Perspektiven. Denken und Dichten in der Moderne, Berlin und Boston 2014, S. 133– 162, 152. Nationalreligiöser Fundamentalismus verlagert die Funktion der Erlösung auf ein ideales Subjekt und schließt deshalb im Unterschied zum Nationalismus eine kritische Sicht der empirisch-historischen Nation nicht aus. Es ist deshalb durchaus kein Widerspruch zu den oben zitierten Passagen, wenn Nietzsche schon in dieser Phase seines Denkens wenig Gutes über seine Landsleute zu sagen weiß und ihnen „eine höchst zweideutige, unfertige, unnationale Kultur“ bescheinigt, „eine wahre Verlegenheits-Cultur“, die plötzlich den Mantel des Triumphators sich

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sich von beidem abzusetzen. Das betraf die Distanzierung von den übrigen „Herren Brüder[n] in Wagnero“, welche „meistens doch gar zu dumm und ekelhaft“ schrieben, „keinen Blick für die Tiefe, sondern nur für die Oberfläche“ hätten.81 Es betraf die in den Vorreden zur Tragödienschrift skizzierte Sicht der griechischen Antike, die mit ihrer Apologie der Sklaverei und des Staates doch sehr von den Präferenzen Wagners abwich.82 Und es betraf nicht zuletzt essentielle Punkte von Wagners Agenda, die er mit eigenen Akzenten versah. Zwar bekannte er sich in der Tragödienschrift wie auch in den im Anschluß daran niedergeschriebenen Notizen emphatisch zu Wagners Leitidee, die Kunst, und sie allein, könne die „ungeheure Aufgabe“ einer „Bändigung der Wissenschaft“ erfüllen, welch letztere insbesondere in den historischen Disziplinen und in den mathematischen Naturwissenschaften die metaphysischen Ideen über Bord geworfen habe und auf „das absolute Erkennen“ ziele, was zu nichts anderem führen könne als zum Pessimismus.83 Dies heute zu leisten sollte die Kunst indessen nur imstande sein, weil ihr in der Philosophie ein mächtiger Bundesgenosse erwachsen sei. Dieser habe „mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen.“ Daß Kant und mehr noch Schopenhauer sich „über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Urgrund unserer Cultur ist“, erhoben hätten, sei von kardinaler Bedeutung für die Neuschaffung einer tragischen Kultur, in der nicht mehr die Wissenschaft, sondern die Weisheit das höchste Ziel bilden werde, welche sich fortan, „ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht“ (S. 118).84

umgelegt habe. Schon jetzt habe er „kaum den Muth, irgend eine Eigenschaft als eine speziell deutsche zu reklamiren. Die deutsche Sitte, die deutsche Geselligkeit, die deutschen Verwaltungen und Vertretungen, alles hat einen ausländischen Beigeschmack und sieht aus wie eine Nachahmung ohne Talent, von der noch dazu vergessen ist, daß sie Nachahmung ist: überall Originalität aus Vergeßlichkeit“. In einer solchen Lage könne man sich allein an die deutsche Sprache halten, (vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 582, 692, 776). 81 Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, Brief vom 22./28.2.1869, KSB 2, S. 378. 82 Vgl. Dieter Schellong: Zwischen griechischem Altertum und Richard Wagner. Verschlungene Denkwege des frühen Nietzsche, in: Andreas Schirmer und Rüdiger Schmidt (Hrsg.), Entdecken und Verraten. Zu Leben und Werk Friedrich Nietzsches, Weimar 1999, S. 93–110, 107. 83 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 428. „Bändigung“ ist in dieser Phase ein mit Blick auf die Wissenschaft oft wiederholtes Schlüsselwort: vgl. ebd., S. 424, 427, 430, 432 u. ö. 84 Genau genommen war es allerdings mehr die Leistung Schopenhauers als diejenige Kants, wie den nachgelassenen Notizen dieser Zeit zu entnehmen ist. Kant habe in gewissem Sinne sogar schädlich gewirkt, da durch ihn der Glaube an die Metaphysik verloren gegangen sei und von dem gebotenen Ersatz, dem Ding an sich, niemand erwarte, daß es „ein bändigendes Princip sei“ (ebd., S. 425).

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

Das las sich prima facie, bei aller Relativierung der Wissenschaft, wie eine Apologie des Apollinischen, dem Nietzsche denn auch bescheinigte, „ein herrlicher Schein“ zu sein, durch dessen Wirkung „wir von dem dionysischen Andrange und Uebermaasse entlastet werden sollen“ (S. 138). Der möglichen Folgerung indessen, „dass das Apollinische in der Tragödie durch seine Täuschung völlig den Sieg über das dionysische Urelement der Musik davongetragen“ habe, trat Nietzsche mit der Einschränkung entgegen, daß in dem „allerwesentlichsten Punkte“ jene Täuschung durchbrochen sei: „Das Drama, das in so innerlich erleuchteter Deutlichkeit aller Bewegungen und Gestalten, mit Hülfe der Musik, sich vor uns ausbreitet, als ob wir das Gewebe am Webstuhl im Auf- und Niederzucken entstehen sehen – erreicht als Ganzes eine Wirkung, die jenseits aller apollinischen Kunstwirkungen liegt. In der Gesammtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wieder das Uebergewicht; sie schliesst mit einem Klange, der niemals von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen könnte. Und damit erweist sich die apollinische Täuschung als das, was sie ist, als die während der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der eigentlichen dionysischen Wirkung: die doch so mächtig ist, am Schluss das apollinische Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit dionysischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und seine apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich das schwierige Verhältniss des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisiren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist“ (S. 139 f.)

Die Metapher vom „Bruderbund“ macht deutlich, daß Nietzsche keineswegs dem Apollinischen den Vorrang gegeben hat, wie dies später von Interpreten wie Kurt Hildebrandt behauptet wurde.85 Ebensowenig läßt sich die Geburt der Tragödie jedoch als Ausdruck einer dionysisch-romantischen, die „chthonischen“ und sakralen Züge des frühen Griechentums betonenden Welthaltung lesen, wie etwa Alfred Baeumler gemeint hat.86 Das Dionysische war für Nietzsche wohl das ‚Fundament aller Existenz‘, „die ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt der Erscheinung in’s Dasein ruft“, doch drohte es dieses sein Produkt auch immer wieder zu verschlingen. Um die „belebte Welt der Individuation im Leben festzuhalten“, sei deshalb die fortwährende Verschleierung und Verdeckung des dionysischen Untergrundes verlangt, wie sie allein der apollinischen Verklärungskraft möglich sei, so daß man es in der Geburt der Tragödie sowohl mit einer Anerkennung des Dionysischen als des „Untergrunde[s]

85  Vgl.

Hildebrandt, Wagner und Nietzsche, S. 499. Aus späterer Zeit Thomas Böning: Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, Berlin und New York 1988, S. 254 ff.; Horst Turk: Nietzsches ‚Geburt der Tragödie‘ und die Rettung des Apollinischen, in: Gerhard Buhr (Hrsg.), Das Subjekt der Dichtung. FS Gerhard Kaiser, Würzburg 1990, S. 17–29. 86 Vgl. Baeumler, Das mythische Weltalter, S. 63, 93, 257 ff. Ähnlich, wenngleich mit jeweils anderer Akzentuierung, Manfred Frank: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt am Main 1988, S. 28 ff.; Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik, Frankfurt am Main 1989, S. 84 ff.; Hubert Cancik: Nietzsches Antike, Stuttgart und Weimar 1995, S. 50 ff.; Figal, Nietzsche, S. 102.

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der Welt“ als auch mit einer Apologie des Apollinischen als der „herrliche[n] Illusion“ zu tun hat, die einen „Schönheitsschleier“ über diesen Untergrund legt und ihn so erst erträglich macht (S. 155).87 Von einer Aufforderung zur Regression, wie sie für den modernen Fundamentalismus typisch ist, kann also nicht die Rede sein. Nietzsche grenzte sich zwar kritisch vom Rationalismus der Wissenschaft ab, indem er diesem eine Vereinseitigung des Apollinischen vorhielt, eine ‚Superfötation‘ des Logischen auf Kosten anderer Fähigkeiten, etwa der bildnerischen (S. 90). Anders als Wagner jedoch, der die Wissenschaft eher nach biblischem Vorbild als schlechterdings verwerfliche Grenzüberschreitung auffaßte, die nur durch Selbstvernichtung zu sühnen sei88, verstand Nietzsche sie im antik-prometheischen Sinne als ‚aktive Sünde‘, bei der die menschliche Freiheit zwar mit dem Makel des Frevels behaftet sei, zugleich aber Würde besitze. Damit aber stehe sie in eigentümlichem Kontrast zum „semitischen Sündenfallmythus“, „in welchem die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe vornehmlich weiblicher Affectionen als der Ursprung des Uebels angesehen werde“ (S. 69). Die „arische Vorstellung“ dagegen habe den Menschen wohl einerseits von den Göttern und von der Natur entfernt, doch sei sie zugleich malgré elle das Mittel, um die Kluft wieder zu schließen, führe doch „der erhabene metaphysische Wahn“, welcher der Wissenschaft „als Instinct beigegeben“ sei, sie „immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss“ (S. 99). Aus dieser Perspektive besaß die Wissenschaft einen Doppelcharakter. Sie mochte ein „unmenschliches Abstractum“ sein, das alle, die sich ihr ‚gedankenlos und allzu frühzeitig‘ hingaben, zu krummen und buckligen Wesen werden ließ.89 Dennoch sei selbst die äußerste Vereinseitigung des Denkens, der Absolutismus der Wissenschaft, ein Stachel zur Stärkung des Gegenpols und deshalb ein unbedingt zu Bejahendes: „je großartiger der Radikalismus des Denkens, um so großartiger wird die Entfaltung des Dionysischen.“90 Daß durch Sokrates und die an ihn anschließende Aufklärung der Mythus immer mehr ausgeschlossen werde, sei nur die eine Seite. In Wahrheit werde „der Mythus immer tiefsinniger und großartiger, weil die erkannte Gesetzmäßigkeit immer großartiger wird. Man wird zur mystischen Conception gedrängt. Sodann aber drängt überhaupt die Wucht des logischen Denkens die Gegenmacht hervor, die dann mitunter auf Jahrtausende die Logik in Bande schließt“.91 So habe Sokrates zwar die griechische Tragödie zerstört, ohne es zu wollen aber den Weg für die tragische Kultur der Zukunft geebnet, die ihr höchstes Symbol im „musiktreibenden Sokrates“ finde (S. 111).

87  Vgl.

in diesem Sinn auch die Überlegungen bei Christof Kalb: Desintegration. Studien zu Friedrich Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie, Frankfurt am Main 2000, S. 26 ff. 88 Vgl. Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, DS 6, S. 12. 89 Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 344. 90 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 154. 91 Ebd., S. 133.

146

III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

Die Deutung der Wissenschaft als eines Irrtums, welcher gleichwohl notwendig sei, ist einer jener impliziten Hegelianismen, die die Geburt der Tragödie durchziehen.92 Hegelianismus und Fundamentalismus aber sind inkompatibel, insofern der erstere die Geschichte der Welt als stufenförmig sich vollziehende Selbstbefreiung des Geistes faßt, als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“93, der letztere hingegen den gleichen Vorgang mit negativem Vorzeichen präsentiert: als einen einzigen Zerstörungsprozeß, der ein stets mächtiger werdendes Bedürfnis nach Erlösung evoziert. Nicht daß Nietzsche zum Hegelianer geworden wäre. Daran war er schon durch sein Bekenntnis zu Schopenhauer gehindert. Aber es ist doch nicht zu übersehen, daß sich schon bald nach der Geburt der Tragödie Äußerungen mehren, die, wenn schon keine volle Rücknahme, so doch eine Abschwächung der Zeitablehnung indizieren. Nietzsche mochte auch weiterhin die „Selbstsucht der Wissenschaft“ attackieren, er fand sich doch zugleich genötigt, sie als Mittel zu akzeptieren, das die Überwindung des Mittelalters möglich gemacht habe.94 Er mochte die „Selbstsucht der Erwerbenden“ beklagen, die der Kultur „Ziel und Maass vorschreiben“ wollten, und mußte doch einräumen, daß dies den Menschen immerhin soviel Kultur gestatte, „als im Interesse des allgemeinen Erwerbs und des Weltverkehrs ist“.95 Und wenn er schließlich auch die „Selbstsucht des Staates“ geißelte, so kam er doch nicht umhin, die „ungeheure Notwendigkeit“ dieser Institution anzuerkennen, ohne die „es der Natur nicht gelingen möchte, durch die Gesellschaft zu ihrer Erlösung im Scheine, im Spiegel des Genius zu kommen“.96 Kurzum, nicht der Abbau der Wissenschaft, der auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichteten Wirtschaft oder des auf Gewalt und Zwang beruhenden Staates stand auf der Agenda, sondern deren Einbau in eine noch zu schaffende, dem Ganzen erst Sinn gebende Kultur. Mochte dieses Unternehmen seiner Absicht nach auf eine „antichristliche Wiederholung der Antike auf der Spitze der Modernität“ ausgerichtet sein97, so war doch die Haltung gegenüber den Basisinstitutionen der Moderne, die hierin eingebettet und dadurch gebändigt werden sollten, bejahend, was freilich substantielle Umbauten nicht ausschloß. Nietzsche mag sich darüber lange nicht hinreichend Rechenschaft abgelegt haben, doch drängte es ihn zweifellos schon während der Allianz mit Wagner über seinen anfänglichen Fundamentalismus hinaus zu Positionen, die

92 Vgl.

Siegfried Blasche: Hegelianismen im Umfeld von Nietzsches ‚Geburt der Tragödie‘, in: Nietzsche-Studien 15, 1986, S. 59–71. 93 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Theorie Werkausgabe, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 12, Frankfurt am Main 1970, S. 32. 94 Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 393; vgl. Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 430. 95 Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 387 f. 96 Ebd., S. 388; Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 343; vgl. ebd., S. 142 f. 97 Karl Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, in: ders., Nietzsche, S. 238.

3  Vom „Meister-Singer“ zum Lehrer ohne Schüler

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eine noch zu spezifizierende Anerkennung der Gegenwart mit dem Streben nach einer „geistigen Aristokratie“ und, damit einhergehend, zeitgemäßen Formen der Sklaverei zu vereinbaren versuchten.98 Es überrascht nicht, daß Bayreuth auf derartige Vorwegnahmen von Nietzsches späterer Philosophie99 empfindlich reagierte und bedenkliche „Schwingungen“ und „ungeschickte Schroffheit“ beklagte.100

3 Vom „Meister-Singer“ zum Lehrer ohne Schüler Einen Einblick in diese Vorwegnahmen gewähren die Nachlaßmanuskripte, die Nietzsche schon zu der Zeit verfaßte, als er sich noch als Propagandist für die Bayreuther Festspiele betätigte.101 In einer Gruppe von Fragmenten, die von den Herausgebern auf 1871 datiert wird, unterschied er zwischen drei großen Perioden, die im Zeichen des Mythos, der Religion und der Kunst stünden. Jetzt sei es an der Zeit, „die Reste des religiösen Lebens zu beseitigen, weil sie matt und unfruchtbar sind und die Hingebung an ein eigentliches Ziel abschwächen.“ Wer die Menschen ernst machen wolle, der habe mit den „abgeblaßten Religionen nichts mehr zu thun“, also auch nicht mit dem Christentum, dem Wagner noch kurz zuvor bescheinigt hatte, daß es dessen Geist gewesen sei, „der die Seele der Musik neu wiederbelebte“.102 Zwei Jahre später, in den Manuskripten vom Sommer/Herbst 1873, erklärte er die Religionen für erschöpft, „an den bedeutenden Symbolen ermüdet.“ In Schopenhauer als Erzieher fand er das Christenthum „allmählich bis in das Mark hinein krank geworden, verheuchelt und verlogen und bis zum Widerspruche mit seinem ursprünglichen Ziele abgeartet.“103 Schon zuvor hatte er die in der Tragödienschrift aufblitzenden Differenzen zu Schopenhauer104 mit der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung verstärkt, in

98  Nietzsche,

Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 385 (zur Aristokratie). Vgl. S. 140, 156, 169, 194, 336 ff. (zur Sklaverei). Vgl. Martin A. Ruehl: Nietzsche’s New Order: The Political after the Death of God, in: ders. und Corinna Schubert (Hrsg.), Nietzsches Perspektiven des Politischen, Berlin und Boston 2022, S. 17–32, 27 u. ö. 99  Vgl. Eckhard Heftrich: Die Geburt der Tragödie: Eine Präfiguration von Nietzsches Philosophie, in: Nietzsche-Studien 18, 1989, S. 103–126. 100 Cosima Wagner an Malwida von Meysenbug, Brief vom Januar 1873; an Carl von Gersdorff, Brief vom April 1873, in: Die Briefe des Freiherrn Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 109, 107. 101 Richard Wagner in Bayreuth erschien im Juli 1876. 102 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 309; Wagner, Beethoven, DS 9, S. 104. 103 Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 389. 104  Vgl. Christoph Landerer und Marc-Oliver Schuster: Nietzsches Vorstudien zur Geburt der Tragödie in ihrer Beziehung zur Musikästhetik Eduard Hanslicks, in: Nietzsche-Studien 31, 2002, S. 114–133.

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

der er Jacob Burckhardts Lehre von der plastischen Kraft als der Fähigkeit zur Wiederherstellung der inneren Harmonie übernahm – einer Fähigkeit, die denjenigen, der über sie verfügte, des Bedürfnisses nach Erlösung entheben sollte.105 In Menschliches, Allzumenschliches, mit dem er unmittelbar nach der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung während des Aufenthaltes in Klingenbrunn im Sommer 1876 begann, unterzog er dieses für das Christentum so charakteristische Bedürfnis einer psychologischen Analyse, die zu dem Ergebnis kam, daß es „gar keiner wirklichen, sondern nur einer eingebildeten Sündhaftigkeit“ entsprach.106 Das Christentum habe die moralischen Ansprüche so hochgeschraubt, daß kein wirklicher Mensch ihnen gerecht werden könne. Dies habe zu einer extremen Selbstverachtung geführt, von der allein „das gänzlich unverdiente Herabströmen eines Gnadenglanzes von Oben“ zu befreien vermochte.107 Auch in anderen auf Erlösung abstellenden Religionen sei dieser Mechanismus zu studieren, der in der Bergpredigt nur seinen konsequentesten Ausdruck gefunden habe: „der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisiren.“108 Die Gegenwart sah Nietzsche allerdings im Begriff, sich davon zu befreien. Zwar sei durch Schopenhauers Lehre von der Fähigkeit der Religion, die Wahrheit sensu allegorico auszusprechen, das ‚metaphysische Bedürfnis‘ noch einmal bekräftigt worden109, doch habe sie die einmal in Gang gekommene „Vernichtung aller christlichen Dogmen“ nicht aufhalten können.110 Durch die Aufklärung aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt, verlagere sich das dahinter stehende Gefühl auf andere Bereiche, das politische Leben, die Wissenschaft oder die Kunst.111 Nicht nur das Christentum, das religiöse Gefühl überhaupt habe seine Zeit gehabt und sei dabei, als solches zu verschwinden – ein Vorgang, der Nietzsche weit genug vorangeschritten zu sein schien, um ihm einen beinahe wehmütigen Rückblick zu widmen: „So wird es nie wieder einen religiös umgränzten Horizont des Lebens und der Cultur geben. Vielleicht ist selbst der Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellectes möglich, mit der es, wie es scheint, für alle Zukunft vorbei ist. Und so ist

105 Vgl. Figal, Nietzsche, S. 52 f. Für die Beziehung zu Burckhardt vgl. Lionel Gossman: Basel in der Zeit Jacob Burckhardts. Eine Stadt und vier unzeitgemässe Denker, Basel 2005, S. 531 ff.; Nikola Regent: A ‚Wondrous Echo‘: Burckhardt, Renaissance and Nietzsche’s Political Thought, in: Siemens und Roodt (Hrsg.), Nietzsche, Power and Politics, S. 629–666. 106  Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band [1878], KSA 2, S. 9–366, 136. 107 Ebd., S. 129. 108 Ebd., S. 131. 109 Vgl. ebd., S. 109. 110 Ebd., S. 47. 111 Vgl. ebd., S. 144.

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die Höhe der Intelligenz vielleicht einem einzelnen Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen: sie trat hervor – und tritt hervor, denn wir leben noch in diesem Zeitalter -, als eine ausserordentliche, lang angesammelte Energie des Willens sich ausnahmsweise auf geistige Ziele durch Vererbung übertrug. Es wird mit jener Höhe vorbei sein, wenn diese Wildheit und Energie nicht mehr gross gezüchtet werden.“112

Derart gelassene Töne fand Nietzsche bald nicht mehr. Schon im zweiten Teil von Menschliches, Allzumenschliches wurde das Christentum zur „Religion des altgewordenen Alterthums“ erklärt, dessen Voraussetzung „entartete alte Culturvölker“ gewesen seien. Für die „junge[n] frische[n] Barbarenvölker“ in der Spätantike sei es dagegen eher ein Gift gewesen113, das allerdings lange gebraucht habe, um zu wirken. Erst heute, so befand 1882 die Fröhliche Wissenschaft, stehe man am „Sterbebette des Christenthums“ als einer Lehre, welche nur noch in einer wunderlich vereinfachten Form bei den „Menschen des geistigen Mittelstandes“ in Geltung sei, während die „wirklich activen Menschen […] jetzt innerlich ohne Christenthum“ lebten. Insgesamt sei es in einen „sanften Moralismus übergetreten“, ein Ensemble von „Wohlwollen und anständige[r] Gesinnung“, ergänzt durch den Glauben, diese würden „auch im ganzen All […] herrschen […]: es ist die Euthanasie des Christenthums.“114 In derselben Schrift wurde diese Diagnose gleich dreimal mit dem bekannten Wort vom Tod Gottes bekräftigt, allerdings auch durch die Feststellung wieder relativiert, „diess ungeheure Ereigniss“ sei noch unterwegs und „nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.115 Nietzsche leitete daraus die Berechtigung ab, nicht nur die Lautstärke zu erhöhen, mit der er seine Botschaft verkündete, sondern zugleich die Anklage zu verschärfen. Die Erlösungsreligionen, zu denen er den Buddhismus, an erster Stelle aber die monotheistischen Religionen zählte116, erschienen ihm nachgerade als große „Schule der Skepsis“, die „mit unermüdlicher Geduld und Feinheit […] in jedem einzelnen Menschen den Glauben an seine Tugenden [vernichtete]“ und dergestalt jene „lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz“ auf den Weg brachte, als deren Resultat Europa heute den „Anblick einer ungeheuren Trümmerwelt“ biete – die Welt des „Nihilismus“.117 Einen gewissen Ersatz für die verloren gegangenen Gewißheiten der Religion schien wiederum zunächst die Kunst zu bieten. Das durch die wachsende Aufklärung in seinen tradierten Überzeugungen erschütterte ‚religiöse Gefühl‘, glaubte Nietzsche zu wissen, suche eine neue Heimat in anderen Sphären, allen voran in der Kunst, die ebendort ihr Haupt erhebe, „wo die Religionen

112 Ebd.,

S. 195 f. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band [1879/1880], KSA 2, S. 367–704, 478 f. 114 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 85 f. 115 Ebd., S. 481; vgl. S. 467, 573. 116 Vgl. ebd., S. 490. 117 Ebd., S. 478, 573, 602, 581. 113 Friedrich

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

nachlassen.“ Indem sie „eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen“ übernehme und an ihr Herz lege, werde sie selbst „tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte.“ Sie mache „den Anblick des Lebens erträglich, dadurch dass sie den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt.“118 Allerdings sei diese Wirkung nicht von Dauer, könne sich doch auch die Kunst der fortschreitenden Entsinnlichung und Intellektualisierung nicht entziehen. Die für den ‚modernen Geist‘ charakteristische Unruhe, die schon die Grundlagen der Religion untergraben habe, mache sich auch in der Kunst geltend, teils durch eine Aufhebung der Grenzen, in deren Gefolge eine „Fluth von Poesien aller Stile aller Völker“ hereinbreche, teils durch die Beseitigung aller formalen und inhaltlichen Fesseln und Beschränkungen.119 Die Auflösung vollziehe sich mit einem Tempo, daß man bereits heute die „Abendröthe der Kunst“ beobachten könne.120 Die Kunst, so das Resümee Theo Meyers für diese Periode in Nietzsches Denken, „wird als Scheinwesen abgetan, und der Künstler erscheint als Lügner.“121 Das betraf nicht zuletzt auch so zentrale Kategorien wie das Schöne und das Erhabene.122 Deren Verehrer mochten lange die Wissenschaft für eine gegenüber der Kunst nachrangige Erscheinung gehalten haben, doch sei dies nur solange möglich gewesen, wie der Geist nicht durch strenges Denken in Anspruch genommen wurde, sein Ernst noch im „Ausspinnen von Symbolen und Formen“ gelegen habe. Das habe sich jetzt verändert, sei doch der „Ernst des Symbolischen […] zum Kennzeichen der niederen Cultur geworden“, die Kunst dagegen „immer intellectualer“. Und so wie auch die Sinne geistiger würden, „so werden auch die Formen unseres Lebens immer geistiger, für das Auge älterer Zeiten vielleicht hässlicher, aber nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das Reich der inneren, geistigen Schönheit sich fortwährend vertieft und erweitert und in wie fern uns Allen der geistreiche Blick jetzt mehr gelten darf, als der schönste Gliederbau und das erhabenste Bauwerk.“123 Das mochte auf den ersten Blick als Verlust erscheinen, wurde von Nietzsche aber im gleichen Zug als Gewinn verbucht, sei doch die „Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben […], in uns hineingewachsen“, zum „allgewaltige[n] Bedürfniss des Erkennens“ geworden, das sich der Wissenschaft vererbt habe.124 Damit könne womöglich ein Zeitalter anheben, „das die mächtigste Schönheit gerade in den ‚wilden, hässlichen‘ Theilen der

118 Nietzsche,

Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 144. S. 182. 120 Ebd., S. 186. 121 Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 68. 122  Vgl. dazu unter besonderer Berücksichtigung der Morgenröthe: Keith Ansell-Pearson: Nietzsche, the Sublime and the Sublimities of Philosophy: A Interpretation of Dawn, in: Nietzsche-Studien 39, 2010, S. 201–232. 123 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 26. 124 Ebd., S. 185 f. 119 Ebd.,

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Wissenschaft entdeckt, wie man seit Rousseau erst den Sinn für die Schönheit des Hochgebirges und der Wüste entdeckt hat.“125 Gewiß, unter dem Primat der Wissenschaft werde die Kunst eine andere sein müssen, als sie es bis dahin war. Sie werde vor allem die Begrenzungen abzuschütteln haben, die sie „im Banne der Sittlichkeit der Sitte“ verleitet hätten, als „Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrthümer der Menschheit“ hervorzutreten und alle „höheren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit, des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe) an eine eingebildete Welt“ anzubinden.126 Die Aufgabe, die sich der neuen, postreligiösen Kunst stelle, sei: „alle die Schönheit und Erhabenheit, die wir den Dingen und den Einbildungen geliehen“, als „Eigenthum und Erzeugniß des Menschen“ zurückzufordern, „als schönsten Schmuck, schönste Apologie desselben.“ In einer Wendung, die für die Kunst die anthropologische Wendung wiederholte, die Feuerbach im Vormärz im Feld der Religionskritik vollzogen hatte, feierte Nietzsche die „königliche Freigebigkeit“, mit der der Mensch die Dinge beschenkt habe, und beklagte zugleich die „Selbstlosigkeit“, mit der er sich bislang zu verbergen gewußt habe, daß er der Urheber all dieser Errungenschaften war. Auch und gerade die „Schönheit und Erhabenheit der Natur, vor der jeder Mensch klein erscheint, haben wir erst in die Natur hineingetragen – und folglich um diesen Theil die Menschheit beraubt. Sie muß es büßen.“127 Das zielte auch noch auf die Kunst seiner Zeit, soweit sie der Romantik verpflichtet war. Zwar attestierte Nietzsche insbesondere der neueren Musik, ihr Ausdrucksvermögen in Richtung „des Erhabenen, Furchtbaren, Geheimnissvollen“ erstaunlich erweitert zu haben.128 Zugleich wandte er sich jedoch mit Verve gegen den „romantische[n] Aufruhr und Sinnen-Wirrwarr, den der gebildete Pöbel liebt, sammt seinen Aspirationen nach dem Erhabenen, Gehobenen, Verschrobenen“.129 Auf eben diese bezogen sich auch die herabsetzenden Bemerkungen im Zarathustra, die die alten wie die neuen Dichter als oberflächlich und seicht qualifizierten, als „Halb-und-Halbe und Unreinliche“, die den Hungrigen nur Steine zu geben vermöchten. Für die „Erhabenen“ gar hatte er nur noch Spott übrig und decouvrierte das Erhabene als „Bosheit“, als „Mantel des Hässlichen“.130 Immerhin: auf eine Grabrede der Kunst lief dies ebenso wenig hinaus wie bei Hegel, der in seinen Vorlesungen über Ästhetik nur der Form der Kunst bescheinigt hatte, sie habe aufgehört, „das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein“, gleichzeitig

125 Friedrich

Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile [1881], KSA 3, S. 7–332, 263. 126 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 180; Morgenröthe, KSA 3, S. 42. 127 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, S. 582 f. Ähnliche Überlegungen auch in: Morgenröthe, KSA 3, S. 42. 128 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 177. 129 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 351. 130 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 165, 151, 59.

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

aber der Hoffnung Ausdruck verliehen hatte, sie werde „immer mehr steigen und sich vollenden“.131 Eine solche Erwartung formulierte, mutatis mutandis, auch Nietzsche, wenn er in der Kunst nach wie vor eine potentielle „Gegenmacht“ sah, ohne die die „Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins“ „gar nicht auszuhalten“ sei. Als ästhetisches Phänomen sei „das Dasein immer noch erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können.“132 Dazu bedürfe es allerdings einer „andre[n] Kunst“ als der gegenwärtigen, einer spöttischen und leichten, „göttlich künstliche[n] Kunst“, die vor allem „eine Kunst für Künstler, nur für Künstler!“ sein müsse133 – eine Bestimmung, die ganz und gar nicht in Richtung des zur gleichen Zeit aufkommenden L’art pour l’art-Programms verwies, sondern auf jene Kraft, welche ein Genie anstatt auf Werke auf sich selbst verwendet, „das heisst auf seine eigene Bändigung, auf Reinigung seiner Phantasie, auf Ordnung und Auswahl im Zuströmen von Aufgaben und Einfällen.“134 Daß auch die Kunst Wagners diesem Anspruch nicht entsprach, war ein Gedanke, den Nietzsche bereits in seinen Notizen von Anfang bis Frühjahr 1874 erwog135, jedoch zunächst zugunsten seines Engagements für das Bayreuther Projekt wieder zurückstellte. Die vierte Unzeitgemäße Betrachtung geriet wohl noch einmal zu einer Apologie Wagners, schränkte diese aber nicht unerheblich durch den Schlußsatz ein, der Wagner die Rolle zuschrieb, „nicht der Seher einer Zukunft, […] sondern der Deuter und Verklärer einer Vergangenheit“ zu sein.136 Wie fremd ihm dessen Sache inzwischen war, wurde während des gemeinsamen Aufenthalts in Sorrent im Oktober/November 1876 deutlich, bei dem man sich bereits nicht mehr viel zu sagen hatte. Ein deutliches Signal war ein Brief an Cosima Wagner, in dem von einer „allmählich entstandene[n], mir fast plötzlich in’s Bewußtsein getretene[n] Differenz mit Schopenhauer’s Lehre“ die Rede war, gefolgt von dem Bekenntnis: „Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite“.137 Als er dann Anfang Januar 1878 von Wagner das Textbuch zum Parsifal erhielt, bescheinigte er zwar den Situationen und ihrer

131 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, Theorie Werkausgabe, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 13, Frankfurt am Main 1970, S. 142. 132 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 464. 133 Ebd., S. 351. 134 Nietzsche, Morgenröthe, KSA 3, S. 319. 135 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 767 f. Vgl. zum Folgenden ausführlicher Christian Niemeyer: „Meine Religion liegt in der Arbeit für die Erzeugung des Genius“: Nietzsches Abwendung von Wagner im Spiegel der Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung Richard Wagner in Bayreuth (1876). Anmerkungen aus pädagogischer und rezeptionsgeschichtlicher Sicht, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 84, 2008, S. 85–96. 136 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen IV: Richard Wagner in Bayreuth [1876], KSA 1, S. 429–510, 510. 137 Friedrich Nietzsche an Cosima Wagner, Brief vom 19.12.1876, KSB 5, S. 210.

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Aufeinanderfolge, „von der höchsten Poesie“ zu sein, kam aber insgesamt zu einem vernichtenden Urteil: „Eindruck des ersten Lesens: mehr Liszt, als Wagner, Geist der Gegenreformation; mir, der ich zu sehr an das Griechische, menschlich Allgemeine gewöhnt bin, ist Alles zu christlich zeitlich beschränkt; lauter phantastische Psychologie; kein Fleisch und viel zu viel Blut (namentlich beim Abendmahl geht es mir zu vollblütig her), dann mag ich hysterische Frauenzimmer nicht; Vieles, was für das innere Auge erträglich ist, wird bei der Aufführung kaum auszuhalten sein: denken Sie Sich unsere Schauspieler betend, zitternd und mit verzückten Hälsen. Auch das Innere der Gralsburg kann auf der Bühne nicht wirkungsvoll sein, ebensowenig der verwundete Schwan. Alle diese schönen Erfindungen gehören in’s Epos und, wie gesagt, für’s innere Auge.“138

So wenig Nietzsche dem Parsifal abzugewinnen vermochte, so wenig umgekehrt die Wagners dem kurz darauf erschienenen ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches, verließ Nietzsche mit ihm doch nun auch öffentlich die bis dahin als gemeinsam empfundene Grundlage in der Philosophie Schopenhauers, um statt dessen der Aufklärung in Gestalt Voltaires einen Päan zu widmen.139 Dem Tagebuch Cosima Wagners ist zu entnehmen, daß man in Wahnfried Nietzsches Buch als ‚seltsam‘, ‚pervers‘, ‚traurig‘, ‚unbedeutend‘, ‚anwidernd‘ und von ‚nichtigem Gehalt‘ empfand.140 In einem Brief aus dem folgenden Jahr reichte Cosima Wagner auch die Erklärung für diese Reaktion nach. Bei Nietzsche habe sich ein Prozeß vollzogen, den sie schon längst habe kommen sehen, „gegen welchen ich nach meinen geringen Kräften gekämpft habe. Vieles hat mitgewirkt zu dem traurigen Buche! Schließlich kam noch Israel hinzu in Gestalt eines Dr. Rée, sehr glatt, sehr kühl, gleichsam durchaus eingenommen und unterjocht durch Nietzsche, in Wahrheit aber ihn überlistend, im Kleinen das Verhältnis von Judäa und Germania […] Wagner selbst meint von Nietzsche, daß aus dieser Knolle eine Blume getrieben hätte. Nun bliebe die Knolle zurück, eigentlich ein garstiges Ding.“141 Die Wendung, die Nietzsche mit Menschliches, Allzumenschliches vollzog, brachte jedoch nicht nur den Bruch mit dem einst gefeierten „Bündniss Wagner’s und Schopenhauer’s“.142 Mit ihr verabschiedete er sich endgültig von allem, was in irgendeiner Weise an seine einstige Jüngerschaft erinnerte. Für deren aktuelle Vertreter, die sich in Bayreuth sammelten, hatte er nur ätzende Kommentare übrig. Wolzogen schien ihm „nicht Musiker genug zu sein; und als Schriftsteller ist er zum Todtlachen, mit seiner Confusion artistischer und psychologischer Sprechweise.“143 Von den Bayreuther Blättern sprach er als von „erbarmungswürdigem Zeug“, mit dem ‚um alles in der Welt‘ er nicht verwechselt zu werden

138 Friedrich

Nietzsche an Reinhart von Seydlitz, Brief vom 4.1.1878, KSB 5, S. 300. Janz, Nietzsche, Bd. 1, S. 825. 140 Vgl. CWT 2, S. 87, 102, 124 (Einträge vom 25./27.4., 30.5. und 24.6.1878). 141 Cosima Wagner an Marie von Schleinitz, Brief vom 9.5.1879. Zit. n. KSA 15, S. 84. Vgl. auch CWT 2, S. 170 f. (Eintrag vom 7.9. 1878). 142 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA 7, S. 767. 143 Friedrich Nietzsche an Carl Fuchs, Brief vom 29.7.1877, KSB 5, S. 262. 139 Vgl.

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

wünschte.144 Im April 1880 ließ er seine Mutter wissen: „Von den Bayreuther Bl[ättern] will ich nichts hören, ich lese sie nicht mehr seit Juli 1877.“145 Vollends das 1883 erschienene Wagner-Lexikon erfüllte ihn „mit einem unsäglichen Abscheu vor diesem anmaaßlichen Gefasel über jeglich Ding.“146 Gewiß blieben Schopenhauer und Wagner als Personen für ihn weiterhin „Meister“, doch relativierte er dies sogleich durch die Zuschreibung, sie seien ihm ebenso tief verwandt als antagonistisch.147 Der „Typus des Meisters“ als solcher aber wurde ihm zunehmend suspekt, und erst recht die ihm entgegengebrachte „sektirerische[n] Verehrung“, die „die originalen, oft peinlich-fremden Züge und Idiosynkrasien an dem verehrten Wesen“ auslösche.148 Entsprechende Zuschreibungen an seine eigene Person wies er zurück. Als Paul Lanzky ihn einmal brieflich mit „verehrtester Meister!“ ansprach, ließ er Mutter und Schwester wissen, es mache ihm „ebensosehr Rührung als Spaaß und Spott, daß ich hierin anfange, zum Erben Wagner’s zu werden.“149 Lieber rechnete er sich zu den ‚großen Lehrern der Menschheit‘150, die Anerkennung nicht für ihre Person, sondern für die von ihnen vertretene Sache verlangten und sich darin auch nicht durch die Erfahrung erschüttern ließen, daß sich kaum Schüler einstellten. Nietzsche empfand wohl das Prekäre einer solchen Lage, entschied sich aber, aus der Not eine Tugend zu machen. Seine Schriften, ließ er die Schwester wissen, seien eben „Elite-Schriften für Elite-Menschen, d. h. für ganz Wenige.“151

144  Friedrich Nietzsche an Carl Fuchs, Brief vom 20./27.7.1878, KSB 5, S. 340; an Ernst Schmeitzner, Brief vom 25.8.1878, KSB 5, S. 347. 145 Friedrich Nietzsche an Franziska Nietzsche, Brief vom 21.4.1880, KSB 6, S. 17. 146 Friedrich Nietzsche an Heinrich von Stein, Briefentwurf Mitte März 1885, KSB 7, S. 27. Gemeint ist: Wagner-Lexikon. Hauptbegriffe der Kunst- und Weltanschauung Richard Wagners in wörtlichen Anführungen aus seinen Schriften. Zusammengestellt von Carl Friedrich Glasenapp und Heinrich v. Stein, Stuttgart 1883. 147 Friedrich Nietzsche an Georg Brandes, Brief vom 19.2.1888, KSB 8, S. 260. 148 Friedrich Nietzsche: Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum [1888], KSA 6, S. 165–254, 202. 149 Friedrich Nietzsche an Franziska und Elisabeth Nietzsche, Brief vom 25.12.1883, KSB 6, S. 464. 150 Vgl. Friedrich Nietzsche an Malwida von Meysenbug, Brief von Anfang Mai 1884, KSB 6, S. 499. 151 Friedrich Nietzsche an Elisabeth Förster, Brief vom 15.8.1885, KSB 7, S. 81. Wie wenig dieser Mechanismus funktionierte, zeigen freilich andere Äußerungen, etwa gegenüber Overbeck: „Mein Verlangen nach Schülern und Erben macht mich hier und da ungeduldig und hat mich, wie es scheint, in den letzten Jahren sogar zu Thorheiten verleitet, welche lebensgefährlich waren“ (Brief vom 31.3.1885, KSB 7, S. 34). Das dürfte sich auf Lou von Salomé beziehen, der gegenüber Nietzsche sich ausdrücklich darum beworben hatte, „Ihr Lehrer sein zu dürfen“, gehöre sie doch zu den Menschen, „welche meine Erben sein könnten“. Es überrascht nicht, wenn die Adressatin nicht eben enthusiastisch auf das Angebot reagierte, „das schönste und fruchtbarste Ackerland“ für Nietzsches Lehren abzugeben. Friedrich Nietzsche an Lou von Salomé, Brief vom 26.6.1882, KSB 6, S. 211.

3  Vom „Meister-Singer“ zum Lehrer ohne Schüler

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Zu diesen ganz Wenigen zählten bald nicht einmal die alten Freunde mehr, mit denen er einst eine ‚neue Kirche‘ oder doch wenigstens eine „klösterlichkünstlerische Genossenschaft“ zu gründen gehofft hatte.152 Schon 1877 verabschiedete er sich de facto von Deussen, dessen im gleichen Jahr erschienenen Buch Die Elemente der Metaphysik er wohl zugestand, ein ausgezeichneter Leitfaden durch das Werk Schopenhauers zu sein, um es jedoch sogleich als „eine glückliche Ansammlung alles dessen, was ich nicht mehr für wahr halte“ abzukanzeln.153 Deussen, der sich zu Recht von Nietzsche stets geschulmeistert fühlte, reduzierte in der Folgezeit den Kontakt stark und sah Nietzsche erst 1887 in SilsMaria wieder. Für das Schicksal seines Freundes bot er vierzehn Jahre später eine Erklärung, die der Sichtweise eines ordentlichen Professors der Philosophie entsprechen mochte, jedoch Zweifel an seiner Qualifikation für indische Philosophie zu wecken geeignet ist: „Niemand kann sagen, inwieweit in diesem hochbegabten Geiste die Keime der Zerrüttung schon als Anlage vorhanden waren. Aber hätte Nietzsche sich nicht geflissentlich von der menschlichen Gesellschaft abgesondert, in der er eine so ehrenvolle Stellung einnahm, hätte er sein Amt behalten, eine Familie gegründet und die Früchte seines Geistes langsam reifen lassen, anstatt in der Einsamkeit mit asketischer Überspannung seiner Kräfte tagsüber unter ermüdenden Wanderungen seinen Gedanken nachzuhängen und nachts den fliehenden Schlaf durch immer stärkere Narkotika zu erzwingen, – wer weiß, ob er nicht jetzt noch in voller Gesundheit unter uns lebte und statt des hinterlassenen Torso uns das vollendete Götterbild einer excentrischen, aber in hohem Grade der Beachtung werten Weltanschauung entgegenbringen könnte.“154

Ebenfalls 1877 kam es zur Krise mit Gersdorff, als Nietzsche in ungewöhnlich hochfahrender und schroffer Weise in dessen Beziehungen zu Malwida von Meysenbug und der jungen italienischen Gräfin Nerina Finochietti intervenierte.155 Da der Konflikt in diesem Fall rein persönliche Gründe hatte, konnte die Freundschaft vier Jahre später wieder hergestellt werden, erreichte jedoch nicht mehr die gleiche Intensität wie zuvor, obwohl Gersdorff sich zunehmend Nietzsches Haltung gegenüber Wagner zu eigen zu machen begann. Seine zu Beginn der 80er Jahre einsetzende „Flucht aus Klingsors Schlosse“ war um 1888 abgeschlossen, als er Nietzsches Schrift Der Fall Wagner zustimmte und bekannte, er empfinde

152 Vgl.

Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, Brief vom 15.12.1870, KSB 3, S. 166; Brief vom 31.1.1873, KSB 4, S. 121. Noch drei Jahre später taucht dieser Gedanke auf: vgl. die Briefe an Reinhard von Seydlitz vom 24.9.1876 sowie an Elisabeth Nietzsche vom 20.1.1877, KSB 5, S. 189, 216. Zur Klosteridee und ihren Wurzeln in der Erfahrung von Schulpforta vgl. Hubert Treiber: Nietzsches ‚Kloster für freiere Geister‘, in: Peter Antes und Donate Pahnke (Hrsg.), Die Religion von Oberschichten, Marburg 1989, S. 117–161. 153 Vgl. Friedrich Nietzsche an Paul Deussen, Brief von Anfang August 1877, KSB 5, S. 264. 154 Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, S. 98. 155 Vgl. Friedrich Nietzsche an Carl von Gersdorff, Brief vom 21.12.1877, KSB 5, S. 295 ff.Die Krise ist breit dokumentiert im dritten Teil der von Karl Schlechta besorgten Edition der Briefe Gersdorffs an Nietzsche (wie Anm. 21), S. 99 ff.

156

III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

einen „tiefen innerlichen Abscheu dagegen, mich je wieder in solche Fesseln schlagen zu lassen“.156 Sachlich befremdet zeigten sich hingegen Overbeck und Rohde, was allerdings im letzteren Fall auch persönliche Konsequenzen nach sich zog. Wenngleich Overbecks Reaktion auf Menschliches, Allzumenschliches nicht erhalten geblieben ist, läßt sich doch aus Rohdes Antwort erschließen, daß beide gleichermaßen schmerzlich erstaunt über dieses Buch waren, das als „in der Grundstimmung“ durchaus fremd empfunden wurde.157 Rohdes Einwand, Nietzsche sei „plötzlich Rée“ geworden, eine Wandlung, die ihm, Rohde, das Gefühl vermittle, als werde „man direct aus dem caldarium in ein eiskaltes frigidarium gejagt“158, sollte indes nicht dem Ressentiment eines in der Entwicklung stehengebliebenen Romantikers zugeschrieben werden.159 Aus Rohdes Sicht war es eher umgekehrt: der Freund schien ihm mit der fortschreitenden Differenzierung der großen Lebensgebiete nicht Schritt zu halten und sich zunehmend in eine problematische Textgattung zu verlieren, die Wissensdemonstration mit Literarischem, Autobiographischem und Spekulation verband, wie dies gerade für die seinerzeit von ihm zu Recht kritisierte „Weltanschauungsliteratur“ vom Schlage David Friedrich Strauß´ charakteristisch war.160 Mit Zustimmung und Erleichterung empfing er deshalb den Zarathustra als ein Buch, mit dem Nietzsche endlich seine „eigentliche Form“ gefunden habe: die eines „lehrhaften Gedichts“, das nun auch „die Privilegien eines Gedichtes“ genieße, „den großen Vorzug, die herrlichsten und tiefsten Gedanken und Intuitionen vortragen zu dürfen, ohne sich mit einem Beweise derselben abquälen zu müssen“.161 Um so größer dann die Enttäuschung, als Nietzsche diesen Weg nicht weiterverfolgte und mit Jenseits von Gut und Böse zu einer Weltanschauungsliteratur zurückkehrte, die sich in „Einsiedlervisionen und Gedankenseifenblasen“ verliere und „voll einer widerlichen Verekelung an Allem und

156  Vgl.

Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, Briefe vom Sommer 1882, August 1883 sowie vom 23.9.1888, in: Die Briefe des Freiherrn Carl von Gersdorff an Friedrich Nietzsche, Bd. 3, S. 67, 69, 74; ferner den Brief an Peter Gast vom 1.2.1882, ebd. Bd. 4, S. 47. 157 Erwin Rohde an Franz Overbeck, Brief vom 16.6.1878, in: Franz Overbeck – Erwin Rohde, Briefwechsel, S. 25. 158 Erwin Rohde an Friedrich Nietzsche, Brief vom 16.6.1878, in: Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rohde, S. 391. 159 Zu dieser Deutung tendierte Overbeck. Vgl. Werke und Nachlaß, Bd. 7/2: Autobiographisches. „Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde“, hrsg. von Barbara von Reibnitz und Marianne Stauffacher-Schaub, Stuttgart und Weimar 1995, S. 231. Anders dagegen Hedwig Däuble: Friedrich Nietzsche und Erwin Rohde. Mit bisher ungedruckten Briefen, in: Nietzsche-Studien 5, 1976, S. 321–352, 329 f. 160  Zu diesem Genre erhellend: Horst Thomé, Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp, in: Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 338–380. Neben Schopenhauer und Freud rechnet Thomé auch Nietzsche zu den Vorläufern dieser Gattung (S. 352). 161 Erwin Rohde an Friedrich Nietzsche, Brief vom 22.12.1883, in: Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rohde, S. 410.

4  Revision des Fundamentalismus I: Erlösung als Décadence-Phänomen

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Jedem“ sei.162 Später berichtete Rohde Overbeck von seinem letzten Treffen mit Nietzsche, das im Sommer 1886 in Leipzig stattgefunden hatte: „Eine unbeschreibliche Atmosphäre der Fremdheit, etwas mir damals völlig Unheimliches, umgab ihn. Es war etwas in ihm, was ich sonst nicht kannte, und vieles nicht mehr was sonst ihn auszeichnete. Als käme er aus einem Land, wo sonst Niemand wohnt.“163

4 Revision des Fundamentalismus I: Erlösung als Décadence-Phänomen Rohdes Deutung ist freilich schon früh auf den Widerspruch derer gestoßen, die Nietzsche in seiner ‚mittleren Periode‘ auf dem Weg sahen, seine Gegenstellung zur Moderne zu revidieren und durch ein positiveres Verhältnis zur Aufklärung, zur Wissenschaft, ja sogar zum ‚Positivismus‘ zu ersetzen.164Auch dafür lassen sich Gründe angeben, neben solchen sachlicher Art auch persönliche wie die Freundschaft mit Paul Rée, einem ‚entschiedenen Positivisten‘ (Malwida von Meysenbug), der mit seiner Zurückweisung des metaphysischen Idealismus, seiner Orientierung am Sensualismus der französischen Aufklärung, am englischen Empirismus und nicht zuletzt am aufkommenden Darwinismus konträr zu dem stand, was Nietzsche bis dahin vertreten hatte.165 Dessen Botschaft an Rohde vom Juni 1878, er habe sich mit Rée in vielem auf gleicher Stufe gefunden, ist ebenso ernst zu nehmen wie seine kurz darauf an diesen ergangene Mitteilung, alle seine Freunde seien einmütig der Meinung, Menschliches, Allzumenschliches sei von Rée geschrieben worden.166 Selbst die kritisch-distanzierenden

162 Erwin Rohde an Franz Overbeck, Brief vom 1.9.1886, in: Franz Overbeck – Erwin Rohde, Briefwechsel, S. 108. 163 Erwin Rohde an Franz Overbeck, Brief vom 24.1.1889, ebd., S. 135. 164 Vgl. Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, S. 10 f., 82, 237 u. ö. In diesem Sinne auch Angèle Kremer-Marietti: Menschliches-Allzumenschliches: Nietzsches Positivismus? In: Nietzsche-Studien 26, 1997, S. 260–275. Allgemein zu dieser Phase Ruth Abbey: Nietzsche’s Middle Period, Oxford 2000; Paul Franco: Nietzsche’s Enlightenment: The Free-Spirit Trilogy of the Middle Period, Chicago 2011. 165 Vgl. Fornari, Die Entwicklung der Herdenmoral, S. 20 f. Dort auch der Hinweis auf Malwida von Meysenbug sowie auf Rées Projekt einer „Geologie der Moral“, S. 33 ff.- Zu Nietzsches Freundschaft mit Rée grundlegend die Einleitung zu der von Hubert Treiber besorgten Edition: Paul Rée, Gesammelte Werke 1875–1885, Berlin und New York 2004, S. 1–57. Ferner bereits ders.: Zur Genealogie einer ‚science positive de la morale en Allemagne‘. Die Geburt einer ‚realistischen Moralwissenschaft‘ aus der Idee einer monistischen Naturkonzeption, in: Nietzsche-Studien 22, 1993, S. 165–221. Vgl. auch Robin Small: Nietzsche and Rée. A Star Friendship, Oxford etc. 2005; Roberto Sancho Martinez: „Aufzeichnungen eines Vielfachen“. Zu Friedrich Nietzsches Poetologie des Selbst, Bielefeld 2013, S. 66 ff. 166 Vgl. Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, Brief nach dem 16.6.1878, KSB 5, S. 333; an Paul Rée, Brief vom 10.8.1878, ebd., S. 346. Im Brief an Rohde ist allerdings auch ausdrücklich vermerkt: „Beiläufig: suche nur immer mich in meinem Buche und nicht Freund Rée. Ich bin stolz

158

III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

Passagen über Comte sind noch kein Beweis für Nietzsches „antipositivistische Naturphilosophie“167, richten sie sich doch gegen die Art und Weise, in der jener „Umschlinger und Bändiger der strengen Wissenschaften“ sein eigenes Projekt „durch eingemischte Schwärmereien, Süssigkeiten, Würzen, dichterische Nebel und mystische Lichter“ desavouiere.168 Nimmt man die Selbstverständlichkeit hinzu, mit der Nietzsche sich für eine „Naturgeschichte von Pflicht und Recht“ oder gar eine „Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen“ stark machte169, dann scheint manches dafür zu sprechen, in ihm weniger einen Antipositivisten als vielmehr einen konsequenten Positivisten zu sehen. Das Bekenntnis zum „Réealismus“170 sollte indessen ebenso wenig zum Nominalwert genommen werden wie die zahlreichen Reverenzen, die der Aufklärung im Schrifttum dieser Phase erwiesen werden, etwa in Gestalt der Aufforderung, nach einigen unvermeidlichen Korrekturen „die Fahne der Aufklärung – die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire – von Neuem weiter [zu] tragen“.171 Nietzsche folgte wohl insofern einer aufklärerischen Linie, als er eine geschichtliche Sequenz annahm, die von Zauberei und Mythos zur Religion, von dieser, wenn schon z. T. in zeitlicher Überschneidung, zur philosophisch begründeten Metaphysik und Moral sowie zu Kunst und Wissenschaft führte.172 Doch wich er zugleich hiervon ab, indem er die genannten Erscheinungen

darauf, dessen herrliche Eigenschaften und Ziele entdeckt zu haben, aber auf die Conception meiner ‚Philosophia in nuce‘ hat er nicht den allergeringsten Einfluss gehabt: diese war fertig und zu einem guten Theile dem Papier anvertraut als ich im Herbste 1876 seine nähere Bekanntschaft machte.“ 167 Alwin Mittasch: Friedrich Nietzsches Naturbeflissenheit, Heidelberg 1950, S. 49. 168 Nietzsche, Morgenröthe, KSA 3, S. 311. Zu Comte, den er wohl nur sehr selektiv gelesen hat, vgl. auch: Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, S. 362, 365, 386, 398, 453, 549; Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, S. 210: „Nicht Menschheit, sondern Übermensch ist das Ziel! Mißverständnis bei Comte!“ Vgl. auch ebd., S. 263, 524 sowie weiter unten. In der Götzen-Dämmerung (1889) firmiert er als „Jesuit“, aber immerhin als „jener klügste Jesuit“ (KSA 6, S. 55–162, 113). Gute Überblicke bieten Karl Brose: Nietzsche und Comte. Zum Verhältnis von Philosophie und Soziologie bei Nietzsche, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 63, 1977, S. 239–254; Franz Graf zu Solms-Laubach, Nietzsche and Early German and Austrian Sociology, Berlin und New York 2007, S. 69 ff. Ausführlicher zu den pseudoreligiösen Aspekten im Werk Comtes: Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Reinbek 1988, S. 15 ff.; Johannes Thonhauser: Soziologie als Heilsversprechen. Religionssoziologische Bemerkungen zur Idee- und Theoriegeschichte der frühen Soziologie, in: Archiv für Kulturgeschichte 93, 2011, S. 1–35. 169 Nietzsche, Morgenröthe, KSA 3, S. 100; Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 24. 170  Vgl. Friedrich Nietzsche an Paul Rée, Brief vom 10.8.1878, KSB 5, S. 346 sowie ohne Namensnennung Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 61. 171  Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 47; vgl. Morgenröthe, KSA 3, S. 171 f. 172  Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 110 ff., 139, 182 f., 186, 195 f.; Morgenröthe, KSA 3, S. 16; Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 538 f.

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zwar als Irrtümer, jedoch als unvermeidliche und zugleich wertvolle darstellte. Religion und Kunst seien wohl „auf dem Boden des unreinen Denkens“ gewachsen, „einer frühen unreifen Intellectualität der Menschheit“, stellten aber nichtsdestoweniger ‚herrlichste Früchte‘ dar, denen die Menschheit womöglich ihr Bestes verdanke.173 Noch einen Schritt weiter von den linearen Fortschrittskonstruktionen der Aufklärung und des Positivismus entfernte sich Nietzsche mit der Überlegung, es könnte „die Höhe der Intelligenz vielleicht einem einzelnen Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen“ sein, zu dem der Abstand zunehmend größer werde: „Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele näher, als am Ende. Es könnten Kräfte, durch welche zum Beispiel die Kunst bedingt ist, geradezu aussterben; die Lust am Lügen, am Ungenauen, am Symbolischen, am Rausche, an der Ekstase könnte in Missachtung kommen. Ja, ist das Leben erst im vollkommenen Staate geordnet, so ist aus der Gegenwart gar kein Motiv zur Dichtung mehr zu entnehmen, und es würden allein die zurückgebliebenen Menschen sein, welche nach dichterischer Unwirklichkeit verlangten. Diese würden dann jedenfalls mit Sehnsucht rückwärts schauen, nach den Zeiten des unvollkommenen Staates, der halb-barbarischen Gesellschaft, nach unseren Zeiten.“174

Dahinter stand die Vermutung, jene Mächte der Moderne, auf die zumal der Positivismus seine Zukunftshoffnungen gründete – die Wissenschaft und der Staat – könnten nicht weniger von einer Tendenz zur Selbstaufhebung betroffen sein als Religion, Moral und Kunst.175 Die Wissenschaft beurteilte er zwar nicht mehr so negativ wie in vielen Passagen des Frühwerks, galt sie ihm doch jetzt als „Regulator“, mit dessen Hilfe „den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung“ durch das „unreine Denken“ entgegengewirkt werden könne.176 Gleichwohl sah er sie ihrerseits in Gefahr, durch Überregulation die „Kraftquelle“ zu verschließen oder gar zu zerstören, die in den „Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften“ von Metaphysik, Religion und Kunst lag, jenen „grösste[n] Quelle[n] der Lust, welche[n] die Menschheit fast ihr gesammtes Menschenthum verdankt.“177 Das gelte speziell für die von der Mechanik forcierte „Welt-Interpretation“, die

173 Nietzsche,

Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 236; Morgenröthe, KSA 3, S. 84 f. Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 195 f. Im Widerspruch hierzu stehen freilich im gleichen Buch die Erörterungen, in denen Nietzsche zumindest die „Möglichkeit des Fortschritts“ nicht ausschließt: vgl. ebd., S. 45. Hierzu auch Sommer, Nietzsche und die Folgen, S. 31. 175 Vgl. Claus Zittel: Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche, Würzburg 1995. 176 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 209. Aus der neueren Literatur vgl. Klaus Spiekermann: Naturwissenschaft als subjektlose Macht? Nietzsches Kritik physikalischer Grundkonzepte, Berlin und New York 1992; Wolfgang Jordan: Friedrich Nietzsches Naturbegriff zwischen Neuromantik und positivistischer Entzauberung, Würzburg 2006; Babette Babich: Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. „Die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens“, Frankfurt am Main etc. 2011; Helmut Heit, Günter Abel, Marco Brusotti: Nietzsches Wissenschaftsphilosophie: Hintergründe, Wirkungen und Aktualität, Berlin und Boston 2012; Helmut Heit und Lisa Heller (Hrsg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte, Berlin und Boston 2014. 177 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 209. 174  Nietzsche,

160

III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

lediglich „Zählen, Rechnen, Wägen, Sehn und Greifen und nichts weiter“ zulasse und insoweit als „eine der dümmsten, das heisst sinnärmsten aller möglichen WeltInterpretationen“ zu gelten habe.178 In einem weiteren Sinn aber könne und müsse dies auf den in der Wissenschaft wirksamen „unbedingte[n] Wille[n] zur Wahrheit“ bezogen werden, der sich bei genauerer Betrachtung als ein „immer noch […] metaphysischer Glaube“ entpuppe, als Fortsetzung des von Plato wie von Christus verkündeten Glaubens, „dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist.“ Dieser Glaube aber sei „ein lebensfeindliches zerstörerisches Princip“, „ein versteckter Wille zum Tode“. „Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ‚andre Welt‘ bejaht, wie? muss er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt – verneinen?“179 Bestätigung hierfür fand Nietzsche in der auf systematischer Anwendung der Mechanik beruhenden „sogenannten industriellen Cultur“, welche „in ihrer jetzigen Gestalt […] überhaupt die gemeinste Daseinsform [sei], die es bisher gegeben hat.“180 In ihrem Kern eine „Maschinen-Cultur“, sei sie zwar „ein Erzeugniss der höchsten Denkkraft“, dessen allgemeine Wirkung es sei, „den Nutzen der Centralisation zu lehren“, doch setze sie „bei den Personen, welche sie bedienen, fast nur die niederen gedankenlosen Kräfte in Bewegung. Sie entfesselt dabei eine Unmasse Kraft überhaupt, die sonst schlafen läge, das ist wahr; aber sie giebt nicht den Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden.“ Schlimmer noch: wo keine Gegenkräfte ihr die Waage hielten, mache sie nur „aus Vielen eine Maschine, und aus jedem Einzelnen ein Werkzeug zu einem Zwecke.“181 Infolgedessen werde die Arbeit zur „Fabrik-Sclaverei“, mit der Folge, daß den Arbeitern nur mehr die Wahl bleibe, „entweder Sclave des Staates oder Sclave einer Umsturz-Partei werden zu müssen.“182 Mit Topoi dieser Art schwenkte Nietzsche freilich weder auf die romantische Zivilisationskritik noch auf die sozialistische Kapitalismuskritik ein. Gegenüber der ersteren beharrte er auf der Irreversibilität des Vorgangs und gewann ihm dabei trotz aller Kritik manche Vorzüge ab, die nicht gering zu schätzen seien.183 Auch die damit verbundenen Begleiterscheinungen auf sozialer und politischer

178 Nietzsche,

Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 625 f. Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 576 f. 180 Ebd., S. 407. 181 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, S. 653. 182 Nietzsche, Morgenröthe, KSA 3, S. 183, 185. 183 Vgl. z. B. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 309: „Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer – diese Umstände bringen nothwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muss.“ 179 Nietzsche,

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Ebene – ein gewisses Maß an sozialer Sicherung und politischer Partizipation – erschienen ihm als unvermeidbar, obgleich nur unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit.184 Die Demokratisierung Europas galt ihm schon deshalb als unaufhaltsam, weil selbst ihre Gegner nicht umhin kämen, sich dieses Mittels zu bedienen.185 Den radikaleren Bestrebungen allerdings, die die Demokratie auch auf die Besitzverhältnisse übertragen wollten, rechnete Nietzsche vor, sich selbst ihr Grab zu graben, insofern die angestrebte Progressivsteuer „dem Capitalisten-, Kaufmanns- und Börsenfürstenthum an den Leib gehen und in der That langsam einen Mittelstand schaffen [wird], der den Socialismus wie eine überstandene Krankheit vergessen darf.“186 Derartigen Perspektiven sowie der daran angeschlossenen Prognose eines künftigen europäischen Völkerbunds begegnet man gewiß auch im Positivismus Comtes.187 Darüber sollten jedoch die Vorbehalte nicht überlesen werden, mit denen Nietzsche seine Prognose relativierte. Am Positivismus störte ihn nicht nur die „Ausdehnung des Begriffes ‚Religion‘, das Aufkommen begrifflicher Äquivalente und vor allem die Ausübung und Organisation einer wissenschaftlichen ‚Religion‘“188, sondern mehr noch die darin sich manifestierende „Fortsetzung des 18. Jahrhunderts“ mit ihrer „Herrschaft von cœur über la tête, Sensualism in der Erkenntnißtheorie, altruistische Schwärmerei).“189 Was sich in ihr zeige, sei nichts anderes als ein „Verlangen nach Halt, Stütze, kurz jener Instinkt der Schwäche“, der all diesen „positivistische[n] Systeme[n] […] Etwas von Müdigkeit, Fatalismus, Enttäuschung, Furcht vor neuer Enttäuschung“ verleihe und den Eintritt ins

184 So wies Nietzsche zwar die Vorstellung zurück, der Wert der Arbeit ließe sich bestimmen. Die dem zugrundeliegende Forderung nach Gerechtigkeit dagegen erklärte er für „sehr wohl am Platz als eine höchst verfeinerte Nützlichkeit, welche nicht auf den Moment nur Rücksicht nimmt und die Gelegenheit ausbeutet, sondern auf Dauerhaftigkeit aller Zustände sinnt und desshalb auch das Wohl des Arbeiters, seine leibliche und seelische Zufriedenheit in‘s Auge fasst, – damit er und seine Nachkommen gut auch für unsere Nachkommen arbeiten und noch auf längere Zeiträume, als das menschliche Einzelleben ist, hinaus zuverlässig werdne. Die Ausbeutung des Arbeiters war, wie man jetzt begreift, eine Dummheit, ein Raub-Bau auf Kosten der Zukunft, eine Gefährdung der Gesellschaft.“ Um der sich ausbreitenden sozialistischen Agitation entgegenzuwirken, empfahl er, „alle Arbeitswege zum kleinen Vermögen offen“ zu halten und „die mühelose, die plötzliche Bereicherung“ zu unterbinden: „man ziehe alle Zweige des Transports und Handels, welche der Anhäufung grosser Vermögen günstig sind, also namentlich den Geldhandel, aus den Händen der Privaten und Privatgesellschaften – und betrachte ebenso die Zuviel- wie die NichtsBesitzer als gemeingefährliche Wesen“ (Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, S. 681 f.). 185 Vgl. ebd., S. 671; Fredrick Appel: Nietzsche contra Democracy, Ithaca 1999; Hugo Drochon: ‚An Old Carriage with New Horses‘: Nietzsche’s Critique of Democracy, in: History of European Ideas 42, 2016, S. 1–14. 186 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, S. 684. 187 Vgl. Auguste Comte: Soziologie, 3 Bde., Jena 1923, Bd. 3, S. 500 f. 188 Bernhard Plé: Die „Welt“ aus den Wissenschaften. Der Positivismus in Frankreich, England und Italien von 1848 bis ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Eine wissenssoziologische Studie, Stuttgart 1996, S. 448. 189 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, S. 441.

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

Posthistoire vorbereite.190 In all in ihrem Bestreben, „die Anarchie der Geister [zu] vernichten“, werde sie am Ende nicht mehr erreichen, als „den dumpfen Druck unbefriedigter Auflösung hervor[zu]bringen (wie China)!“191 „Ich sehe in der staatlichen und gesellschaftlichen Tendenz eine Hemmung für die Individuation, ein Ausbilden des homo communis: aber der gemeine und gleiche Mensch wird nur deshalb so begehrt, weil die schwachen Menschen das starke Individuum fürchten und lieber die allgemeine Schwächung wollen, statt der Entwicklung zum Individuellen. Ich sehe in der jetzigen Moral die Beschönigung der allgemeinen Schwächung: wie das Christenthum die starken und geistigen Menschen schwächen und gleichmachen wollte. Die Tendenz der altruistischen Moral ist der sanfte Brei, der weiche Sand der Menschheit. Die Tendenz der allgemeinen Urtheile ist die Gemeinsamkeit der Gefühle, das ist ihre Armut und Mattigkeit. Es ist die Tendenz nach dem Ende der Menschheit.“192

Im letzten Buch seiner mittleren Periode (oder auch dem ersten seines Spätwerks), der Fröhlichen Wissenschaft, fand Nietzsche die Bezeichnung für diesen Vorgang, der der Sache nach bereits in der Geburt der Tragödie, dort unter der Bezeichnung ‚Sokratismus‘, präsent war: den „Nihilismus“.193 Darunter verstand er in der Hauptsache eine negative Bewegung: die progredierende Auflösung und Zersetzung des überlieferten religiösen Weltbildes und seiner vielfältigen modernen Surrogate. In ihm manifestierte sich, was Heidegger den „Wesenszerfall des Übersinnlichen“ genannt hat194: die Entwertung der obersten Werte, die Zersetzung der „Synthesis der Werthe und Ziele“, die Dekomposition aller großen sinngebenden Konstruktionen von der antiken und christlichen Ethik über den Vernunft- und Fortschrittsglauben der Aufklärung bis hin zu den Menschheitsbeglückungslehren des Sozialismus.195 Eine Norm nach der anderen wurde von der Kritik ihres Absolutheitsanspruchs beraubt und als Fiktion, als bloße Hypostase des Bewußtseins decouvriert, bis am Ende die reine Kontingenz blieb: „‘Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt‘“.196 In Gang gesetzt wurde dieser Prozeß ausgerechnet von den historischen Religionen, die sich doch als Gegenkräfte gegen den Nihilismus empfahlen. Zwar nicht von allen, insbesondere nicht von den weltbejahenden Religionen herrschender Klassen, wie sie nach Nietzsche in Indien z.Zt. des Gesetzbuchs des 190 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 582. Vgl. Detsō Csejtei und Anikó Juhász: Nietzsches geschichtsphilosophische Perspektive nach dem Ende der Geschichte, in: Volker Gerhardt und Renate Reschke (Hrsg.), Friedrich Nietzsche – Geschichte, Affekte, Medien, Berlin 2008, S. 49–58, 55. 191 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, S. 453. 192 Ebd., S. 238 f. Vgl. ebd., S. 426. 193 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 581. Zu diesem Konzept vgl. Elisabeth Kuhn: Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin 1992; Marcus Andreas Born: Nihilistisches Geschichtsdenken. Nietzsches perspektivische Genealogie, München 2010; Brock, Nietzsche und der Nihilismus. 194 Martin Heidegger: Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: ders., Holzwege. Gesamtausgabe, Bd. I/5, Frankfurt am Main 1977, S. 209–268, S. 221. 195 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, S. 351. 196 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887], KSA 5, S. 245–412, S. 399.

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Manu bestanden, im Iran in der Lehre Zarathustras, in der dionysischen Religion der Griechen sowie bei den Semiten des Alten Testaments und des Korans, der als Grundlage einer „Religion für Männer“ gewürdigt wurde.197 Sogar für die weltverneinenden Religionen räumte Nietzsche Abstufungen hinsichtlich des Nihilismus ein, schien ihm doch z.B. der Buddhismus als eine „unter den herrschenden Ständen“ gewachsene Religion nur dessen asiatisch-passive Form zu verkörpern198 und selbst das Urchristentum noch Züge einer ‚buddhistischen Friedensbewegung‘ zu besitzen, die nach „einem thatsächlichen, nicht bloss verheissenen Glück auf Erden“ gestrebt habe.199 Schon die Apostel und Evangelisten jedoch, und erst Recht die Kirchenväter hätten die christliche Botschaft systematisiert, dogmatisiert und in Richtungen erweitert, die dem Stifter noch völlig ferngelegen hätten, wie die Lehren vom Gericht, von der Wiederauferstehung und von der Unsterblichkeit der Seele zeigten.200 In diesen Lehren hätten sich die wahren Antriebskräfte des Christentums manifestiert: neben denjenigen der Beherrschten zunehmend auch die Machtinteressen einer Priesterschaft, der Nietzsche die Fähigkeit zuschrieb, die Richtung des Ressentiments verändern zu können.201 Aus dem letzteren seien die typisch christlichen Lehren von der Erbsünde, von Schuld und Strafe hervorgegangen, welche die Priester erfunden hätten, um Wissenschaft und Kultur unmöglich zu machen und statt dessen die Prädominanz priesterlicher und kirchlicher Wertsetzungen zu legitimieren; aus dem ersteren der destruktive Egalitarismus, der zunächst nur die Gleichheit der Seelen vor Gott postuliert habe, um daraus alsbald die tatsächliche Gleichheit der Individuen schon im Diesseits zu folgern.202 Das 197 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 380 f., ebd., S. 266, 364. Vgl. Johann Figl: Nietzsche and die Religionen. Transkulturelle Perspektiven seines Bildungsund Denkweges, Berlin und New York 2007, S. 145 ff., 132 ff. ebd., S. 266. Seine weitgehend auf veralteter Literatur beruhende positive Einschätzung des Manu-Gesetzbuches hat Nietzsche später relativiert. Vgl. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 253; Thomas Brobjer: The Case of the Laws of Manu and the Associated Caste-Society, in: Nietzsche-Studien 27, 1998, S. 300–318. Zu Nietzsches Umgang mit der Zarathustra-Figur vgl. Hushang Mehregan: Zarathustra im Awesta und bei Nietzsche – eine vergleichende Gegenüberstellung, in: NietzscheStudien 8, 1979, S. 291–308; Michael Skowron: Nietzsches weltliche Religiosität und ihre Paradoxien, in: Nietzsche-Studien 31, 2002, S. 1–39, 25 ff. 198  Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886], KSA 5, S. 9–244, 74; Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, S. 351. Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 267 f. 199 Vgl. Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, S. 215. 200 Vgl. ebd. Ausführlicher hierzu Andreas Urs Sommer: Jesus gegen seine Interpreten oder Die Hermeneutik der Urteilsenthaltung. Pilatus und der Typus des Erlösers, in: Volker Gerhardt und Renata Reschke (Hrsg.), Nietzscheforschung Bd. 11: Antike und Romantik bei Nietzsche, Berlin 2004, S. 75–86. 201  Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 372 ff. Vgl. Guy Elgat: Nietzsche’s Psychology of Ressentiment. Revenge and Justice in On the Genealogy of Morals, New York und Abingdon 2017; Sjoerd von Tuinen (Hrsg.): The Polemics of Ressentiment. Variations on Nietzsche, London 2018. 202 Vgl. Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, S. 228 f., 217 f., 223 ff., 252 f.

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

brachte Nietzsche dazu, zwischen Christentum, Demokratie, Sozialismus und Anarchismus eine „vollkommene Gleichung“ aufzustellen und sie zu unterschiedlichen Erscheinungsformen einer einzigen ‚nihilistischen‘ Bewegung zusammenzuziehen, welche sukzessive alles zerstört habe, was irgend in der Geschichte von Rang und Wert gewesen sei: das Griechenland der tragischen Kultur, das Imperium Romanum, die Renaissance.203 Die Vehemenz, mit der er historische Religionen wie Buddhismus und Christentum, ja mitunter sogar Religion schlechthin als Ursachen wie als Erscheinungsformen der décadence attackierte204, kann leicht zu Mißverständnissen Anlaß geben. Zu beachten ist, erstens, daß Nietzsche sich selbst den „religiöse[n], das heißt gottbildende[n] Instinkt“205 keineswegs abgesprochen und nicht gezögert hat, seine Botschaften als „Religion“ auszuflaggen: „Religion bedeutet uns die Lehre von der Rangverschiedenheit der Seelen, der Züchtung und Ermöglichung der höheren Seelen auf Unkosten der niederen“.206 Damit zusammen stimmt die hohe Wertschätzung, die bestimmten ‚Gegenbewegungen‘ gegen die décadence auch und gerade im religiösen Feld zuteilwird. Im Dionysos-Kult manifestierte sich für den späten Nietzsche nicht anders als für den frühen der „Typus des religiösen Menschen“, der „die Widersprüche und Fragwürdigkeiten des Daseins“ in sich hineinnahm und ‚erlöste‘.207 Nachklänge davon machte er auch in der Moderne aus, nun freilich weniger im religiösen Feld als in demjenigen der Kunst, soweit sie sich ebenfalls als „Gegenbewegung“ gegen die décadence in Stellung brachte und in diesem Sinne „wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung des Daseins“ war.208 Auch wenn diese Gegenbewegung heute noch schwach sei, sei doch für die Zukunft das Auftauchen eines „Künstler-Wille[n] höchsten Ranges“ zu gewärtigen, der „die Gewalt in den Händen hat und seinen schaffenden Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann, in Gestalt von Gesetzgebungen, Religionen und Sitten.“209 Zu beachten ist, zweitens, eine gewisse Inkonsistenz in Nietzsches Umgang mit dem Erlösungsbegriff. Die Kritik an Buddhismus und Christentum zielte auf deren weltverneinenden Charakter und die als Kompensation in Aussicht gestellte Erlösung, die nach der Terminologie Max Webers entweder als Selbsterlösung oder als Fremderlösung erfolgen kann.210 Obwohl er von seinen Prämissen her beide Wege hätte ablehnen müssen, neigte Nietzsche mitunter dazu, am Begriff

203 Nietzsche,

Der Antichrist, KSA 6, S. 245; Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 124 ff. nur: Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 343, 354. 205 Ebd., S. 525. 206 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, S. 174. 207 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 265 f.; vgl. ebd., S. 340, 355, 503. 208 Ebd., S. 241. 209 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, S. 581. 210 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaften, hrsg. von Hans G. Kippenberg i.Z.m. Petra Schilm, Max Weber Gesamtausgabe I/22–2, Tübingen 2001, S. 305 ff., 340 ff. 204 Vgl.

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der Selbsterlösung festzuhalten.211 Schon in der Fröhlichen Wissenschaft hatte er die durchaus rhetorische Frage aufgeworfen, ob Religion nicht als eine Art „Uebung und Vorspiel“ verstanden werden könne, als „das seltsame Mittel dazu […], dass einmal einzelne Menschen die ganze Selbstgenügsamkeit eines Gottes und alle seine Kraft der Selbsterlösung geniessen können.“212 Das Spätwerk knüpfte hieran an, indem es die Kunst wieder zur „einzig überlegenen Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens“ stilisierte und ihr gleich in dreifachem Sinne erlösende Kraft zuschrieb: „Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden, – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehn will, des Tragisch-Erkennenden. Die Kunst als die Erlösung des Handelnden, – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragischkriegerischen Menschen, des Helden. Die Kunst als die Erlösung des Leidenden, – als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist.“213

Es dürfte indes kein Zufall sein, daß dieses Bekenntnis sich nur im Nachlaß findet und durch briefliche Äußerungen konterkariert wird, in denen Nietzsche bekennt, daß die ganze Stellung der Kunst ihm zum Problem geworden sei.214 Und wenn gar von „Selbsterlösung“ die Rede ist, so in einer Weise, die sie als gleichbedeutend mit „Selbst-Erhaltung“, „Selbst-Erhöhung“ oder Selbst-Überschreitung erscheinen läßt, als „Erlösung des Menschen von sich selber“.215 Tatsächlich ist ‚Erlösung‘ hier nicht im Sinne der religiösen Bedeutung gemeint, sondern als Bezeichnung für einen durchaus innerweltlichen Vorgang, der den Tod Gottes zur Voraussetzung hat und deshalb das Streben nach dem „diesseitigen Besitz des Göttlichen selbst“ ausschließt, das nach Weber für den religiösen Heilsweg der Selbsterlösung wesentlich ist.216 Der Übermensch ist der Über-Mensch als Resultat einer aufsteigenden Bewegung und nicht der die entgegengesetzte Richtung repräsentierende Gottmensch, wie ihn die Religionsgeschichte überliefert.217 Vollends die ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‘, ein weiteres Kernstück

211 Vgl. Christina Kast: „Ich habe ihn geliebt und niemanden sonst. Er war ein Mensch nach meinem Herzen…“ Nietzsche, Wagner und die Suche nach Erlösung, in: Georg und Reschke (Hrsg.), Nietzsche und Wagner. Perspektiven ihrer Auseinandersetzung, S. 140–148, 148 u. ö. 212 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 539. 213 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 521. 214 Vgl. Friedrich Nietzsche an Heinrich Köselitz, Brief vom 19.4.1887, KSB 8, S. 60. 215 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 216; Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, S. 501. In einem nachgelassenen Fragment von Ende 1888/Anfang 1889 ist von der „Selbsterlösung“ die Rede als dem „äußersten Grad von Selbstigkeit“, der in ihm, Nietzsche, Mensch geworden sei: Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 641. 216 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaften, hrsg. von Hans G. Kippenberg i.Z.m. Petra Schilm, Max Weber Gesamtausgabe I/22–2, Tübingen 2001, S. 313. 217 Einen umfassenden Überblick bieten die drei einschlägigen Artikel „Gottmensch“, in: Reallexikon für Antike und Christentum, hrsg. von Theodor Klauser u. a., Bd. 3, Stuttgart 1983, S. 157–366.

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in Nietzsches später Philosophie218, gestattet keine Herauslösung aus diesem Kreislauf, weder im Sinne von Fremd-, noch in dem von Selbsterlösung. Vielmehr läßt sie den Erlösungsbegriff insgesamt als unangemessen erscheinen. Nietzsche selbst hat sich denn auch meist explizit von allen Varianten der Erlösungslehre abgesetzt: so in der Genealogie der Moral, wo er entsprechende Vorstellungen einer „Gesammt-Hypnotisirung“ zuordnet219; so im Antichrist, wo er sie knapp als „eine sublime Weiter-Entwicklung des Hedonismus auf durchaus morbider Grundlage“ qualifiziert220; so im Fall Wagner: „Das Bedürfniss nach Erlösung, der Inbegriff aller christlichen Bedürfnisse, […] ist die ehrlichste Ausdrucksform der décadence, es ist das überzeugteste, schmerzhafteste Ja-sagen zu ihr in sublimen Symbolen und Praktiken“.221 Im Nachlaß des Jahres 1882 hieß es kurz unter der Überschrift: „Die Erlösung“: „Was zu verlernen ist“, und bald darauf: „Erlösung von Erlösern lehrt Zarathustra.“222 Wiederum ein Jahr später dekretierte Nietzsche: „Wer zu vernichten ist mit dem Satz ‚es giebt keine Erlösung‘, der soll aussterben.“223

5 Revision des Fundamentalismus II: Überbietung der Moderne Nicht ohne weiteres hiermit in Einklang zu bringen sind die zahlreichen Stellen, an denen Nietzsche die Zivilisationskritik seines Frühwerks und damit eine tragende Säule des modernen Fundamentalismus wieder aufnahm. Hatte er auch in seiner mittleren Periode nicht darauf verzichtet, über die immer schneller werdende „moderne Bewegtheit“ zu klagen, die die Zivilisation in eine „neue Barbarei“ ausarten lasse, diesen rousseaustischen Zug freilich durch sein Bekenntnis zu Voltaire relativiert224, so häuften sich im Spätwerk die Invektiven gegen eben diese Zivilisation, und zwar nicht nur gegen die für sie typischen Sitten und Umgangsformen, die Norbert Elias zum Gegenstand seiner großen Studie gemacht hat, sondern gegen das gesamte mit ihr verbundene Ensemble von Praktiken, Regeln und Institutionen. Das richtete sich gegen eine Wirtschaftsordnung, die,

218 Vgl. Günter Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin und New York 19992; Miguel Skirl: Ewige Wiederkunft, in: Ottmann (Hrsg.), NietzscheHandbuch, S. 222–230. 219 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 380. 220 Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, S. 201. 221 Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner [1888], KSA 6, S. 9–53, 51 f. Vgl. Sommer, Nietzsche und die Folgen, S. 75. 222 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, S. 178; Nachgelassene Fragmente 1882–1884, KSA 10, S. 356; vgl. S. 349. 223 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, S. 85. 224 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 232; vgl. ebd., S. 182.

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vom „Geiste des Handels“ geprägt, den Menschen zwar „weite Ziele und eine vernünftige Verwendung des Tages“ gebe, sie zugleich aber auch so aufbrauche, daß alles Individuelle nivelliert und eine „neue Gattung Menschen“ geschaffen werde, die den Sklaven im Altertum ähnele.225 Es richtete sich ebenso gegen den von zeitgenössischen Soziologen wie Herbert Spencer propagierten ‚industriellen Staat‘226, und dies sowohl deshalb, weil sich in ihm eine „Machinalisirung der Menschheit“ vollziehe227, als auch deshalb, weil er mit einer Transformation der Politik, einer Egalisierung der Rechte bei gleichzeitiger Ausdehnung unpersönlicher Formen des Lebens in Richtung Oligarchie und Bürokratie verbunden sei.228 „Die Absicht auf gleiche Rechte und endlich auf gleiche Bedürfnisse, eine beinahe unvermeidliche Consequenz unserer Art Civilisation des Handels und der politischen Stimmen-Gleichwerthigkeit, bringt den Ausschluß und das langsame Aussterben der höheren, gefährlicheren, absonderlicheren und in summa neueren Menschen mit sich: das Experimentiren hört gleichsam auf, und ein gewisser Stillstand ist erreicht.“229 Allgemeines Wahlrecht, „Volks-Vertretung, Parlamentarismus, Zeitungen“, das folgte daraus, seien keine Lösung, sondern Teil des Problems230, zumal die damit verbundene Nivellierungstendenz nicht an den Grenzen der politischen Ordnung Halt mache, vielmehr auch in den Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften, ihren Niederschlag finde231: „Die demokratische Idiosynkrasie gegen Alles, was herrscht und herrschen will, der moderne Misarchismus (um ein schlechtes Wort für eine schlechte Sache zu bilden) hat sich allmählich dermaassen in‘s Geistige, Geistigste umgesetzt und verkleidet, dass er heute Schritt für Schritt bereits in die strengsten, anscheinend objektivsten Wissenschaften eindringt, eindringen darf; ja er scheint mir schon über die ganze Physiologie und Lehre vom Leben Herr geworden zu sein, zu ihrem Schaden, wie sich von selbst versteht, indem er ihr einen Grundbegriff, den der eigentlichen Aktivität, eskamotiert hat. Man stellt dagegen unter dem Druck jener Idiosynkrasie die ‚Anpassung‘ in den Vordergrund, das heisst eine Aktivität zweiten Ranges, eine blosse Reaktivität, ja man hat das Leben selbst als eine immer zweckmässigere innere Anpassung an äussere Umstände definiert (Herbert Spencer). Damit ist aber das Wesen des Lebens verkannt, sein Wille

225  Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, S. 248. Mit seinem Wort vom „Sklavenaufstand in der Moral“ (Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 117) hat sich Nietzsche viele Feinde gemacht. Es sollte bei aller Kritik jedoch nicht übersehen werden, daß die Bezeichnung „Sklaven“ bei ihm fließende Grenzen aufweist und kaum scharf von der Gruppe der „Mediokren“ getrennt werden kann, jener „dritten Kraft“ in Handwerk, Handel, Ackerbau, Wissenschaft und sogar großen Teilen der Kunst, die zwischen „Herren“ und „Pöbel“ angesiedelt sei. Vgl. Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 367 ff. 226 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, S. 294. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Spencer vgl. Fornari, Die Entwicklung der Herdenmoral, S. 93 ff. 227 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, S. 463. 228 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, S. 444. 229 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 75. 230 Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, S. 703. 231 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, S. 130: „Nihilistischer Zug in den Naturwissenschaften. (‚Sinnlosigkeit‘) Causalismus, Mechanismus“.

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zur Macht; damit ist der principielle Vorrang übersehn, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte haben, auf deren Wirkung erst die ‚Anpassung‘ folgt; damit ist im Organismus selbst die herrschaftliche Rolle der höchsten Funktionäre abgeleugnet, in denen der Lebenswille aktiv und formgebend erscheint. Man erinnert sich, was Huxley Spencern zum Vorwurf gemacht hat – seinen ‚administrativen Nihilismus‘: aber es handelt sich noch um mehr als ums ‚Administriren‘...“232

Das liest sich wie ein Frontalangriff auf die Moderne und ist von Antimodernisten konservativer wie fundamentalistischer Couleur denn auch entsprechend verstanden worden. Aber Nietzsche nahm die Kritik an der Modernität nur auf, um sie sogleich in eine Apologie umzudrehen. Weit davon entfernt, den von ihm diagnostizierten Verfallsprozeß rückgängig machen oder auch nur aufhalten zu wollen, lehnte er solche bloß reaktionären Strategien ab. Eine Umkehr erschien ihm ausgeschlossen, möglich allein der entschlossene Sprung nach vorn, der Weg durch den Nihilismus hindurch. „Es hilft nichts“, hieß es unter der Überschrift: „Den Conservativen in‘s Ohr gesagt“, „man muss vorwärts, will sagen Schritt für Schritt weiter in der décadence (— dies meine Definition des modernen ‚Fortschritts‘...). Man kann diese Entwicklung hemmen und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plötzlicher machen: mehr kann man nicht.-“233 An anderer Stelle empfahl er sogar, „die Ausgleichung des europäischen Menschen“ noch zu beschleunigen.234 Nietzsche konnte diese Strategie vertreten, weil auch er, ohne sich dies einzugestehen, der im Vormärz beliebten Denkfigur huldigte, wonach die äußerste Zuspitzung eines Gegensatzes die beste Methode zu seiner Überwindung sei. So begrüßte der Kritiker der Demokratie und des Sozialismus beide Erscheinungen, weil sie die Willensschwäche und Unterwerfungsbereitschaft der Masse steigerten und dadurch die Voraussetzungen für eine neue Sklaverei schüfen, sei diese doch die conditio sine qua non für eine neue, höhere Kultur.235 Durchaus unangemessen wäre es deshalb, aus seinen Ausführungen über die Beziehungen zwischen Demokratie und Tyrannis eine Warnung vor der letzteren heraushören zu wollen. Die erstere empfahl er als „eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen“236, die letzteren begrüßte er als „Glücksfälle der Entwicklung“, sowohl in der Gestalt von „Räthselmenschen“ wie Alkibiades und Friedrich II. von Hohenstaufen als auch in derjenigen von „Raubmenschen“ wie Cesare Borgia, die einem sinnlosen und verlorenen Zeitalter Glanz und Sinn zu geben vermocht hätten.237 Napoleon gar, diese „Synthesis von Unmensch und Übermensch“,

232 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 315 f. Vgl. Fornari, Die Entwicklung der Herdenmoral, S. 146 f. 233 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 144. 234 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, S. 425. 235 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, S. 512. 236 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 183. 237 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 317; Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 121, 117.

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wurde als ein Jahrhundertereignis bejubelt, als der Mann, der „den Soldaten und den großen Kampf um Macht wieder aufweckte“ und mit seinem „Militarism“ der von ihm als seine ‚persönliche Feindin‘ perzipierten „Civilisation“ den ihr zukommenden Platz zuwies, darüber hinaus „Europa als politische Einheit“ faßte und damit den Nationalismus überwand.238 Man sieht: die von Nietzsche bisweilen präferierte Selbsteinstufung als „unpolitisch, selbst antipolitisch“, ist nicht zum Nennwert zu nehmen.239 Eher läßt sich in Anlehnung an Carl Schmitt sagen: Antipolitik bei Nietzsche ist ein schwieriger Begriff; er bedeutet ungefähr so viel wie Politik. Denkfiguren dieser Art lassen erkennen, wie weit sich Nietzsche von den zeitablehnenden und regressiven Zügen seines Frühwerks entfernt hat. Gewiß war es noch immer kein Enthusiast der Modernität, der hier sprach. Aber Nietzsche wollte nicht mehr hinter die Modernität zurück, in eine vom Mythus beherrschte Welt, sondern durch die Modernität hindurch zu einer Ordnung, die zwar wieder auf ständischen und wohl auch ‚rassischen‘ Scheidungen beruhen sollte240, gleichwohl wesentliche Elemente der Moderne enthielt. Der angestrebte „Aristokratism“ der Zukunft241, die Idee eines „neuen Adels“242, war schon rein räumlich gesehen

238 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 288; Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 610; Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 451, 427. Vgl. Don Dombrowsky: Nietzsche as Bonapartist, in: Siemens und Roodt (Hrsg.), Nietzsche, Power and Politics, S. 347– 370. Gegen die umstandslose Einstufung Nietzsches als „Bonapartist“ sind freilich die gleichen Einwände geltend zu machen, die gegen seine Zuordnung zum Cäsarismus vorgebracht wurden: vgl. Angela Holzer; ‚Nietzsche Caesar‘. The Turn against Dynastic Succession and Caesarism in Nietzsche’s Late Works, ebd., S. 371–391. Hierzu auch Nikola Regent, Nietzsche’s Napoleon: A Renaissance Man, in: History of Political Thought 33, 2012, S. 305–347. 239 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 106. Zum Thema Antipolitik bei Nietzsche vgl. Irmgard Leinen: Aristokratismus und Antipolitik. Umrisse und Motive einer politischen Soziologie in den Schriften Nietzsches, Phil. Diss. Aachen 1982; Peter Bergmann: Nietzsche, „the last antipolitical German“, Bloomington, Ind. 1989. Die zumal im angelsächsischen Sprachraum breit geführte Debatte über die politischen Aspekte von Nietzsches Denken kann hier nicht einmal ansatzweise angeführt werden. Vgl. zur ersten Orientierung die Beiträge von Marina Cominos, Thomas H. Brobjer, Paolo Diego Bubbio, Anthony K. Jensen und Paul van Tongeren in: Siemens und Roodt (Hrsg.), Nietzsche, Power and Politics. Ferner die Sammelbesprechungen von Maria-Sibylla Lotter: „So wenig als möglich Staat!“ Über Nietzsches Stellung zu Recht und Politik, in: Nietzsche-Studien 37, 2008, S. 433–435; Hugo H. Drochon: Nietzsche and Politics, in: Nietzsche-Studien 39, 2010, S. 663–677. 240 In dem vagen, mehr die kulturelle als die biologische Dimension betonenden Verständnis, wie es für Nietzsche typisch ist: vgl. Schank, ‚Rasse‘ und ‚Züchtung‘ bei Nietzsche. 241  Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 65. Vgl. Georg Brandes: Aristokratischer Radikalismus [1889], in: Alfredo Guzzoni (Hrsg.), 100 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption, Frankfurt am Main 1991, S. 1–15; Bruce Detwiler: Nietzsche and the Politics of Aristocratic Radicalism, Chicago und London 1991; Thomas Fossen: Nietzsche’s Aristocratism Revisited, in: Siemens und Roodt (Hrsg.), Nietzsche, Power and Politics, S. 299– 318; Domenico Losurdo: Nietzsche, der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz, 2 Bde., Hamburg 2012. 242  Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 206; Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 254; Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, S. 445, 486; Nachgelassene Fragmente

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III. Vom Fundamentalismus zum Übermodernismus: Nietzsche

nicht zu verwirklichen ohne die modernen Mittel der Massenkommunikation und -domestikation, bezog er sich doch nicht bloß auf Europa, sondern auf „ErdHerrschaft“ und bedurfte allein deshalb aller Errungenschaften von Wissenschaft und Technik.243 Bereits für die Schaffung dieser Aristokratie waren sie unentbehrlich, sowohl im Sinne einer positiven Eugenik, die sich der „Höherzüchtung der Menschheit“ durch Förderung ihrer edelsten Exemplare widmen sollte, als auch in demjenigen einer negativen Eugenik, die vor der „schonungslose(n) Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen“, der „Vernichtung von Millionen Mißrathener“ bzw. der „verfallenden Rassen“ nicht zurückschrecken dürfe.244 Zur Sicherung des Unterbaus empfahl Nietzsche weitere flankierende Maßnahmen, die auf eine Rassenhygiene avant la lettre hinausliefen: beginnend mit einer „SteuerMehrbelastung bei Erbschaften“ und einer „Kriegsdienst-Mehrbelastung der Junggesellen“ über die Installierung eines Pluralwahlrechts mit Begünstigung von Vätern, „welche reichlich Knaben in die Welt setzten“, bis hin zur umfassenden ärztlichen Kontrolle der Eheschließungen.245 Mit Blick auf derartige Denkfiguren hat man von einem ‚Übermodernismus‘ gesprochen, der auf eine Überwindung der Moderne durch Selbstaufhebung gesetzt habe.246 So treffend diese Kennzeichnung ist und so sehr sie sich mit dem von Nietzsche selbst verkündeten „Gesetz der nothwendigen ‚Selbstüberwindung‘ im Wesen des Lebens“ berührt247, so unangemessen ist es doch,

1885–1887, KSA 12, S. 207, 463. Zu diesem Konzept, das in den Spätschriften stark in Richtung eines Verdienstadels gravitiert und zumindest in diesem Punkt bonapartistische Züge aufweist, vgl. wiederum Holzer (wie Anm. 238, S. 378 ff.). 243 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 140. 244 Friedrich Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist [1889/1908], KSA 6, S. 313; Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, S. 98. Schon im Herbst 1881 finden sich Überlegungen zur positiven und negativen Eugenik: vgl. Nachgelassene Fragmente 1880–1882, KSA 9, S. 627. Ferner Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 599: „Die Gesellschaft, als Großmandatar des Lebens, hat jedes verfehlte Leben vor dem Leben selber zu verantworten, - sie hat es auch zu büßen: folglich soll sie es verhindern. Die Gesellschaft soll in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen: sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft, Rang und Geist, die härtesten Zwangs-Maaßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Castrationen in Bereitschaft halten.“ 245 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 495. Vgl. Hugo H. Drochon: „The Time Is Coming When We Will Relearn Politics“, in: The Journal of Nietzsche Studies 39, 2010, S. 66–85; Nietzsche’s Great Politics, Princeton N.J. 2016, S. 88 ff. 246 Richard Herzinger: Kulturkrieg und utopische Gemeinschaft. Die ‚Konservative Revolution‘ als deutscher antiwestlicher Gegenmodernismus, in: Volker Eickhoff und Ilse Korotin (Hrsg.), Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe. Der Geist der Konservativen Revolution, Wien 1997, S. 14–39, 30 ff. 247 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 410.

5  Revision des Fundamentalismus II: Überbietung der Moderne

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auch diesen Übermodernismus noch in der Traditionslinie fundamentalistischer Zivilisationskritik zu verorten, wie dies in anderem Zusammenhang geschieht.248 Gewiß: auch für den späten Nietzsche war die décadence nicht das Ende der Geschichte, bestand die Hoffnung auf einen Umschlag vom Nihilismus zum Übermenschen. Der Nihilismus als solcher aber war Schicksal, fatum, und die einzige ihm gegenüber angemessene Haltung nicht Reaktion oder Revolution, sondern amor fati, Hinnahme des Unvermeidlichen, aber damit zugleich: Mitwirkung in jenem ungeheuren Beschleunigungs- und Vernichtungsprozeß, der von Europa ausgehend die ganze Welt zu erfassen im Begriff stand.249 Der Autor der Fröhlichen Wissenschaft konnte seinen Zeitgenossen noch ein „Andante der Entwickelung“ empfehlen, wie es dem „Geist conservativer Geschlechter“ gemäß sei.250 In Ecce homo war daraus „ein tempo feroce“ geworden, bei dem „Alles mit ungeheurer Spannung vorwärts treibt“251 und alles Feste mit sich reißt, an dem ein Fundamentalismus welcher Art auch immer noch einen Halt finden könnte. Und das war, bei allem, was sich sonst dagegen sagen läßt, ein Schritt zum Realismus.

248 Vgl. Richard Herzinger: Angst vor dem letzten Menschen. Vom Antihumanismus zur Übermoral: Zur Destruktion humanistischer Wertvorstellungen in intellektuellen Utopien des 20. Jahrhunderts, in: Günter Meuter und Henrique Ricardo Otten (Hrsg.), Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 261–274, 263 f.; vgl. auch ders. und Hannes Stein: Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Antiwestler. Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte, Reinbek 1995, S. 23 f. 249 Vgl. Brock, Nietzsche und der Nihilismus, S. 307. 250 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 382. 251 Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 352.

IV. S  chattenlinien: Friedrich Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten

Nietzsche, das zeigt schon ein oberflächlicher Blick in die einschlägigen Bibliographien, war bereits im Kaiserreich ein viel gelesener und wie immer auch kontrovers diskutierter Autor.1 Der Schwerpunkt der Rezeption lag dabei auf seiner Kulturkritik, die einem sich ausbreitenden ‚Unbehagen in der Kultur‘ oder besser gesagt der ‚Zivilisation‘ Ausdruck verlieh.2 Das schloß unmittelbar politische Bezüge nicht aus, doch rückten diese erst mit dem ‚Großen Krieg‘ in den Mittelpunkt. Werner Sombarts oft zitierte Behauptung, daß dieser Krieg „der Krieg Nietzsches“ sei3, war eine Parole, die intra et extra muros vielfache Resonanz fand. Durch die Niederlage und den folgenden Friedensschluß von Versailles verstärkte sich dies noch. In den Texten des vereinsamten und in seiner Isolation ebenso verzweifelten wie auftrumpfenden Philosophen fand sich ein Bürgertum wieder, das sich von der Weltöffentlichkeit zum Paria erklärt sah und begierig jedes Angebot aufgriff, das geeignet erschien, sein Stigma in ein Charisma zu konvertieren.4 Davon gab es viele. Die mit dem Krieg, wenn schon nicht begonnene, so doch verstärkte „Nationalisierung und Vereinnahmung

1 Vgl.

nur Richard Frank Krummel: Nietzsche und der deutsche Geist. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum, 3 Bde, Berlin und Boston. Bd. 1: Bis zum Todesjahr des Philosophen. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867–1900, 19982; Bd. 2: Vom Todesjahr bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1900– 1919, 1993; Bd. 3: Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1919–1945, 1998. 2  Vgl. Art. Zivilisation, Kultur (J. Fisch), in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von Otto Brunner u. a., Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 679–774, 746 ff. 3 Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München und Leipzig 1915, S. 53. Zu den an Sombart anknüpfenden Vereinnahmungen Nietzsches für die deutsche Kriegsideologie vgl. Mittmann, Vom „Günstling“ zum „Urfeind“ der Juden, S. 94 ff. 4  Vgl. Kondylis, Konservativismus, S. 469 ff.; Wolfgang Lipp: Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Würzburg 2010. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Breuer, Wagner, Nietzsche und die deutsche Rechte 1871–1933, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67215-0_5

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IV. Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten

[Nietzsches] durch eine zunehmend radikalisierte Rechte“5 – setzte sich nach 1918 auf erweiterter Stufenleiter fort und blieb bis 1945 bestimmend. Daß dem allerdings keineswegs eine einheitliche Deutung entsprach, wie manche Buchtitel suggerieren, wird im Folgenden zu zeigen sein.

1 Fundamentalistische Deutungen Sowohl die Nähe zu Wagner, die Nietzsche in den frühen Baseler Jahren demonstrierte, als auch die Schärfe, mit der er sich seit 1878 gegen das Bayreuther Unternehmen wandte, sollten eigentlich erwarten lassen, daß die ersten gründlichen Auseinandersetzungen mit seinen Positionen aus diesem Kreis gekommen wären. Dem war jedoch nicht so. Wagner selbst sah nach dem Bruch der Freundschaft von einer öffentlichen Reaktion auf die noch zu seinen Lebzeiten erschienenen Schriften Nietzsches ab, und auch nach seinem Tod zog man es in Bayreuth vor, sich in Schweigen zu hüllen. Die Bayreuther Blätter brachten in den folgenden fünf Jahrzehnten keinen einzigen ausschließlich auf Nietzsche bezogenen Aufsatz, getreu der Maxime, die ihr Herausgeber, Hans von Wolzogen, im Todesjahr des Apostaten verkündete: „Wir wussten, daß wir auf Alles, was aus solchem Leidensgrund erwuchs, nur zu schweigen hatten, wie heut.“6 Wenn dort überhaupt einmal die Rede auf Nietzsche kam, so auf eine Weise, die die Tragödienschrift als „das Tiefsinnigste“ feierte, das je über Wagners Kunst geschrieben worden sei, um alsdann die weitere Entwicklung des Verfassers mit einer Reihe von Invektiven zu erklären, die auf Nietzsches musikalisches Unvermögen, sein daraus resultierendes Ressentiment gegen Wagner, das Krampfhafte und Ungesunde seiner Polemik, ja endlich seinen „Größenwahnsinn“ zielten.7 Houston Stewart Chamberlain ließ einige Zeit später sogar seine anfängliche Bewunderung für Nietzsches Frühwerk fallen. Auf den rund tausend Seiten der Grundlagen des 19. Jahrhunderts fällt der Name nur ein einziges Mal in einer Fußnote.8 Bald darauf ließ er Cosima Wagner wissen, daß er „N. so gut wie gar nicht kenne.“9 Erst in der NS-Zeit, also jenseits des hier gewählten zeitlichen Bezugsrahmens, unternahm Curt von Westernhagen den Versuch, die

5 Aschheim,

Nietzsche und die Deutschen, S. 144. von Wolzogen: Friedrich Nietzsche an Richard Wagner, in: BBl 23, 1900, S. 284. Zit. n. Ferrari Zumbini: Nietzsche in Bayreuth. Nietzsches Herausforderung, die Wagnerianer und die antisemitische Gegenoffensive, in: ders., Untergänge und Morgenröten, S. 87–133, 118. 7 Richard Pohl: Der Fall Nietzsche. Ein psychologisches Problem [1888]. Zit. n. dem Wiederabdruck in: Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 3, S. 269–277. 8 Vgl. Ferrari Zumbini, Nietzsche in Bayreuth, S. 122. Vgl. auch Sven Brömsel: Chamberlains Nietzsche-Disposition oder Parsifal wider Zarathustra, in: Kaufmann und Sommer (Hrsg.), Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 51–66. 9 Houston Stewart Chamberlain an Cosima Wagner, Brief vom 9.3.1901, Briefwechsel, S. 611. 6 Hans

1  Fundamentalistische Deutungen

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Diskreditierung Nietzsches von Bayreuther Seite aus mit Argumenten zu untermauern, die an entsprechende Vorgaben aus Teilen der völkischen Bewegung anknüpften.10 Größerer Aufgeschlossenheit für die in Nietzsches Frühwerk enthaltenen Züge eines modernen Fundamentalismus begegnet man dagegen im Kreis um die seit 1892 erscheinenden Blätter für die Kunst.11 Nahm man Nietzsche hier anfangs noch für ein Verständnis in Anspruch, das auf „eine kunst für die kunst“ zielte und damit in der Nähe jenes L’art pour l’art stand, das von Nietzsche eher ablehnend beurteilt wurde12, so rückte während der folgenden Jahre der Alliierte im Kampf gegen die Zeit in den Vordergrund.13 Dabei kristallisierten sich allerdings schon bald zwei Hauptlinien der Rezeption heraus, die sich à la longue als unvereinbar erwiesen. Für die Lesart der sogenannten Kosmiker gab Karl Wolfskehl (1869– 1948) das entscheidende Stichwort, als er, ohne Nietzsche explizit zu erwähnen, auf den „dionysische[n] orgiasmus“ in Griechenland verwies, der, wie später die „extatischen erschütterungen“ im germanischen oder germanisierten Europa, ein „bild des neuvertieften lebens“ geschaffen habe, das noch immer leuchte, auch wenn es heute nur durch andere Medien als die des Dramas Gestalt gewinnen könne.14 Aufgenommen und vertieft wurde diese Deutung durch Ludwig Klages (1872–1956), der in seinen um die Jahrhundertwende entstandenen, jedoch erst viele Jahre später publizierten Texten Dionysos als den „Gott des höchsten Überschwanges“ feierte, als das „Zeichen des Wirbels, welcher das Chaos ist, wann es erglühend die Welt gebären will.“15 In immer neuen Anläufen, die neben dem Einfluß von Nietzsches Tragödienschrift auch denjenigen von Rohdes Psyche erkennen lassen16, beschrieb Klages die von Dionysos zu Apollo führende Linie als „abschüssige Bahn“, als „Verhängnis“, das seine äußerste Steigerung durch das Auftreten des ‚Judengottes‘ sowie des auf ihm basierenden Christentums erfahren

10 Vgl.

Ferrari Zumbini, Nietzsche in Bayreuth, S. 128 ff. hierzu die Beiträge von Steffen Martus und Jürgen Egyptien in: Aurnhammer u. a. (Hrsg.), Stefan George und sein Kreis, Bd. 1, S. 301 ff., 365 ff. 12  Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 139; Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 127. 13 Vgl. Frank Weber: Die Bedeutung Nietzsches für Stefan George und seinen Kreis, Frankfurt am Main etc. 1987, S. 77 ff. 14 Karl Wolfskehl: Über das Drama [1904], in: Landmann (Hrsg.), Der George-Kreis, S. 74–77, 76. 15  Ludwig Klages: Heidnische Feuerzeichen [1900–1913], in: ders., Rhythmen und Runen, S. 241–296, 264, 267. Zu Klages und Nietzsche vgl. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, S. 81 ff.; Karl Löwith: Nietzsche im Lichte der Philosophie von Ludwig Klages [1927], in: ders., Nietzsche, S. 7–52; Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen [1935], ebd., S. 101–384, 359 ff.; R. Hinton Thomas: Nietzsche in Weimar Germany and the Case of Ludwig Klages, in: Anthony Phelan (Hrsg.), The Weimar Dilemma. Intellectuals in the Weimar Republic, Manchester 1985, S. 71–91. 16  Vgl. Ludwig Klages: Fragmente und Verse [1903–1905], in: ders., Rhythmen und Runen, S. 371–438, 375, 405 f. 11 Näher

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IV. Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten

habe.17 Als einzige Gegenkraft hierzu erschien ihm das „germanische Wesen“ als „vollendete[n] Mischung aller Erdelemente“, womit er sich freilich allenfalls auf den frühen Nietzsche berufen konnte18, nicht auf den mittleren oder späten, der die Germanen unter die Kategorie der „Schwerfüssler“ und „Rüpel“ rechnen pflegte.19 Nietzsche, den Klages neben sich selbst und Alfred Schuler zu den „Essenzträgern“ zählte, welche die Wiederkehr des ursprünglichen Eros vorbereiteten, mußte sich aus dieser Perspektive gleichwohl den Vorwurf gefallen lassen, in seinem späteren Werk zu sehr dem Willen und damit dem Geist verfallen zu sein.20 Seine Lehre vom Willen zur Macht sei ein Verrat an der Idee des Dionysischen, das bei Klages mit Rausch, Ekstase und Entgrenzung identisch war; die Lehre von der Ewigen Wiederkehr eine identitätsphilosophische Engführung und Verzerrung des dionysischen Wiederkunftserlebnisses, das sich stets im raumzeitlichen Kontinuum vollziehe und deshalb allenfalls die Wiederkehr von Ähnlichem bringen könne, nicht von Gleichem. Mit der unaufhörlichen Repetition habe Nietzsche die Mechanik nicht überwunden, sondern totalisiert, sie aus einer bloß endlichen in eine unendliche Weltmaschine verwandelt, damit aber die Verzweiflung nur vergrößert.21 Nur im Bruch mit dem Geist, nur in der Preisgabe des Willens, nur im ekstatischen Eintauchen in die ‚Wirklichkeit der Bilder‘ war nach Klages Hoffnung zu finden – eine Haltung, die ihn gleichermaßen als erotischen wie als ästhetischen Fundamentalisten qualifiziert, galt ihm doch das erlösende ekstatische Erlebnis als „mystische Hochzeit“, in der sich die Urbilder „mit dem Blute leibhaft Lebendiger“ verbanden und dadurch zur Erscheinung gelangten.22 Eine ganz andere Lesart findet sich im Kreis um Stefan George (1868–1933), der ab 1904 auf die Trennung von den Kosmikern drängte. George selbst hatte bereits um 1892 die Geburt der Tragödie zur Legitimierung seiner kunsttheoretischen Anschauungen herangezogen und dem Werk auch später noch seine Bewunderung bewahrt. In der wohl von ihm verfaßten Einführung zur 3. Folge der Blätter für die Kunst wird die Kunst mit dem „Zarathustraweisen“ zur „höchsten

17 Vgl.

ebd., S. 380, 394. S. 249. Als die „Mischung aller Erdelemente“, heißt es anschließend, reiche der Germane „bis in die feuerflüssigen Allnebel hinab. Darum sein Mangel an Egoismus, seine ins All zerfließende Pathik, die Macht seiner Schöpferschauer, die Gewalt seines Orgiasmus, die tempellose Ursprünglichkeit seines Dämonenkults, seine heroischere, schweifendere Erotik, sein mit düsterer Kühnheit abenteuerndes Kriegertum, sein Feuerzug ins Ferne, Horizontlose, Fremde, sein teilnahmetiefes Entgegennehmen alles Lebendigen“ (S. 250). 19 Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, S. 248, 245. 20  Vgl. Klages, Rhythmen und Runen, Einleitung [1915], ebd., S. 19; Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches [1926], Leipzig 19302, S. 114 f.; Michael Pauen: Dithyrambiker des Untergangs, Berlin 1994, S. 157. 21 Vgl. Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, S. 215 f. 22 Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros [1922], Bonn 19889, S. 178 f. Ausführlicher zum (auto)erotischen Fundamentalismus bei Klages meine Studie: Moderner Fundamentalismus, S. 140–158. 18 Ebd.,

1  Fundamentalistische Deutungen

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aufgabe des lebens“ erklärt.23 Schon sein großes Zeitgedicht von 1901, das Nietzsche als „Erlöser“ ansprach, ließ aber nicht mehr im Zweifel, daß er dieser Rolle nicht gerecht geworden sei, habe er doch den falschen Weg („über eisige felsen“) und die falschen Mittel gewählt („sie hätte singen/Nicht reden sollen diese neue seele!“).24 Nietzsche habe wohl „die wesentlichen grossen dinge verstanden“, doch „hatte er den PLASTISCHEN GOTT nicht“25 – eine Anspielung auf das Maximin-Erlebnis einige Jahre zuvor, das für die Umwandlung des Blätter-Kreises in den George-Kreis konstitutiv war.26 Friedrich Gundolf (1880– 1931) relativierte dieses Urteil seines Meisters etwas, wenn er die „neue Periode des deutschen Schrifttums“ sowohl mit der Prosa Nietzsches als auch mit dem Vers Georges einsetzen ließ, machte aber zugleich klar, daß der „Zertrümmerer der christlichen Werte“ nur der „Rufer (nicht Bringer!) eines neuen heidnischen Gesetzes“ sei.27 Sein Bruder Ernst Gundolf (1881–1945)28 attestierte Nietzsche, Entscheidendes schon in seinem Frühwerk, ja nur dort, erreicht zu haben, ungeachtet seines problematischen Engagements für eine so mindere Kunstform wie die Musik29: „die Aufrichtung eines höchsten und bleibenden Maßes für alles Menschtum überhaupt: des heroischen Lebens“, damit einhergehend aber auch: „die Aburteilung alles dessen, was diesem Leben feindlich ist, und vor allem jener Gegenwelt der heroischen, die man die moderne nennt.“30 Das mittlere und mehr noch das späte Werk falle dagegen ab, sei bloße Lehre eines Verzweifelten,

23 Zit.

n. Landmann (Hrsg.), Der George-Kreis, S. 21. Vgl. Hildebrandt, Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, S. 108; Heinz Raschel: Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme, Berlin 1984, S. 20, 124. 24 Stefan George: Nietzsche, in: Der siebente Ring. Werke. Ausgabe in vier Bänden, hrsg. von Robert Boehringer, Bd. 2, S. 11 f. Vgl. Peter Trawny: George dichtet Nietzsche. Überlegungen zur Nietzsche-Rezeption Stefan Georges und seines Kreises, in: George-Jahrbuch 3, 2000/2001, S. 34–68; Wolfgang Braungart: Georges Nietzsche, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2004, S. 234–258. 25 Stefan George an Friedrich Gundolf, Brief vom 11.6.1910, in: Stefan George und Friedrich Gundolf, Briefwechsel, hrsg. von Robert Boehringer und Georg Paul Landmann, München und Düsseldorf 1962, S. 202. 26 Vgl. Aurnhammer u. a. (Hrsg.), Stefan George und sein Kreis, Bd. 2, S. 778 ff. 27 Zit. n. Philipp Redl: Nietzsche im George-Kreis, in: Kaufmann und Sommer (Hrsg.), Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 103–122, 108. Vgl. ders.: Dichtergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gundolf und Philipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft, Köln etc. 2016, S. 145 ff. 28 Zu Leben und Werk vgl. Jürgen Egyptien: Beobachtungen zur Kunst des Verschwindens. Versuch über Ernst Gundolf, in: Castrum Peregrini 270, 2005, S. 41–61. 29  Vgl. Ernst Gundolf: Nietzsche als Richter: sein Amt, in: ders. und Kurt Hildebrandt, Nietzsche als Richter unserer Zeit, Breslau 1923, S. 1–61, 15 f. Nach der im Kreis verbreiteten Überzeugung war die Musik eine Kunst, die aus dem „gemeinsamen Mutterboden alles Menschenmaßes, dem Rhythmisch-Bildlichen“ herausgelöst und aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeiten „nie der zeugenden Erschütterung“ fähig sei (ebd.). Vgl. dazu bereits Karl Wolfskehl: Über den Geist der Musik, in: Jahrbuch für die geistige Bewegung, Bd. 3, 1912, S. 20–32. 30 Gundolf, Nietzsche als Richter, S. 19.

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aus der niemals ein Glaube entspringen könne.31 Dieser werde nicht durch diskursive Mittel erweckt, sondern allein „durch übergreifende Schau“, welche Geltung gewinne in der „Verwandlung eines menschlichen Kreises von der gotterfüllten Mitte aus“.32 Das habe in der neueren Zeit allein Stefan George bewirkt, wohingegen der Glaube Zarathustras „nicht einen Gläubigen“ geschaffen habe, geschweige denn einen „Bund“ oder einen „neuen Adel“.33 Noch einmal einen anderen Akzent setzte Gundolfs Koautor Kurt Hildebrandt (1881–1966).34 Teilte der erstere immerhin die für Nietzsches Frühwerk charakteristische Verfallstheorie, die den „Niedergang des rein Hellenischen“ bereits mit dem Platonismus einsetzen sah35, so widersprach Hildebrandt dem entschieden, galten ihm doch Sokrates und Plato nicht als „Menschen des Verfalls“, vielmehr als „Kräfte, die dem Verfall entgegenwirken, neu ordnen, neu gestalten“.36 An ihnen gemessen fiel Nietzsche deutlich ab, und zwar nicht nur der späte Nietzsche, dessen Lehren vom Übermenschen, vom Willen zur Macht und von der Ewigen Wiederkehr Hildebrandt nicht anders als Gundolf verurteilte, weil sie „das edle Maass“ vermissen ließen und in „mechanistischen Hypothesen ihre Stützen“ suchten37, sondern

31 Vgl.

ebd., S. 32 f., 47. S. 48. 33 Ebd., S. 49. Das deckte sich mit der von Hildebrandt überlieferten Ansicht Georges, der vom Zarathustra meinte, er werde in fünfundzwanzig Jahren „nicht mehr als eines der höchsten Bücher angesehen werden: es fehle die gestaltende Kraft.“ Vgl. Hildebrandt, Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, S. 108. 34 Zu Person und Werk vgl. meine Studie: Ästhetischer Fundamentalismus und Eugenik bei Kurt Hildebrandt, in: Bernhard Böschenstein u. a. (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis, S. 291– 310. Auf Nietzsche gehen bereits Hildebrandts zwischen 1910 und 1912 im Jahrbuch für die geistige Bewegung veröffentlichte Aufsätze ein, in denen Nietzsche zwar denkbar hoch neben Goethe, Schopenhauer und George rangiert (1, 1910, S. 115), doch findet sich hier schon der Einwand, Nietzsche habe „das Dionysische als dunkel-musikalisch“aufgefaßt und damit verfehlt (3, 1912, S. 121). Zu Hildebrandts Nietzsche-Deutung, die in mehreren größeren Arbeiten ihren Niederschlag gefunden hat, vgl. Maurizio Pirro: Anmerkungen zum Nietzsche-Bild im GeorgeKreis, in: Barbera und Müller-Buck (Hrsg.), Nietzsche nach dem Ersten Weltkrieg, S. 7–34, 27 ff.; Redl, Nietzsche im George-Kreis, S. 113 ff. 35 Vgl. Gundolf, Nietzsche als Richter, S. 45. Zur Platon-Deutung des George-Kreises vgl. Ernst Eugen Starke: Das Plato-Bild des George-Kreises, Diss. phil., Köln 1959; Kolk, Literarische Gruppenbildung, S. 465 ff.; Stefan Rebenich: „Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel“. Platon im Georgekreis, in: George-Jahrbuch 7, 2008/2009, S. 115–141; Melissa S. Lane: The Platonic Politics of the George Circle: A Reconsideration, in: dies. und Martin R. Ruehl (Hrsg.), A Poet’s Reich. Politics and Culture in the George Circle, Rochester, NY 2011, S. 133–163. 36  Kurt Hildebrandt: Nietzsche als Richter: sein Schicksal, in: Gundolf und Hildebrandt, Nietzsche als Richter, S. 63–104, 69. 37 Ebd., S. 76. Vgl. Friedrich Wolters: Aufzeichnungen, in: Castrum Peregrini CCXXV, 1996/97, S. 23–61, 55 ff.; Weber, Bedeutung Nietzsches, S. 108. Den Lehren vom Übermenschen und von der ewigen Wiederkunft hielt Ernst Gundolf entgegen, sie hätten nicht einen Gläubigen geschaffen, und dies nicht nur aufgrund ihres Inhalts, sondern allein schon deshalb, weil sie Lehren seien. „Der Glaube wird nicht durch Lehre erweckt, sondern durch übergreifende Schau“, wie sie allein dem Dichter vorbehalten sei: Gundolf, Nietzsche als Richter, S. 48 f. 32 Ebd.,

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auch schon der frühe, der das Wesen der platonischen Idee verfehlt habe. So mochte er zwar in manchem Bahnbrecher und Wegbereiter gewesen sein, doch habe er das Höchste nicht erreicht, „weil er die Liebesgemeinschaft nicht neu um sich bilden konnte“ und an der Aufgabe versagte, die erst Stefan George, gewissermaßen als Plato redivivus, bewältigt habe: mit seiner Erneuerung des „Mythus des Symposion“, des ‚erotischen Kreises als Keim des Staates‘, in dem der Meister um die Jünger wirbt, während die Jünger ergriffen sind vom „erotisch-philosophischen Rausch wie von dionysischer Wut.“38 Ähnlich zwiespältig fielen die Urteile im Kreis um Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) aus. Wohl gab es hier unbedingte Bewunderer wie Rudolf Pannwitz (1881–1969), der noch auf der Schule vom Zarathustra „auf das furchtbarste ergriffen“ wurde, später gleich fünf Dionysische Tragödien verfaßte und sich aus Nietzsche eine kosmische Religion altorientalischen Zuschnitts zusammenbastelte.39 Daß er sich selbst dabei als den „heute regierende[n] der unsterblichen dynastie nietzsche“ empfahl40, wirkte auf sein Umfeld jedoch eher befremdlich. Hofmannsthal hielt zwar 1892 in seinem Exemplar der Genealogie der Moral das „Erlebnis“ fest, das die Lektüre ihm beschert habe41, doch hielt dieses Erlebnis nicht an. Relevanz und Anerkennung beschränkten sich auch bei ihm, wie bei den Kosmikern und im George-Kreis, auf das Frühwerk, das noch von der Nähe zu Schopenhauer, aber auch zu Wagner und Erwin Rohde gekennzeichnet war.42 Und selbst dies ging nicht ohne weitreichende Umdeutungen ab, bei denen das Dionysische durch das Historische ersetzt wurde.43 Gegenüber Pannwitz mußte er 1917 bekennen, er habe den Zarathustra nie lesen können, „ihn nach flüchtigem

38 Hildebrandt,

Nietzsche als Richter, S. 96. Erwin Jaeckle: Rudolf Pannwitz. Eine Einführung, in: Hugo von Hofmannsthal – Rudolf Pannwitz, Briefwechsel, S. 647–699, 654 f. Aus der Sekundärliteratur sind hervorzuheben HansJoachim Koch: Die Nietzsche-Rezeption durch Rudolf Pannwitz. Eine kritische Kosmologie, in: Nietzsche-Studien 26, 1997, S. 441–467; László V. Szabó: Der kosmische Übermensch. Zu Nietzsches Wirkung auf Rudolf Pannwitz, in: Renate Reschke (Hrsg.), Bilder – Sprache – Künste. Nietzsches Denkfiguren in Zusammenhang, Berlin 2011, S. 245–263; Religion, Philosophie und Dichtung bei Rudolf Pannwitz, in: Agnieszka K. Haas und Dariusz Pakalski (Hrsg.), Religion und Philosophie in neuerer deutschsprachiger Literatur und Kunst. Erkundungen auf Haupt- und Nebenwegen. Studia Germanica Genadensia 34, Gdansk 2016, S. 120–131, 128. Vgl. auch die auf Pannwitz bezogenen Abschnitte in meinem Buch: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 122 ff., 195 ff. 40 Pannwitz, Einführung in Nietzsche, S. 45. Vgl. auch: Die Religion Friedrich Nietzsches, in: Weimarer Blätter 1, 1919, S. 602–606. 41 Vgl. König, Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen, S. 41. 42  Vgl. Karl G. Esselborn: Hofmannsthal und der antike Mythos, München 1969, S. 45. Der Einfluß Schopenhauers ist besonders stark in den Schriften, die auf die Chandos-Krise folgten: vgl. Monika Fick: Ödipus und die Sphinx. Hofmannsthal metaphysische Deutung des Mythos, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 32, 1988, S. 259–290, 267 ff.; demjenigen Wagners ist Dieter Borchmeyer nachgegangen: Das Theater Richard Wagners, S. 334 ff. Zur Rohde-Lektüre vgl. König, Hofmannsthal, S. 289. 43 Vgl. König, Hofmannsthal, S. 113, 171. 39 Vgl.

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Aufblättern“ weggelegt, um „gegen dieses Buch immer verhärtet geblieben“ zu sein.44 Fünf Jahre später deutete er an, daß sich diese Einstellung auch auf andere Schriften Nietzsches bezog: „Mir ist Nietzsche, wenn ich an ihn denke, immer der geistreiche u. bedeutende Alt-Philolog, das Übrige liegt mir sehr fern.“45 Das gilt in noch gesteigertem Maße für diejenigen seiner Mitstreiter, die seine Neigung zu einem modernen Fundamentalismus teilten. Rudolf Alexander Schröder (1878–1962) etwa hat in öffentlicher Rede noch in den 20er Jahren die Bedeutung Nietzsches für seine Generation gewürdigt46, jedoch später ein Gedicht verfaßt, in dem Nietzsche neben Wagner und Böcklin zu den „arschilochäischen (sic) Dichtern“ gezählt wird – ein Nachklang der publizistischen Fehde mit dem George-Kreis, in die er seit seinem Verriß des dritten Auswahlbandes der Blätter für die Kunst im Oktoberheft der Süddeutschen Monatshefte 1909 verstrickt war.47 Die Gesamtausgabe seiner Schriften weist keinen einzigen auf Nietzsche bezogenen Text auf, genau wie diejenige seines Freundes Rudolf Borchardt (1877– 1945). Dieser hat sich immerhin zu gelegentlichen Bemerkungen verstanden, in denen direkt oder indirekt der Tragödienschrift wie auch dem kongenialen Werk Rohdes Anerkennung gezollt wird48, meistens jedoch eine Ablehnung dominiert, die sich am „hysterischen Romanismus Nietzsches und der von ihm stammenden zeitgenössischen Literatenliteratur“ entzündete.49 Was sollte auch ein auf

44 Hugo

von Hofmannsthal an Rudolf Pannwitz, Brief vom 8.8.1917, Briefwechsel, S. 22. von Hofmannsthal an Josef Nadler, Brief vom 4.8.1922, in: Hugo von Hofmannsthal und Josef Nadler in Briefen. Mitgeteilt von Werner Volke, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18, 1974, S. 37–88, 78. Zur Bestätigung dieser Selbsteinschätzung vgl. auch Meyer, Nietzsche und die Kunst, S. 188 ff. 46 Vgl. Rudolf Alexander Schröder: Aus den Münchner Anfängen des Insel-Verlags [1925], in: ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden. Die Aufsätze und Reden, Bd. 2, Frankfurt am Main 1952, S. 945–974, 961; In memoriam Hugo von Hofmannsthal [1929], ebd., Bd. 1, S. 800–823, 804 f.; Brief an einen Heimkehrer [1945], ebd., Bd. 2, S. 1169–1194, 1180. 47 Zu dieser Fehde vgl. Eschenbach, Imitatio im George-Kreis, S. 259 ff.; dort auch ein Abdruck des o.g., wohl aus dem Jahr 1935 stammenden Gedichtes („Arschaisch hast Du, Stefan, dich gebrüstet einst“, S. 358 f.). 48  Vgl. Rudolf Borchardt: Das Gespräch über Formen [1905], in: ders., Prosa I, hrsg. von Marie Luise Borchardt, Stuttgart 1957, S. 328–373, 338 f.; Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Poesie [1929/30], in: ders., Prosa II, hrsg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn, Stuttgart 1959, S. 131–234, 142. Zum Einfluß von Nietzsches früher Kulturkritik auf Borchardt vgl. Kai Kauffmann: Nietzscheanische Funken? Zum Verhältnis zwischen Friedrich Nietzsches und Rudolf Borchardts Kulturdenken, in: Andreas Beyer und Dieter Burdorf (Hrsg.), Jugendstil und Kulturkritik, Heidelberg 1999, S. 15–27; Rudolf Borchardt und der ‚Untergang der deutschen Nation‘. Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk, Tübingen 2003, S. 47 ff. Ferner: Christian Benne und Dieter Burdorf (Hrsg.), Rudolf Borchardt und Friedrich Nietzsche. Schreiben und Denken im Zeichen der Philologie, Berlin 2017; Alexander Mionskowski: „Reformation an Haupt und Gliedern“: Rudolf Borchardts revoltierende Kulturpoetik im Vexierspiegel seiner Äußerungen über Friedrich Nietzsche, in: Kaufmann und Sommer (Hrsg.), Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 169–218. 49 Borchardt, Die Antike und der deutsche Völkergeist [1927], in: ders., Reden, S. 274. 45 Hugo

1  Fundamentalistische Deutungen

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‚schöpferische Restauration‘ ausgerichteter Geist, der sich „von ganzem Herzen und mit festem Entschluß der Ausschließlichkeit zum Christentume nicht als einer geschichtlichen Kultform, sondern als zum Glauben des deutschen Volkes“ bekannte und gewillt war, das Werk der Romantik und des von ihr erschlossenen deutschen Mittelalters fortzusetzen, mit Nietzsche anfangen, der sich in all diesen Punkten kontradiktorisch verhielt?50 Es überrascht nicht, wenn aus dieser Perspektive in Borchardts später, von massivem anti-homosexuellen Ressentiment durchzogenen Schmähschrift die Unterschiede zwischen Wagner und Nietzsche, und zwar auch und gerade dem mittleren und späten Nietzsche, verschwammen und beide, ergänzt durch Liszt, als die „drei in sich zusammenhängenden, Canonartig einander bedingenden grossen Abenteurer der Rausch- und Schwarmstiftung“ erschienen, „die durch die Kunst hindurch und mit ihren Mitteln seit 1840 Deutschland, durch Deutschland Europa an sich rissen, und deren Abenteurerschaft sich in dem Zuge verrät, von einem Nichts aus die Welt erobern zu wollen.“51 Mehr Anerkennung fand Nietzsche in der Weimarer Republik bei Gottfried Benn (1886–1956), der sich in den frühen 30er Jahren für eine gleichermaßen auf Stefan George und Marinetti (!) gestützte „artistische Ausnutzung des Nihilismus“ durch einen „ästhetischen Imperialismus“ stark machte.52 In die gleiche Richtung abzüglich der ästhetischen Aspekte wies die Rezeption bei Ernst Niekisch (1889–1967), dessen frühe Nietzsche-Begeisterung durch zahllose Exzerpte im Nachlaß belegt ist.53 Niekisch knüpfte vor allem an den Kritiker des 19. Jahrhunderts an: an die Polemik gegen die bürgerliche Moral, die christlich-demokratische Denkweise, die Trias von Materialismus, Pazifismus und Feminismus. Er beklagte, unter direkter Berufung auf Nietzsche, die „seelische Verödung, die Intellektualisierung, die soziale Proletarisierung, im Grunde also die Verdünnung

50 Rudolf

Borchardt: Schöpferische Restauration [1927], in: ders., Reden, S. 251. Entsprechend ablehnend hieß es zur Nietzsche-Rezeption Georges: „So möchte man wohl das klirrende Lachen Nietzsches über den Schluß und die eigentliche Pointe des ihm zugeeigneten Gedichtes gehört haben, die ihm allen Ernstes den posthumen Rat gibt, zu singen statt zu reden, nachdem eben in einer wundervollen und unvergeßlichen Metapher sein wirkliches Verhängnis, das Sterben an der eigenen Logik, erkannt und ausgesprochen worden ist“ (Rudolf Borchardt: Stefan Georges „Siebenter Ring“ [1909], in: ders., Prosa I, S. 258–294, 268). 51 Borchardt, Aufzeichnung Stefan George betreffend, S. 98. 52  Vgl. Gottfried Benn: Der Nihilismus – und seine Überwindung [1932], in: ders., Essays und Reden. In der Fassung der Erstdrucke, hrsg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt am Main 1989, S. 207–213, 212. Zum Konzept des ‚ästhetischen Imperialismus‘ vgl. Harro Müller: Ästhetischer Absolutismus II: Gottfried Benn, in: ders., Giftpfeile, Bielefeld 1994. Zu den fundamentalistischen Zügen bei Benn vgl. meine Studie: Der Futurismus und die deutsche Kulturkritik, in: Gilbert Merlio und Gérard Raulet (Hrsg.), Linke und rechte Kulturkritik. Interdiskursivität und Krisenbewußtsein, Frankfurt am Main 2005, S. 205–222, 208 ff. 53 Vgl. Ernst Niekisch: Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs, 2 Bde., Köln 1974, Bd. 1, S. 252 ff.; Birgit Rätsch-Langejürgen: Das Prinzip Widerstand. Leben und Wirken von Ernst Niekisch, Bonn 1997, S. 36. Nur die spätere Nietzsche-Rezeption behandelt Sascha Penshorn: Zarathustra auf dem Obersalzberg: Die Nietzsche-Rezeption Ernst Niekischs nach 1945, in: Kaufmann und Sommer (Hrsg.), Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 505–536.

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IV. Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten

des Lebensprozesses überhaupt“, und machte als Ursache hierfür die „westliche Geistigkeit“ aus.54 Von ihr wurde angenommen, sie manifestiere sich nicht bloß in den Ideen von 1789, sondern auch in der bürgerlich-städtischen Lebensweise sowie einer auf Naturvergewaltigung und rücksichtslosem Raubbau beruhenden Technik. Menschenfresser Technik hieß 1931 ein Artikel, der in einer an Klages erinnernden Weise die „lebensfeindliche Dämonie der Technik“ und ihre den Planeten wie den Menschen verwüstenden Folgen anprangerte.55 Politische Sprengkraft erhielten diese Überlegungen, weil Niekisch sie mit nationalreligiösen Motiven verband. Diese entnahm er zunächst der Kulturkampftradition des 19. Jahrhunderts, in deren Gefolge er den Protestantismus als „nationale Spielart christlicher Religiosität“, als „Christentum ins Deutsche übersetzt“ auffaßte und den Kulturkampf als die „verzweifelte Auseinandersetzung des nordischen Kaiserreichs mit den romanischen Elementen, die das deutsche Wesen in sich aufgenommen hatte“, deutete.56 Vor diesem Hintergrund erschien Nietzsche als Erbe Luthers, als Verkörperung protestantischen Rebellentums, als großer deutscher Ketzer, der mit geistigen Waffen fortsetzte, was Arminius und Widukind mit dinglichen Waffen begonnen hätten57 – eine Deutung, die sich in diesem, aber auch nur in diesem Punkt mit dem heroischen Nietzschebild deckte, wie es Alfred Baeumler zur gleichen Zeit entwarf.58 Im gleichen Maße allerdings, in dem sich der Protestantismus der ihm von Niekisch zugedachten Rolle in einer deutschen Widerstandsbewegung entzog, radikalisierte sich die Kritik, wofür wiederum Nietzsche in Anspruch genommen wurde. In einer Auseinandersetzung mit Hans Blühers antisemitischer Schrift Die Erhebung Israels gegen die christlichen Güter lehnte Niekisch es ab, die negativen Erscheinungen der Gegenwart allein dem Judentum anzulasten. Vielmehr sei davon auszugehen (wie es nun ebenfalls mit antisemitischen Topoi durchsetzt hieß), „daß der jüdische Verderberinstinkt das Christentum von Palästina aus als Giftausscheidung gegen das römische Herrentum schleuderte, um für die erlittene Vergewaltigung Rache zu nehmen, und daß diese jüdische Giftausscheidung kräftig genug war, auch alle späteren europäischen Herrenvölker lebensgefährlich anzustecken“.59 Heute sei klar, „daß das ganze paulinische Christentum schlechthin zur bloßen ideologischen Verbrämung des westlerischen Welteroberertums“

54 Ernst Niekisch: Entscheidung, Berlin 1930, S. 172; Revolutionäre Politik [1926], in: ders., Widerstand, hrsg. von Uwe Sauermann, Krefeld 1982, S. 17–21, 19. 55 Ernst Niekisch: Menschenfresser Technik [1931], ebd., S. 56–65, 59. 56 Ernst Niekisch: Die Gottlosen, in: Widerstand 6, 1931, S. 142–148, 143; Das alte Deutschland, in: Widerstand 3, 1929, S. 297–301, 297. 57 Vgl. Niekisch, Entscheidung, S. 48; Die Gottlosen, S. 146. 58 Siehe unten. Niekisch hat sich zustimmend auf diese Deutung bezogen: Die Gottlosen, S. 146. 59 Ernst Niekisch: Die Erhebung Israels gegen die christlichen Güter, in: Widerstand 7, 1932, S. 26–29, 27.

2  Nationalisten als Leser Nietzsches

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geworden sei; weshalb Verteidigung gegen den Imperialismus des Abendlands notwendig den „Bruch mit dem Christentum“ einschließe.60 Für diese ‚widerchristliche Bewegung‘ faßte Niekisch zwei Träger ins Auge. Zum einen in Deutschland die neopaganen Gruppen von Ludendorff über die nordischen Glaubensgemeinschaften bis zu Artur Dinter und Alfred Rosenberg, die für einen ‚deutschen Gott‘ kämpften und den ‚germanischen Aufstand‘ gegen den Westen vorbereiteten.61 Zum andern das bäuerliche Rußland als die einzige staatliche Macht in Europa, die sich gegenwärtig dem abendländischen Imperialismus widersetze. Gemeinsam sollten beide – Germanen und Slawen – einen „Religionskrieg“ gegen die Zivilisation führen und die einzige Bewegung einleiten, von der noch Gesundung zu erhoffen sei: die Rückkehr in Germaniens Wälder.62 Deutscher Nationalismus, so Niekischs fundamentalistisches Credo, „das wäre unerbittliche Absage an den Westen, seinen Liberalismus, seine städtische Zivilisation, […], das wäre ein neuschöpferischer Akt, der bis in die tiefsten Fundamente hinunterreicht, bei dem sich die Erde öffnet, bei dem viel zugrunde gehen muß, damit das Neue Raum, Licht und Sonne finde […]. Deutscher Nationalismus ist der Wille zum deutschen Schicksal: – und wenn es gleich in Sturm und Feuer daherschreitet“.63 Man weiß, welch hohe Meinung Nietzsche von Dostojewski hatte, und wie gern er ein slawischer Aristokrat namens Nietzky gewesen wäre. Es ist gleichwohl nicht sehr wahrscheinlich, daß er sich in der ihm von Niekisch zugeschriebenen Rolle des Propheten eines germanisch-slawischen Bauern- und Soldatenstaates wohl gefühlt hätte.

2 Nationalisten als Leser Nietzsches Mochte ein nationalreligiöser Fundamentalismus in der Manier Ernst Niekischs immerhin in der Zeitablehnung des frühen Nietzsche zumindest einigen Anhalt finden, um dessen spätere Distanz gegenüber allem bloß Nationalen zu überspielen, so sollte man erwarten, daß dort, wo man bestrebt war, das Nationale mit den „positive[n] Mächte[n] der historischen Welt“ – Besitz und Bildung, Wissenschaft und Technik – zu verbinden64, unüberwindliche Schranken der Rezeption bestanden. Dafür gibt es in der Tat prominente Beispiele. Bei einem so

60 Niekisch, 61 Vgl.

Die Gottlosen, S. 145. ebd., S. 147; ders.: Der Mythus des 20. Jahrhunderts, in: Widerstand 6, 1931, S. 33–38,

37. 62 Vgl. Niekisch, Entscheidung, S. 145, 100. 63 Ebd., S. 97. 64 Heinrich von Treitschke an Leopold von Ranke, Brief vom 7.3.1894. Zit. n. Ulrich Langer: Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines deutschen Nationalisten, Düsseldorf 1998, S. 256.

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markanten Vertreter des bürgerlichen Nationalismus wie Heinrich von Treitschke (1834–1896) verwandelte sich das anfängliche, durch seinen Jugendfreund Franz Overbeck vermittelte Interesse an Nietzsche spätestens mit den Unzeitgemäßen Betrachtungen in eine Ablehnung, die sich auf den Vorwurf einer zu großen Nähe zu Schopenhauers Pessimismus und eines mangelnden Verständnisses für „Wesen und Recht des Staates“ gründete.65 Nietzsches spätere Schriften hat Treitschke nicht mehr zur Kenntnis genommen, dafür aber Eduard von Hartmann (1843–1906) die Gelegenheit gegeben, sich in den Preußischen Jahrbüchern für den Spott zu rächen, mit dem ihn die zweite Unzeitgemäße Betrachtung bedacht hatte.66 Nietzsche, ließ dieser verlauten, sei ein Denker aus dem Affekt, arm an originären Gedanken, ohne Bedeutung für die Philosophie und zu systematischen Leistungen unfähig. Sein Aristokratismus sei vordergründig, in Wahrheit verfechte er nicht die Sache einer ständischen Gliederung, sondern ähnlich wie Stirner die eines souveränen, ebenso egoistischen wie anarchischen Individualismus. Seinem Ichkultus gelte die ganze Masse des Volkes, von der Spitze bis zur Plebs, nur als „Fussschemel für die selbstzweckliche Grösse des Tyrannen“, der durch Gestalten wie Alkibiades, Cesare Borgia oder Napoleon verkörpert werde. Sein „Übermensch“ entpuppe sich bei näherer Betrachtung „als Unmensch, als die Bestie im Menschen, die nach Abstreifung aller Hüllen der moralischen Instinkte atavistisch wieder hindurchbricht“. Das alles erschien Hartmann so undeutsch, krankhaft, weibisch und dekadent, daß er aufatmend das Abflauen der Nietzsche-Mode verkündete – zu einem Zeitpunkt, als die eben erst begann.67 Daß diese Kritik mehr als nur eine individuelle Abneigung zum Ausdruck brachte, zeigen die Reaktionen auf Nietzsche in dem Hartmann wie Treitschke in vielem nahestehenden Alldeutschen Verband. Weder in den Schriften Ernst Hasses, von 1893 bis 1908 geschäftsführender Vorsitzender dieses nationalistischen Agitationsvereins, noch in denjenigen seines Nachfolgers Heinrich Claß spielte Nietzsche eine Rolle68, und als der Verband 1905 auf seiner Tagung in Worms über „Politische Ergebnisse der Rassenforschung“ diskutierte,

65 Vgl.

ebd., m.w.N. Zur Freundschaft mit Overbeck und der ersten Reaktion auf Nietzsche vgl. Niklaus Peter: Im Schatten der Modernität. Franz Overbecks Weg zur „Christlichkeit unserer heutigen Theologie“, Stuttgart 1992, S. 105 ff. 66 Zu Person und Werk vgl. Jean-Claude Wolf (Hrsg.): Eduard von Hartmann. Zeitgenosse und Gegenspieler Nietzsches, Würzburg 2006. Vgl. auch Wolfert von Rahden: Eduard von Hartmann „und“ Nietzsche. Zur Strategie der verzögerten Konterkritik Hartmanns an Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 13, 1984, S. 481–502; Anthony K. Jensen: The Rogue of All Rogues: Nietzsche’s Presentation of Eduard von Hartmann’s Philosophie des Unbewussten and Hartmann’s Response to Nietzsche, in: The Journal of Nietzsche Studies 32, 2006, S. 41–61. 67 Eduard von Hartmann: Nietzsches ‚neue Moral‘ [1891], zit. n. d. Wiederabdruck in: Wolf (Hrsg.), Eduard von Hartmann, S. 43–67, 53. Hartmanns Invektiven wurden breiter ausgeführt durch seinen Schüler Arthur Drews: Nietzsches Philosophie, Heidelberg 1904. 68 So enthält etwa die einschlägige Monographie von Leicht, Heinrich Claß, keinerlei Hinweise auf eine Nietzsche-Rezeption.

2  Nationalisten als Leser Nietzsches

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fiel nicht einmal der Name.69 In der 1920 von Otto Bonhard vorgelegten Verbandsgeschichte hieß es, der „halbsarmatische Denker“ habe „unser Deutsches Reich“ „aufs hämischste verunglimpft“, den Helden zum Übermenschen umgefälscht und der Sklavenmoral der Vielzuvielen die sittliche Schrankenlosigkeit der Herrenmoral entgegengesetzt. Mit solchem Gedankengut habe man „wirklich gar nichts gemein.“70 Ähnlich ablehnend fiel die Stellung zu Nietzsche auch noch bei Ernst Krieck (1882–1947) aus, der zu dieser Zeit bemüht war, den Nationalismus über die im Alldeutschen Verband bestehenden Schranken hinauszutreiben. Nietzsche gehörte für ihn neben Marx und den Hohenzollern zu den Besiegten des Weltkriegs, seine Lehre trage die „Altersmerkmale einer absterbenden Kultur.“71 Das letzte Wort war damit freilich noch nicht gesprochen, wie sich an der Nietzsche-Rezeption Arthur Moeller van den Brucks (1876–1925) studieren läßt, eines Autors, dessen Werk in vieler Hinsicht eine Brücke zwischen dem besitzund bildungsbürgerlichen Nationalismus des Kaiserreichs und dessen Metamorphosen nach 1918 bildet.72 In seiner Reihe über Die moderne Literatur in Gruppen und Einzeldarstellungen, die 1899 mit einem Bändchen über Nietzsche eröffnet wurde, feierte Moeller den Philosophen zunächst als Überwinder des müden Pessimismus der Gründerjahre, der die Macht einer erstickenden Tradition gebrochen und den Weg zu einer neuen Kultur freigemacht habe. Dieser Eloge folgte jedoch die Verdammung auf dem Fuße. Nietzsche habe zu sehr dem „Typus des Uebergangsmenschen“ entsprochen, er sei zu intellektuell, zu unsinnlich, zu unmännlich, ja zu unmenschlich gewesen, um diese neue Kultur selbst schon zu leben. Ein Dekadent, eine Tschandalanatur, ein Egoist, habe er allein auf das „ICH“ gesetzt und sei an der Aufgabe der Gegenwart gescheitert: der Neubelebung des Mythus, der „metaphysische(n) Zusammenziehung des Zeitbildes auf eine organische Centrale des Nationalen“.73 Der nächste größere Text, das Nietzsche-Kapitel in der Reihe über Die Deutschen, drängte diese Einwände zurück, ohne sie allerdings ganz aufzugeben.74 Im Vordergrund standen jetzt Nietzsches Leistungen, allen voran die Lehre vom Übermenschen und vom Willen zur Macht. Durch beide habe er das Leben wieder in Bewegung gebracht, habe er die Bahn gebrochen, die durch mancherlei Hindernisse verstellt war, „und uns so eine neue Zukunft gegeben“. 69  Vgl.

Zwanzig Jahre alldeutscher Arbeit und Kämpfe. Hrsg. von der Hauptleitung des Alldeutschen Verbandes, Leipzig 1910, S. 272 ff. Der Hauptvortrag von Ludwig Kuhlenbeck wurde später in erweiterter Fassung unter dem Titel „Das Evangelium der Rasse“ veröffentlicht (Prenzlau 1905). 70 Otto Bonhard: Geschichte des Alldeutschen Verbandes, Leipzig 1920, S. 186 f. 71 Ernst Krieck: Die Revolution der Wissenschaft, Jena 1920, S. 30, 32. 72 Zu Person und Werk vgl. neben der oben (II.1, S. 84 f.) angegebenen Literatur Armin Thomas Müller: Die konservative „Weltrevolution […], die Nietzsche kommen sah“. Zur NietzscheRezeption Arthur Moeller van den Brucks, in: Kaufmann und Sommer (Hrsg.), Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 139–168. 73 Arthur Moeller-Bruck: Die moderne Literatur, Berlin 1902, S. 420, 45 ff., 18. 74 Sie tauchen ein Jahr später im Buch über Die Zeitgenossen wieder auf: Minden 1906, S. 168 ff.

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Auch hier blieb indes der Vorbehalt, Nietzsche sei hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben, da er seine Ideen nur auf das Individuum bezogen habe, anstatt auf die neuen Großkollektive, die in der modernen Welt nun einmal bestimmend seien. Hätte er die Konzepte des Herrenmenschen und des Machtwillen auf die Rasse übertragen – ein Begriff, der bei Moeller ebenso wie bei Houston Stewart Chamberlain nicht scharf von demjenigen der Nation unterschieden ist – , so wäre er vielleicht zu jenem System seiner Philosophie gekommen, nach welchem er sich immer gesehnt habe. So aber sei er in einem individualistischen Heroenkult steckengeblieben, wie dies schon bei Carlyle, Gobineau u. a. der Fall gewesen sei. Nietzsche, „dieser mystische Mund, den der Wille der Volkskraft fand“, habe den Weg zu seinem Volk nicht gefunden und deshalb zusammenbrechen müssen – auf diese Formel hat Moeller seine frühe Nietzsche-Interpretation zusammengezogen.75 Eine neue Phase der Rezeption begann 1919 mit einem Zeitungsartikel über Nietzsches Wiederkunft, setzte sich noch im selben Jahr fort mit einem weiteren Artikel über Nietzsche und den Sozialismus76 und führte 1920 in die Auseinandersetzung mit Spengler, die zugleich eine solche mit Nietzsche war. Den ersten Text kann man übergehen, da er nur die früheren Gedanken wieder aufgreift und vor allem die aktivistischen und idealistischen Züge Nietzsches akzentuiert.77 Die Spengler-Kritik spielt diese Züge gegen Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen aus, die als „Glaube unerlöster Romantiker“ verabschiedet wird.78 In Das dritte Reich wird Nietzsches Stärke genau in den Aspekten gesehen, die Moeller zuvor bei ihm vermißt hatte: in der Reflexion auf die neuartigen Großkollektive. All denen, die nur den Individualisten und Aristokraten Nietzsche sehen wollten, hielt Moeller den Soziologen Nietzsche entgegen, der über seiner Kritik an der Massengesellschaft doch nie die „proletarische Frage“ übersehen habe. Die Existenz des Proletariats sei für ihn verbunden gewesen mit dem Problem einer „menschlichen Erneuerung von Unten“; der Sozialismus mit dem Aufstiegswillen eines elementaren, instinktsicheren Menschentums, dem sich die Nation bei Strafe des Untergangs nicht verschließen dürfe. Bei allen negativen, bloß nivellierenden Zügen zeige sich im Sozialismus auch eine positive Seite: eine entschiedene Lebensbejahung, ein Wille zur Macht, zum Gesetz, zum Staat. Es sei deshalb dafür zu sorgen, „daß die Arbeiterschaft, nicht als aufrückende Klasse, sondern als neue Bevölkerungsschicht, in das politisch-gesellschaftliche Leben der Nation mit einrückt und deren Verantwortlichkeiten mit übernimmt.“

75  Moeller

van den Bruck: Die Deutschen, 8 Bde., Minden 1904–1910, Bd. 2: Führende Deutsche, 1905, S. 248 f., 223. 76 Vgl. Moeller van den Bruck: Nietzsche und der Sozialismus, in: Leipziger Illustrierte Zeitung, 27.2.1919. Vgl. auch: Das dritte Reich, S. 136 ff. 77  Moeller van den Bruck: Nietzsches zeitliche Wiederkunft, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 21.2.1919. 78 Moeller van den Bruck: Der Untergang des Abendlandes. Für und wider Spengler, in: Deutsche Rundschau 46, 1920, Nr. 184, S. 41–70, 53.

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Denn: „Auf die Dauer ist es unerträglich, daß eine Nation ein Proletariat unter sich haben soll, das zu ihr nach Sprache und Geschichte und Schicksalsverbundenheit gehört, und das doch nicht in die Nation aufgenommen sein soll.“ Durch Inklusion dieser Schicht würden der heute geschwächten und darniederliegenden deutschen Nation neue Kräfte zugeführt, „die als proletarische Kräfte zunächst stofflich und ungefüge sind, aber durch Einpassung nicht nur in das Leben der Nation, sondern auch durch Anknüpfung an den Geist der Nation, selbst geistiger und geformter werden“.79 Nietzsche wurde auf diese Weise zum Theoretiker des modernen Großkollektivs, zum Verkünder eines neuen, nichtmarxistischen Sozialismus, der nicht auf Gleichheit, sondern auf Gleichberechtigung beruhen und darüber hinaus auch nicht auf die Menschheit, sondern auf Volk und Nation bezogen sein sollte: einer Doktrin also, die mit dem genuinen Sozialismus nichts, sehr viel dagegen mit dem neuen Nationalismus zu tun hat, wie er in der Weimarer Republik zur Entfaltung gelangte.80 Moeller hat seine Ideen gewöhnlich in apodiktischer Form vorgetragen. Sie in Textinterpretationen zu entwickeln und zu erhärten, war seine Sache nicht. Dieser Aufgabe hat sich Alfred Baeumler (1887–1968) gewidmet, der in den Augen von Ernst Niekisch Ende der 20er Jahre zu dem Philosophen des neuen Nationalismus avancierte.81 Baeumler begann philosophisch in Anlehnung an Kant und Hegel, politisch als ein Anhänger des Kulturliberalismus, der 1919 DDP wählte und die Revolution begrüßte, weil sie den Arbeiter zum Staat gebracht und so die Deutschen „erst wirklich national gemacht“ habe.82 Schon bald rückte er nach rechts, zeigte aber ein deutlicheres politisches Profil erst ab Mitte der 20er Jahre, nachdem er beruflich gesichert war: zunächst durch eine Stelle als Studienrat an der TH Dresden (1925), ab April 1929 als Professor für politische Pädagogik ebendort.83 In dieser Zeit knüpfte er Kontakte zum Kreis um Othmar Spann (1878–1950), in dessen Reihe „Die Herdflamme“ er eine Auswahl aus Hegels Schriften zur Gesellschaftsphilosophie herausgab.84 Als er im folgenden Jahr als

79 Moeller

van den Bruck, Das dritte Reich, S. 138 f. dazu meine Studie: Neuer Nationalismus in Deutschland, in: Uwe Backes (Hrsg.), Rechtsextreme Ideologien in Geschichte und Gegenwart, Köln 2005, S. 53–72. 81 Vgl. Ernst Niekisch, Tagebuch, Eintrag vom 28.10.1928, Nachl. Niekisch, BArch Koblenz, N 1280, Bd. 47e. 82 Alfred Baeumler: Metaphysik und Geschichte (1920), in: Marianne Baeumler u. a., Thomas Mann und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation, Würzburg 1989, S. 72–89, 87. In früheren Arbeiten habe ich darin ein Indiz für „Neonationalismus“ gesehen, doch ist dies eine Rückprojektion späterer Vorstellungen Baeumlers, die in dieser Phase noch fehlen. Insofern zu Recht: Fröschle und Kuzias, Alfred Baeumler und Ernst Jünger, S. 22, 50. 83 Vgl. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Bd. 1, S. 192. 84 Baeumler revanchierte sich für dieses Entgegenkommen, indem er Spann den Beitrag über „Gesellschaftsphilosophie“ in dem von ihm und Manfred Schröter hrsg. Handbuch der Philosophie anvertraute (München 1928). 1927 nahm er an der im Kartäuser-Kloster Gaming in Oberösterreich veranstalteten Schulungstagung der universalistischen Welt- und organischen Staats80  Ausführlicher

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Nachfolger Richard Kroners im Gespräch war, erschien er Victor Klemperer als so „dogmatisch-katholisch“, daß dieser sich heftig seiner Berufung widersetzte.85 Einmal in Amt und Würden, entwickelte sich Baeumler jedoch in eine ganz andere Richtung. Zunächst freundete er sich mit dem Kreis um die Zeitschrift Widerstand an (Ernst Niekisch, Ernst und Friedrich Georg Jünger), in der er möglicherweise mehrere Aufsätze unter Pseudonym veröffentlichte.86 Nach den Septemberwahlen 1930 setzte er dann mehr und mehr auf die NSDAP, deren Führer er im Frühjahr 1931 im Braunen Haus besuchte.87 Im gleichen Jahr schloß er sich Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur an und vollzog schließlich ab Oktober 1932 auch offiziell den Schulterschluß mit der Partei mit mehreren Artikeln im Völkischen Beobachter, in denen er die Machtübergabe an „Hitler und das soldatisch-sozialistische Deutschland“ forderte.88 Der Dank der Partei (der Baeumler allerdings erst zum 1.5.1933 beitrat) blieb nicht aus: Schon wenige Wochen nach dem Ermächtigungsgesetz wurde er der Berliner Universität als Professor für politische Pädagogik oktroyiert, es folgte eine steile Karriere im Amt Rosenberg als Leiter der Abteilung Wissenschaft und Chefplaner für die zukünftige Parteihochschule.89 Im Zuge seiner immer entschiedeneren Wendung nach rechts wandelte sich auch Baeumlers Nietzschebild. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wie viele seiner Generation ein begeisterter Leser des Zarathustra, der ihm als „Heiligsprechung des

lehre teil, gemeinsam mit den Spann-Schülern Walter Heinrich und Hans Riehl: vgl. Hildebrandt, Erinnerungen, S. 174 f. Man geht nicht fehl, wenn man den dezidierten Romanismus, dem Baeumler 1926 in seiner Bachofen-Einleitung huldigte, mit diesen Beziehungen in Verbindung bringt. Spann war übrigens ein Gewährsmann für den Kommentator des NSDAP-Programms Gottfried Feder und hielt 1928 auf der ersten Veranstaltung von Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur“ die Eröffnungsrede. Näher zu Person und Werk Klaus-Jörg Siegfried: Universalismus und Faschismus. Das Gesellschaftsbild Othmar Spanns, Wien 1974. 85  Vgl. Victor Klemperer: Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1925– 1932, Berlin 1996, S. 462. 86  Vgl. Fröschle und Kuzias, Alfred Baeumler und Ernst Jünger, S. 33 ff. Wie den dort abgedruckten Briefen von Januar und Februar 1929 zu entnehmen ist, fand Baeumler Jüngers Buch über Das abenteuerliche Herz jedoch zu individualistisch, weshalb der Kontakt noch im Laufe des Jahres abbrach. Vgl. auch Ulrich Fröschle: Friedrich Georg Jünger und der „radikale Geist“. Eine Fallstudie zum literarischen Radikalismus der Zwischenkriegszeit, Dresden 2008, S. 334 ff., 514. 87 Vgl. Detlev Piecha: Nietzsche und der Nationalsozialismus. Zu Alfred Baeumlers NietzscheRezeption, in: Christian Niemeyer (Hrsg.), Nietzsche in der Pädagogik? Beiträge zur Rezeption und Interpretation Nietzsches, Weinheim 1998, S. 132–193, 168 f.; Teichfischer, Die Masken des Philosophen, S. 262; Katharina Grätz: ‚Kämpfer gegen seine Zeit‘: Alfred Baeumlers NietzscheDeutung und der Nationalsozialismus, in: Kaufmann und Sommer (Hrsg.), Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 405–434. 88 Vgl. Alfred Baeumler: Zwei Welten, in: Völkischer Beobachter vom 21.12.1932, zit. n. Tilitzki, Universitätsphilosophie, Bd. 1, S. 550. Zu weiteren Artikeln vgl. Fröschle und Kuzias, Alfred Baeumler und Ernst Jünger, S. 105, 230 ff., 258. 89 Vgl. Tilitzki, Universitätsphilosophie, Bd. 1, S. 605, Bd. 2, S. 935 ff.

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189

Individuums“ erschien90, ging Baeumler nach 1918 zunächst auf Distanz, worin ihn die „Lyrisierung“ Nietzsches durch das Buch Ernst Bertrams bestärkt haben mag.91 Auch die Einleitung von 1926 zur Bachofen-Ausgabe ließ sich noch äußerst kritisch über die Geburt der Tragödie aus.92 Nietzsches Auffassung des Dionysischen sei eine moderne, von Subjektivismus und Psychologismus beeinträchtigte Konstruktion, in der sich ein „Streben nach Auflösung“ ankündige, „über das der Verfasser des Zarathustra mit gewaltsamster Anspannung Herr wurde und dem er schließlich nach heroischem Kampfe unterlag“.93 Die Gründe für dieses Scheitern machte Baeumler in Nietzsches totaler Unfähigkeit aus, den Mythus, den objektiven Geist und die Geschichte angemessen zu erfassen.94 Im Gegensatz zu Bachofen, der ihm hierin weit überlegen sei, habe sich Nietzsche in durch und durch subjektive Phänomene wie Ekstase und Orgiasmus verloren, aus denen niemals ein objektives Gebilde entstehen könne. Bei allen genialischen Zügen im einzelnen sei das Buch „ein in jeder Hinsicht fragwürdiges Produkt“, dem die Tiefe fehle: „die Raumtiefe, die Tiefe der Vergangenheit, des Mythus und des Todes. Es ist alles Vordergrund, alles deutlich, alles hell. An der ‚Flachheit‘ des Nietzscheschen Lebensbegriffes leidet das von ihm ausgehende Denken der Gegenwart noch heute“.95 Das sollte indessen nicht Baeumlers letztes Wort in dieser Sache bleiben. Schon drei Jahre später kam er erneut auf Nietzsche zurück und entdeckte nunmehr den Verfasser der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung, der nicht im Dionysischen, sondern im ‚heroischen Dasein des Einzelnen‘, im „Agon“, das Wesen des Griechentums erkannt habe.96 Damit waren die Weichen für eine neue Deutung gestellt, die Baeumler ab 1929 in zahlreichen Aufsätzen, Büchern und Werkausgaben vortrug.97 In ihnen betonte er zwar Nietzsches verneinende Einstellung

90 Das

geht aus den von Teichfischer ausgewerteten Tagebuchaufzeichnungen Baeumlers aus den Jahren 1908–1912 hervor: vgl. Teichfischer, Die Masken des Philosophen, S. 14 f. 91 Vgl. Max Whyte: The Uses and Abuses of Nietzsche in the Third Reich: Alfred Baeumlers ‚Heroic Realism‘, in: Journal of Contemporary History 43, 2008, S. 171–194, 177. Zu Bertrams Nietzsche vgl. weiter unten. 92 Vgl. Der Mythus von Orient und Occident. Eine Metaphysik der alten Welt. Aus den Werken von J. J. Bachofen mit einer Einleitung von Alfred Baeumler. Hrsg. von Manfred Schroeter, München 1926. Im Folgenden zitiert nach der Neuausgabe: Alfred Baeumler, Das mythische Weltalter. 93 Ebd., S. 292. 94 Vgl. ebd., S. 262, 274. 95 Ebd., S. 268, 271. 96 Alfred Baeumler: Bachofen und Nietzsche [1929], in: ders., Studien zur deutschen Geistesgeschichte, S. 220–242, 237. Zu dieser Wende vgl. Sandro Barbera: „Er wollte zu Europa, wir wollten zum ‚Reich‘“. Anmerkungen zu den Nietzsche-Interpretationen von Alfred Baeumler, in: Barbera und Müller-Buck (Hrsg.), Nietzsche nach dem ersten Weltkrieg, S. 199–234, 225. 97 Vgl. Teichfischer, Die Masken des Philosophen, S. 200 ff. Baeumler gab 1930–1932 die achtbändige Nietzsche-Ausgabe des Kröner-Verlages heraus, außerdem eine zweibändige Ausgabe der Hauptwerke (Leipzig 1930) und eine vierbändige Werkausgabe bei Reclam (Leipzig 1931). Der vierte Band dieser Edition enthält Baeumlers (auch selbständig erschienene) Schrift Nietzsche, der Philosoph und Politiker. Zur Kritik dieser Interpretation siehe Karl Löwith:

190

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gegenüber dem Staat und rückte ihn damit scheinbar in die Nähe der Verfasser von Oper und Drama oder Der Einzige und sein Eigentum98, doch ließ er im Epilog keinen Zweifel daran, daß es sich dabei in seinen, Baeumlers, Augen um ein „Mißverhältnis“ handelte. Auch wenn Nietzsches Werk eine Lehre vom Staat nicht zu entnehmen sei, so habe es doch „alle Wege zu einer neuen Lehre vom Staat aufgetan.“ Seine Ablehnung, sein Ekel, habe der römisch-christlichen Verfallsform des Staates gegolten, deren vorläufig letzte Ausläufer der Hegelsche Kulturstaat und der „christliche Staat“ Bismarcks seien, beide au fond liberaler Natur und damit ein Schritt zur Auslieferung Deutschlands an die demokratische Bewegung.99 Mochte der „exoterische“ Nietzsche dem Staat als heroischer Erscheinungsform nicht gerecht geworden sein, im „esoterischen“ Nietzsche, im Nietzsche des Nachlasses, sei sie lebendig gewesen, die „germanische Vorstellung vom Staate“, die ihre höchste historische Verwirklichung im mittelalterlichen Kaisertum aus „sächsischem, salischem und schwäbischem Geschlecht“ gefunden habe.100 Nietzsches Kampf habe sich gegen den Verfall dieses ‚Staatsgeistes‘ gerichtet. Sein Programm sei die „Ablehnung des Christentums zusammen mit der Ablehnung der römisch-humanistischen Tradition“ gewesen, die erneute und diesmal siegreiche Erhebung des „romfremde[n], griechenverwandte[n] Geist[es] des Nordens“, der ein heroischer, agonaler Geist sei.101 Wie Moeller van den Bruck und nach ihm (auf wieder andere Weise) Niekisch, hoffte Baeumler diesen Geist des Nordens reaktivieren und zum „Siegfriedangriff

Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, in: ders., Nietzsche, S. 101–384, 363 ff. Ferner Mazzino Montinari: Nietzsche zwischen Alfred Bäumler und Georg Lukács, in: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur Bd. 9, Frankfurt am Main 1979, S. 188–223; Riedel, Nietzsche in Weimar, S. 90 ff. 98 Alfred Baeumler: Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, S. 88 ff. 99 Ebd., S. 178 ff., 133, 162, 165. 100 Ebd., S. 181. Vgl. Tilitzki, Universitätsphilosophie, Bd. 1, S. 558. Wenn Tilitzki daraus freilich eine Beschränkung auf „Großdeutschland“ ableitet, eine Distanzierung von Imperialismus und Expansionismus (S. 561, 583), dann übergeht dies die Tatsache, daß dieses „Großdeutschland“ im damaligen Sprachgebrauch häufig die heutigen Niederlande, Belgien und die Schweiz sowie weite Teile Frankreichs, Nord- und Mittelitaliens einschloß. Das fällt auch bei Fröschle und Kuzias unter den Tisch: vgl. Baeumler und Jünger, S. 67 f. 101  Alfred Baeumler: Einleitung zu Friedrich Nietzsche, Werke, hrsg. von Alfred Baeumler, Leipzig, Bd. 1, 1930, S. XIII–LII, XX; Nietzsche, S. 182. Die scharfe Frontstellung gegen den Romanismus spricht gegen die von Bernhard F. Taureck (Nietzsche und der Faschismus, S. 101 ff.) vorgetragene These, Baeumler habe seine Nietzsche-Interpretation nach den Vorgaben Julius Evolas entwickelt, ging es diesem doch gerade um die Wiederbelebung römischpaganer Traditionen. Für seinen ‚Ghibellinismus‘ brauchte Baeumler Evola ebenfalls nicht, da es hierzu in Deutschland eine eigenständige, bis auf Droysen zurückreichende Linie gab. Evolas Nietzsche-Deutung betont schließlich auch mehr die neoaristokratischen, dem Nationalismus entgegengesetzten Züge, während es Baeumler expressis verbis darum geht, „in Nietzsches Welt den Übergang vom Einzelnen zum Kollektiven zu finden“, scil.: zum nationalen Kollektiv (Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, S. 178). Zu Evola vgl. Armin PfahlTraughber: ‚Konservative Revolution‘ und ‚Neue Rechte‘, Opladen 1998, S. 117 ff.

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auf die Urbanität des Westens“ bewegen zu können: nach innen durch die Öffnung zur sozialistischen Bewegung, deren „tatsächliche Berechtigung“ darin begründet liege, „daß die herrschende Schicht zwar im faktischen Besitze der Macht, d. h. im Besitze des Geldes ist, aber in Wirklichkeit nicht mehr herrscht“, deshalb auch „von Zeit zu Zeit“ einen Anstoß aus den „niederen Schichten des Volkes“ gebrauchen könne; nach außen durch ein Bündnis mit den noch unverbrauchten Kräften des Ostens, speziell Rußlands, wo ähnlich wie in Deutschland noch genügend jugendliche und barbarische Kräfte schlummerten, deren die Welt nun einmal bedürfe, „um nicht an den Mitteln der Kultur ihre Kultur und ihr Dasein selber einzubüßen“.102 Wem in diesem Bündnis die Führungsrolle zukomme, habe Nietzsche ebenfalls nicht im unklaren gelassen: „Deutschland kann weltgeschichtlich nur unter der Form der Größe existieren. Es hat nur die Wahl, die antirömische Macht Europas zu sein, oder nicht zu sein. Wenn es sich der Zivilisation des Westens einordnet, unterwirft es sich Rom; wenn es seine germanische Abkunft vergißt, verfällt es dem Osten. Der Schöpfer eines Europa, das mehr ist als eine römische Kolonie, kann nur das nordische Deutschland sein, das Deutschland Hölderlins und Nietzsches. Nicht neben Bismarck gehört Nietzsche, er gehört in das Zeitalter des Großen Krieges. Der deutsche Staat der Zukunft wird nicht eine Fortsetzung der Schöpfung Bismarcks sein, sondern er wird geschaffen werden aus dem Geiste Nietzsches und dem Geist des Großen Krieges“.103

Dies alles war nahe an Niekisch und doch zugleich unverkennbar eigenen Zuschnitts. Baeumler beharrte, gegen Niekisch und z. T. gegen Dostojewski, auf der Scheidung von Religion und Politik und wies eine „Religionisierung weltlicher Institutionen“ im Sinne eines nationalreligiösen Fundamentalismus scharf zurück.104 Die Zeitablehnung war im entscheidenden Punkt aufgehoben, indem die Wissenschaft nicht pauschal abgelehnt, sondern als Äußerungsform des agonalen Geistes bejaht wurde; die neuen Entwicklungen in Mathematik und Physik wurden einigermaßen kenntnisreich und ohne jede Feindseligkeit erörtert.105 In der Nietzsche-Interpretation äußerte sich diese ‚progressive‘ Ausrichtung in der erneuten Abwertung, die Nietzsches Frühwerk zuteil wurde. Entgegen seiner eigenen Leitthese von der Einheit dieses Werks unterschied Baeumler zwischen einem mystisch-musikalisch interessierten Nietzsche – dem Autor der Geburt der Tragödie – , und dem eigentlichen, ‚heroischen‘ Nietzsche, dessen Denken um den Willen zur Macht, das Agonale, die ‚heraklitische Welt‘ kreise.106 Noch weiter ging die Aufspaltung mit der Behauptung, alles philosophisch Wesentliche

102 Baeumler,

Nietzsche, der Philosoph und Politiker, S. 182 f., 171. S. 183. 104 Martin [Baeumler], Protestantismus und Widerstand, S. 252. 105 Vgl. Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, S. 44. Vgl. auch Alfred Baeumler: Die geistesgeschichtliche Lage im Spiegel der Mathematik und Physik [1931], in: ders., Männerbund und Wissenschaft, Berlin 1934, S. 75–93. 106 Vgl. Baeumler, Einleitung, S. XXXVIII ff.; Nietzsche, der Philosoph und Politiker, S. 64, 85 ff. 103 Ebd.,

192

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liege im Nachlaß.107 Was sachlich nicht zu diesem ‚eigentlichen‘ Nietzsche paßte, allen voran: die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, wurde entweder für belanglos erklärt, zum Ausdruck eines rein persönlichen Erlebnisses, oder umgedeutet.108 So sollte die Kritik am Deutschtum in Wahrheit eine Kritik am Liberalismus des 19. Jahrhunderts sein109, die Lehre vom Dionysischen keine Mystik, sondern ‚heroischer Realismus‘ im Sinne jener Lehren von Krieg und Krieger, wie sie zur selben Zeit von Ernst Jünger und seinem Anhang propagiert wurden. „Nicht der einsam oder zweisam verglühende Rausch, nicht eine ziellos in sich zusammensinkende mystische Glut, sondern der durchdringende, vom Schmerz des Kampfes durchzitterte Jubel des Siegers wäre der echte Ausdruck des ‚Dionysischen‘ im Sinne Nietzsches“.110 Manche möchten darin bereits eine Vorwegnahme des Nationalsozialismus sehen, und dies zumindest insofern zu Recht, als nach 1933 das Heroische Konjunktur hatte.111 Da indes der Nationalsozialismus eine Sammlungsbewegung war, die auch andere Strömungen der Rechten in sich aufgenommen hat, welche Baeumlers Nietzsche-Deutung keineswegs als verbindlich betrachteten112, wäre eine solche Zuspitzung zu eng. Der Sache näher kommt die Formel vom ‚nationalpolitischen Nietzscheanismus‘113, doch bleibt auch sie noch zu unspezifisch, läßt sie doch die Art der Nationalpolitik unmarkiert. Für Baeumlers Nietzschedeutung in der Endphase der Weimarer Republik erscheint die Zuordnung zum „neuen Nationalismus“ am angemessensten.

3 Planetarische Perspektiven Die für Baeumler wie schon für Moeller van den Bruck charakteristische „Kollektivierung“ Nietzsches114 fand eine weitere Steigerung bei jenen Autoren, die den Nationalismus in Richtung auf den planetarischen Imperialismus überschritten. Nicht, daß sich alle, die in dieser Richtung dachten, positiv auf Nietzsche bezogen 107 Vgl. Baeumlers Einführung zum Nachlaßband: Die Unschuld des Werdens, Leipzig 1931, S. XI–XL, XXXIII. 108 Vgl. Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, S. 81 sowie S. 87: „die Lehre von der ewigen Wiederkunft ist Musik“. 109 Vgl. das Nachwort zu Bd. 3 der Werkausgabe (wie Anm. 97), Leipzig 1930, S. 331. 110 Baeumler, Bachofen und Nietzsche [1929], S. 239. 111 Vgl. Hubert Brunträger: Der Ironiker und der Ideologe. Die Beziehungen zwischen Thomas Mann und Alfred Baeumler, Würzburg 1993, S. 190; Zapata Galindo, Triumph des Willens zur Macht, S. 84. 112 Vgl. Whyte, Nietzsche in the Third Reich, S. 187 ff. unter Bezugnahme auf Heinrich Härtle, Ernst Krieck, Christoph Steding und Martin Heidegger. 113 Riedel, Nietzsche in Weimar, S. 90. 114 Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, S. 269. Vgl. Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, S. 178 f.

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hätten. Johann Plenge (1874–1963) beispielsweise lehnte den Stil Nietzsches ebenso ab wie sein ‚dionysisches Pathos‘ und bestand auf dem tiefen Unterschied zwischen den ‚Ideen von 1914‘ und Nietzsches ‚verstiegenem Individualismus‘. „Wer darum von Zarathustra kommt, muß vielleicht noch mehr umlernen, um 1914 zu verstehen, als wer von 1789 kommt.“115 Andere jedoch zeigten sich aufgeschlossener: allen voran Oswald Spengler, der schon als Schüler in den Bann des Zarathustra geriet und von ihm so berauscht war, daß er den Alltag nicht mehr ertragen zu können meinte.116 Der Rausch wich später nüchterner Betrachtung, doch blieb Nietzsches Werk für Spengler eine Quelle der Inspiration, aus der er immer wieder schöpfte. Äußeren Ausdruck fand diese Nähe in der Verbindung zum Nietzsche-Archiv in Weimar, die 1919 mit der Verleihung des Ehrenpreises dieser Institution einsetzte, Spengler mehrfach zu Vorträgen dorthin führte und mit einem Sitz im Vorstand der Stiftung Nietzsche-Archiv gekrönt wurde, den Spengler erst 1935 aufgab, als man sich dort immer enger mit dem NS-Regime identifizierte.117 Seinen schon in der Weimarer Republik erworbenen Ruf, „der bedeutendste Erbe von Nietzsches Gedankenwelt und sein rechtmäßiger Thronfolger in der deutschen Philosophie“ zu sein118, dürfte diese späte Distanzierung weiter befördert haben. Einflüsse Nietzsches zeigen sich bereits in der Wahl des Themas der Dissertation von 1904, die mit dem Vorsokratiker Heraklit einen von Nietzsche hochgeschätzten Philosophen zum Gegenstand hatte.119 Auch wenn Nietzsche in dieser Schrift nur einmal beiläufig zitiert wird und Spengler sich vor allem auf Zeitgenossen wie Ostwald und Mach bezog, wäre es doch unwahrscheinlich, wenn ihn die im Jahr zuvor erschienene Schrift Nietzsches über Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen unbeeindruckt gelassen hätte. Die dort Heraklit zugeschriebene Vorstellung jedenfalls, wonach der Streit, die Eris, „als das fortwährende Walten einer einheitlichen, strengen, an ewige Gesetze gebundenen Gerechtigkeit“ zu betrachten sei, klang noch im Untergang des Abendlandes nach, 115 Johann

Plenge: 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes, Berlin 1916, S. 146. 116 Vgl. Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 51. 117  Vgl. Ferrari-Zumbini, Spengler und Nietzsche. Rezeption und Kritik, in: ders., Untergänge und Morgenröten, S. 24–86, 41 ff. Die folgenden Ausführungen verdanken dieser Studie maßgebliche Anregungen. Vgl. zuletzt Felix Schönherr: Zum Menschenbild des ‚Pessimismus der Stärke‘: Nietzsche, Spengler und die Konservative Revolution, in: Kaufmann und Sommer (Hrsg.), Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 219–230; Yosuke Hamada: Nietzsches Einfluss auf die ‚Konservative Revolution‘ im Fall Oswald Spenglers: Politische Zuspitzung der Konzeptionen Nietzsches, ebd., S. 231–244. 118  Richard H. Grützmacher: Spengler und Nietzsche, in: Die Sammlung 1950, S. 590–609, 607. Zit. n. Ferrari-Zumbini, Spengler und Nietzsche, S. 34. Grützmacher ist schon 1910 mit einem einschlägigen Werk hervorgetreten (Nietzsche. Ein akademisches Publikum, Leipzig), das 1921 in der 5. u. 6. Aufl. vorlag. Von ihm auch ein Buch über Spenglers „Welthistorische Perspektiven“ und das Christentum, Leipzig 1923. 119 Vgl. Oswald Spengler: Heraklit. Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie [1904], in: ders., Reden und Aufsätze, München 19382, S. 1–47.

194

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wo Spengler den Krieg als den Schöpfer aller großen Dinge feiert.120 Auch in anderen Punkten hat Nietzsche für Spengler Pate gestanden: in der Annahme, „daß Kulturen, Zeitalter, Stände, Rassen eine Seele haben wie einzelne Menschen“; daß „die Kunst, sich in den Stil und Takt fremder Kulturen einzufühlen“ durch die musikalische Begabung begünstigt werde121; daß „die Seele jeder einzelnen Kultur […] an einem einzigen, aber unheilbaren Zwiespalt“ leide, der im Fall der Antike durch Apollo und Dionysos repräsentiert werde122; schließlich daß jede Kultur durch die „Civilisation und Zähmung des Menschen“ unweigerlich ihr Ende finde.123 Es hatte also gute Gründe, wenn Spengler sich im Vorwort zu seinem opus magnum dazu bekannte, Goethe die Methode und Nietzsche die Fragestellungen seines Werkes zu verdanken.124 In diesem Buch bezog sich Spengler mehrfach auf Nietzsche, am häufigsten im ersten Band, im zweiten Abschnitt des 5. Kapitels, das die Überschrift „Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus“ trägt. Gemeint waren damit drei morphologisch ähnliche Erscheinungsformen, wie sie in jedem Endstadium einer Kultur aufträten, ‚zivilisierte‘ Formen der Ethik, die den unvermeidlichen Horizont allen Denkens bildeten, und zwar auch und gerade bei jenen, die sich kritisch gegen sie wendeten. Auch Nietzsche sei Sozialist gewesen, ohne es zu wissen. „Nicht seine Schlagworte, seine Instinkte waren sozialistisch, praktisch, auf das physiologische ‚Heil der Menschheit‘ gerichtet, woran Goethe und Kant nie gedacht hatten.“ Nur seine romantische Abneigung, die logischen Konsequenzen aus seinen Prämissen zu ziehen, habe Nietzsche gehindert, zu erkennen, „daß seine ganze Lehre, wie sie aus dem Darwinismus stammt, auch den Sozialismus, und zwar den sozialistischen Zwang als Mittel voraussetzt; daß jeder systematischen Züchtung einer Klasse höherer Menschen eine streng sozialistische Gesellschaftsordnung voraufgehen muß und daß diese ‚dionysische‘ Idee, da es sich um eine gemeinsame Aktion und nicht um eine Privatsache abseits lebender Denker handelt, demokratisch ist, mag man sie wenden, wie man will“.125 Wenn Spengler von Nietzsches Sozialismus sprach, so meinte er damit jedoch etwas anderes als etwa Moeller van den Bruck. Sozialismus galt ihm als Zivilisation, Zivilisation aber als die Negation von Kultur, als Kultur im Stadium

120 Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: Nachgelassene Schriften 1870–1873, KSA 1, S. 799–872, 825. Vgl. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 1007. 121  Oswald Spengler: Nietzsche und sein Jahrhundert [1924], in: ders., Reden und Aufsätze, S. 110–124, 119, 118. 122  Oswald Spengler: Preußentum und Sozialismus [1919], in: ders., Politische Schriften, München 1932, S. 1–105, 25. 123 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 366. 124 Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. IX. Zum Einfluß Goethes, dem hier nicht nachgegangen werden kann, vgl. Uwe Janensch: Goethe und Nietzsche bei Spengler. Eine Untersuchung der strukturellen und konzeptionellen Grundlagen des Spenglerschen Systems, Berlin 2006. 125 Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 476 f.

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der Umkehrung, der „Umwertung aller Werte“.126 War Kultur stets „ein aus der Landschaft geborener Organismus“, die Schöpfung eines konkreten Volkes bzw. einer konkreten Nation, so Zivilisation nur die Mumie, die erstarrte Hülle dieses lebendigen Wesens, Negation auch darin, daß sie die Bindung an ihre Ursprungsbedingungen verloren hatte und zur ‚Welt‘ geworden war, genauer: zur ‚Weltstadt‘ bzw. einem Ensemble von drei oder vier Weltstädten.127 In dieser Weltstadtzivilisation trat nach Spengler der Kosmopolitismus anstelle des Nationalen, die Gesellschaft anstelle des Staates, die Masse anstelle des Volkes, der Nihilismus anstelle der Religion; und zu den Formen des Nihilismus gehörten auch jene Doktrinen des Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus, in denen sich das genaue Gegenteil von Aufbruchstimmung zeigte: „eine letzte rein praktische Weltstimmung müder Großstadtmenschen, die eine abgeschlossene Kultur im Rücken und keine innere Zukunft mehr vor sich haben“.128 Im Abendland war dies allerdings nicht ohne weiteres erkennbar, da hier seit dem Mittelalter das „faustische Weltgefühl der Tat“ dominierte, der unbedingte Wille zur Macht.129 Diese Ausgangslage verlieh noch der nihilistischen Verfallsform dieser Kultur ein aktivistisches Cachet, auch wenn es sich dabei nur um einen Aktivismus der Selbstzerstörung handelte. Der faustische Nihilismus trat auf als Antiidealismus, als Zertrümmerung der großen Ideale; und als Gesellschaftskritik, als Wille zur Nivellierung aller Unterschiede von Besitz, Geburt und Tradition, woran übrigens die großen Geldmächte ebenso beteiligt sein sollten wie die demokratischen und sozialistischen Bewegungen. Dennoch handelte es sich um einen leeren Aktivismus, einen Aktivismus, der nichts Neues mehr hervorzubringen vermochte, sondern nur noch Prinzipien auswalzte, die in einem früheren Stadium gedacht wurden. Sozialismus und Kapitalismus, ‚Preußen‘ und ‚England‘ hießen die beiden Mächte, die um den Vorrang kämpften, dem nihilistischen Aktivismus zu „planetarischer“ Geltung zu verhelfen und somit die Geschicke des Abendlandes zu ihrem Ende zu bringen.130 Daß die Zeit für „kleine Politik“ vorbei sei und demnächst vom „Kampf um die Erd-Herrschaft“ abgelöst werde131, hatte auch Nietzsche gemeint, darin allerdings eher den Schritt zu einem Zustand gesehen, „wo den guten Europäern ihre grosse Aufgabe in die Hände fällt: die Leitung und Ueberwachung der gesammten Erdcultur“.132 Das deutet auf Differenzen nicht nur in der Terminologie, sondern auch in der Sache. Weit davon entfernt, der bloße ‚Affe Nietzsches‘ zu sein, wie Thomas Manns despektierliche Formel lautet, hat Spengler von Nietzsche nur die

126 Ebd.,

S. 449. S. 450 f. 128 Ebd., S. 46, 455. 129 Ebd., S. 454. 130 Zum „planetarischen Charakter“ des abendländischen Imperialismus vgl. ebd., S. 430, 586; Preußentum und Sozialismus, S. 24. 131 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 140. 132 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, S. 592 (Herv. v. mir, S.B.). 127 Ebd.,

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Lehre vom Willen zur Macht und die Analyse der décadence übernommen, vieles andere dagegen verworfen oder umgedeutet. Sehr groß war die Distanz zu den fundamentalistischen Tendenzen der Frühschriften, denen Spengler seine Apotheose der Politik und der Technik entgegensetzte; ebenso groß der Abstand zur Lehre von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen, von der Spengler behauptete, Nietzsche selbst habe niemals guten Gewissens an sie geglaubt.133 Der Nihilismus wurde aus einer an die jüdisch-christliche Tradition gebundenen Erscheinung zu einem allgemeinen Phänomen aller Kulturen; der Wille zur Macht dagegen, der bei Nietzsche ontologische Dignität besaß, zu einer abendländischen Besonderheit.134 Das Christentum mutierte von einer nihilistischen Religion zu einer schöpferischen Kraft, der in Rußland sogar noch eine Zukunft bevorstehen sollte.135 Die Übermenschenlehre wurde zu einem „Luftgebilde“ erklärt, freilich nur deshalb, weil Nietzsche über der von ihm entworfenen Zukunftsgestalt die heute schon existierenden Formen des Übermenschen übersehen habe: die „großen Geld- und Gehirnmenschen“, zu denen noch die (von Spengler verehrten) Cäsaren im Stile Mussolinis hinzu zu rechnen seien.136 Kurzum: „Spengler hat von Nietzsche viel übernommen, hat aber gleichzeitig Nietzsches Thesen so modifiziert, daß sein System mit dem Nietzsches wirklich sehr wenig gemeinsam hat“.137 Resonanz fand die Idee eines planetarischen Imperialismus insbesondere bei Ernst Jünger, zu dessen ‚geistigen Lebensgefährten‘ (Gilbert Merlio) sowohl Nietzsche als auch Spengler zählten.138 Wirklich nahe kam Jünger ihr freilich erst

133 Vgl.

Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 57, 466. Ferrari-Zumbini, Spengler und Nietzsche, S. 63 f. 135 Vgl. ebd., S. 69. 136 Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 466, 478, 1081 ff. 137 Ferrari-Zumbini, Spengler und Nietzsche, S. 35. 138  Gegenüber der englischen Abendzeitung The Evening Chronicle erklärte Jünger 1929 in kategorischem Ton: „I am a disciple of Nietzsche, and take the greatest delight in a struggle for power wherever it occurs and whoever wins“ (in: Jünger, Politische Publizistik, S. 525 f.). Näher beleuchtet wird dies bei Reinhard Wilczek: Nihilistische Lektüre des Zeitalters. Ernst Jüngers Nietzsche-Rezeption, Trier 1999; David Ohana: Nietzsche and the Fascist Dimension: The Case of Ernst Jünger, in: Golomb und Wistrich (Hrsg.), Nietzsche, Godfather of Fascism? S. 263– 290; Marta Kopij: Antizipationen des Arbeiters. Nietzsche – Brzozowski – Jünger, in dies. und Wojciech Kunicki (Hrsg.), Nietzsche und Schopenhauer. Rezeptionsphänomene der Wendezeiten, Leipzig 2006, S. 137–156; Helmuth Kiesel: Bestrittener Wille zur Macht. NietzscheRezeption bei Ernst und Friedrich Georg Jünger, in: Barbera und Müller-Buck (Hrsg.), Nietzsche nach dem ersten Weltkrieg, S. 149–167; Michael Storch: Der ‚Ausdeuter der Tat‘: Friedrich Nietzsches Präsenz in Ernst Jüngers politischer Publizistik der Weimarer Zeit, in: Kaufmann und Sommer (Hrsg.), Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 435–454.- Über die Beziehung zu Spengler vgl. Hermann Lübbe: Oswald Spenglers „Preussentum und Sozialismus“ und Ernst Jüngers „Arbeiter“, in: Alexander Demandt und John Farrenkopf (Hrsg.), Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, Köln etc. 1994, S. 129–151; Gilbert Merlio: Jünger und Spengler, in: Peter Koslowski (Hrsg.), Die großen Jagden des Mythos. Ernst Jünger in Frankreich, München 1996, S. 41–60. 134 Vgl.

3  Planetarische Perspektiven

197

seit Ende der 20er Jahre, als er sich vom neuen Nationalismus abwandte, dem er bis dahin eine umfangreiche Publizistik gewidmet hatte.139 Die Forschung hat zu Recht darauf verwiesen, daß diese Abkehr maßgeblich durch den Austausch mit dem Philosophen Hugo Fischer (1897–1975) befördert wurde, mit dem Jünger zwischen 1925 und 1939 eine intensive Freundschaft pflegte.140 Da Fischer 1931 eine umfangreiche Nietzsche-Deutung vorgelegt hat, wohingegen Jüngers Parallelaktion, das ein Jahr später erschienene Buch Der Arbeiter, keine direkten Bezüge zu Nietzsche aufweist141, mag es gerechtfertigt sein, sich in diesem Rahmen an Fischer zu halten, auch wenn dessen Rolle in der politischen Rechten sich mit derjenigen Jüngers nicht messen kann.142 Fischer begann seine akademische Karriere in einem eindeutig rechts zu verortenden Umfeld: als Doktorand und Habilitand am Psychologischen Institut der Universität Leipzig. Dessen Leiter, Felix Krueger, übernahm 1927 den Vorsitz der Deutschen Philosophischen Gesellschaft, einer zehn Jahre zuvor aus antisemitischen und deutschnationalen Motiven und unter tatkräftiger Mithilfe einschlägiger Verbände wie des Deutschbundes und der Fichte-Gesellschaft gegründeten Vereinigung.143 Mit seiner Wahl verbunden war die Gründung einer neuen Zeitschrift, der Blätter für deutsche Philosophie, mit deren Herausgabe Hugo Fischer betraut wurde, bis 1930 in allein verantwortlicher Funktion, danach im Tandem mit Gunther Ipsen, einem Schüler Hans Freyers, an dessen Soziologischem Institut Fischer Lehrveranstaltungen abhielt.144 Fischer öffnete die Blätter nicht nur in ungewöhnlicher Weise für sozial-, staats- und wirtschaftswissenschaftliche Themen, sondern zugleich in großem Umfang für Autoren der politischen Rechten wie Othmar Spann, Hans A. Grunsky, Max Wundt, Ernst Krieck, Hans Freyer oder Friedrich Hielscher. Er selbst profilierte sich gleich im ersten Jahrgang mit einem längeren Beitrag, in dem er sich kritisch mit Baeumlers Bachofen-Einleitung auseinandersetzte. Bei allem Respekt für dessen „metaphysische Stellungnahme“ bemängelte er, daß der Zugang zum geschichtlichen Kosmos auf spätromantische Weise gewonnen werde und dadurch einen

139 Vgl.

Breuer, Die radikale Rechte, S. 170 ff., 198 ff. Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 275, 303, 392. Ausführlich zu dieser Beziehung Bernhard Gajek: Magister – Nigromontan – Schwarzenberg. Ernst Jünger und Hugo Fischer, in: Revue de littérature comparée 71, 1997, S. 479–500; Heiko Christians: Hugo Fischer, in: Matthias Schöning (Hrsg.), Ernst Jünger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart und Weimar 2014, S. 358–367. Der Nachlaß Jüngers im Deutschen Literaturarchiv Marbach enthält einen prallen Leitzordner mit über 100 Briefen und Karten Fischers, jedoch ohne die Gegenbriefe Jüngers. 141 Vgl. Kiesel, Bestrittener Wille zur Macht, S. 155. 142 Zu letzterer vgl. das Nachwort zu Ina Schmidt und Stefan Breuer (Hrsg.): Ernst Jünger – Friedrich Hielscher, Briefe 1927–1985, Stuttgart 2005, S. 475–535 sowie meine Studie: Ernst Jüngers „Faschismus“, in: Revue d‘Allemagne 37, 2005, S. 499–518. 143 Vgl. Tilitzki, Universitätsphilosophie, Bd. 1, S. 486 ff. 144  Vgl. ebd., S. 521 ff.; Jerry Z. Muller: The Other God that Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton, N.J. etc. 1987, S. 148 f. 140 Vgl.

198

IV. Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten

angemessenen Blick in die Zukunft verstelle. So zutreffend die Kritik an der Gegenwart mit ihrem ‚naturalistischen‘ Zeitstil sei, so verfehlt sei es, diesen „nur als Verfall der alten christlichen und idealistischen Metaphysik“ zu deuten, „als Verkümmerung, konventionelle Erstarrung, Korruption. Nur wenn letzthin auch noch die Verderbnis Begleiterscheinung geheimer neuer Lebensregungen ist, dürfen wir Gegenwärtigen auf eine Neugeburt der aufbauenden, bergenden und zusammenhaltenden Glaubenskräfte hoffen.“ Dazu aber sei Bachofens Metaphysik nicht tragfähig genug. „Beteiligter, umspannender und umfassender, zugleich in die Zukunft vorstoßend, steht unzweifelhaft Friedrich Nietzsche im Mittelpunkt.“145 Den Weg zu Nietzsche hat Baeumler, wie gesehen, bald darauf selbst gefunden. Allerdings zu einem Nietzsche, der sich deutlich von dem unterschied, den Fischer im gleichen Jahr präsentierte. Sah Baeumler in Nietzsche den Philosophen des „heroischen Realismus“, der dies vor allem dank seines ausgeprägten „Germanismus“ als einer von allem Priestertum und aller Staatsvergötzung freien „Lebensform“ sei146, so machte Fischer aus ihm den Begründer des „klassischen Realismus“.147 „Realismus“ meinte dabei nicht bloß die Hinnahme der Dekadenz und des Nihilismus als Manifestationen jenes ‚großen Abtragungsprozesses‘, der mit dem Judentum begonnen habe und dann durch das Christentum und die verschiedenen Formen des „griechischen Idealismus“ verstärkt worden sei.148 Gemeint war vielmehr die unbedingte Bejahung des Verfalls als eines unvermeidlichen „Umweg[s] zur Synthese in dichtgedrängtem Formenzusammenhang“.149 Dieser „neue Realismus“ stelle sich „auf die Seite der widerwärtigsten, kompromittierendsten Realität, der entweihten, von allen Göttern verlassenen Irdigkeit, auf die Seite der Kraft des Gegners“; und er verfolge „aus und mit dieser Kraft sein Ziel, diese Epoche umzuwandeln und eine Heimat zu gewinnen“ – eine Denkfigur, die unverkennbar an Hegel und Marx geschult war und doch zugleich Implikationen enthielt, die Fischer zumindest temporär ins gegnerische Lager führten, auch wenn er gegenüber dessen Wortführern privatim nicht mit Ausdrücken äußerster Verachtung sparte.150 Die auf der Linie des ‚absteigenden Lebens‘ entstandenen Formen und Einrichtungen wie Kapitalismus und Klassengesellschaft, Nationalstaat und Demokratie

145 Hugo

Fischer: Das Symbolische in der Metaphysik und Geschichte, in: Blätter für deutsche Philosophie 1, 1927/28, S. 304–329, 306 f. 146 Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, S. 15, 17, 69, 96, 106, 111. 147 Hugo Fischer: Nietzsche Apostata oder Die Philosophie des Ärgernisses, Erfurt 1931, S. 67. 148 Vgl. ebd., S. 300, 284 ff. 149 Ebd., S. 118. 150 Ebd., S. 143. Fischer habilitierte sich 1926 mit einem Buch über Hegels Methode in ihrer ideengeschichtlichen Notwendigkeit (München 1928). Auf das Nietzsche-Buch folgte kurz darauf: Karl Marx und sein Verhältnis zu Staat und Wirtschaft, Jena 1932. Typen wie Mussolini, so Fischer 1928 und 1929 brieflich gegenüber Ernst Jünger, gehörten noch der Verfallszeit an, Hugenberg und Hitler dagegen zu dem „Wanzengeschlecht“ und „Geschmeiß“, das sich „deutsche Nation nennt“. Zit. n. Gajek, Magister – Nigromontan – Schwarzenberg, S. 487.

3  Planetarische Perspektiven

199

führten nach Fischers Ansicht wohl zu einer tiefgreifenden Umschichtung der Bevölkerungen sowie einer allgemeinen europäischen Vermischung, deren „Endform“ das „Untermenschentum“, die „Vermassung“ und die Bildung eines einzigen ‚Arbeiterstandes‘ seien.151 Doch sollte wieder einmal der Speer, der die Wunde schlug, zugleich das Mittel der Heilung sein. Aus dem „Braukessel der Rassenmischung“ entstünde ein „neuer Menschenschlag“ mit realistischen Trieben und Fertigkeiten, die sich auf die Erde als Ganzes bezögen. „Als Träger der Zukunftsentwicklung ist in einem Sturm und Drang aller Nationen eine neue tellurische Rasse in der Bildung begriffen“, die „Rasse des Europäers“, die dank der Errungenschaften der Dekadenz – der experimentellen Wissenschaft, der wissenschaftsbasierten Technik und der ‚Wirtschaftsgesamtverwaltung der Erde‘ – über einzigartige Mittel der Machtentfaltung verfügen werde. Die „Ebbe des Lebens“ erweise sich damit als „Ausgang neuen Schöpfertums“.152 Damit ist bereits angedeutet, worin Fischer das „Klassische“ am „klassischen Realismus“ sah. Klassisch war der „große Stil“, die „schlechthinnige Vollendung, […] die nicht gesteigert werden kann“.153 Dem aber entsprach einzig die Organisationsform des „Imperiums“, wie sie im Altertum prototypisch im Reich Alexanders des Großen und mehr noch im Imperium Romanum verwirklicht worden sei.154 Nietzsche, so Fischer in impliziter Frontstellung gegen Baeumler, „nimmt für Rom Stellung, für die europäische Metaphysik des klassischen Realismus gegen die Eschatologie, und er will mit dieser Stellungnahme, als erster im 19. Jahrhundert, das Lebenswerk und die Mission Goethes und Napoleons zum Triumph führen“.155 Nicht der auf den „Germanismus“ rekurrierende Imperialismus Baeumlers, auch nicht der auf dem Nationalstaat basierende Imperialismus der Alldeutschen oder der neuen Nationalisten meldete sich hier zu Wort, sondern ein Imperialismus, der zwar nominell den „irdisch-planetarischen Menschen“ zur Grundlage hatte, faktisch aber auf die Weltherrschaft der „europäischen Rasse“ zielte: „Eine Heimat ohne ‚Hinaus und Hinüber‘, eine in sich begrenzte Formenwelt klassischerdbejahenden Stiles ist unter den obwaltenden weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Verhältnissen nur erreichbar, wenn der Europäer die ganze Erde geschlossen beherrscht, wenn es ihm gelingt, diesem Herrschaftsgebiet seine Physiognomie einzugraben“.156

Die Zeichen dafür, daß dies gelingen könnte, standen 1931 freilich nicht gut. Und so war es denn wenigstens konsequent, wenn Fischer seinen grundsätzlichen Zweifeln an der Fähigkeit einzelner europäische Nationen, eine solche

151 Fischer,

Nietzsche Apostata, S. 284, 300, 104, 301, 100. Zum Aufstieg des Arbeitertums vgl. ebd., S. 224 ff., 255, 273 f. 152 Ebd., S. 210, 86 f., 264, 212. 153 Ebd., S. 120. 154 Vgl. ebd., S. 118, 74, 124, 172. 155 Ebd., S. 198. 156 Ebd., S. 118. Vgl. S. 124, 104.

200

IV. Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten

„europäisch-universelle Form“ zu bilden, in dem Augenblick Taten folgen ließ, als seine eigene Nation sich anschickte, den Kontinent zu unterwerfen.157 Im Sommer 1938 ließ er sich in Leipzig von seinen Lehrverpflichtungen entbinden und siedelte mit seiner Familie nach Norwegen über, ein Jahr später nach London.158

4 Neuen adel den ihr suchet Schon im Kaiserreich meldeten sich Vertreter einer Lesart zu Wort, die mit den beiden zuletzt skizzierten Deutungen gewisse Aspekte des Fortschrittsdenkens teilten, jedoch die damit verbundene Affirmation des Kollektivs unter Berufung auf Nietzsches Verteidigung des „Aristokratism“ gegen die ‚Herdentier-Ideale‘ der „Vaterländerei und des Nationalism“159 ablehnten. Da sich bei Nietzsche jedoch keine klare Auskunft darüber findet, ob der propagierte ‚neue Adel‘ mehr ein Produkt der Erziehung oder der Eugenik sein sollte, wundert es nicht, in der Rezeption auf unterschiedliche Versionen des angestrebten Neoaristokratismus zu stoßen. Mehr die pädagogische Seite betonten bereits im Kaiserreich einige Interpreten aus dem weiteren Umfeld des Kreises um Stefan George, wobei sie allerdings sowohl dessen fundamentalistische Einstellung zugunsten einer ‚weltfrömmigen‘, nationalistische und imperialistische Ziele bejahenden Haltung preisgaben als auch die Führungsschicht als ein compositum mixtum konzipierten. Hatte der ‚Meister‘ im Stern des Bundes den ‚neuen Adel‘ ausdrücklich nicht als „von schild und krone“ hergeleitet verstanden, so sprach sich der Historiker Kurt Breysig (1866–1940), der 1900 die Gedenkrede auf Nietzsche hielt, für die Schaffung einer neuständischen Ordnung aus, an deren Spitze neben dem ‚natürlichen Adel der Schaffenden‘ der ‚Adel von Blut und Erbe‘ stehen sollte.160 Ähnliche Impulse kamen aus der akademischen Philosophie, insbesondere derjenigen neukantianischer und neufichteanischer Ausrichtung. Bruno Bauch (1877–1942), ein Schüler von Rickert und Windelband, trug 1917 und 1921 eine elitäre Deutung

157  Hugo

Fischer: Politik und Metaphysik, in: Blätter für deutsche Philosophie 5, 1931/32, S. 270–291, 278. 158 Vgl. Gajek, Magister – Nigromontan – Schwarzenberg, S. 483 f.; Kiesel, Ernst Jünger, S. 427. 159 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, S. 65, 61. 160 Vgl. Kurt Breysig: Von Gegenwart und Zukunft des deutschen Menschen, Berlin 1912, S. 26. Zu Breysig vgl. Bernhard vom Brocke: Kurt Breysig. Geschichtswissenschaft zwischen Historismus und Soziologie, Lübeck und Hamburg 1971; Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln etc. 1997, S. 187 ff.; Hartmut Böhme: Universalistische Entgrenzungen und versatile Analogien in der Menschheitsgeschichte von Kurt Breysig, in: Wolfgang Hardtwig und Philipp Müller (Hrsg.), Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800–1933, Göttingen 2010, S. 173– 194.

4  Neuen adel den ihr suchet

201

Nietzsches vor161, die ein Pendant in Lenore Ripke-Kühns (1878–1955) Kriegsaufsätzen und ihrer Auseinandersetzung mit Bertram fand.162 Beide bewegten sich im Umkreis der Deutschen Philosophischen Gesellschaft, die die philosophisch interessierten Mitglieder der Fichte-Gesellschaft von 1914 zusammenführen sollte.163 Wie wenig durchdacht hier allerdings vieles war, zeigt sich am deutlichsten bei den Bemühungen, die im Umkreis des 1924 gegründeten Deutschen Herrenklubs zur Schaffung einer neuen Oberschicht unternommen wurden. Die vom Gründer des Klubs, Heinrich von Gleichen (1889–1959), angesteuerte Lösung nahm sowohl auf persönliche Qualitäten wie Intelligenz und Führungskraft Bezug als auch auf „das edlere Blut der nordischen Rasse“, das im deutschen Volk noch in besonderer Konzentration vorhanden sein sollte.164 Edgar Julius Jung (1894– 1934), in der Endphase der Republik ein Berater Franz von Papens, unterschied zwischen höher- und minderwertigen Rassen und wollte seinen neuen Adel selbstredend nur aus den ersteren rekrutieren.165 Obwohl er sich häufig auf Nietzsche bezog, stützte er sich aber gerade für sein Hauptziel: die Schaffung einer neuen Herrenschicht, nicht auf ihn. Hans Blüher (1888–1955), ebenfalls Verfechter eines ‚radikalen Aristokratismus‘166, mischte nietzscheanische Motive mit gobinistischen, wenn er einerseits den neuen Adel nicht im genealogischen Sinne

161 Vgl. Bruno Bauch: Friedrich Nietzsche und der deutsche Idealismus, in: Der Panther 5, 1917, S. 496–519; Friedrich Nietzsche und das aristokratische Ideal, in: Max Oehler (Hrsg.), Den Manen Friedrich Nietzsches, München 1921, S. 1–18. Zu Bauch vgl. Sven Schlotter: Die Totalität der Kultur. Philosophisches Denken und politisches Handeln bei Bruno Bauch, Würzburg 2004. Daß in Bauchs Kriegspublizistik eine „Kündigung der inklusiven Gemeinschaftsideologie der Ideen von 1914“ vorliegt, ist richtig gesehen bei Matthias Schöning: Bruno Bauchs kulturphilosophische Radikalisierung des Kriegsnationalismus. Ein Bruchstück zur Ideenwende von 1916, in: Kant-Studien 99, 2008, S. 200–219, 216, wird dort allerdings auf eine „Verengung des Kulturnationalismus durch völkische Unterfütterung“ bezogen (S. 207). Man muß die antisemitische Ausrichtung von Bauchs Konzept nicht leugnen, wenn man die angesprochene Verengung des Nationalismus weniger hierauf als auf neoaristokratische Ambitionen zurückführt. 162 Vgl. Lenore Ripke-Kühn: Nietzsches Kulturanschauung, in: Der Panther 3, 1915, S. 420–456; Nietzsches Willenserziehung, ebd. 4, 1917, S. 519–535; Nietzsche, der ewige Deutsche. Zu Ernst Bertrams ‚Nietzsche. Versuch einer Weltanschauung‘, in: Deutschlands Erneuerung 3, 1919, S. 420–424. Näher zu dieser Autorin Ina Schmidt: Geschlechterpolitik, Religion, Nationalismus und Antisemitismus im Leben der Publizistin und Philosophin Lenore Kühn, in: Recherches Germaniques, No. 32, 2002, S. 69–93. Über Bertram vgl. im nächsten Abschnitt. 163 Vgl. Tilitzki, Universitätsphilosophie, Bd. 1, S. 486 ff. 164 Heinrich Frhr. von Gleichen-Rußwurm: Adel, eine politische Forderung, in: Preußische Jahrbücher 197, 1924, S. 131–145, 143. 165 Vgl. Edgar Julius Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen [1927], Berlin 19303, S. 126. Zu Jung vgl. Alexandra Gerstner: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008, S. 88 ff., 464 ff.; Roshan Magub: Edgar Julius Jung. Right-Wing Enemy of the Nazis. A Political Biography, Rochester, NY 2017. 166 Zu Person und Werk bis 1934 vgl. Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934), Köln etc. 2008; zur Nietzsche-Rezeption Blühers vgl. Niemeyer, Die dunklen Seiten der Jugendbewegung, S. 66 ff.

202

IV. Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten

verstanden wissen wollte, sondern als Ergebnis eines Sprungs, eines Neuanfangs der Natur167, andererseits von einer ‚Primärrasse‘ sprach, die seit Anbeginn der Schöpfung existieren und ihre herausragenden Qualitäten auf dem Vererbungswege weitergeben sollte, unter besonderer Bevorzugung der ‚germanischen Rassenart‘ und hier speziell der Deutschen.168 Fügt man hinzu, daß in diesem Kreis kaum jemand die Denkfigur übernehmen mochte, die für Nietzsches Projekt charakteristisch war: die Vorstellung, daß die décadence nur mit ihren eigenen Mitteln überwunden werden könne, daß die Veredelung nur zu erreichen sei durch eine Steigerung der Entartung – was ja immer auch hieß: durch ein forciertes Vorantreiben der Rassenmischung169 – dann wird deutlich, daß diese Strömung wohl wichtige Impulse von Nietzsche empfing, jedoch mitnichten eine Form des Nietzscheanismus darstellte. Das gilt auch für die sogenannten Sozialdarwinisten, die zwar gerne von ‚Sozialaristokratie‘ sprachen, diese jedoch gerade nicht ständisch-kastenmäßig institutionalisieren wollten und auch in „rassenpolitischer“ Hinsicht mehr nationalistische als neoaristokratische Ziele vertraten.170 Zu den Wortführern dieser Richtung gehörte Alexander Tille (1866–1912), nach der Jahrhundertwende ein Funktionär verschiedener Industriellenverbände und ab 1904 Vorstandsmitglied des Alldeutschen Verbandes.171 Tille präsentierte Nietzsche als einen „Anwalt des Individualismus“ und einer „grösseren Freiheit des Handelns […], als sie die sittliche Anschauung der Gegenwart gestattet.“172 Die von ihm

167 Vgl.

Hans Blüher: In medias res. Grundbemerkungen zum Menschen, Jena 1919, S. 37, 5. Seine Version der Lehre vom Übermenschen hat Blüher auf folgende Weise ausgedrückt: Man könne durchaus vermuten, „daß die Natur, indem sie die Tonleiter der Wesen hinaufstieg und beim Menschen anlangte, danach trachtet, auch ihn zu übertönen, und es ist keine Frage, daß sie sich dann jene in der Metanoia Stehenden zum Grundthema nimmt. Es würde also eine plötzliche neue Geburt erfolgen, durch welche die übrigen Gattungswesen gänzlich antiquiert würden und ihre Lebensfähigkeit verlören“ (ebd., S. 61). 168 Vgl. Hans Blüher: Die Nachfolge Platons. Eine akademische Sache, Prien 1920, S. 29 f., 77; Die Aristie des Jesus von Nazareth. Philosophische Grundlegung der Lehre und der Erscheinung Christi, Prien 1921, S. 15 ff. 169 Vgl. Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur, S. 139. 170  Vgl. Thomas Pickhardt: Sozialdarwinismus. Ein Panoramabild deutscher bevölkerungskundlicher Fachzeitschriften vor dem Ersten Weltkrieg, in: Historische Mitteilungen 10, 1997, S. 14–55; Markus Vogt: Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologisch-ethische Aspekte der Evolutionstheorie, Freiburg etc. 1997; Kurt Bayertz: Darwinismus als Politik. Zur Genese des Sozialdarwinismus in Deutschland 1860–1900, in: Ernst Aeschl u. a. (Hrsg.), Welträtsel und Lebenswunder. Ernst Haeckel – Werk, Wirkungen, Folgen, Linz 1998, S. 229–285; Uwe Puschner: Sozialdarwinismus als wissenschaftliches und politisches Programm, in: Gangolf Hübinger (Hrsg.), Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890–1970), München 2014, S. 99–121. 171  Vgl. Wilfried Schungel: Alexander Tille (1866–1912). Leben und Ideen eines Sozialdarwinisten, Husum 1980; Becker, Sozialdarwinismus, S. 426 ff.; Peters, Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkriegs, S. 152 ff. 172 Alexander Tille: Von Darwin bis Nietzsche, Leipzig 1895, S. 210.

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203

verkündete Herrenmoral mit ihrem Akzent auf „positive Leistungsfähigkeit“ sei wie geschaffen für die jetzt beginnende „unabsehbare Periode des unbegrenzten Individualismus“ und des „aufsteigenden Lebens“, stelle sie doch an jeden einzelnen die „Forderung der Selbstvervollkommnung“, der nach der negativen Seite die „erbarmungslose[n] Ausscheidung des Schlechtesten“ entspreche.173 Wolle man ‚Überdurchschnittsmenschen‘, müsse man hart sein gegen die ‚Unterdurchschnittsmenschen‘, die es, genau wie ihr Pendant, in allen Schichten gebe. Die herkömmlichen ständischen Schranken seien deshalb aufzuheben und durch eine offene Konkurrenz aller mit allen zu ersetzen, aus der sich eine ‚Sozialaristokratie‘ herausbilden werde – ein Gedanke, der bei Nietzsche wohl angelegt, aber nicht ausgeführt sei, weil seinem aristokratischen Ideal noch „ein Schatten von Feudalismus“ anhafte – dies übrigens nicht bloß aufgrund der Vernachlässigung des Leistungsprinzips, sondern auch wegen seiner allzu kosmopolitischen Einstellung, die die Unhintergehbarkeit der Nationalität und des „Volksdienst[es]“ ignoriere.174 Politisch ließ sich Tilles Neoaristokratismus auf weite Strecken mit dem alten Nationalismus mit seinen nach innen wie nach außen aggressiven Zügen vereinbaren. Nach innen lautete seine Parole „Konservativ und Altliberal gegen Demokratisch“, was sich zum einen in der Forderung nach einem Pluralstimmenwahlrecht ausdrückte, das den ‚Überdurchschnittsmenschen‘ mehr Macht und Einfluß einräumen sollte als den übrigen, zum andern in einer Attacke auf die im Kaiserreich wie immer auch mühsam in Gang kommende Sozialgesetzgebung, der vorgehalten wurde, durch den Schutz von Alten und Kranken die Degeneration zu fördern.175 Nach außen entsprach dem die Forderung, die Landesgrenzen durch Volksgrenzen zu ersetzen, um den wachsenden Bevölkerungen (zu denen Tille in erster Linie die deutsche zählte) den entsprechenden Raum zu sichern, notfalls um den Preis einer Expropriation und Vertreibung stagnierender Populationen.176 Für diese Ideen stand Tille nicht nur das Forum der Verbände zur Verfügung, deren Mitglied er war, sondern auch eine Zeitschrift wie Maximilian Hardens Die Zukunft, in der er gut drei Dutzend Aufsätze veröffentlichte.177 Die Rezeption dieser Gedankengänge ließe sich leicht bis in verschiedene Teilöffentlichkeiten verfolgen, allen voran: die rassenhygienische Bewegung, die sich seit den 90er Jahren formierte und sich 1904/05 eine eigene Organisation und ein eigenes Medium gab: die Gesellschaft für Rassenhygiene und das Archiv

173 Ebd.,

S. 211, 208, 212, 220, 232. S. 234, 237, 239. 175 Vgl. Peters, Der Alldeutsche Verband, S. 153; Schungel, Alexander Tille, S. 23 ff. 176 Vgl. Becker, Sozialdarwinismus, S. 431. 177 Vgl. Hans Dieter Hellige: Rathenau und Harden in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs. Eine sozialgeschichtliche-biographische Studie zur Entstehung neokonservativer Positionen bei Unternehmern und Intellektuellen, in: Walther Rathenau, Maximilian Harden, Briefwechsel 1897–1920, hrsg. von Hans Dieter Hellige. Walther Rathenau-Gesamtausgabe Bd. 6, München und Heidelberg 1983, S. 15–299, 113. 174 Ebd.,

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IV. Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten

für Rassen- und Gesellschafts-Biologie (ARGB).178 Da dies jedoch nur zu Wiederholungen führen würde und obendrein der Nietzsche-Bezug meist deutlich schwächer als etwa bei Tille ist179, erscheint es sinnvoller, die Aufmerksamkeit auf eine Zuspitzung dieses Diskurses zu richten, die sich ansatzweise schon im Kaiserreich zeigte, aber erst in der Weimarer Republik zu voller Entfaltung gelangte und im Ergebnis den alten Nationalismus nach der Seite der Exklusion überbot. In seiner mehrfach umgearbeiteten Schrift Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker, die lange als das Meisterwerk der deutschen Rassenhygiene galt, wies Wilhelm Schallmayer (1857–1919) darauf hin, daß der Begriff „Rasse“ in einem doppelten Sinne gebraucht und zur Legitimierung zweier gänzlich verschiedener Strategien verwendet werde. Verstünden die einen darunter die Gesamtqualität der Erbanlagen irgendwelcher Personen, „gewöhnlich im Sinne von Rassetüchtigkeit“, so die anderen einen Gruppenbegriff, der sich unterschiedslos auf alle zu einer konkreten Rasse gehörenden Individuen beziehe und „sowohl die rassetüchtigen als auch die rasseuntüchtigen“ Exemplare umfasse. Soweit es um die Veredelung dieses zuletzt genannten Ensembles gehe, habe man es mit „Nationaleugenik oder Volkseugenik“ zu tun, wie Schallmayer die Bezeichnungen „Rassedienst“ oder „Rassenhygiene“ zu übersetzen vorschlug. Davon strikt zu unterscheiden sei jene vor allem von „Anthroposoziologen“ wie Lapouge, Woltmann oder Wilser vertretene „Rassenpolitik“, derzufolge „der Rassewert eines jeden Volkes und innerhalb der Völker der Rassewert jeder Bevölkerungsgruppe sowie auch jeder einzelnen Person genau nach deren Gehalt an ‚nordischen‘, d. h. urgermanischen Rasseelementen zu bemessen sein soll.“ Gehe es im ersten Fall darum, sowohl die Qualität des Volkskörpers zu erhöhen als auch die Quantität seiner Reproduktion (z. B. durch Ausbau der öffentlichen

178 Gute Überblicke bieten Peter E. Becker: Zur Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich, Stuttgart und New York 1988; Sheila F. Weiss: Die rassenhygienische Bewegung in Deutschland, 1904–1933, in: Christian Pross und Götz Aly (Hrsg.), Der Wert des Menschen, Berlin 1989, S. 153–199; Peter Weingart u. a.: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt 1992; Katharina Graetz: „Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf“. Nietzsche und die Rassenhygiene, in: Sebastian Kaufmann und Markus Winkler (Hrsg), Nietzsche, das ‚Barbarische‘ und die ‚Rasse‘, Berlin und Boston 2022, S. 195–220. 179 Bei Alfred Ploetz, dem Initiator dieser Bewegung, beschränkt sich dieser Bezug auf obiter dicta. Etwas häufiger auf Nietzsche zu sprechen kam Fritz Lenz, neben Ploetz Schriftleiter des ARGB und 1923 erster Inhaber eines Lehrstuhls für Rassenhygiene in Deutschland an der Universität München. Galt sein Interesse zunächst dem hellenisch-kynischen Denker unserer Zeit, der in der Geburt der Tragödie die orgiastische Zügellosigkeit, den von allen Fesseln befreiten Lebenswillen der Rasse gefeiert habe (Rassewertung in der hellenischen Philosophie I, in: ARGB 10, 1913, S. 628–644, 643), so später dem „widersprüchlichen Denker, der einerseits ein Verkünder des äußersten Individualismus, andererseits sein Überwinder war“ (Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, Bd. 2, München 1931, S. 549). Auch unter Lenz hielt sich der Nietzsche-Bezug im ARGB jedoch sehr in Grenzen. Die einzige größere Studie stammt von einem Studienrat aus Langensalza, E. Kirchner: Nietzsche im Lichte der Rassenhygiene, in: ARGB 17, 1925, S. 379–396.

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Gesundheitspflege), so im Fall der Rassenpolitik um die Reinzucht und Ausbreitung bestimmter Rassenelemente auf Kosten aller übrigen, ein Vorhaben, das angesichts der fortgeschrittenen Rassenmischung in diesem Teil der Welt nur durch blutige Kriege nach innen und außen zu verwirklichen sei.180 Schallmayer würdigte Nietzsche zwar als ‚tiefgründigen Geist‘, distanzierte sich jedoch von dessen ‚hyperaristokratischer‘ Neigung, die ihn dazu verleitet habe, „sein Augenmerk so einseitig nur auf die Entfaltung besonders hochgearteter Individuen“ zu richten, „daß er für die Bedeutung der sozialen Kräfte nahezu blind zu sein scheint“.181 Auch Hans F. K. Günther (1891–1968), dessen Schriften nach dem Ersten Weltkrieg erschienen, warnte ausdrücklich vor neuen Kriegen, da durch sie gerade das in seinen Augen wertvollste Blut, das ‚nordische‘, vernichtetet werde. Dennoch lieferte gerade seine Version der Rassenlehre dem radikalsten Flügel des Nationalsozialismus die Legitimationsideologie für ein Doppelprogramm, das auf die Vernichtung ‚lebensunwerten‘ Lebens einerseits, die Vermehrung und Stärkung der ‚nordischen‘ Rasse andererseits zielte.182 Daß sich Nietzsche nicht ohne weiteres auf diese Linie bringen ließ, war Günther dabei durchaus bewußt, nahm er an dessen Schriften zunächst doch vor allem „den Zeitgenossen der Symbolisten und derjenigen europäischen Zerfallsmenschen“ wahr, „von denen sich Nietzsche so leidenschaftlich loslösen wollte.“183 Noch in der um ein differenzierteres Urteil bemühten Rassenkunde des deutschen Volkes betonte er stärker die Nietzsche gesetzten Schranken als das von ihm ausgehende Anregungspotential und fand sich nur zu einem Irrealis bereit: „Hätte Nietzsche nicht eine Schreibweise gepflegt, der gegenüber fast nur ausgesprochene Zuneigung oder ausgesprochene Abneigung möglich zu sein scheint, so wäre er, dem durch Richard Wagner mancher Gedanke Gobineaus zugekommen ist, vielleicht einer der einflußreichsten Erwecker des rassischen Ertüchtigungsgedankens geworden.“184

180 Vgl. Wilhelm Schallmayer: Vererbung und Auslese in ihrer soziologischen und politischen Bedeutung [1903], Jena 19102, S. 375, 384, 375. Näher zu dieser Richtung: Erhard Stölting: Die anthroposoziologische Schule. Gestalt und Zusammenhänge eines wissenschaftlichen Institutionalisierungsversuchs, in: Carsten Klingemann (Hrsg.), Rassenmythos und Sozialwissenschaften in Deutschland, Opladen 1987, S. 130–171. 181 Schallmayer, Vererbung und Auslese, S. 342. 182  Vgl. Hans-Jürgen Lutzhöft: Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920–1940, Stuttgart 1971; Elvira Weisenburger: Der „Rassepapst“. Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde, in: Kissener und Scholtyseck (Hrsg.), Die Führer der Provinz, S. 161–199; Uwe Hoßfeld: Die Jenaer Jahre des ‚Rasse-Günther‘ von 1930 bis 1935, in: Medizinhistorisches Journal 34, 1999, S. 47–103; Christopher M. Hutton: Race and the Third Reich, Cambridge und Malden 2005, S. 35 ff.; Richard T. Gray: About Face. German Physiognomic Thought from Lavater to Auschwitz, Detroit 2004, S. 219 ff.; Thomas Etzemüller: Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen. Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt, Bielefeld 2015 sowie mein Buch: Die Nordische Bewegung in der Weimarer Republik. 183 Hans F. K. Günther: Ritter, Tod und Teufel. Der heldische Gedanke, München 1920, S. 58. 184  Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 397. Daß Günther selbst eine deutliche Abneigung gegen Nietzsches Schreibweise empfand, zeigen Bemerkungen an anderer Stelle, die

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Im gleichen Maße allerdings, in dem sich Günther aus einem erfolgreichen Buchautor in den Chefideologen einer als ‚nordisch‘ ausgeflaggten Bewegung verwandelte, verstärkte sich sein Bestreben, die neu gewonnene Position auch durch Nietzsche zu legitimieren, um der Bewegung dadurch weitere Anhänger zuzuführen. Wies das Register zur Rassenkunde des deutschen Volkes nur drei Einträge zu Nietzsche auf, und das bei einem Buch von über 500 Seiten, so waren es im Manifest der Nordischen Bewegung elf auf 147 Seiten.185 Zwar hieß es auch dort noch, Nietzsches Platz sei zwischen Darwin und Mendel, was mit Blick auf den ersteren seine Leistung, mit Blick auf den letzteren seine Grenzen erkläre, doch fügte Günther sogleich eine Würdigung der ebenso tiefen wie unvergänglichen „Erkenntnis Nietzsches von einer umsichgreifenden Verwesung im Abendlande“ und seines damit verbundenen Aufrufs zur „Großen Gesundheit“ hinzu. „Je mehr die Erinnerung an das Geschrei um Nietzsche schwindet, desto mehr hebt sich die Gestalt Nietzsches mächtig vom Hintergrund eines auflösenden Jahrhunderts ab, desto mehr erscheint er über eine Leere im deutschen Geistesleben hinweg als der nächste eigentliche Schöpferische nach Friedrich Hebbel.“ Gegenüber den vielen vermeintlichen Fortschritten und all der Bildung des Jahrhunderts habe Nietzsche als erster „die Frage nach dem gesunden Leib und der gesunden Seele des Menschen wieder gestellt“.186 Einer schon verzweifelnden Nachkriegsjugend habe er neue Hoffnung gegeben mit dem „Gedanke[n] eines Neuen Adels“ und seiner Forderung nach der Erzeugung tüchtiger Kinder.187 Selbst wenn er nach seiner Abkehr von Wagner die Aufgabe nicht mehr zu erkennen vermochte, welche darin bestehe, „durch Rassenpflege aus dem ‚Mischmasch‘ wieder hinauszukommen zu einem reingestalteten Menschenbild“, habe er doch mit seiner ‚blonden Bestie‘ den Nordischen Gedanken, wenn auch in verzerrter Form, gestreift. Seine Charakterisierung der vornehmen Seele treffe „ganz das Wesen nordischer Edelmannsart“, sein Verständnis der Ehe als eines ‚Sichhinaufpflanzens‘ das Ideal der edlen, nordischen Ehe.188 Schließlich könne auch die von Nietzsche ausgegebene Parole ‚Was fällt, das soll man auch noch stoßen‘, als Grundsatz einer Gesetzgebung gelten, die in ihrem „unerbittlichem Geist zur Ertüchtigung eines Volkes mehr beitrüge als eine Gesetzgebung, die immer nur der Pflege des Einzelmenschen und gar des Einzelmenschen mit schlechten Erbanlagen dient“.189

diesen Stil der „dinarischen Seele“ mit ihrem „Drang zu Worthäufungen und bauschiger Redeweise“ zuordnen und als „geschmackswidrig“ verurteilen: Rasse und Stil, S. 88 ff. 185 Günther, Der Nordische Gedanke unter den Deutschen, S. 146. 186 Ebd., S. 16 f. 187 Ebd., S. 23. 188 Ebd., S. 105 f.; Hans F. K. Günther: Adel und Rasse, München 1926, S. 88; Platon als Hüter des Lebens. Platons Zucht- und Erziehungs-Gedanken und deren Bedeutung für die Gegenwart, München 1928, S. 26. 189 Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 406; vgl. Rassenkunde Europas, München [1925], 19262, S. 200.

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Es ist indes nicht zu übersehen, daß sich diese Nietzsche-Aneignung von allen in diesem Abschnitt behandelten am weitesten von ihrem Bezugspunkt entfernt. Gewiß nicht so weit, daß man von einer gänzlich unberechtigten Inanspruchnahme sprechen müßte. In der Forderung nach einem neuen Adel lag Günther durchaus auf der Linie Nietzsches, wie auch in der Überzeugung, daß dieser nicht allein durch Erziehung und Schulung hervorzubringen sei. Wahrer Adel, das galt schon für Nietzsche, war keine bloße Elite, die sich ständig neu zu bewähren und zu legitimieren hatte. Was ihn ausmachte, war vielmehr eine Qualität des Blutes, der „leibliche(n) Veradlichung“, welche allein die „Fortdauer des Edlen durch Zeugung“ verbürgte190: „Es giebt nur Geburtsadel, nur Geblütsadel. (Ich rede hier nicht vom Wörtchen ‚von‘ und dem Gothaischen Kalender: Einschaltung für Esel.) Wo von ‚Aristokraten des Geistes‘ geredet wird, da fehlt es zumeist nicht an Gründen, etwas zu verheimlichen; es ist bekanntermaaßen ein Leib-Wort unter ehrgeizigen Juden. Geist allein nämlich adelt nicht; vielmehr bedarf es erst etwas, das den Geist adelt. – Wessen bedarf es denn dazu? Des Geblüts“.191 Während Nietzsche jedoch auf der Folie lamarckistischer Prämissen argumentierte, die neben biologischen Faktoren auch der Geschichte Rechnung trugen, insofern sie die Möglichkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften berücksichtigten192, spiegelte sich nach Günther in der ständischen Gliederung unmittelbar und nur Natur als ein Gefüge von ursprünglich reinen Rassen, von denen die einen zum Herrschen, die anderen zum Dienen berufen seien. Solche reinen Rassen sollte es auch in der Gegenwart noch geben, in Deutschland z. B. in Gestalt der nordischen Rasse, deren Anteil an der Bevölkerung Günther auf 6–8 % veranschlagte, ferner, mit je etwa 3 %, der ostischen und der dinarischen Rasse, um nur die wichtigsten zu nennen.193 Problematisch war für Günther, darin ganz Gobineau verpflichtet, die zunehmende Rassenmischung, die zu einer fortschreitenden Verdünnung des reinen Blutes, damit aber auch der kulturschöpferischen Qualitäten führe, wie sie nicht nur, aber vor allem der nordischen Rasse eigen sein sollten. Anders als Gobineau hielt Günther diesen Vorgang jedoch nicht für irreversibel. Man müsse bloß bei den „Nordischen“ das Bewußtsein für die Schädlichkeit von Mesalliancen in rassischer Hinsicht sowie für die Notwendigkeit einer Steigerung ihrer Fruchtbarkeitsrate wecken, um den Niedergang zu stoppen und wieder zu einer Sozialordnung zu gelangen, in der die zum Herrschen Geborenen tatsächlich herrschten – ein Konzept, das mit seinem Akzent auf Stratifikation dem Trend der gesellschaftlichen Entwicklung zuwider lief, dies allerdings mit einer affirmativen Einstellung gegenüber der wissenschaftlichen und technischen Rationalisierung verband.

190 Nietzsche,

Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, S. 224. S. 678. 192 Vgl. Cancik und Cancik-Lindemaier, Philolog und Kultfigur, S. 94, 96; Robert Bernasconi: Nietzsche as a Philosopher of Racialized Breeding, in: Naomi Zack (Hrsg.), The Oxford Handbook of Philosophy and Race, Oxford 2017, S. 54–64. 193 Vgl. Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 208 f. 191 Ebd.,

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IV. Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten

Für Nietzsche dagegen waren „reine“ Rassen nicht etwas Vorhandenes, an das man einfach anknüpfen konnte. Auch wenn sein Verständnis von Rasse eine erhebliche Schwingungsweite aufwies194, dominieren doch die Passagen, die im eigentlichen Wortsinne „biopolitisch“ sind, insofern sie eine Arbeit am biologischen Material postulieren und reine Rassen als etwas Herstellbares präsentieren. So heißt es in der Morgenröte unter dem Titel „Reinigung der Rasse“: „Es giebt wahrscheinlich keine reinen, sondern nur reingewordene Rassen, und diese in grosser Seltenheit […] Die Reinheit ist das letzte Resultat von zahllosen Anpassungen, Einsaugungen und Ausscheidungen, und der Fortschritt zur Reinheit zeigt sich darin, dass die in einer Rasse vorhandene Kraft sich immer mehr auf einzelne ausgewählte Functionen beschränkt, während sie vordem zu viel und oft Widersprechendes zu besorgen hatte: […] wesshalb reingewordene Rassen immer auch stärker und schöner geworden sind“.195 Als Mittel dazu empfahl der Galton-Leser Nietzsche die auch von Günther geschätzten Methoden der Eugenik196, vor allem aber eine Einstellung, die Rassenmischung, auch in Gestalt von „Entartung“, nicht einfach als Niedergang, sondern als unverzichtbare Bedingung des Fortschritts, der „Veredelung“ begriff.197 „Man möchte fast glauben, daß, wenn es endlich doch so etwas geben sollte, wie ‚deutschen Geist‘, er erst durch Entdeutschung, ich meine durch Mischung mit ausländischem Blut ermöglicht worden ist. Wer rechnet nach, was den Slaven oder den Kelten oder den Juden für die Vergeistigung Deutschlands alles verdankt wird! Am wichtigsten aber mag die Blut-Mischung selber gewesen sein, indem sie im gleichen M[enschen] verschiedene Instinkte und nicht immer nur ‚zwei sondern zwanzig Seelen‘ in Eine Brust anpflanzte, jene ungeheure BlutVerderbniß der Rasse, welche in Europa nicht ihres Gleichen hat und endlich aus dem Deutschen ein alles verstehendes, alles nachfühlendes und sich aneignendes Volk der Mitte, der Vermittlung gemacht hat – eine Ferment-Rasse, bei der nunmehr ‚kein Ding unmöglich ist‘.“198 Daß auch eine „Ferment-Rasse“ immer noch Rasse und daher den Einwänden ausgesetzt ist, die gegen den Rassendiskurs insgesamt zu erheben sind, kann hier nicht weiter vertieft werden. Die Feststellung muß genügen, daß sie nicht in das Konzept Günthers paßt, das auf Eindämmung bzw. Revision der „BlutMischung“ angelegt ist. Das haben offenbar andere Vertreter der „Nordischen Bewegung“ besser verstanden als Günther, der mit seinen Bemühungen um eine Eingemeindung Nietzsches denn auch weitgehend allein geblieben ist. Ludwig Ferdinand Clauß (1892–1974) etwa erwähnte in seinem Erstlingswerk nur kurz

194 Die

Forschung hat rund zweihundert verschiedene Bedeutungen ausgemacht, die sich bei Nietzsche feststellen lassen: vgl. Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, S. 29, 426. 195 Nietzsche, Morgenröthe, KSA 3, S. 213 f. 196 Vgl. Marie-Luise Haase: Friedrich Nietzsche liest Francis Galton, in: Nietzsche-Studien 18, 1989, S. 633–658. 197 Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 187 ff. 198 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, S. 702 f.

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die Geburt der Tragödie, um sich jedoch sogleich von ihr abzusetzen199; in seinen folgenden Büchern ignorierte er Nietzsche ganz.200 In der – soweit ich sehe – ausführlichsten Nietzsche-Deutung, die die Nordische Bewegung hervorgebracht hat, den Schriften des in Nürnberg lebenden Karl Kynast, wird die Trennungslinie besonders scharf gezogen und gar zu einer entschiedenen „Kampfstellung gegen Nietzsche“ zugespitzt. Schon die Geburt der Tragödie sei eine „von irrigen Überklugheiten strotzende Untersuchung“, die „Verherrlichung einer Religion von Wilden, einer schlechthin barbarischen Weltansicht“, von der Nietzsche auch später nicht ablassen wollte und letztlich auch nicht ablassen konnte, sei er doch „slawischen Blutes“ gewesen. „Nietzsches letzte ‚Instinkte‘ gehörten Asien; er ist in mannigfacher Hinsicht der hervorstechendste Vertreter jenes ‚Europäertums‘, das darauf abzielt, Europa zu zerstören.“201

5 Nietzsche in völkischer Sicht Die völkische Bewegung, um deren Nietzsche-Bild es im Folgenden gehen soll, wird oft mit deren neopaganem Flügel identifiziert, wie dies schon in der Weimarer Republik bei den um Abgrenzung bemühten Nationalsozialisten zu beobachten war. Aber diese neopagane Strömung stellte nur eine verschwindende Minderheit unter den Völkischen dar, die in der Mehrheit ‚deutsch-christlich‘ ausgerichtet waren.202 Überdies fiel ihre Nietzsche-Rezeption durchaus uneinheitlich aus, fanden sich

199 Vgl. Ludwig Ferdinand Clauß: Die nordische Seele. Artung, Prägung, Ausdruck, Halle 1923, S. 216. 200 Zu Person und Werk vgl. Peter Weingart: Doppel-Leben. Ludwig Ferdinand Clauss. Zwischen Rassenforschung und Widerstand, Frankfurt und New York 1995; Gray, About Face, S. 273 ff.; Robert Bernasconi: Ludwig Ferdinand Clauss and Racialization, in: Lester Embree und Thomas Nenon (Hrsg.), Husserl’s Ideen. Contributions to Phenomenology 66, Dordrecht etc. 2013, S. 55–71; Andrzej Gniazdowski: Stil und sein Mensch. Der ‚tolerante Rassismus‘ Ludwig Ferdinand Clauss’, in: Orbis Idearum 2, 2014, S. 113–126. 201 Karl Kynast: Apollon und Dionysos. Nordisches und Unnordisches innerhalb der Religion der Griechen. Eine rassenkundliche Untersuchung, München 1927, S. 5, 42, 100 ff. Zuvor bereits: Der Fall Nietzsche im Lichte rassenkundlicher Betrachtung, in: Die Sonne 2, 1925, Nr. 18, Mai, S. 533–540; Zum „Fall Nietzsche“, ebd., F. 21, August, S. 722–728. Kynasts Texte wimmeln von herabsetzenden Bemerkungen über Juden („Physiognomie des Fauns oder des Mephisto“), Italiener („unreinlich“) oder „Südländer“ schlechthin („grausam“): vgl. Apollon und Dionysos, S. 24, 87, 71. 202 So rechnet Heinz Bartsch: Die Wirklichkeitsmacht der Allgemeinen Deutschen Glaubensbewegung der Gegenwart, Phil. Diss. Leipzig 1938, S. 15, für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nur mit etwa 200 Mitgliedern; Vgl. Uwe Puschner schätzt ihre Zahl auf rund tausend: vgl. Deutschchristentum. Eine völkisch-christliche Weltanschauungsreligion, in: Richard Faber und Gesine Palmer (Hrsg.), Der Protestantismus – Ideologie, Konfession oder Kultur? Würzburg 2003, S. 93–122, 99; Weltanschauung und Religion – Religion und Weltanschauung. Ideologie und Formen völkischer Religion, in: zeitenblicke 5, 2006, Nr.1 (http://www.zeitenblicke. de/2006/1Puschner/dippArticle.pdf).

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IV. Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten

in ihren Reihen doch sowohl Anhänger als auch Gegner des Philosophen, darüber hinaus auch solche, in deren Weltbild Nietzsche keine Rolle spielte. Zu den letzteren gehören die Anhänger der von Guido von List inaugurierten ‚ariosophischen Bewegung‘203, aber auch die deutsch- und germanisch-gläubigen Gemeinschaften um Otto Sigfrid Reuter, Ludwig Fahrenkrog und Ernst Hunkel, die viel zu sehr mit der Ausarbeitung verstiegener Rituale und unzeitgemäßer Siedlungsprojekte beschäftigt waren, um sich ernsthaft auf das Studium anspruchsvollerer Werke einzulassen.204 Eine gewisse Ausnahme bildete allenfalls Wilhelm Schwaner (1863–1944), der von der für ein undogmatisches Christentum eintretenden Egidy-Bewegung herkam205, 1912 mit Fahrenkrog die neopagane Deutsch-religiöse Glaubensgemeinschaft gründete, sich von dieser jedoch schon bald wieder mit der Begründung trennte, daß in einer Religion „Krist nicht fehlen“ dürfe.206 Diese Unsicherheit in der Orientierung spiegelte sich in seiner Stellung zu Nietzsche. War dieser in den ersten drei Auflagen von Schwaners GermanenBibel noch mit verschiedenen Texten vertreten, worin seine andernorts dargelegte Einstufung in die Gruppe der „Menschheitserzieher“ ihren Niederschlag fand207, so verschwand sein Name in der vierten und fünften Auflage (1918, 1920), um in der sechsten Auflage (1934) wieder aufzutauchen.208 Eine deutliche Abwertung erfuhr Nietzsche in diesen Kreisen nach dem Ersten Weltkrieg, wie hier nur kurz angedeutet sei. In einem Vergleich mit Stefan George, den der spätere Mitbegründer der Nordischen Glaubensgemeinschaft Wilhelm Kusserow (1901–1983) in seiner 1926 bei Max Dessoir verfaßten Dissertation vornahm, attackierte er das von Nietzsche entworfene Ideal des Übermenschen, das zwischen utopistischen und naturwissenschaftlichen Zügen schwanke und in seiner individualistischen Ausrichtung im 19. Jahrhundert steckengeblieben sei.209 Noch weiter ging Bernhard Kummer (1897–1962), der Nietzsche in einer Artikelserie im Reichswart wohl Genialität bescheinigte, jedoch eine lange Liste von

203 Vgl.

Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz 1997. Daniel Junker: Gott in uns! Die Germanische Glaubens-Gemeinschaft – ein Beitrag zur Geschichte völkischer Religiosität in der Weimarer Republik, Hamburg 2002. 205 Zu dieser Bewegung vgl. Mosse, Die völkische Revolution, S. 56 ff. 206 Zit. n. Puschner, Weltanschauung und Religion, . 207 Vgl. Wilhelm Schwaner: Germanen-Bibel. Aus den heiligen Schriften germanischer Völker, Berlin 1904, S. 221–227; Christoph Carstensen, Der Volkserzieher. Eine historisch-kritische Untersuchung über die Volkserzieherbewegung Wilhelm Schwaners, Würzburg 1941, S. 35; Christopher König: „Sonnengeistigkeit, Wald- und Freiheitsweben“. Die Zeitschrift Der Volkserzieher im Kaiserreich, in: Michel Grunewald und Uwe Puschner i.Z.m. Hans Manfred Bock (Hrsg.), Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern etc. 2008, S. 163–183. 208 Vgl. Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum, 3 Bde, Berlin und Boston. Bd. 2: Vom Todesjahr bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1900–1919, 1993, S. 221. 209 Vgl. Wilhelm Kusserow: Friedrich Nietzsche und Stefan George, Potsdam o. J. [1928], S. 41. Zur 1927 gegründeten Nordischen Glaubensgemeinschaft vgl. Christoph Knüppel: Völkischreligiöse Einigungsversuche während des Zweiten Weltkriegs, in: Puschner und Vollnhals (Hrsg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus, S. 149–192, 157. 204 Vgl.

5  Nietzsche in völkischer Sicht

211

Mängeln aufmachte, mit denen er sich aus der Nation ausgeschlossen habe: seine fehlende Ehrfurcht, seine Ablehnung der Mystik, seine Distanzierung vom Rassegedanken und nicht zuletzt: seine ‚amoralische Wertung aller Dinge und seine materialistische Weltanschauung‘.210 Einen Versuch, den Kritiker des Christentums für den Hausgebrauch einer neopaganen völkischen Religiosität zu funktionalisieren, unternahm dagegen schon in den 90er Jahren Ernst Wachler (1871–1945), ein Schüler Diltheys, Treitschkes und Riehls, der seine vorrangige Aufgabe darin sah, „die religiöse, nationale und volkstümliche Grundlage des Theaters wieder herzustellen“ (Wachler), und dies sowohl im „Rückgriff auf Stoffe aus Religion, Mythos (Götter- und Helden-) Sage und Geschichte der deutschen ‚Heimat‘“, als auch im Wege einer „(Wiederoder Neu-) Errichtung von Theatern“ in der Tradition der heiligen Haine der Griechen.211 In einem 1893 in der von Friedrich Lienhard herausgegebenen Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert veröffentlichten Aufsatz über „Nationale Kultur“ rief er Wagner und (!) Nietzsche als Kronzeugen für „das Aufkommen einer eigenartigen germanischen, charakteristisch-realistischen Kunstrichtung“ auf, die dem internationalen Naturalismus und der Kunst der décadence eine „deutsch-nationale Kultur der Zukunft“ entgegensetzen sollte.212 Substantiiert wurde dieses Pronunciamento nicht, auch nicht in den zahlreichen Beiträgen, die Wachler in den folgenden Jahrzehnten über „die Zukunft des deutschen Glaubens“ oder „die religiöse Einigung der Deutschen“ publizierte, in denen Nietzsche allenfalls am Rande vorkam.213 Es blieb bei der Evokation heroischer Dioskuren wie Bismarck und Moltke, Wagner und Böcklin, Treitschke und Nietzsche, von denen kaum einer vom anderen etwas wissen wollte.214 In der Weimarer Republik erhöhte Wachler Nietzsche einmal mehr zum Träger einer Weltsendung, der die Erneuerung des antiken und die Wiederherstellung des nordisch-germanischen Menschen geschaut und diese gegen den

210  Vgl. Bernhard Kummer: Betrachtungen über Nietzsche, in: Reichswart 12, 1931, Nrn. 39, 41, 44, 46, 47, 49. Zu Kummer vgl. Fritz Heinrich: Bernhard Kummer (1897–1962). The Study of Religions Between Religious Devotion for the Ancient Germans, Political Agitation, and Academic Habitus, in: Horst Junginger (Hrsg.), The Study of Religion Under the Impact of Fascism, Leiden und Boston 2008, S. 229–262; Breuer, Die Nordische Bewegung in der Weimarer Republik, S. 193 ff. 211  Uwe Puschner: Deutsche Reformbühne und völkische Kultstätte. Ernst Wachler und das Harzer Bergtheater, in: Puschner u. a. (Hrsg.), Handbuch zur zur „Völkischen Bewegung“, S. 762–796, 776. 212 Heinrich Ernst Wachler: Nationale Kultur, in: Das Zwanzigste Jahrhundert. Deutsch-nationale Monatshefte für sociales Leben, Politik, Wissenschaft, Kunst und Literatur 3.2, 1893, S. 89. 213  Vgl. Ernst Wachler: Über die Zukunft des deutschen Glaubens, Berlin 1901; Ueber die religiöse Einigung der Deutschen, in: Allgemeiner Beobachter 3, 1913, Nr. 12, S. 153–154; Nr. 14, S. 181–182; Über die Zukunft des deutschen Glaubens. Ein philosophischer Versuch, in: Deutsche Zeitschrift 9, 1900, S. 549–557. 214 Vgl. Ernst Wachler: Die schöpferischen Deutschen der Gegenwart, in: Kynast 1, 1899, H. 4.

212

IV. Nietzsche im Spiegel der intellektuellen Rechten

‚intellektualistischen‘ Menschen verteidigt habe.215 Wie das Echo auf seine verschiedenen Interventionen lehrt, kam er damit besonders bei jüngeren Völkischen gut an, etwa bei dem Schüler Friedrich Gundolfs, Curt Hotzel, (1894–1967), einem Mitglied der expressionistischen Künstlergruppe ‚Jung-Erfurt‘, der 1920 Vorträge über „Die Philosophie Friedrich Nietzsches und ihre Bedeutung für die Kultur der Gegenwart“ hielt, bald darauf Kontakt zum Nietzsche-Archiv in Weimar fand und sich schließlich dem neuheidnischen Kreis um Friedrich Hielscher anschloß.216 Viele Texte Wachlers erschienen im Hammer, einem Blatt, dessen Herausgeber Theodor Fritsch bemüht war, die Stellung zum Christentum nicht zum Schibboleth für die völkische Bewegung zu machen.217 In ihm kamen deshalb sowohl Autoren wie Ottomar Beta (1845–1913) zu Wort, die sich unter dem Einfluß Bruno Bauers für ein um jüdische und paulinische Komponenten coupiertes Christentum stark machten und deshalb Nietzsche als „verstörte[n] Geist“ abtaten218, als auch Nietzsche-Verteidiger, zu denen neben Wachler auch Fritschs enger Mitarbeiter Willibald Hentschel (1858–1957) zu rechnen ist. Für ihn konnte das Christentum „bei aller Erkenntlichkeit nur noch geschichtliches Interesse“ beanspruchen, sei es doch zur „Erhaltung und Pflege rassischer Kräfte“ gänzlich „unbrauchbar“.219 Brauchbarer erschien da schon Nietzsche, von dem als einem Vorkämpfer für die Musik Richard Wagners und Neuentdecker des Dionysischen in Leben und Kunst Hentschel mit ‚warmer Anteilnahme‘ sprach. Mit dieser Grundorientierung, die er mit vielen Anhängern der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende teilte, verband sich eine Rezeption, die die neoaristokratischen Züge Nietzsches mit nationalistischen Motiven kurzschloß. So empfahl Hentschel die Errichtung von Zucht- und Hegegärten des neuen Menschen, sogenannte Mittgart-Siedlungen, für die ihm das Spätwerk Nietzsches mit seinen Züchtungsgedanken Anknüpfungspunkte zu bieten schien.220 Über dem Eingang dieser Siedlungen sollten jenes 215 Vgl.

Ernst Wachler: Nietzsches Weltsendung, in: Die Schönheit 23, 1927, S. 500–502; Das Germanische bei Friedrich Nietzsche, in: Nordische Stimmen 1, 1931, H. 8, S. 115–117. 216 Vgl. auch Hotzels Monographie: Ernst Wachler. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte unserer Zeit, Cassel 1921. Näheres zu Person und Werk bei Cornelia Nowak: ‚An die Freunde des Kommenden‘ – Die Expressionistische Künstlergruppe ‚Jung-Erfurt‘, in: dies., Kai Schierz und Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Expressionismus in Thüringen, Jena 1999, S. 34–44; Ina Schmidt: Der Herr des Feuers. Friedrich Hielscher und sein Kreis zwischen Heidentum, neuem Nationalismus und Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Köln 2004, S. 56 ff. 217 Vgl. Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen, S. 350 ff. Zu Fritsch vgl. weiter unten. 218 Vgl. Malthus II. [d.i. Ottomar Beta]: Die Politik des Unbewußten, Leipzig 1887, S. 99 ff.; Ottomar Beta: Deutschlands Verjüngung. Zur Theorie und Geschichte der Reform des Bodenund Creditrechts, H. 1–10, Berlin 1900–1901, S. 34, 205; Das wahre Naturrecht, in: Hammer 7, 1908, H. 139, S. 201–206, 201. 219  Willibald Hentschel: Mittgart. Ein Weg zur Erneuerung der germanischen Rasse, Leipzig 19144, S. 16. 220  Vgl. Franz, Die Religion des Grals, S. 357 ff.; Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, S. 124; Uwe Puschner: Mittgart – eine völkische Utopie, in: Klaus Geus (Hrsg.), Utopien, Zukunftsvorstellungen, Gedankenexperimente. Literarische Konzepte von einer „anderen“ Welt

5  Nietzsche in völkischer Sicht

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Wort stehen, „mit dem Friedrich Nietzsche das im Geiste vorgeahnte Geheimnis der rassischen Zucht an den Namen des Dionysos geknüpft hat: ‚Der edelste Ton, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen – der Mensch‘“.221 Daß dieses bei Hentschel noch durchaus auf eine Stärkung des Deutschtums angelegte Konzept auch trans- bzw. supranational in Richtung eines „All-Arier-Bundes“ gewendet werden konnte222, zeigen die Arbeiten von Carl Reinhold Petter, der sich nach 1919 in Danzig in Volkshochschulkursen, ab 1930 in der völkischen Siedlung Klingberg für eine „Menschen-Veredelung durch Rassenzüchtung“ stark machte und dabei auf Nietzsche sowie dessen Umdeutung durch Franz Haiser zurückgriff.223 In der völkischen Bewegung blieben all diese Konzepte jedoch randständig, um das Mindeste zu sagen. Die überwiegende Mehrheit hielt es mit bürgerlichen Moralvorstellungen und ihren tradierten Stützen im Christentum, auch wenn es nötig erschien, dieses à jour zu bringen. Erstaunlicherweise fanden sich auch für dieses Vorhaben Autoren, die sich vom Verfasser des Antichrist Inspiration und Unterstützung erhofften. Das gilt etwa für den Pfarrer Albert Kalthoff (1850– 1906), der 1904 in seinen Zarathustra-Predigten Nietzsche als Prophet einer neuen Kultur feierte224, in noch stärkerem Maße für Arthur Bonus (1864–1941), bis 1904 als Pfarrer in der Evangelischen Landeskirche Preußens tätig und wie Kalthoff eines der Zugpferde des Eugen Diederichs Verlages.225 Bonus kam, wie

im abendländischen Denken von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2011, S. 155– 185; Köck, „Die Geschichte hat immer recht“, S. 248 ff. 221  Willibald Hentschel: Vom aufsteigenden Leben. Ziele der Rassen-Hygiene, hrsg. vom Mittgart-Bunde, Leipzig 1914, S. 123; vgl. ebd., S. 28 f.; ders.: Varuna. Das Gesetz des aufsteigenden und sinkenden Lebens in der Völkergeschichte (1907), Leipzig 19183. Teil I, S. 157; II, S. 109. 222  Zu dieser im völkischen Denken angelegten, wenngleich selten näher ausgearbeiteten Möglichkeit vgl. den Überblick von Julian Köck: Transnationale Elemente im völkischen Nationalismus und Antisemitismus, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 2016, S. 73–96. 223  Vgl. Mittmann, Vom „Günstling“ zum „Urfeind“ der Juden, S.  131  m.w.N.; Bernd Wedemeyer-Kolwe: ‚Der neue Mensch‘. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004, S. 235. Der Österreicher Franz Haiser (1871–1945) war bereits vor dem Krieg mit dem von Nietzsche inspirierten Buch Der aristokratische Imperativ (Berlin 1913) hervorgetreten. In der Weimarer Republik folgten: Im Anfang war der Streit. Nietzsches Zarathustra und die Weltanschauung des Altertums, München 1921; Die Judenfrage vom Standpunkt der Herrenmoral. Rechtsvölkische und linksvölkische Weltanschauung, Leipzig 1926. Zu Haiser vgl. Mittmann (wie oben), S. 126 ff. 224 Vgl. Albert Kalthoff: Zarathustra-Predigten. Reden über die sittliche Lebensauffassung Friedrich Nietzsches, Jena 1904. Zuvor bereits: Friedrich Nietzsche und die Kulturprobleme unserer Zeit. Vorträge, Berlin 1900. 225  Vgl. zu beiden: Friedrich Wilhelm Graf, Das Laboratorium der Moderne. Zur ‚Verlagsreligion‘ des Eugen Diederichs Verlags, in: Gangolf Hübinger (Hrsg.), Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996, S. 243–298, 245 ff., 253 ff. Grundlegend zu Bonus: König, Zwischen Kulturprotestantismus und völkischer Bewegung.

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viele protestantische Theologen der wilhelminischen Ära, von Albrecht Ritschl her, der das ‚Reich Gottes‘ anstatt allein auf die religiöse Sphäre auf die Kultur insgesamt bezogen hatte226, entfernte sich aber in den späten 90er Jahren insofern vom Mainstream des Kulturprotestantismus, als er sich zunehmend von der Kirche löste und in der freien religiösen Gemeinde den Träger des neuen Mythos’ und den Schrittmacher für eine ‚Germanisierung des Christentums‘ sah.227 Angeregt und bestärkt fand er sich darin von Nietzsche, der ihm als der große Leidende an der Kultur wie am Christentum erschien, mehr noch: als „die verehrungswürdigste Gestalt aus der neueren Kriegsgeschichte des Geistes“.228 Allerdings hielt ihn dies nicht davon ab, sich kritisch gegen den zeitgenössischen Nietzschekult zu wenden, sei es in Gestalt der Vergötzung des Philosophen durch das Nietzsche-Archiv in Weimar oder in Form seiner Erhebung zum Künder einer neuen Religion durch Ernst Wachler.229 „Der germanische Geist“, so hielt er der neopaganen Lesart entgegen, habe „sein religiöses Kapital restlos im Christentum angelegt“.230 Es entsprach diesem Verständnis, wenn Bonus den eigentlichen Durchbruch zu einer Religion der Zukunft nicht bei Nietzsche, sondern bei Lagarde sah.231 Vom Kulturprotestantismus kam auch Heinrich Driesmans (1863–1927) her232, der sich in den 90er Jahren wie Schwaner in der Egidy-Bewegung engagiert hatte und von 1898 bis 1908 die aus dieser Bewegung hervorgegangenen Zeitschriften Ernstes Wollen und Deutsche Kultur leitete.233 Im Unterschied zu Bonus machte er in seinen zahlreichen Schriften eugenische und rassenpsychologische Gesichtspunkte geltend, obschon auf eine höchst eigenwillige Weise, die die Eugenik als eine „Weiterbildung des Christentums“ präsentierte234 und überdies eher auf

226  Vgl. Rainer Lächele: Germanisierung des Christentums – Heroisierung Christi. Arthur Bonus – Max Bewer – Julius Bode, in: Stefanie von Schnurbein und Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe ‚arteigener‘ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 164–183, 170 f. 227 Vgl. Arthur Bonus: Von Stöcker zu Naumann. Ein Wort zur Germanisierung des Christentums. Heilbronn 1896; Zur Germanisierung des Christentums, Jena 1911; Vom neuen Mythos. Eine Prognose. Jena 1911. 228 Zit. n. König, Zwischen Kulturprotestantismus und völkischer Bewegung, S. 258. 229 Vgl. ebd., S. 259, 261. 230 Arthur Bonus: Island und die Religion [1901], zit. ebd., S. 278. 231 Vgl. ebd., S. 261. 232 Leben und Werk dieses überaus rührigen Autors sind bislang kaum erforscht. Vgl. zur ersten Orientierung Köck, ‚Die Geschichte hat immer recht‘, S. 300 ff. Einige Hinweise zu seiner Beziehung zu Bonus bei König, Zwischen Kulturprotestantismus und völkischer Bewegung, S. 302 f. Über die Konflikte mit anderen Völkischen, die zu einer Stellungnahme des Deutschbundes gegen ihn führten, vgl. Alexandra Gerstner: Rassenadel und Sozialaristokratie. Adelsvorstellungen in der völkischen Bewegung 1890–1914, Berlin 2003, S. 49 f. 233 1900 gab er unter Mitwirkung der Familie von Egidy eine Sammlung von Texten des 1898 Verstorbenen heraus: Moritz von Egidy. Sein Leben und Wirken, Dresden 1900. 234 Heinrich Driesmans: Eugenik und Politik, in: Das neue Deutschland 1, 1912/13, S. 389–392, 390.

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eine (allerdings speziell zu dosierende) Rassenmischung als auf Rassenreinheit setzte.235 Das brachte ihn früh zu Nietzsche, auch wenn ein Versuch, sich als Mitarbeiter an der Nietzsche-Gesamtausgabe zu etablieren, an Konflikten mit der Herrin der Villa Silberblick scheiterte.236 Im Ernsten Wollen verteidigte er Nietzsche mehrfach gegen die von Friedrich Wilhelm Foerster vorgetragene Kritik237; im zweiten Band seiner Kulturgeschichte der Rasseninstinkte figuriert er neben Tolstoi als herausragendes Ergebnis der „europäischen Blutmischung auf germanischer Grundlage“.238 Wenngleich er „einen seinem deutschen Herzen nicht angemessenen“, weil allzu „slavischen Kopf“ besessen habe und deshalb auch für den „Gedanken der natürlichen Entwicklung im Sinne Darwins“ unzugänglich gewesen sei, sei er doch nichtsdestotrotz zum „gewaltigste[n] Aufrütteler und Aufstörer der Geister“ geworden, und hier „insbesondere der deutschen, seit den Tagen Luthers“. Schon weil seine bloße Erscheinung „Leben und Bewegung in die geistige Masse in neuer, unerhörter Weise getragen“ habe, müsse sie „auf das Freudigste begrüßt und beglückwünscht werden.“239 Ein Jahr später wurde er explizit als Vorkämpfer für eine „aristokratische Kultur auf der Basis der europäischen Zivilisation“ in Anspruch genommen, eine Bestimmung, die jedoch nicht an das herkömmliche Verständnis von Aristokratie anknüpfte, vielmehr auf eine Form der Künstlerherrschaft zielte.240 Von den italienischen Futuristen, die bald darauf ebenfalls die Parole von der artecrazia ausgaben, unterschied sich dies freilich durch eine entschiedene Abwehr der reflexiven Modernisierung, durch die „der Bauernstand dem Industrialismus und der Bodenspekulation, der Handwerkerstand der Fabrikarbeit, der Kaufmannstand der Börsenspekulation geopfert“ werde.241 Dieser genuin völkische Zug in Verbindung mit einem radikalisierten Kulturprotestantismus erlaubte Driesmans übrigens auch

235 Vgl. Heinrich Driesmans: Eine Kulturgeschichte der Rasseninstinkte, Bd. 1: Das Keltentum in der Europäischen Blutmischung, Leipzig 1900, S. 8, 49, 78, 149 f., 237. 236 Vgl. die Hinweise bei Carl Albrecht Bernoulli: Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck: eine Freundschaft, 2 Bde., Jena 1908, Bd. 2, S. 442, 444. 237  Vgl. Ernstes Wollen 3, 1901, Nr. 42, S. 90–93; Nr. 54, S. 283; Nr. 56, S. 311–316. Der Einfluß Nietzsches ist schon in Driesmans´ erstem Buch auf nahezu jeder Seite spürbar: vgl. Die Plastische Kraft in Kunst, Wissenschaft und Leben, Leipzig 1898. Ferner: Zur Philosophie Nietzsches, in: Hammer 3.1, 1904, Nr. 42, S. 129–133; Friedrich Nietzsche und die Religion, in: Ernstes Wollen 6, 1904, Nr. 113, S. 161–166. 238 Heinrich Driesmans: Eine Kulturgeschichte der Rasseninstinkte, Bd. 2: Die Wahlverwandtschaften der deutschen Blutmischung, Leipzig 1901, S. 177. 239 Ebd., S. 180, 184. 240 Vgl. Heinrich Driesmans: Rasse und Milieu, Berlin 1902, S. 207; Eine Kulturgeschichte der Rasseninstinkte, Bd. 2, S. 163 f. 241  Heinrich Driesmans: Menschenreform und Bodenreform. Unter Zugrundelegung der Veredelungslehre Francis Galton’s, Leipzig 19113, S. 36. Zu den Vorstellungen der italienischen Futuristen vgl. Simonetta Falasca-Zamponi: The Artist to Power? Futurism, Fascism and the Avant-Garde, in: Theory, Culture & Society 13, 1996, S. 39–58; Claudia Salaris: Artecrazia. L’avanguardia futurista negli anni del fascismo, Firenze 1992.

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gegenüber Wagner und Bayreuth eine Toleranz, die deutlich größer war als beim mittleren und späten Nietzsche.242 Von einer Anpassung an völkische Denkmuster muß auch in bezug auf die Nietzsche-Deutung gesprochen werden, die Ernst Bertram (1884–1957) in den letzten Wochen des Kaiserreichs vorlegte, auch wenn dieser Autor zu dieser Zeit noch eher mit dem George-Kreis und Thomas Mann sympathisierte.243 Das Ergebnis seiner über 300 Seiten starken Erörterungen läßt sich nicht besser zusammenfassen als mit dem Wort: Operation gelungen, Patient tot. Kernelemente von Nietzsches Philosophie wie die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen wurden zu ‚Trugoffenbarungen‘ erklärt; andere, wie die Lehre vom Übermenschen, als ‚Leitwahn‘ akzeptiert, aber mit einem neuen Sinn versehen, indem sie in ein ‚platonisches Urschaubild‘ verwandelt wurden.244 Aus dem Zarathustra wurde eine spätromantische Lutherdichtung, aus dem Antichrist eine theologische Streitschrift245, wie überhaupt die Verneinung bei Nietzsche für Bertram nur die „technische Form“ war, „ein Ja um so gewaltsamer auszudrücken“.246 Damit war der Freibrief für eine Umdeutung ausgestellt, die aus Nietzsches Kritik des Christentums „eine gerade im Kernsinne überaus christliche Philosophie“ machte, eine „Theodicee der Passion“247; aus der Abweisung der Askese eine verkappte Form derselben; aus der Deutung der Romantik als Rausch und Krampf, Betäubung und Wahnsinn eine Manifestation von Nietzsches ‚nordischromantischem Erbe‘248; aus seiner Verachtung des Deutschtums „eine Form deutschen Werdens“, des „deutschen ‚Über sich hinaus‘“; aus der Verurteilung des Nationalismus eine Weise, die eigene Nation „in sich zur höchsten ihr möglichen Stufe“ hinaufzusteigern.249 So stark indessen die Resonanz dieser Deutung war – sie wurde 1918 zusammen mit Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen und Gerhard von

242 Vgl. Heinrich Driesmans: Die protestantische Staatsidee in ihrer Bedeutung für die Rassenund Gesellschaftsbiologie, in: K. H. L. Walter van der Bleek (Hrsg.), Die protestantische Staatsidee. Der Nordgeist Germaniens im Lichte der deutsch-niederländischen und skandinavischbaltischen Wissenschaft, Leipzig 1919, S. 113–126, 125 f. 243 Vgl. Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie [1918], Berlin 19215. Für die zeitgenössischen Einflüsse vgl. Rainer Kolk: Nietzsche, George, Deutschland. Dokumente zu Ernst Bertrams frühen Publikationen, in: Wolfgang Braungart u. a. (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 315–334; Christoph Schmidt: „Ehrfurcht und Erbarmen“. Thomas Manns Nietzsche-Rezeption 1914 bis 1947, Trier 1997, S. 58, 104 ff.; Robert E. Norton: Translator’s Introduction: Attempt at a Demythologization, in: Ernst Bertram, Nietzsche. Attempt at a Mythology, Urbana und Chicago 2009, S. XI ff. 244 Vgl. Bertram, Nietzsche, S. 347, 204. 245 Vgl. ebd., 126. 246 Ebd., S. 128. 247 Ebd., S. 128, 133. 248 Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 620. 249 Vgl. Bertram, Nietzsche, S. 55, 79, 187.

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Mutius’Die drei Reiche mit dem Ehrenpreis des Nietzsche-Archivs gekrönt250 – , sie sollte nicht über die mindestens ebenso starke Ablehnung hinwegtäuschen, die Nietzsches Philosophie bei prominenten Völkischen entgegenschlug. Das galt bereits, was oft übersehen wird, für Julius Langbehn (1851–1907), der wohl mit dem Titel seines Bestsellers von 1890, Rembrandt als Erzieher, erkennbar an Nietzsches dritte Unzeitgemäße Betrachtung anknüpfte und darüber hinaus auch eine unrühmliche Rolle in der Krankengeschichte des Unglücklichen spielte.251 Vereinzelte sachliche Übereinstimmungen wie die Kritik an der historischen, alexandrinisch-rückwärtsgewandten Bildung können jedoch nicht über die Differenzen hinwegtäuschen, die in so zentralen Punkten wie dem Verhältnis zum Christentum oder der Kunstauffassung bestanden. Die Behauptung einer Zusammengehörigkeit von ‚Kreuz und Schwert‘ bzw. Christentum, Kriegertum und Deutschtum war mit Nietzsche so unvereinbar wie die Forderung nach einer Entwicklung der Kunst aus dem Volk, und hier gar noch aus dem Bauerntum.252 In Rembrandt als Erzieher kam Wagner häufiger vor als Nietzsche, und es war sicher keine Deutung ex post, wenn der Verfasser zehn Jahre später in einem Brief an Bischof von Ketteler mit dem Geständnis aufwartete, er verabscheue Nietzsches Schriften, „den immerhin ziemlich unheimlichen Zarathustra ausgenommen […] Ich kann buchstäblich keine Seite darin lesen, ohne daß mir physisch übel wird. Ich halte ihn, kurz gesagt, für eine reine Natur, in die der Teufel gefahren ist.“253 Zu Recht trat 1892 Max Bewer der schon damals aufkommenden und bis heute beliebten Deutung entgegen, man habe es im Rembrandtdeutschen mit einem „Nachtreter oder Nachfolger Nietzsche’s“ zu tun.254

250 Vgl.

die Anmerkung des Hrsg. zu Thomas Mann: Tagebücher 1918–1921, hrsg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1979, S. 621. Für die Resonanz im völkischen Lager vgl. nur die oben zit. Besprechung von Lenore Kühn oder von Curt Hotzel, in: Die Krone 1, 1920, Nr. 5. Bei Vertretern des neuen Nationalismus stieß das Buch hingegen auf Ablehnung. Vgl. Georg Foerster: Ernst Bertrams Nietzsche-Buch, in: Der Vormarsch 2, 1928, H. 7. 251  Vgl. Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, München 1986, S. 139 f. Zu Langbehn vgl. weiter oben, S. 98 f. 252  Vgl. [o.V.]: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen [d.i. August Julius Langbehn], Leipzig 18902, S. 295, 185, 195. 253 Zit. n. Momme Nissen: Der Rembrandtdeutsche. Julius Langbehn, Freiburg 1926, S. 133. Daß hier in Wahrheit keinerlei sachliches Verhältnis bestand, zeigt gegen den Mainstream der Forschung Christian Niemeyer: Über Julius Langbehn (1851–1907), die völkische Bewegung und das wundersame Image des ‚Rembrandtdeutschen‘ in der pädagogischen Geschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Pädagogik 60, 2014, S. 607–621. 254 [o.V.]: Der Rembrandtdeutsche. Von einem Wahrheitsfreund, Dresden 1892, S. 105. Zur Verfasserschaft vgl. oben, S. 100. In den zur gleichen Zeit erschienenen Schriften Pudors finden sich nur wenige Stellen, die auf eine intensivere Nietzsche-Lektüre schließen lassen. Ein bezeichnendes Licht auf die Grenzen seiner Rezeption wirft die spätere Einstufung Nietzsches als des Lehrers von Langbehn und als „Philosoph des Naturheiles“. Vgl. Heinrich Pudor: Die neue Erziehung. Essays über die Erziehung zum Kunst und zum Leben, Leipzig 1902, S. 26 ff.; Friedrich Nietzsche als Philosoph des Naturheiles, in: Vegetarische Warte 40, 1907, S. 75–77.

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Distanziert bis ablehnend war auch die Haltung führender Mitglieder des Deutschbundes, der sich seit seiner Gründung 1894 als Generalstab der völkischen Bewegung verstand.255 Schon früh warnte dessen Gründer, Friedrich Lange (1852–1918), eindringlich vor Nietzsche als einem durch und durch unsoliden Luftarchitekten, der die Nationalität verachte und allenfalls „genialischen Kunstmenschen und hysterischen Frauenzimmern“ Argumente gebe, um „sich göttergleich zu fühlen“.256 In einem Vortrag vor dem Hamburger Deutschbund würdigte der mit Driesmans befreundete Adalbert Luntowski (1883–1934) Nietzsche zwar als Größten der modernen Kettensprenger, als „die ins Titanische erhobene Menschwerdung dieses Chaos“, aber eben: dieses Chaos, zu dessen Bewältigung dem Redner das Werk Wagners besser geeignet erschien.257 Kurz zuvor hatte er Nietzsche vorgeworfen, romantischen Symbolismus und mystisches Maskenspiel mit klassischer Vollendung verwechselt und einem dekadenten Aphorismenstil gehuldigt zu haben.258 Nach 1918 hielt Adolf Bartels (1862–1945), Mitglied der Bundeskammer des Deutschbundes und Herausgeber von dessen Zeitschrift Deutsches Schrifttum, dem „Judenfreund“ Nietzsche vor, „aus reinem Widerspruchsgeist […] durchaus nihilistisch gewirkt“ und damit die Bahn frei gemacht zu haben für die Bestrebungen der Juden, nun auch die Weltanschauung der Deutschen zu bestimmen.259 Bei Max Robert Gerstenhauer (1873–1940), von 1921 bis zu seinem Tod Bundesgroßmeister des Deutschbundes, wurde daraus eine förmliche Expatriierung Nietzsches, dessen Lehren weder „mit der Naturwissenschaft, mit Rassenlehre und Höherzüchtung“ etwas zu tun hätten und überdies das Erbe unterminierten, dessen die spezifisch deutsche „Ethik des Nationalismus“ zu ihrer Vervollständigung bedürfe: der „alten idealistischen Sittenlehren des Christentums, Kants und unseres klassischen Bildungsideals“.260 Schon 1913 hatte er sich gegen Nietzsches Herrenmoral und seine Verklärung des Übermenschen ausgesprochen, 255 Vgl.

Dieter Fricke: Der „Deutschbund“, in: Puschner u. a. (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“, S. 328–340. 256 Friedrich Lange: Gobineau und Nietzsche [1900], in: ders., Reines Deutschtum, S. 248–258, 251 f. Vgl. Ascan Gossler: Friedrich Lange und die ‚völkische Bewegung‘ des Kaiserreichs, in: Archiv für Kulturgeschichte 83, 2001, S. 377–411. 257 Adalbert Luntowski: Die Geburt des deutschen Menschen, Leipzig 1915, S. 9, 32. Es handelt sich um die Erweiterung eines 1912 gehaltenen Vortrags. 258 Vgl. Adalbert Luntowski: Menschen. Carlyle, Whitman, Liliencron, Dehmel, Fidus, Wagner, Kleist, Nietzsche, Beethoven, Thoreau, Emerson, Leipzig 1910, S. 161 ff. 259 Adolf Bartels: Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Jüngsten, Leipzig 1921, S. 87; vgl. bereits: Rasse. Sechzehn Aufsätze zur nationalen Weltanschauung, Hamburg 1909, S. 184. Näher zu Person und Werk: Thomas Rösner, Adolf Bartels, in: Puschner u. a. (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“, S. 874–894. 260 Max Robert Gerstenhauer: Der Führer. Ein Wegweiser zu deutscher Weltanschauung und Politik, Jena 1927, S. 4 f. Zur Person vgl. Alexandra Esche: „[D]amit es auch wirklich etwas Gutes wird!“ Max Robert Gerstenhauers Weg in die NSDAP, in: Daniel Schmidt u. a. (Hrsg.), Wegbereiter des Nationalsozialismus. Personen, Organisationen und Netzwerke der extremen Rechten zwischen 1918 und 1933, Essen 2015, S. 37–54.

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unter der man sich nichts anderes vorstellen könne als „die Verkündigung der nacktesten Selbstsucht als einzigen ‚Sittengesetzes‘“.261 Friedrich Lienhard (1865–1929), in den 90er Jahren Langes Mitstreiter bei der Täglichen Rundschau und der Deutschen Zeitung, verwahrte sich gegen Nietzsches „kalte Verachtung der Religion“ und insbesondere seine Herabsetzung des Christentums zu einer ‚kraftlosen Sklavenmoral‘.262 In seinen Vorträgen über „Parsifal und Zarathustra“ fand er auch kritische Worte zu Wagners frühen Texten, feierte aber die im Spätwerk erkennbare Bewegung „von Siegfried zu Christus“ und warf Nietzsche vor, Wagner nicht verstanden zu haben – jenen Wagner, in dessen Inneren sich „der Tannhäuser-Kampf zwischen Luzifer und Christus abgespielt“ habe und zugunsten des letzteren entschieden worden sei. Den Zarathustra sah er beschädigt durch eine Serie von dogmatischen Behauptungen und Beleidigungen, die wie Peitschenhiebe wirkten, den Nietzscheanismus verwarf er als einen „entgötterten Intellektualismus“ und „Immoralismus“. „Wir achten“, hieß es am Ende, „den taghellen Scharfschützen Zarathustra, aber wir lieben Parsifal“.263 Welch tiefe Ablehnung Nietzsche aus diesen Kreisen entgegenschlug, zeigt sich auch daran, daß 1920 gleich zwei deutsche Versionen der Protokolle der Weisen von Zion erschienen, in denen die Lehren Nietzsches zusammen mit denjenigen von Marx und Darwin wegen ihrer zersetzenden Wirkungen auf das Nichtjudentum verurteilt wurden.264 Die eine stammte von Ludwig Müller von Hausen (1851–1926), der 1912 den Verband gegen die Überhebung des Judentums ins Leben gerufen hatte, die andere von Theodor Fritsch (1852–1933), dem Gründer des Reichshammerbundes (ebenfalls 1912) und Mitglied im Deutschbund. Ungeachtet seiner Freundschaft mit Hentschel hatte Fritsch schon im Kaiserreich unentwegt gegen den „philosophische[n] Seicht-Fischer“ Nietzsche vom Leder gezogen, „dessen Netz nicht zu den Perlen der Weisheit auf den Grund hinabreicht“, der „die Verstandes- Schaumblasen der modernen Erfolgs-Affen auffischte und die Goldfische der Schacher-Börse für das wahre Gold der tiefsten Wahrheit hinnahm.“ Jenseits von Gut und Böse sei eine „Verherrlichung der Juden“, denen doch gerade „das beste Teil zum Menschen“ fehle; der Verfasser ein Jugendverderber und selbstverliebter Nihilist, dessen Denkweise slawisch sei, nicht deutsch.265 Die „Überwindung der Nietzscheschen Gedanken-Pathologie“, hieß es

261 Max Robert Gerstenhauer: Rassenlehre und Rassenpflege, hrsg. vom Deutschbund, Leipzig 1913, S. 12. 262 Vgl. Friedrich Lienhard: Christenthum und Deutschthum (II), in: Tägliche Rundschau Nr. 120 vom 23.5.1895; Friedrich Nietzsche, in: Der Türmer 3, 1900/1901, Bd. 1, S. 2–10. Zu Person und Werk vgl. die oben, S. 95 angeführte Literatur. 263 Lienhard, Parsifal und Zarathustra, S. 25, 31 ff., 40. 264 Vgl. Jeffrey L. Sammons (Hrsg.): Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar, Göttingen 20012, S. 37. Zur Publikationsgeschichte vgl. ebd., S. 20. 265 Vgl. o. V. [Theodor Fritsch]: Der Antisemitismus im Spiegel eines „Zukunfts-Philosophen“, in: Antisemitische Korrespondenz 3, 1887, Nr. 19. Vgl. auch: Friedrich Nietzsche und sein Zarathustra, in: Antisemitische Korrespondenz 7, 1892, Nrn. 193–195; Grundzüge der künftigen

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1905 in einer anonymen Glosse in Fritschs Hammer, gehöre „zu den ersten Aufgaben deutscher Geistes-Reinigung“.266 Fritsch selbst führte 1911 die zunehmende Zahl von Schülerselbstmorden auf die „verfrühte Lektüre ungeeigneter Schriften, ganz besonders Nietzsche’s“ zurück, dessen krankes Denken den Boden bereitet habe „für die krankhafte Überspannung der jungen Gemüter“.267 Als 1926 eine Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der von Fritsch gegründeten und geleiteten Zeitschrift Hammer erschien, beglückwünschte man sich zum Erfolg des anhaltenden Kampfes gegen „den schädlichen Einfluß der Lehre vom ‚Übermenschen‘, überhaupt die Jüngerschaft von Friedrich Nietzsche, der einem schon ohnedies aus dem Geleise geratenen Zeitalter den schrankenlosen Individualismus predigte.“268 Auch die Bayreuther, die Nietzsche zu dessen Lebzeiten totgeschwiegen hatten, brachten sich nunmehr entsprechend in Stellung. Noch im Todesjahr Nietzsches hob der Rostocker Germanist Wolfgang Golther (1863–1945) in den Bayreuther Blättern lobend das von Chamberlain entworfene Bild des ‚germanischen Vollmenschen‘ hervor, das sich so vorteilhaft gegen ‚Nietzsches geisteskranken Übermenschen‘ abhebe; in dessen Spätwerk, hieß es bald darauf, hätten sich immer mehr ‚semitische Elemente an Stelle der ursprünglich klar und hell erschauten deutschen Ideale‘ geschoben.269 Ähnlich ablehnend äußerte sich der in diesem Buch schon öfter erwähnte Ludwig Schemann, dessen Loyalität zwischen WagnerBewegung, Gobineau-Gesellschaft und Alldeutschtum geteilt war. Nietzsche wie auch Lessing seien nicht zu jenen großen Deutschen zu rechnen, die „den unausgleichbaren Gegensatz arisch-germanischen und semitisch-jüdischen Wesens […] aus lebhafteste empfunden und ihrem Widerstreben gegen das Eindringen des jüdischen Elementes in deutsches Leben und Wesen den stärksten Ausdruck gegeben“ hätten.270 „Was frommte Nietzsche sein ungeheurer Geist, wenn es ihm an der tragenden Persönlichkeit fehlte? Alle dithyrambische Begeisterung täuscht bei ihm nicht darüber hinweg, daß er in keinem solchen Persönlichkeitsgrunde

Religion, in: Hammer 2, 1903, Nr. 25; Roderich-Stoltheim [d.i. Theodor Fritsch]: Friedrich Nietzsches Macht-Philosophie und der Deutschen-Haß, ebd. 14, 1915, Nr. 301; Neue Wege. Aus Theodor Fritschs Lebensarbeit. Eine Sammlung von Hammer-Aufsätzen zu seinem 70. Geburtstag, hrsg. von Paul Lehmann, Leipzig 1922, S. 73. Zu den Beziehungen zwischen Fritsch und Nietzsche vgl. Christian Niemeyer: Nietzsche, völkische Bewegung, Jugendbewegung. Über vergessene Zusammenhänge am Exempel der Briefe Nietzsches an Theodor Fritsch vom März 1887, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 79, 2003, S. 292–321. 266 Zit. n. Mittmann, Vom „Günstling“ zum „Urfeind“ der Juden, S. 88. 267 Theodor Fritsch: Nietzsche und die Jugend, in: Hammer 10, 1911, S. 113–116. 268 Arnold Ruge: Fünfundzwanzig Jahre ‚Hammer‘-Arbeit, in: [o.V.], Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Hammer, Leipzig 1926, S. 18–36, 32. 269 Zit. n. Ferrari Zumbini, Nietzsche in Bayreuth, S. 124. Eine Liste von Golthers Beiträgen findet sich bei Hein, „Es ist viel ‚Hitler‘ in Wagner“, S. 511. 270 Schemann, Paul de Lagarde, S. 236.

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fest verankert, in keinem Erdreich eines starken ruhigen Glaubens verwurzelt war. So hat er, für sich und seine nur zu große Gefolgschaft wenigstens, eine Welt in Trümmer geschlagen, um an deren verödetem Horizonte eine Fata Morgana aufleuchten zu lassen“.271 Später sprach Schemann Nietzsche auch noch die zunächst anerkannte Größe ab, würden doch durch „die ungesunden, jedenfalls durchaus un-, ja antiarischen Beimischungen, welche sein Geist wie sein Charakter aufweisen, auch jene Leistungen des besten Teiles ihres Wertes beraubt“.272 Auf die bald danach einsetzenden Angriffe auf Nietzsche durch Curt von Westernhagen wurde bereits verwiesen.273 Nimmt man die jüngst in Gang gekommene Revision der Vorstellung hinzu, Nietzsche sei der Prophet der Jugendbewegung, und hier insbesondere ihres völkischen Flügels gewesen274, so bedarf die Behauptung Aschheims, wonach seit dem Ersten Weltkrieg „eine überwältigende Neigung“ der deutschen Rechten zu konstatieren sei, „Nietzsche zu feiern“275, einer doppelten Einschränkung. Es gab diese Neigung, aber sie war keineswegs überwältigend und galt überdies recht unterschiedlichen Nietzsches. Das wenigstens hatte er mit Richard Wagner gemeinsam.

271 Ludwig

Schemann: Gobineau und die deutsche Kultur, Leipzig 1910, S. 135. Die Rasse in den Geisteswissenschaften, Bd. 2, S. 101. Zit. n. Mittmann, Vom „Günstling“ zum „Urfeind“ der Juden, S. 51 ff. Dort auch weitere Äußerungen aus Bayreuth und Umfeld. 273 Vgl. oben, S. 174 f. 274  Vgl. Thomas Herfurth: Zarathustras Adler im Wandervogelnest. Formen und Phasen der Nietzsche-Rezeption in der deutschen Jugendbewegung, in: Archiv der deutschen Jugendbewegung 16, 1989, S. 63–110, 108. Zur Revision dieser These vgl. Justus H. Ulbricht: Nietzsche als ‚Prophet der Jugendbewegung‘? Befunde und Überlegungen zu einem Rezeptionsproblem, in: Ulrich Hermann (Hrsg.), ‚Mit uns zieht die neue Zeit…‘ Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim und München 2006, S. 80–114 und besonders Niemeyer, Die dunklen Seiten der Jugendbewegung, S. 87 ff. u. ö. Das Buch von Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015, nennt Nietzsche nicht einmal im Register. Auch in den Inhaltsverzeichnissen der von dem völkischen Schriftsteller Wilhelm Kotzde gegründeten überbündischen, lange stark völkisch geprägten Zeitschrift Die Kommenden begegnet der Name Nietzsche nicht. Vgl. Stefan Breuer und Ina Schmidt: Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend (1926–1933), Schwalbach/Ts. 2010, S. 433–471. 275 Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, S. 144. 272 Schemann,

Anhang

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Siglen

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Personenverzeichnis

A Andreas-Salomé, Lou, 129, 154 B Bachofen, Johann Jakob, 10, 188, 189, 197, 198 Baden, Prinz Max von, 73 Baeumler, Alfred, 120, 144, 182, 187–192, 197–199 Bahr, Hermann, 79 Bartels, Adolf, 100–102, 218 Bauch, Bruno, 200, 201 Bauer, Bruno, 9, 63, 212 Beethoven, Ludwig van, 23, 34, 36, 38, 39, 55, 79, 98, 101, 114, 117, 123 Below, Georg von, 78, 81 Benn, Gottfried, 181 Benz, Richard, 121 Bertram, Ernst, 189, 201, 216 Beta, Ottomar, 43, 53, 63, 89, 90, 212 Bewer, Max, 99, 100, 217 Bismarck, Otto von, 33–35, 43, 81, 90, 94, 120, 190, 191, 211 Blüher, Hans, 182, 201, 202 Böcklin, Arnold, 69, 114, 180, 211 Boehm, Max Hildebert, 121 Bonhard, Otto, 81, 185 Bonus, Arthur, 213, 214 Borchardt, Rudolf, 118, 180, 181 Bourget, Paul, 79 Breysig, Kurt, 200 Bülow, Hans von, 20, 26, 54, 55 Burckhardt, Jacob, 47, 148

C Carlyle, Thomas, 186 Chamberlain, Houston Stewart, 4, 57, 59, 72, 73, 82, 85, 102–106, 108–111, 117–119, 174, 186, 220 Claß, Heinrich, 80, 81, 184 Clauß, Ludwig Ferdinand, 208 Comte, Auguste, 158, 161 Conrad, Michael Georg, 76, 77 Cornelius, Peter, 57, 79 D Deussen, Paul, 111, 130, 137, 139, 155 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch, 183, 191 Drews, Arthur, 74, 184 Driesmans, Heinrich, 105, 214, 215, 218 Dühring, Eugen, 43, 58, 92, 142 E Eichenauer, Richard, 124 Eulenburg, Philipp Graf zu, 73 F Feuerbach, Ludwig, 9, 14, 22, 151 Fichte, Johann Gottlieb, 36 Fischer, Hugo, 197–199 Förster, Bernhard, 43, 46, 53, 57, 63, 75, 89, 92, 95, 103, 142 Förster, Paul, 53, 67 Förster-Nietzsche, Elisabeth, 3 Frantz, Constantin, 10, 31, 60, 61, 128

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an SpringerVerlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Breuer, Wagner, Nietzsche und die deutsche Rechte 1871–1933, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67215-0

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234 Freyer, Hans, 120, 197 Fritsch, Theodor, 43, 67, 92, 93, 95, 142, 212, 219, 220 Fröbel, Julius, 30 G George, Stefan, 1–3, 113–115, 118, 176–181, 200, 210, 216 Gersdorff, Carl Frhr. von, 111, 130, 131, 137–139, 155 Gerstenhauer, Max Robert, 218 Glagau, Otto, 43, 88 Glasenapp, Carl Friedrich, 47, 54, 58, 82, 103 Gleichen, Heinrich von, 201 Gleizès, Jean-Antoine, 47 Gobineau, Arthur de, 3, 44, 47–51, 60, 62, 67, 68, 70, 82, 84, 96, 102, 104–106, 108, 123, 186, 205, 207 Goethe, Johann Wolfgang von, 47, 57, 58, 86, 101, 102, 108, 139, 141, 178, 194, 199 Golther, Wolfgang, 220 Gundolf, Ernst, 113, 177, 178 Gundolf, Friedrich, 113, 177, 212 Günther, Hans F. K., 122–124, 205–208 H Haiser, Franz, 213 Hartmann, Eduard von, 10, 43, 74, 184 Hasse, Ernst, 184 Hauptmann, Gerhart, 86 Hausegger, Friedrich von, 75, 76 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 9, 13, 151, 187, 190, 198 Heidegger, Martin, 162 Hentschel, Willibald, 95, 212, 213, 219 Heraklit, 193 Hertefeld, Philipp von, 49 Herwegh, Georg, 14, 15, 36, 55 Hildebrandt, Kurt, 112, 113, 144, 178 Hitler, Adolf, 101, 118, 119, 124, 188, 198 Hofmannsthal, Hugo von, 116–118, 179 Hohenlohe-Langenburg, Ernst zu, 73 Horawitz, Adalbert, 75 Hotzel, Curt, 212 Humperdinck, Engelbert, 56 J Jahn, Otto, 137, 138

Literatur (in Auswahl) Jung, Edgar Julius, 121, 201 Jünger, Ernst, 17, 120, 188, 192, 196–198 Jünger, Friedrich Georg, 188 K Kalthoff, Albert, 213 Kant, Immanuel, 9, 13, 143, 187, 194 Kassner, Rudolf, 117 Keyserling, Hermann Graf, 104 Klages, Ludwig, 114, 115, 121, 175, 176, 182 Klemperer, Victor, 188 Koch, Max, 75, 76 Köselitz, Heinrich, 129 Krieck, Ernst, 185, 197 Kummer, Bernhard, 210 Kusserow, Wilhelm, 210 Kynast, Karl, 209 L Lagarde, Paul de, 10, 43, 66, 67, 111, 112, 128, 214 Lamprecht, Karl, 78–81 Langbehn, August Julius, 96, 98–100, 217 Lange, Friedrich, 63, 96, 218, 219 Liebermann von Sonnenberg, Max, 67, 93 Lienhard, Friedrich, 95–98, 211, 219 Liszt, Franz, 20, 22, 23, 55, 77, 79, 153, 181 Ludwig II., 25, 26, 28–30, 32, 41, 48 Luntowski, Adalbert, 218 Luther, Martin, 10, 34, 58, 140, 182, 215 M Mann, Thomas, 195, 216 Marinetti, Filippo Tommaso, 181 Marr, Wilhelm, 43, 44, 90–92 Menzel, Wolfgang, 33, 34, 140 Merloff, Franz, 75 Meyerbeer, Giacomo, 40, 55, 85, 98, 99 Meysenbug, Malwida von, 48, 54, 155, 157 Moeller van den Bruck, Arthur, 84–86, 105, 119, 120, 185–187, 190, 192, 194 Morel, Benedict Augustin, 46 N Niekisch, Ernst, 181–183, 187, 188, 190, 191 Nordau, Max, 116

Literatur (in Auswahl) O Oehler, Richard, 4 Overbeck, Franz, 3, 10, 110, 111, 128, 154, 156, 157, 184 P Pannwitz, Rudolf, 117, 118, 179 Petter, Carl Reinhold, 213 Pilf, Traugott, 93 Plato, 137, 160, 178, 179 Plenge, Johann, 193 Plüddemann, Martin, 128 Pudor, Heinrich, 96, 99, 217 R Rée, Paul, 153, 156, 157 Reismann-Grone, Theodor, 81 Richter, Hans, 56, 75 Ripke-Kühn, Lenore, 201 Röckel, August, 14, 20, 30, 31 Rodbertus, Johann Karl, 94 Rohde, Erwin, 111, 128, 131, 138, 139, 156, 157, 175, 179, 180 Rosenberg, Alfred, 102, 183, 188 Rousseau, Jean-Jacques, 58, 59, 151 S Schallmayer, Wilhelm, 204, 205 Schemann, Ludwig, 43, 54, 57, 60, 64–68, 70, 78, 81–85, 95, 103–105, 112, 122–124, 128, 220, 221 Schiller, Friedrich, 11, 15, 60, 76, 101 Schmidt, Julian, 74 Schmitt, Carl, 120, 169 Schönerer, Georg von, 103 Schopenhauer, Arthur, 9, 20–25, 27, 31, 32, 40, 42, 47, 48, 51–55, 58–60, 65, 69, 81, 84, 85, 96, 107, 108, 110, 111, 120, 127, 129–134, 136–140, 143, 146–148, 152–156, 178, 179, 184 Schröder, Rudolf Alexander, 118, 180 Schuler, Alfred, 114, 115, 176 Schwaner, Wilhelm, 210, 214 Seidl, Arthur, 76, 78 Semper, Gottfried, 28 Simmel, Georg, 102 Sitte, Camillo, 75 Sokrates, 133, 135, 141, 145, 178

235 Sombart, Werner, 173 Spann, Othmar, 187, 197 Spencer, Herbert, 167 Spengler, Oswald, 124, 125, 186, 193–196 Springer, Robert, 53 Stein, Heinrich von, 45, 58–61, 82, 96, 103, 129 Stirner, Max, 9, 184 Stoecker, Adolf, 43, 45, 63, 67, 92 Strauß, David Friedrich, 156 Strauss, Richard, 116 T Thode, Henry, 57, 59, 68, 69, 104, 111 Tille, Alexander, 202–204 Trebitsch, Arthur, 105 Treitschke, Heinrich von, 45, 74, 184, 211 U Uhlig, Theodor, 19, 40 V Vischer, Friedrich Theodor, 76 Voltaire, 153, 158, 166 W Wachler, Ernst, 211, 212, 214 Wagener, Hermann, 73 Wagner, Eva, 4, 103 Wagner, Siegfried, 4, 6, 58, 118 Wagner, Winifred, 4, 6, 87, 105, 118 Wahrmund, Adolf, 63, 103 Weber, Max, 15, 46, 55, 56, 68, 164, 165 Westernhagen, Curt von, 174, 221 Wiesner, Julius, 103 Wilhelm I., 4, 33, 73 Wilhelm II., 4, 73, 76, 119 Wirth, Moritz, 94 Wolfskehl, Karl, 112, 115, 116, 175 Wolzogen, Hans von, 46, 48, 53, 56, 59–65, 67, 82, 89, 92, 94–96, 98, 103, 104, 110, 128, 153, 174 Z Ziegler, Leopold, 74 Zimmermann, Oswald, 63