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German Pages 324 [315] Year 2023
Bärbel Frischmann
Angstwesen Mensch Furcht, Ängste, Angst und was sie bedeuten
Angstwesen Mensch
Bärbel Frischmann
Angstwesen Mensch Furcht, Ängste, Angst und was sie bedeuten
Bärbel Frischmann Philosophische Fakultät Universität Erfurt Erfurt, Deutschland
ISBN 978-3-662-67875-6 ISBN 978-3-662-67876-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-67876-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Titelbild: SarahRichterArt über pixaby Planung/Lektorat: Franziska Remeika J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.
„… denn wir sind Angst“ (Jean-Paul Sartre)
Vorwort
Angst begleitet uns überallhin und jederzeit. Sie gehört zum Menschen. Das heißt: Menschsein ohne Angst gibt es nicht. Der Mensch ist ein Angstwesen, und dies prägt sein Verhältnis zur Welt, zu anderen und zu sich selbst. Diese Sichtweise mag zunächst überzogen erscheinen. Doch ich möchte zeigen, inwiefern sie sinnvoll ist und welchen Erklärungswert sie hat. Dabei geht es nicht nur um eine theoretische Frage. Denn von der Sicht auf die Angst und ihre verschiedenen Ausprägungsformen sind sowohl die individuellen Lebensvorstellungen jedes einzelnen Menschen als auch die Stimmungslagen ganzer Gesellschaften betroffen. Wir alle haben unsere ganz eigenen Ängste. Wie aber sind diese Ängste zu bewerten? Was sagen sie über mich, über meine Welt, über das Menschsein überhaupt? Welche Bedeutung und welche Funktion haben sie eigentlich? Und wie kann man mit den eigenen Ängsten umgehen? Wie weit sind Gefühle formbar? Welche Rolle spielen das Denken, die Reflexion, die geistige Auseinandersetzung? Hiervon hängt schließlich ab, was man sich selbst zutraut, wie man die eigenen Ängste verstehen und sich ihnen gegenüber verhalten kann. Dies wiederum wird mitbestimmt vom sozialen Klima, das uns umgibt, von den kulturellen, sozialen, politischen Bedingungen, unter denen wir unser Leben führen. Werden Ängste gemeinhin nur als etwas Negatives angesehen, das Leiden verursacht, eine Störung darstellt und krank macht, prägt dies auch den Blick auf die eigenen Ängste. So ist häufig zu lesen, wir würden in einer Angstgesellschaft leben und Angststörungen seien die meistdiagnostizierte psychische Erkrankung unserer Zeit. Doch diese Aspekte müssen in eine umfassendere Perspektive eingeordnet werden, um die Bedeutung von Angst für den Menschen insgesamt als einem denkenden, fühlenden und körperlichen Wesen zu verstehen. Das Angstphänomen umfasst ein breites Spektrum von Furcht und Panik über Phobien und Ängsten bis zu rein geistiger Angst und angstvoller Sorge. Werden alle diese Möglichkeiten des Sich-Ängstigens undifferenziert nur unter dem Aspekt einer Emotion oder eines Gefühls behandelt, kann der geistige Anteil der Angst nicht gesehen werden, der auch in VII
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den gefühlten Ängsten eine wichtige Rolle spielt. Verändert man jedoch die Sichtweise und stellt gerade diese geistige Seite der Angst ins Zentrum der Überlegungen, erscheint das gesamte Angstphänomen in einem anderen Licht. Dann nämlich kann deutlich gemacht werden, dass auch die Ängste, die alle Menschen austragen, geistige Anteile haben, die es ermöglichen, auf sie gezielt Einfluss zu nehmen. Zugleich ist hervorzuheben, dass nicht nur die direkte Furchtreaktion der Lebenssicherung dient, sondern dass auch die Angstgefühle und die geistige Angst ihre positive Funktion darin haben, auf die verschiedenen Arten von Gefahren, Bedrohungen und Risiken, mit denen wir es als Menschen zu tun haben, sinnvoll zu reagieren, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und damit letztlich das eigene Leben in der natürlichen und sozialen Umwelt zu sichern. Dieser Perspektivenwechsel von der Betonung des Leidens zur Würdigung der positiven Seite der Angst erfordert einen umfassenderen, man könnte sagen: philosophischen Begriff von Angst. Ein solches Verständnis der menschlichen Angst wurde am klarsten und prägnantesten in der Theorietradition der Existenzphilosophie entwickelt. Deren weitreichende Erörterungen zur Bedeutung der Angst für das Menschsein überhaupt bilden für mich so etwas wie das Rückgrat meiner Überlegungen. Die Beschäftigung mit den existenzphilosophischen Angstkonzepten von Sören Kierkegaard, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre hat mir den Boden bereitet, Angst als geistiges Phänomen zu sehen. Für die Entwicklung einer umfassenden Herangehensweise habe ich aber auch die Forschungsergebnisse aus anderen relevanten Theorien von der Evolutionsbiologie, Stammesgeschichte, Verhaltenstheorie, Kulturphilosophie, Geistesgeschichte bis zur Neurophysiologie, Psychologie und Soziologie einbezogen, die weitere Mosaiksteine für meine Sicht auf das Thema der Angst geliefert haben und sich in den einzelnen Kapiteln niederschlagen. Doch sollte gleich hier am Anfang auch hervorgehoben werden, dass weder die medizinische Beurteilung verschiedener Erkrankungen, die als Angststörungen oder pathologische Ängste eingestuft werden, noch die psychotherapeutische Beratung im Rahmen meiner Fragestellungen liegen. So ist ein Buch entstanden, in dem ich eine systematische Einordnung der verschiedenen Ebenen und Funktionen des Angstphänomens geben möchte, indem zwischen Furcht als Affekt, Ängsten als Gefühlen und geistiger Angst als Reflexion der Ungewissheiten, Risiken und Bedrohungen, mit denen Menschen konfrontiert sind, unterschieden wird. Es soll dazu beitragen, die menschliche Angst in ihren verschiedenen Modifikationen besser zu verstehen, die eigenen Ängste vielleicht mit verändertem Blick zu sehen und die verschiedenen Angstformen als wichtigen Teil des eigenen Lebens anzuerkennen. Denn Angst ist konstitutiv für das Menschsein, weil Menschen nicht nur körperliche, sondern auch emotionale und geistige Wesen sind. In der Angst wird uns bewusst, dass wir immer Gefährdungen ausgesetzt sind, jedoch die Fähigkeit haben, über die Risiken und Gefahren des Lebens nachzudenken und uns dagegen zu wappnen. Zugleich erfahren wir gerade im Phänomen der Angst auch, dass unser Handeln nicht mehr durch genetische Verhaltens-
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programme angeleitet wird, sondern dass wir zwischen Möglichkeiten abwägen müssen und alles Entscheiden stets auch Verantwortung und Last bedeutet. Diese Dimensionen zu verstehen, ist Voraussetzung für eine bewusste Lebensführung, zu der auch gehört, die Angstkapazität ins eigene Leben zu integrieren, Lebensmut und Optimismus zu stärken, statt sich von den negativen Seiten der Ängste niederschlagen zu lassen. Denn unsere geistigen Fähigkeiten machen uns zu bewussten Akteuren unseres Lebens, indem wir Rationalität, Sprache, Zukunftsdenken und Fantasie bewusst einsetzen können, um unsere Vorstellungen von einem sinnvollen und glücklichen Leben zu realisieren. Und gerade in diesen geistigen Möglichkeiten äußert sich die innere Freiheit des Menschen, deren Spiegel die Angst ist. Mein Dank gilt dem J.B. Metzler Verlag für die Möglichkeit der Publikation. Besonders danken möchte ich Franziska Remeika für die umfassende Betreuung des Projektes, Grit Kern, Dr. Kristina Poncin und Nandhini Shivaji für die sorgfältige technische Bearbeitung. Erfurt, Deutschland
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Inhaltsverzeichnis
1 E inführung: Die begriffliche Unterscheidung zwischen affektiver Furcht, gefühlten Ängsten und geistiger Angst 1 1.1 Zur Terminologie 1 1.2 Die anthropologische Funktionsunterscheidung Körper – Gefühl – Geist 4 1.3 Verschiedene wissenschaftliche Zugänge 12 1.4 Zum Aufbau und Anliegen des Buches 15 2 W ie der Mensch zum Angstwesen wurde: Evolution und Kultur 17 2.1 Biologische Menschwerdung, Bewusstsein, Denken, Sprache 18 2.2 Homo sapiens und die Herausbildung menschlicher Kultur 33 2.3 Furcht, Ängste und Angst als menschliche Grundbefindlichkeiten 45 3 B iologie und Psychologie über Furcht, Ängste und Angst 51 3.1 Erforschung der Furchtmechanismen in der Biologie 52 3.1.1 Neurobiologische Erkenntnisse zu Furchtreaktionen und gefühlten Ängsten 52 3.1.2 Genetik und Epigenetik 58 3.1.3 Biologische Verhaltensforschung 60 3.2 Furcht, Ängste und Angst im Spiegel der Psychologie 62 3.2.1 Kognitionspsychologie 64 3.2.2 Angststörungen als psychische Erkrankungen 68 3.3 Die psychoanalytischen Angsttheorien Sigmund Freuds und Fritz Riemanns 72 3.3.1 Sigmund Freud: Realangst, neurotische Angst, Gewissensangst 72 3.3.2 Fritz Riemann: Grundformen der Angst als Weisen des In-der-Welt-seins 78 XI
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4 F urcht, Ängste, Angst in der europäischen Theoriegeschichte 83 4.1 Antike 84 4.1.1 Mythologie 84 4.1.2 Platon: Philosophie als angemessener Umgang mit den eigenen Ängsten 87 4.1.3 Aristoteles: Affekte und Tugendhaftigkeit 90 4.1.4 Stoische Seelenruhe ohne Ängste 92 4.2 Christliche Theologie: Gottesfurcht und Angst vor der Sünde 95 4.2.1 Angstkonzepte in der christlichen Theologie von Augustinus bis Mittelalter 97 4.2.2 Martin Luther: Gottesfurcht und Gnadenhoffnung100 4.3 Die Entstehung eines neuen Weltbildes: Neuzeit und Aufklärung102 4.3.1 Das neue Weltbild: Uhren und Automaten104 4.3.2 Das neue Menschenbild: Formbarkeit und Autonomie105 4.3.3 Immanuel Kant: Temperament, Charakter und Vernunft108 4.3.4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Angst als Fähigkeit des Selbstbewusstseins112 4.3.5 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Angst, Freiheit und das Böse114 4.4 Das Angstbewusstsein in der Moderne116 5 D er Angstbegriff der Existenzphilosophie127 5.1 Sören Kierkegaard: Angst als Blick in den Abgrund der Freiheit129 5.1.1 Ein Engel hat keine Angst. Das reflexive Verhältnis zu sich selbst als Grundlage der Angst130 5.1.2 Halt am Abgrund? Die Unterscheidung zwischen Furcht, einzelnen Ängsten und wesenhafter Angst134 5.1.3 Angst als dienender Geist. Freiheitsbewusstsein und Selbstbildung139 5.1.4 Das Bewohnen der eigenen Kelleretage. Verzweiflung als Äußerungsform der Angst143 5.2 Martin Heidegger: Angst als Ausdruck der Sorge um das eigene Dasein149 5.2.1 Verstehen und Befindlichkeit, Geworfenheit und Entwurf150 5.2.2 Die grundlegende Unterscheidung zwischen Furcht und Angst152 5.2.3 Angst, Gewissen, Schuld155 5.2.4 Flucht oder mutige Entschlossenheit?158 5.3 Jean-Paul Sartre: Angst, Freiheit und Verantwortung161 5.3.1 Ekel als Symptom der Angst162 5.3.2 Existenz, Freiheit, Angst166
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5.3.3 Flucht vor der Angst: Die Unaufrichtigkeit171 5.3.4 Existenzialismus, Freiheit und Verantwortung172 5.4 Günther Anders und Hans Jonas: Die moralische Funktion der Angst176 6 Ä ngste und Angst als soziales Phänomen181 6.1 Sozialverhalten und soziale Ängste im Licht der Verhaltensforschung182 6.2 Institutionalisierung des Zusammenlebens189 6.3 Einige soziologische Perspektiven auf die Problematik der sozialen Ängste195 6.4 Untersuchungen zu den Ängsten der Deutschen210 6.5 Ein Blick in die Geschichte: Jean Delumeaus Studie zur „Angst im Abendland“215 6.6 Beispiel: Die Große Furcht (La Grande Peur) 1789 in Frankreich219 7 P olitische Ängste. Macht, Totalitarismus, Terror221 7.1 Politik und Macht222 7.2 Politische Extremform: Diktatur und Totalitarismus227 7.3 Terror und die Erzeugung von Ängsten als Herrschaftsinstrumente228 7.4 Ängste im demokratischen Wohlfahrtsstaat233 8 R eligionen, Ideologien und Verschwörungstheorien239 8.1 Weltbilder und Orientierungsängste240 8.2 Religionen248 8.3 Politische Ideologien253 8.4 Verschwörungsvermutungen und Verschwörungstheorien256 9 S chlussüberlegungen: Der Mensch als Angstwesen und die Macht des menschlichen Geistes267 9.1 Der Mensch als biologisches, kulturelles und soziales Wesen268 9.2 Die Grundfunktionen: affektive Furcht, gefühlte Ängste, geistige Angst277 9.2.1 Furcht278 9.2.2 Gefühlte Ängste279 9.2.3 Geistige Angst286 9.3 Akzeptanz der Angst und die Macht des menschlichen Geistes288 Literatur303
KAPITEL 1
Einführung: Die begriffliche Unterscheidung zwischen affektiver Furcht, gefühlten Ängsten und geistiger Angst
1.1 Zur Terminologie Eine erste Hürde, vor der alle stehen, die sich mit der Angstproblematik genauer beschäftigen wollen, besteht in der Unbestimmtheit der Begriffe. In der deutschen Alltagssprache gibt es keine klaren Verwendungsweisen im Begriffsfeld Angst, Sorge, Ängste, Phobien, Panik und Furcht und den vielen parallel verwendeten Wörtern. Wir sagen, dass uns „angst und bange“ wird, dass wir „Bammel haben“, dass uns vor etwas „graut“ oder dass wir etwas „gruselig“ oder „unheimlich“ finden. Wir sprechen von „panischer Angst“, „Angst und Schrecken“, „fürchterlicher Angst“ oder „schrecklicher Angst“. In einem Märchen wird beschrieben, wie jemand auszog, das Fürchten zu lernen. Wir unterscheiden im normalen Sprechen kaum zwischen „ich fürchte mich“, „ich ängstige mich“ und „ich habe Angst“ oder auch nicht zwischen Befürchtung und Besorgtheit. Doch wir verstehen in den jeweiligen konkreten Kontexten ganz gut, dass doch sehr unterschiedliche Arten von Bedrohlichkeiten und auch verschiedene Arten von individueller Ängstlichkeit gemeint sein können. So macht es durchaus einen gravierenden Unterschied, ob ich sage: „ich habe Angst vor den Folgen des Klimawandels“, oder „ich habe Angst vor Spinnen“, „ich fürchte mich in der Dunkelheit“ oder „ich fürchte mich vor einem Atomkrieg“, „ich sorge mich um das Wohlergehen meiner Kinder“ oder „ich sorge mich um mein Bankkonto“. Einerseits wissen wir, dass das ganze Leben Risiken und Gefahren mit sich bringt, uns immer eine gewisse Unsicherheit begleitet und damit vernünftigerweise auch eine Art Grundangst, die noch näher zu erklären sein wird. Andererseits richten wir unsere Aufmerksamkeit im normalen, alltäglichen Leben auf viele konkrete Ängste und das, wovor wir uns fürchten. Im Begriffsfeld Angst wird also eine große Vielschichtigkeit des Gesamtbereichs deutlich – von der instinktiven Furcht über Phobien, Ängste und Sorgen bis zur geistig ausgeformten, allgemeinen Angst.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Frischmann, Angstwesen Mensch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67876-3_1
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In der Rekonstruktion der Begriffsgeschichte kann gezeigt werden, dass sich ein Verständnis für die Vielschichtigkeit des Angstphänomens erst nach und nach herausgebildet hat. In der griechischen Antike herrschte der Begriff phobos vor, der vor allem als Furcht übersetzt werden kann und in den späteren Begriff der Phobie eingegangen ist. Im mittelalterlichen Latein dominierte vor allem timor (Furcht, auch als Gottesfurcht), aber es gab auch weitere Termini wie metus (Furcht als Befürchtung, Besorgnis), pavor (Entsetzen, Furcht, Schrecken) oder das Wortfeld angor bzw. angustus, was übersetzt werden kann mit Beklemmung, Unruhe, Enge. Aus Letzterem hat sich im Deutschen „Angst“ entwickelt, das ebenfalls zunächst bedeutete „eng“ (eng in der Brust, es schnürt sich einem den Atem ab, beklemmend). Bis ins 19. Jahrhundert bildete dabei „Furcht“ den allgemeineren und umfassenderen Begriff mit größerer Reichweite, „Angst“ war nur ein Spezialfall der Furcht. Dies hat sich jedoch mittlerweile geradezu umgekehrt. Dabei stammt die bahnbrechende begriffliche Umprägung von Sören Kierkegaard Mitte des 19. Jahrhunderts. Zum einen sah er nicht Furcht, sondern Angst als entscheidend an, zum anderen brachte er mit diesem aufgewerteten Angstbegriff eine neue Dimension ins Spiel: Kierkegaard hob die geistig-reflexive Seite der Angst als Spiegel menschlicher Freiheit hervor. Von da an begann sich auch das Sprachgefühl zu wandeln: Der Begriff der Angst hat nun eine allgemeinere, umfassendere Bedeutung gewonnen und ist zum Leitbegriff geworden. So wird heute nicht von Furchtforschung, sondern Angstforschung gesprochen, nicht von Furchtstörung, sondern von Angststörung. Doch die terminologischen Schwankungen betreffen auch die einzelnen Wissenschaften, die sich mit der Furcht-Angst-Problematik in ihren jeweiligen Forschungsfeldern beschäftigen. Dabei werden bis heute die Begriffe Furcht, Ängste oder Angst in den jeweiligen Fachdisziplinen, ja selbst innerhalb derselben Disziplin, ziemlich unterschiedlich verwendet. Dies liegt auch daran, dass die einzelnen Wissenschaften verschiedene Schwerpunkte setzen und spezifische Forschungsinteressen verfolgen, was sich wiederum auf die Begriffsformung auswirkt. Ich möchte dies an einer Analogie verdeutlichen. Wenn die mit einer Reparatur beschäftigte Klempnermeisterin zum Auszubildenden sagt: „Gib mir bitte die Zange!“, ist für Außenstehende überhaupt nicht klar, welche Zange gemeint ist. Im konkreten Kontext weiß der Auszubildende aber sehr wohl, dass seine Meisterin eine Rohrzange benötigt. Je nach auszuführender Tätigkeit hätte es auch eine Kneifzange oder Biegezange sein können. Jede Tätigkeitsart verlangt die ihr entsprechenden Werkzeuge. Ebenso ist es auch für die konkrete Analyse bestimmter Ängstigungsweisen nicht ausreichend, nur von „Angst“ zu sprechen, sondern muss eine terminologische Unterscheidung vorgenommen werden (so wie die Klempnerin unterschiedliche Zangen benutzt), um damit klarzulegen, welche Ebene, welche Funktion, welche Seite des umfassenden Angstkontextes jeweils erörtert wird. Überschaut man das Gesamtfeld der Wissenschaften und Theorien, die den großen Bereich der Angst im weitesten Sinn tangieren, bleiben die Positionen bis heute insgesamt sehr uneinheitlich. Allein in der Psychologie und Psychotherapie gibt es verschiedenste Arbeitsweisen und theoretische Grund-
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annahmen, die sich auf die Ausgestaltung der Begriffe auswirken. So finden einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Unterscheidung FurchtAngst überflüssig. Dies mag für einzelne Fragestellungen in der Tat genügen, so wie es für bestimmte Zwecke ausreicht, von Zange zu sprechen und nicht von Rohrzange oder Kneifzange. Will man aber bestimmte Aspekte deutlicher hervorheben, genauer analysieren und herausarbeiten, auf welchen Ebenen, mit welchen Funktionen und in welchen Dimensionen die verschiedenen Facetten von Furcht, Panik, Schrecken, Ängsten bis Befürchtungen und allgemeiner angstvoller Sorge wirksam sind und was sie jeweils leisten, müssen klare begriffliche Abgrenzungen vorgenommen werden. Die Begriffe werden dann in den verschiedenen Theorien je nach Bedarf geprägt und angepasst. Wir können also nicht darauf vertrauen, dass alle automatisch wissen, was wir meinen, wenn wir von Furcht, Ängsten, Angst, Sorge usw. sprechen. Deshalb ist die konkrete Begriffsklärung entsprechend dem jeweiligen Kontext essenziell. Denn Begriffe sind für unser Denken das, was Werkzeuge für das Handwerk sind, sie sind die Hilfsmittel, mit denen wir unser Wissen bearbeiten und in eine Form bringen, um damit etwas erklären zu können. Und dafür müssen sie funktionsgerecht angefertigt werden. Benutzen wir andere Hilfsmittel, das heißt andere Begriffe, verändert sich das hergestellte Produkt, verändern sich die Inhalte des Denkens. Mit Begriffen arbeiten, d. h. be-greifen wir, wir strukturieren unser Wissen und versuchen, verschiedene Aspekte aufeinander zu beziehen, damit Zusammenhänge deutlich werden. So verstehen die Naturwissenschaften unter „Gesetz“ inhaltlich etwas anderes als die Rechtswissenschaften. Dasselbe Wort hat vollkommen verschiedene Begriffsinhalte. Diese Schwierigkeit der Begriffsverwendung betrifft aber auch die Charakterisierung der körperlich-psychischen Komponenten. So ist die Terminologie Affekt, Emotion, Gefühl ebenfalls nicht eindeutig etabliert. In jeder Theorie wird das Begriffsfeld jeweils entsprechend der eigenen Forschungsinteressen definiert, und dem angepasst werden dann die Termini verwendet. Bei meiner eigenen Begriffsverwendung, die noch genauer erläutert werden wird, habe ich mich für folgende Vorgehensweise entschieden. Ich verwende solche allgemeinen Sammelbegriffe wie „Angstphänomen“, „Angstthema“ oder „Angstbereiche“, um das Gesamtfeld zu kennzeichnen. Als Ausdifferenzierung unterscheide ich in diesem Gesamtkontext drei Ebenen bzw. Funktionen: . die körperlich-emotional-affektive Seite nenne ich Furcht, 1 2. die als beklemmend erlebten Gefühle des Sich-Ängstigens nenne ich gefühlte Ängste, 3. die nur in Gedanken vollzogene Auseinandersetzung mit den Gefahren des menschlichen Daseins wird geistige Angst genannt. Als rein geistige Angst ist sie von den gefühlten Ängsten dadurch unterschieden, dass hier keine typischen körperlichen Reaktionen abgerufen werden, sondern eine allgemeine Besorgnis zum Tragen kommt.1 Eine explizite Dreiteilung des Angstbereichs habe ich bisher nur bei Heinz Wiesbrock gefunden, der Furcht, Angst und Sorge unterscheidet (Wiesbrock 1967, S. 5). 1
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Die terminologische Dreiteilung affektive Furcht – gefühlte Ängste – geistige Angst trägt das gesamte Buch und muss zunächst begründet werden. Sie soll zum einen eine genauere Identifizierung der verschiedenen Funktionen und Wirkungsweisen des Sich-Ängstigens ermöglichen, um auch sinnvoll ermitteln zu können, wie mit den jeweiligen Ängstigungsformen umgegangen werden kann. Mein spezielleres Anliegen dabei ist es aber auch, die Bedeutung und Tragweite der rein geistigen Seite der Angst hervorzuheben. Hierfür ist es erforderlich, die geistige Angst insbesondere von den gefühlten Ängsten abzugrenzen. Es reicht somit nicht aus, nur zwischen Furcht und Angst zu unterscheiden, wie dies in der heutigen Angstforschung, die vor allem in der Psychologie angesiedelt ist, häufig erfolgt. Denn dabei wird mit „Angst“ lediglich der Bereich der gefühlten Ängste gefasst, die geistig-reflexive Seite des Menschen bleibt meist unterbelichtet, und zwar nicht nur für das Verständnis der Angstthematik, sondern zum Teil auch für die Einordnung der menschlichen Emotionen und Gefühle insgesamt. Gerade der Bereich der geistigen Angst ist aber entscheidend dafür, die grundlegende Wirkungsweise und Bedeutung der Angst für den Menschen verdeutlichen zu können. Und dies ist auch relevant dafür, wie die gefühlten Ängste eingeordnet werden. Insbesondere die geistige Seite der Angst gibt Auskunft darüber, vor welchen Herausforderungen Menschen, im Unterschied zu Tieren, stehen. Denn Menschen verfügen über die Fähigkeit, Geschehnisse in größeren Zusammenhängen zu denken, ein komplexes Selbstbewusstsein zu entwickeln, sich auf Vergangenheit und Zukunft zu beziehen, Lebenspläne zu entwickeln, bewusste Entscheidungen zu treffen. Menschen wissen, dass es Normen, Regeln und Strukturen gibt, in die sie ihr Handeln einfügen und die von ihnen Verantwortung für das eigene Handeln abverlangen. Menschen wissen, dass sie verletzlich und sterblich sind. Um gerade diese geistig-reflexive Seite des Angstbewusstseins zu verstehen und richtig einzuordnen, ist die Abgrenzung insbesondere von den gefühlten Ängsten wichtig. Es muss in diesem Zusammenhang auch hervorgehoben werden, dass die therapeutische Behandlung von übersteigerten Ängsten meist darauf zurückgreift, die eigenen geistigen Kräfte zu aktivieren, um auf die Psyche gezielt Einfluss zu nehmen. Hier auch ein Verständnis der geistigen Angst einzubeziehen, wäre sicherlich hilfreich. Um die vorgeschlagene Dreiteilung des Angstphänomens am Anfang des Buches noch etwas plausibler zu machen, möchte ich sie auf die traditionelle anthropologische Differenzierung Körper – Seele (im Sinne von Gefühlsleben) – Geist (Denken) beziehen.
1.2 Die anthropologische Funktionsunterscheidung Körper – Gefühl – Geist Die drei Begriffe Furcht – Ängste – geistige Angst haben eine Parallele in der traditionellen Unterscheidung Körper – Gefühl – Geist, der die jeweiligen menschlichen Leistungen zugeordnet werden. Doch besteht der Mensch nicht
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aus drei separaten Teilen, die einfach wie Bausteine aufeinandergestapelt werden können. Vielmehr ist der Mensch ein aktiver Gesamtorganismus, der sich selbst reguliert und organisiert, bestehend aus komplexen, untereinander verbundenen Fähigkeiten, die evolutionär und kulturell entstanden sind und sich in ihren grundlegenden Leistungen für das Überleben bewährt haben. Diese wechselseitige Abhängigkeit zeigt sich bei allen Funktionen. So können Gefühle oder Gedanken nur erklärt werden, wenn auch etwas über physische Organe, Gehirnaktivitäten, Hormone und Informationsverarbeitung gesagt wird. Umgekehrt lassen sich selbst basale Lebensfunktionen wie Verdauung, Herzschlag, Atmung bis zu einem gewissen Grad willentlich etwas beeinflussen, beispielsweise durch Meditation und Einüben geistiger Selbstbeherrschung. Seelische Nöte können zu körperlichen Leiden führen. Schmerzen lenken uns ab und hindern uns daran, uns auf die Fertigstellung der Steuererklärung zu konzentrieren. Lebenseinstellungen prägen den Umgang mit dem eigenen Körper, zum Beispiel wie wir uns ernähren, ob wir Sport treiben oder wieviel Aufmerksamkeit wir der Körperpflege widmen. Alle diese verschiedenen Aspekte sind also untrennbar miteinander verwoben, sie wirken zusammen, ohne dass wir es bemerken, und bilden gerade erst in dieser ständigen gemeinsamen Aktivität und dem Streben nach innerem Gleichgewicht (Homöostase) den Gesamtorganismus mit seinen körperlichen und geistigen Funktionen. Das bedeutet aber auch, dass es „den Körper“, „die fühlende Seele“ oder „den denkenden Geist“ als isolierbare Gegebenheiten, als eigenständige Gebilde, nicht gibt, sondern dass wir mit diesen Begriffen jeweils sehr komplexe Vorgänge zusammenfassen. Die Dreiteilung Körper, Gefühlsleben, Geist (ebenso wie die Unterscheidung Furcht – Ängste – Angst) ist eine theoretische Abstraktion. Sie dient dazu, bestimmte Vermögen und Fähigkeiten besser verstehbar zu machen. Welche Funktionen werden Körper, Gefühl und Geist dabei jeweils zugeordnet? Der Körper stellt die materielle Grundlage aller Funktionen des Organismus in ihrem Zusammenwirken dar. Der Körper ist kontinuierliche, unbewusste und größtenteils nicht durch den Willen zu steuernde Gesamtaktivität. Er trägt auch alle Bewusstseinsprozesse. Unter Gefühlen sollen die Bewusstseinsaktivitäten gefasst sein, die dem Individuum Informationen und Bewertungen hinsichtlich seiner jeweiligen Befindlichkeit liefern. Wenn ich nach einer anstrengenden Bergtour den Gipfel erreicht habe, durchströmen mich Stolz und Freude: Ich fühle das Angenehme meiner Reaktion. Gefühle sind das direkte innere Erleben des momentanen Zustandes des eigenen Ichs. Dabei wirken zwei Komponenten zusammen: die emotionalen Vorgänge und die gedankliche Einordnung. Mit Emotion bezeichne ich die körperlichen Programme, die als Reaktion auf einen Reiz abgespult werden. Im Wort Emotion steckt das Motorische, die innere körperliche Bewegung in der Form von Nervenimpulsen, Hormonflüssen und dadurch veranlassten Veränderungen der Organfunktionen. Diese körper-
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lichen Vorgänge werden durch die Gefühle wahrgenommen, gefühlt und nach bestimmten Mustern des Bewusstseins interpretiert. Wenn der Puls sich beschleunigt, tiefe Atemzüge einsetzen, sich vom Gipfel aus den Augen ein weiter Blick öffnet, finden körperlich-neuronale Verarbeitungsprozesse statt, die Emotionen, die im Bewusstsein anhand bestehender Erfahrungen und Erinnerungen weiterverarbeitet und eingeordnet werden, was schließlich als Gefühl der Freude empfunden wird. Unsere Gefühle „sagen“ uns etwas darüber, wie wir eine konkrete Lebenslage, ein Geschehnis oder einen inneren Zustand bewerten: ob uns etwas erfreut, verärgert, stolz macht, beschämt, ängstigt usw. Die Besonderheit der Gefühle besteht darin, dass sie sich unmittelbar und spontan einstellen, ohne dass langwierige oder subtile rationale Abwägungen vorgenommen werden müssen. Sie helfen uns in dieser direkten Reaktion, uns in der konkreten Situation verhalten zu können. Die Fähigkeit der Ausbildung von Emotionen und Gefühlen ist zwar genetisch geprägt, doch vor allem Gefühle werden im Laufe des Lebens anhand von Erfahrungen, äußeren Einflüssen und eigenen Vorstellungen jeweils individuell geformt. Dabei werden Bewertungssysteme verinnerlicht und in bestimmten auslösenden Situationen direkt aktiviert. Gefühle wie Scham, Freude, Neid, Wut, Sympathie, Abneigung durchziehen unser gesamtes Leben und sind machtvolle Motive des Handelns. Unter dem Begriff Geist soll hier keine feststehende Wesenhaftigkeit verstanden werden, sondern ich möchte damit alle Aktivitäten kennzeichnen, die wir mit dem Adjektiv geistig charakterisieren: geistiges Schaffen, geistige Fähigkeiten, geistige Leistungen. Dies umfasst alle Vermögen des Denkens wie Beurteilen, Bewerten, Analysieren, Interpretieren, Ordnen, Berechnen, Erinnern, aber auch des Vorstellens und gedanklichen Gestaltens. Sie befähigen uns, eine komplexe Sprache, Moral, Religion, Kunst, Politik, Recht, Wissenschaft zu entwickeln, eigene Lebensentwürfe zu kreieren und danach unser Leben zu gestalten. Wir können kraft geistiger Bemühungen Vorstellungen von der Welt und von uns selbst bilden, Perspektiven zur Welterklärung entwickeln und prognostisch planen. Geistige Aktivitäten beruhen auf umfassender, komplexer Informationsverarbeitung, die Zeit braucht und durch jede neue Information erweitert wird. Insofern unterscheiden sich geistige Prozesse von Gefühlen vor allem darin, dass sie nicht direkt reagieren, sondern eine längerfristige und umfassendere Verarbeitungsweise darstellen. Und während Gefühle an bestimmte Situationen gebunden sind und abflachen, wenn die Situation vorüber ist, lassen sich die entwickelten Gedanken und Vorstellungen immer wieder abrufen und weiterdenken. Welchen Anteil haben nun Körper, Gefühle und geistiges Tun an den verschiedenen Ebenen des Angstvermögens? Die direkte körperliche Reaktion auf das Wahrnehmen einer gefährlichen Situation soll hier Furcht genannt werden: Der Organismus reagiert direkt auf etwas im nahen Umfeld. Man befindet sich unmittelbar in einer Gefährdungslage oder glaubt dies zumindest. Wenn ich nachts erwache, Geräusche höre und einen Einbrecher in meiner Wohnung vermute, setzen unmittelbar körperliche Warnreaktionen ein wie Schweißausbruch, erhöhter Puls,
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Adrenalinausschüttung, beschleunigte Atmung. Diese körperlichen Abläufe sind biologisch angeboren; sie sind sinnvolle Schutzmechanismen des Organismus, indem sie die Aufmerksamkeit steigern und die Flucht- oder Verteidigungsbereitschaft erhöhen. Diese Funktionen finden sich bei allen höher entwickelten Tieren und werden als unangenehm „empfunden“. Denn sie entsprechen nicht dem Normalniveau der Körperfunktionen, sondern zeigen eine Abweichung an, die Alarm auslöst. Die körperlichen Reaktionen auf Gefahrensituationen sind genetisch programmiert und kaum rational steuerbar, weil sie der primären Überlebenssicherung dienen. Allerdings lässt sich die Intensität von Furchtreaktionen in einem gewissen Umfang durch gezielte Konditionierung abschwächen. Beim ersten Klettern auf den Baum kann man Furcht haben. Wenn einem der Baum aber vertraut wird, man ihn schon viele Male erklettert und dabei eine gewisse Routine gewonnen hat, wird die Furcht abnehmen oder ganz verschwinden. Hat der Baum allerdings viele morsche Äste, muss ich bei jedem Knacken damit rechnen, dass der Ast, auf dem ich jetzt im Moment stehe, wegbrechen könnte, und es durchfährt mich der Schreck, der zu den direkten Furchtreaktionen gehört. Mit der Herausbildung höherer, reflexiver Bewusstseinsleistungen, die es ermöglichen, sich selbst beobachten zu können und das eigene Verhalten bewusst zu steuern, entwickeln sich stammesgeschichtlich aus der Furcht komplexere Verarbeitungs- und Reaktionsweisen, zu denen auch die als Gefühle erlebten Ängste gehören. Auch Ängste zeigen Gefahren an, nur sind hier, im Unterschied zur Furcht, stärker geistig-kognitive Prozesse beteiligt. Während die Furcht unmittelbar Gefahr anzeigt, spiegeln Ängste nicht direkte Gefährdungen wider, sondern gedankliche Vorstellungen davon, was passieren könnte. Ängste haben keinen direkten Anlass im Hier und Jetzt, sondern sind Befürchtungen, die sich in der Fantasie entwickeln und ausgestaltet werden. Dennoch spielen sich auch bei den Ängsten ähnliche körperliche Reaktionen ab wie bei der Furcht. Die Ängste als Gefühle zeigen auch bei nur gedachten Gefahren solche Symptome wie Herzrasen, Schwindel, innere Unruhe oder Schlaflosigkeit wie bei der Furcht. Konkretere Ängste bestehen daraus, sich gedanklich bestimmte Gefahrensituationen vor Augen zu führen, in die man sich hineinversetzt und die als bedrohlich empfunden werden: z. B. Ängste vor dem Fliegen, vor Prüfungen, vor engen Räumen oder auch vor Dingen in der Welt, das mögliche Auftauchen von bedrohlichen Tieren, Vampiren oder Mördern. Aber Ängste betreffen auch allgemeinere Aspekte: Wir ängstigen uns vor Krankheit, vor dem beruflichen Scheitern, vor Verlusten, vor sozialer Ausgrenzung, vor dem Tod oder gar vor dem Ängstigen selbst. Dieses gedankliche Vorstellen möglicher Gefahren ist der geistige Anteil am Gefühlsgeschehen der Ängste. Doch im Unterschied zur rein geistigen Angst sind Ängste, also die Angstgefühle, dadurch gekennzeichnet, dass sie die körperlichen Reaktionsmuster wie bei der Furcht aktivieren. Obwohl die Gefahren nur gedacht sind, werden sie nichtsdestotrotz körperlich erlebt; der Organismus reagiert, als ob man sich tatsächlich unmittelbar in einer Gefährdungssituation befindet. Dies erklärt sich daraus, dass dieselben Hirnregionen aktiviert werden wie bei
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äußerer, direkter Gefahr und der Körper mit ähnlichen Symptomen wie erhöhtem Puls, Schweißausbruch, Unruhe, Appetitlosigkeit reagiert. Wenn ich Ängste davor habe, an Krebs zu erkranken, und mir ständig darüber Gedanken mache, was eine Erkrankung mit sich bringen könnte, stelle ich mir zwar die möglichen Schmerzen, die Beeinträchtigung des Lebens oder gar das Sterben nur vor, aber es wird dabei das Furchtzentrum im Gehirn angesprochen. Doch während die Furcht erlischt, wenn die Gefahr vorüber ist, ist das Fatale der Ängste, dass sich die Gedanken und Vorstellungen immer wieder abrufen lassen. Deshalb kommt bei ausgeprägten Ängsten der Organismus nicht zur Ruhe, sondern kann in einen Zustand länger währender oder permanenter Anspannung geraten, einer Art Dauerstress, der dann schwer abgebaut werden kann. So können sich Ängste tief im Bewusstsein verankern und dann auch zu einer starken Beeinträchtigung des Lebens der Betroffenen führen bis hin zu pathologischen Formen, die therapiert werden müssen. Als eine solche dauerhafte Ängste-Konstellation wird die „generalisierte Angststörung“ bezeichnet, die vor allem durch übersteigerte Besorgtheit bei allem und jedem gekennzeichnet ist. Auch für die Ängste ist es aber wichtig zu sehen, dass sie zwar als unangenehm, beklemmend oder gar als leidvoll erlebt werden, aber dennoch die positive Funktion haben, Menschen Auskunft darüber zu geben, was ihnen im Leben wichtig erscheint, was sie schützen möchten und was sie als bedroht ansehen. Sie signalisieren immer etwas an mir selbst und zwar als Mensch. Ängste sind spezifisch menschlich. Auch Tiere sind verletzlich und sterblich, aber sie wissen es nicht. Der Mensch weiß es und kann sich unterschiedlichste Möglichkeiten der Gefährdung in näherer oder fernerer Zukunft vorstellen. Dies trägt dazu bei, sich auf Gefahren und Risiken einzustellen. Wie die Furcht haben auch die Ängste eine Schutzfunktion, zwar nicht für konkrete Einzelsituationen, aber für das menschliche Leben in seinen verschiedenen Dimensionen insgesamt. Ängste beziehen ihre Inhalte aus den jeweiligen Lebenssituationen, den sozialen Stimmungen, den kulturellen Gegebenheiten und den individuellen Erfahrungen. Sie sind so vielfältig und variantenreich, wie es menschliche Individuen in ihren verschiedenen Lebenslagen gibt. Sie informieren Menschen über potenzielle Bedrohungen und tragen dazu bei, aufmerksam und umsichtig zu sein und sich gegenüber möglichen Widrigkeiten zu wappnen. Insofern sind Ängste wichtig und willkommen. Doch wenn sie sich verselbstständigen, wenn sie Menschen aus dem Gleichgewicht bringen, statt ihnen Orientierung zu geben, müssen sie reguliert werden. Viele Jahrhunderte lang sind dazu Strategien, Lebenseinstellungen und Techniken eingeübt worden: von der Ausrichtung der Stoiker auf die Seelenruhe bis zu den buddhistischen Meditationen, von magischen Ritualen bis zum Gebet, vom körperlichen Auspowern bis zur Reaktionsumleitung beim Lesen eines Thrillers. Der Mensch verfügt aber auch über eine Angstform, die nur auf geistig- gedanklicher Ebene ausgetragen wird und die ich deshalb als geistige Angst bezeichne. Sie ist von der Furcht und den alltäglichen oder diffusen Ängsten noch einmal zu unterscheiden, weil hier die körperlich-emotionalen Prozesse
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der direkten Gefahrenabwehr und der Stressverarbeitung nicht ausgelöst werden. Vielmehr spielt nun die gedankliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich in der Welt, in der es lebt, die entscheidende Rolle. Sartre schrieb: „die Angst, das bin Ich“.2 Hiermit wird ein rein geistig-reflexiver Standpunkt eingenommen, von dem aus nicht mehr der Fokus auf Furchtsituationen und auf Inhalte oder Ausprägungsarten des möglichen Ängstigens gerichtet ist, sondern das Ich auf sich selbst und sein Dasein als Mensch in der Welt schaut. Es geht um die rein geistige Fähigkeit des Menschen, über sich selbst, die eigene Selbstbestimmung in Richtung Zukunft und die Bedingungen des Menschseins nachzudenken. Geistige Angst kann auch als eine allgemeine Sorge um sich selbst oder andere, um die eigenen Lebensmöglichkeiten und die Zukunft der Menschheit angesehen werden. Diese geistige Angst entsteht daraus, dass wir wissen, dass wir unser eigenes Leben letztlich nicht voll in der Hand haben. Sie zeigt uns die Kluft zwischen unserem Bemühen, das eigene Leben sinnvoll zu führen, und den vielen Unberechenbarkeiten, die das Leben mit sich bringen kann. Niemand von uns kann ganz genau wissen, was ihm der nächste Tag bringen wird. So dreht sich die geistige Angst um solche Fragen wie Offenheit der Zukunft, Vielfalt von Möglichkeiten, Unkalkulierbarkeit der Folgen des Handelns oder Wahl- und Entscheidungsfreiheit. Die geistige Angst ist damit eine grundlegende Welt- und Selbstsicht. In ihr wird das Bewusstsein der prinzipiellen Bedrohungs- und Gefährdungsmöglichkeit, der Verletzlichkeit und Sterblichkeit des Menschen verarbeitet. Sie ist eine Grundbefindlichkeit aufgrund der Einsicht, dass wir als Menschen unser eigenes Leben zwar selbst gestalten wollen, dass dabei aber die Zukunft nicht vorhersehbar ist und wir uns mit jeder einzelnen Entscheidung und Handlung ins Feld der Unwägbarkeit begeben. Genau diese Ungewissheit ist der Grund der geistigen Angst. Und vor allem hinsichtlich der fundamentalen Lebensfragen, ob man leben oder sterben will, welche Werte im Leben wichtig sind, wofür es sich zu kämpfen lohnt, zeigt das Angstbewusstsein an, dass es hierfür keine unbezweifelbaren, verbindlichen Antworten gibt, zumindest dann nicht, wenn man die Zukunft und die eigene Identität für unbestimmt hält. Doch ist die damit einhergehende Verunsicherung für viele Menschen schwer zu ertragen. Sie suchen nach Halt und Orientierung, seien es Religionen, Weltanschauungen, Ideologien oder andere sinnversprechende Angebote, und hoffen auf die Entlastung von der Qual der Wahl. Sartre nannte dies die Flucht vor der Freiheit in die Unaufrichtigkeit. Die geistige Angst unterscheidet sich von den in Gefühlen erlebten Ängsten zwar dadurch, dass sie nicht in der Form von Gefühlen und Leiden erlebt wird, sondern rein gedanklich ausgetragen wird. Dennoch können diese Gedanken, die hier im Sinne der Zukunftssorge eine Rolle spielen, durchaus auch Bestandteil in den Angstgefühlen, den gefühlten Ängsten der Menschen, sein. Sie können Teil werden der individuellen Ängste, indem sie mit konkreteren Inhalten, Bildern, Erinnerungen verbunden werden, die dann die Auslöser der psychosomatischen Effekte, also der Angstgefühle, sind. Umgekehrt kann man aber 2
Sartre 1993, S. 98.
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auch ein Stück weit lernen, die in Gefühlen ausgetragenen Ängste in geistige Angst umzuwandeln, sie auf eine gewisse Weise zu neutralisieren und sie so nicht mehr als Unbehagen zu erleben, sondern sich mit ihnen gedanklich abstrakter auseinandersetzen zu können. Doch auch der soziale Lebenskontext und die historischen Lebensbedingungen haben einen großen Anteil daran, wie umfassend der gesamte Angstkontext ausgeprägt ist, wie sich Nöte, Sorgen und Erschütterungen in den einzelnen Ängsten spiegeln. Es gibt Phasen, in denen bestimmte Arten von Ängsten große Wirksamkeit entfalten und ganze Gemeinschaften durchdringen, z. B. politische oder religiöse Ängste, es gibt Zeiten der Stabilität, des Wohlstands und Friedens, in denen sie eher zurücktreten. Sicherlich kann aber davon ausgegangen werden, dass mit der Entwicklung moderner, pluraler, offener Gesellschaften, mit der hohen Dynamik der Veränderungen im individuellen Leben und einer starken Tendenz zur Individualisierung auch Orientierungsnöte und Sinnkrisen auftreten, in denen vor allem die geistige Angst zum Tragen kommt. Deshalb ist die Aufmerksamkeit auf diese grundlegende, geistige Funktion der Angst vor allem seit dem 19. Jahrhundert als eigenständige Angstform erörtert worden. Die geistige Angst hat dabei zwei zentrale Aspekte, die zusammenwirken, aber von unterschiedlichen Perspektiven aus jeweils eine bestimmte Seite sichtbar machen. Sie ist einerseits reflexiv, d. h. ausgerichtet auf die Ungewissheit menschlicher Existenz. Man könnte sie auch Subjekt-Angst nennen oder wie die Philosophin Sibylle Krämer „reflexive Angst“ in Abgrenzung von den körperlich erlebten Ängsten. In dieser „kognitiv orientierten, reflexiven Angst“ sieht sie „eine besondere Modalität unseres Selbst- und Weltverhältnisses“ „und überdies ein Charakteristikum modernen Lebensgefühls“.3 Reflexive Angst ist Krämer zufolge die „Bedingung der Möglichkeit, gegenüber der verkörperten Angst souverän zu bleiben“,4 sich also durch eigene bewusste Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Menschseins Bewältigungsweisen zu schaffen, die den körperlich empfundenen Ängsten etwas entgegenzusetzen haben. Andererseits bezieht sich der Mensch ja immer auf sein Dasein in der Welt. So wie manchmal von einem Weltschmerz die Rede ist, kann auch von einer Weltangst gesprochen werden. Denn wenn es immer schwieriger wird, der Welt, in der man lebt, einen Gesamtsinn zuzuordnen, ist auch der Bezug zur Welt als maßgebliche Orientierung gebrochen. Wenn man die weltlichen Lebensgrundlagen überhaupt gefährdet sieht, wird die Welt zum Gegenstand der Angst. So unterscheidet der Philosoph Walter Schulz Weltangst einerseits und Selbstangst, die „Angst vor mir selbst“, andererseits. In der Weltangst geht es Schulz zufolge um die Frage „nach dem Sein und dem Sinn der Welt über-
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Krämer 2011, S. 25. Krämer 2011, S. 32.
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haupt“, in der Selbstangst „um den Gegensatz von Geist und Leib“.5 Um dies etwas umzuformulieren: Angst ist das Bewusstsein davon, dass weder die Welt noch das eigene Ich als etwas Stabiles, Verlässliches, Konstantes anzusehen sind, wir deshalb immer damit konfrontiert sind, dass wir selbst uns die Wege des Lebens bahnen müssen, dass der eigenen Freiheit nicht zu entrinnen ist. Die geistige Angst ist die allgemeine Angst vor der Unberechenbarkeit der Welt, des Lebens, der eigenen Zukunft. Sie kennzeichnet vor allem das Lebensgefühl und die Weltsicht der ausgeprägten Moderne. Die drei Ebenen des Angstphänomens, die drei menschlichen Ängstigungsweisen, lassen sich noch einmal so zusammenfassen: Furcht ist eine körperlich-affektive Reaktion bei direkter Konfrontation mit einer Gefahr. Ängste sind Gefühle von Unsicherheit und Bedrohung, die sich bei der Vorstellung möglicher Gefahr einstellen. Denn auch die imaginierten Gefahrenbilder und -szenen, die nur vorgestellt sind, aktivieren wie reale Gefahren die Schutzreaktionen des Körpers. Durch dieses Zusammenwirken von körperlicher Reaktionsbereitschaft und gedanklichen Inhalten bildet sich die gefühlsmäßige Ebene der Gefahrenverarbeitung heraus. Geistige Angst ist die gedankliche Bezugnahme auf das eigene Menschsein unter dem Aspekt des Wissens um sich selbst als einem leidensfähigen, bedürftigen, Risiken ausgesetzten und sterblichen Wesen. Sie hat dabei die beiden Blickrichtungen der Selbst-Angst und der Welt-Angst. Geistige Angst lässt sich dadurch von den gefühlten Ängsten unterscheiden, dass sie eine allgemeinere Ausrichtung hat und keine psychosomatischen Begleiterscheinungen aufweist, nicht gefühlt, sondern rein gedanklich ausgetragen wird. Wenn man hingegen Angst insgesamt nur als Gefühl ansieht, wie dies in den meisten Herangehensweisen der Fall ist, kann die geistige Dimension im Angstgeschehen nicht angemessen verstanden werden. Während die geistige Angst als Bewusstsein der Ungewissheit, Unbestimmtheit und Offenheit des menschlichen Lebens anzusehen ist, zeigen die gefühlten Ängste vor allem die Gebundenheit an die Dinge und Kontexte, die wir als bedrohlich ansehen. Die Differenz von Furcht – Ängsten – Angst lässt sich anhand des gegenläufigen Verhältnisses von Außenbezug und Selbstbezug verdeutlichen. Je stärker die Aufmerksamkeit auf das Außen gerichtet ist, je unmittelbarer die Gefährdungssituation ist, umso stärker prägt sich Furcht aus, umso weniger ist Zeit zum Nachdenken und Einordnen, zur Reflexion der eigenen Lage, und umso weniger ist die Bewusstheit des eigenen Ich relevant. Je weniger im Gegensatz dazu eine faktische Gefahrensituation wirksam ist, desto größer wird der Spielraum der Imagination von Gefahren bis hin zur Freisetzung des Subjekts zur Reflexion der eigenen Riskiertheit und Ungesichertheit. Je stärker sich das Ich mit sich selbst beschäftigt und eine rein geistige Beschäftigung mit der eigenen Gefährdungsmöglichkeit stattfindet, umso Schulz 1972, S. 388.
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deutlicher wird der Aspekt der Sorge um sich selbst und die Welt, d. h. der geistig-reflexiven Angst, die die beiden Seiten der Selbst-Angst und der Welt-Angst ausprägt.
1.3 Verschiedene wissenschaftliche Zugänge Die vorgenommene Dreiteilung lässt sich auch mit Bezug auf die verschiedenen wissenschaftlichen Zugänge zur Thematik Furcht – Ängste – geistige Angst verdeutlichen. Wenn man der Einfachheit halber von Angstforschung spricht, lassen sich die wissenschaftlichen Behandlungsweisen grob drei wesentlichen Kernbereichen zuordnen. (Vgl. Tab. 1.1) Furcht und Ängste sind in der genauen Untersuchung ihrer Funktionsweisen Gegenstand empirischer Wissenschaften, also solcher Zugangsweisen, die sich auf Beobachtung, Messung, Experiment und so gewonnenes Datenmaterial stützen. Furcht und Ängste werden heute erforscht im Zusammenwirken von Biologie und Psychologie. Die Furcht ist Gegenstand vor allem physiologisch ausgerichteter Forschung als Teilbereich der Biologie. Hierzu tragen z. B. die Hirnforschung, die Genetik, die Medizin und Bereiche der Psychologie bei. Es soll vor allem Aufschluss gewonnen werden über die bei Furcht ablaufenden neuronalen Funktionen, die beteiligten Organe, die auftretenden Körperreaktionen und die Möglichkeiten der Beeinflussung der Abläufe beispielsweise durch Konditionierung oder durch Medikation. Physiologisch wird dabei konkret verfolgt, wie die Reizverarbeitung abläuft und welche Hirnregionen daran beteiligt sind. Es ist schon länger bekannt, dass die Amygdala (der Mandelkernkomplex) als Teil des sogenannten Limbischen Systems eine zentrale Rolle für emotionale Bewertung und damit auch für die Furchtkonstellation und die Ängste spielt. Als Limbisches System wird das Zusammenwirken unterschiedlicher Strukturen bezeichnet, die psychosomatische und emotionale Prozesse regulieren. Die Amygdala ist selbst wieder in verschiedene Bereiche untergliedert und verbindet verschiedene Regionen des Gehirns, vor allem das Großhirn, das die Umweltreize verarbeitet, und den Neocortex, der die kognitiven Leistungen wie Denken, Sprache und Erinnerung ermöglicht. Zugleich ist die Amygdala mit dem Hirnstamm verbunden, sodass die autonomen Funktionen wie Atmung und Herzschlag beeinflusst werden können. Die Amygdala gewährleistet Tab. 1.1 Die verschiedenen Bereiche der Angstforschung Angstforschung
Forschungsfragen
Angstphilosophie
Reflexion der Endlichkeit, Verletzlichkeit, Ortlosigkeit geistige Angst, und Gefährdungsmöglichkeit des Menschen Sorge
Angstform
Angstpsychologie Formen der in Gefühlen erlebten Ängste, Entstehung (Emotionsforschung) von Ängsten und Möglichkeiten ihrer Steuerung
Ängste, Phobien, Paniken
Angstphysiologie
Furcht, Schrecken
körperliche Vorgänge, die an der Entstehung von Furcht beteiligt sind
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im Zusammenwirken mit diesen verschiedenen Gehirnteilen, dass für konkrete Ereignisse eine Art Bewertung ihrer Gefährlichkeit erfolgt. Diese Bewertung ist vor allem Leistung des Neocortex. Bei Bedarf werden überlebenswichtige Körperfunktionen aktiviert, indem von der Amygdala Signale zum Hirnstamm gesendet werden. Die Verschaltungen zwischen Amygdala und Neocortex ermöglichen aber auch die umgekehrte Informationsrichtung, sodass auch Gedanken und Erinnerungen für die Amygdala als Auslöser für Furchtreaktionen wirken können. Dies ist zum Beispiel bei Panikattacken der Fall, die keine äußeren Ursachen haben und scheinbar aus heiterem Himmel einsetzen. Genauere Auskunft über die Ängste als Gefühle gibt die Emotionsforschung, die hauptsächlich getragen wird von der Psychologie. Auch die konkreten Fragen der Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychiatrie, wie Ängste entstehen, wie sie wirken, wie stark sie Menschen in Besitz nehmen können, ab wann sie als krankhafte Störung anzusehen sind, oder auch Fragen nach der Möglichkeit, Ängste zu steuern, zu therapieren, medikamentös zu lindern usw., sind wichtig zum Verständnis der Ängste-Ausstattung. Aber sie verbleiben im Bereich der konkreten, empirischen Wissenschaften und das heißt der messbaren Daten. Eine übergreifende systematisch-anthropologische Einordnung und Bewertung der Angstarten, insbesondere aber die Beschäftigung damit, welche Bedeutung Angst überhaupt und insbesondere die geistige Angst für den Menschen hat, übersteigt die empirischen Herangehensweisen, wie sie die verschiedenen speziellen Wissenschaften prägen, und erfordert Überlegungen auf der Ebene der begrifflichen Verallgemeinerung, die für Grundlagentheorien und vor allem für das philosophische Arbeiten typisch sind. Man könnte in dieser Hinsicht von Angstphilosophie sprechen, wie sie in der Existenzphilosophie konzipiert wurde, die später in einem eigenen Kapitel (Kap. 5) behandelt werden wird. Eine solche philosophische Behandlung der Angst erörtert die geistig-reflexive Auseinandersetzung mit dem Menschsein überhaupt. Aber auch Neurobiologen wie Joseph LeDoux, einige Kognitionspsychologen oder Psychoanalytiker mit theoretischem Interesse wie Sigmund Freud und Fritz Riemann haben zu einem solchen fundamentaleren Angstverständnis beigetragen. Dennoch muss auch für die geistige Angst in Rechnung gestellt werden, dass sie auf neuronalen Prozessen im Gehirn beruht, wo sie auch lokalisiert werden kann. Die verschiedenen Ängstigungsarten, Furcht, Ängste, geistige Angst, sind auf der Ebene der Gehirnfunktion dadurch voneinander unterschieden, dass sie jeweils in verschiedenen Hirnarealen ihren Schwerpunkt haben. Als Furchtzentrum wird das Limbische System angesehen, das vor allem aus Verschaltungen in den älteren, tiefer liegenden Hirnarealen besteht. An den gefühlten Ängsten sind sowohl die Vorstellungen, die im Cortex gebildet werden, als auch die Aktivitäten des Furchtzentrums beteiligt. Die geistige Angst hingegen ist nur im Cortex bzw. Neocortex lokalisiert, sie bleibt rein gedanklich, das Limbische System wird nicht aktiviert, sodass die für Furcht und Ängste typischen Reaktionen nicht ausgelöst werden.
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Die verschiedenen Ängstigungsbereiche sind dann im weiteren auch Gegenstand der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften, die ausgehend von ihren jeweiligen Perspektiven und Fachausrichtungen vor allem den Stellenwert, die Erzeugung und Manipulierbarkeit, die gesellschaftlichen und kulturellen Funktionen von Ängsten erforschen, so in der Soziologie, der Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Religionswissenschaft oder Kunstwissenschaft. Ihre Herangehensweisen lassen sich dann wieder entweder der Angstphysiologie (Furcht), Angstpsychologie (Ängste) oder Angstphilosophie (geistige Angst) zuordnen. So können wir, bezogen auf die Ängste, verschiedene Phobien, soziale Ängste, politische Ängste, religiöse Ängste, Umweltängste und viele weitere unterscheiden. Für jede genauere Betrachtung ist es also notwendig, die jeweiligen Fragestellungen, Forschungsziele und Arbeitsweisen zu bestimmen. So wie man nicht einfach irgendeine Zange benutzt, sondern für einen bestimmten Zweck eine ganz bestimmte Art von Zange, so führt die genauere Analyse des Angstphänomens dazu, die funktionalen Ebenen, Furcht, gefühlte Ängste, geistige Angst, zu unterscheiden. Und bei noch näherem Hinsehen wird sich zeigen, dass jede dieser Angstarten selbst wieder in weitere Unterformen unterteilt werden kann. Wenn gefragt wird, ob Menschen heute weniger oder mehr Angst haben als in vergangenen Jahrhunderten, ist eine Antwort schwierig. Denn so allgemein formuliert lässt sich die Frage nicht sinnvoll beantworten. Gerade die Differenzierung in verschiedene Angstebenen ist für eine Antwort wichtig. Bezogen auf die Furcht kann man davon ausgehen, dass mit größerem wirtschaftlichem Wohlstand, guter Gesundheitsversorgung, sicherer Umwelt, liberalen politischen Systemen die Furchtanlässe weniger geworden sind, zumindest in den ökonomisch entwickelten und politisch stabilen Regionen dieser Welt. Die gefühlten Ängste bleiben in ihrer Bedeutung wohl eher konstant, sie begleiten Menschen immer. Sie verändern lediglich ihre kulturgeprägten und persönlichen Inhalte: als Ängste vor unberechenbaren Göttern oder vor der Sünde, dem Teufel und der Hölle, Ängste vor Krankheit und Tod, Ängste vor dem Verlust naher Angehöriger, Ängste vor Naturkatastrophen, Ängste vor politischer Verfolgung, Ängste vor persönlichem Versagen und Ansehensverlust in der Gemeinschaft, die Liste ließe sich um Vieles erweitern. Die geistige Angst hingegen scheint erst mit der Epoche der Moderne stärker im Fokus zu sein. Denn die Aufmerksamkeit richtet sich nun auf die Anforderungen an die eigene Person in einer Welt, die unüberschaubarer wird und für die aufgrund der immer schneller sich vollziehenden Veränderungen die Prognosen für die Zukunft schwieriger werden. Das Nachdenken darüber, wie man sich das zukünftige Leben vorstellt, kann kaum noch einen festen Halt finden. Dies führt zu weltanschaulichem Orientierungsverlust und individueller Verunsicherung, was in der geistigen Angst zum Ausdruck kommt und sich dann auch wieder in den Ängsten niederschlägt. Und es prägt sich angesichts der massiven Möglichkeiten der Menschen, die Umwelt zu zerstören, eine große Zukunftsangst aus. Der Gesamtbereich der Ängstigungen weist also ein großes Funktions- und Wirkungsspektrum auf, das verschiedene Zugänge, Erklärungen und An-
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wendungen erfordert. Diese Vielschichtigkeit belegt aber auch, wie bedeutsam die Ängstigungsformen für den Menschen insgesamt sind. Am Ende dieser einführenden Begriffsbestimmungen muss aber betont werden, dass die Bereiche Furcht, gefühlte Ängste und geistige Angst nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind, sondern ineinander übergehen, dass diese Begriffe konstruierte Gebilde sind, die dazu eingesetzt werden, um bestimmte Funktionen, Aufgaben und Dimensionen unseres Menschseins differenzierter erörtern zu können.
1.4 Zum Aufbau und Anliegen des Buches Um der Frage, wie Menschen Bedrohungen und Gefahren empfinden und reflektieren und Verhaltensweisen der Gefahrenabwehr entwickelt haben, insgesamt etwas genauer nachzugehen, blicke ich zunächst (Kap. 2) zurück auf die stammesgeschichtliche Entwicklung des Menschen. In dieser Rückschau soll identifiziert werden, auf welche biologischen und sozialen Bedingungen das Entstehen von Furcht, Ängsten und Angst zurückgeführt werden kann. Dabei wird es unter anderem um die Herausbildung von Sprach- und Denkfähigkeit, die Entwicklung von sozialen Strukturen und Institutionen sowie von Kulturleistungen gehen. So kann an einigen Theorien aufgezeigt werden, inwiefern das Erkunden der Bedeutung von Angstfähigkeit zurückführt auf Auffassungen davon, was Menschsein bedeutet und wie die menschliche Kultur mit Ängsten umgeht bzw. was sie für die Angstbewältigung leistet. In einem nächsten Schritt (Kap. 3) werden verschiedene Zugangsweisen von Biologie und Psychologie zur Angstthematik kurz vorgestellt. Dabei lässt sich anhand einzelner Forschungszugänge aufzeigen, dass die eingeführte Unterscheidung Furcht, Ängste, geistige Angst tatsächlich sinnvoll ist, um die Möglichkeiten des Betroffenseins des Menschen von den verschiedenen Ängstigungsformen differenzierter einordnen zu können. Die bisher diskutierten Schwerpunkte werden weiter untersetzt und inhaltlich angereichert durch historische Rückblicke (Kap. 4), indem verfolgt wird, wie sich die theoretische Verarbeitung der Angstproblematik im Laufe der abendländischen Geschichte entwickelt hat und welche inhaltlichen Ausrichtungen dabei eine Rolle spielten. Dabei beschäftige ich mich vor allem mit philosophischen Angsttheorien, denn sie tragen maßgeblich zur Entwicklung des Verständnisses menschlicher Ängste und Angst bei und liefern dafür die entsprechende Begrifflichkeit. Diese Rekonstruktion führt von Antike über Mittelalter und Neuzeit bis zu Kant und Hegel und schließlich zur Erörterung der spezifischen historischen Situation der Moderne. Die Herausbildung moderner Lebenskontexte verstärkt das Angstbewusstsein wie in einem Brennglas und bedarf neuer Bewertungen der Angstproblematik. Dies wird vor allem durch die Existenzphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts geleistet, in der die Angsttheorie ihre weitreichendste Ausprägung und Ausarbeitung erhalten hat (Kap. 5).
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Doch auch einzelne Angstfelder werden zu betrachten sein. So werden soziale Ängste (Kap. 6), politische Ängste (Kap. 7) und die Bedeutung von Ideologien und Religionen (Kap. 8) für die Ängste-Entstehung und Ängste- Bekämpfung beleuchtet. Ich werde auf Verschwörungstheorien zu sprechen kommen und auf Strategien, das Schüren von Ängsten gezielt einzusetzen. Im Schlussteil (Kap. 9) binde ich alle Fäden zusammen und schlage eine Sichtweise vor, die in der menschlichen Angstfähigkeit insgesamt mehr sieht als nur eine „Störung“, sondern sie als grundlegend für das Menschsein, für das menschliche Selbst- und Weltverstehen, einordnet und würdigt. Mein Anliegen mit diesem Buch lässt sich in drei Punkten formulieren: Zum Ersten möchte ich Informationen zusammentragen, um das Angstphänomen als Ganzes verständlich zu machen, einzuordnen und zu bewerten, wobei nicht die pathologischen Ängste und Angststörungen im Vordergrund stehen, sondern eine differenziertere Einordnung zu geben ist. Zum Zweiten soll gezeigt werden, was speziell die Dimension der geistigen Angst, der Angst als einem rein geistigen Blick auf sich selbst und die Welt, zum menschlichen Selbstverständnis beiträgt. Aus den ersten beiden Punkten ergibt sich drittens die Kernthese des Buches, für die ich in verschiedenen Disziplinen Unterstützung gefunden habe. Sie besteht darin, dass wir durch unser Denken, durch die Einstellung, die wir wählen, gezielt nicht nur die geistige Dimension der Angst formen, sondern auch die gefühlten Ängste, die Angstgefühle, beeinflussen können. Denn Gefühle sind vielschichtige Bewusstseinsvorgänge, in denen die im Körper ablaufenden Prozesse registriert, abgeschätzt, eingeordnet und bewertet werden. Die bewertenden Anteile haben wir dabei im Abgleich mit unseren bisherigen Erfahrungen und Erlebnissen, mit den äußeren Lebensbedingungen und den Erwartungen, die an uns gestellt werden, selbst entwickelt. Das Repertoire der Gefühle und Gedanken ist nicht konstant, sondern verändert sich mit neuen Erfahrungen, die in das Gesamtbewusstsein integriert werden müssen und manchmal ein Umdenken und Umfühlen erforderlich machen. Hieran hat der menschliche Geist mit seiner gedanklichen Arbeit entscheidenden Anteil. Die geistige Angst, die gezielte Auseinandersetzung mit den Risiken, Bedrohlichkeiten und Ungewissheiten, mit denen Menschen konfrontiert sind, ist dabei auch ein wichtiger Ansatzpunkt, um die als leidvoll erlebten psychischen Ängste in einem anderen Licht zu sehen. Ich hoffe, dass Menschen es immer besser lernen werden, die lenkende und formende Kraft der Gedanken als Möglichkeit einer selbstbestimmten Lebensführung zu kultivieren.
KAPITEL 2
Wie der Mensch zum Angstwesen wurde: Evolution und Kultur
Die Gattung Mensch ist Teil der Evolution des Lebens. Ein erster Zugang zur Frage danach, was den Menschen als Angstwesen ausmacht, soll die Herausbildung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten beleuchten, die konstitutiv für die Angstdispositionen sind. Dazu werden in diesem Kapitel die Grundlagen der biologischen Evolution der Gattung Mensch erörtert. Was Menschen vermögen, gründet auf den biologischen Entwicklungen von vielen Millionen Jahren vom Einzeller bis zu den Primaten. Die Spezies Mensch, Homo sapiens, verfügt über Möglichkeiten, die die anderen Lebensformen nicht erreicht haben. Hierzu gehören vor allem solche geistigen Fähigkeiten wie Reflexivität, Sprache und Kultur. Menschliches Handeln wird kaum mehr von angeborenen biologischen Mechanismen gesteuert, sondern von Überlegung und Planung. Menschen gewährleisten ihre Lebenssicherung dadurch, dass sie sich künstliche Mittel ersinnen, Werkzeuge, Institutionen, Technologien, Normen, durch die sie ihre Welt verändern und gestalten. Die Menschwerdung mit der Herausbildung der menschlichen Kultur resultiert aus komplexen Prozessen, in denen Denken, Sprache, Sozialverhalten, praktische Tätigkeiten und konkrete Erfahrungen wechselseitig aufeinander wirken und die Entwicklung immer weiter vorantreiben. Generation für Generation tragen dazu bei, die Lebensführung auf dem Fundament des schon Erreichten wieder ein Stück weiterzuentwickeln. Die enorme Formbarkeit des Menschen, seine Fähigkeit zum individuellen und lebenslangen Lernen, seine geistige Aktivität und seine Neugier bieten dabei große Spielräume für Neues, wie sie bei Tieren nicht gegeben sind. Dabei prägen sich mit den spezifisch geistigen Fähigkeiten auch die reflexiven Voraussetzungen der Ängste und Angst aus. Denn in der Menschwerdung geht es nicht nur um aufrechten Gang, Werkzeuggebrauch, komplexere Sprache, Koordinierung des Zusammenlebens in größeren Gemeinschaften, sondern auch um die geistigen Kapazitäten des vorausschauenden, planenden Denkens, das stets begleitet ist vom Bewusstsein der Ungewissheit. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Frischmann, Angstwesen Mensch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67876-3_2
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Mit zunehmender Vorstellungskraft erweitert sich auch das Spektrum der Ängste, mit der Fähigkeit zu abstrakterem Denken steigt das Bewusstsein möglicher Gefahren und Risiken, die Selbstreflexivität bringt das Potenzial der Auseinandersetzung mit sich selbst als einem Angstwesen mit sich. Wenn nun, wie ich vorschlage, zwischen affektiver Furcht, gefühlten Ängsten und geistiger Angst unterschieden werden soll, muss sich diese Differenzierung daran bewähren können, dass in der biologisch-evolutionären Entwicklung des Menschen von den Primaten zum Homo sapiens die Herausbildung der Fähigkeiten rekonstruiert werden kann, die schließlich auch die menschlichen Ängste und die geistige Angst tragen. Deshalb soll nun etwas genauer erörtert werden, was das eigentlich Menschliche ausmacht, welche Leistungen mit Sprache, Denken, Geistigkeit und Kultur vollbracht werden können. Dabei sollen auch einige Theorien einbezogen werden, die sich mit der Kulturgenese des Menschen beschäftigt haben. Sie liefern Begriffe und Erklärungsvorschläge, die für das Verstehen des Menschseins und seiner konstitutiven Angstfähigkeit hilfreich sind. Es soll also darum gehen, die Erklärung des Angstphänomens in einen stammesgeschichtlich-biologischen und kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Dabei wird der Blick auch darauf gelenkt, inwiefern die Ausformung und die Regulierung vor allem der gefühlten Ängste mit den kulturellen Möglichkeiten des Menschen verbunden sind. Aber auch die Einordnung der Tragweite der geistigen Angst wird dabei zur Sprache kommen.
2.1 Biologische Menschwerdung, Bewusstsein, Denken, Sprache Die biologische Evolution ist ein äußerst komplexes und langwieriges Geschehen, in dem auch Zufälle von Bedeutung sind. Alle wissenschaftlichen Erklärungen und Modelle können immer nur vage rekonstruieren, warum sich überhaupt die Gattung Mensch mit ihrem enorm leistungsfähigen Gehirn herausgebildet hat und wie diese Entwicklung vonstattengegangen ist. Verschiedenste Faktoren mögen eine Rolle gespielt haben, die wohl nie alle aufgeklärt werden können. Der Entwicklungsverlauf lässt sich so auch nur hypothetisch und in groben Zügen auf der Grundlage der prähistorischen Funde nachzeichnen, die umso seltener sind, je weiter ihre Herkunft zurückreicht. Diese fossilen Funde werden heute vor allem durch molekularbiologische Methoden (DNA-Analyse) datiert und stammesgeschichtlich eingeordnet. Doch für Vieles fehlen die faktischen Belege, so für evolutionäre Zwischenstufen, die es gegeben haben könnte, die aber keine Spuren hinterlassen haben. Wie stellt sich nun für die Wissenschaften heute die stammesgeschichtliche Entwicklung des Homo sapiens, des heute lebenden Menschen, dar? Die Spezies Mensch ist biologisch das Produkt einer langen Genese, in der sich jeweils die Entwicklungslinien der verschiedenen Arten trennten und wie bei einem Baum immer weiter verästelten, also eine immer stärkere Ausdifferenzierung
2 WIE DER MENSCH ZUM ANGSTWESEN WURDE: EVOLUTION UND KULTUR
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stattgefunden hat. Die ersten Lebensformen auf der Erde, die fossil nachgewiesen wurden, sind ca. 2000 Mio. Jahre alt. Vor etwa 480 Mio. Jahren entwickelten sich erste Pflanzen auf dem Festland, vor ca. 350 Mio. Jahren begann die Besiedelung des Festlandes durch Wirbeltiere, die sich aus im Meer lebenden Arten entwickelt haben. Aus ihnen gingen die Kriechtiere (Reptilien) hervor. Seit etwa 200 Mio. Jahren gibt es Vögel. Etwa 160 Mio. Jahre alt sind die ältesten Funde, die den Säugetieren zugerechnet werden. Vor etwa 80 Mio. Jahren haben sich Primaten als hoch entwickelte Säugetiere herausgebildet. Eine Entwicklungsform der Primaten sind die Menschenaffen (Hominide). Die heutigen Nachfahren dieser Menschenaffen sind Orang-Utans, Gorillas, Schimpansen mit ihrer Unterart der Bonobos und Menschen. Ein entscheidender Entwicklungsschritt in der Entwicklung hin zum jetzigen Menschen war vor ca. 7 bis 5 Mio. Jahren die Befähigung zum aufrechten Gang. Warum dies geschah, ist umstritten, in der Erklärung konkurrieren verschiedene Theorien, die hier nicht diskutiert werden müssen. Wichtig ist vielmehr, darauf zu sehen, welche Vorteile der aufrechte Gang mit sich brachte. Die Hände wurden frei und damit entstand die Möglichkeit, geschickter mit Gegenständen umzugehen. So schreibt der Biologe Hans Hass: „Ohne unsere Hände würde unser stolzer Geist nicht das geringste vermögen – ja, er hätte sich kaum entwickeln können. Das ist auch die Tragik der Delphine. Sie haben ein überaus hochentwickeltes Gehirn – doch was nutzt es ihnen? Mit ihren Flossen können sie keinerlei Werkzeuge formen.“1 Vielleicht war es ein Evolutionsvorteil, dass sich der Blickkreis mit dem Aufrichten erweiterte, in die ferne richten konnte und so ein Weit-blick wurde. Die mit der Aufrichtung verbundene Veränderung des Skeletts hat auch dazu beigetragen, dass sich die körperlichen Voraussetzungen für vielfältigere Lautäußerungen und damit auch für differenziertes Sprechen herausgebildet haben. Wann die Ausformung menschlicher Sprache begonnen hat, lässt sich bisher nicht genau sagen. Über verschiedene Stufen haben sich dann die Australopithecinen, die Vormenschen (vor 4 bis 2 Mio. Jahren), dann die Urmenschen (vor ca. 3 bis 2 Mio. Jahren) entwickelt. Die Urmenschen benutzten einfache Werkzeuge vor allem aus Stein, ihre Epoche wird deshalb als Steinzeit bezeichnet. Die ältesten Funde von Steinwerkzeugen werden auf ein Alter von bis zu 3,2 Mio. Jahren geschätzt. Von hier aus haben sich mit Sicherheit verschiedene Arten der Gattung Homo ausgebildet, die sich teils miteinander kreuzten, teils ausstarben. Arten dieser Urmenschen waren z. B. der Homo habilis und der Homo rudolfensis. Die nächste Entwicklungsstufe wird als Frühmenschen bezeichnet, hierzu zählt z. B. der Homo erectus, er hat sich schon parallel mit den Vormenschen entwickelt. Älteste Funde reichen bis 1,9 Mio. Jahre zurück. Aus dem Homo erectus sind die Neandertaler hervorgegangen und der Homo sapiens, der als 1
Hass 1982, S. 19.
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Jetztmensch oder moderner Mensch bezeichnet wird und dessen Existenz etwa seit 200.000 Jahren nachgewiesen werden kann. Die Entwicklung des spezifisch menschlichen Körperbaus, wie in die heutigen Menschen haben, soll etwa vor ca. 100.000 Jahren abgeschlossen gewesen sein. Im Zuge dieser Jahrmillionen dauernden Entwicklung traten wohl viele unterschiedliche Arten und Unterarten in Erscheinung, die sich zum Teil vermischten, von denen sich aber letztendlich nur diejenigen durchgesetzt haben, die ihr Überleben durch Anpassung und vielleicht auch Eliminierung konkurrierender Gruppen sichern konnten. So sind die letzten Abkömmlinge der Neandertaler erst vor ca. 40.000 Jahren ausgestorben. Dabei ist Entwicklung als ein langwieriger Prozess der Ausdifferenzierung von Strukturen, Funktionen und Umbildungen von Organen zu sehen, in dem Schritt für Schritt Modifikationen erfolgten, die sich entweder als lebenstauglich erwiesen oder zum Aussterben der jeweiligen Arten führten. Alle Vermögen, die im langen Gang der Evolution entstanden sind, unterliegen dem evolutionären Prinzip der Anpassung und Auslese. Alles Lebendige ist dabei von der nicht lebenden Natur prinzipiell unterschieden durch die Fähigkeit zur Eigenaktivität. Sie ermöglicht, auf Umweltreize zu reagieren und den eigenen Organismus in einer Art Gleichgewichtszustand zu halten. Dies geschieht umso besser, je differenzierter ein Organismus ist. So ist in Vielzellern eine Arbeitsteilung der Zellen möglich und können sich über viele Millionen Jahre immer komplexere Strukturen, Organe und Funktionen ausprägen. Dazu gehören auch die gesamte neuronale Ausstattung und schließlich das Gehirn. Deren Entwicklung beruht auf einem bestimmten Zelltyp, der einzig der Informationsweitergabe im Zellverband dient, den Nervenzellen (Neuronen). Sie realisieren die Informationsleitung durch elektrische Vorgänge. Dabei reichen zunächst einmal zwei Nervenzelltypen aus: eine für die Aufnahme der Information aus der Umwelt, eine zweite, die die Information an den Organismus weitergibt, um eine bestimmte Reaktion auszulösen. Aus diesen einfachen Nervenzellen entwickeln sich, wie bei den anderen Körperorganen auch, über Hunderte Millionen von Jahren funktionale Zellverbindungen wie beispielsweise die Ganglien und darauf folgend komplexere Strukturen bis hin zum Zentralnervensystem der Wirbeltiere. Im zentralen Nervensystem üben Gehirn und Rückenmark die Funktion einer zentralen Koordinierungsstelle aus. Diese Stelle verarbeitet alle für den Organismus relevanten Informationen aus der Umwelt und auch die Informationen über den eigenen körperlichen Zustand, um dann die Antwort auf diese Informationen durch bestimmte Aktivitäten zu veranlassen. Die Entwicklung der Informationsverarbeitungssysteme von den einfachsten Nervenzellen bis zum Gehirn bieten immer weiter optimierte Möglichkeiten, das Leben an die Umwelt anzupassen. Je mehr Informationen verarbeitet werden können und umso größer das Spektrum der möglichen Reaktions- und Verhaltensweisen ist, desto höher ist die Überlebenschance. Eine größere Komplexität der neuronalen Systeme stellt die biologische Bedingung für das Entstehen von immer weiter ausdifferenzierten Bewusstseinsstrukturen dar. So
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konnten sich auf der Basis neuronaler Systeme zunächst einfache Reflexe, in der weiteren Evolution dann schon komplexere Reaktionen, die von bewussten Wahrnehmungen begleitet sind (wie bei der Furcht), und beim Menschen schließlich ausgeprägte Denkfähigkeiten herausbilden. Diese sind nicht nur für die geistigen Leistungen erforderlich, sondern auch beteiligt an der Ausformung von Gefühlen wie Ängste, Liebe, Hass, Stolz, Scham, Mitleid, Freude, Trauer und viele mehr. In der evolutionären Geschichte hat sich auch das Gehirn von einfacheren zu immer vielfältigeren Strukturen entwickelt, wobei insgesamt eine zunehmende Vergrößerung des Hirnvolumens und eine Ausdifferenzierung der Hirnareale und Hirnfunktionen nachweisbar sind. Dabei zeigt sich, dass mit fortschreitender Evolution die älteren Hirnareale durch neue Regionen überlagert werden. So sind Schicht für Schicht immer höherstufigere kognitive Leistungen ermöglicht worden, wobei die späteren Entwicklungen nur auf der Grundlage der schon evolutionär bewährten Areale stattfinden konnten. Damit werden die älteren Funktionen nicht einfach abgelöst durch neuere, sondern sie werden beibehalten und durch neue Fähigkeiten ergänzt und erweitert. Wenn wir danach fragen, wieso der Mensch so etwas wie Angst ausprägen kann, dann verweist die biologische Antwort auf die spezifische Beschaffenheit des menschlichen Gehirns mit einem besonders leistungsfähigen Neocortex. Schauen wir uns die Hauptbereiche des Gehirns einmal genauer an. Der stammesgeschichtlich älteste Teil ist der Hirnstamm. Hierzu zählen das verlängerte Mark oder Nachhirn, die Brücke (Pons) und das Mittelhirn. Der Hirnstamm schließt direkt an das Rückenmark an, sodass alle aus dem Körper im Gehirn ankommenden Nervenreize über den Hirnstamm laufen und von hier an andere Regionen weitergeleitet werden. Er sichert die basalen Lebensfunktionen wie Atmung und Herzschlag sowie die Reflexe, also unwillkürlich ablaufende Grundfunktionen. In der weiteren Evolution der Arten lagern sich über dem Hirnstamm von hinten nach vorne immer weitere Gehirnteile an, die neue Funktionen ermöglichen. An den Hirnstamm schließt das Kleinhirn an. Es steuert Bewegungsabläufe wie das Gehen und Greifen, koordiniert aber auch Bewegungen, die erst antrainiert werden, wie das Spielen eines Musikinstruments oder die Ausübung von Sportarten. Bei Tieren mit hohen Anforderungen an die Bewegungskoordination, z. B. beim Fliegen oder bei hoher Bewegungsgeschwindigkeit, ist das Kleinhirn stark entwickelt. Seit ein paar Jahren gehen Forscher davon aus, dass das Kleinhirn auch an kognitiven Funktionen beteiligt ist. Obwohl vom Volumen viel kleiner als das Großhirn ist die Oberfläche seiner Hirnrinde größer als die des Großhirns. Es enthält beim Menschen etwa 80 % aller Nervenzellen des Gehirns. Damit liegt es auf der Hand, dass das Kleinhirn eine enorme Leistung erbringt. Das Zwischenhirn ist beteiligt an der Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen zu einfachen Abbildern und an der Ausbildung von Instinkten, Empfindungen und Emotionen. Es ist auch wichtig für den Schlaf-Wach-Rhythmus, Regulierung der Körpertemperatur und Schmerzempfindungen. Das Zwischenhirn
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bildet die entscheidende Schaltstelle zwischen den Informationen, die durch die Sinnesorgane geliefert werden, und dem Großhirn. Das Großhirn oder auch Endhirn (Cerebrum) überwölbt die tiefer liegenden Hirnteile. Es findet sich in ausgeprägter Form vor allem bei höheren Säugetieren. Es ist in zwei Hälften unterteilt, die durch den sogenannten Balken (Corpus callosum) verbunden sind. Von den beiden Hirnhälften führen Nervenbahnen zu den tiefer liegenden Hirnarealen. Das Großhirn wird unterteilt in verschiedene als „Lappen“ bezeichnete Regionen, die jeweils für bestimmte Aufgaben zuständig sind wie die Kontrolle von Motorik, die Einordnung von Sinneswahrnehmungen, aber auch für Sprechen, Empfindungen und Erinnerung. Im Großhirn laufen alle wichtigen Informationsstränge zusammen. Es bildet die zentrale Schaltstelle des Gehirns. Das Großhirn ist überzogen von der 2–5 mm dicken Großhirnrinde (Cortex). Tiere, die einen ausgeprägten Cortex besitzen, sind lernfähig, haben einfache Erinnerungen und können gut dressiert werden. Und sie entwickeln die Fähigkeit zum Spielen, zur Kreativität. Ansatzweise schon bei Primaten, vor allem aber beim Menschen hat sich der Cortex sehr stark nach vorne weiterentwickelt zum Neuhirn, dem Neocortex. Er erst ermöglicht die höheren geistigen Leistungen. Das menschliche Gehirn ist im Vergleich mit allen anderen Arten funktional am stärksten ausdifferenziert und verfeinert. Wie viele Nervenzellen das menschliche Gehirn genau hat, weiß niemand, denn sie wurden noch nie ausgezählt, und ihre Anzahl ist individuell unterschiedlich. Schätzungen zufolge verfügt ein Mensch über ca. 86 Mrd. Nervenzellen. Davon liegen ca. 69 Mrd. im Kleinhirn, ca. 16 Mrd. im Großhirn und 1 Mrd. in den anderen Hirnregionen. Im Vergleich dazu: Das Gehirn einer Maus verfügt über ca. 70 Mio. Nervenzellen, das einer Ratte über ca. 200 Mio. Nervenzellen und das eines Makakenaffen über ca. 6 Mrd. Nervenzellen.2 Neben den Neuronen gibt es aber auch noch eine andere Zellart im Gehirn, die Giazellen, die den Stoffwechsel im Gehirn ermöglichen, aber auch an der Informationsverarbeitung beteiligt sind. Der die kognitiven Leistungen ermöglichende Hirnteil ist der Cortex mit seinem jüngsten Entwicklungsprodukt, dem Neocortex. Er besteht aus vertikalen säulenartigen Gebilden, die zehntausende Neuronen umfassen, bei einer Ratte sind es ca. 15.000 Neuronen pro Säule, wie ein Forscherteam herausgefunden hat.3 Jeder Mensch verfügt schätzungsweise über ca. 1 bis 2 Mio. dieser kortikalen Säulen, die durch Millionen von Fasern untereinander verbunden sind und ein gigantisches Netzwerk bilden, das in großer Geschwindigkeit verschiedenste Informationen verarbeitet. Diese vertikalen Säulen arbeiten jeweils wie einzelne Funktionseinheiten. Deshalb wird ihre Funktion als „Modul“ oder „kognitive Domäne“ bezeichnet. Würde man eine Analogie zur Welt der Computer herstellen, dann wäre jede einzelne Säule, jedes Modul, ein Herculano-Houzel 2009. Oberlaender u. a. 2011.
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Hochleistungsrechner, der durch eine enorme Anzahl von Verbindungen mit allen anderen Rechnern verschaltet ist und ein riesiges Computernetz bildet. Das Gehirn besteht also nicht einfach aus Neuronen und ihren Verbindungen, sondern aus verschiedenen Struktureinheiten, die sich wiederum aus den Verschaltungen von Neuronen zu so etwas wie Neuronentrauben oder flächigen Gebilden zusammensetzen. Sie bilden funktionale Einheiten, die wiederum mit anderen Einheiten zusammenarbeiten und so hochkomplexe Systeme aus Systemen bilden. Die Entwicklung des Menschen basiert vor allem auf der Ausdifferenzierung des Großhirns und der Entstehung des Neuhirns (Neocortex) mit seiner beeindruckenden Variabilität der Funktionen, die erst die geistigen und kulturellen Fähigkeiten, die vielschichtige psychische Entwicklung und die Organisation großer sozialer Gemeinschaften möglich machen. Der Neocortex nimmt beim Menschen etwa 9/10 der Großhirnrinde ein und ist damit größer als bei allen anderen Tieren. Interessant ist, dass der Neocortex nicht einfach über den anderen Hirnregionen liegt wie ein aufgesetztes Dach, sondern dass seine Herausbildung dazu geführt hat, dass sich die anderen Hirnregionen, vor allem das Kleinhirn, aufgrund vieler Verschaltungen und Rückkopplungen mit dem Neocortex ebenfalls weiterentwickelt haben. Der Neocortex als jüngste Hirnregion ist in seiner Funktion auf die tiefer liegenden Hirnareale angewiesen, die die überlebenswichtigen Aktivitäten regulieren. Die spezifische Leistung des Neocortex besteht auch nicht darin, die direkten Informationen aus der Umwelt zu verarbeiten, die durch die Sinnesorgane geliefert werden, denn dies geschieht schon in anderen Hirnteilen. Vielmehr besteht seine Aufgabe darin, die Daten der verschiedenen anderen Bereiche zu strukturieren, zu filtern, zu „interpretieren“ und miteinander abzugleichen. Der Neocortex arbeitet wie ein Mosaikleger, der aus den verschiedenen Mosaiksteinen, die in den einzelnen Hirnregionen hergestellt wurden, geordnete Gesamtmuster zusammensetzt und den einzelnen Steinchen damit im Gesamtbild eine bestimmte Funktion zuweist. Der Neocortex schafft mit seinen Mosaiken so etwas wie Repräsentationen des jeweiligen Gesamtzustandes des ganzen Organismus und auch des Bewusstseins. Ist ein Mosaikstein kaputt, kann es der Neocortex durch andere Steine ersetzen oder das Ganze so umgruppieren, dass die Leerstelle geschlossen wird. So schreibt der Evolutionspsychologe Merlin Donald: „Wenn das Gehirn feststellt, dass die zeitliche und räumliche Orientierung beeinträchtigt ist, mobilisiert es sofort Kapazitäten dafür, sie wiederherzustellen. Das lässt vermuten, dass das Gehirn normalerweise über eine gewisse grundlegende Geschlossenheit verfügt.“4 Das Gehirn ermöglicht auf diese Weise maßgeblich die grundsätzliche Orientierung des Menschen in der Welt, indem stimmige, sinnhafte Vorstellungen von der Welt geformt und stabil gehalten werden. Für die integrierende Arbeit des Neocortex müssen die Ergebnisse aller einzelnen Bereiche des Gehirns permanent gesammelt, überschaut und bewertet werden. Man könnte sagen: Der 4
Donald 2008, S. 72.
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Neocortex ist eine Verarbeitungsinstanz zweiter und sogar dritter Stufe. Diese funktionale Stufung lässt sich durch die Unterscheidung von drei Arbeitsebenen des Cortex erläutern. Ihre Verbindung erfolgt durch die Synapsen, die zwischen Neuronen die Impulse übertragen. Ich beziehe mich in der kurzen Zusammenfassung auf Merlin Donald.5 Primäre Areale sind von der Welt nur eine Verarbeitungsstufe (man könnte auch sagen: eine Etage) entfernt. Die primären sensorischen Areale empfangen über die Nervenbahnen Signale der Sinnesorgane und filtern aus ihnen Grundqualitäten wie Farbe, Kontrast, Helligkeit, Lautstärke, Lage im Raum heraus. Die primären motorischen Areale senden dann ihre Kommandos direkt an die motorischen Neuronen, die die Muskeln und Bewegungen der Gliedmaßen steuern und damit das reflexhafte Reagieren auf Reize ermöglichen. Sekundäre Areale sind nicht mehr direkt mit der Außenwelt verbunden, sondern integrieren die Daten aus den primären Arealen auf einer übergeordneten Ebene. So werden einzelne Sinneseindrücke zusammengefügt zu Objekten oder Gesichtern. Der sekundäre motorische Cortex überwacht die Ausführung der Programme zur Bewegung und sorgt für die Anpassung an jeweilige Situationen. Die tertiären Areale bilden „die oberste Ebene der gesamten kognitiven Hierarchie“.6 Sie sind nur mit den sekundären Arealen oder anderen tertiären Arealen verknüpft. Die tertiären Areale lenken und überwachen die kognitiven Prozesse, sie lösen sich von den Sinnesdaten und ermöglichen Abstraktionen. Hier entsteht die Anleitung zum willentlichen Handeln, die eine Bezugnahme des Bewusstseins auf sich selbst voraussetzt. Nun sind komplexe Problemlösungen und gezielte, durchdachte Reaktionen auf unbekannte oder unvorhergesehene Situationen möglich. Tertiäre Areale sind vor allem beim Menschen stark ausgeprägt. Sie stellen die organisch-funktionale Basis aller höheren Bewusstseinsfunktionen dar: Sprachfähigkeit, kognitive Leistungen wie Analyse, Relationsdenken, Abstraktion, Begriffsbildung, komplexes Gedächtnis, Symbolverstehen, Normenbildung, kreatives Spielen, intellektuelle Neugierde, Fähigkeit zur Prognostik und Utopie, Selbstreflexivität und ein Selbstbild als Person. Jedoch auch menschliche Gefühle, wie die Ängste, haben einen geistig-reflexive Anteil, und die rein geistige Angst als gedankliches Gebilde wäre ohne Neocortex nicht möglich. Speziell die Entwicklung des Neocortex, vor allem seine Größenzunahme beim Menschen, erfolgt jeweils in Wechselwirkung mit den Aufgaben, die Individuen konkret zu bewältigen haben. Je älter die Hirnteile stammesgeschichtlich sind, umso weniger formbar sind sie, weil sie die grundlegenden Lebensfunktionen des Organismus steuern und darin möglichst stabil bleiben müssen. Je später sich Hirnfunktionen evolutionär in der Menschwerdung herausgebildet haben, als umso flexibler und gestaltungsoffener erweisen sie sich. 5 6
Donald 2008, S. 179–182. Donald 2008, S. 182.
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Dies bedeutet zum Beispiel, dass Verhaltensmuster nicht mehr nur durch angeborene Reflexe und Instinkte ausgelöst und gelenkt werden, sondern eine mehrstufige Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfindet und die einzelnen Individuen der jeweiligen Arten im Laufe ihres Lebens Neues lernen können. Sie haben damit eine höhere Überlebenschance, weil sie sich schneller an veränderte Umweltbedingungen anpassen können. Dies gilt nicht nur für den Menschen, sondern auch für Vögel und Säugetiere. Eine Fliege lernt niemals, dass eine Fensterscheibe undurchlässig ist, ein Vogel vermag dies aber durch Versuch und Irrtum herauszufinden und sein Verhalten zu ändern. Dabei bilden sich Fähigkeiten heraus, Zusammenhänge zu verstehen und auf eine gewisse Weise Verhalten vorauszudenken. Nur so kann ein Verständnis für Werkzeuggebrauch entstehen. Wenn ein Schimpanse versucht, mit einem Stock an einen Gegenstand zu gelangen, der zu weit entfernt liegt, um ihn mit seinen Armen zu erreichen, muss er bei der Auswahl des Stockes sein Handlungsziel schon vorausgedacht haben, um abschätzen zu können, ob der Stock sich eignet, ob er lang genug ist, ob er gebogen sein muss und ähnliches. Doch bleibt dieser Einsatz eines Hilfsmittels immer an die konkrete Situation gebunden. Selbst die klügsten Affen sind nicht in der Lage, sich in einem Stein schon den Faustkeil vorzustellen, der aus ihm herausgearbeitet werden könnte, und das eigene Tun zu lenken, um den Faustkeil zu formen, oder einfach ein Arsenal verschieden langer Äste für unterschiedliche Aufgaben anzulegen für das, was möglicherweise damit später einmal getan werden könnte. Und kein Affe hat bisher eine figürliche Darstellung an eine Höhlenwand gemalt. Speziell das vorausplanende und vorausschauende Denken hat sich beim Menschen rasant entwickelt. Es stellt einen enormen Selektionsvorteil dar. Menschen sind in der Lage, in Gedanken bestimmte Szenarien durchzuspielen, mögliche Risiken abzuschätzen und sich dann für die beste Variante zu entscheiden, ohne die mühseligen Prozesse des Ausprobierens nach dem Versuch- Irrtum-Modell faktisch auch ausüben zu müssen. Sie können Gefahren gedanklich vorwegnehmen, ohne ihnen direkt ausgesetzt zu sein. Je weiter sich das Denkvermögen ausprägt, umso komplexere Zusammenhänge können gedacht werden und umso größer wird die Fähigkeit, in die Zukunft zu denken. Und damit besteht nun auch die Kapazität zur Ausprägung verschiedener Ängste und auch der geistigen Angst. In Ängsten und Angst finden die überaus nützlichen Abwägungsprozesse statt, die jeweils die Chancen, Erwartungen und Hoffnungen gegen Gefahren und Risiken aufrechnen. Dass die gefühlten Ängste dabei wie die Furcht als negativ empfunden werden, hat evolutionär etwas damit zu tun, dass es immer um Fragen der Lebenssicherung und des Schutzes geht. Evolutionär gesehen bietet schon die Furcht mit ihrer Aufmerksamkeit auf Gefahren und die reflexhaft-affektive Reaktion darauf einen Überlebensvorteil. Furcht ist verbunden mit Stressreaktionen, die für eine kurze Zeit die Leistungsbereitschaft des Körpers erhöhen und ihm so bestimmte Verhaltensweisen wie Flucht oder Kampf ermöglichen. Diese Furchtfunktion bleibt auch beim Menschen biologisch erhalten. Sie ist in den älteren Hirnregionen genetisch
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verankert. Oft wird in dieser Hinsicht vom „Reptiliengehirn“ gesprochen. Gefühlte Ängste und die rein geistige Angst hingegen sind keine direkte Reaktion auf eine Gefahr, sondern das Gefahrenbewusstsein ist zeitlich gedehnt und weitet sich in die Zukunft aus als das Bewusstsein von möglichen Gefahren, die überall und jederzeit hereinbrechen könnten. Dieses gedankliche Vorstellen von Gefahr kann sehr abstrakte Formen annehmen. Es setzt umfangreichere gefühlsmäßige und geistige Verarbeitungen des Wissens von der Welt voraus und stellt Bezüge zum eigenen Leben und den eigenen Erfahrungen her. Die dabei relevanten geistig-reflexiven Leistungen zeigen sich aber auch in anderen Formen des Zukunftsbewusstseins, zum Beispiel bei Fähigkeiten wie Einbildungskraft, Fantasie, Neugier, dem Schmieden von Zukunftsplänen, bei experimentellem Denken und überhaupt dem Ausprobieren von Neuem. Tab. 2.1 stellt den Zusammenhang zwischen der jeweiligen Stufe der Gehirnentwicklung in der Genese der Wirbeltiere, ihren jeweiligen kognitiven Fähigkeiten und den Möglichkeiten dar, variabel auf Gefahr zu reagieren. Jede höhere Stufe verfügt dabei immer auch über die Fähigkeiten der vorhergehenden Stufen. Die Zuordnungen sind jedoch nur als grober Überblick zu verstehen. Die einzelnen Stufen sind evolutionär stets durch Übergänge verbunden. Der Mensch ist in der Lage, sich vom unmittelbar Gegebenen zu lösen, vorauszublicken und Möglichkeiten gedanklich abzuwägen. Die Herausbildung eines Bewusstseins von Zeitlichkeit, das Unterscheiden von jetzt, gestern und morgen, ist ein entscheidender Aspekt der geistigen Entwicklung. Und erst mit dieser Fähigkeit ist es einerseits möglich, etwas bewusst als Erinnerung abzurufen, also nicht nur sporadische Erinnerungen zu haben, andererseits Zukünftiges zu antizipieren, zu planen und zu prognostizieren. Diese Facette des menschlichen Bewusstseins entwickelt sich zusammen mit allen anderen Fähigkeiten, die das Menschensein ausmachen und die sich wechselseitig verstärken: Je komplexer Menschen denken können, umso weiter kann sich auch ihr planvolles, praktisches Handeln erstrecken. Je mehr sie verstehen und sprachlich auszudrücken vermögen, umso vielseitiger kann ihr Zusammenleben sein. Je größer die praktischen Möglichkeiten werden, desto Tab. 2.1 Hirnfunktionen, Leistungen des Organismus und Reaktionsformen bei Gefahr jeweils neue Hirnfunktion
Tiergattung Fähigkeiten
Reaktion auf Gefahr
Neocortex
Mensch
Reflexivität, Begriffssprache, Normen, Zukunftsdenken, Kunst, Religion, komplexe Gefühle, geplantes Herstellen
geistige Angst gefühlte Ängste
Großhirn
Säugetiere Vögel
einfache Gefühle, Erinnerungen, individuelles Lernen, Instinkte, Empfindungen
affektive Furcht Gefahreninstinkt
Zwischenhirn Kleinhirn Hirnstamm
Amphibien Reptilien Fische
basale Lebensfunktionen, Reflexe
Fluchtreflexe
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mehr drängt sich das Bedürfnis nach weiterem Wissen und nach zweckmäßiger sozialer Organisation auf. Je komplexer die eigenen Lebensvollzüge werden, umso vielschichtiger und abstrakter werden die Symbolsysteme, mit denen die Menschen sich ihr Leben deuten, umso mehr Kapazität steht zur Verfügung, um Neues zu entwickeln und zu tun. Erst aufgrund von zeitlichen Vorstellungen können Handlungen geplant, Werkzeuge weiterentwickelt, Strategien des Verhaltens gegenüber den Stammesmitgliedern oder den Nachbargemeinschaften ausgedacht werden. Gerade diese differenzierten, geistigen Fähigkeiten bilden die Grundlage dafür, das gesamte Spektrum der Möglichkeiten auszuloten und zu bewerten, wobei die Vorstellungen von gelingenden Vorhaben gute Gefühle auslösen wie Freude, Erleichterung und Hoffnung, hingegen die Vorstellungen vom Misslingen, von Gefahren und Unberechenbarkeiten negative Gefühle bewirken, also die Ängste und Befürchtungen. Mit dem Neocortex und seiner enormen geistig-kognitiven Kapazität ist das biologische Fundament der gefühlten Ängste und der geistigen Angst gelegt. Sie gehen prinzipiell über die biologisch überlebensnotwendige Furcht hinaus und beinhalten das Wissen um die prinzipielle Gefährdungslage der eigenen Existenz, das erst reflexivem, zukunftsgerichtetem Bewusstsein entspringt. Man könnte auch sagen, Ängste und geistige Angst übernehmen für die individuelle Zukunftsorientierung und für das Leben in sozialen, kulturell geprägten Gemeinschaften die Warnfunktion, die die Furcht für das konkrete körperliche Dasein ausübt. Furcht ist biologisch gesteuert und normalerweise in ihrer Stärke an die jeweilige Gefahrenlage angepasst. Ein Stück weit lassen sich Furchtreaktionen zwar konditionieren, indem man die Gefahrensituationen immer und immer wieder herstellt und das Bewusstsein lernen kann, dass die Gefahr kleiner ist als angenommen oder dass es individuelle Möglichkeiten gibt, die Gefahrenquelle zu umgehen. Aber sie kann in ihrer lebensnotwendigen Grundfunktion nicht außer Kraft gesetzt werden. Die gefühlten Ängste zeigen an, in welcher Hinsicht Menschen sich in ihrem sozialen Leben, in politischen Gegebenheiten, in religiösen Zusammenhängen, überall dort, wo sie leben und tätig sind, von Gefahren und Risiken umgeben sehen. Dabei können sich gerade die gefühlten Ängste individuell sehr verschiedenartig ausbilden und, wenn sie sich zu stark manifestieren, sogar für die betreffende Person unbeherrschbar werden. Die geistige Angst stellt die abstrakteste Ausformung von Angstgedanken dar. Sie bezieht sich auf die möglichen Risiken der Zukunft, auf Gefahrenlagen für sich selbst und die Menschheit insgesamt. Sie betrifft auch die geistig-reflexive Bezugnahme auf sich selbst, in der immer das Wissen um die eigene Ungesichertheit eine Rolle spielt. Entwicklungsgeschichtlich ist also die besondere geistige Leistungsfähigkeit des Menschen mit der Ausdifferenzierung des Gehirns und speziell der Funktionen des Neocortex verbunden. Dies ermöglicht bewusstes Sozialverhalten, bessere und genauere Kenntnisse der Umwelt, gezielten Werkzeuggebrauch, die Schaffung von Symbolsystemen zur Kommunikation und geistigen Betätigung. Das menschliche Gehirn bietet eine neue Qualität der Informationsverarbeitung, Erfahrungsspeicherung und Handlungssteuerung. Dies ge-
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schieht auf viel komplexere, weitreichendere und bewusstere Weise, als dies bei allen anderen Tieren beobachtet werden kann. Damit verschieben sich über viele Entwicklungsschritte die Funktionen, die für Tiere sinnvolle Strategien der Lebensbewältigung darstellen, beim Menschen dann zu großen Teilen umgeformt und weiter ausgebaut werden, wie sich auch an der Entwicklung der menschlichen Sprache zeigt. Viele Tierarten kommunizieren miteinander. Bienen summen und tanzen, um den anderen Arbeitsbienen den Weg zur nächsten Futtermöglichkeit zu zeigen. Das Balzverhalten vieler Tiere wird oft durch Laute oder bestimmte Körperbewegungen ausgetragen: Frösche quaken, Hirsche röhren, Pfauen schlagen ihr Rad. Die Lautäußerungen von Vögeln und Säugetieren sind direkte Signale für ihre Artgenossen. Durch Geruchsstoffe werden Reviere begrenzt und die Gruppenzugehörigkeit angezeigt. Darüber hinaus können auch Tiere durch Kommunikation den Rang in der Gruppe regeln, vor Gefahren warnen, auf Nahrung hinweisen oder eigene Befindlichkeiten ausdrücken. Diese Laute, Gesten oder Verhaltensweisen bleiben dabei aber stets an die unmittelbare Situation gebunden. Zudem sind sie noch relativ homogen und weisen nur ein enges Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten auf. Einem Gorilla ist es nicht möglich, seinen Nachkommen mitzuteilen, wie er sich vor einem Jahr beim Kampf mit einem Rivalen gefühlt hat. Die Katze meiner Nachbarin denkt sicherlich nicht darüber nach, ob sie ihrem Leben einmal durch Suizid ein Ende setzen möchte. Menschen hingegen stellen sich solche Fragen. Sie haben ein kognitives Erinnerungsvermögen und können über etwas berichten, das längere Zeit zurückliegt. Sie erzählen sich Märchen und Geschichten, entwickeln Theorien, geben Wissen in strukturiertem Unterricht an andere weiter. Sie denken über ihr eigenes, zukünftiges Leben nach, haben Hoffnungen, Wünsche und eben auch Ängste. Die menschliche Sprache hat sich dabei aus den tierischen Kommunikationsformen heraus entwickelt. Hierfür sind verschiedene Voraussetzungen notwendig gewesen. Auf der einen Seite ermöglichte der aufrechte Gang eine bessere Atmung, und die veränderte Lage des Kehlkopfs im Vergleich mit den anderen Affenarten war Bedingung für bessere Artikulationsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite hat die Gehirn-Entwicklung im Zusammenhang mit Werkzeuggebrauch, Zusammenleben und Kooperation dazu beigetragen, kognitive Fähigkeiten hervorzubringen, die dann im sprachlichen Austausch mit anderen wiederum weiterentwickelt wurden. Ein besonders wichtiger Aspekt der Evolution des Menschen wird in jüngerer Zeit darin gesehen, dass speziell die Anforderungen des Zusammenlebens in sozialen Gemeinschaften einen Selektionsdruck hervorgebracht haben, der die Entstehung leistungsfähigerer Gehirne beförderte. So hat sich ein von der British Academy gefördertes umfangreiches Forschungsprojekt mit dem Titel „Lucy to Language: The Archeology of the Social Brain“ (Von Lucy zur Sprache: Die Archäologie des sozialen Gehirns) gezielt mit der Frage beschäftigt, inwiefern die Weiterentwicklung der menschlichen Vorfahren zum Jetztmenschen, dem Homo sapiens, vor allem durch die geistigen Anforderungen
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aufgrund anspruchsvollerer sozialer Beziehungen erklärt werden kann.7 Die Forscherinnen und Forscher dieses Projektes vertreten die These, dass die Leistungsfähigkeit des Gehirns, speziell des Neocortex, der Größe der sozialen Gruppe entspricht, die organisiert und überschaut werden muss. Ihren Forschungen zufolge liegt die maximale Gruppengröße bei Menschenaffen und wohl auch beim Australopithecus bei ca. 50 Individuen, bei einigen wenigen Schimpansen-Gemeinschaften kann die Gruppengröße auch 80 bis 100 Individuen betragen, dies ist aber die Ausnahme. Die Gruppen zerfallen dann schnell wieder. Beim Homo erectus könnte eine Gruppengröße von 100 Individuen eher die Regel gewesen sein. Und beim Neandertaler war sogar eine Gruppengröße von bis zu 150 Individuen denkbar.8 Empirischen Studien zufolge scheint diese Gruppengröße von 150 Individuen, die sich untereinander gut kennen und miteinander ihr Leben gestalten, auch bis heute für uns zu gelten. So schreiben die Autor/innen: „Im Mittelpunkt unserer Überlegungen steht die Beobachtung, dass es, was die Größe unseres Beziehungsnetzes angeht, eine Obergrenze von ungefähr 150 Personen gibt.“ Sie nennen diese Gruppengröße von 150 Individuen „Dunbar-Zahl“ (benannt nach dem Wissenschaftler Robin Dunbar).9 Das heißt nicht, dass wir nicht in der Lage sind, in Megastädten zu leben und mit vielen Menschen bekannt zu sein, sondern soll sagen, dass wir dabei nur mit einer überschaubaren Anzahl von Menschen wirklich engeren, vertrauensvollen Kontakt haben und in diesem nahen Umfeld von Familie, Freunden und Arbeitskontexten unser soziales Leben hauptsächlich führen. Was hat aber die Gruppengröße mit der Gehirnentwicklung zu tun? Das Zusammenleben in größeren Gruppen war ein Selektionsvorteil, denn damit ging eine Verbesserung der Nahrungssicherung und auch des Schutzes einher. Aber dies erforderte, das Handeln vieler Individuen in Einklang zu bringen. Die dafür nötigen komplexeren Denkaktivitäten erzeugten einen Selektionsdruck Richtung leistungsfähigerem Gehirn. Denn mit dem Leben in einer größeren Gruppe sind auch stärkere Anstrengungen verbunden, einzelne Individuen zu kennen, sich mit ihnen zu arrangieren, ihr Verhalten zu beobachten und zu kalkulieren, gemeinsame Tätigkeiten zu planen, Streit zu schlichten, sich nach längerer Trennung wieder als Freunde zu akzeptieren und vieles mehr. Es war erforderlich, sich in die anderen, in ihr Denken und Fühlen hineinzuversetzen, um sie als Kooperationspartner einschätzen zu können, denn davon hing der Zusammenhalt in der Gruppe und letztlich wieder die Überlebenschance ab. Im Projekt wird diese soziale Fähigkeit, andere Personen zu beurteilen, das Denken der Mitmenschen nachzuvollziehen, sich quasi in ihre Mentalität hineinzuversetzen, Mentalisierung genannt. Schon Tiere reagieren auf ihre Artgenossen. Sie können bestimmte Verhaltensweisen und Signale wie Angriff, Unterwerfung, Balz, Teilen von Futter Vgl. Gamble u. a. 2016. Gamble u. a. 2016, S. 116. 9 Gamble u. a. 2016, S. 5. 7 8
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oder Laute bei Gefahr verstehen. Sie sind auch in der Lage, Absichten und Befindlichkeiten ihres Gegenüber aus dessen Verhalten und Äußerungen quasi „abzulesen“. Menschen vermögen dies auch. Sie sind aber darüber hinaus aufgrund ihrer eigenen kognitiven Fähigkeiten in der Lage, nach den Gedanken und Einstellungen hinter den Verhaltensweisen der Mitmenschen zu fragen. Dies ist aber nur dadurch möglich, dass man in der Lage ist, bei sich selbst diese Zusammenhänge zwischen Denken, Fühlen, Vorstellen, Wünschen, Wollen einerseits und Sprechen, Reagieren, Handeln andererseits zu beobachten und das Funktionsmuster auf das Gegenüber zu übertragen. Aufgrund des Wissens von sich selbst werden Schlussfolgerungen für die erwarteten Handlungen der anderen gezogen. Die Handlungen der Mitmenschen werden auf der Grundlage des Selbstwissens beurteilt. Wenn ich sehe, dass jemand sein Gesicht verzieht und zu jammern beginnt, könnte er Schmerzen haben. Wenn ich beobachte, dass jemand einen anderen bestiehlt, werde ich ihm wohl auch nicht vertrauen. Es ist also für das Leben in sozialen Gemeinschaften notwendig, die Absichten, Denk- und Verhaltensweisen der Mitmenschen abzuschätzen und zu verstehen. Umgekehrt entwickeln sich das eigene reflexive Bewusstsein, das Selbstbild, die Ideen von einer eigenen Identität nur dadurch, dass wir mit anderen konfrontiert sind, sie beobachten, von ihnen lernen, mit ihnen kommunizieren. Die wechselseitige soziale Beobachtung und Beurteilung ist entscheidend für die Ausprägung der menschlichen Reflexivität, für die Entstehung von Selbstbewusstsein. Die Fähigkeit der inneren Auseinandersetzung mit sich selbst setzt voraus, dass der Bezug zu anderen Subjekten verinnerlicht wurde. Dementsprechend kann die Mentalisierung auch als Ausprägung von Reflexivität verstanden werden. Einen ähnlichen Ansatz für die Erklärung der Besonderheit der geistig- kulturellen Entwicklung des Menschen aus seinem spezifisch sozialen, kooperativen Verhalten verfolgt der Verhaltensbiologe Michael Tomasello. Er hat seine Theorie gewonnen aus der vergleichenden Beobachtung der Kommu nikationsweisen von Menschenaffen und Menschen.10 Er stellte fest, dass Menschenaffen zwar die Absichten ihrer Artgenossen verstehen, die diese durch Mimik, Gestik, Laute und Verhaltensweisen äußern, sich daraus jedoch kein längerfristiges kooperatives Verhalten entwickelt hat. Sie können für bestimmte Zwecke gemeinsam Problemlösungen abstimmen, z. B. beim Jagen oder bei der Verteidigung gegen Feinde, aber es bildeten sich keine längerfristigen stabilen Formen heraus, um gemeinsame Interessen und Ziele zu realisieren. Sie haben keine Denkweisen ausgeprägt, die die Perspektive der Gruppenmitglieder einbeziehen könnten. Das heißt, Affen oder andere Säugetiere bleiben immer bei einem Ich-Standpunkt stehen. Sie können kein Du denken und damit keinen Abgleich Ich-Du vornehmen. Damit ist zwar soziales, aber kein bewusst kooperatives Verhalten möglich.11 Es muss aber an dieser Stelle auch darauf hingewiesen werden, dass andere Primatenforscher wie Jane Tomasello 2009. Tomasello 2014, S. 201–202.
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Goodall oder Frans de Waal von komplexeren Fähigkeiten von Schimpansen und Bonobos ausgehen. Tomasello zufolge haben die Frühmenschen (beginnend etwa vor 2 Mio. Jahren) gelernt, Belange der Lebenssicherung gemeinsam zu planen, zu organisieren und die notwendigen Handlungen koordiniert auszuführen. Diese komplexen Aufgaben sind nur zu bewältigen bei gleichzeitiger Entwicklung des rationalen Denkens und der darauf aufbauenden Kommunikationsfähigkeit. Ihnen gelang der Wechsel von der Ich-Perspektive zur Perspektive ihres Gegenüber, was die Ausbildung der eigenen Reflexivität förderte.12 Der nächste Entwicklungsschritt und damit die Herausbildung des Jetztmenschen bestand dann darin, größere Gemeinschaften zu organisieren. Hierfür war die Verallgemeinerung der persönlichen Ich-Du-Perspektive zu einem nicht personalen Wir entscheidend. Dies erforderte Abstraktionsfähigkeit, die Fähigkeit zur Symbolisierung und schließlich ein Verständnis allgemeiner Normativität, die für alle gelten soll, also für das Wir.13 Das Denken des Menschen ist im Vergleich zu den Tieren nach Tomasello in dreierlei Hinsicht eine besondere Leistung: 1) Menschen können sich auf Objekte durch wechselnde Perspektiven beziehen und dabei das Objekt als konstant denken. 2) Menschen haben die Fähigkeit zur Selbstreflexivität, das heißt, sie können sich mit ihren eigenen Einstellungen, Gefühlen, Meinungen, Befindlichkeiten innerlich auseinandersetzen. 3) Menschen entwickeln Vorstellungen von Normativität. Sie verstehen die Bedeutung von Werten und Normen für die Organisation des Lebens in einer Gemeinschaft. Diese drei Aspekte fasst Tomasello zusammen in der Kennzeichnung des Menschen durch „objektiv-reflexiv-normatives Denken“.14 Diesem Denken korrespondiert die Ausprägung der menschlichen Sprache. Sie ist ein effizientes, formbares und funktionales Mittel, das es ermöglicht, gedankliche Inhalte zu verarbeiten, zu verdichten, in symbolischer Form zu fassen und anderen mitzuteilen, bzw. umgekehrt, Bedeutungsinhalte zu verstehen, die andere mitgeteilt haben. Wer weiß, dass bestimmte Beeren oder Pilze besonders schmackhaft sind, kann dies Wissen anderen Gruppenmitgliedern oder den eigenen Kindern erklären, ohne dass diese jemals die betreffenden Beeren oder Pilze selbst gesehen haben müssen. Sprache schafft die Möglichkeiten, die kognitiven Leistungen der Verallgemeinerung, der Abstraktion, der Analyse, der Analogiebildung, des Vergleichs, der Schlussfolgerung durch entsprechenden Zeichengebrauch zu realisieren. Menschen können so eine große Wissensmenge mit anderen teilen. Merlin Donald erklärt die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten damit, dass sich beim Menschen im Vergleich mit den stammesgeschichtlichen Vorfahren diejenigen Bereiche enorm erweitert haben, die insbesondere die
Tomasello 2014, S. 203–204. Tomasello 2014, S. 205–206. 14 Tomasello 2014, S. 17. 12 13
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„Überwachungs-, Steuerungs- und metakognitiven Funktionen ausüben“15 und auch schon ansatzweise bei anderen Säugetieren vorhanden sind. Auch höhere Säugetiere verfügen über kognitive Fähigkeiten. Sie haben ein bestimmtes, beschränktes Wissen von ihrer Umwelt und können ihr Verhalten an die sozialen Gegebenheiten in der Gruppe anpassen. Einzelne Primaten, die von Menschen betreut werden, lernen sogar einfachen Symbolgebrauch. Aber sie sind nicht dazu fähig, selbstständig Symbolisationen zu erfinden und weiterzuentwickeln. Sie haben keine Museen, Parlamente und Kirchen, sie fahren keine Autos und bauen keine Computer. „Sie sind nicht in der Lage, ihre Erfahrungen in abstrakte Kategorien einzuordnen und sie später dem Bewusstsein als Erinnerung zu re-präsentieren. Vielmehr bewegen sie sich in einem Strom von rein phänomenalen Erfahrungsepisoden, zu dem sie keine mentale Distanz einnehmen können.“16 Durch dieses episodische Denken ist es möglich, dass ein Tier seine Aufmerksamkeit eine begrenzte Zeit auf etwas konkret Gegebenes in der Umwelt richtet. Die einzelnen Episoden werden aneinandergereiht, aber nicht miteinander in einem weiterführenden Sinn verbunden. Zwar wird vereinzelt etwas individuell Gelerntes an den Nachwuchs weitergegeben, aber nicht auf gezielte, systematische, tradierende Weise. In diesem Sinne ist das episodische Denken vor allem der höher entwickelten Tiere grundsätzlich nicht mit der Denkkapazität des Menschen gleichzusetzen. Für die Stammesgeschichte des menschlichen Denkvermögens unterscheidet Donald – in Abgrenzung vom tierischen, episodischen Denken – drei Entwicklungsstufen: mimetisches, mythisches und theoretisches Denken.17 Auf der Stufe des mimetischen Denkens (vor etwa 2 Mio. bis 500.000 Jahren) werden schon bewusst Gebärden und Imitationen vollzogen, aber es hat sich noch keine Wortsprache entwickelt. Dieses mimetische, nachahmende Denken setzt die Fähigkeit zur bewussten Bezugnahme auf Umweltgegebenheiten voraus. Damit war es möglich, das soziale Leben der Gruppe zu formen, gemeinsame Handlungen zu koordinieren und eine gezielte Aufzucht des Nachwuchses zu gewährleisten. Die geistige Leistung ist dabei noch direkt auf die jeweilig vorgegebenen realen Gegebenheiten fixiert. Gebärden und Laute weisen auf Nahrung oder Feinde hin, Verhaltensweisen werden abgeschaut und wiederholt. Es fehlt aber das freie, gestalterische, schöpferische Vermögen. Dennoch erfolgt in dieser langen Zeitspanne der entscheidende Übergangsprozess vom Tier zum Menschen, vom Instinkt zum bewussten Handeln. Die zweite Stufe ist Donald zufolge vor allem durch die Fähigkeit zu mythischem Denken gekennzeichnet, das auf dem Gebrauch inhaltlich komplexerer Symbole, vor allem einer Wortsprache, zur Erklärung der Umwelt und zur Kommunikation beruht. Diese Bewusstseinsstufe entspricht vor allem der Kapazität des frühen Homo sapiens, der stammesgeschichtlich seit etwa 200.000 Jahren zu finden ist. Entscheidend für das mythische Denken ist die Donald 2008, S. 123. Donald 2008, S. 129. 17 Donald 2008, S. 270–275. 15 16
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Arbeitsteilung, die es ermöglicht, bestimmte geistige Fähigkeiten gezielt zu entwickeln, ohne dass die unmittelbare Lebenssicherung die gesamte Aufmerksamkeit beansprucht. Es muss also Menschen in der Gruppe gegeben haben, die vor allem ihre sprachlichen, geistigen, spirituellen und vielleicht auch künstlerischen Fähigkeiten entwickeln konnten. So entstanden dann auch mythische und religiöse Welterklärungen, Schamanentum, kultische Traditionen und erste künstlerische Werke. Die dritte Stufe ist bestimmt durch die Entstehung von theoretischem Denken vor ca. 3000 Jahren. Es setzt hoch entwickelte rationale Vermögen und Abstraktionsleistungen voraus und beruht auf Techniken der Kommunikation und auf Medien der Wissensspeicherung (Schriftsprache). Damit lässt sich die Kapazität des Menschen beliebig vervielfachen, weit über die Möglichkeiten der einzelnen Individuen hinaus. Vor allem mit dieser dritten Stufe des theoretischen Denkens sind wir bis an die Gegenwart herangerückt. Der Fokus der Betrachtung soll nun aber noch etwas geweitet und die Herausbildung der spezifisch menschlichen Leistungen skizziert werden, die wir im weitesten Sinn als Kultur bezeichnen.
2.2 Homo sapiens und die Herausbildung menschlicher Kultur Im Laufe der Menschheitsgeschichte sind Schritt für Schritt die typisch menschlichen Fähigkeiten entstanden, die es ermöglichten, immer schwierigere Aufgaben der Lebenssicherung zu erfüllen. Wie oben schon angesprochen, gehört die menschliche Sprache zu den maßgeblichen Kulturleistungen überhaupt. Sprache ihrerseits ist notwendiges Organisationsinstrument sozialer Gemeinschaften. Die menschlichen Kommunikationsformen haben sich dabei zu immer komplexeren Gebilden entwickelt, die tradiert und weitergegeben werden, sodass die nachfolgende Generation nicht wieder beim Punkt Null anfangen muss, sondern auf den schon gespeicherten Erfahrungen aufbauen und dazulernen kann. Keine andere Tierart hat Kultur im Sinne einer Anhäufung, Speicherung, Weitergabe und Weiterentwicklung erworbenen Wissens entwickelt. Kultur umfasst aber nicht nur die Gesamtheit des Wissens der Menschen, sondern alles das, was hervorgebracht wird, um das Leben abzusichern und zu gestalten. Hierzu gehören die Begriffssprache, soziale Kooperationsformen und Normen wie Moral, Recht und Politik, Kunst, mythische und religiöse Praktiken und natürlich die gezielte Herstellung der Dinge, die Menschen zum Leben benötigen. Da diese Gestaltungen nicht nur in den Köpfen der Menschen existieren, sondern eine objektivierte, materielle Existenz haben oder in dauerhaften Formen und Strukturen ausgeprägt werden, können sich die einzelnen Individuen auf sie immer wieder beziehen, sich mit ihnen auseinandersetzen und sie weiterentwickeln. Ein Faustkeil oder ein Speer können verwendet, anderen vorgeführt und weiter vervollkommnet werden. Die Vermittlung kultureller Gebilde geschieht wiederum durch Kommunikation, die
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umfassende Symbolsysteme ausbildet, um den verschiedenen Aspekten des Lebens Rechnung zu tragen. Ohne Begriffs- und Symbolsprache wären alle anderen Hervorbringungen wie Kunst, Religion, Wissenschaft, Handwerk und Technik unmöglich. Heute ist biologisch nicht mehr umstritten, dass auch höher entwickelte Tiere Intelligenz besitzen, Zeichen verstehen, einfachste Werkzeuge benutzen und Formen von Bewusstsein haben. Es wird auch davon ausgegangen, dass sie auf Vorkommnisse in ihrer Welt durch einfache Gefühle reagieren. So sind Verhaltensweisen zu beobachten, die auf Freude bei schönen Erlebnissen oder Trauer bei Tod eines nahestehenden Gruppenmitglieds, Zuneigung, Eifersucht oder aggressive Ablehnung, Gerechtigkeitsempfinden und auch einfache Ängste schließen lassen. Doch entscheidend ist, dass bisher kein nicht menschliches Tier ein bestimmtes Niveau dieser Fertigkeiten und Fähigkeiten überschritten hat. Noch nie haben ein Schimpanse oder ein Hausschwein Schmuck gefertigt oder ein Buch geschrieben, Schulen für ihren Nachwuchs gebaut oder Museen zur Traditionspflege eingerichtet, ein Parlament gewählt oder mit Aktien gehandelt. Doch solche kulturellen Errungenschaften prägen das Leben der Menschen. Kultur bestimmt, wie Menschen miteinander umgehen, ihr Zusammenleben organisieren, Dinge herstellen, ihr Wissen weitergeben und ihre geistige Auseinandersetzung mit der Welt in Werken verarbeiten. Kultur prägt, wie Menschen aufwachsen, was sie lernen, wie sie denken, was sie tun. Deshalb wird Kultur auch als die „zweite Natur“ des Menschen bezeichnet. Sie ist für den Menschen ebenso prägend wie die biologische Natur für jedes Lebewesen. Die Entstehung von Kultur hat ihre Vorgeschichte, ihren Unterbau, in der gesamten Evolution des Lebens. Jede Weiter- und Höherentwicklung beruht auf dem, was schon erreicht worden ist und worauf als Bestand aufgebaut werden kann. Es brauchte nach Schätzung der Forschung allein etwa 1 Mio. Jahre, bis der Faustkeil von den ersten zufälligen Formen an immer weiter vervollkommnet und zur Vollendung seiner Zweckmäßigkeit gebracht wurde, sodass seine planmäßige Herstellung als sicheres Wissen angesehen werden konnte. Etwa vor 300.000 oder 200.000 Jahren mag dieser technische Kenntnisstand erreicht worden sein. Der Faustkeil in seinen verschiedenen Funktionen als Werkzeug zum Hauen, Schlagen, Schaben, Schneiden, Stechen wurde bis vor etwa 40.000 Jahren verwendet. Wie weit die Feuernutzung zurückreicht, ist umstritten. Manche Forscher gehen von etwa 1,5 oder sogar 1,7 Mio. Jahren aus. Die ältesten Funde von Feuerstellen reichen ca. 800.000 Jahre zurück. Die Fähigkeit, Feuer dauerhaft zu bewahren und dann gezielt selbst zu erzeugen, ist dabei viel jüngeren Datums. Dabei wird mit einem Lernprozess von einer halben Million Jahren gerechnet. Gerade die Bedeutung der Nutzbarmachung des Feuers ist kaum zu überschätzen. Feuer liefert nicht nur Wärme und Licht, sondern bietet auch Schutz vor gefährlichen Tieren und eine bessere Versorgung mit Nahrung. Die ersten Hütten aus Zweigen wurden ungefähr vor 600.000 Jahren gebaut. Die ältesten gefundenen Jagdspeere sind ungefähr 400.000 Jahre alt. Ebenso weit zurück reicht die nachweisliche Benutzung von Ocker als Farbstoff. Vor etwa 350.000 bis 300.000 Jahren wur-
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den für Vorräte eigene Lagerplätze angelegt. Und es gab, vielleicht nahe der Feuerstelle, auch einfache Arbeitsstätten für lebensnotwendige Dinge. Aus diesen Lager- und Fertigungsorten haben sich dann nach und nach die eigentlichen Behausungen entwickelt. Einzelne Bestattungen sind seit ca. 120.000 Jahren nachweisbar. Menschen lernten, ihr Gruppenleben differenzierter zu organisieren, Kranke zu versorgen, Kindern das Lebensnotwendige beizubringen und besondere Fähigkeiten einzelner Gruppenmitglieder zu fördern. Sie erfanden immer bessere Verständigungsformen und entwickelten ein abrufbares Wissen davon, wie die Welt funktioniert. Dabei muss dieses Wissen beständig im Wechselspiel von Versuch und Irrtum erworben, überprüft und erweitert werden. Wissen ermöglicht die Orientierung in der Umgebung, den unmittelbaren praktischen Umgang mit den Dingen und das sinnvolle Verhalten in der Gruppe. Falsche Informationen über die Welt sind lebensgefährlich. Dies gilt für alle Lebewesen. Wissen gibt damit auch Sicherheit und ist ein wichtiger Faktor, um Ängste im Zaum zu halten. Wenn Menschen wissen, welche Schlangenarten besonders giftig und welche ungefährlich sind, welche Früchte genießbar sind, können sie sich entsprechend in der Welt verhalten. Am Anfang erfassten die Menschen sicherlich vor allem einfache Ursache- Wirkungs-Relationen, Ähnlichkeiten an den Dingen oder regelmäßig wiederkehrende Ereignisse wie Tag und Nacht, Jahreszeiten oder die Vegetationsperioden. Die Beobachtung der Abläufe in der Natur mit ihrem Werden und Vergehen lässt nach konstanten Zusammenhängen fragen, deren Kenntnis Vorhersagen von Ereignissen möglich macht und so das eigene Leben besser absichert. Doch es gibt immer wieder Phänomene im Leben, die nicht ohne weiteres verständlich sind. So sind Naturgewalten wie Unwetter, Überschwemmungen, Erdbeben oder Vulkanausbrüche etwas Ungeheures und Unberechenbares. Aber auch das Erleben von Krankheiten und Tod mögen in den Frühzeiten des Menschen sehr verstörend gewesen sein. So liegt es nahe, dass es auch das Bedürfnis gibt, das Unvorhersehbare und Unverständliche, das immer Anlass von Beunruhigung und von Ängsten ist, verständlich zu machen und es irgendwie ins Leben zu integrieren. Es entstehen Erklärungen und kulturelle Praktiken, die von dem Bewusstsein getragen sind, auf die Welt Einfluss nehmen zu können, beispielsweise durch bestimmte Rituale, Opferungen und Beschwörungen. Vor allem verheerende Naturereignisse oder gravierende Vorkommnisse wie der Tod verlieren zwar nicht ihre Gewalt, aber die Menschen schaffen sich geistig-kulturelle Möglichkeiten, sie als potenzielle Gefahren zu bewältigen. Sie fühlen sich sicherer, wenn sie dem Flussgott regelmäßig Opfergaben spenden, ohne es (aus heutiger Sicht) jedoch gewesen zu sein. Wenn Menschen magische Naturkräfte oder später übersinnliche, transzendente, göttliche Wesen annehmen, von denen sie hoffen, dass sie die eigenen Verhaltensregeln und Lebensformen gutheißen, beruhigt es sie und mildert die Ängste. Die geistigen Kapazitäten des Menschen führen aber auch zu Fragen nach dem Weltganzen, nach der Bedeutung von Naturereignissen und der Möglich-
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keit, die Zukunft zu beeinflussen. So sind sicher auch Erklärungen ersonnen worden, die Erlebnisse und Ereignisse dadurch verständlich machen, dass sie Analogien bilden und Verknüpfungen herstellen, dass sie z. B. menschliche Eigenschaften benutzen, um Gegebenheiten der Außenwelt zu erklären. Die Vorstellung, dass alles, was ein eigenes Leben hat oder überhaupt sich verändert, beseelt ist, setzt schon voraus, dass die Menschen auf ihre eigenen psychischen und geistigen Leistungen aufmerksam sind, dass es ein gewisses Verstehen von seelisch-geistigen Prozessen gibt, die dann auf die Geschehnisse der Welt übertragen werden. So entstehen magische und mythische Muster: dass Pflanzen eine Seele zugesprochen wird, dass bestimmte Tiere verehrt werden, dass die Welt von Geistern und Dämonen bewohnt ist, dass die verstorbenen Ahnen weiter Einfluss auf das eigene Leben nehmen können. Die Lebenswelt wird unterteilt in heilige, zugängliche und zu meidende Bereiche. Und es ist gut vorstellbar, dass sich einzelne Gruppenmitglieder, die eine besondere Begabung für diese ideellen Deutungen hatten, hierauf spezialisierten und die geistigen Fähigkeiten der Erklärung von Umweltgeschehnissen, Vorhersagen, oder auch der Heilung von Krankheiten speziell weiter ausbauten. Sie wurden dann vielleicht die spirituellen Ratgeber und dann deswegen vielleicht auch das Oberhaupt einer Gemeinschaft. Damit dies geschehen konnte, musste aber die Gruppe selbst kulturelle Praktiken und Riten ausprägen, vielleicht Formen des gemeinsamen Beratens, Gesänge und Tänze zum Beschwören der Natur, rituelle Handlungen bei Geburt und Tod, woraus sich dann besondere Führungsfunktionen des Schamanen, Stammeshäuptlings oder einfach der Stammesältesten als erfahrenen Ratgebern entwickelt haben könnten. Sie sorgten für die seelisch-geistigen Bedürfnisse der Menschen und hielten so die Gruppe spirituell zusammen. Auch die Herstellung von gegenständlichen Objekten und Schmuck, Bestattungen der Toten, das Anlegen von Feuerstellen und Lagerungsstätten deuten darauf hin, dass sich geistige Fähigkeiten ausprägten, die über das bloße Tagesgeschäft des Essenbeschaffens, Absicherns gegen Feinde und der Aufzucht der Kinder hinausreichten. Diese geistigen Fähigkeiten sind mit der Herausbildung eines Ich-Bewusstsein verbunden, in dem sich die Einzelnen als eigeständige Individuen erfahren, eigene Wünsche, Vorstellungen und Bedürfnisse zu reflektieren beginnen und sich in Relation zur Umwelt und den Mitmenschen der eigenen Gruppe verstehen lernen. Wenn Menschen Muscheln oder beschnitzte Hauer als Schmuck angefertigt und getragen haben, und dies ist schon vor ca. 80.000 bis 100.000 Jahren der Fall, bedeutet dies nicht nur, dass es ihnen selbst gefallen haben mag, sondern auch, dass sie die Wirkung auf andere beobachtet haben und dass sie vielleicht den Schmuckgegenständen auch einen sozialen Zweck oder magische Kraft zusprachen. Die Funde von Skeletten, bearbeiteten Materialien, Werkzeugen, Feuerstellen bilden die Anhaltspunkte, um die Abläufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen zu rekonstruieren. Nun ist es interessant, dass es ab einer bestimmten Zeit, etwa vor 50.000 Jahren, auffällig mehr Funde gibt, die auch in ihrer Qualität eine neue Stufe erreicht haben. Dies lässt vermuten,
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dass hier die geistige Entwicklung eine neue Dynamik erreicht hat, die mit Sicherheit ihren Niederschlag auch in den sprachlichen Symbolsystemen und Funktionsmustern, aber auch in der Welt- und Selbstsicht der Menschen gefunden haben muss. Dieser sehr auffällige Entwicklungssprung wird vom Anthropologen John E. Pfeiffer als „schöpferische Revolution“18 charakterisiert. So wurden aus Knochen geschnitzte Flöten gefunden, die vor ca. 50.000 Jahren hergestellt wurden. An einem etwa ebenso alten Neandertalerskelett wurde eine Amputation des Armes nachgewiesen. Die älteste bekannte Höhlenmalerei befindet sich auf der Insel Sulawesi (Indonesien) und soll mindestens 40.000 Jahre alt sein. Sie zeigt nicht einfach eine Jagdszene, sondern Wesen, die aus Mensch und -Tieranteilen bestehen, was auf ein entwickeltes symbolisches Denken schließen lässt. Weitere solcher Höhlenmalereien finden sich auch in anderen Erdteilen, was nahelegt, dass an verschiedenen Stellen der Welt ähnliche Entwicklungen vor sich gegangen sind. Die ältesten gezeichneten Zeichen zur Kommunikation, die aber noch nicht als systematische Schriftzeichen im engeren Sinne gedeutet werden können, reichen ca. 35.000 Jahre zurück. Und gefundene Kleiderreste lassen sich auch auf ein Alter von mehr als 30.000 Jahren datieren. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass die Neandertaler, die weit im Norden lebten, schon viel früher über selbst gefertigte Kleidung verfügt haben müssen, sonst hätten sie die kalte Jahreszeit nicht überleben können. Etwa 30.000 bis 25.000 Jahre alte Venus-Figurinen wurden von Frankreich bis Sibirien entdeckt.19 Wenn Verstorbenen nützliche Dinge ins Grab gelegt wurden, Geschirr, Gerätschaften, Schmuck usw., die ihnen das Leben im Jenseits erleichtern und verschönern sollten, dann war eine ausgeprägte Fantasie vorhanden, über das Hier und Jetzt hinauszudenken und sich Vorstellungen vom Tod und vielleicht einem Weiterleben in einem anderen Bereich auszumalen. Zum Zeitpunkt des kulturellen Aufblühens vor einigen zehntausend Jahren war der Homo sapiens wahrscheinlich in der Lage, strukturierte Sprache nach Regeln zu verwenden und Sätze zu bilden, die aus mehreren Teilen bestanden. Diese kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten beförderten aber umgekehrt auch die Hervorbringung symbolischer Gehalte wie in der Kunst. Ein Tier oder eine Jagdszene zu malen, erfordert nicht nur das entsprechende Geschick und die Kenntnis von der Verwendung von Farben. Notwendig ist das Verstehen dessen, was in der Welt geschieht, wie der Mensch in der Welt agiert, dass für ihn Dinge, Tiere, andere Menschen bedeutungsvoll sind. Notwendig sind weiterhin genaues Beobachten, die Differenzierung der Welt in klar unterscheidbare Gegebenheiten mit ihren typischen Eigenschaften, denn diese müssen geistig erfasst werden, um sie dann in einem gemalten Bild neu zusammensetzen zu können. Vielleicht sind zu dieser Zeit auch schon erste ideelle Erklärungen der Welt entstanden, die kulturgeschichtlich als „Mythen“ bezeichnet werden
Pfeiffer 1986. Zu den hier verwendeten Beispielen vgl. auch Watson 2008, S. 57–84.
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können und wie die Höhlenmalereien schon entwickelte Formen geistig- kultureller Entwicklung darstellen. Die Fähigkeiten, Symbole zu gebrauchen, Bildnisse oder Schmuck anzufertigen, Geschichten zu erzählen, setzen eine gewisse Abstraktionsfähigkeit voraus, das heißt das Loslösen vom Einzelding und der konkreten Situation und das Erfassen übergreifender, allgemeiner Zusammenhänge. Dieses Loslösen ist eine Art geistige Befreiung von den Bindungen an die unmittelbar umgebende Dingwelt, es öffnet den Blick für Möglichkeiten und fördert Fantasie und Neugier, Wünsche und Hoffnungen, aber auch Sorgen und Ängste. Damit ist es aber auch möglich, bewusst zu planen, in die Zukunft zu denken und dabei zu kalkulieren, welche Handlungen erfolgreich sein oder woran bestimmte Handlungen scheitern könnten. Wenn sich die Jägergruppe berät, mit welcher Strategie bei der nächsten Jagd vorgegangen werden soll, diese Strategie dann aber verworfen wird, weil das Wetter umschlägt oder mehrere Jäger erkranken oder ein leichtes Erdbeben als schlechtes Zeichen gedeutet wird, dann müssen Rationalität, geistige Flexibilität und zukunftsorientiertes Denken ausgebildet sein. Höherstufiges Denken stellt die Loslösung von den unmittelbaren Reizverarbeitungen dar. Es kann deshalb auch über Zeichen und Symbole verfügen, die die Umwelt nicht mehr nur nachahmen oder in bestimmten Eigenschaften abbilden, sondern freier gestaltet werden. Die Fantasie blüht auf und kreiert Vorstellungen, Gebilde und Wörter unterschiedlichster Art. Rationales Denken ermöglicht längerfristige Planungen des Lebens, aber auch die Verwendung des geistigen Überschusses der Einbildungskraft und Fantasie für Dinge, die nicht unmittelbar praktisch sind, sondern vielleicht einfach nur erfreuen und unterhalten wie Kunstwerke, Schmuck oder Spiele. Sie sind aber auch ein wichtiger Ausdruck der Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensumständen: die Wandmalereien, Schnitzereien, Tänze spiegeln das Leben und geben so Anlass, sich mit sich selbst, der Gruppe, den Nöten und Ängsten, Freuden und Wünschen auseinanderzusetzen. Die Funde und ihre Deutungen legen nahe, dass mindestens seit dieser Zeit vor etwa 50.000 Jahren Menschen über die Fähigkeit zu symbolischem Denken verfügten, ein hoher Grad von Reflexivität erreicht worden ist, zu dem auch ein entwickeltes Bewusstsein von sich selbst als Individuum gehört. Menschen beobachten nicht nur ihre Umwelt, sondern auch sich selbst. Dies ist die Bedingung dafür, dass sich vielfältigere und abstraktere Ängste der Menschen haben ausprägen können, die über die Furcht und die einfachen Lebensängste hinausgehen und sich mit möglichen Gefahren aller Art auseinandersetzen. Ängste sind immer der Spiegel des „Ich“, in ihnen findet die Auseinandersetzung mit den eigenen Gedanken, Ideen, Vorstellungen, Wünschen und Hoffnungen, Erfahrungen und Erinnerungen, Sorgen und Nöten statt. Sie können auf unterschiedlichste Arten von Gegenständen und Bereichen bezogen sein und sich dementsprechend sehr konkret als Ängste vor räumlicher Enge, vor wilden Tieren, vor feindlichen Stämmen oder sozialen Sanktionen bei Fehlverhalten darstellen.
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Mit einer größeren Kapazität des Bewusstseins und weiter ausgreifenden geistigen Spielräumen verändern sich auch die Inhalte und vor allem die Qualität der Ängste. Menschen erleben, dass zur Jagd losgezogene Jäger nicht zurückkehren, also einfach verschwunden sind. Während intelligente Tiere sicher auch unter dem Nichtmehrvorhandensein eines nahestehenden Gefährten leiden, machen sich Menschen Gedanken darüber, warum ihre Gruppenmitglieder nicht zurückgekommen sind, was ihnen zugestoßen sein mag. Ängste vor möglichen Gefahren bei der Jagd als der Hauptnahrungsquelle sind immer vorhanden, wie auch Ängste vor Krankheiten, vor Hunger, vor Kälte, vor Feuer, vor Feinden, vor allem, was bedrohlich sein kann. Mit Weiterentwicklung der kognitiven Fähigkeiten, des Abstraktionsvermögens und der Fantasie erweitern sich auch die Vorstellungen davon, wovor man sich ängstigt. Die Ängste lösen sich vom Nahbereich des Sichtbaren und werden abstrakter. Sie beinhalten nun allgemeinere Bedrohungen, zum Beispiel „was aus den Tiefen des Waldes kommt“, „was sich unbemerkt anschleicht“, „was den Tod bringt“, oder auch Ängste vor magischen Kräften, Einsamkeitsängste, Ängste vor dem eigenen Versagen und vor dem Ansehensverlust in der Gruppe. Und Menschen lernten auch, dass Ängste beeinflusst und manipuliert, dass sie gemildert oder gesteigert werden können, dass mit Bildern, rituellen Handlungen, Opfergaben auch gezielte psychische Bewältigungen stattfinden. Wenn der Vulkan, in dessen Reichweite Menschen lebten, immer wieder ausbrach, sollten vielleicht Beschwörungen der in ihm wohnenden Dämonen oder das Anrufen der Götter auch die Ängste lindern. Vielleicht half gemeinsames Singen und Tanzen, die Ängste zu vertreiben. Die bildliche Darstellung ermöglicht es, sich mit bestimmten Sachverhalten auseinanderzusetzen. Wird das Unbekannte, Diffuse mit Namen belegt, als Bild oder Figur dargestellt, kann damit besser umgegangen werden. Es lässt sich in Geschichten integrieren, es lässt sich mit einem Bann belegen, es lässt sich anbeten oder verdammen. So sind die kulturellen Leistungen nicht nur Formen des Weltverstehens, sondern auch Maßnahmen, um Ängste zu kanalisieren und zu beschwichtigen. Ein nächster riesiger Entwicklungsschritt erfolgt mit der Sesshaftwerdung vor ca. 10.000 Jahren. Die Altsteinzeit geht in die Jungsteinzeit über, die von der Forschung für den Zeitraum ca. vor 10.000 bis 5000 Jahren angesetzt wird. Zwar hatte diese neue Lebensweise auch Nachteile. Die Arbeitszeit und Anstrengung, die für die Ernährung aufgebracht werden mussten, erhöhten sich. Das nahe Zusammenleben mit den Tieren brachte viele Krankheiten mit sich. Doch positiv gesehen bedeutete das sesshafte Leben eine bessere und verlässlichere Existenzsicherung, was sich am einsetzenden deutlichen Bevölkerungswachstum zeigte. Damit entstand aber auch ein gewisser Druck, in größeren Gemeinschaften zusammenleben zu müssen und dieses Zusammenleben zu strukturieren. So hatte Jericho etwa 8000 v. u. Z. schon um die 3000 Einwohner. Die sumerische Stadt Uruk war ca. 3500 v. u. Z. ein großes Zentrum mit vielleicht bis zu 50.000 Einwohnern. Solche Bevölkerungszahlen lassen vermuten, dass es dann nicht nur eine ausgeprägte Arbeitsteilung, sondern auch eine administrative Stadtorganisation gegeben haben muss. Auch
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Verwaltung und Organisation des Zusammenlebens sind wichtige geistige Leistungen, die ein abstrakteres Denken erfordern. Deshalb ist es wohl kein Zufall, dass sich nun auch die Schriftsprache herausbildete. Die ältesten Schriften entstanden etwa um 6000 v. u. Z., beispielsweise die Jihau-Schrift in China. Die Tontafeln mit Schriftzeichen, die in Rumänien gefunden wurden, werden auf 5300 v. u. Z., datiert. Entwickelt haben sich auch die Keilschrift in Mesopotamien und die Hieroglyphenschrift in Ägypten. Die Bedeutung der schriftlichen Kommunikation kann wohl kaum überschätzt werden. Die längste Zeit der Menschheitsentwicklung wurde das Wissen einerseits praktisch durch Zuschauen und Nachmachen, andererseits mündlich weitergegeben. Doch das Mündliche ist flüchtig. Es muss ständig und ständig wiederholt werden, um zu einem bleibenden Bestand werden zu können. Wiederholung setzt aber vo raus, dass der Inhalt der Erzählungen gleichbleibt. Der Inhalt des so tradierbaren Wissens konnte nur sehr beschränkt sein. Die Erfindung der Schrift war deshalb ein ungeheurer Fortschritt. Erst von da an konnte Wissen auf eine verlässliche Weise und in größerem Umfang weitergegeben werden. Das Aufgeschriebene konnte man nun problemlos über weite Strecken transportieren, ohne dass sich der Inhalt veränderte. Auch war durch die Verschriftlichung eine viel größere Genauigkeit und Klarheit möglich. Das Wissen konnte viel intensiver überarbeitet und durchdacht werden. Ohne Verschriftlichung hätte es niemals komplexes logisches, mathematisches und philosophisches Denken gegeben. Wegen dieser enormen Bedeutung ist der Beginn der Schriftkultur ein wesentliches Kriterium dafür, in der Betrachtung der Menschheitsgeschichte hier den Übergang von der Urgeschichte zur Hochkultur zu verankern. Von nun an nimmt das Wissen von Generation zu Generation mit steigender Geschwindigkeit zu und bildet sich ein Typus von Rationalität aus, der bisher nicht möglich war, das theoretische, wissenschaftliche Denken, das dann in den folgenden Jahrhunderten auch die technischen Entwicklungen beförderte. Wenn durch wissenschaftliche Erklärungen die Gegebenheiten der Welt zu vorhersagbaren Funktionsmustern zusammengefügt werden und eine größere Vorhersagegenauigkeit erreicht wird, dann hilft das, die Ängste vor dem Nichtbekannten und Unbeherrschbaren zu beschwichtigen. Wissenschaften spielen auch deshalb eine bedeutende Rolle in der Bewältigung der Ängste, weil sie die Welt als etwas Gesetzmäßiges erklären und damit die Einzelnen von der Irrtumsanfälligkeit ihres individuellen Wissens entlasten. Andererseits wird aber durch die theoretische Gesamtsicht auf die Welt, durch die Konstruktion umfassender Weltbilder auch die Reichweite der Ängste vergrößert. Sie betreffen nun auch das Gesamtgeschehen der Welt und können Formen allgemeiner Zukunftsangst oder apokalyptischer Weltuntergangsangst annehmen. Schauen wir noch einmal zurück in die Vorgeschichte. Aufgrund der immer besseren strategischen Überlegungen zur Lebenssicherung war es möglich, größere Gruppen zu bilden. Das erforderte differenziertere Kommunikation, um das Zusammenleben zu organisieren, die Aufgaben der einzelnen Individuen festzulegen, Konflikte zu lösen. Die Besiedlung unwirtlicherer Gebiete setzte voraus, dass Strategien entwickelt wurden, um z. B. in kalten Regionen
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zu überleben. Es mussten Bekleidung hergestellt, Unterkünfte gewärmt und Nahrung beschafft werden. Wir können feststellen, dass vor ein paar Zehntausend Jahren Menschen begannen, sich zu schmücken. Wir finden ersten Formen von Kunst. Und wir können anhand der Grabbeigaben darauf schließen, dass es irgendwann so etwas wie „Bestattungen“ der Toten gab. Dies alles können wir identifizieren, weil wir materielle Überbleibsel ehemals lebender Menschen und ihrer Lebensvollzüge gefunden haben. Daraus versuchen wir, die kulturelle Evolution zu rekonstruieren. Viele Fragen werden dabei aber unbeantwortbar bleiben, die das konkrete Leben, Denken und Fühlen der Menschen betreffen. Wir wissen nicht, wann die ersten Geschichten erzählt oder Mythen erdacht worden sind. Wie hat man sich die ersten Götter vorgestellt und welche Kräfte sprach man diesen Göttern zu? Wie erfolgte eine gezielte Unterweisung von Kindern? Wie gingen Eltern miteinander um? Bestanden die Gemeinschaften eher aus einem Zusammenschluss mehrerer Kleinfamilien oder lebten die Menschen meist polygam zusammen? Welche Rolle spielte eine emotionale Verbindung zwischen Mann und Frau? Gab es so etwas wie Freundschaften? Was mochten Menschen gedacht haben, die beobachteten, wie jemand die Höhlenwand bemalte? Wie gingen sie mit der Erfahrung des Sterbens um? Dazu können wir nur Vermutungen anstellen. Doch wir können Theorien dazu formulieren, was wir unter Kultur verstehen und welche Bedeutung sie für die menschliche Evolution hat. Als Beispiel für eine solche Kulturphilosophie soll hier Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (3 Bände, 1923–29) dienen. Cassirers zentraler Gedanke besteht darin, dass Menschsein konstitutiv mit der Fähigkeit zum Schaffen und Verstehen von Symbolen verbunden ist und dass diese Fähigkeit als das entscheidende Charakteristikum von Kulturleistungen überhaupt und damit als das Wesensmerkmal des Menschen anzusehen ist. Er bezeichnet den Menschen deshalb als „animal symbolicum“.20 Während einfache Zeichen und Signale, die auch Tiere verwenden, an die konkrete Situation gebunden sind und zur direkten Informationsweitergabe von einem Individuum zum anderen dienen, haben Symbole allgemeinere, kontextunabhängige Funktion. Das heißt, Symbole lassen sich auf verschiedenste Sachverhalte anwenden. Symbole sind universalisierbar, sie können komplexe Gegebenheiten fassen, sind vielschichtig, variabel und deutungsoffen.21 Damit beschreibt Cassirer den Menschen als ein Wesen, das nicht unmittelbar in seiner Welt lebt, sondern sich stets vermittelt durch symbolische Gebilde und Funktionen auf die Welt bezieht. Diese Vermittlungsglieder, also Sprache, Werkzeuge, Mythen, Kunstgebilde, Normen, Institutionen, konstituieren die menschliche Kultur im weitesten Sinne. Sie sind die typisch menschlichen Leistungen, die im Laufe der Menschheitsentwicklung immer weiter ausdifferenziert, immer komplexer und anspruchsvoller werden. Sie geben den Rahmen dafür vor, wie Menschen leben, welche Perspektiven und Erklärungsmodelle zur Verfügung stehen, wie Cassirer 1990 [1944], S. 51. Cassirer 1990 [1944], S. 56–65.
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Menschen die Welt und sich selbst wahrnehmen und deuten. Symbolsysteme sind veränderlich, sie werden in ihrem Gebrauch weiterentwickelt und an die Bedürfnisse der Menschen angepasst. Menschliche Existenz ohne die symbolisch-kulturelle Art der Lebenssicherung und des Weltverstehens ist unmöglich. Es sind diese kulturellen Symbolwelten, die das Menschsein prägen und die spezifisch menschlich sind. Cassirer geht davon aus, dass die großen Bereiche der geistigen Kultur: Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft eine Entwicklung über drei Grundstufen durchlaufen, wobei sich diese Stufen auch historisch überlagern. Er unterscheidet bei den menschlichen Kulturleistungen die mimetische, analogische und symbolische Funktion.22 Und er geht davon aus, dass die einzelnen Kulturformen sich nicht einfach historisch ablösen, sondern jeweils, nachdem sie entstanden sind, in ihren verschiedenen Modifikationen zum dauerhaften Bestand von Kultur gehören. Die drei Entwicklungsstufen des Mimetischen, Analogischen und Symbolischen sind dadurch voneinander unterschieden, dass sich der Gebrauch von Symbolen als Mittel des Weltbezugs immer massiver und überlebensnotwendiger ausprägt. Geistige Kulturleistungen erhalten dabei aber auch eine wachsende Selbstständigkeit gegenüber dem, worauf sie sich beziehen. Sie ermöglichen damit eine immer größere Freiheit und Kreativität. Auf der mimetischen Stufe ist der Mensch noch stark auf die Nachahmung fixiert. Dabei sind Zeichen und Bezeichnetes, Nachgeahmtes und Nachahmung eng miteinander verbunden. „Das Zeichen versucht, als mimetisches Zeichen, in seiner Form den Inhalt unmittelbar wiederzugeben, ihn gewissermaßen in sich aufzunehmen“.23 Zeichen und Bezeichnetes gehören demselben Medium an: Laute werden durch Laute nachgeahmt, körperliche Formen durch entsprechende figürliche Bilder. Ein Gewitter wird dadurch beschrieben, dass vielleicht das Donnergrollen nachgeahmt wird, Hunde durch Gebell, Katzen durch Miauen, ein Kuckuck durch „Kuckuck“-Sagen. Damit lassen sich jedoch immer nur einzelne, konkrete Ereignisse oder Gegebenheiten abbilden oder zum Ausdruck bringen, nicht aber allgemeinere Zusammenhänge. Nachahmen kann man die Lautfolge eines Vogelgesangs, aber nicht die Information, dass sich dieser Vogel gerade in der Balz befindet. Die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem, wofür es steht, ist auf der mimetischen Stufe so eng, dass das Zeichen für die Sache selbst genommen werden kann. Mit der langsamen Ablösung von der direkten Zuordnung des Zeichens zu einem Sachverhalt öffnet sich zugleich ein größerer Interpretationsspielraum. An die Stelle der unmittelbaren Beziehung des Abbildes zum Abgebildeten treten Variationen. Dies ist die Stufe der analogischen Bedeutung. Es geht jetzt nicht mehr um die Weitergabe einer konkreten Einzelinformation. Vielmehr kann nun mithilfe von einzelnen Bildern und einfachen Symbolen ein allgemeinerer Sachverhalt dargestellt und verstanden werden. Wenn ein Stammes Cassirer 1987 [1925], S. 284. Cassirer 1987 [1925], S. 284.
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häuptling den eroberten Speer eines Feindes vor dem Aufbruch in den Kampf in der Runde der Krieger zerbricht, stimmt er sie auf den Kampf ein. Werden die Teile des zerbrochenen Speeres aufbewahrt, können sie Sinnbild für den eigenen Kampfeswillen sein. Immer wenn der Stammeshäuptling die Teile des zerbrochenen Speeres vorzeigt, werden alle Krieger daran erinnert, dass sie bereit sein sollen, zum Schutz des Stammes in den Kampf zu ziehen. Damit aber erlangen die Speerteile eine allgemeinere Funktion, die abgelöst ist vom ursprünglichen Kampf, in dem der Speer erobert wurde. Sie werden zu einer Analogie des Kampfes selbst. Es müssen also funktionelle Parallelen hergestellt werden können. Die analoge Darstellung ist keine nachahmende Abbildung, sondern erfordert eine geistige Übertragung des Inhalts von einem Medium auf ein anderes. Der entscheidende Schritt hierbei besteht in der Loslösung von der konkreten materiellen Beschaffenheit der Dinge und dem Verstehen ihrer Funktion in einem größeren Kontext. Damit kann die freie Gestaltung größeren Spielraum erhalten, sie bleibt aber immer noch gebunden an das, was wiedergegeben werden soll. Der zerbrochene Speer trägt eine analogisch-symbolische Information: Es geht um Verteidigung, Kampf und Sieg. Je weiter sich Sprache und Denken, praktische Fertigkeiten und soziale Strukturen entwickeln, je komplexer und vielschichtiger die kulturelle Lebenswelt wird, umso größer wird die Fähigkeit, das verwendete Symbol von einer konkreten sachlichen Entsprechung abzulösen, davon zu abstrahieren. Auf der dritten Stufe, der Stufe der rein symbolischen Bedeutungen, ist der Sinngehalt menschlicher Hervorbringungen nicht mehr vom Material oder der Situation abhängig, sondern wird durch freie symbolische Schöpfungen realisiert. So befreit sich z. B. die Schrift sukzessive von den Bildern, wie sie beispielsweise in den ägyptischen Hieroglyphen identifizierbar sind, und benutzt schließlich abstrakte Zeichen (Buchstaben), die in ihrer materiellen Beschaffenheit mit dem Inhalt nichts mehr zu tun haben. Um auf ein Gewitter zu verweisen, muss kein Donner akustisch nachgeahmt werden, sondern es reicht aus, ein künstliches Zeichen, das einen Blitz symbolisiert, auf einer Wetterkarte darzustellen, oder die entsprechenden Buchstaben zum Wort GEWITTER zusammenzusetzen. Je eigenständiger die Zeichenfunktion als Informationsträger wird, umso größere Freiheit des menschlichen Geistes ist gegeben, Neues zu kreieren. Das Komponieren eines neuen Liedes, die Erfindung eines neuen Werkzeuges, die Idee eines Göttlichen als jenseitig gegenüber allem Irdischen, die Erfindung von Zahlen als Ordnungsmuster sind solche kreativen, imaginativen Leistungen. Sie setzen voraus, dass sich der menschliche Geist durch Abstraktion und Fantasie von der Ding- und Sachenwelt lösen kann. Nun braucht die Bekundung der Verteidigungsbereitschaft keine Verbildlichung durch den zerbrochenen Speer mehr, sondern findet in einem Paragrafen des Verfassungstextes der politischen Gemeinschaft in Worten ihren Ausdruck. Und ein Speer kann im Museum wegen seiner reichen Schnitzereien als Kunstobjekt bewundert werden, ganz losgelöst von seiner Funktion als Waffe. Cassirer zeigt mit seiner Analyse der symbolschaffenden Fähigkeit des Menschen, dass diese Symbolwelten eine eigene Wirklichkeit darstellen: den
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Bereich der menschlichen Kultur. Sie bildet den Lebensraum, in dem der Mensch denkt, fühlt und arbeitet. Die Kultur wird zur eigentlichen Natur des Menschen. Damit ist Menschsein immer kulturell geformt, denn die symbolgetragenen Deutungssysteme bilden überhaupt erst Voraussetzung und Hintergrund dafür, dass Menschen ihr Leben gestalten, dass sie Inhalte ihres Denkens und Handelns konzipieren, verstehen und bearbeiten können. Das bedeutet aber Cassirer zufolge auch, dass es für den Kulturmenschen keinen direkten, unmittelbaren Zugang zur Welt mehr gibt, sondern dass wir uns immer nur auf unsere Symbolwelten beziehen. Doch dies sollte nicht als Verlust, sondern als ein Gewinn angesehen werden. Gerade das Herauslösen aus den faktischen Bindungen an die Welt, gerade die durch die kulturellen, geistigen, symbolischen Fähigkeiten des Menschen mögliche Distanzierung vom unmittelbar Gegebenen eröffnen den Freiheitsraum des Menschen. Nur aufgrund der symbolschaffenden kulturellen Entwicklung konnte der Mensch sich geistige und praktische Spielräume erringen, die keinem Tier gegeben sind. So schreibt Cassirer: „Im ganzen genommen könnte man die Kultur als den Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschreiben.“24 Dieser Prozess der Loslösung vom direkt gegebenen Objekt, der Verselbstständigung der vom Menschen verwendeten Symbole geht unaufhörlich weiter. Schrift, Mathematik, Institutionen, Papiergeld, Aktien und schließlich Computerprogramme (die nur auf den zwei Grundkomponenten 0 und 1 basieren) stellen höchste Abstraktionen dar. Symbolisationen können dabei vollkommen frei als Bedeutungsträger eingesetzt werden, weil das menschliche Denken gelernt hat, jedem x-beliebigen Zeichen eine Bedeutung zuzuweisen. Das Exponat, das in der Kunstgalerie hängt, mag noch so banal oder abstrus sein, wir können in unserer unerschöpflichen Imaginationskraft immer Interpretationen finden, die diesem Objekt irgendeinen künstlerischen „Sinn“ geben, weil wir das Ganze in den umfassenden Gesamtzusammenhang einer Weltdeutung einbetten können oder auch nur, weil es der spielerischen Fantasie gefällt. So haben sich im Laufe der Menschheitsentwicklung die Formen und Gehalte der Ideen- und Kulturwelt immer weiterentwickelt. Diese kulturellen Gestaltungen tragen die geistige, technische und soziale Entwicklung des Menschen. Sie ermöglichen es, immer umfangreicheres Wissen zu erlangen und auch immer größere Gemeinschaften zu organisieren und auf gemeinsame Regeln, Ziele, Welterklärungsmodelle und Werte hin auszurichten, ohne die das Zusammenleben nicht möglich wäre. Die Fähigkeit zum Symbolgebrauch, zur Vorstellung und geistigen Repräsentation der Welt, zur Schaffung der kulturgeprägten Existenzgrundlagen bildet aber auch die Basis der gefühlten Ängste und der geistigen Angst. Die Ängste können sich auf alles beziehen, mit dem wir uns als Menschen geistig auseinandersetzen. Zugleich führt die Fähigkeit zur Abstraktion und Verallgemeinerung, die mit dem Symbolgebrauch gelernt wird, auch zu abstrakteren Ängsten, die schließlich nicht mehr als Gefühle, sondern nur noch rein Cassirer 1990 [1944], S. 345.
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geistig ausgetragen werden, als geistige Angst. Wenn der Mensch nach Cassirer „animal symbolicum“ ist, besitzt er die Voraussetzung, ein Angstwesen zu sein. Die menschliche Angstdisposition überhaupt beruht auf der Fähigkeit zur Distanzierung vom Augenblick, zur Abstraktion von der konkreten Situation, zur Reflexion verschiedener Möglichkeiten, Gefahren, Bedrohungslagen und Risiken. Sie zum Inhalte der eigenen Ängste und Angst machen zu können, beruht auf der geistigen Kapazität zum symbolvermittelten Denken.
2.3 Furcht, Ängste und Angst als menschliche Grundbefindlichkeiten In den bisherigen Kapiteln wurde an verschiedenen Stellen schon kurz angesprochen, inwiefern die Erörterungen zur biologischen und kulturellen Menschheitsentwicklung einen Beitrag zum Verständnis der Angstproblematik liefern. Die in der Einleitung vorgeschlagene Dreiteilung in der Behandlung des Angstphänomens in affektive Furcht – gefühlte Ängste – geistige Angst ist ein Angebot, verschiedene Aspekte der menschlichen Angstfähigkeit besser zu verstehen. Dieses Angebot kann sich aber nur dann bewähren, wenn es auch anknüpfungsfähig ist für zentrale Theorien und Sichtweisen, die sich mit der Menschwerdung, der Bestimmung spezifisch menschlicher Fähigkeiten, den kulturellen und institutionellen Existenzbedingungen beschäftigen. Diese Zusammenhänge sollen nun noch einmal überschaut werden. Menschen sind die einzigen Naturwesen, die die Herausforderungen der Lebenssicherung und der Zusammenarbeit in einer Gemeinschaft so meistern, dass die ausgebildeten Denkstrukturen ihnen ermöglichen, sich miteinander über komplexe Ziele und Aufgaben zu verständigen, die von Nahrungssuche und Regeln des Zusammenlebens über Verteidigung bis zu kulturellen Inhalten reichen. Menschen sind auch wegen dieser ausgeprägten Fähigkeit zur Kooperation zu denkenden und reflexiven Wesen geworden. Die Reflexivität ermöglichte ihrerseits die Erweiterung der sozialen Beziehungen. Reflexion ist die geistige Fähigkeit, das Begreifen der Welt als eigene Leistung zu verstehen, den Blick auf den Gegenstand immer mit einem Blick auf sich selbst abzugleichen. Dies bedeutet aber auch, dass der Mensch fähig ist, nicht nur sich von anderen Subjekten zu unterscheiden, sondern eine innere Unterscheidung zwischen sich selbst als beobachtendem Subjekt und dem eigenen Ich als von sich selbst beobachtetem Objekt vornehmen zu können. Damit tritt das Ich in eine Art Selbstdistanz, einen inneren Dialog mit sich selbst, wodurch es überhaupt erst in der Lage ist, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, nach eigenen Wünschen, Vorstellungen, Gefühlen zu fragen und diese zu bewerten, eine bewusste Weltsicht zu haben. Erst aufgrund der reflexiven Selbstbeziehung ist es möglich, in der Sorge um sich selbst Ängste und Angst auszubilden. Zugleich ist diese Reflexivität aber auch die Voraussetzung dafür, die Mitmenschen ebenfalls als reflexive Wesen anzusehen, nach deren Gedanken, Gefühlen, Plänen zu fragen, um das eigene Verhalten mit dem der anderen abzustimmen.
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Die Entwicklung menschlicher Denkkapazität ist also nicht isoliert zu betrachten. Sie ist unauflöslich eingebettet in die menschliche Genese mit ihrer Ausprägung von Rationalität, Sprache, Sozialität und Kultur. Alle Lebewesen reagieren auf Umweltreize. Aber erst mit der Ausbildung eines komplexeren Gehirns kann davon gesprochen werden, dass Tiere so etwas wie emotionale Zustände haben. Dies wird vor allem Vögeln und Säugetieren zugesprochen. Solche Emotionen betreffen speziell die lebenswichtigen Grundfunktionen, die Nahrungssuche, die Fortpflanzung, das Gruppenleben, den Schutz. Furcht beispielsweise ist die affektive Reaktion auf eine konkrete Gefahrensituation. Sie erfordert eine direkte, aber der Gefahr angemessene Verhaltensweise: z. B. Ausweichen, Änderung des Weges, Ablenkung des Feindes, Kampf, Verstecken oder Flucht. Jede Tierart hat ihre eigenen Reaktionsmuster, die bei bestimmten Konstellationen aktiviert werden. Wenn die Gefahr vorüber ist, erlischt dann sofort auch die Furcht. Da Tiere nicht über ein ausgeprägtes mentales Bewusstsein verfügen, können sie sich nicht von dem Hier und Jetzt lösen. Sie haben nicht die geistige Kapazität, sich damit zu beschäftigen, dass sie übermorgen ihrem Fressfeind begegnen werden, vielleicht im nächsten Jahr nicht genug Nahrung finden oder irgendwann an einer Krankheit schmerzvoll sterben könnten. Furcht setzt dennoch schon voraus, dass es einfache Formen von Bewusstheit und Intelligenz und damit gewisse situative Verhaltensspielräume gibt. Eine Feldmaus, die sich vor einem Fuchs in Sicherheit zu bringen versucht, kann sich verstecken oder fliehen, die Fluchtrichtung immer wieder ändern, den Fuchs von ihrem Unterschlupf mit den Jungtieren ablenken. Jedoch das Verhaltensspektrum bleibt beschränkt auf in stinktive Reaktionen. Weder beginnen die Feldmäuse, sich militärisch zu organisieren, noch entwickeln sie Verteidigungswaffen oder rationale Strategien, wie sie zukünftig mit der Fuchs-Gefahr umgehen wollen. Sie bleiben an die Unmittelbarkeit der konkreten Situation als Auslöser von Furchtreaktionen als naturgegebenen Verhaltensweisen gebunden. Bewusste Gefahrenwahrnehmung geschieht in einem Zusammenspiel von Instinkt und Emotion in Mechanismen, wie sie auch noch die Furcht beim Menschen bestimmen. Diese Furchtelemente sind unser stammesgeschichtliches Erbe. Sie sind verankert in den evolutionär älteren Strukturen des Gehirns. Wir erschrecken zum Beispiel, wenn plötzlich etwas Unerwartetes geschieht. Die körperlichen Reaktionen, die durch den Schreck ausgelöst werden, sind nicht direkt zu beherrschen, können aber durch bewusstes Training gemildert werden. Ebenso können auch Tiere konditioniert werden, Furchtreaktionen abzuschwächen oder zu verstärken. Indem beim Menschen in der Evolution dann geistig-reflexive Fähigkeiten entstanden sind, war es möglich, einen viel weiteren Horizont der bewussten Informationsverarbeitung zu entwickeln. Vermögen wie Vorstellungskraft, Fantasie, Selbstbewusstsein, Kreativität, Kombinationsfähigkeit, vorausschauende Planung lösen sich vom konkreten situativen Kontext und bilden damit den Boden dafür, dass Ängste entstehen können. Die gefühlten Ängste beziehen sich nicht auf eine direkt gegebene Gefahrenlage, sondern auf die
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eigenen Gedanken und Vorstellungen davon, was möglicherweise gefährlich sein könnte. Der Mensch kann sich Gefahren vorstellen, man könnte sagen, er kann sie in Gedanken vor sich hinstellen und sie damit als etwas behandeln, mit dem er sich innerlich auseinandersetzen kann. Das nur gedachte Gefährliche wird aber in der gedanklich-inhaltlichen Ausmalung vom Gehirn als eine „reale“ Gefahr bewertet, sodass es die körperlichen Abwehrreaktionen wie bei der Furcht aktiviert. Stress-Symptome wie Unruhe, innere Anspannung, Beklemmung, Herzklopfen dienten im Furchtkontext als notwendige Signale, um das eigene Überleben genau zum Zeitpunkt der Furchtsituation zu sichern. Laufen diese emotionalen Furchtfunktionen auch anhand vorgestellter Bedrohungen ab, werden die körperlichen Symptome in der Form von Ängsten gefühlt. Die jeweilige Person fühlt sich bedroht. Die Imaginationskraft ermöglicht es also dem Menschen, mit Gefährdungen zu rechnen, ohne dass es dafür direkte Anhaltspunkte gibt. Er kann aus seiner individuellen Lebenssicht und ganz spezifischen Psyche heraus Risiken und Gefahren sogar dort ausmachen, wo es gar keine gibt. Der Mensch ist stets auf eine bewusste Weise gefahrenbereit und dies äußert sich darin, dass sein Leben begleitet wird von einer Vielzahl von Ängsten. Sie können sich weiterentwickeln und emotionale Reaktionen auslösen allein bei der Erinnerung daran, wie sich Furcht oder Ängste anfühlen. Sie haben dann sich selbst zum Gegenstand als Ängste vor dem sich-Ängstigen selbst. Insbesondere, weil der Mensch in die Zukunft denkt, weit vorausschaut, weil er sich mögliche Gefahren vorstellt, sinnt er auch darüber nach, welche Maßnahmen Schutz und Sicherheit bieten. So ist er in der Lage, mit unterschiedlichsten Arten von Unwägsamkeiten umzugehen, da er immer schon auf Gefahren und Risiken, welcher Art auch immer, gedanklich vorbereitet ist und entsprechende Vorkehrungen treffen kann: Feuer gegen Raubtiere, magische Beschwörungen, Aufstellen von Wachen, Nutzung von Waffen, Alarmanlagen und so weiter. Er entwickelt Strategien, um Gefährdungen im Voraus zu identifizieren und ihnen zu begegnen. Doch die Ängste verschwinden nicht, da die Zukunft ungewiss bleibt. Der Mensch weiß, dass er immer auf unterschiedlichste Weise gefährdet sein kann. Eine philosophische Perspektive auf diese Schwierigkeit der Selbstbestimmung gibt Helmut Plessner in seinem Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928). Er sieht das Spezifische des Menschen darin, dass seine Existenzweise von Natur aus nicht festgelegt ist, das Menschsein damit „wahrhaft auf Nichts gestellt“25 ist. Damit steht der Mensch „im Nirgendwo“, seine Existenz hat kein festes Zentrum. Diese Nicht-Zentriertheit nennt Plessner „ex-zentrisch“, denn der Mensch ist nicht im engeren Sinne innerlich zentriert, sondern er strebt stets über das Gegebene hinaus. Der Mensch kann sich geistig von jeder Bindung, von jeder Zentriertheit lösen. Der Standort des Menschen ist nicht bestimmt, er ist ein Nicht-Ort, was dem aus dem Altgriechischen stammenden Wort „Utopie“ entspricht, also ein utopi Plessner 1975 [1928], S. 293.
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scher Standort, weil der Mensch stets Richtung Zukunft blickt, die Zukunft aber offen ist.26 Der Mensch strebt immer fort von dem Ort, an dem er gerade ist. Er ist stets gefordert, seine Ziele zu bestimmen, seinen Platz im Leben auszusuchen, ohne dass dies eine endgültige Festlegung sein könnte. Bezieht man Plessners Menschenbild auf die Thematik der Ängste und Angst, dann lässt sich hier identifizieren, worum es bei der Entstehung von Ängsten und geistiger Angst geht, nämlich um das Bewusstsein davon, dass der eigene Daseinsort und das eigene Leben schwankend sind, dass es für das Menschsein kein ruhendes Zentrum gibt. Ängste und Angst beziehen sich auf das, was nicht bekannt ist, nicht vorausgesehen, nicht geplant und nicht kontrolliert werden kann. Sie sind Spiegel der Ex-zentrizität, der Unruhe, der vorwärtstreibenden, ins Offene der Zukunft gerichteten Aktivität. Der Mensch, der „auf Nichts gestellt“ ist, kann nirgendwo Sicherheit finden, sodass auch die Angst ihn ständig begleitet. Wenn der Denkhorizont weiter in die Ferne rückt, wenn die Bezugspunkte des eigenen Denkens und Handelns komplexer und undurchschaubarer werden, wenn Menschen kulturell-geistig immer abstraktere Deutungen und Symbole hervorbringen, dann werden auch die Inhalte der Ängste abstrakter und komplexer. Wenn die gedanklichen Reflexionen über mögliche Gefahren, Unglücke, Katastrophen, Unwägsamkeiten dabei nicht mehr die physiologischen Furchtmechanismen im Gehirn aktivieren, also nur rein gedanklich bleiben, bezeichne ich dies als geistige Angst. Da hier eher abstrakte Inhalte die entscheidende Rolle spielen und das Bewusstsein dabei nicht auf Vorstellungsbilder von konkreten Begebenheiten oder bestimmte Erinnerungen zurückgreift, kann damit die Aktivierung des Furchtmechanismus, der immer auf konkrete Gefahren geeicht ist, umgangen werden. Dies ist ein evolutionärer Vorteil, weil auf diese Weise eine gedankliche Auseinandersetzung mit den Menschheitsproblemen stattfinden kann, ohne dass die Psyche tatsächlich Ängste erleiden muss. Von geistiger Angst kann man also sprechen, wenn ein allgemeines Bewusstsein von der potenziellen Bedrohtheit des menschlichen Daseins überhaupt entsteht, ohne dabei konkrete Gefahrenbilder vor Augen zu haben, die die Furchtreaktionen auslösen. Diese geistige Angst ist nicht wie Furcht oder Ängste zu konditionieren, sondern erfordert eine geistige Auseinandersetzung mit dem, was das Menschsein ausmacht, wie sich Unbestimmtheit, Zukunftsoffenheit, Haltlosigkeit, menschliche Freiheit auswirken und wie das menschliche Dasein abgesichert werden kann. Im Laufe der Kulturentwicklung lernen die Menschen, ihr Denken vom Nahfeld abzulösen. Die Weitung des Bewusstseins lässt sich sehr gut an der Reichweite der Weltbeziehungen der Menschen illustrieren. Menschen lebten zunächst in Kleingruppen, dann in Siedlungen, sie bildeten Städte, gründeten Staaten und schufen Großreiche. Mit der Globalisierung wird die gesamte Erde zum Gegenstand des Handelns. Und seit einigen Jahrzehnten richtet sich das Streben der Menschen über die Erde hinaus auf die Erforschung des Welt Plessner 1975 [1928], S. 346.
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raums und die Suche nach Lebensmöglichkeiten außerhalb der Erde. Je größer der Handlungsraum wird, umso weniger lässt er sich aber für die Einzelnen überschauen. Menschen müssen lernen, dem Unbekannten in ihrem Denken und Leben einen Platz einzuräumen. Je größer die Diskrepanz zwischen individuellem Lebenskontext und der Reichweite der möglichen Handlungsfelder ist, umso mehr Gefahrenpotenzial kann ins Spiel kommen. So kann die Unterscheidung affektive Furcht – gefühlte Ängste – geistige Angst als eine stammesgeschichtliche Genese interpretiert werden. Theorien, die die geistig-kulturelle Entwicklung menschlicher Fähigkeiten in einer Stufenfolge rekonstruieren, bieten hierfür entsprechende theoretische Grundlagen. So unterscheidet Merlin Donald eine mimetische, mythische und theoretische Phase in der Kulturentwicklung, Ernst Cassirer mimetische, analogische und symbolische Kulturformen. Auf der frühesten, mimetischen Stufe, auf der das Bewusstsein vor allem mit dem Verstehen der jeweiligen konkreten Situationen beschäftigt, also noch sehr eng mit dem unmittelbar Gegebenen verbunden ist, prägen sich wie bei höheren Säugetieren die Furcht und schon einfache Ängste aus. Sie sind gebunden an momentane Ereignisse und noch ganz gefüllt mit konkreten Bildern und Vorstellungen, beispielsweise Furcht bei Gewitter. Zugleich bildet sich beim mimetischen Denken des frühen Menschen langsam eine Bewusstheit des Furchterlebens heraus, sodass dann auch Furchterinnerungen entstehen und Furchterfahrungen mitgeteilt werden, die aufgrund dieser kognitiven Verarbeitung zur Ausbildung von gefühlten Ängsten beitragen. Denn die ersten, einfachen Ängste entstehen mit der Ausdifferenzierung des Bewusstseins und der Erweiterung der geistigen Fähigkeiten hin zu umfassenderen Inhalten und zu einer zeitlichen Dehnung der Perspektive. Diese Ängste sind Gebilde von Gefühlen, in denen schon eine gewisse Vorstellung von möglichen Gefahren eine Rolle spielen, auch wenn sie auf den Nahbereich bezogen bleiben. Man könnte sie auch Nah-Ängste nennen. Sie sind auf die unmittelbaren Lebenskontexte bezogen. Die analogische Denkweise kann sich von diesen konkreten Vorstellungen ein Stück weit lösen. Es ist möglich, Ängste im übertragenen Sinn auszubilden und sie nicht nur für sich selbst zu empfinden, sondern auch auf die Kinder oder die Gruppe auszudehnen. So können sich Ängste dahingehend ausrichten, dass man sich um diejenigen sorgt, die auf die Jagd gehen, oder dass das Wechseln des Schlafplatzes, das Umziehen in eine andere Höhle von Ängsten begleitet ist, obwohl die neue Umgebung noch gar nicht als gefahrenvoll erlebt wurde. Menschen entwickeln Ziele, Hoffnungen, Pläne, Wünsche und damit auch Ängste, die sich auf alles beziehen können, das im Leben der Menschen eine Rolle spielt. Und je weiter sich die Kulturen ausformen, je komplexer und vielschichtiger sie werden, desto variantenreicher werden auch die Ängste der Menschen. Mit der Weiterentwicklung des Geistes zur Schaffung rein symbolischer Informationselemente und dem Verstehen allgemeiner, funktionaler Zusammenhänge ist der Mensch fähig zu Verallgemeinerungen, zu Symbolisationen, die
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nicht mehr nur direkt die Nah-Welt widerspiegeln. Er ist in der Lage, nach allgemeinen Zusammenhängen, Gesetzmäßigkeiten und Strukturen zu fragen, damit aber auch räumlich und zeitlich eine größere Distanzierung zu erreichen. Das Denken löst sich vom Hier und Jetzt, arbeitet mit bewusstem Bezug auf die Erfahrungen der Vergangenheit und greift aus in die Zukunft. Die fortschreitende geistig-kulturelle Weiterentwicklung des Menschen kann zugleich auch die Entstehung abstrakterer Ängste und die sukzessive Tendenz zu abstrakteren Inhalten erklären. Wenn sich der Mensch im Zuge dieser Entwicklung immer mehr von der Bindung an das konkret Gegebene löst und größere geistige Freiheit erreicht, ist dies zugleich die Voraussetzung für das rein geistige Vorstellen von Gefahren und damit die geistige Angst. Menschen entwickeln Ängste bzw. Angst, weil sie abstrakt denken können, eine große Imaginationskraft haben, Inhalte mittels Symbolen darstellen, eine innere, geistige Ablösung vom Konkreten zu vollziehen vermögen. Die allgemeinste Stufe der Entwicklung der Ängste führt dann dazu, dass sie nicht mehr einfach in der Form von Gefühlen erlebt werden, sondern dass eine geistige Auseinandersetzung mit dem erfolgt, was die Ängste antreibt. Es findet eine rein rationale, gedankliche Erörterung dessen statt, was Anlass zur sorgenvollen Angst gibt, inwiefern ich mich selbst in meinen Ängsten verstehen lernen kann, welche kulturelle und geistige Funktion sie haben. Denn die Abstraktionsleistungen, die notwendig sind, Theorien zu entwickeln, systematisch und methodengeleitet zu denken, systematisierende Begriffsstrukturen zu schaffen, große Zusammenhänge herzustellen, bilden zugleich die kognitiven Voraussetzungen für die eigentliche geistige Angst. In den folgenden Kapiteln soll nun verfolgt werden, wie in verschiedenen Disziplinen die physiologischen und psychologischen Aspekte des Angstphänomens, also speziell die Furcht und die Ängste, eingeordnet werden. Bevor sich die Psychologie ab dem 19. Jahrhundert als eigenständige wissenschaftliche Disziplin entwickelt hat, wurden die Fragen nach den menschlichen Affekten und Gefühlen in der Philosophie behandelt. Dies soll in einem kurzen Gang durch die Geschichte nachgezeichnet werden, der bei der antiken Mythologie beginnt und in der Moderne endet. Den Kulminationspunkt wird eine Philosophietradition bilden, die die Bedeutung der geistigen Angst ins Zen trum gestellt hat, die Existenzphilosophie, der dann das darauffolgende Kapitel (Kap. 5) gewidmet ist.
KAPITEL 3
Biologie und Psychologie über Furcht, Ängste und Angst
Alle grundlegenden menschlichen Vermögen haben sich im Verlaufe der Evolution herausgebildet und resultieren aus den Anpassungsleistungen der stammesgeschichtlichen Vorfahren. Die biologischen Wissenschaften interessieren dabei vor allem die körperlichen Funktionen und Strukturen, die das Leben in einer bestimmten Umwelt ermöglichen. Hinsichtlich der Herausbildung von affektiver Furcht, gefühlten Ängsten und geistiger Angst erkundet die Biologie, welche Vorgänge im Körper ablaufen, wenn Informationen über Gefahr verarbeitet werden. Was passiert physiologisch, wenn ein Individuum auf etwas trifft, das als Bedrohung eingestuft wird? Welche angeborenen oder erlernten Reaktionen werden dabei abgespult? Die gefühlten Ängste sind Gegenstand vorrangig der Psychologie, die sich mit den bewussten Vorgängen der Weltverarbeitung beschäftigt und die emotionalen und kognitiven Funktionen des Bewusstseins untersucht. Dabei ist von Interesse, wie die Psyche arbeitet, wie sie beeinflusst werden kann, welche psychischen Vorgänge sinnvoll sind und welche als belastend und leidbringend erlebt werden. Danach lassen sich dann auch die in Gefühlen ausgetragenen Ängste einordnen. Eine gewisse Sonderstellung spielt hier die Psychoanalyse, die eine eigene Arbeitsweise hat und eigenständige Theorien zur Einordnung der verschiedenen Arten von Ängsten bzw. Angst entwickelte. Dieses Kapitel soll vor allem einige Informationen darüber geben, welche typischen Zugangsweisen sich in der biologischen und psychologischen Angstforschung etabliert haben und mit welchen Fragestellungen sie arbeiten, was sie dabei herausgefunden haben und welchen Beitrag sie zum Verständnis der Angstbereiche Furcht, Ängste und geistige Angst leisten. Einzelne interessante Theorien werde ich kurz vorstellen. Doch angesichts der ungeheuren Vielfalt an Forschungsansätzen und Positionen kann dies selbstverständlich nur exemplarisch und selektiv geschehen.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Frischmann, Angstwesen Mensch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67876-3_3
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3.1 Erforschung der Furchtmechanismen in der Biologie Aus Sicht der Biologie sind alle Leistungen von Lebewesen an bestimmte materielle, körperliche Voraussetzungen gebunden. Auch Gefühle, Denken und Verhalten sind demnach von physiologischen Prozessen getragen. Will man die biologischen Grundlagen von Furcht, Ängsten und Angst erkunden, ist es notwendig, vor allem die zugrunde liegenden körperlichen Vorgänge zu erforschen. Hierbei hat speziell das Gehirn als wichtigstes Organ der Informationsverarbeitung und Verhaltenssteuerung eine besondere Bedeutung. Doch es ist zu berücksichtigen, dass das Gehirn Teil eines Gesamtorganismus ist, mit dem es interagiert, Informationen austauscht und kooperativ reguliert. So untersucht die Neurobiologie, wie über neuronale und biochemische Wege die Informationsverarbeitung im Organismus stattfindet und welche Vorgänge im Gehirn den verschiedenen Aspekten des Angstphänomens zugeordnet werden können. Schon sehr gut erforscht sind vor allem die physiologischen Abläufe beim Furchtgeschehen. Die Verhaltensbiologie hingegen interessiert sich für die biologischen Grundlagen des Sozialverhaltens. Sie geht der Frage nach, welche Anteile angeborene und erworbene Fähigkeiten an den Lebensweisen der verschiedenen Arten haben und welche biologischen Mechanismen das tierische und menschliche Verhalten steuern. 3.1.1 Neurobiologische Erkenntnisse zu Furchtreaktionen und gefühlten Ängsten Was geschieht biologisch, wenn eine Häsin im Wald Futter sucht und den Geruch eines Fuchses wittert? Was wird sie tun? Wird sie sich verstecken oder fliehen? Wird sie den Fuchs von ihrem Bau weglocken, wo ihr Nachwuchs auf die Rückkehr der Mutter wartet? In der Neurophysiologie bzw. Neurobiologie geht es darum herauszufinden, wie im Körper Umweltinformationen verarbeitet und entsprechende Reaktionen veranlasst werden. Was genau geschieht im Körper, um z. B. so etwas wie Panik oder Furcht zu empfinden und auf entsprechende Umweltgegebenheiten zu reagieren? Und wie lassen sich diese körperlichen Vorgänge beobachten, messen und erklären? Dabei ist eine wichtige Forschungsfrage, ob eine individuell stark oder weniger stark ausgeprägte Ängstlichkeit auf eigenen Erfahrungen beruht oder auch angeboren, also genetisch verankert sein könnte. Und selbstverständlich ist dann auch zu diskutieren, welchen Anteil Umweltbedingungen an der Ausprägung von Furcht bzw. Ängsten und dem Umgang mit ihnen haben. Die Neurophysiologie hat dank computergestützter Verfahren in den letzten Jahrzehnten in der Angstforschung neue Erkenntnisse gewonnen, die auch die Differenzierung von Furcht und Ängsten sinnvoll machen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden verschiedene Modelle entwickelt, wie die Abläufe vom Reiz zur Reaktion im Furchtgeschehen erklärt werden können. Dabei hat
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sich in der neurobiologischen Forschung herausgestellt, dass der auslösende Reiz durch komplexe Mechanismen größtenteils unbewusst verarbeitet, eingeordnet und bewertet wird. Die Forschung bezeichnet diese Prozesse häufig als Emotion. Erst am Ende des Verarbeitungsgeschehens steht die bewusste Wahrnehmung als Empfindung oder Gefühl, das dem Individuum Auskunft darüber gibt, wie die Situation einzuschätzen ist. Die Bedeutung der unbewusst ablaufenden Vorgänge im Gehirn lässt sich auch daran ersehen, dass nach heutigem Kenntnisstand ca. 90 % oder sogar mehr aller Gehirnprozesse unbewusst ablaufen und damit nur ein geringer Teil der Prozesse von Bewusstsein begleitet sind. Dort, wo der Neocortex als zentrale Verarbeitungsinstanz stärker beteiligt ist und geistige Prozesse eine größere Rolle spielen, kann eher von gefühlten Ängsten als von Furcht gesprochen werden. Denn die gefühlsmäßig ausgetragenen Ängste entstehen anhand gedanklicher Inhalte, die vor allem im Neocortex gebildet werden und die jeweiligen individuellen Erfahrungen und Erinnerungen verarbeiten. Dabei haben Ängste mit der Furcht gemeinsam, dass die körperlichen Reaktionen ähnlich ablaufen, nachdem sie einmal ausgelöst worden sind. Es ist dennoch sinnvoll, sie zu unterscheiden, denn die Auslöser, die als Gefahr bewertet werden und weswegen der körperliche Erregungszustand aktiviert wird, sind verschiedener Herkunft. Für Furcht sind die Auslöser direkte Gegebenheiten in der äußeren, unmittelbaren Umwelt, z. B. die Schritte, die jemand hinter sich bei einem nächtlichen Spaziergang hört. Ängste hingegen haben innere, gedankliche Auslöser. Es sind die eigenen Vorstellungen von Gefahr, die Bilder, die man sich von ängstigenden Szenarien macht, die die physiologischen Reaktionen in Gang setzen. So kann allein die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis immer wieder zu Ängsten führen, was bei traumatischen Erlebnissen dann immer wiederkehrende Traumata bewirken kann. Ängste sind so etwas wie gedanklich ausgelöste Furchtreaktionen. Die an den Emotionen beteiligten Regionen des Gehirns unterscheiden scheinbar nicht, ob die Reize direkt aus der Umwelt kommen oder aus den inneren Vorstellungen, sie lösen jeweils dieselben körperlichen Reaktionen aus. Während Furcht auch Säugetieren und Vögeln zugesprochen werden kann, sind Ängste vorwiegend menschlich. Denn sie beruhen auf gedanklichen Konstrukten, die Tiere höchstwahrscheinlich nicht hervorbringen können. Als Beispiel für die umfassende wissenschaftliche Erforschung der körperlichen Funktionen, die die Furcht kennzeichnen, soll hier der Beitrag des Neurobiologen Joseph LeDoux stehen. Er hat sich unter anderem mit der Ausprägung von Furchtreaktionen bei Ratten beschäftigt. Die genaue Rekonstruktion der Abläufe im Gehirn von Ratten dient dann auch als Analogie zur Beschreibung des Furchtgeschehens beim Menschen. Ausgehend von seiner naturwissenschaftlichen Perspektive geht es LeDoux um die Erklärung derjenigen biologischen Strukturen, die evolutionär über lange Zeiträume erhalten bleiben, weil sie eine große Bedeutung für das Überleben haben. Denn vor allem solche Funktionen, die direkt der Lebenserhaltung dienen, wie Nahrung, Fortpflanzung und Schutz sind so essenziell, dass die genetisch
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verankerten Abläufe sehr stabil sein müssen. Dies gilt auch für die Furchtreaktion. LeDoux geht davon aus, dass das biologisch Entscheidende für die Überlebenssicherung nicht das Bewusstwerden der Gefahr ist, sondern die direkten, schnellen körperlichen Reaktionen, die auf eine Bedrohung antworten, die also wie ein Automatismus arbeiten, ohne dass bewusste Verarbeitungen der Informationen notwendig sind. Denn für die bewussten Mechanismen braucht ein Lebewesen mehr Zeit, weil komplexere Hirnaktivitäten stattfinden. Diese Zeit kann aber das Leben kosten. Wenn das Gehirn erforscht wird, geht es genauer um die Funktionen der einzelnen Gehirnregionen, da sich diese unterschiedlich evolutionär entwickelt haben und auch an den verschiedenen Emotionen und anderen Bewusstseinsleistungen unterschiedlich beteiligt sind. So weist LeDoux darauf hin, dass man dem Gehirn als Gesamtorgan keine einheitliche Funktion zusprechen kann. „Auch wenn wir über das Gehirn oft so reden, als habe es eine Funktion, so hat das Gehirn als solches doch keine Funktion. Es ist eine Ansammlung von Systemen, die bisweilen auch Module genannt werden und jeweils andere Funktionen haben.“1 Das Gehirn ist ein hochkomplexer Verbund verschiedenster Funktionen und Aktivitäten. Deshalb ist es auch nicht möglich, alle Emotionen durch dasselbe Funktionssystem zu beschreiben, weil an ihnen jeweils verschiedene Regionen beteiligt sind. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es verschiedene emotionale Systeme im Gehirn gibt, die jeweils spezifisch untersucht werden müssen, um ihre Funktionsweise zu erfassen. LeDoux zufolge läuft die überwiegende Mehrheit der Gehirnprozesse (wie auch der anderen Körperfunktionen) unbewusst ab. Wir haben also kein Wissen davon, was da im Einzelnen in unserem Gehirn vor sich geht. Nur einige Endergebnisse komplexer neuronaler Prozesse, in denen die Verarbeitung der Informationen aus der Umwelt stattfinden, werden bewusst, teils in Gefühlen, teils in Gedanken und Vorstellungen. Der Evolutionsvorteil von kognitivem Bewusstsein gegenüber unbewussten Informationsverarbeitungen und reflexhaften Reaktionsformen besteht darin, dass ein Lebewesen flexibler und vorausschauender auf die Umwelt reagieren kann. Unbewusste Prozesse sind an die genetischen Bedingungen gebunden, die sich für die verschiedenen Arten über Jahrmillionen entwickelt haben und als Basisausstattung lediglich Grundmuster des Verhaltens beinhalten. Hingegen kann die bewusste Verarbeitung von Informationen eine Feinjustierung für das Verhalten vornehmen, sie erhöht damit die Spielräume des Verhaltens. Anhand der Frage, ob Reaktionen auf bestimmte Reize unbewusst ablaufen oder bewusste Prozesse benötigen, unterscheidet LeDoux zwischen Emotionen und Gefühlen. Emotionen sind in seinem Verständnis „biologische Funktionen des Nervensystems“ 2 und dienen dem Überleben. Gefühle hingegen setzen reflexives Bewusstsein voraus, das heißt die Fähigkeit, „sich seiner selbst
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LeDoux 1998, S. 113. LeDoux 1998, S. 14.
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und des eigenen Verhältnisses zur Welt bewußt zu sein“.3 Wie LeDoux es darstellt, entstehen Gefühle daraus, dass die „evolutionär alten Systeme“, zum Beispiel für die Gefahrenabwehr, und die Systeme der bewussten, kognitiven Verarbeitung der Informationen zusammenwirken.4 Entsprechend der Abgrenzung von Emotion und Gefühl unterscheidet LeDoux zwischen Furcht (als Emotion) und Angst (als Gefühl). „Angst und Furcht sind eng verwandt. Beide sind Reaktionen auf schädliche oder potentiell schädliche Situationen. Angst wird gewöhnlich von Furcht durch die Abwesenheit eines äußeren Reizes unterschieden, der die Reaktion hervorruft – die Angst kommt von innen, die Furcht aus der Außenwelt. Der Anblick einer Schlange weckt Furcht, während Angst durch die Erinnerung an ein unangenehmes Erlebnis mit einer Schlange und die Erwartung geweckt wird, man könnte einer Schlange begegnen.“5 LeDoux hat in seinen umfangreichen Forschungen an Ratten verfolgt, wie deren Informationsverarbeitung im Gehirn funktioniert, um eine Gegebenheit als Gefahr zu identifizieren. Wenn eine Ratte plötzlich einer Katze (also ihrem Fressfeind) begegnet, muss das neuronale System der Ratte das Ding, das ihr gegenübertritt, in Bruchteilen einer Sekunde als Katze identifiziert haben, damit dann die entsprechenden körperlichen Reaktionen zur Fluchtvorbereitung aktiviert werden. Dies wäre die Furchtreaktion. Erst die bewusste Wahrnehmung der eigenen Körperreaktionen ist als das eigentliche Gefühl der Angst anzusehen. Dieses Gefühl gibt Auskunft darüber, dass der Körper schon reagiert hat. „Sowohl die Angstgefühle als auch das Herzklopfen sind Folgen der Aktivität dieses Systems, das seine Aufgabe erfüllt, ohne daß wir uns dessen bewußt werden, ja bevor wir überhaupt wissen, daß wir in Gefahr sind. Das System, das die Gefahr entdeckt, ist der Mechanismus, der der Angst zugrunde liegt, und die verhaltensmäßigen, physiologischen und bewußten Manifestationen sind die sichtbaren Reaktionen, die das System einleitet.“6 Die Unterschiede zwischen Furcht, Ängsten und Angst lassen sich auch physiologisch zuordnen, je nachdem, welche Gehirnfunktionen beteiligt sind. Einen interessanten Aspekt hierzu liefert LeDoux bei der Erörterung der Funktion der Amygdala. Sie ist das entscheidende Element, um im Vokabular von LeDoux eine Furchtemotion (Furcht) oder ein Angstgefühl (Ängste) zu haben. Die stammesgeschichtlich älteren Areale, vor allem der Hirnstamm, sind größtenteils für die unbewussten, automatisierten Funktionen zuständig und tragen über die Amygdala vor allem die Furchtreaktionen. Je größer der Funktionsanteil des Großhirns und vor allem des Neocortex ist, umso ausgeprägter sind die kognitiven Anteile, die über die Furcht hinaus die bewussten Ängste tragen. Hierbei wirkt der Neocortex auf die Amygdala, die den Hirnstamm aktiviert und die körperliche Reaktion wie bei der Furcht in Gang setzt. LeDoux 1998, S. 135. LeDoux 1998, S. 20. 5 LeDoux 1998, S. 245. 6 LeDoux 1998, S. 20–21. 3 4
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Man kann aber auch rein kognitiv eine Gefahr vorstellen und eine geistige Angst entwickeln. Hierbei wird die Amygdala nicht angesprochen, es stellt sich dementsprechend keine körperliche Furchtreaktion ein. Damit fehlen auch die von der Amygdala ausgelösten körperlichen Erregungszustände.7 So hält es LeDoux für möglich, sich rein geistig mit Gefahren auseinanderzusetzen, ohne dass die emotional gestützten Stressreaktionen eintreten. Dabei ist zu vermuten, dass die Furchtreaktionen, das Herzrasen, die Beklemmung, der Schweißausbruch usw., umso eher eintreten, je konkreter und bildlicher die ängstigenden Gedanken sind oder sie sich auf bestimmte Erfahrungen und Ereignisse im eigenen Leben beziehen, die immer wieder in der Erinnerung aufsteigen. Je allgemeiner, grundlegender die Angstgedanken sind, sie sich also auf die Gesamtkonstellation des Menschseins beziehen, umso geistiger ist die Angst. Anhand der Unterscheidung zwischen Emotionen und Gefühlen betont LeDoux, dass die Biologie das Gehirn physiologisch erforscht und eher an der Erklärung der Emotionen (als Funktionen des neuronalen Systems) interessiert ist, während die Auseinandersetzung mit den Gefühlen als bewussten Verarbeitungsweisen in den Aufgabenbereich der Psychologie fällt. Die Emotionen in biologischer Hinsicht sind dementsprechend abzugrenzen von dem, was in der Psychologie unter Emotionsforschung verstanden wird, denn hier wird unter Emotion gefasst, was in der Physiologie Gefühl genannt wird. Die Psychologie legt bei der Erklärung von Emotionen bzw. Gefühlen das Schwergewicht auf die Interpretation und Bewertung von Ereignissen durch die menschliche Psyche als einem bewussten, reflexiven Geschehen. Man könnte dies so zuordnen, dass LeDoux mit seiner Hirnforschung an der Erklärung der rein körperlich-biologischen Seite der Emotionen interessiert ist, die Psychologie aber die Beteiligung des Bewusstseins an der Verarbeitung der Umweltinformationen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen der Menschen genauer verstehen will. Gerade an dieser Stelle der unterschiedlichen Gewichtung wird deutlich, dass verschiedene Aspekte, Ebenen und Funktionen angesprochen sind, wenn die Neurophysiologie oder die Psychologie von Emotionen oder Gefühlen sprechen. Damit ist es aber auch sinnvoll, schauen wir auf das Angstphänomen in seinem gesamten Spektrum, zwischen der biologischen und der psychologischen Zugangsweise zu unterscheiden. Die geistige Angst entspricht in ihrer Funktionalität weder einer Emotion noch einem Gefühl, sondern sie kann als eine Art des geistigen Welt- und Selbstverstehens begriffen werden, in dem es um das Bewusstsein der Widrigkeiten des Lebens und die grundlegende Sorge um die Zukunft geht. Um also die einzelnen Phänomene wie Furcht, Ängste, Angstneurosen, Stress, Panik, Phobien zu erklären, wird das Zusammenwirken neurophysiologischer, biochemischer (z. B. Hormone), emotionaler und gedanklicher Funktionen unter die Lupe genommen. Insgesamt handelt es sich jeweils um hochkomplexe funktionale Geschehen, an denen sehr verschiedenartige Areale 7
LeDoux 1998, S. 320.
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des Gehirns beteiligt sind. Deshalb ist es auch schwierig, die einzelnen Emotionen isoliert zu erforschen, da in verschiedenen Situationen oft mehrere Emotionen zugleich beteiligt. Gleiches gilt für die Untersuchung der krankhaften Ausprägungen übersteigerter Emotionen und Gefühle, wie sie z. B. bei pathologischen Ängsten (Angststörung) und Paniken vorliegen, denn auch hier spielen oft verschiedene Faktoren eine Rolle, die im Detail schwer bestimmbar sind und oft auch schwanken. Wichtig ist es aber, die lebenswichtige Funktion von Furcht und Angst zu sehen. „Furcht und Angst sind normale Reaktionen auf (reale oder eingebildete) Gefahren und an sich nicht pathologisch.“ Erst die Übersteigerung ist pathologisch. „Wenn Furcht und Angst häufiger auftreten und länger anhalten, als es unter den gegebenen Umständen vernünftig ist, und wenn sie ein normales Leben erschweren, liegt eine Furcht-/Angststörung vor.“8 Dann sind therapeutische Maßnahmen erforderlich. Kommen wir noch einmal zur Amygdala zurück und ihre Verschaltung mit dem Cortex, der Großhirnrinde mit ihren komplexen Steuerungsaufgaben. Die Verbindung zum Cortex kann in die eine oder andere Richtung aktiviert sein. Sendet die Amygdala Reize Richtung Cortex, wird das Bewusstsein emotional geflutet. Kommt umgekehrt der Reiz vom Cortex und läuft zur Amygdala, werden gedankliche Inhalte zum Auslöser von Gefühlen, beispielsweise von Ängsten und den begleitenden Furchtreaktionen. Aber in dieser Funktionsrichtung ist es eben auch möglich, auf Gefühle bewusst steuernd Einfluss zu nehmen und die eigenen Gefühle zu bearbeiten und zu lenken. Bei den Primaten und vor allem beim Menschen ist die Verbindung vom Cortex zur Amygdala stärker ausgeprägt als bei anderen Säugetierarten. Doch besteht immer noch ein Ungleichgewicht, wie LeDoux schreibt: „Wie die Dinge heute liegen, hat die Amygdala einen größeren Einfluß auf den Kortex als der Kortex auf die Amygdala“. „Zwar ist es leicht möglich, daß Gedanken Emotionen auslösen (indem sie die Amygdala aktivieren), doch tun wir uns schwer, willentlich Emotionen abzuschalten (indem wir die Amygdala deaktivieren). Es hilft nicht viel, wenn wir uns sagen, wir sollten nicht ängstlich oder deprimiert sein.“9 Dennoch geht auch LeDoux davon aus, dass eine Einflussnahme der Gedanken auf die Gefühle möglich ist und dass es evolutionär gesehen der menschlichen Spezies vielleicht zukünftig stärker gelingen wird, eine harmonische Koexistenz zwischen Vernunft und Gefühlen zu erzielen oder zumindest eine stärkere geistig-kognitive Steuerung des Organismus erreichen zu können. Doch lässt sich dies evolutionsbiologisch nicht prognostizieren. Sicher aber ist es aus Sicht der Biologie, dass diejenigen Funktionen langfristig gestärkt werden, die für die Überlebenssicherung die größere Bedeutung haben. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass dies in einer zukünftigen Welt stärker die mentale Kapazität sein könnte, wenn sie gezielt weiterentwickelt wird, so wie wir Muskeln durch Training stärken. Denn wie wir kulturgeschichtlich wissen, lässt sich auch die Einflussnahme des Willens, der Vernunft, der geistigen Kraft trainieren, es las8 9
LeDoux 1998, S. 246. LeDoux 1998, S. 325.
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sen sich bestimmte Methoden und Techniken einüben, denken wir an die Meditation im Buddhismus, um die Gefühlsebene zu erreichen und sie der Macht der geistigen Lenkung unterzuordnen. 3.1.2 Genetik und Epigenetik Eine weitere zentrale Fragestellung der Biologie betrifft die Bedeutung genetischer Grundlagen für die Ausprägung von Ängstlichkeit als individueller Veranlagung sowohl bei Tieren als auch bei Menschen. So wissen wir aus der Alltagserfahrung, dass manche Menschen sehr ängstlich und zurückhaltend sind, andere mutiger, offensiver oder gelassener. Wir wissen auch, dass bestimmte Charaktermerkmale bei Tieren angezüchtet werden können. So gibt es aggressive oder sanftmütige Hunderassen, lassen sich schüchterne oder kampfeslustige Ratten durch gezielte Selektion heranziehen.10 Die biologische Forschung geht in diesem Zusammenhang der Frage nach, ob bestimmte Verhaltensmerkmale genetisch weitergegeben werden können und welche Gene und Genbestandteile hierbei eine besondere Aufgabe besitzen. Lange Zeit ging man in der Genforschung davon aus, dass individuell erworbene Erfahrungen keine Auswirkungen auf die genetische Ausstattung der Nachkommen haben. Denn der genetische Code als Träger der Erbinformationen ist ein über viele Generationen stabiles System, das die Grundbausteine jeder biologischen Art in sich enthält. Gene bestehen aus chemischen Verbindungen, die den Proteinstoffwechsel im Körper und damit alle Körperfunktionen steuern. Die Genstruktur, der genetische Code, gibt vor, wie das geschieht. Nun haben gerade die Forschungen zu Stress- und Furchtreaktionen bei Tieren in den letzten Jahren zu einem Umdenken in der Genetik geführt. So wurde herausgefunden, dass bestimmte Erfahrungen, die sehr prägend für ein Muttertier gewesen sind, auch die Nachkommen biologisch beeinflussen können. Doch dabei wird nicht direkt der genetische Code verändert, sondern die Art und Weise, wie die genetischen Informationen im Körper ausgelesen werden. Die Forschungsrichtung, die sich damit beschäftigt, ist die Epigenetik. Sie untersucht, unter welchen Rahmenbedingungen sich die ererbte Genausstattung in konkrete körperliche Funktionen umsetzt und wie der Zugriff eines Organismus auf seine Erbinformation eventuell beeinflusst werden kann. Die epigenetische Forschung beschäftigt sich dabei unter anderem auch mit der Thematik der Ängstlichkeit.11 Versuche an Mäusen haben zeigen können, dass hoher und andauernder Stress bei der Mutter dazu führt, dass über die Hormone, die über die Plazenta in den Blutkreislauf des Fötus gelangen, Informationen transportiert werden, die Auswirkungen auf die Ausbildung der Struktur eines bestimmten Gens haben. Das bezogen auf die Ängstlichkeit identifizierte Gen kann an bestimmten Stellen Verkürzungen aufweisen, die die Informationsweitergabe LeDoux 1998, S. 146. Vgl. zu diesen Forschungen Sachser u. a. 2019, v. a. S. 133–137.
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verändern. Es wurde nun herausgefunden, dass diejenigen Mäuse, die in ihrem Gen diese Verkürzung aufweisen, eine erhöhte Ängstlichkeit zeigen. In Folgestudien konnte nachgewiesen werden, dass auch Menschen mit einem solchen verkürzten Genbestandteil eine hohe Ängstlichkeit besitzen. Damit lässt sich belegen, dass Ängstlichkeit nicht nur ausgebildet wird, wenn das jeweilige Individuum negative Erfahrungen macht, sondern dass auch die angeborene, epigenetische Ausstattung Anteil daran hat, wie groß die jeweilige Veranlagung zur Ängstlichkeit ist. Die individuelle Reaktion auf stressverursachende Auslöser ist von dieser Veranlagung maßgeblich mitbestimmt. Furchtreaktionen werden an bestimmten Auslösern in Gang gesetzt, die die gefahrenabwehrenden Funktionen aktivieren. Diese Auslöser sind bei Tieren zum Teil genetisch verankert und damit angeboren. Beispielsweise reagieren manche Tierarten mit Furcht auf die Gestalt ihrer Fressfeinde, auch wenn sie nur eine Attrappe vor sich haben. Das Abspulen der Furchtreaktion kann aber auch durch bestimmte Erfahrungen individuell erworben werden. Wenn Ratten beim Erklingen eines bestimmten Tons immer einen Stromschlag erhalten, lernen sie diesen Zusammenhang sehr schnell. Sie bilden eine Furchtreaktion aus, die fortan stets einsetzt, wenn der Ton erklingt, auch ohne Stromschlag. Doch auch bei verändertem Versuchsaufbau lernt die Ratte rasch. Wenn sie bemerkt, dass der Ton erklingt und wieder erklingt, aber kein Stromschlag mehr erfolgt, lässt die Furchtreaktion wieder nach. Allerdings lassen sich einmal verinnerlichte Auslöser (also der Ton) schnell wiederbeleben, auch wenn lange Zeit kein Stromschlag erfolgt ist. Sobald mit dem Ton wieder ein Stromschlag erteilt wird, setzt sofort auch die biochemische Körperreaktion ein. Neben den erlernten Auslösern gibt es aber für die Ratte auch angeborene Furchtanlässe wie die Konfrontation mit einer Katze. Da die Furchtreaktion genetisch programmiert ist, tritt sie sogar dann ein, wenn eine Ratte im Labor aufgewachsen ist und noch nie zuvor im Leben einer Katze begegnet ist.12 Es ist nun aber noch nichts darüber gesagt, wie Ängstlichkeit selbst zu bewerten ist. Für die Mäusenachkommenschaft kann eine erhöhte Ängstlichkeit einerseits durchaus von Vorteil sein, weil sie damit von vornherein eine größere Sensibilität für Gefahren mitbringt und so in einer gefährlichen Umwelt bessere Überlebenschancen hat. Sie kann aber auch einen Nachteil bedeuten, wenn die Jungtiere vor lauter Ängstlichkeit nicht in der Lage sind, sich ihr Futter zu beschaffen. Die Ängstlichkeit kann dann auch pathologisch werden, wenn das Leben der einzelnen Individuen durch widrige äußere Bedingungen zusätzlich belastet ist und nicht ausreichend eigene Möglichkeiten zur Bewältigung gefunden werden können. Dann ziehen sich die Tiere zurück, werden phlegmatisch gegenüber Gefahr oder sterben. Auch beim Menschen haben die Angstkomponenten individuelle und sachbezogene Angemessenheitsniveaus. Eine bestimmte Verhaltensweise oder Grundeinstellung kann für die eine Sachlage gut sein, für eine andere Konstellation aber schlecht. Nehmen wir die Wirtschaft als Beispiel. Wer ängstlich ist, LeDoux 1998, S. 155–1056.
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bleibt bei seinen Geldanlagen vorsichtig, neigt nicht zu Finanzspekulationen und kann sich so vor Verlusten besser schützen. Doch wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Eine gewisse Risikobereitschaft ist gefordert, will man ein Unternehmen gründen oder die Geschäftsstrategie verändern. Wer hier zu ängstlich ist, kann sein Unternehmen nicht weiterentwickeln. Die jeweilige Ängstlichkeit und der Sinn der einzelnen Angstfunktionen müssen also immer individuell und gesellschaftlich genauer bestimmt werden. Die Ausprägung bestimmter Verhaltenstypen beruht dabei nicht nur auf den individuellen Erfahrungen, die jemand im Laufe seines Lebens macht, sondern es spielen neben den sozialen Bedingungen auch genetische Faktoren eine Rolle. 3.1.3 Biologische Verhaltensforschung Vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen sich hinsichtlich der Gewichtung angeborener Instinkte für das menschliche Verhalten zwei Theorie-Fraktionen gegenüber: diejenigen, die von Instinkten auch beim Menschen ausgingen, und diejenigen, die für die Verhaltenssteuerung beim Menschen keine nennenswerten Instinkte mehr annahmen. Die Instinkttheoretiker behaupteten, dass menschliches Verhalten wie bei allen anderen Tieren vor allem genetisch bestimmt sei. So ging William McDougall davon aus, dass Menschen als Säugetierart wie die anderen Säugetiere auch durch ihre angeborene Ausstattung bestimmt werden. Er schrieb 1937: „Vielmehr ist die angeborene Ausrüstung des Menschen dieselbe wie die der höheren Säugetiere, nur auf eine höhere Stufe der Differenziertheit und Plastizität gerückt“.13 Dagegen ließen die Behavioristen lediglich individuelles Lernen zur Erklärung des Verhaltens zu und lehnten jegliche Beteiligung der Instinkte ab. Der einflussreiche Behaviorist John B. Watson verkündete: „Für uns gibt es also keine Instinkte, wir brauchen diesen Begriff in der Psychologie nicht mehr.“14 Seitdem ist viel empirisches Material zusammengetragen und ausgewertet worden, die Forschung hat sich nun eher in der Mitte zwischen beiden Positionen eingependelt. Ein Teilbereich der Biologie, die Verhaltensforschung (Ethologie), erkundet die typischen Verhaltensweisen von Tierarten und versucht zu ermitteln, welche Anteile an diesem Verhalten als genetisch verankert und welche Anteile als individuell erworben angesehen werden können. Dabei werden die biologischen Prozesse erforscht, die das Verhalten der Tiere in bestimmten Situationen steuern. Hieraus werden auch Rückschlüsse darauf gezogen, ob und inwiefern angeborene Instinkte, Reaktionsmuster und Dispositionen in den geistig-kulturellen Entwicklungen des Menschen eine Rolle spielen könnten. Einsichten der biologischen Verhaltensforschung können dabei auch hilfreich sein für die Bewertung von Furcht, Ängsten und Angst.
McDougall 1995 [1937], S. 57. Watson 1995 [1930], S. 78.
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Furcht bei Tieren und Ängste beim Menschen haben biologisch sehr viel damit zu tun, ob eine Situation vertraut, überschaubar und kontrollierbar ist oder nicht. Ein Tier, das seinen Lebensraum kennt, kann sich in seinem Verhalten gut an die äußeren Bedingungen anpassen. Wird es in eine fremde Umgebung versetzt, bedeutet dies Stress, weil die Gefahren weniger gut abgeschätzt werden können. Inzwischen gibt es eine umfangreiche Forschung auch zur Furcht- und Stressverarbeitung bei Tieren. Stress ist vor allem eine Reaktion auf Gefahr, also eine Furchtreaktion. Dabei wurde herausgefunden, dass höher entwickelte Tiere, insbesondere Säugetiere, zwar einem Muster der Stressverarbeitung folgen, die Spannweite aber sehr weit gestreut sein kann, je nach individueller Veranlagung und Erfahrung. Stress erfolgt nicht aus dem Nichts, sondern hat Auslöser, die verarbeitet und bewertet werden und in eine Reaktion des Organismus münden.15 Dabei gibt es sowohl angeborene als auch gelernte Anteile für die Stressbewältigung. Wenn Hühnerküken in der ersten Woche ihres Lebens mit anderen Küken zusammen sind und sie dann allein in einen leeren Raum gesetzt werden, geben sie Furchtschreie von sich. Sie fürchten sich wegen der ungewohnten Situation. Hält man ihnen einen Spiegel vor, beruhigen sie sich, weil sie im Spiegel ein anderes Küken sehen und sich nicht mehr allein fühlen. Werden Küken aber in der ersten Woche isoliert aufgezogen, zeigen sie im leeren Raum keine Furcht. Hält man ihnen einen Spiegel vor, beginnen sie aus Furcht zu schreien, weil ihnen im Spiegelbild nun etwas Unbekanntes gegenübertritt.16 Wenn Küken auf einen Sozialpartner geprägt wurden, ist die Trennung von ihm für sie enorm belastend, sie reagieren mit Rufen und Schreien. Dies ist häufig auch bei Primatenkindern so. Furcht ist eine Art von Stressbelastung, die aus Bedrohungssituationen herrührt. Höher entwickelte Tiere verfügen über ein gewisses Spektrum von Möglichkeiten, wie sie angesichts der Wahrnehmung einer Bedrohung diese Gefahr einordnen und darauf reagieren. Wenn Primatenkinder gelernt haben, mit bestimmten Arten von Bedrohung umzugehen, die Gefahr also sinnvoll zu bewältigen, löst dann das erneute Auftauchen der Gefahr (z. B. eine ungefährliche Schlange) weniger heftige Furcht aus. Es findet damit so etwas wie ein Lernen von Furchtverarbeitung statt. In der Art, wie Tiere individuell auf Bedrohung reagieren, spielen immer auch die jeweiligen Lebenskontexte und Umweltkonstellationen eine Rolle. Werden Tupajas (Spitzhörnchen) in Situationen gebracht, in denen schwächere Tiere den dominanten Tieren im Lebensraum nicht ausweichen können, führt dies für die unterlegenen Tiere zu gesteigertem Stress, der sich messen lässt: höhere Herzschlagrate, größere Ausschüttung von Stresshormonen (z. B. Cortisol) im Blut, Vergrößerung der Nebennierenrinde usw. Hier finden direkte körperliche Reaktionen statt. Bei diesen unterlegenen Tieren lassen sich aber nun unterschiedliche Verarbeitungsmöglichkeiten feststellen. Manche Tiere verlieren Gewicht, werden „depressiv“ und sterben, andere unterlegene Tembrock 2000, S. 44. Tembrock 2000, S. 57.
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Tiere aktivieren eine Art latente Widerstandsbereitschaft und finden eventuell eine Nische zum Überleben. Oder sie stellen sich später selbst dem dominanten Tier entgegen.17 Auch Tiere reagieren also nicht alle gleich, sondern individuell entsprechend ihrer jeweiligen Veranlagung. Manche sind mutiger, manche ängstlicher. Ebenso wird mit Blick auf den Menschen davon ausgegangen, dass genetische Anlagen und die jeweiligen Umwelteinflüsse die Art der Ausprägung von Furcht und Ängsten bei den einzelnen Individuen mitbestimmen. Menschen verfügen über viel größere Verhaltensspielräume als alle Tierarten und das individuelle Verhalten ist funktional nicht mehr eindeutig determiniert. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz schreibt: „Ohne allen Zweifel ist der Mensch das an endogen-automatischen Bewegungsweisen ärmste unter sämtlichen höheren Lebewesen.“18 Dieses Nachlassen der biologischen Prägung bringt auf der einen Seite eine größere Variabilität der Verhaltensformen und damit eine gewisse Unberechenbarkeit mit sich, auf der anderen Seite jedoch auch größere Gestaltungsspielräume für das eigene Handeln. Der Mensch ist gerade wegen der Reduzierung oder des gänzlichen Fehlens von angeborenen Steuerungen seines Verhaltens zur freien Selbstbestimmung fähig. Und die Ermöglichung größerer Freiheitsspielräume aufgrund der Instinktreduktion ist zugleich ein wesentlicher Aspekt der Angstfähigkeit.
3.2 Furcht, Ängste und Angst im Spiegel der Psychologie Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie und Psychoanalyse sind Disziplinen, die sich mit der Psyche, mit den Grundlagen und Funktionsweisen menschlichen Erlebens und Verhaltens beschäftigen, wobei Therapie und Medizin auf die Behandlung von psychischen Störungen und Krankheiten ausgerichtet sind. Bezogen auf die Ausprägung von Ängsten haben vor allem die Psychiatrie und klinische Psychologie ihr spezielles Aufgabenfeld in der Erfassung, Einordnung und Behandlung von psychischen Phänomenen, die als Störung oder Erkrankung angesehen werden. Sie untersuchen solche psychischen Störungen hinsichtlich ihrer Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen. Sie widmen sich vor allem den Betroffenen, für die Ängste derart belastende Ausmaße annehmen, dass sie in ihrer normalen Lebensführung zeitweise oder längerfristig gestört sind und oft auch klinisch behandelt werden müssen. Die Psychologie hat sich im Laufe ihrer Entwicklung als eigenständige Disziplin seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr in Richtung einer empirischen Wissenschaft ausgerichtet. Empirisch sollen über den Forschungsgegenstand (die Psyche, das Bewusstsein) durch Beobachtung, Experimente, Befragungen, Messungen, statistische Erhebungen usw. Daten gewonnen und diese dann theoretisch-systematisch ausgewertet werden. Es geht hierbei darum, die psy Tembrock 2000, S. 51–53. Lorenz 1992[1965], S. 165.
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chischen Prozesse und Bewusstseinsinhalte möglichst detailliert und genau zu erfassen, zu systematisieren, statistisch zu gewichten und die Ergebnisse dann in allgemeineren Theorien zu verarbeiten. Die Psychologie greift dabei zum Teil auch auf biologisch-physiologische Forschungen zurück. Und sie liefert Grundlagenmaterial, mit dem dann auch die anwendungsbezogenen Bereiche wie Psychotherapie und Psychiatrie arbeiten. Insgesamt steht in der Psychologie die emotional-kognitive und psychosomatische Seite des Angstphänomens im Zentrum, also der Bereich der in Gefühlen ausgetragenen Ängste, wobei in der Psychologie eher der Begriff der Emotion als Oberbegriff verwendet wird, wenn von Emotionsforschung die Rede ist. Die gefühlten Ängste bilden das umfangreichste Gebiet des gesamten Angstphänomens. Die psychologische Forschungsliteratur zum Bereich der Ängste ist in ihrer Fülle kaum zu überschauen, dies gilt auch für die vielen Therapieansätze und Ratgeber zur individuellen Ängste-Bewältigung. In diesem riesigen Feld haben sich unterschiedlichste Theorien und Forschungsdesigns herausgebildet, die keine einheitliche Begrifflichkeit aufweisen. Zum Teil werden Angst und Furcht unterschieden, zum Teil wird nur von Angst gesprochen und Furcht als Teilbereich der Angst verstanden, manchmal erfolgt die Zuordnung aber auch genau umgekehrt. Es ist auch hier ratsam, nicht auf die Terminologie zu schauen, sondern auf das, was inhaltlich in den einzelnen Theorien erörtert wird. So kann nach der Bedeutung kultureller und sozialer Faktoren für die Entstehung von Ängsten gefragt werden. Andere Theorien untersuchen die innerhalb der Psyche ablaufenden Prozesse, beispielsweise wie sich Ängste aufbauen und strukturieren. Oder sie fragen danach, wie Menschen mit Ängsten umgehen, welche Strategien der Bewältigung, Vermeidung oder des Aushaltens von Ängsten sie entwickelt haben und wie wirksam solche Strategien sind. So können sich bei einzelnen Menschen viele negative Erfahrungen überlagern und verstärken und zu einer psychischen Erkrankung führen. Doch dies ist nicht durchgängig so. Es gibt Menschen, die gerade aus der Konfrontation mit verschiedenen Herausforderungen eine große innere Stärke und Kraft entwickeln. Dies wird unter dem Stichwort der „Resilienz“ diskutiert, d. h. der inneren Widerstandskraft und Fähigkeit, das eigene psychisch-körperliche Gleichgewicht zu erhalten. Es muss also auch geklärt werden, wie produktive und sinnvolle Ängste von ihren pathologischen Ausprägungen abzugrenzen sind. Dies wiederum ist wichtig, um zu bestimmen, was speziell unter Angststörungen verstanden werden soll. Aber auch methodische Fragen spielen eine Rolle. So geht es darum, wie so etwas wie Gefühle (Emotionen) überhaupt erforscht, gemessen, systematisiert und begrifflich gefasst werden kann. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die vielen verschiedenen Bedingungen, individuellen Charakteristika und Verhaltensweisen so komplex und mannigfaltig sind, dass es in der konkreten empirischen Forschung auch immer nur einzelne Fragestellungen sind, die dann entsprechend durch Studien, Experimente und Untersuchungen belegt werden können. Diese Einzelforschungen müssen dann im Rahmen größerer Perspektiven zusammengefasst und aufeinander bezogen werden.
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Psychologisch gesehen geht es um eine Sichtweise, die den Menschen die Fähigkeit zum aktiven Umgang mit den eigenen Ängsten zuspricht und darauf hinarbeitet, dass es notwendig ist, Bewältigungsweisen auch zu lernen. Die psychologische Emotionsforschung leistet einen unverzichtbaren Beitrag, um den großen Bereich der gefühlten Ängste zu überschauen, besser zu verstehen und zu erkunden, welche Strategien bei der Ausformung pathologischer Ängste wirksam und heilsam sind. 3.2.1 Kognitionspsychologie Um die spezifischen Forschungsfragen und Arbeitsweisen der Psychologie vorzustellen, die vor allem für die Einordnung der Ängste als Gefühle die wohl wichtigste Zugangsweise darstellt, werde ich mich speziell auf die Kognitionspsychologie konzentrieren. Die Kognitionspsychologie stellt ins Zentrum ihrer Theorien den Gesamtkomplex menschlichen Denkens als Informationsverarbeitung. Bezogen auf die Thematik der Ängste geht es um die Auffassung, dass Menschen in der Lage sind, über sich selbst nachzudenken, Einsichten hinsichtlich ihrer eigenen Einstellungen zu gewinnen und auf dieser Grundlage bewusst mit den eigenen Ängsten umzugehen. Die zentrale Frage lautet: Welchen Anteil hat das Kognitive, das eigene Denken, an der Ausprägung von Gefühlen, und wie weit kann es diese Gefühle beeinflussen? Dabei soll zunächst die Wirkungsweise von Ängsten verstanden werden. Hieran anschließend ist zu klären, wie mit Ängsten sinnvoll umgegangen werden kann, wie mit Hilfe individuell entwickelter Strategien die Steuerung des eigenen Verhaltens zu beeinflussen ist. Dazu ist es erforderlich, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, eigene Befindlichkeiten und Verhaltensweisen zu reflektieren, sich über die eigenen Handlungsmotive und Ziele Rechenschaft zu geben, um dann aus diesen Faktoren diejenigen Stellschrauben herauszufiltern, die dazu dienen können, die Ängste zu lenken und zu bewältigen. Dem Kognitiven, dem eigenen Denken, wird dementsprechend eine zentrale Aufgabe im Umgang mit den Ängsten zugesprochen. Eine wichtige Sichtweise besteht in der Kognitionspsychologie darin, dass Menschen im Laufe ihres Lebens Einstellungen, Wertmuster und Erwartungen entwickeln, die die Wahrnehmung der Umwelt und das Verhalten in bestimmten Situationen anleiten. Sie haben durch ihre jeweilige Perspektive, die sie letztlich selbst wählen, einen großen Eigenanteil daran, wie etwas von ihnen gesehen wird. Ich kann mich entscheiden, wie ich politisch, religiös, ästhetisch auf die Welt schaue und die konkreten Begebenheiten und Ereignisse einschätze. So sprechen wir metaphorisch davon, ein Glas als halb voll oder halb leer anzusehen. Diese Bewertung ist grundlegend für alle Gefühle und trifft auch auf die Ängste zu. Es hängt von den eigenen Blickwinkeln und Deutungen ab, welche Situation oder Gegebenheit als „gefährlich“ angesehen wird und dementsprechend Ängste dann auch tatsächlich psychisch ausgelöst werden. Wer in der Lage ist, die eigenen Wertmuster und Lebenseinstellungen zu verändern, kann auch die Ausprägung der eigenen Ängste beeinflussen und
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damit vielleicht größere Spielräume für ihre bewusste Steuerung gewinnen. Dazu muss aber eine gezielte geistige Auseinandersetzung mit den eigenen Denkweisen erfolgen. Der Kognitionspsychologe Richard S. Lazarus ist der Forschungsfrage nachgegangen, welchen Einfluss die individuelle Sichtweise auf die eigenen Ängste hat. Zunächst waren seine Untersuchungen auf die Entstehung von Stress ausgerichtet, dann aber hat sich seine Forschung in Richtung einer Emotionstheorie ausgeweitet, in der auch die Problematik der Ängste einbezogen wurde. Lazarus interessierte dabei, inwiefern und warum Personen auf bestimmte Situationen unterschiedlich reagieren, beispielsweise gestresst oder entspannt. Diese unterschiedlichen Reaktionen führte er zu großen Teilen auf die verschiedenen individuellen Bewertungen der Situation zurück, was sich dann wiederum auf die Entstehung der Emotionen auswirkte. Sein Begriff der Emotion wäre in der Terminologie, wie ich sie verwende, als Gefühl zu fassen. Emotionen sind für Lazarus komplexe Bewusstseinsgebilde, in denen vor allem die eigene kognitive Beurteilung einer Situation und das Selbstbild eine große Rolle spielen. Zu dieser Bewertung gehören hinsichtlich der Entstehung von Ängsten Aspekte wie die Gefahrenkalkulation, die Abschätzung der Fluchtund Verteidigungsmöglichkeiten und auch die Selbsteinschätzung, was man sich jeweils in einer Gefahrensituation persönlich zutraut. Dabei gibt es zum einen ganz objektive Faktoren. Wenn ich in einer militärischen Auseinandersetzung als Einzelner zehn Gegnern gegenüberstehe, ist das Ängste-Niveau verständlicherweise anders, als wenn ich zu den Zehn gehöre, denen nur Einer gegenübersteht. Aber auch die eigene subjektive Ängstlichkeit spielt eine Rolle. Wer überall Gefahren wittert, prägt auch stärkere Ängste aus als derjenige, der unbeschwert durch die Welt geht und kaum Bedrohungen sieht. Obwohl die Gegebenheiten faktisch für beide Personen dieselben sind, haben beide doch unterschiedlich starke Ängste. Menschen nehmen also eine geistig-kognitive Gefahrenbewertung vor und bedenken dann die eigenen Möglichkeiten des Umgangs mit der gegebenen Situation. Sowohl der äußere Anlass als auch die individuelle Persönlichkeitsstruktur sind wichtig für die Ausprägung von Ängsten und die Möglichkeiten ihrer Bewältigung. Lazarus konnte in seinen Experimenten nachweisen, dass das eigene Denken die Art und Stärke von Emotionen beeinflusst. Dies ist wiederum relevant dafür, wie emotionale Störungen behandelt werden können und wieviel Kontrolle wir geistig über unsere eigenen Gefühle haben. Auch der Psychologe und Therapeut Albert Ellis geht davon aus, dass Emotionen durch das eigene Denken, vor allem durch die angelegten Bewertungsmuster, beeinflusst, geformt und verändert werden können. Er hat hierzu eine interessante und breit anerkannte Theorie und eine darauf aufbauende Therapie entwickelt, die er Rational Emotive Behavioral Therapy (Rational-Emotive Verhaltenstherapie) nennt.19 Hierbei wird das Augenmerk nicht auf die Situa19 Eine gute Erläuterung und auch empirische Bestätigung der Theorie von Albert Ellis liefert mit seiner Dissertation Spörrle 2007.
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tion selbst, die eine Emotion auslöst, gerichtet, sondern darauf, wie durch die Interpretation der Situation die Emotionen beeinflusst und gefärbt werden. Dabei ist von besonderem Interesse, wie die Interpretationen zustande kommen, welche Überzeugungen der Person dabei zugrunde liegen und wie sie gegebenenfalls umgelenkt werden können. Nehmen wir als simples Beispiel die alltäglichen Hausarbeiten, um die Funktionsweise von Interpretationen für unsere Wahrnehmung und emotionale Reaktion zu erläutern. Ich kann es entspannend, inspirierend, experimentell finden zu kochen, mir kann es Freude bereiten, dabei neue Kreationen auszudenken und Familie oder Freunde immer wieder zu überraschen. Oder ich finde Kochen langweilig, unwichtig für mein Leben und zeitraubend und würde lieber lesen, als in der Küche zu stehen. Für manchen Menschen ist Essen kulturell und sozial etwas sehr Wichtiges, für andere nur eine notwendige Sache zur Lebenserhaltung. Wenn ich Fensterputzen und Staubsaugen als kostenfreies Fitnessprogramm betrachte, verlieren diese Tätigkeiten ihre Tristesse. Manche Menschen können Bügeln nicht ausstehen, der Bügelberg wächst immer weiter an, bis keine Bluse oder kein Hemd mehr im Schrank hängt. Andere genießen das Bügeln der frisch gewaschenen Sachen, den speziellen Duft und die eigene Griffigkeit nach dem Bügeln, hören dabei Musik oder können dem Hin- und Herbewegen des Bügeleisens etwas Beruhigendes und Kontemplatives abgewinnen. Die Beurteilungen schon dieser Alltagsverrichtungen sind also ganz unterschiedlich ausgerichtet, obwohl es faktisch um dieselben Tätigkeiten geht, die aber jeweils individuell bewertet werden. Aus den unterschiedlichen Bewertungen resultieren dann die unterschiedlichen Emotionen: das Mögen oder Ablehnen, die Freude oder Unlust. Überwiegt die negative Einstellung und wird sie ständig weiter verstärkt, weil jemand eben nicht gerne kocht oder putzt oder bügelt und sich in diese negative Haltung hineinsteigert, kann dies zu Frustrationen bis zur Depression führen. Ellis analysierte nun genauer, wie Menschen ihre Welt, ihr Leben, ihre Mitmenschen bewerten. Um die Forschungsergebnisse einordnen zu können, unterschied er in seiner Emotions- und Bewertungstheorie grundlegend zwischen angemessenen (rationalen) und überzogenen (irrationalen) Bewertungen. Dabei ist die „rationale“ Sichtweise flexibler, offener, die Menschen sehen mehr Spielräume und haben eine entspanntere Lebenseinstellung. Menschen mit einer solchen Einstellung würden Formulierungen wählen wie: „Es wäre schön, wenn …“ „Ich glaube nicht, dass …“; „Ich kann mir nicht so recht vorstellen, dass …“ Sie vermeiden strikte Einordnungen und lassen damit Interpretationsmöglichkeiten offen. Wenn ein Vorhaben nicht gelingt, sehen die gelassenen Personen dies nicht als Scheitern oder Desaster an, sondern eher als eine Herausforderung zu einem neuen Versuch. Im Gegensatz dazu tendiert die „irrationale“ Sichtweise zu Verabsolutierungen und Extremen: „Ich könnte gar nicht ertragen, wenn …“; „Das muss mir unbedingt gelingen.“ Oder: „ich bin mir absolut sicher, dass …“ Geschehnisse, die die eigenen Pläne durchkreuzen, werden als Katastrophen wahrgenommen. Wie Ellis heraus-
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gefunden hat, haben vor allem die „irrational“, kontraproduktiv, negativ geeichten Personen häufig ein geringes Selbstvertrauen und neigen zu Ängsten und Depressionen. Es geht also um die Unterscheidung zwischen einer eher positiv ausgerichteten Perspektive der Möglichkeiten und einer negativ orientierten, verengten Perspektive des Müssens, oder um es zuzuspitzen: einer Perspektive der Freiheit und einer Perspektive des Gezwungenseins. Diese Vorstellung vom Gezwungensein ist deshalb „irrational“, weil das menschliche Leben nicht strikt deterministisch und einlinig ist. Es gibt immer Alternativen, die aber in der irrationalen Bewertung nicht wahrgenommen werden. Damit bauen sich aber vor allem negative Emotionen auf, weil die Geschehnisse überinterpretiert werden als Katastrophe, als ausweglos oder man selbst sich als Versager sieht und die Mitmenschen als Gegner. Werden diese Negativ- Interpretationen ständig wiederholt, verfestigt sich ein düsteres Welt- und Selbstbild, das dann dazu führt, dass bei bestimmten Vorkommnissen verstärkt Paniken, Ängste und Depressionen ausgelöst werden. Ellis untersuchte aber nicht nur die Bewertungsmuster der Personen, sondern auch die Funktionen, die die Emotionen in den Bewertungen erhalten. Vor allem bei den negativen Emotionen lassen sich dabei verschiedene Qualitätsstufen aufzeigen, die den jeweiligen Perspektiven entsprechen. Negative Emotionen können durchaus sinnvoll und hilfreich sein, um sich zu schützen oder sich mit bestimmten Gegebenheiten auseinanderzusetzen und Vorkommnisse im Leben zu verarbeiten. Hierzu zählt Ellis beispielsweise Furcht, Ärger, Bedauern und Trauer. Werden die Bewertungen eines negativen Ereignisses jedoch übersteigert, vereinseitigt und verabsolutiert, erhalten diese Emotionen eine kontraproduktive Funktion, sie werden zu einer Belastung. Dies wären dann seiner Theorie zufolge Emotionen wie die gefühlten Ängste, Wut, Schuld und Depression. Furcht ist demnach für Ellis eine sinnvolle und hilfreiche Emotion, gefühlte Ängste hingegen eine lähmende, beeinträchtigende Emotion. Beide Arten, Risiken oder Gefahren zu bewerten, sind dabei durch die eigene Bewertung selbst „erzeugt“ worden. Wenn dies möglich ist, muss es aber umgekehrt auch möglich sein, durch gezielte kognitive Arbeit auf die eigenen Emotionen Einfluss zu nehmen. Dementsprechend stellt Ellis in den Mittelpunkt seiner Therapie die Strategie, die betroffenen Personen dahingehend zu motivieren, dass sie ihr eigenen Bewertungen ändern und positive Gedanken entwickeln lernen. Es geht um den Umbau der eigenen Psyche durch eigene rationale Einsicht und bewusste geistige Selbstkontrolle. Gegenüber den möglichen Herausforderungen im Leben sollen Toleranz, Gelassenheit und die Kraft, Probleme zu meistern, gefördert werden. Hinter solchen Theorien steht natürlich die Grundauffassung, dass Menschen in der Lage sind, durch eigene geistige Anstrengung ihre Gefühle ein Stück weit zu beeinflussen. Die Kognitionspsychologie misst, wie die prominenten Beispiele Lazarus und Ellis zeigen, der eigenen bewussten Bemühung und Einsicht sehr große Bedeutung im Angstkontext zu. Sie erforscht, wie ein sinnvoller Umgang mit Ängsten gelernt werden kann und welche Techniken hilfreich sind, um
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leidvolle Ängste zu mildern. Damit verbunden sind dann ebenfalls Fragen danach, warum manche Menschen nicht in der Lage sind, aus eigener Kraft ihre Ängste sinnvoll in ihr eigenes Leben zu integrieren, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Gefährdung und Reaktion zu finden. Denn wenn dies nicht gelingt, entstehen psychische Dissonanzen, die sich z. B. in Gefühlen der Ohnmacht, Fremdheit, Verlassenheit, Gefährdung, Hilflosigkeit und der entgleitenden Kontrolle über das eigene Leben zeigen. Positiv gesehen führt die geistige Kontrolle der eigenen Ängste hingegen dazu, Stress zu reduzieren und Selbstvertrauen aufzubauen, das Kraft gibt für die Bewältigung der Lebensaufgaben.20 Diesem Gedanken folgt auch der Psychologe Heinz Walter Krohne. Gleich zu Beginn seines Lehrbuchs Psychologie der Angst schreibt er über die Angst: „Angst greift […] tief in unser Leben ein, aktiviert den Einzelnen entweder und spornt ihn zu besonderen Leistungen an oder hemmt, lähmt, ja zerstört ihn. Nur wer sich ihr stellt und sie meistern lernt, entwickelt sich und reift, wer einer Auseinandersetzung mit ihr ausweicht, stagniert und bleibt unreif“.21 Und er weist auch darauf hin, dass wir Menschen selbst aktiv mit den eigenen Ängsten umgehen können, dass sie etwas beitragen zur eigenen Persönlichkeit und dass Formen der Bewältigung gelernt werden können. Doch dies gelingt nicht allen Menschen gleichermaßen gut. Deshalb benötigen sie bei ausgeprägten Ängsten, die ihr Leben beeinträchtigen, medizinisch- therapeutische Hilfe. 3.2.2 Angststörungen als psychische Erkrankungen Da es in diesem Buch nicht um pathologische Ängste und Therapien geht, möchte ich nur knapp einige Aspekte und Modelle dieses Themenbereichs andeuten. Dabei steht zunächst die Frage im Raum, welchen Stellenwert psychische Erkrankungen und vor allem die Angststörungen heute besitzen. Innerhalb der letzten zwanzig Jahre hat sich in Deutschland die Anzahl der Krankschreibungstage wegen psychischer Erkrankungen verdreifacht. 13–14 % aller Krankschreibungen von Berufstätigen betreffen psychische Probleme. Bei Berufsunfähigkeit liegt der Anteil bei über 30 %. Ein Viertel der Bevölkerung weist den Statistiken zufolge depressive Symptome auf, ebenfalls ein Viertel der Bevölkerung leide wenigstens einmal im Leben an einer Angststörung (hierzu zählt z. B. auch extreme Schüchternheit). Insgesamt seien Angststörungen die am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen.22 Diesen Entwicklungen wurde auch juristisch Rechnung getragen, indem jüngst das Bundessozialgericht erstmals eine psychische Erkrankung, im konkreten Fall eine posttraumatische Belastungsstörung bei einem Rettungssanitäter, als Berufskrankheit anerkannt hat. Vgl. hierzu auch Krohne 2010, Kap. 8. Krohne 2010, S. 13. 22 Vgl. https://de.statista.com/themen/1318/psychische-erkrankungen/. 20 21
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Ohne das Leiden von Betroffenen in Frage stellen zu wollen, drängt sich aber doch die Frage auf, wie diese Krankheitszahlen einzuschätzen sind. Wie sind die Kriterien für die Bestimmung von Krankheit und Gesundheit angesetzt, vor allem hinsichtlich der doch schwer bestimmbaren psychischen Verfassung eines Menschen? Die Bewertungen „gesund“ oder „krank“ sind ja nicht ein für alle Mal feststehende Kategorien, sondern werden nach bestimmten Maßstäben, unter historischen und kulturellen Bedingungen und mit weltanschaulichen Grundannahmen definiert. Dabei ist dies für offensichtliche körperliche Gebrechen sicherlich einfacher als für psychische Leiden. Wenn ich das Bein gebrochen habe, bin ich krank. Die Beeinträchtigung der Beweglichkeit, die Beschädigung des Knochens und die starken Schmerzen sind klar bestimmbar. Doch wie ist es, wenn ich oft erschöpft bin, nicht gut schlafen kann, wenn ich mich manchmal innerlich unruhig fühle, habe ich dann eine psychische Erkrankung? Oder brauche ich einfach etwas mehr Erholung? Auch hier sind Kriterien nötig, wobei sowohl die Beobachtung von außen z. B. durch eine psychiatrisch geschulte Person als auch die subjektive Bewertung des betroffenen Menschen eine Rolle spielen. So könnte beobachtet werden, dass sich jemand eigenartig verhält, bestimmte Orte oder Situationen meidet, vielleicht ohne sich dessen selbst bewusst zu sein. Wie stark sind Ängste ausgeprägt? Sind sie unangemessen, treten sie ohne Anlass auf? Welche körperlichen Reaktionen begleiten die Ängste? Lassen sich die Ängste durch eigene bewusste Anstrengung bewältigen, oder überwältigen sie den betreffenden Menschen? Mit solchen Fragen ist die Psychiatrie beschäftigt. Aber auch die Selbstwahrnehmung ist wichtig. Wie stark fühlt man sich durch die Ängste im normalen Leben beeinträchtigt? Wie stark leidet man an den Ängsten? Doch die subjektive Wahrnehmung bestimmter Symptome ist wiederum davon abhängig, mit welchem Maßstab und Selbstbild man auf sich selbst schaut, welche Bewertungsangebote im sozialen Umfeld kursieren, wie die Medien Dinge einordnen oder inwiefern die Ärztin oder Therapeutin entsprechende Zuschreibungen nahelegen. Unser Selbstbild und auch die individuelle Leidensbewertung werden maßgeblich bestimmt von den gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, unter denen wir leben. Zweifellos sind viele Menschen gepeinigt von heftigen Panikattacken, Phobien, übermäßig ausgeprägter Ängstlichkeit oder dem diffusen Gefühl des Bedrohtseins. Die psychologisch-psychiatrische Klassifizierung von Angststörungen anhand bestimmter Merkmale und Erscheinungsbilder ist weit ausdifferenziert. Doch auch hier muss noch einmal betont werden, dass die Identifizierung bestimmter Emotionen oder Gefühle als „Angst“ Zuschreibungen sind. Der Psychologe Heinz Walter Krohne weist in seinem Lehrbuch zur Psychologie der Angst darauf explizit hin: „Man muss sich darüber im Klaren sein, dass weder der aktuelle emotionale Angstzustand als solcher noch das Persönlichkeitsmerkmal Ängstlichkeit unmittelbar beobachtet werden können. Registrieren kann man nur bestimmte Phänomene, beispielsweise, dass jemand in einer Prüfung schwitzt, stottert, errötet oder sogar, dass
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er ‚Angst habe‘.“23 In dem Sinne lassen sich Ängste auch nicht direkt messen. Messbar sind nur bestimmte körperliche Reaktionen wie Blutdruckanstieg, Schwitzen, Hormonausschüttung usw., und beobachtbar sind Verhaltensweisen wie Unruhe oder veränderte Mimik. Diese Symptome dann aber als „Angst“ oder „Ängste“ zu identifizieren, ist eine begriffliche Zuordnung. Deshalb bezeichnet Krohne „Angst und Ängstlichkeit als hypothetische Konstrukte“.24 Diese Konstrukte sind dann so etwas wie Rahmenvorgaben dafür, wie bestimmte Verhaltensweisen und Phänomene eingeordnet werden können. Woher stammen die Kriterien, nach denen „psychische Erkrankungen“ bestimmt werden? Werfen wir in diesem Zusammenhang einmal einen Blick auf die internationale statistische Klassifikation (ICD) der WHO für psychische Erkrankungen. Sie bezieht sich in großen Teilen auf das Handbuch der Vereinigung US-amerikanischer Psychiater (American Psychiatric Association), das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), das immer wieder neu angepasst wird. In diesen Überarbeitungsprozessen ist zu konstatieren, dass die Erfassung psychischer Erkrankungen ständig erweitert wird, sowohl quantitativ als auch hinsichtlich der Schwelle, die „krank“ von „gesund“ trennt. So gilt in der jüngsten Fassung DSM-5 (gültig in den USA seit 2013) schon die tiefe Trauer bei Verlust eines nahestehenden Menschen, die länger als zwei Wochen anhält, als Depression. Ausgeprägte Schüchternheit wird den Angststörungen zugerechnet. Verhaltensweisen von Kindern wie Wutausbrüche oder Unruhe rücken immer stärker in Richtung psychischer Erkrankungen, um nur einige Beispiele anzudeuten.25 Diese Entwicklungen sind nicht unumstritten. Auf der einen Seite ermöglichen sie genauere, individuellere Behandlungsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen, dass die Ausweitung des Spektrums psychischer Erkrankungen die Handlungsmacht von Psychiatrie und Psychotherapie vergrößern. Je mehr Menschen daran glauben, dass sie psychisch krank sind und psychotherapeutische Hilfe benötigen, umso besser für die Zunft der Therapeuten und umso besser für die Pharmaindustrie, die Psychopharmaka vermarktet. Verdeutlichen wir uns das Problem an einer historischen Überlegung. Vor 200 Jahren gab es noch gar keine Psychologie als empirische Wissenschaft. Allerdings aber finden sich schon in der Antike psychiatrische Heilmethoden und Heilanstalten, zum Teil eingebettet in religiöse und kulturelle Praktiken. Die sogenannten „Geisteskranken“ wurden in schlimmen Fällen isoliert und eher wie Gefangene gehalten in sogenannten Irrenanstalten, Tollhäusern oder einfach in Gefängnissen. Das Wort „geisteskrank“ legte auch nahe, dass man davon ausging, dass hier der Verstand, der Geist, eingeschränkt war, weniger wurden tatsächlich seelische Leiden diagnostiziert, dafür standen noch keine Begrifflichkeit und keine Diagnoseinstrumente zur Verfügung. Bis ins 19. Jahr Krohne 2010, S. 29. Krohne 2010, S. 29. 25 Vgl. dazu Habekuß 2013. 23 24
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hundert gab es damit auch keine Psychiatrie im wirklichen Sinne einer Heilkunde und auch keine Psychotherapeuten. Bestenfalls erfolgte eine Betreuung im Rahmen der kirchlichen Seelsorge. Für uns heute ist die Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen ein selbstverständlicher und unverzichtbarer Teil der gesamten Medizin. Die Klinische Psychologie und Psychiatrie haben ein wichtiges Aufgabenfeld in der Erforschung psychischer Erkrankungen und möglicher Therapien. Die Palette der Therapieansätze ist umfangreich und richtet sich nach der Art der Störung und auch der individuellen Einsicht und Mitwirkungsbereitschaft der Betroffenen. Die Kognitive Verhaltenstherapie zielt auf die gezielte, bewusste Auseinandersetzung mit den Inhalten und Ursachen der eigenen Ängste, z. B. durch Gespräche, Malen, Führen eines Tagebuchs usw. Dabei geht es auch darum zu reflektieren, warum man eine Situation als „gefährlich“ bewertet, sich mit der eigenen Veranlagung der Ängstlichkeit zu befassen, die eigene Lebensführung zu überdenken und vor allem positive Motivationen und eine optimistische Welt- und Selbstsicht aufzubauen. Etwas anders gelagert sind die Vorgehensweisen der Verhaltenskonditionierung. So sollen betroffene Personen beispielsweise durch Exposition, d. h. durch Konfrontation mit den jeweils Furcht oder Ängste auslösenden Situationen lernen, dass eigentlich gar keine Gefahr droht. Ziel ist es, eigene Mechanismen zu entwickeln, um die Ängste zu kontrollieren. Ablenkungs- oder Entspannungsübungen wie durch Sport, Musik, Tanz, Malerei, handwerkliche Beschäftigung, Meditation können zu einem inneren Gleichgewicht beitragen und damit die Fähigkeit stärken, Ängste in das eigene Leben zu integrieren. Auch Neurostimulation, die Einwirkung auf die Hirnaktivitäten durch Stromimpulse oder Ultraschall werden als Therapiemethoden eingesetzt. Nicht zuletzt spielt vor allem bei schweren Angststörungen auch die medikamentöse Behandlung eine wichtige Rolle. Die psychologischen und klinischen Forschungen und deren Anwendungen in der Praxis leisten wichtige Beiträge dazu, vor allem Ängste und Furcht mit Blick auf deren Ursachen, Wirkungsmechanismen und ihrer Bedeutung für den Menschen genauer zu verstehen. Diese Forschungen und Therapien weisen eine große Bandbreite an einzelnen Aspekten, Ausformungen und Bewertungen auf. Eine Auseinandersetzung mit der geistigen Angst und eine Einordnung des Angstphänomens als eine positive, anthropologische Grundbefindlichkeit findet sich in der Psychologie und Psychiatrie weniger, da sie den definierten Gegenstandsbereich, also die Gefühlsebene, übersteigt und in dem Sinne auch nicht zu krankhaften Ausformungen führt. Hier stellt sich dann die Frage, ob damit nicht die Möglichkeit unterschätzt wird, durch allgemeinere Angstformen auf die emotionale, gefühlsmäßige Ebene der Ängste in einem heilenden Sinn zu wirken. Denn es ist offensichtlich, dass die gedankliche Auseinandersetzung mit den Ängsten ein wichtiges Hilfsmittel der Ängste- Therapie darstellt.
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3.3 Die psychoanalytischen Angsttheorien Sigmund Freuds und Fritz Riemanns Die Psychoanalyse, die im engeren Sinn nicht zur wissenschaftlichen Psychologie gezählt wird, nimmt eine gewisse Sonderstellung im Bereich der Behandlung psychischer Erkrankungen ein. Sie leistet mit ihrer spezifischen Herangehensweise einen wichtigen Beitrag sowohl zur Angstforschung als auch zur Therapie von Angststörungen. In der psychoanalytischen Tradition spielen vor allem die Angsttheorien von Sigmund Freud und Fritz Riemann eine hervorragende Rolle. Sie sollen deshalb hier vorgestellt werden. 3.3.1 Sigmund Freud: Realangst, neurotische Angst, Gewissensangst Die Psychoanalyse und Tiefenpsychologie führen Ängste auf innere Konflikte zurück, von denen angenommen wird, dass sie der jeweiligen Person nicht bewusst sind, sondern über die jeweiligen Ängste quasi stellvertretend an die Oberfläche treten. Diese inneren Konflikte sollen durch die Psychoanalyse bei den Betroffenen aus den Tiefen des Unbewussten herausgeholt und ans Licht gebracht werden, sodass dann eine bewusste Auseinandersetzung damit stattfinden kann. Freuds Interpretationsfokus ist dabei vor allem die menschliche Sexualität als eine basale Struktur des Menschseins überhaupt. Dieser Fokus färbt die gesamte Herangehensweise und Begrifflichkeit, vom Ödipuskomplex über die Kastrationsangst bis zum Penisneid, bedeutet aber auch eine Verengung der Sichtweise und führt oft zu metaphorischen Deutungen, deren Erklärungswert fraglich ist. Diese Deutungsperspektive Freuds soll im Folgenden jedoch nicht weiter beurteilt werden. Vielmehr wird sein Beitrag zum Verständnis von Angst bzw. Ängsten als Ergebnis seiner Forschung und psychoanalytischen Praxis im Zentrum stehen. Freuds Herangehensweise hat sich über die Jahre gewandelt. In seiner späteren Schaffenszeit ist schließlich die Angsttheorie entstanden, die dann in der Angstforschung weiter rezipiert wurde. Vor allem ist der Aufsatz „Hemmung, Symptom und Angst“ (1926) bedeutsam geworden, auf den ich mich im Folgenden beziehe. Freud verfolgt darin, auf welche Weise die Psyche ihre Ängste ausprägt, wie sie diese Ängste verarbeitet und welche Funktion die Ängste für den psychischen Gesamthaushalt eines Menschen ausüben. Er unterscheidet verschiedene Ebenen und Typen von Ängsten und betont, dass ein sinnvoller Umgang mit den eigenen Ängsten gelernt werden kann und sollte. Er hat dabei zugleich gesehen, dass Ängste durchaus auch vom eigenen Ich selbst instrumentalisiert werden können, um bestimmte Inhalte, Erinnerungen oder Vorstellungen zu verdecken oder umzuinterpretieren, damit die Person sie nicht wahrhaben muss oder um bestimmte innerpsychische Vorgänge unter Kontrolle zu halten. Es ist wieder ein Hinweis zur Terminologie angebracht: Freud verwendet durchgehend das Wort „Angst“, seine Analyse richtet sich auf die Ebenen, die ich Furcht und gefühlte Ängste nenne.
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Freud spricht der Angst in der Gesamtheit ihrer verschiedenen Ebenen und Aspekte zunächst einmal ganz allgemein eine für das Leben wichtige Funktion zu: „Die Angst ist die Reaktion auf die Gefahr.“26 Angst wird dabei vor allem bestimmt als „etwas Empfundenes“, als „Affektzustand“, der durch Unlust charakterisiert ist.27 Diese Unlust wird von physiologischen Vorgängen wie schnellerem Herzschlag und beschleunigter Atmung begleitet und insofern gefühlt. Die Angst kann Freud zufolge in drei unterschiedlichen Formen in Erscheinung treten: als Realangst, als neurotische Angst und als Gewissensangst mit ihrem sozialen Fokus. Diese Unterscheidung gründet in seiner Bewusstseinstheorie, in der er drei Grundkomponenten behandelt: Ich, Es und ÜberIch.28 Das Ich ist für Freud das auf die konkrete Realität bezogene, reflexiv-rationale Bewusstsein. Das Es steht für die biologische Triebstruktur des Menschen. Das Über-Ich entsteht durch die Verinnerlichung sozialer Anforderungen und Normen, mit denen die Menschen von Kindheit an konfrontiert sind. Wie hängen nun die verschiedenen Ängste mit diesen psychischen Strukturen zusammen? Die Aufgabe des Ich ist es, alle Gehalte des Wissens von der Welt und der innerpsychischen Vorgänge so aufeinander zu beziehen, dass es keine zu großen Spannungen und Widersprüche zwischen ihnen gibt. Zwar ist das Ich einerseits von Es und Über-Ich beeinflusst, andererseits ist es der rationale Akteur, der die jeweilige Situation oder Befindlichkeit bewertet und aufgrund seines Realitätsbewusstseins die Anpassung des Verhaltens vornehmen kann. „Das Ich beherrscht den Zugang zum Bewußtsein wie den Übergang zur Handlung gegen die Außenwelt“.29 Das Ich prägt damit ein Gesamtbild von sich selbst als Subjekt aus, das die Bedingung dafür darstellt, sich sinnvolle Ziele zu stellen, entsprechende Handlungen auszuführen, mit anderen Menschen umzugehen und den Anforderungen der Umwelt gerecht zu werden. Das Ich reagiert auf konkrete, reale Bedrohungen durch die Realangst. (Hier könnte man entsprechend der von mir verwendeten Terminologie eher von Furcht und konkreten Einzelängsten sprechen.) Aufgrund dieser Realangst wird der Organismus aktiviert, sich zu schützen. Das Es, die Triebstruktur, wirkt im Menschen als starke Antriebskraft und fordert Befriedigung, die dann als lustvoll erlebt wird, während Nichtbefriedigung Unlust bewirkt. Als die beiden mächtigsten naturwüchsigen Triebe sieht Freud den Liebestrieb (Eros) und den Todes- bzw. Aggressionstrieb (Thanatos) an. Sie prägen oder beeinflussen viele der menschlichen Handlungen. Wenn nun das Ich bestimmte Triebäußerungen unterbinden will, weil sie zu seinem Selbstbild nicht passen, beispielsweise der Liebestrieb als sexueller Trieb oder die Aggressionsneigung, entsteht eine innere Spannung Freud 1988 [1926], S. 197. Freud 1988 [1926], S. 179. 28 Freud 1988 [1926], S. 142. 29 Freud 1988 [1926], S. 142. 26 27
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zwischen dem Trieb und seiner Bewertung durch das Ich. Da das Ich aber seine Aufgabe darin hat, eine Art innerer Harmonie des Gesamtbewusstseins zu gewährleisten, muss es diese Spannung bewältigen. Das Ich löst dieses Problem durch eine Art Umlenkung, Verdrängung oder Umdeutung, wobei die störende Triebregung, von der sich das Es Lust verspricht, nun als ein Unlustgefühl gelten soll. Und vor diesem Unlustgefühl entwickelt das Ich eine psychische Angst. Denn Freud zufolge funktioniert die innere Abwehrreaktion analog zur äußeren Abwehr von Gefahr. In der Reaktion auf eine äußere Gefahr gibt es den Fluchtversuch als Schutzmechanismus. Bei der Triebverdrängung findet diese Flucht im Inneren statt als eine Flucht des Ich vor etwas Unangenehmem in der eigenen Psyche. Dass diese Verdrängung als Angst wahrgenommen wird, liegt daran, dass hier der Angstzustand gar nicht tatsächlich neu entsteht, sondern „nach einem vorhandenen Erinnerungsbild reproduziert“30 wird. Diese innenbezogene Angst entspricht keiner realen Gefahr, sondern sie wird als Platzhalter vom Ich eingesetzt, um verständlich zu machen, was sich gerade innerpsychisch unangenehm anfühlt. Es benutzt die Erinnerung an das unangenehme Gefühl, das sich bei der Realangst als Antwort auf äußere Gefahr einstellt. Die innenbezogene Angst wird zwar gefühlt, aber ihr Gehalt ist ein imaginäres Gebilde, das den innerpsychischen Spannungszustand anzeigt. Freud nennt sie neurotische Angst. Diese neurotische Angst, die keinen Realbezug hat, wird vom Ich mit Inhalten gefüllt, um sie auf eine gewisse Weise rational begreifbar zu machen. Das Ich will die eigene Psyche erklären und setzt Bilder und Symbole ein, um die Bewusstseinsvorkommnisse – hier die Angst als Ausdruck des inneren Spannungszustandes – dadurch zu interpretieren, dass eine Gefahrenquelle gesucht und zugewiesen wird. „Die neurotische Angst ist Angst vor einer Gefahr, die wir nicht kennen. Die neurotische Gefahr muß also erst gesucht werden“.31 Die Gefahrenbilder können bei Bedarf immer wieder aktiviert werden. Das Foto einer Vogelspinne reicht aus, um Schweißausbrüche zu bewirken. Die Inhalte der Symbole sind variabel, aber dass sie überhaupt geschaffen werden, ist für das Bewusstsein notwendiges Funktionsinstrument, um die Triebbedürfnisse des Es einerseits und des rationalisierenden Ich andererseits zur Geltung zu bringen. So kann Freud sagen, „daß ein Affektsymbol für die Situation der Gefahr eine biologische Notwendigkeit ist“.32 Da das Ich ständig in einem gewissen Konflikt mit dem triebhaften Es steht, kann es p ermanent ängstigende Inhalte und damit die Ängste selbst erzeugen, die dann von entsprechenden physiologischen Angstreaktionen begleitet sind. So formuliert Freud die Grundthese, „daß das Ich die eigentliche Angststätte ist“,33 da vor allem die neurotische Angst durch das Ich auf eine gewisse Weise selbst bewirkt wird, ohne dass eine äußere Bedrohungslage besteht. Zu diesen neurotischen Ängsten gehören auch die Phobien. Freud 1988 [1926], S. 139. Freud 1988 [1926], S. 214. 32 Freud 1988 [1926], S. 140. 33 Freud 1988 [1926], S. 139. 30 31
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Das Ich kann aber auch in Konflikt mit dem Über-Ich geraten. Im Über-Ich werden die normativen Vorgaben durch soziale Regeln bzw. eine Autorität verinnerlicht und strukturell verankert. Es bildet so etwas wie das Gewissen, das sich im Menschen regt, wenn er gegen die Regeln verstößt. Das Über-Ich bildet die Grundlage für die Entstehung der sozialen Angst, vor allem in der Form der Gewissensangst. Der Inhalt der Gefahr, der jetzt mit dem Modus „Angst“ beantwortet wird, tangiert alle Bereiche der sozialen Bezüge. Er reicht von Trennungsangst, Angst vor Liebesverlust, Angst vor Strafe, Angst vor Schicksalsmächten bis zur Todesangst.34 Tab. 3.1 stellt die Zuordnung von Ich-Funktion und Angstform nach Freuds Theorie im Überblick dar. Freud geht also davon aus, dass das Ich deshalb Angstsymptome nach innen ausprägt, weil es mit seinem Es und Über-Ich konfrontiert ist und in den Ansprüchen des Es nach Triebbefriedigung einerseits und der Forderung des Über-Ich nach strikter Regelbefolgung andererseits eine Gefahr für die Einheit der Psyche sieht. Das rationalisierende Ich befindet sich in dieser Konstellation jedoch in einer schwachen Position. Gerade in dieser „Abhängigkeit des Ichs vom Es und Über-Ich“ sieht Freud die Ursache von dessen „Ohnmacht und Angstbereitschaft gegen beide“.35 Doch andererseits hat das Ich auch eine gewisse Macht, nämlich die Einflüsse durch Es und Über-Ich durch Umlenkung, Uminterpretation oder Verdrängung zu bewältigen, „denn wenn das Ich nicht durch die Angstentwicklung die Lust-Unlust-Instanz wachrütteln würde, bekäme es nicht die Macht, den im Es vorbereiteten, gefahrdrohenden Vorgang aufzuhalten“.36 Gerade durch die Erzeugung vor allem der neurotischen Angst mit ihrer Richtung nach innen aktiviert das Ich die Abneigung gegen etwas in der eigenen Psyche, das als unangenehm oder belastend empfunden wird, und reglementiert damit Es und Über-Ich. Das Ich leistet dies unter anderem dadurch, dass es diejenigen Symptome, die seinen inneren Frieden stören, also beispielsweise bestimmte Triebe, mit dem Etikett „schlecht“ oder „Unlust“ versieht und so entsprechend abwertet.37 Dabei ist es die Grundfunktion des rationalen Ich, dass es immer darauf aus ist, eine innere Harmonie der Psyche Tab. 3.1 Angstformen und Komponenten des Ich nach Freud Psychische Ebene
Funktion
Typ der jeweiligen Ängste
Über-Ich
Verinnerlichung sozialer Normen
soziale Angst, Gewissensangst
Ich
Realitätsbewusstsein
Realangst
Es
biologische Triebstruktur
neurotische Angst
Freud 1988 [1926], S. 187. Freud 1988 [1926], S. 142. 36 Freud 1988 [1926], S. 192. 37 Freud 1988 [1926], S. 144–147. 34 35
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herzustellen, alle Aspekte in eine Gesamtsynthese zu bringen und alle auftretenden Symptome zu integrieren. Um die Funktion, die Freud dem Ich zuspricht, richtig einzuordnen, ist es wichtig zu verstehen, dass das Ich die Weise darstellt, wie die psychischen Gegebenheiten dem Individuum bewusst werden. Zwar sind Es und Über-Ich funktionale Ebenen, die Auswirkungen auf die gesamte Psyche und auch den Körper haben. Aber nur im Ich kommen diese Funktionen zu Bewusstsein, können sie reflektiert und eingeordnet werden. Dies gilt auch für die Angst. „Die Angst ist ein Affektzustand, der natürlich nur vom Ich verspürt werden kann. Das Es kann nicht Angst haben wie das Ich, es ist keine Organisation, kann Gefahrensituationen nicht beurteilen.“38 Angst beruht auf Bewusstsein, auf bewusster Wahrnehmung des eigenen Zustandes, und kann deshalb nur im Ich stattfinden. Freud stellt nun durchaus in Rechnung, dass die verschiedenen Ängste eine Intensität annehmen können, die ein Mensch (ein Ich) schließlich nicht mehr kontrollieren und bewältigen kann. Vor allem ist er an den neurotischen Ängsten interessiert, die so stark sein können, dass ein Individuum übermäßig und unangemessen auf eine faktische oder vermeintliche Gefahr reagiert. Das Problem der neurotischen Ängste ist ja, dass sie auch ausgelöst werden in Situationen, die gar nicht gefährlich sind. Oder es werden Reaktionen abgerufen, die früheren Gefahren entsprechen und nun unzweckmäßig sind. Inwieweit ein Ich noch in der Lage ist, die Situation zu beherrschen, stellt das Maß dar, das die gesunde von der neurotischen Angst unterscheidet. Normale Angst begleitet den Menschen sinnvoll durch das Leben. Wird aber die erzeugte Unlust-Angst zu stark, muss auch die Bewältigung versagen.39 Weil Freud davon ausgeht, dass das rationale, bewusste Ich eine gewisse Kraft der Lenkung der Psyche besitzt, hält er es durchaus für möglich und auch für erforderlich, den Umgang mit den eigenen Ängsten bewusst einzuüben. Doch ist es leider der Fall, dass es den einzelnen Individuen oft nicht gelingt, im Laufe des Lebens einen sinnvollen Umgang mit den eigenen Ängsten zu lernen. Er schätzt ein, „daß so viele Menschen in ihrem Verhalten zur Gefahr infantil bleiben“ und deshalb den Lebensgefahren nicht gewachsen sind: „solche Personen heißt man eben Neurotiker“.40 Ihnen gelingt es nicht, einen Ausgleich zwischen Ich und Es, realen und innerlich erzeugten Gefahren zu bewerkstelligen. Sie benötigen dann Unterstützung und Hilfe. Freud hat damit einige interessante Überlegungen angestellt, die deutlich machen, wie stark das Ich an der Produktion der Ängste beteiligt ist, dass es sie hervorbringen, inhaltlich verschieden bewerten und bis zu einem bestimmten Grad auch steuern kann. Die entscheidende Angstinstanz ist das bewusste Ich. So betont Freud „die Rolle des Ichs als Angststätte“, denn das Ich kann entweder direkt auf eine reale Gefahr sinnvoll mit einer Furchtreaktion reagieren Freud 1988 [1926], S. 188. Freud 1988 [1926], S. 196. 40 Freud 1988 [1926], S. 197. 38 39
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(Realangst) oder eben eine innerpsychische Gefahr identifizieren und damit eine künstliche, neurotische Angst hervorrufen, um auf das innere Ungleichgewicht aufmerksam zu machen.41 Freud hat aber nicht nur psychoanalytische Werke verfasst. Sein Interesse galt auch allgemeineren Fragen der Kulturentwicklung. So kommt er in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930) wieder auf die Angstproblematik zurück. Wie der Titel besagt, hält Freud die menschliche Kultur nicht nur für etwas Positives, sondern sie bereitet den Menschen auch Unbehagen. Sie bildet den Rahmen für die Ermöglichung des menschlichen Lebens in größeren Gemeinschaften und ist doch dabei auch eine Art Gefängnis, das von den Menschen Triebverzicht oder zumindest Triebsublimierung verlangt und dadurch Neurosen begünstigen kann. So schreibt Freud in dieser Schrift: „Man fand, daß der Mensch neurotisch wird, weil er das Maß von Versagung nicht ertragen kann, das ihm die Gesellschaft im Dienste ihrer kulturellen Ideale auferlegt“.42 Das Leben unter den Bedingungen der Kultur hat den Menschen viele Vorteile und Errungenschaften gebracht, aber dies machte sie nicht unbedingt glücklicher, so Freud, weil die Spannungen zwischen dem Ich und der Welt, aber auch die inneren Spannungen große Belastungen darstellen können. Wenn sich beispielsweise der Aggressionstrieb nicht nach außen entladen kann, weil die Gesellschaft dies sanktioniert, wird er nach innen umgelenkt. Das Über-Ich übernimmt als „Gewissen“ die Aggression und richtet sie gegen das eigene Ich. Dieser innere Konflikt, der nun entsteht, ist das Schuldbewusstsein. „Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen läßt.“43 Aber gerade aufgrund dieses Schuldbewusstsein entwickelt das Ich spezifische Ängste. Sie sind zum einen die sozialen Ängste vor äußerer Sanktionierung in der Gesellschaft, zum anderen aber auch innere Ängste vor sich selbst, vor der psychischen Selbstbestrafung. Denn das Über-Ich tritt an die Stelle der äußeren Autorität und übernimmt diese Funktion der Bestrafung. Die Gewissensangst ist die Angst vor dem unbehaglichen und manchmal sogar peinigenden Gefühl des schlechten Gewissens. Und je nachdem, wie stark dieser innere Richter im eigenen Bewusstsein entwickelt wurde, entfalten sich auch die inneren Ängste im Zusammenhang mit dem Schuldgefühl. Sie bewirken den Triebverzicht, der aber andererseits das Ich in eine Schieflage zum Es bringt. Insgesamt kann dies sogar zu einer inneren Spaltung mit krankhaften Zügen führen. Die kulturelle Lebensform des Menschen ist aus der Sicht Freuds die Ursache für die inneren Diskrepanzen zwischen Ich, Es und Über-Ich, die als psychisch leidvoll erlebt werden und sich in der Form von Ängsten bemerkbar machen. Um nun diese psychischen Herausforderungen zu bewältigen, hat der Freud 1988 [1926], S. 211. Freud 1997 [1930], S. 53. 43 Freud 1997 [1930], S. 87. 41 42
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Mensch „Linderungsmittel“ ersonnen, wobei Freud v. a. drei hervorhebt: Ablenkungen, Ersatzbefriedigungen und Rauschmittel.44 Sie sind die Möglichkeiten, die eigenen Ängste irgendwie erträglich zu machen. Aber für Freud bleiben die psychischen Ängste der Menschen (in seiner Begrifflichkeit die Angst) unter den Bedingungen der Kultur ein wesentlicher Aspekt des Menschseins überhaupt. Denn die naturhaften Triebe werden in menschlichen Gesellschaften immer eingeschränkt werden, und diese Einschränkungen werden von Menschen oft als leidvoll erlebt und in der Form von neurotischen Ängsten verarbeitet. Der gesellschaftliche Anpassungsdruck wird immer bestehen und soziale Ängste nach sich ziehen. Diese Ängste gehören deshalb zum Menschen als Kulturwesen. 3.3.2 Fritz Riemann: Grundformen der Angst als Weisen des Inder-Welt-seins Eine etwas anders gelagerte Angsttheorie lieferte der Psychoanalytiker und Psychologe Fritz Riemann. Er publizierte 1961 sein viel rezipiertes Werk Grundformen der Angst und die Antinomien des Lebens. Darin entwickelt er einen psychologischen und philosophischen Blick auf die Angst, der über die rein empirische Forschung hinausgeht. Er bewertet Angst als ein konstitutives und das Leben des Menschen prägendes Phänomen, hebt aber immer wieder hervor, dass Menschen lernen können, mit der Angst sinnvoll umzugehen. Seine Bestimmung der Bedeutung und Funktion von Angst zeigt dabei viele Parallelen zu den Sichtweisen, wie wir sie in der Existenzphilosophie finden. Riemann sieht in der Angst eine anthropologische Grundgegebenheit des Menschseins, die die gesamte Geschichte der Menschheit begleitet. Sie ist Bestandteil des Lebens und zeigt den Menschen, dass sie abhängig und sterblich sind. Zwar sind wir uns dieser prägenden Angst nicht immer voll bewusst. „Doch ist sie gleichsam immer gegenwärtig und kann jeden Augenblick ins Bewußtsein treten, wenn sie innen oder außen durch ein Erlebnis konstelliert wird. Wir haben dann meist die Neigung, ihr auszuweichen, sie zu vermeiden, und wir haben mancherlei Techniken und Methoden entwickelt, sie zu verdrängen, sie zu betäuben oder zu überspielen und zu leugnen. Aber wie der Tod nicht aufhört zu existieren, wenn wir nicht an ihn denken, so auch nicht die Angst.“45 Deshalb geht es nicht darum, die Angst bzw. die Ängste zu überwinden, sondern sie auf die richtige Weise einzuordnen, anzunehmen und Bewältigungsformen zu finden. Wie Riemann es sieht, prägt Angst demnach in jeder Zeit und jeder Kultur das menschliche Dasein. Sie ist „immer gegenwärtig“, aber wir werden erst anhand bestimmter Anlässe und Begebenheiten genötigt, ihr Aufmerksamkeit zu schenken. Die konkrete Ausformung der Angst, ihre inhaltliche Füllung, geschieht also immer an konkreten Ereignissen, die als „Auslöser“ wirken, um die Freud 1997 [1930], S. 41. Riemann 1961, S. 19.
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Angst tatsächlich wahrzunehmen. Riemanns Theorie ist dabei sehr weitreichend hinsichtlich der Dimension der Angst als einer Grundtatsache des menschlichen Welt- und Selbstbezugs. Angst ist immer da, verändert lediglich ihre kulturellen Rahmungen und individuellen Verarbeitungsmöglichkeiten. „Angst gibt es auch unabhängig von der Kultur und der Entwicklungshöhe eines Volkes oder eines Einzelnen – was sich ändert, sind lediglich die Angstobjekte, das, was jeweils die Angst auslöst, und andererseits die Mittel und Maßnahmen, die wir anwenden, um Angst zu bekämpfen.“46 Konkrete Ängste prägen sich entsprechend der jeweiligen individuellen Erfahrungen, Dispositionen und kulturellen Hintergründe aus, haben als Bedingung jedoch die menschliche Grundangst. Für diese Grundangst lassen sich Riemann zufolge vier Ausformungen unterscheiden, aus denen sich dann alle Ängste der Menschen erklären lassen. (Vgl. Tab. 3.2) Diese vier Angstformen sind von Riemann ganz grundlegend gedacht: „Es handelt sich damit letztlich um die vier Arten des In-der-Welt- Seins“.47 Mit dieser Formulierung, die direkt auf Heideggers Philosophie verweist, wird der existenzphilosophische Hintergrund von Riemanns Perspektive explizit deutlich. Die grundlegenden Angstformen entwickeln sich seiner Auffassung nach aufgrund von Forderungen, die jede Gemeinschaft an ihre Mitglieder stellt. Auf diese Forderungen reagieren Menschen mit jeweils spezifischen Formen von Angst, und zwar davor, den Forderungen nicht gerecht zu werden. Je nach Persönlichkeit kann die Angstform dabei entweder die Forderung verstärken oder sich ihr zu entziehen versuchen. Schauen wir uns Riemanns Systematik daraufhin einmal genauer an.48 1. Die erste Forderung, mit der Menschen konfrontiert sind, besteht darin, „daß wir ein einmaliges Individuum werden sollen“, uns von anderen abgrenzen, dass wir selbstständig und autonom sein sollen. Die darauf bezogene Angst besteht darin, keine Selbstständigkeit und Individualität zu erreichen. Sie ist Angst vor Selbstverlust und Unfreiheit, die Angst, Bindungen einzugehen und sich von anderen abhängig zu machen. 2. Die zweite Forderung bildet die andere Seite der Münze zur ersten Forderung, nämlich „daß wir uns der Welt, dem Leben und den Mitmenschen vertrauend öffnen“, dass wir uns als Teil einer Gemeinschaft verstehen. Hier stehen die soziale Bindung und Verantwortung im Vordergrund. Die Angst besteht in dieser Hinsicht darin, die Zusammengehörigkeit zu verlieren, sich von Bindungen lösen zu müssen, das Vertraute zu verlassen und auf sich allein gestellt zu sein. Aber sie kann umgekehrt auch darin bestehen, sich in diese Bindungen begeben zu müssen, weil dies gesellschaftlich erwartet wird.
Riemann 1961, S. 20. Riemann 1961, S. 32. 48 Die folgenden Zitate zur Systematik der Angstformen stammen aus Riemann 1961, S. 26–29. 46 47
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3. Die dritte Forderung zielt auf die Konstanz des menschlichen Tuns und besagt, dass wir „Dauer anstreben sollen“. Denn das Bestehende, Dauerhafte, Bekannte gibt Halt und Sicherheit. Etablierte und tradierte Strukturen sind berechenbar und überschaubar, sodass Menschen auf dieser Grundlage ihr Leben auf die gewohnte Weise führen können. Ihre Angst besteht „vor dem Wagnis des neuen, vor dem Planen ins Ungewisse, davor, sich dem ewigen Fließen des Lebens zu überlassen, das nie stillsteht“. Die Angst betrifft das Ungeordnete, Chaotische, den möglichen Kontrollverlust. 4. Umgekehrt lautet die vierte Forderung, „daß wir immer bereit sein sollen, uns zu wandeln“, „Vertrautes aufzugeben, Traditionen und Gewohnheiten hinter uns zu lassen“. Menschen sollen neugierig und experimentierfreudig sein, sich selbst immer wieder verändern, Neues ausprobieren und die Welt umgestalten. Die auf diese Forderung bezogene Angst sieht die Gefahr der Lähmung, des Stillstands, der Erstarrung. Sie ist die Angst davor, durch das Gewohnte, durch Regeln, Normen und Gesetze festgehalten und eingeschränkt zu werden, also letztlich die Freiheit zu verlieren. Die vier Anforderungs- und Angstformen sind so konzipiert, dass es dabei jeweils zwei Gruppen gibt, in denen sich gegensätzliche Typen gegenüberstehen: die Angst vor Abhängigkeit und Selbstverlust steht gegen die Angst vor Vereinsamung und Isolierung; die Angst vor der Veränderung hat als Gegenpart die Angst vor der Erstarrung. Dabei kann man sehen, dass die erste Gruppe die Sozialität betrifft, das Verhältnis Individuum – Gemeinschaft, die zweite Gruppe sich um das Verhältnis zu Dauer und Vergänglichkeit dreht. Den vier Grundängsten ordnet Riemann auch bestimmte Persönlichkeitsstrukturen zu. Werden diese einseitig verzerrt, entstehen neurotische Ausformungen: SchizoTab. 3.2 Soziale Forderungen, Angstformen und Neurose-Typen nach Riemann Forderung an den Menschen
Angstform
Varianten der entsprechenden Ängste Angst vor Selbsthingabe, Bindung, Abhängigkeit, Unfreiheit
Neurose- Typ schizoid
Individualität, Autonomie, Selbstbehauptung
Angst vor IchVerlust
Altruismus, Fürsorge für andere, Vertrauen zu anderen
Angst vor der Selbstständigkeit
Angst vor Ungeborgenheit, Einsamkeit, Isolierung
depressiv
Dauer, Konstanz, Kontrolle, Angst vor der Sicherheit Wandlung
Angst vor Neuerung, Chaos, Unsicherheit, Kontrollverlust
zwanghaft
Veränderung, Wandlung, Offenheit, Impulsivität
Angst vor Endgültigkeit, Unfreiheit, Routinen,
hysterisch
Angst vor der Erstarrung
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phrenie, Depression, Zwangsneurose und Hysterie.49 Das Buch behandelt diese neurotischen Psychen an vielen Beispielen, die auf Riemanns eigenen Erfahrungen aus der psychoanalytischen Praxis basieren. Riemann hat mit seiner Theorie ein interessantes Angebot zur Systematisierung der grundlegenden Ängste gemacht. Er geht von der These aus, dass Angst insgesamt eine konstitutive Seite des Menschen ist, die nicht überwunden werden kann, sich dabei aber kulturell und individuell unterschiedlich äußert. Riemann hat auch verdeutlicht, dass verschiedene Persönlichkeitstypen mit den Ängsten unterschiedlich umgehen. Die fundamentalen, den Menschen prägenden Angstformen grenzt Riemann ab von den vielen kleinen Einzelängsten, die sich auf alles Mögliche im Leben beziehen und durchaus auch als leidvoll erlebt werden können. Doch sie sind nur die Oberfläche darunterliegender grundlegender Angststrukturen. Wenn sich nun alle individuelle Aufmerksamkeit nur auf diese einzelnen, vielleicht oft auch banalen Ängste richtet, gerät die wesenhafte Angst aus dem Blick. Doch auch diese kleinen Ängste lassen sich nur bewältigen, wenn die dahinterliegenden Grundformen der Angst erkannt werden. Die neurotischen Ängste sind insofern „Alarmzeichen“, als sie anzeigen, was Menschen vermeiden wollen, statt sich damit bewusst zu konfrontieren.50 Mit großem Weitblick hebt Riemann nicht nur hervor, dass Angst zum Menschen gehört. Er sieht zugleich die Möglichkeiten, so viel innere, geistige Kraft zu entwickeln, dass die negativen Ausformungen der Angst kompensiert werden können. Doch ist es dabei stets erforderlich, Angst nicht zu verdrängen, sondern sich mit ihr auseinanderzusetzen. „Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode. Die Geschichte der Menschheit läßt immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermindern, zu überwinden oder zu binden. Magie, Religion und Wissenschaft haben sich darum bemüht. Geborgenheit in Gott, hingebende Liebe, Erforschung der Naturgesetze oder weltentsagende Askese und philosophische Erkenntnisse heben zwar die Angst nicht auf, können aber helfen, sie zu ertragen und sie vielleicht für unsere Entwicklung fruchtbar zu machen. Es bleibt wohl eine Illusion, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens unserer Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte genug zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen, sie immer wieder neu zu besiegen.“51
Riemann 1961, S. 31. Riemann 1961, S. 245. 51 Riemann 1961, S. 19. 49 50
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Riemanns entscheidender Beitrag zum Verständnis von Angst besteht vor allem in der grundsätzlichen Gesamtwürdigung der Angst, die sie nicht einfach nur als ein Gefühl unter anderen behandelt. „Hinter den vier Grundformen der Angst stehen allgemein-menschliche Probleme, mit denen wir alle uns auseinandersetzen müssen“.52 Er hat damit neben Freud eines der umfassendsten und tiefgreifendsten Angstkonzepte in der gesamten psychoanalytischen Angstforschung vorgelegt.
Riemann 1961, S. 244.
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KAPITEL 4
Furcht, Ängste, Angst in der europäischen Theoriegeschichte
Die Furcht ist biologisch die ursprünglichste der Ängstigungsformen. Mit der Herausbildung des menschlichen Bewusstseins und vielfältiger kultureller Praktiken treten die komplexeren Angstgefühle hinzu. Zugleich entwickeln sich auch allgemeinere Formen geistiger Angst, auf die sich dann vor allem unter modernen Lebensbedingungen das Augenmerk in der Philosophie ganz besonders richtet. Die grundlegenden Fragen und Probleme, um die es beim Angstphänomen insgesamt geht, beschäftigen Menschen seit Jahrtausenden. Menschen sind immer äußeren Gefahren ausgesetzt, sie sind mit der Möglichkeit von Armut, Krankheit und Tod konfrontiert. Aber in verschiedenen Zeiten, Kulturen und Theorien wurden dabei unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und die Problematiken auch verschieden bewertet. Die griechischen Atomisten entwickelten eine andere Welterklärung als die Platoniker oder Stoiker, die frühchristlichen Denker andere als die spätmittelalterlichen, die Theorien in der frühen Neuzeit haben andere Perspektiven als die Moderne im 20. Jahrhundert. In diesem Kapitel soll verdeutlicht werden, welche Beiträge zum Verständnis des gesamten Angstphänomens in seinen verschiedenen Dimensionen in der abendländischen Kulturentwicklung geleistet wurden. Dabei zeigt sich auch in der historischen Nachverfolgung, dass dasselbe Wort sehr unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Es kommt also immer darauf an, sich genau anzusehen, in welchen Erklärungszusammenhängen die jeweiligen Definitionen und Anwendungen präsentiert werden und welche kulturellen Rahmungen und historischen Konstellationen im Hintergrund stehen. So lässt sich rekonstruieren, dass allgemeine Vorstellungen davon, was Menschen ängstigt, warum sie sich ängstigen und wie sie mit ihren Ängsten umgehen können, eine lange und vielfältige Geschichte haben.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Frischmann, Angstwesen Mensch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67876-3_4
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Für das antike Denken wird die Spanne von der Mythologie über Platon und Aristoteles bis zu den Stoikern reichen. Dabei wird es um Mut im Kampf und um die Ängste mit Blick auf Sterben und Tod gehen, aber vor allem um Lebenseinstellungen, die daraufhin ausgerichtet sind, eine innere seelische Ausgeglichenheit zu erreichen. Für das christlich geprägte Mittelalter steht der Begriff der Gottesfurcht im Zentrum, der auch Aspekte geistiger Angst beinhaltet. Von ihm ausgehend wurden Überlegungen entwickelt, verwiesen sei auf Augustinus und Luther, um die verschiedenen Typen von Ängsten in ihrer Bedeutung für den Glauben zu bewerten. Mit der Neuzeit verändert sich die Perspektive, sie ist nun stärker ausgerichtet auf die weltlichen Ängste. Zugleich hat sich ein Menschenbild entwickelt, das Aspekte wie Selbstbestimmung, Formbarkeit der Persönlichkeit und Endlichkeit des Lebens beinhaltet. Der Fokus ist nun auf das Subjekt gerichtet und die Frage, ob das Leben vernünftig gestaltet werden kann. Diese Entwicklung setzt ein mit Descartes’ Reflexion über das „ich denke“ als Ausgangspunkt aller philosophischen Theoriebildung und findet ihre höchste Entfaltung in der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel. Die Umwendung des Blickes vom Verhältnis Mensch – Gott zum Selbstverhältnis des Menschen bringt auch eine vollkommen neue Perspektive auf das Angstphänomen mit sich. Dabei wird deutlich, dass die Ängste der Menschen etwas mit der Fähigkeit zu tun haben, sich reflexiv auf sich selbst zu beziehen, ein Welt- und Selbstbild zu formen. In der Moderne schließlich bilden sich Ängste heraus, die Dynamik der Veränderungen nicht mehr unter Kontrolle zu haben, weder in der Welt noch im eigenen Ich noch Halt und Stabilität finden zu können. Damit entsteht ein neues Angstbewusstsein, das nun auch der Bedeutung geistiger Angst als Welt-Angst und als Selbst-Angst sowie einer Bereitschaft zur Angst mehr Aufmerksamkeit schenkt.
4.1 Antike 4.1.1 Mythologie Die furchteinflößenden und beängstigenden Gegebenheiten in Urzeiten waren zunächst wohl die unberechenbaren Gewalten der Natur, Raubtiere oder auch andere, feindlich gesinnte Horden. Doch es entwickelten sich auch Vorstellungen von Kräften, die man hinter den Naturgewalten vermutete: Dämonen, Geister oder andere beseelte Wesen, die gutartig oder bösartig sein konnten. Solche Vorstellungen waren durchaus eine sinnvolle Leistung, denn gerade die Annahme beseelter bzw. geistiger Kräfte machte es möglich, die Natur als etwas anzusehen, das nicht einfach blind oder mit absoluter Notwendigkeit funktionierte, sondern worauf man Einfluss nehmen konnte, indem man beispielsweise die Naturgeister durch Opfergaben und bestimmte Handlungen und Rituale zu beschwichtigen versuchte. Oder es wurde befürchtet, dass die Naturkräfte und Gottheiten umgekehrt bei falschem Verhalten der Menschen zornig werden würden und Unheil über die Menschen brächten. Diese mythi-
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schen Vorstellungen von überall wirksamen magischen Kräften entwickelten sich weiter zu den verschiedenen Religionen mit ihren Gottheiten, denen die Allmacht zugeschrieben wurde, die Welt zu schaffen, sie zu lenken und auch zu zerstören, die menschlichen Schicksale zu beeinflussen und über Gut und Böse zu richten. Über die konkreten Lebensauffassungen der Menschen in den langen Zeitaltern vor der Schriftlichkeit wissen wir im Grunde kaum etwas. Erst mit der Herausbildung der Schrift liegen verlässliche Überlieferungen vor, aus denen wir ein wenig nachvollziehen können, wie das Denken vor etwa fünftausend Jahren ausgesehen haben mag. Die ältesten schriftlichen Aufzeichnungen, die nicht nur aus Einzelzeichen, sondern aus zusammenhängenden Texten bestehen, stellen entweder literarische Beiträge, wirtschaftliche Aufzeichnungen oder wie der Codex Hammurapi, der ca. 3800 Jahre alt ist, eine Sammlung von religiösen, rechtlich-politischen und moralischen Regeln dar. Seit dieser Zeit entwickeln sich auch in verschiedenen Kulturen umfassende Mythologien. In ihnen sind die über lange Zeiten mündlich überlieferten archaischen Einzelmythen in einer Art Zusammenschau und auch Systematisierung zu ersten umfassenden Weltdeutungen verbunden worden. Einzelne Mythen erklären Geschehnisse oder Bereiche der Welt auf bildliche, erzählende Weise, insbesondere durch Personifizierungen der Naturkräfte. Sie beinhalten Themen wie die Erschaffung der Welt, die regelmäßigen Abläufe der Natur, die Macht der Götter und die Entstehung des Menschengeschlechts. Aber auch Fragen der normativen Orientierung spielen eine Rolle, wenn in der Welt verschiedene Kräftepolarisierungen angenommen werden: Hell und Dunkel, Gut und Böse, Ordnung und Chaos, oft auch in personifizierten Gestalten. Und es werden Vorbilder konzipiert, die meist als übermenschliche Helden die Szenerie mitbestimmen. Zwei der ältesten überlieferten Mythologien stammen aus dem alten babylonischen Reich zwischen Euphrat und Tigris: das Athrahasis-Epos, dessen Alter auf ca. 3800 Jahre geschätzt wird, und das Gilgamesch-Epos. Die Sagen um Gilgamesch sind schon vor ca. 4000 Jahren nachweisbar. Das umfassende Epos wurde ca. vor 3200 Jahren aus den älteren Überlieferungen und durch Ergänzungen zu einer Gesamtgeschichte zusammengefügt, die auf 12 Tontafeln festgehalten wurde. Die Autorschaft wird Sîn-leqe-unnı ̄nı ̄ zugeschrieben. Die ältesten mythologischen Schriften der altgriechischen Überlieferung sind noch etwas jüngeren Datums. Homers Ilias und die Odyssee entstanden etwa vor 2800 bis 2700 Jahren. Ähnlich zu datieren sind Hesiods Werke. Seine Theogonie beschreibt die Entstehung der Welt und der Götter und ordnet die Götter in einer Art Rangfolge entsprechend ihrer jeweiligen Funktion und dem Platz im Stammbaum ein. In Hesiods Lehrgedicht Werke und Tage werden auch moralische Fragen nach dem Guten und Gerechten erörtert. Diese antiken Texte erklären in der Form von Sagen und mythischen Geschichten die Zusammenhänge im Weltgeschehen, aber sie klassifizieren und bewerten auch verschiedene menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen. So verwundert es nicht, dass ebenfalls Gedanken zum Thema Ängste und Furcht zu finden sind.
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Im Gilgamesch-Epos, in dem es unter anderem um die Kämpfe gegen verschiedene natürliche und weltliche Mächte geht, finden sich wie in allen Heldengeschichten Aspekte der Auseinandersetzung mit der Problematik von Furcht und Mut im Kampf. Doch besonderen Stellenwert haben die Ängste vor dem Tod und die Ungewissheit, was nach dem Tod mit der Seele geschieht. Gilgamesch ist König der sumerischen Stadt Uruk. Er freundet sich an mit Enkidu, der ein wildes, naturhaftes Wesen ist, aus Lehm geschaffen von der göttlichen Mutter Aruru und bestehend aus einem göttlichen und einem menschlichen Teil. Anfangs wird geschildert, wie Enkidu eine Art Menschwerdung durchläuft und sich von seiner tiernahen Vergangenheit löst. Als er auf Gilgamesch trifft als der Verkörperung des zivilisierten, städtischen Lebens, entbrennt ein Zweikampf, in dem jedoch keiner von beiden den Sieg erringen kann. Seitdem sind Gilgamesch und Enkidu unzertrennliche Gefährten. Sie bestehen gemeinsam Gefahren und ziehen miteinander in den Kampf. Enkidu spricht seinem Freund Gilgamesch Mut zu: „Dein Herz sei furchtlos“,1 und immer wieder spielt die Furchtlosigkeit im Kampf eine Rolle. Doch als beide wegen ihrer Überheblichkeit die Götter gegen sich aufbringen, beschließen diese als Strafe den Tod Enkidus, Gilgamesch aber soll weiter ohne seinen Freund leben müssen. Enkidu erkrankt und hat einen Traum, in dem er von einem Dämon in die Unterwelt verschleppt wird und Gilgamesch um Hilfe bittet: „‚Rette mich, mein Freund‘ (rief ich), aber du halfst mir nicht, Du hattest Angst“.2 Der Gilgamesch aus Enkidus Traum ängstigt sich so sehr vor der Totenwelt, dass er ihm die Hilfe verwehrt. Als Enkidu wirklich stirbt, sitzt Gilgamesch eine Woche bei ihm und beobachtet den körperlichen Verfall. „Mein Freund, den ich liebte, ist zu Erde geworden! Enkidu, mein Freund, den ich liebte, ist zu Erde geworden! Werd ich nicht auch wie er mich betten. Und nicht aufstehen in der Dauer der Ewigkeit?“3 Gilgamesch ist im Tiefsten betroffen vom Verlust des Freundes, vor allem aber peinigen ihn die Ängste vor dem Tod und die Ungewissheit dessen, was danach mit einem Menschen passiert: „Harm hielt Einzug in meinem Gemüte, Todesfurcht überkam mich“.4 Hier ist nicht nur von der seelischen Erschütterung über den Verlust des Freundes die Rede, sondern auch vom Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und den damit verbundenen Ängsten, der Todesfurcht, dem Todesgrauen. Gilgamesch versucht nun, in die Unterwelt zu gelangen und Möglichkeiten für ein ewiges Leben zu erkunden. Aber alle Versuche misslingen. Auch ihn wird das Schicksal aller Sterblichen ereilen. In Homers Ilias kommt begrifflich lediglich Furcht (griechisch: phobos) vor im Kontext des Kriegsgeschehens um Troja. Gerade im Kampf geht es um Mut oder Furcht. Aber auch die Todesfurcht als Konfrontation mit der Ungewiss Gilgamesch-Epos, dritte Tafel. Gilgamesch-Epos, siebente Tafel. 3 Gilgamesch-Epos, zehnte Tafel. 4 Gilgamesch-Epos, neunte Tafel. 1 2
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heit, was nach dem Tod folgen mag, schwingt immer mit. In der Ilias tritt Furcht auch als eine personifizierte Figur auf. Ares, der Kriegsgott, hat zwei göttliche Begleiter in seinem Gefolge: Im Kampfgetümmel bringt Phobos die Furcht, Deimos den Schrecken. Bis heute hat sich dieses Wortpaar in unserer Alltagssprache erhalten. Wir sprechen davon, dass jemand in „Furcht und Schrecken“ versetzt wurde. Von Phobos leitet sich auch das Wort „Phobie“ her. Das Wort „Panik“ hat ebenfalls seine Ursprünge in der antiken griechischen Mythologie. Dem Hirtengott Pan wurde zugeschrieben, dass er, wenn man seine Mittagsruhe störte, so laut schreien konnte, dass die Schafherden in Aufruhr gerieten und ausbrachen, also in Panik gerieten. Schon in diesen alten Überlieferungen wurden Themen behandelt, die die Menschen umgetrieben haben: das Sterbenmüssen, die Weiterexistenz nach dem leiblichen Tod, die Macht der Natur und das unergründliche Wirken der Götter, aber auch die Bedeutung von Furcht und Mut im Krieg. Diese Themen wirken weiter in der sich herausbildenden antiken Philosophie, in der aber neben den Modellen zur Erklärung des kosmischen Geschehens dann vor allem die ethischen Überlegungen zur richtigen Lebensführung in den Vordergrund treten. 4.1.2 Platon: Philosophie als angemessener Umgang mit den eigenen Ängsten In der antiken griechischen Philosophie insgesamt spielt das Angstproblem als solches keine besonders hervorgehobene Rolle. Selbstverständlich wird über Furcht und Ängste nachgedacht, wobei die Autoren den griechischen Terminus phobos für alle Aspekte von Furcht bis Angst verwenden. Bei den meisten Autoren ist die Behandlung der Ängste-Thematik eingebettet in eine moralische Perspektive. So hebt Platon hervor, dass sich der Tugendhafte nicht vor äußeren Gefahren fürchtet, sondern mutig ist, vor allem bei der Verteidigung der Heimatstadt gegenüber Feinden. In seinem Dialog Nomoi (Die Gesetze) verweist er speziell auf die Furcht bzw. Ängste, die sich beziehen auf alle „Übel, wenn wir ihrem Eintreten entgegensehen“.5 Solche Übel, also die Inhalte der Ängste, können sehr verschieden sein: schlechte Lebensumstände, Armut, Krankheit und Tod. Platons Formulierung macht dabei darauf aufmerksam, dass sich Ängste auf etwas richten, das nicht unmittelbar gegeben ist, sondern das geschehen könnte, dem wir als mögliches Übel gedanklich entgegensehen. Platon sieht dabei durchaus unterschiedliche Ausrichtungen der „Furcht“. Zum einen geht es um die Ängste vor Schaden, Schmerzen und Tod, die dazu beitragen, dass Menschen angemessen mit äußeren Gefahren umgehen, zwar mutig und entschlossen, aber dabei auch maßvoll und vorsichtig. Zum anderen zielt Platon aber auch auf soziale Ängste vor Missachtung und Ausgrenzung. Wir leben in sozialen Gemeinschaften wie Familie, Freundeskreise, Nachbar5
Platon 1988a, S. 34 (St. 646).
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schaften. Die sozialen Ängste richten sich darauf, dass wir bei Fehlverhalten gemieden und ausgegrenzt werden könnten. In diesen Ängsten geht es um Geachtetwerden und damit um den Platz in einer Gemeinschaft.6 So heißt es im Dialog Nomoi, dass „die Furcht bei den Freunden in übelen Ruf zu kommen“,7 ein wichtiges Motiv darstellt, um ein moralisch geachtetes Leben zu führen. Denn dadurch erwerben wir das Wohlwollen unserer Mitmenschen und die Zuneigung unserer Freunde. „Es muß also jeder von uns furchtlos werden und dabei doch auch wieder furchtsam.“8 Furchtlos muss man sein im mutigen Kampf gegen den Feind, furchtsam aber hinsichtlich dessen, dass man sich keinen schlechten Ruf durch eigenes Fehlverhalten erwirbt und das eigene Ansehen bei den Freunden nicht beschädigt wird. Die Furchtlosigkeit in gefährlichen Situationen lässt sich trainieren. Platon empfiehlt die Erziehung zur Furchtlosigkeit, die dadurch erreicht werden soll, dass geübt wird, Furcht bereitende Situationen zu meistern, indem die Menschen sich diesen immer wieder aussetzen und sich damit abhärten, aber jeweils immer im rechten Maß.9 Die Furcht vor Schande hingegen ist von anderer Art. Ihr kann man nur entgegenwirken durch ein dauerhaft tugendhaftes Leben. Hierfür bedarf es moralischer Erziehung und der Entwicklung einer eigenen vernünftigen Einsicht in die Idee des Guten. Es sind vor allem die Verführungen durch sinnliche und materielle Begierden, die der Tugend entgegenstehen und dem sozialen Ansehen schaden.10 Dem kann sich nur die vernünftige Seele entziehen. Ihre Einsicht hilft auch, Furcht und Ängste zu dämpfen oder gar zu überwinden. Denn die Vernunft klärt darüber auf, dass es für viele Ängste eigentlich gar keinen Grund gibt. Insbesondere betrifft dies das große Thema: den Tod. Auch dem Tod gegenüber gilt es, eine angemessene Einstellung einzunehmen, ihn richtig zu bewerten und ihm stark und tugendhaft entgegenzusehen. Ein berühmtes Beispiel für diese Haltung gegenüber Sterben und Tod gibt Platon in dem Dialog Phaidon. Darin wird geschildert, wie Sokrates, der vom Volksgericht zum Tode verurteilt worden ist, seine letzten Tage im Gefängnis verbringt, bevor das Todesurteil durch den Giftbecher vollstreckt wird. Seine engsten Freunde sind um ihn, und gemeinsam erörtern sie verschiedene Theorien über das Sterben und über das Verhältnis Körper – Seele. Für die Atomisten beispielsweise ist die Seele materiell und zerfällt wie der Körper nach dem Tod in die Atome. Sokrates hingegen argumentiert dafür, dass die Seele unsterblich ist und sich vom Körper lösen kann. Sie existiert schon vor dem Entstehen eines Menschen und wird bei Geburt in einen Körper eingepflanzt. Solange dieses irdische Leben währt, ist sie auf eine gewisse Weise in diesem leiblichen Körper wie in einem Gefängnis eingesperrt. Höchstes Glück der Seele ist Platon 1988a, S. 34 (St. 646). Platon 1988a, S. 35 (St. 647). 8 Platon 1988a, S. 35 (St. 647). 9 Platon 1988a, S. 35 (St. 647). 10 Platon 1988a, S. 38 (St. 649). 6 7
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es deshalb, nach dem Tod dieses Körpers wieder frei zu sein und zu ihrer eigentlichen Heimstatt in der Nähe der Götter zurückzukehren. Doch während ihrer irdischen Existenz in einem menschlichen Körper ist die Seele damit belastet, dass der Körper erhalten werden will. Die leiblichen Bedürfnisse sind wichtig für das menschliche Leben. Wenn sie jedoch die geistigen Interessen der Seele überlagern, wird alles auf das Körperlich-Materielle ausgerichtet. Wer ein solches Leben führt, wird den Tod fürchten, denn er bedeutet den Verlust der körperlichen Existenz mit ihren Begierden und Genüssen. Wer aber sein Leben auf das Ideelle ausrichtet, auf die höchste Erkenntnis und die Kultivierung seiner vernünftigen Seele, wird seinen Tod erwarten und begrüßen. „Alle, die sich in rechter Weise mit Philosophie befassen, haben es im Grunde auf nichts anderes abgesehen als darauf, zu sterben und tot zu sein“.11 Sterben ist also für Sokrates alles andere als angstbesetzt, sondern das größte Glück, denn die Loslösung der Seele vom Körper gilt ihm als die eigentliche Befreiung. So sind auch wahre Erkenntnis und tugendhaftes Leben nur möglich, wenn es der Seele gelingt, sich von dem Trug der Sinne und den Begehrlichkeiten des Leibes im alltäglichen Leben so weit wie möglich frei zu halten.12 Abgestützt wird diese Auffassung durch eine Art Belohnungssystem für eine vernünftige Lebensweise. Wenn ein Mensch sein gesamtes Leben lang sein Augenmerk auf die höchsten Ideen und Tugenden und nicht auf Materielles gerichtet hat, dann ist die Seele leicht und unbeschwert und kann sich gut vom Körper lösen, um zu den Göttern aufzusteigen. Wer sich aber von seinem Körper oder der Gier nach materiellen Dingen hat beherrschen lassen, dessen Seele haftet an diesem Materiellen und hat es deshalb schwer, sich ganz vom Körper zu trennen. Der Leib führt die Seele irre, wenn diese nicht ihre Unabhängigkeit vom Körperlichen bewahrt, zumindest soweit dies für die Zeit der Verbindung mit dem Körper möglich ist. Für Sokrates ist der Grund der Ängste dann auch eine schwache Seele, deren Vernunftanteil es nicht schafft, sich gegen die Leidenschaften und körperlichen Bedürfnisse durchzusetzen. Bei den Ängsten, die auf das Körperliche gerichtet sind, geht es immer um Verlust oder Gebrechen, um materielle Gegebenheiten und Abhängigkeiten. „Denn tausenderlei Unruhe verursacht uns der Körper schon durch die notwendige Sorge für seine Ernährung; stellen sich aber außerdem noch Krankheiten ein, so hindern sie uns in der Jagd nach dem Seienden. Ferner erfüllt uns der Körper mit allerlei Liebesverlangen, mit Begierden und Ängsten und allerhand Einbildungen und vielerlei Tand, kurz er versetzt uns in einen Zustand, in dem man sozusagen gar nicht recht zur Besinnung kommt.“13 Doch es ist möglich, sich gegen diese körperliche Dominanz, aus der auch die körperorientierten Ängste resultieren, durch eigene Willensstärke und Vernunfteinsicht zu behaupten. Das höchste Lebensideal besteht in der Ausrichtung der Seele auf geistige Inhalte, auf Vernunfterkenntnis des Wahren, Platon 1988b, S. 38 (St. 64). Platon 1988b, S. 40 (St. 65). 13 Platon 1988b, S. 42 (St. 66). 11 12
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Guten und Schönen. Dies ist nicht nur die Bedingung für ein tugendhaftes Leben, sondern auch dafür, dass die Ängste durchschaut und entkräftet werden können und innere Stärke und Stabilität erreicht werden. Für Platon stellt damit die vernünftige Selbstbeherrschung das entscheidende Mittel zur Bewältigung der Ängste dar. Ängste resultieren aus den körperlichen und sozialen Bedürfnissen, sind aber lenkbar und überwindbar. Eine geistige Dimension der Angst auf der Ebene der reinen, denkenden Seele ist hier nicht vorstellbar, denn die reine, vorkörperliche Seele ist von kosmisch-göttlicher Vollkommenheit. Sie ist Teil des Weltganzen, gedacht als ein gesetzmäßiges, vernunfthaftes Geschehen, das in Ewigkeit in seinen grundlegenden Verläufen immer dasselbe bleibt. 4.1.3 Aristoteles: Affekte und Tugendhaftigkeit Die gesamte klassische griechische Philosophie seit Sokrates dreht sich um die Frage nach dem guten Leben und einer vernünftigen Lebensführung. Allein der Vernunft wird die Fähigkeit zugesprochen, einen angemessenen Umgang mit den Ängsten der Menschen zu ermöglichen. Vernunfteinsicht und vernünftige Steuerung der eigenen Affekte und Gefühle ist die Voraussetzung für Moralität. Aristoteles entwickelt in seiner Nikomachischen Ethik eine umfassende Affekten- und Tugendlehre. Um zu bestimmen, was Menschen zum Handeln antreibt und wo dabei der Platz der Tugend ist, führt er eine Grundunterscheidung in drei Ebenen des Bewusstseins ein: 1. Affekte sind alle Äußerungen, die auf Lust- oder Unlustempfindungen zurückgehen: z. B. Begierde, Freude, Hass, Zorn, Mitleid, Furcht. 2. Diese Affekte können aber nur deshalb wirksam sein, weil der Mensch in seiner Psyche über naturhafte Vermögen verfügt, die den Umgang mit diesen Affekten steuern. Diese Vermögen kann man als die psychischen Grundveranlagungen jedes Menschen ansehen. Wer ein weichherziger Mensch ist, reagiert auf das Leid anderer besonders intensiv, ein hartherziger Mensch hingegen nicht. 3. Menschen verfügen aber vor allem über Vernunft, durch die sie bewusst und reflektiert Einfluss nehmen können auf ihre Affekte, Triebe und Bedürfnisse. Vernunft ist die Bedingung für Tugend, denn sie richtet das Handeln aus auf die moralisch wertvollen Ziele. Tugenden sind für Aristoteles damit „Akte der Selbstbestimmung“.14 Wie weit Menschen sich von ihrer Vernunft leiten lassen, bestimmt damit ihre Fähigkeit zu einem tugendhaften Leben. Nun ist es gar nicht so einfach, immer genau zu wissen, worin die Tugend eigentlich besteht, stellt man die vielen verschiedenen Affekte und Vermögen in Rechnung. Einige Affekte, Einstellungen und Handlungen sind für sich Aristoteles 1995, S. 33 (1106a).
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selbst gut, wie die Gerechtigkeit oder Freundschaft. Die meisten Affekte aber haben einen quantitativen Aspekt, sie können mehr oder weniger gut oder schlecht sein. Hier sollte sich die Vernunft so orientieren, dass sie die Extreme meidet und einen maßvollen mittleren Weg anstrebt. So sind beim Umgang mit Geld weder der Geiz noch die Verschwendung sinnvoll. Wo die Mitte dann aber jeweils liegt, ist nicht allgemein zu bestimmen, sondern hängt von den einzelnen Individuen ab, von ihrem Charakter, ihren Lebensumständen und der konkreten Situation. Hier soll die Vernunft abwägen und eine ausgewogene Entscheidung treffen. Wo sind nun die gefühlten Ängste einzuordnen? Auch Aristoteles verwendet das griechische Grundwort phobos, das sowohl Furcht als auch gefühlte Ängste im Sinne von Befürchtungen umfasst. Furcht wird von Aristoteles vor allem verhandelt auf der Ebene der Affekte. Zunächst ist zu fragen, worum es bei der Furcht geht, was ein Mensch fürchtet bzw. befürchtet. Das Furchterregende ist etwas, das man für sich selbst oder andere als ein Übel ansieht. Ähnlich wie Platon bestimmt auch Aristoteles die Furcht als „die Erwartung eines Übels“, sie ist eine in die Zukunft gerichtete Vorstellung von dem, was einen betreffen könnte und entspricht den gefühlten Ängsten.15 Als solche Übel benennt Aristoteles „Schande, Armut, Krankheit, Freundeslosigkeit, Tod“.16 Diese Übel sind nun aber von unterschiedlicher Qualität und Ausrichtung. Die primären Ängste vor Armut und Krankheit oder gar Tod sind ganz existenziell. Die Furcht vor Schande, vor einem negativen Ansehen oder vor Freundeslosigkeit hingegen betrifft soziale Ängste. Sie sind sogar selbst sittlich gut, weil sie dazu beitragen, ein tugendhaftes Leben zu führen. Die als Furcht beschriebenen Ängste resultieren aus einer negativen Sicht auf Widerfahrnisse in der Zukunft, also die Ängste vor einem Übel, das einen treffen könnte. Das entgegengesetzte Gefühl wäre die Zuversicht, die einen positiven Blick auf die Zukunft darstellt und beinhaltet, dass einem hoffentlich Gutes und Angenehmes widerfährt. Der richtige Ausgleich zwischen Furcht und Zuversicht, die Mitte zwischen diesen beiden Affekten, ist für Aristoteles als Tugend der Mut. Um nun den richtigen Umgang mit Furcht und Zuversicht zu finden, ist es wichtig zu sehen, dass ganz unterschiedliche Dinge für Menschen furchterregend oder ängstigend sind und dass Furcht und Zuversicht individuell sehr unterschiedliche Ausformungen annehmen können. Auch hier geht es wieder um das richtige Maß. Ein Zuviel an Zuversicht führt zu Tollkühnheit und zum Unterschätzen der Gefahr, ein Zuwenig an Zuversicht aber ist gleichbedeutend mit Feigheit. Wer zu viel Furcht hat, ist übertrieben furchtsam, wer zu wenig Furcht zeigt, ist furchtlos in einem unangemessenen Sinn, draufgängerisch und leichtsinnig. Das ausgewogene Mittelmaß, der rechte Mut, muss für jeden Sachverhalt, jede Gegebenheit, jede Handlung individuell und situativ jeweils neu gefunden werden. Dieser Mut in moralischer Hinsicht „wählt und duldet, weil es so sittlich gut und das Gegenteil schlecht Aristoteles 1995, S. 59 (1115a). Aristoteles 1995, S. 59 (1115a).
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ist“.17 Aristoteles bezieht diesen Mut auch darauf, sich den Widrigkeiten des Lebens zu stellen und nicht vor dem Übel zu kapitulieren. Aristoteles behandelt den Kontext Furcht – Mut vor allem aus moralischer Perspektive. Es geht darum, wie mit Furcht und ihrem Gegenteil, der Zuversicht, moralisch gesehen umgegangen werden kann. Notwendig dafür ist es, vernünftige Maßstäbe für das Gute zu finden und einen konstanten Habitus auszubilden, der diese Vernunftmaßstäbe verinnerlicht hat. Doch Aristoteles ist realistisch genug zu sehen, dass im Konkreten immer Abwägungen vorzunehmen sind, die nur annäherungsweise das Gute treffen. 4.1.4 Stoische Seelenruhe ohne Ängste Während für Sokrates, Platon und Aristoteles die Einbettung in die politische Gemeinschaft ein wichtiges Element für die Bestimmung eines moralischen Lebens bildete, treten in der Antike auch Theorien hervor, die die Fragen nach Moralität und einem glücklichen Leben ausschließlich vom Individuum her denken, so die Epikureer, Stoiker und Kyniker. Bei allen inhaltlichen Unterschieden geht es bei diesen drei Richtungen darum, dass der Einzelne seine Glückseligkeit (eudaimonía) nur erreichen kann durch eine gewisse Distanz gegenüber den Geschehnissen in der Welt und der Gesellschaft, in der man lebt, vor allem durch das Einüben von Gelassenheit, innerer Ruhe und emotionalem Unbeteiligtsein. Dadurch soll eine seelisch-geistige Stärke erreicht werden, durch die den Widrigkeiten des Lebens getrotzt werden kann. Die Ausrichtung auf Selbstbeherrschung durch die eigene Vernunft ist ein wichtiges Ideal der antiken Philosophie. Sie ist auch das entscheidende Mittel zur Bewältigung der eigenen Ängste, die das innere Gleichgewicht stören können. Für die Stoiker sind die beiden Hauptelemente der vernünftigen Selbstkontrolle Apathie (apátheia) und Autarkie (autárkeia). Apathie bedeutet, sich nicht von den Leidenschaften und Gefühlen leiten zu lassen, also zu lernen, apathisch zu sein, möglichst nicht emotional betroffen zu sein, sondern die Emotionen und Gefühle geistig zu beherrschen. Denn die Leidenschaften ziehen die Menschen hierhin und dorthin, treiben sie ständig an und verhindern das maßvolle Leben und die Besinnung auf das Wesentliche. Die Apathie erfordert Willensstärke und ein ständiges Bemühen um Selbstkontrolle. Nur so kann die Seele zur inneren Ausgeglichenheit kommen und wird nicht ständig in Aufruhr versetzt. Sich von äußeren Geschehnissen, materiellen Dingen und fremden Meinungen abhängig zu machen, ist „geistige Haltlosigkeit“.18 Damit ist eine selbstbestimmte Lebensführung nicht möglich. Dem steht die Forderung gegenüber, die Tugend über die Leidenschaften zu stellen, zur inneren Übereinstimmung mit sich selbst zu finden und eigene vernünftige Lebensziele zu setzen. Denn: „Ein Leben ohne Ziel findet keinen Halt.“19 Durch ein Aristoteles 1995, S. 62 (1116a). Seneca 2002, S. 132. 19 Seneca 2002, S. 308. 17 18
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solches Lebensziel gibt man dem Leben seinen Sinn. Hierfür ist Autarkie erforderlich, die Fähigkeit, aus sich selbst die Lebensinhalte zu schöpfen. Die innere Stärke der Seele erreicht man nur, wenn man sich autark von den äußeren Lebensumständen macht. Erst auf diese Weise ist es möglich, seine Seelenruhe, die ataraxía, zu erreichen. Nur sie kann als wahre Glückseligkeit angesehen werden. Denn alles Äußere lässt sich letztlich durch den Menschen niemals vollkommen beherrschen: Reichtum, Ehre, Gesundheit, sozialer Status können kommen und gehen. Geschehnisse in der Familie und politische Gegebenheiten sind niemals ohne Konflikte. Nur über die eigene Vernunft verfügt der Mensch ohne Einschränkung. Deshalb muss ihr die ganze Aufmerksamkeit gelten. Wenn man sein Leben darauf ausrichtet, eine Vervollkommnung des eigenen Geistes zu erreichen, ist dies das höchste Glück, das zu erreichen ist. Dies vermag nur derjenige, „dessen gesamten Lebensstil die Vernunft bestimmt“.20 Vernunft ist die unbestechliche Führerin für das eigene Leben, sie ermöglicht die Selbstbeherrschung, die für Glück, Zufriedenheit und Seelenfrieden notwendig ist. Durchdacht und empfohlen werden geistige Strategien, die die Menschen dabei unterstützen, sich selbst zu kontrollieren und sich von den eigenen Bedürfnissen, aber auch Ängsten, nicht dominieren zu lassen. Hierzu gehören solche Formen wie Askese, Kontemplation, Abhärtung und Selbstbesinnung. „Mein Geist soll sich nun ganz in sich selbst vergraben, sich nur seinem Selbst widmen, sich durch nichts ablenken lassen […] und allein die tiefe Ruhe lieben“.21 Nur die starke Selbstbeherrschung verdient Respekt. Die furchtsame, ängstliche Seele ist lächerlich, weil schwach und kleinmütig. Ängste entstehen dann, wenn man die Kontrolle über das zu verlieren befürchtet, was einem im Leben besonders wichtig ist, wenn mögliche Bedrohungen nicht ausgeschaltet werden können. Die Reichen sorgen sich um ihren Reichtum, die Regierenden befürchten den Verlust ihrer Ämter, ihrer Macht und ihres Einflusses, die Gesunden ängstigen sich vor Krankheiten und Schmerzen, Verliebte können es schwer ertragen, dass ihre Liebe nicht erwidert oder hintergangen werden könnte, Eltern sorgen sich um das Wohl ihrer Kinder. In den Ängsten werden die eigenen Wünsche und Defizite sichtbar. Ängste schüren Misstrauen gegenüber anderen und vergiften den Umgang mit den Mitmenschen. Vor allem beschädigen Ängste die eigene Seele, sie erniedrigen sie, weil sie sich von Äußerlichkeiten gefangen nehmen lässt. Tapferkeit hingegen besteht darin, sich auf alle Unwägbarkeiten einzustellen und sich von dem, das man nicht selbst beherrschen kann, unabhängig zu machen, indem man alles Materielle und Weltliche als unwichtig für das eigene Leben ansieht. Damit schwinden auch die Ängste. Sie verlieren einfach ihre Angriffsfläche. Die Selbstbeherrschung und Leidenschaftslosigkeit, um die es den Stoikern geht, drücken wir noch heute aus, wenn wir eine Lebenseinstellung „stoisch“ nennen. Sie gilt auch als angemessene Haltung dem Tod gegenüber, denn die Seneca 2002, S. 89. Seneca 2002, S. 127.
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Seelenruhe trägt dazu bei, die Ängste vor dem Tod zu beschwichtigen. Eine ganze Reihe von Aspekten führt beispielsweise Seneca an, um die Todesfurcht zu entkräften: Der Tod ist ein natürlicher Vorgang, man sollte ihn akzeptieren und annehmen und dem Dahinscheiden nicht zu viel Bedeutung beimessen. Sein ganzes Leben lang sollte man sich auf den Tod vorbereiten, denn dass er kommen wird, ist gewiss. Seit der Geburt ist jeder Tag des Lebens ein Schritt auf das Sterben hin, also sollten wir jeden Tag lernen, uns vom Leben zu lösen. Zudem hat die Gewissheit des Todes auch eine wichtige Funktion für unser Verhältnis zu materiellen Besitztümern, denn sie verlieren angesichts dieser Tatsache, dass jeder Mensch sterblich ist, ihre vereinnahmende Kraft. Materieller Besitz dient der Erhaltung des Lebens, aber er ist nichtig angesichts des Todes. Todesfurcht ist feige und unehrenhaft, erst ein würdiges Sterben zeichnet ein ehrenvolles und tugendhaftes Leben aus und vollendet es. Zu einem solchen würdevollen, tugendhaften Sterben gehört durchaus auch, dass es uns jederzeit freisteht, das eigene Leben zu beenden, wenn es gute Gründe dafür gibt. Wichtig ist die richtige Lebensmaxime, unterstützt durch die entsprechende philosophische Haltung, um angemessen mit der Einsicht in das notwendige Sterben umgehen zu können. So kann Seneca dann auch sagen: „Den Tod will ich ansehen wie ein Lustspiel.“22 Eine solche Position ist nur möglich, wenn nicht von einer Weiterexistenz der Seele nach dem irdischen Tod ausgegangen wird. Die Stoiker vertreten eher eine materialistische Seelenlehre. Noch weiter zugespitzt findet sich dieser Materialismus bei den Atomisten, zu denen Demokrit und Epikur zählen. Ihrer Lehre zufolge ist alles in der Welt zusammengesetzt aus kleinsten Teilchen, den Atomen. Dies gilt auch für die Seele. Mit dem Tod zerfällt sie und die Atome gehen ein ins kosmische Gesamtgeschehen, dem ewigen Bilden und Auflösen der atomaren Verbindungen. Sich vor dem Tod zu fürchten, ist dann nur ein Hadern mit der eigenen Endlichkeit, denn Ängste davor, was mir nach dem Tod im Jenseits oder der Unterwelt bevorstehen könnte, machen keinen Sinn, wenn es kein Jenseits und keine Unterwelt gibt. Nach Epikur war es eine wichtige Lebensaufgabe, ein gutes Leben und möglichst viel Lebensfreude dadurch zu erreichen, dass man sich gegen Leidenschaften, Schmerzhaftes, die Furcht, die Ängste wappnet. Die Ängste sind für den Menschen dabei vor allem bezogen auf den Tod und die Götter. Beide Arten von Ängsten lassen sich durch rationale Überlegungen überwinden. Denn Epikur zufolge sind die Götter, falls es sie überhaupt gibt, ohne Interesse am Menschen, sie greifen nicht in das irdische Geschehen ein, brauchen deshalb auch nicht gefürchtet zu werden. Und der Tod ist deshalb für den Menschen irrelevant, weil der Zustand nach dem Tod nicht mehr erlebt wird. Epikur schreibt: „So ist also der Tod, das schauervollste Übel, für uns ein Nichts; wenn wir da sind, ist der Tod nicht da, aber wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr“.23 Erwünschter
Seneca 2002, S. 108. Epikur 1988, S. 55.
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Zustand ist wie bei den Stoikern die ataraxía, der Seelenfrieden, die innere Ausgeglichenheit und Harmonie mit sich selbst. Die antiken Philosophen sind sich der psychischen Wirkung der Furcht und Ängste wohl bewusst, doch sie sind nicht das dominierende Thema ihres Philosophierens. Sie sind der ethischen Frage nach einer tugendhaften und gelingenden Lebensweise untergeordnet, die je nach Schwerpunktsetzung auf das Wohlergehen der sozialen Gemeinschaft, die eigene Selbstkultivierung und das Erreichen von individueller Glückseligkeit, die eudaimonía, ausgerichtet ist. Für alle Philosophen aber, die hier zu Wort kamen, sind Ängste und Furcht meist negativ belegt. Sie sind das, was Menschen klein macht und stört, was sie an materielle Werte und leibliche Bedürfnisse bindet. Jegliches Ausrichten des Lebens auf vergängliche Güter ist immer mit Ängsten verbunden, weil deren Bewahrung niemals allein in der eigenen Macht steht, sondern von äußeren Umständen abhängig ist. Ängste haben demnach etwas mit dem Gefühl der Ohnmacht gegenüber den möglichen Widerfahrnissen in der Welt zu tun. Im Kontrast dazu werden die geistigen Anstrengungen hervorgehoben, um die Ängstlichkeit und Furcht zu überwinden. Das eigene Leben und auch das Sterben sollen ehrenhaft und vernunftgeleitet sein. Man soll die äußeren Güter gering schätzen, weil man sie immer nur behaftet mit vielen Ängsten besitzen kann. Nur die innere Ruhe, die Seelenruhe, geleitet durch eine starke Vernunft, kann ein wirkliches Gegengewicht zu den vielen Ängsten darstellen, die die Menschen in ihrer leiblich-seelischen Existenz befallen können.
4.2 Christliche Theologie: Gottesfurcht und Angst vor der Sünde Sicherlich kann davon ausgegangen werden, dass die Ängste der Menschen vor all dem, was unverständlich, unerklärbar, verstörend ist oder was Fragen der Weltorientierung und des eigenen Lebenssinns betrifft, ein wichtiger Grund sind, warum überhaupt solche Gebilde wie magische Kulte, Göttermythen und später Religionen entstanden. Denn das Bedürfnis nach spirituellem Halt kann im Glauben, im Vertrauen auf etwas Göttlichem, das größer und mächtiger ist als der Mensch, befriedigt werden. So glaubte man, dass die Götter durch Opfergaben und entsprechende Rituale bei Laune zu halten seien, dass man sie milde stimmen und Unterstützung für bestimmte Vorhaben erbitten könne. Doch die Macht der Götter war auch ein fundamentaler Grund von diversen Ängsten. So glaubten sich die Menschen in einer Welt vieler Götter deren unvorhersehbarem Willen, aber auch deren Launen ausgeliefert. Das eigene Schicksal, hinter dem man die Götter vermutete, schien undurchschaubar und unberechenbar. Mit der Herausbildung der monotheistischen Religionen änderte sich die Vorstellung von Gott fundamental. Der eine und alleinige Gott war nun Inbegriff der Vollkommenheit und Allmacht, der Wahrheit und des Guten. Als Schöpfer der Welt und der Menschen hat er das Gesamtgeschehen in seiner Hand. Er wird einerseits zum absoluten Vorbild und moralischen
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Gesetzgeber, andererseits aber auch zum Richter über die Lebensführung jedes Menschen am Lebensende. Sah man in der antiken griechischen Philosophie ein gutes, gelingendes und glückliches Leben vor allem in die Verantwortung der eigenen Vernunft gestellt, gehen die Religionen davon aus, dass allein der Glaube und das entsprechende gottgefällige Leben verbindlicher Maßstab für alles Denken, Wollen und Tun des Menschen sein können. In der jüdisch-christlichen Religion prägt sich dabei ein Verhältnis zu Gott aus, das als Gottesfurcht gefasst wird. Mit diesem Begriff der Gottesfurcht werden die beiden Seiten des Göttlichen zugleich angesprochen: moralisches Ideal, aber auch strafender Richter in einem Jüngsten Gericht. Denn auf der einen Seite bedeutet die demütige Gottes-Furcht eine positive Haltung, die gleichbedeutend ist mit der „Ehrfurcht“, der Ehrung Gottes. Auf der anderen Seite geht es aber angesichts der Macht Gottes über die Menschen und die Welt überhaupt auch um eine Gottes-Furcht, um die tatsächlichen Ängste vor Gottes Zorn und um die Ungewissheit, ob man beim jüngsten Gericht auserwählt und des Paradieses für würdig befunden oder verdammt und in die Hölle geschickt werden würde. Schaut man sich das Alte und Neue Testament an, wimmelt es vor allem im Alten Testament von Textstellen, in denen von der Furcht vor Gott die Rede ist und vor allem Gott selbst diese Furcht bewusst erzeugt. Dabei gibt es eine sehr breite Spanne von Wortstämmen im Hebräischen, die den Wortsinn von Furcht, Schrecken, Angst, Erschrecken usw. zum Ausdruck bringen. Damit wird auch eine große inhaltliche Breite sichtbar. Religiös entscheidend ist aber der mehrschichtige Begriff der Gottesfurcht. So wird sehr häufig der Gott genannt, der die anderen Völker und die Ungläubigen in Furcht und Schrecken versetzt, denn seine Macht ist so groß, dass er Fürchterliches zu bewirken imstande ist. Und er kann das von ihm auserwählte Volk so stark machen, dass alle anderen Völker sich vor ihm fürchten. Den Gläubigen aber gilt die immer wiederkehrende, aufmunternde Formel: „Fürchtet euch nicht!“, vertraut auf Gott als dem Gerechten und Gnädigen. Fürchtet euch nicht vor Gott selbst, denn er wird für sein Volk sorgen. Und fürchtet euch nicht vor den Feinden, denn Gott wird sie vernichten oder zumindest seinen Anhängern die Kraft verleihen, die Feinde zu besiegen. Auch finden sich viele Textstellen, die die Gottesfurcht im Sinne der Ehrung Gottes ansprechen. Denn Gott ist das Gute, die Weisheit und die Vollkommenheit. „Siehe, die Furcht des Herrn, das ist Weisheit, und vom Bösen weichen, das ist Einsicht!“ (Hiob 28,28) Wer Gott ehrt (fürchtet), nähert sich diesen Idealen an. „Dem Herrn, eurem Gott, sollt ihr nachfolgen und ihn fürchten und seine Gebote halten und seiner Stimme gehorchen und ihm dienen und ihm anhängen.“ (5. Mose 13,5) Die Gottesfurcht ist jedoch immer auch ausgerichtet darauf, dass die Menschen angehalten werden, nicht zu sündigen. Als Mose dem Volk am Berg Sinai Gottes Gebote verkündete und Gott es dabei Donnern und Blitzen ließ, „bekam das Volk Angst“. Mose beruhigte daraufhin das Volk: „Fürchtet euch nicht! Gott ist gekommen, um euch auf die Probe zu
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stellen. Die Furcht vor ihm soll über euch kommen, damit ihr nicht sündigt.“ (Exodus 20,19–20) Das Konzept der Gottesfurcht zielt insgesamt nicht nur auf die religiös ausgerichteten Ängste der Menschen als Erziehungsmittel zu einem gottgefälligen Leben. Es ist auch im Sinne der geistigen Angst eine bestimmte Sichtweise, in der das Verhältnis Mensch – Gott auf prinzipielle Weise gefasst ist. In der Gottesfurcht wird deutlich, dass es eine unüberbrückbare Kluft zwischen einerseits dem Absoluten, der Transzendenz, der Allmacht Gottes und andererseits der Endlichkeit und Fehlbarkeit des Menschen gibt, die den Menschen immer auf eine gewisse Weise unverständlich und unüberbrückbar ist. Genau dies innerlich, gedanklich zu erfassen, ist Gehalt einer individuellen Angst im Geiste. So ist es auch naheliegend, Gottesfurcht mit Wahrheit oder Weisheit in Verbindung zu bringen. Neben der Gottesfurcht kennt die Religion auch die irdischen Ängste der Menschen in ihrem alltäglichen Leben. Alle diese Aspekte werden später vor allem unter dem lateinischen Begriff timor zusammengefasst, der ins Deutsche mit Furcht übersetzt wurde. Im Lateinischen gab es aber für das große Begriffsfeld von Befürchtungen, Grauen, Schrecken bis zur allgemeineren Sorge und Angst auch weitere Termini wie metus (Besorgnis, Angst), sollicitudo (Bekümmertheit), pavor (Angst der Feigen), angor (Angst), anxietas (Angst, Kummer), cura (Sorge) und terror bzw. horror (Schrecken). Auch hier wird wieder deutlich, dass es nicht um das Wort geht, das verwendet wird, sondern um das, was inhaltlich damit gefasst wird. Den religiösen Hauptbegriff bildet aber timor, bezogen auf die Gottesfurcht.24 4.2.1 Angstkonzepte in der christlichen Theologie von Augustinus bis Mittelalter Einer der herausragenden Autoren des Christentums ist Augustinus (354–430), der als bedeutendster der sogenannten Kirchenväter gilt, weil er einen wesentlichen Beitrag zur Vereinheitlichung und Durchdringung (man könnte auch sagen: Dogmatisierung) der christlichen Lehre geleistet und damit für etwa tausend Jahre die gesamte mittelalterliche Philosophie und Theologie geprägt hat. In seinem Werk finden sich auch die ersten wegweisenden theoretischen Erörterungen zum Thema Angst und Furcht im christlichen Kontext. Er behandelt Furcht (timor) als zentralen Aspekt der Gläubigkeit. Dabei steht der Begriff der Gottesfurcht (timor dei) im Mittelpunkt. Sie ist einerseits Ehrfurcht gegenüber Gott, eine geistig-religiöse Haltung Gott gegenüber, aber auch Furcht davor, sich schuldig zu machen. Diese Schuld kann eine weltliche sein und von Furcht vor Strafe (timor servilis) bei moralischen und rechtlichen Vergehen begleitet sein, aber auch eine heilige oder keusche Furcht (timor castus) dahingehend, Gott im eigenen Glauben und Tun nicht gerecht zu werden. 24 Die Informationen zur mittelalterlichen und dann neuzeitlichen Behandlung der Furcht stammen vor allem aus Dietz 2009.
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Letztere ist die Furcht vor dem Verlust der göttlichen Liebe und Gnade, vor dem Alleinsein und Nichtgeborgensein, würde Gott sich abwenden. Zwar ist die Furcht vor Strafe bei weltlichen Vergehen (timor servilis) eine minderwertige Form von Furcht, aber auch sie trägt etwas zur Rechtschaffenheit bei, denn sie kann als eine Einübung angesehen werden, im Umgang mit den Mitmenschen nicht zu sündigen. Je mehr der Mensch lernt, sich an die Regeln und Gesetze seines Landes zu halten, desto näher kommt er damit auch einem gottgefälligen Leben. Die Nähe zu Gott im Glauben wird erreicht durch die Liebe zu Gott. Sie ist Ehrfurcht, Gottesfurcht im positiven Sinn und gibt den Menschen Halt und Kraft, um die alltäglichen Ängste zu überwinden.25 Augustinus sieht durchaus, dass Furcht eine erzieherische und heilsame Wirkung haben kann. Sie ist schmerzhaft, aber hilft – wie eine bittere Arznei bei Krankheit – den eigenen Glauben zu festigen und die Verirrungen auszumerzen. Sich der eigenen Furcht zu stellen, bedeutet damit, sich selbst in der eigenen Gläubigkeit weiterzuentwickeln. Die Grundunterscheidungen, die Augustinus vorgenommen hat, werden das gesamte Mittelalter beibehalten und mit fortschreitender Entwicklung der christlichen Theologie weiter ausgearbeitet und konkretisiert. Am Furchtbegriff von Augustinus wird sehr gut deutlich, dass die einzelnen Furchtarten auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind und unterschiedliche Funktionen haben. Die weltlichen Furchtarten kann man dabei als die konkreteren Ängste ansehen, die die Menschen im normalen Leben begleiten. Die auf Gott bezogene Furcht hingegen, timor servilis, betrifft Ängste von allgemeinerer und umfassenderer Art, die durchaus auch im Sinne einer geistigen Angst gedeutet werden können. Denn hier geht es weniger um Ängste als Gefühle mit ihren körperlichen Symptomen, sondern um die religiöse Grundhaltung zu Gott im Generellen. In der weiteren Ausformung der theologischen Theorien wird die Aufmerksamkeit immer stärker darauf gerichtet, dass die Furchtarten nicht in einem Gegensatz stehen, sondern dass eine kontinuierliche Entwicklung von der niederen zur höheren Furcht möglich ist. Es tritt nun aber auch die Frage in den Vordergrund, was der Einzelne tun kann, um der Furcht, im Sinne der eigenen religiösen Ängste, Rechnung zu tragen. Die Antwort zielt auf die Buße, die vor allem zwei Aspekte beinhaltet: zum einen den Vollzug nach außen im Zusammenhang der Sakramente und der Beichte, in der Vermittlung durch den Priester; zum anderen als innere Reue. Entsprechend wird zwischen äußerlicher, minderwertigerer Reue aus Furcht (attritio) und der wahren Reue aus voller Gläubigkeit und Liebe zu Gott (contritio) unterschieden.26 Das Spätmittelalter vertieft diese Abgrenzung, sie wird allerdings unterschiedlich bewertet. Die eine Traditionslinie sieht die oberflächliche Reue, die attritio, als Weg der weiteren Entwicklung durchaus positiv. Die Vertreter der anderen Traditionslinie, z. B. Wilhelm von Ockham, akzeptieren nur die wahre Reue, Vgl. Dietz 2009, S. 34–42. Vgl. Dietz 2009, S. 52.
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die contritio. Für die erste Position ist dabei eher die Hoffnung auf die göttliche Barmherzigkeit kennzeichnend, während die zweite Position die innere Selbstarbeit betont. Für alle Gläubigen aber stellt sich mit ihrem Bemühen um die wahre Gottesfurcht eine weitere Art von Furcht ein, nämlich die Befürchtung, der göttlichen Gnade nicht gerecht zu werden, die sich bis zur tiefsten Verzweiflung am eigenen Ungenügen steigern kann. Die grundsätzliche Heilsungewissheit und die damit verbundenen Versagensängste bedürfen ihrerseits eigener seelsorgerischer Zuwendung. Die Menschen suchen nach seelischer Entlastung von der im Glauben geforderten permanenten psychischen Anstrengung der Frömmigkeit. Diese Entlastung kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, von der Erzeugung tiefster Zerknirschung und Reue bis zum beruhigenden Trost, von der inneren Läuterung durch Gebet über gute Taten in der Welt bis hin zur Absolution in der Beichte. Und nicht vergessen werden darf beim Blick auf die Genese des Christentums von den Anfängen über das Mittelalter bis weit in die Neuzeit, dass das konkrete Leben der Menschen getragen war von einem dualistischen Weltbild, in dem sich das Gute und das Böse, Himmel und Hölle, Gott und Teufel als Antipoden gegenüberstanden. Das Bemühen um Gottesfurcht und den wahren Glauben hieß also zugleich, sich vor den Gefährdungen durch das Böse zu schützen. Und diese Ängste vor dem Bösen wurden durchaus von der Kirche geschürt, um den Menschen die Bedeutung des wahren Glaubens möglichst eindringlich nahezubringen. Das Leben der Menschen war durchdrungen von Ängsten vor dem Teuflischen, von dem man meinte, dass es mit den subtilsten Mitteln versuche, die Menschen zur Sünde zu verführen. Die Denk- und Lebenswelt des Mittelalters war bevölkert mit unzähligen Gehilfen des Teufels, mit Geistern, Dämonen, Hexen und Zauberern. Die tiefe Furcht vor den alltäglichen Anfechtungen und dem Verlust des Heils war überall präsent. Und stellenweise steigerten sich diese Ängste so weit, dass es zu Exzessen der Teufelsaustreibung, der Hexenverfolgung oder Pogromen gegenüber denjenigen Personen oder Bevölkerungsgruppen kam, die man für eingetretenes Unheil verantwortlich machte. Zur Annahme des Teufels gehört auch ein Wirkungsort, die Hölle. Die Vorstellungen von einer Unterwelt oder Hölle, in die die toten Seelen wandern, gab und gibt es in vielen Kulturen und Religionen, sicherlich ein Indiz für das tiefe Bedürfnis, sich das Weiterleben der Seelen nach dem irdischen Tod bildlich auszumalen. Diese Unterwelt war oft auch verbunden mit der Funktion, das gelebte Leben zu bewerten und die Verfehlungen zu bestrafen. Die Hölle wurde so als der Ort konzipiert, an dem die schlechten Seelen für ihre Vergehen büßen sollten, wo sie aber auch die Chance bekamen, sich durch Schmerzen, Fegefeuer oder andere Bewährungen von den Sünden zu reinigen. Die Hölle wurde aber vor allem im Christentum zum Inbegriff dessen, wovor man sich fürchten soll, nämlich zum Ort unvorstellbarer Höllenqualen. Zwar wurden in der früheren Zeit des Christentums auch Lehren entwickelt, die eine Versöhnung mit Gott nach dem Tod für alle Menschen annahmen. Diese wur-
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den jedoch Mitte des 5. Jahrhunderts verboten. Der christliche Kanon sah in der Hölle den Ort der ewigen Strafe und Verdammnis, der mit schlimmsten infernalischen Bildern illustriert wurde. Die inhaltliche Spannweite des Begriffs der Furcht (timor) reicht also von den konkreten Ängsten im alltäglichen Leben bis hin zu den tief sitzenden Ängsten vor der Macht des Bösen, vor Verdammnis und Hölle, vor der eigenen Sündigkeit, vor dem Gottesgericht und findet seine höchste Funktion in der Gottesfurcht. Von Anfang an sind dabei mit dem Begriff der Gottesfurcht verschiedene Funktionen verbunden. Zum einen ist es die glaubensmoralische Seite der Ehrfurcht und des Gehorsams Gott gegenüber, die dazu motivieren, ein gottgefälliges, frommes Leben zu führen, im Sinne der göttlichen Gebote zu handeln und sich auf diese Weise – positiv gesehen – Gott anzunähern. Zugleich ist in der Gottesfurcht auch die negative Seite der Furcht vor Gottes Strafe mitgemeint. Diese Aspekte der Furcht im Gesamtzusammenhang des Glaubens überlagern etwa tausend Jahre lang alle anderen Ebenen und Aspekte des Angstkontextes. Doch dabei ist hervorzuheben, dass die vor allem religiös ausgerichtete Furcht, die im heutigen Wortsinn die Ängste und Angst mit umfasst, auch schon im Mittelalter als ein grundlegendes Wesensmerkmal des Menschen angesehen wurde. Aus Sicht des Christentums befallen Furcht und Ängste den Menschen letztlich deshalb, weil er sich als endliches, fehlbares, konstitutiv sündiges Wesen immer im Zustand der Ungewissheit und Bedrohtheit befindet. Bis zum Tod und dem dann erwarteten Gottesgericht kann sich niemand wirklich der göttlichen Barmherzigkeit und Gnade sicher sein. Der gläubige Mensch muss sich damit zutiefst verunsichert fühlen und kann sich im Kontext der Erbsünde niemals wirklich frei von Sünde wissen. Dieser psychischen Spannung begegnet die katholische Kirche dadurch, dass sie auch Praktiken entwickelt, die die Furchtlast zu mindern versuchen. So können begangene Sünden durch Beichte und Buße wieder getilgt werden, z. B. durch gute Taten, aber auch durch Geldspenden. Damit verbindet sich dann aber auch mehr und mehr die Vorstellung, dass die Strafe für Sünden durch entsprechende Akte der Kirche und ihrer Würdenträger erlassen werden könne, dass von ihr abgelassen würde, der sogenannte Ablass. Diese Ablassidee verselbstständigt sich schließlich so weit, dass man dann schließlich meinte, die Gnade kaufen zu können. Der Ablasshandel floriert und ruft immer wieder Kritiker auf den Plan, unter ihnen prominent auch Martin Luther, der die Möglichkeit eines solchen Ablasses überhaupt in Frage stellt. 4.2.2 Martin Luther: Gottesfurcht und Gnadenhoffnung Luther führt die Diskussion der Furchtproblematik intensiv fort. Dabei steht für ihn weniger die theoretische Systematisierung im Fokus. Vielmehr geht es ihm darum, die Furcht (in ihrer Dimension der Ängste und auch als geistige Angst) in ihrer grundsätzlichen Bedeutung für den Menschen zu verstehen und einzuordnen, die konkrete lebenspraktische und psychologische Dimen-
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sion und religiöse Bedeutung der Furcht zu verdeutlichen. So ist für Luther klar, dass Furcht ganz unterschiedliche Ausrichtungen aufweisen kann, entweder orientiert auf das Irdische oder auf das Göttliche. Zugleich verwendet er als Abgrenzungsbegriff zu Furcht als timor oft auch die Begriffe horror oder terror, die dazu dienen, Dimensionen des Schreckens, des Überfallenwerdens von tiefer Ängstlichkeit und Panik oder auch die Gottesferne der Gottlosen zu fassen.27 Für Luther steht dabei außer Zweifel, dass der Mensch ein zutiefst gefährdetes Wesen ist, ohne letzte religiöse Sicherheit. Der Mensch kann niemals davon ausgehen, dass es ihm gelingen könnte, nicht zu sündigen, und dies wird in der Furcht bewusst. Die Furcht hat dabei insofern eine positive Funktion, als sie dem Menschen dabei hilft, diese prinzipielle Gefährdung zu erkennen. Sie ist Indikator der möglichen Sündigkeit und unverzichtbares Hilfsmittel der Zuwendung zu Gott. Wer sich in religiöser Sicherheit wiegt, ist dadurch schon im Zustand der Sünde, weil er das Verhältnis des Menschen zu Gott falsch einschätzt. Wer aber die eigene Sündigkeit annimmt, versteht die eigene Situation und die Größe der Barmherzigkeit Gottes.28 Luthers Kritik gilt dabei auch Tendenzen der Kirche und der seelsorgerischen Praxis, die eine religiöse Sicherheit vermitteln wollen (wie im Ablasshandel), damit jedoch die Entfernung von Gott nur vergrößern. Überschaut man Luthers Furcht-Theologie, lassen sich verschiedene Ebenen und Funktionen der Furcht unterscheiden: Furcht vor Strafe, Furcht vor weltlichen Versuchungen und körperlichem Schmerz, Krankheits- und Todesfurcht, Furcht vor der Anfechtung aufgrund des eigenen Ungenügens, Furcht davor, dass die eigene Liebe zu Gott nicht wahrhaftig und groß genug ist, Furcht vor dem Zorn Gottes und dem Gottesgericht und natürlich auch die Furcht vor der Hölle als Kehrseite der Gottesfurcht. Diese Furchtarten, die nach der von mir hier im Buch verwendeten Begrifflichkeit das gesamte Feld Furcht – Ängste – geistige Angst betreffen, werden immer wieder hinsichtlich ihrer Funktion für die eigene Läuterung und den Weg zu Gott erörtert. Luther geht davon aus, dass die Furcht mit dem Wesen des Menschen zu tun hat, denn wenn die Furcht so tief im Menschen verankert ist, muss sie als wahre Gottesfurcht ihren guten Sinn haben, sonst hätte Gott den Menschen nicht mit diesem intensiven Furchtvermögen ausgestattet. Zugleich muss es Wege geben für die Furchtbewältigung. Insbesondere beschäftigt Luther die Frage, wie die Furcht vor dem Zorn bzw. der Strafe Gottes mit der Vorstellung von der Güte und Liebe Gottes zu vereinbaren sei. Worauf darf man im Glauben hoffen, wenn die Furcht die tiefste Erschütterung und Verunsicherung anzeigt? Luther versucht eine Deutungsperspektive zu eröffnen, die von der Furcht nicht zur Verzweiflung, sondern zur Hoffnung auf das Seelenheil führt. Dazu muss der Mensch aber Buße tun, die eigene Sündigkeit erkennen und demütig dem Urteil Gottes entgegensehen.29 Aber es gibt auch den Hinweis auf eine andere Dietz 2009, S. 87–91. Dietz 2009, S. 92–97. 29 Dietz 2009, S. 110–115. 27 28
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mögliche Perspektive, nämlich sich der Furcht nicht zu unterwerfen, sondern ihr mit „Trotz und Mut“ zu begegnen, was aber religiös gesehen von Gott entfernt.30 Insgesamt bleibt der Mensch für Luther ein durch und durch zwiespältiges Wesen, in dem Furcht und Hoffnung, Sünde und mögliche Gnade miteinander höchst spannungsvoll verbunden sind, ohne dass diese Spannung jemals aufgelöst werden könnte. Diese innere Spannung, die bis zum tiefsten Seelenkonflikt reichen kann, wird vom Menschen als innere seelische Unruhe, als Ungenügen und als Gefährdung erlebt. Das Bewusstsein dieser inneren Gespaltenheit kann im späteren Begriffssinn durchaus als geistige Angst verstanden werden. Ohne dass Luther eine terminologische Unterscheidung zwischen Furcht, Ängsten und Angst macht, könnte man doch hier schon Ansätze dieser Differenz sehen, die dann von Sören Kierkegaard Mitte des 19. Jahrhunderts explizit entwickelt wird, durchaus mit der Kenntnis der lutherischen Lehre im Hintergrund. Bis es dahin kommt, ist aber noch ein Entwicklungsschritt zu gehen, der weniger die Theorien zu affektiver Furcht – gefühlten Ängsten – geistiger Angst betrifft, sondern ein Denkgerüst bereitstellt, das nicht mehr Gott, sondern das menschliche Subjekt ins Zentrum der Betrachtung stellt und damit den gesamten theoretischen Fokus ändert. Dies lässt sich in der Herausbildung der neuzeitlichen Philosophie seit dem 17. Jahrhundert nachzeichnen. Die Entwicklung setzt ein mit Descartes’ Reflexion über das „Ich denke“ als Ausgangspunkt aller philosophischen Theoriebildung und findet ihre höchste Entfaltung in der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel und Schelling. Diese Umwendung des Blickes vom Verhältnis Mensch – Gott zum Selbstverhältnis des Menschen bringt auch eine umgewendete Perspektive auf das Angstphänomen mit sich. Der Fokus richtet sich jetzt auf das reflexive Verhältnis des Menschen zu sich selbst.
4.3 Die Entstehung eines neuen Weltbildes: Neuzeit und Aufklärung Nach rund tausend Jahren Vorherrschaft der christlichen Weltauffassung in Europa beginnt sich etwa im 14./15. Jahrhundert mit Renaissance und Humanismus eine neue Denkweise auszuformen, die sich Schritt für Schritt von den Grundannahmen des mittelalterlichen Weltbildes löst. Dieser als Neuzeit gefasste Epoche werden die drei bis vier Jahrhunderte bis zum Ende der Aufklärung um etwa 1800 zugeordnet, bevor sich dann ab dem 19. Jahrhundert mit der rasanten Entwicklung von Wissenschaft und Technik, neuen Lebensvorstellungen und vielfältigeren sozialen Möglichkeiten die heutige Moderne Bahn bricht. Der Übergang zur Neuzeit bringt fundamentale und langwierige Umbrüche, Krisen und Erschütterungen mit sich. Tiefgreifende Wandlungen sind für Menschen immer verunsichernd und von Ängsten be Dietz 2009, S. 3.
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gleitet, weil sie die bisher gewohnten Lebensweisen und Orientierungsmaßstäbe in Frage stellen. Diese Ängste werden unterschiedlich inhaltlich aufgeladen, wobei nicht nur die individuellen Erfahrungen der Menschen, sondern auch die politischen, weltanschaulichen und ökonomischen Einflüsse eine wichtige Rolle spielen. Bildete im Mittelalter die christliche Religion die beherrschende Orien tierungsmacht in Europa, treten nun mit der Diesseitsorientierung der Renaissance, den Forschungsinteressen in Naturwissenschaften und Medizin, dem Vernunftrationalismus der Aufklärung, liberalen politischen Ideen und auch einem neuen Kunstverständnis alternative Weltsichten hinzu. Die christliche Religion bleibt allerdings weiterhin für die Mehrzahl der Menschen die wichtigste Orientierungsinstanz, aber sie erhält Stück für Stück Konkurrenz. Wurde ursprünglich in Europa die christliche Religion auch mit Mitteln der Gewalt als verbindliche Religion durchgesetzt, stoßen nun auch andere Religionszugehörigkeiten und sogar der Atheismus auf Akzeptanz oder zumindest Toleranz. Damit finden Wandlungsprozesse statt, in denen Altes und Neues miteinander um die Vorherrschaft ringen. Mit der Reformation und der Entstehung des Protestantismus verändert dabei auch das Christentum seine Gestalt. Im Zuge der Säkularisierung verliert die Kirche an Macht, denn die Staatspolitik wird nun von der Religionsgebundenheit befreit. Dies geschieht nicht reibungslos. So wehrt sich die christliche Kirche gegen neues oder abweichendes Denken zunächst durch Verfolgung und Inquisition. Die Spaltung der christlichen Westkirche in Katholizismus und Protestantismus wird zudem zur wesentlichen Ursache für den verheerenden Dreißigjährigen Krieg und die in verschiedenen Territorien aufflammenden religiösen Konflikte. Vor allem mit der religionskritischen Aufklärung und ihrem Angebot einer weltanschaulichen Alternative unabhängig von der Religion, mit der Betonung von Vernunft, Rationalität, Wissenschaft, von Menschenrechten und Liberalismus, verändert sich auch der Ort der psychischen Ängste. Dass Menschen in ihrem alltäglichen Leben Furcht oder Ängste vor diesem und jenem haben, betrifft jedes Zeitalter. Der Stellenwert für die Lebensgestaltung allerdings nimmt andere Bedeutungen an. Für alle Gläubigen bleibt selbstverständlich weiterhin die Gottesfurcht in allen ihren Facetten entscheidend. Doch es entwickelt sich ein aufgeklärter Atheismus, für den nur noch weltliche Ängste im Fokus stehen, die Ängste vor Krankheit und Tod, vor dem Verlust von Vermögen und Ansehen, vor den Schicksalsschlägen des Lebens. Mit dem Bedeutungsverlust von Religion bilden sich aber auch allgemeinere Ängste aus. So befürchten viele das gänzliche Zusammenbrechen der Moral und der Gesellschaft, wenn die Menschen nicht mehr an Gott glauben. Und sie sehen angstvoll einem gänzlichen Sinnverlust im Leben entgegen. Es entsteht das Schreckgespenst des Nihilismus, des Verlustes oder gar der Leugnung aller Werte. Andere malen sich Szenarien der Strafe Gottes aus bis hin zum Weltuntergang, wenn sich die Menschen von ihm abwenden. Zudem deutet sich an, dass die Vorstellung vom Menschen als einem autonomen Subjekt mit den Ideen von Freiheit, Selbstbestimmung, gleichen Rechten und eigenen Gestaltungsmöglichkeiten neue
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Formen von Ängsten mit sich bringt, die etwas mit dem Bewusstsein der Last der Verantwortung zu tun haben. Sie werden sich dann vor allem ab dem 19. Jahrhundert noch einmal qualitativ steigern und verdichten und Formen annehmen, auf deren Grundlage das Verständnis geistiger Angst herausgearbeitet werden wird. 4.3.1 Das neue Weltbild: Uhren und Automaten In der Antike haben Menschen ihren Platz in der Welt viel stärker fatalistisch und deterministisch bestimmt gesehen als heute, im Alltag, weil sie sich die Götter als Lenker ihres Schicksals vorstellten, philosophisch, weil sie von einem naturgesetzlich organisierten Kosmos ausgingen, in dem in großen Kreisläufen alles Geschehen ewig sich wiederholt. Es gibt demnach keine Höherentwicklung, die Welt ist, wie sie ist. Entsprechend geht es darum, das unabänderliche Wesen der Welt zu begreifen und entsprechend das eigene Leben sowie Politik, Gesellschaft, Kunst dieser Welt anzupassen. Auch in den großen monotheistischen Religionen des Judentums, Christentums und Islam wird das Weltganze, verstanden als die Schöpfung Gottes, als in sich vollkommen, unveränderlich und ewig angesehen. Es markiert den Übergang zu Renaissance und Neuzeit, dass sich das Weltund Menschenbild grundlegend ändert. Das Naturverständnis ist dabei zunächst vor allem ein physikalisch-mechanistisches. Etwa seit dem 17. Jahrhundert erscheint das Weltganze wissenschaftlich gesehen als ein großer Automat, dessen Stabilität auf unabänderliche Naturgesetze zurückgeführt wird. Die physikalische, materielle Welt wird als eine Art Uhrwerk vorgestellt, in dem alle Rädchen harmonisch ineinandergreifen und die Prozesse gleichförmig ablaufen wie in einem Perpetuum mobile. Die Bewegungen der einzelnen Teile beruhen demnach auf der Wirkung von mechanischen Kräften, die in ihrem Gesamtquantum immer dieselbe Größe aufweisen. Jede Gegebenheit soll aus dem Wirken dieser Kräfte vollständig erklärt werden können. An die Stelle des alles hervorbringenden und bewegenden, aber in seinen Absichten undurchschaubaren Gottes ist der eigengesetzliche Naturmechanismus getreten. Und diejenigen, die den christlichen Gott in seiner Funktion als Schöpfer retten wollen, sehen in ihm den Uhrmacher, der die Welt genau als dieses große, in sich vollkommene Uhrwerk geschaffen hat. Doch die Orientierung auf eine wissenschaftliche Denkweise hat auch noch eine andere wichtige Funktion: Sie fordert aufmerksame Beobachtung der Natur, Experimente und eigenständiges kritisches Denken, anstatt blinden Gehorsam. Sie verlangt Wissensdurst und Neugier, statt Glauben. Aber auch für die Bereiche der Gesellschaft, Politik, Wirtschaft sollen nun die Gesetzmäßigkeiten gefunden werden, die allem zugrunde liegen, so wie die Naturgesetze den Weltmechanismus bestimmen. Der englische Philosoph Thomas Hobbes beginnt sein berühmtes Werk Leviathan (1651), in dem er seine politische Theorie entfaltet hat, mit folgender Überlegung: Gott hat die Natur mit höchster Kunstfertigkeit geschaffen. Alle Gegebenheiten, auch alle
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Lebewesen, selbst der Mensch, funktionieren auf ähnliche Weise. Sie sind so etwas wie Automaten, die durch mechanische Vorgänge bewegt werden. Diese göttliche Kunstfertigkeit kann sich der Mensch als Vernunftwesen abschauen und so zum Konstrukteur des Staates werden, dessen einzelne Glieder, Organe und Handlungen analog funktionieren wie der menschliche Organismus: Die Seele des Ganzen bildet die politische Idee der Souveränität, die Vernunft findet sich in den staatlichen Gesetzen, Richter und Beamte bilden die Gelenke, die Funktion der Nerven wird ausgeübt durch Belohnung und Strafe. Dieser mechanisch gedachte Organismus kann leben, wenn er Sicherheit und Zusammenhalt des Volkes gewährleisten kann, wenn alle Teile gut zusammenarbeiten. Bürgerkrieg hingegen bedeutet den Tod dieses Staatsgebildes.31 Hobbes geht in seiner Theorie davon aus, dass der Mensch zwar Vernunftwesen ist und deshalb moralische Normen erkennen und befolgen kann, dass er aber auch von seinen Begierden, Leidenschaften und Gefühlen getrieben wird. Deshalb ist ein Staat notwendig, der durch Gesetze und Institutionen einen Rahmen gibt, um die Abweichungen von der Vernunft zu kontrollieren. Wenn ihm dies gut gelingt, kann er ein funktionierendes Gemeinwesen errichten. Der Idee der Gestaltbarkeit der Gesellschaft entspricht die Vorstellung davon, dass auch die menschliche Persönlichkeit formbar ist. 4.3.2 Das neue Menschenbild: Formbarkeit und Autonomie Schauen wir noch einmal zurück in die Philosophie der griechischen Antike. Hier gilt die Seele als das Lebensprinzip überhaupt, das bei den jeweiligen Arten unterschiedlich ausgeprägt ist: nur vegetativen Funktionen bei Pflanzen, Gefühle auch bei Tieren und beim Menschen schließlich zudem Vernunft. Die Vernunft ist die Komponente, die eine bewusste Lebensführung ermöglicht, die auf die anderen Seelenteile formend Einfluss nehmen kann, die damit auch in der Lage ist, wie im Kapitel über die antike Philosophie (Abschn. 4.1) schon angesprochen, mit den eigenen Ängsten umzugehen. Daneben gibt es jedoch die Vorstellung davon, dass Seelen einen göttlichen Ursprung haben und mit einem vorgeprägten Schicksal, einem individuellen Wesenskern, ausgestattet sind. Damit kann man seit der Antike zwei Grundmodelle für die Beschreibung des Menschen identifizieren, die auch in der weiteren Entwicklung immer wieder als Erklärungsmuster verwendet werden: das statische Wesensmodell und das dynamische Formungsmodell. Bezogen auf das Menschenbild könnte man auch entsprechend von einer geschlossenen und offenen Anthropologie sprechen. Speziell das Wesensmodell wird weitergeführt im Christentum und prägt das christliche Denken über Jahrhunderte, denkt man an die Prädestinationslehre, wonach das jeweilige menschliche Schicksal durch Gott vorherbestimmt sei. Das Formungsmodell hingegen, das sich auch schon in der Antike findet, wenn es um die Fähigkeit der Vernunft geht, das eigene Leben bewusst zu führen, tritt vor allem seit der Neuzeit, verstärkt dann aber mit der Aufklärung Hobbes 1996 [1651], S. 5.
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und Moderne seinen Siegeszug an. Es verstärkt sich so weit, dass in der Moderne schließlich eine Zuspitzung dahingehend erfolgt, dass das menschliche „Selbst“ als wesenlos, unbestimmt, veränderlich und formbar gilt. Hier kann man sogar von einem Kontingenzmodell des Selbst sprechen. Von diesen Sichtweisen sind nun aber auch die Ausprägungsarten von gefühlten Ängsten und geistiger Angst direkt betroffen. In Europa hat sich nach dem langen christlich dominierten Mittelalter das Formungsmodell nur sehr langsam gegenüber dem Wesensmodell durchgesetzt. Frühes Zeugnis einer Sichtweise, die eher die Unbestimmtheit und Formbarkeit betont, finden wir schon im 15. Jahrhundert, im Humanismus der Renaissance. Pico della Mirandola stellt in einem zunächst unveröffentlichten Text von 1486, der später den Titel De hominis dignitate (Über die Würde des Menschen) erhielt, die Selbstbildung ins Zentrum. In einem fiktiven Dialog mit Adam lässt er Gott folgendes sagen: „Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht eine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst […], damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst.“32 Dagegen wird die überwiegende Mehrheit der Menschen noch lange daran festhalten, dass die Seele von Gott geschaffen wurde und dass Gott den Lebensweg eines Menschen bestimmt. Wichtig für Neuzeit und Aufklärung ist aber, dass nun überhaupt vom Menschen ausgehend gedacht und argumentiert wird. So beginnt philosophisch gesehen das neuzeitliche Denken damit, dass René Descartes für die Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit sicheren Wissens nicht mehr bei der Unbezweifelbarkeit Gottes ansetzt, sondern bei der Fähigkeit zu zweifeln. Dieser Zweifel verbürgt aber eines mit Gewissheit, nämlich die Fähigkeit des Ich zu zweifeln, also einen Denkakt (Ich denke) zu vollziehen. Kant stärkt diese Herangehensweise später dadurch, dass er von einer Umwendung der philosophischen Fragerichtung ausgeht: Um zu wissen, wie die Welt beschaffen ist, müssen wir zunächst fragen, wie der menschliche Erkenntnisapparat funktioniert, mit dem wir uns der Dingwelt zuwenden und unsere Weltsicht strukturieren, wie das Ich im „Ich denke“ dieses Denken vollzieht. Die Notwendigkeit der Erforschung des Subjekts selbst, die für die Antike einen großen Stellenwert hatte, durch das Mittelalter aber verloren gegangen zu sein schien, schiebt sich nun wieder in den Vordergrund. Nur in der Beschäftigung mit uns selbst können wir etwas darüber erfahren, wie wir denken, fühlen und entscheiden, was Vernunft, freier Wille und Moralität bedeuten. Diese Konzentration des Blicks auf die Beschaffenheit des Subjekts steht auch im Zusammenhang mit der Entstehung eines bürgerlichen Selbstbewusstseins, wenn es darum geht, an der Gestaltung von Politik und Gesellschaft aktiv teilzunehmen. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die die politischen Mirandola 2001 [1486], S. 9.
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Verhältnisse, vor allem auf den Stellenwert des absolutistischen Herrschaftsmodells. Eine absolute Macht, die ihre Position auf Abstammung oder auf Gott zurückführt, lässt sich nun nicht mehr vor allen Menschen rechtfertigen. Die Herrschaft der Monarchie und des Adels, die Grundlagen von Feudalismus und Leibeigenschaft werden Stück für Stück in Frage gestellt. Auch die streng hierarchisch gegliederte Ständeordnung, in der der Platz des Einzelnen von vornherein vorgegeben war, bekommt tiefe Risse. Das aufstrebende Bürgertum entwickelt Ideen von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen, von ihrem Recht auf eine eigene Lebensgestaltung. Es erkämpft sich in revolutionärem Aufbegehren das Recht auf politische Mitbestimmung und größere wirtschaftliche Spielräume, die vor allem die Entwicklung einer vielfältigen, offenen städtischen Kultur befördern. Seit dem Siegeszug des mechanistischen Denkens ab dem 17. Jahrhundert sind dann aber auch Positionen auf dem Theorie- und Meinungsmarkt vertreten, die auch den Menschen mit seinem Bewusstsein eher als einen mechanischen Automaten ansehen. Erst im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Blütezeit der Aufklärung, setzt sich mehr und mehr die Denklinie, die ein offenes und formbares Ich annimmt, durch. Insbesondere die einflussreichen Vertreter der klassischen deutschen Philosophie, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, bestimmen als Hauptfunktion des Subjekts die eigene, selbstbestimmte Aktivität. Alle substanziellen Komponenten, alle Wesenseigenschaften und erst recht die Vorstellung von einer unsterblichen Seele als Kern dessen, was Ich oder Selbst genannt wird, sind überflüssig geworden. So schreibt Johann Gottlieb Fichte 1798 in seiner Sittenlehre: „Das vernünftige Wesen, als solches betrachtet, ist absolut, selbständig, schlechthin der Grund seiner selbst. Es ist ursprünglich, d. h. ohne sein Zuthun, schlechthin nichts: was es werden soll, dazu muss es selbst sich machen, durch sein eigenes Thun.“33 Das Ich als Vernunftwesen muss sich also durch eigene, selbstbestimmte Aktivität erst seine Persönlichkeit erschaffen. Und jede neue Aktivität des Bewusstseins verändert dabei wieder das Welt- und Selbstbild. Das Ich ist damit unaufhörlich in einer Art Umstrukturierung begriffen. Es gibt dementsprechend immer nur das momentane „Ich“ als Summe aller konkreten Aktivitäten, aber kein substanzielles Ich, das eine feste Wesenhaftigkeit hätte. Deshalb vermeidet Fichte auch, von Seele zu sprechen. Mit dieser aufklärerischen Betonung der Freiheit, Selbstformung und damit verbundenen Verantwortung für das eigene Handeln gewinnt das Thema Furcht, Ängste, Angst nun andere Inhalte als in der christlichen Lehre. Die starke Ausrichtung auf die Gottesfurcht wird langsam umgebaut und schließlich überwunden. Wenn nun keine äußere Autorität mehr über das eigene Leben Macht besitzt, gewinnt vor allem die Innenperspektive ein vollkommen neues Gewicht. An die Stelle der Ausrichtung der Seele auf Gott und die Hoffnung auf ein jenseitiges paradiesisches Leben nach dem Tod treten nun die Sterblichkeit, das irdische Leben und die Orientierung an den eigenen Lebens Fichte 1971 [1798], S. 50.
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vorstellungen und Werten. Die Ängste betreffen dabei nicht nur die weltlichen Widerfahrnisse und Übel, sondern werden mit der Reflexion der eigenen Persönlichkeit verbunden. Das Ich selbst wird zum Gegenstand der Ängste und ihrer Bewältigung, denn jegliche von außen vorgegebene Normativität – z. B. in der Gestalt Gottes oder einer absoluten sozialen Ordnung – verliert ihre Verbindlichkeit. Dem Ich wird nun die gesamte Verantwortung für die eigenen Lebensentscheidungen zugemutet. Und mit der daraus resultierenden Eigenverantwortung treten auch andere Ängste auf, die etwas mit dem neu erworbenen Freiheitsbewusstsein zu tun haben: Entscheidungsängste, Überforderungsängste, Versagensängste, Selbstängste. Doch auch diese Einsicht muss erst reifen. Sie führt dann zu den radikalen Angstkonzepten der an der menschlichen Existenz ausgerichteten Philosophien von Kierkegaard bis Sartre. Für die Systeme der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel wird das Verständnis der Angstproblematik durch die Orientierung auf die Autonomie und Reflexivität des Menschen vorbereitet, aber hier noch als beherrschbar gedacht durch die orientierende und normsetzende Kraft der Vernunft. 4.3.3 Immanuel Kant: Temperament, Charakter und Vernunft Immanuel Kant (1724–1804) ist vor allem an einer Analyse der Bewusstseinsfunktionen interessiert, um zu ermitteln, wodurch das Handeln angetrieben wird und welche Lenkungsmöglichkeiten der Vernunft auch gegenüber Affekten und Gefühlen zugesprochen werden kann. In seinem erst spät entstandenen Werk Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) gibt er eine Übersicht über die grundlegenden Fähigkeiten, die den Menschen kennzeichnen. Dabei ist besonders von Interesse, welche dieser Fähigkeiten naturgegeben sind und welche Vermögen mit freier Entscheidung, vernünftiger Lebensführung und damit der Möglichkeit moralischen Handelns zusammenhängen. Die analysierten Vermögen, die das menschliche Verhalten und Handeln bestimmen, sind in Kants Systematik die Folgenden: 1. Jeder Mensch bringt eine natürliche Veranlagung mit, Kant nennt sie Naturell.34 2. Auf der Ebene der Gefühle spielen die jeweilige konkrete Lebensein stellung, die Gemütsverfassung und „Sinnesart“35 eine Rolle, die die Ausrichtung und Heftigkeit der Gefühle bestimmen. Kant bezeichnet sie auch als „Temperamente des Gefühls“.36 3. Die entscheidende Handlungsanleitung erfährt der Mensch aber durch die Vernunft. Sie ist die Instanz der Moralität. Die Bewertung der „Denkungsart“ eines Menschen unter dem Gesichtspunkt der Moralität Kant 1983 [1798], A 256. Kant 1983 [1798], A 256. 36 Kant 1983 [1798], A 258. 34 35
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definiert seinen Charakter.37 Kant verwendet hier den Begriff des Charakters im engeren Sinn zur Kennzeichnung der moralischen Einstellung eines Menschen. Wenn die Vernunft dauerhaft wirksam ist, prägt sich beim Menschen schließlich ein stabiler Habitus aus, der so etwas wie einen gefestigten Charakter darstellt. Auf der Grundlage dieser Typologisierung kann nun Kants Behandlung der Furchtproblematik nachvollzogen werden. In seiner Terminologie ist Furcht der Allgemeinbegriff, der alle Unterarten, also auch den Schreck, die Ängste, die Angst usw. umfasst. Im § 74 seiner Anthropologie heißt es: „Bangigkeit, Angst, Grauen und Entsetzen sind Grade der Furcht, d.i. des Abscheues vor Gefahr.“38 Kant weist hier also darauf hin, dass es verschiedene „Grade“ der Furcht gibt, die jeweils unterschiedliche Reaktionsweisen erfordern. Auf der Grundlage der subjektiven Bewertung der Gefahr richtet eine Person dann aufgrund dieser Bewertung individuell ihr Handeln aus. Welche Reaktionsweise auf Gefahr möglich und sinnvoll ist, hängt von der Art der Gefahr ab. Je nach Gefahrentyp kann die Furchtreaktion entsprechend der Vermögensebenen – Naturell, Temperament, Charakter – unterschiedlich erfolgen, entweder 1. rein affektiv-körperlich, wobei das eigene Naturell eine wichtige Rolle spielt, 2. in der Form von Gefühlen oder 3. auf der Grundlage der Vernunft und der eigenen Charakterstärke. Dabei ist für Kant die entscheidende Frage, wie der Umgang mit den Furcht- und Angstarten in moralischer Hinsicht einzuordnen ist. Dafür ist zu prüfen, wieviel vernünftige Reflexion an der Reaktion beteiligt ist. Schauen wir uns die Furchtebenen und die Verhaltensoptionen, die Kant erörtert, etwas genauer an. Zunächst sind die affektiven Aspekte der Furcht zu klären. Ein Affekt ist Kant zufolge eine „Überraschung durch Empfindung“, die die „Fassung des Gemüts“ aufhebt.39 Der Affekt überfällt den Menschen direkt und unmittelbar, sodass er keine Zeit hat, überlegt zu reagieren. Doch dass die Natur in den Menschen die Anlage zu Affekten eingepflanzt hat, „war Weisheit der Natur, um provisorisch, ehe die Vernunft noch zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen“.40 Kant verweist hier explizit darauf, dass die Affektausstattung sinnvoll ist, damit ein Lebewesen schnell und direkt reagieren kann, wohingegen die rationale Verarbeitung im Denken Zeit braucht. Die unmittelbarste affektive Reaktion auf eine Gefahr stellt der Schreck dar. „Der Schreck ist plötzlich erregte Furcht, welche das Gemüt außer Fassung bringt.“41 Die Schreck-Reaktion tritt unerwartet ein, ergreift den Menschen direkt, ist aber wie jeder Affekt auch schnell wieder vorüber. Dabei laufen vor allem direkte körperliche Vorgänge ab. Wie man jeweils individuell reagiert, wie stark einen Kant 1983 [1798], A 266. Kant 1983 [1798], A 210. 39 Kant 1983 [1798], A 204. 40 Kant 1983 [1798], A 206–207. 41 Kant 1983 [1798], A 209. 37 38
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der Schreck treffen kann, hängt dabei vor allem vom jeweiligen individuellen Naturell, also der Schreckhaftigkeit, ab. Positiv gesehen kann hier eine naturgegebene Unerschrockenheit oder Furchtlosigkeit dazu beitragen, Schreckerlebnisse gut verarbeiten zu können. Hierzu zählt Kant, beherzt zu sein, also nicht zu furchtsam. Diese Herzhaftigkeit ist die Voraussetzung dafür, nicht so schnell zu erschrecken, und ist mitgeprägt von der Art des Temperaments eines Menschen, die auch die Furchtgefühle beeinflusst. Dem Gefühl können Furchtarten wie Grauen und Bangigkeit zugeordnet werden. Die gefühlsmäßigen Reaktionen auf Gefahr oder vorgestellte Gefahr ist dabei mitbestimmt von subjektiven Komponenten wie der Lebenseinstellung, der „Sinnesart“, der emotionalen Ausrichtung des Temperaments. Die einen Menschen sind ängstlicher, die anderen beherzter und widerstandsfähiger. Herzhaftigkeit, Beherztheit, ist eine Temperamentseigenschaft.42 Doch neben diesen subjektiven Dispositionen verfügen Menschen über kognitive Fähigkeiten, auf Gefahr „mit Überlegung“43 zu reagieren und so den Ängsten bewusst zu begegnen. Die Furcht als Gefühl (die gefühlten Ängste) bewegt sich zwischen persönlichen Anlagen, Gemütsverfassung und geistiger Selbststeuerung. Kant geht davon aus, dass der Mensch in der Lage ist, die Gefühlsebene der Furcht durch Vernunft zu erreichen. Wenn es der Vernunft gelingt, die Entstehungsgründe der Bangigkeit zu reflektieren und das eigene Handeln nicht von der Ängstlichkeit und Bangigkeit dominieren zu lassen, beweist die betroffene Person charakterlichen Mut. Wie weit dies einem Menschen gelingt, ist der Gradmesser für die Beurteilung seiner Charakterstärke. Dabei erinnert Kant auch an das stoische Ideal der Ataraxia, der inneren seelischen Kraft und Ausgeglichenheit. Wer sein Leben vor allem unter die Leitung der Vernunft stellt, wem eine dauerhafte Lebenseinstellung des Mutes und der Selbstbestimmung gelingt, hat den vernünftig-moralischen Habitus der Tapferkeit ausgebildet. Tapferkeit wäre damit eine Steigerungsform des Mutes. Tapferkeit und Entschlossenheit sind Bewältigungsformen derjenigen Furchtform, die eine allgemein-geistige Dimension hat, die Verzagtheit. Dabei ist interessant, dass Kant hier neben dem konkreten vernünftigen Umgehen mit Gefahr noch eine weitere Bewertungsebene anspricht, den Habitus. Im Habitus haben sich die eigenen Auffassungen von dem, was moralisch geboten ist, als eine dauerhafte kognitive Struktur verfestigt. Ein Habitus, der sich an der Tugendhaftigkeit ausrichtet, ist ein stabiler moralischer Ratgeber, der die Vernunft in jeder Einzelentscheidung unterstützen kann. Die drei Ebenen der Furchtabwehr oder Furchtresilienz lassen sich folgendermaßen mit Kant zusammenfassen: „Herzhaft ist der, welcher nicht erschrickt; Mut hat der, welcher mit Überlegung der Gefahr nicht weicht; tapfer ist der, dessen Mut in Gefahren anhaltend ist.“44 Die erörterten Zusammenhänge zwischen den Furchtarten, den individuellen Reaktions- und Verarbeitungsmöglichkeiten und beteiligtem Bewusstseinsvermögen des Menschen in Kants Theorie sind in Tab. 4.1 im Überblick zusammengestellt. Kant 1983 [1798], A 211. Kant 1983 [1798], A 209. 44 Kant 1983 [1798], A 211. 42 43
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Tab. 4.1 Systematik der Furchtarten mit den zugeordneten Subjektdispositionen und Bewältigungsmöglichkeiten nach Kant Arten der Furcht
Furchtebene Subjektdisposition
bewusste Formen der Furchtlosigkeit Unerschrockenheit, Beherztheit
Schreck
Affekt
Naturell
Ängste (z. B. Bangigkeit, Grauen, Entsetzen)
Gefühl
Temperament, Formung des Gefühls, Sinnesart, Lebenseinstellung
Beherztheit, tugendhafter Mut aus Vernunftgrundsätzen
Verzagtheit
Vernunft
gefestigter Charakter als Habitus, Denkungsart
dauerhafte Tapferkeit
Kant unterscheidet also zwischen der zufälligen, vor allem affektiv ausgetragenen Furchtform, dem Schrecken, der seelisch-gefühlten Dimension von Furcht in verschiedenen Ängsten bis zur inhaltlich unbestimmten Bangigkeit und schließlich einer ausgeprägten geistigen Angst, der Verzagtheit. Auf diese verschiedenen Furchtformen kann auch nur jeweils auf ihrer Wirkungsebene angemessen reagiert werden. So ist die Beherztheit eben „bloß Temperamentseigenschaft“. Der Mut hingegen „beruht auf Grundsätzen und ist eine Tugend. Die Vernunft reicht dem entschlossenen Mann alsdann Stärke, die ihm die Natur bisweilen versagt.“45 Der mutlosen Verzagtheit kann man entsprechend auch nur durch Vernunft in einer eigenen Art von Tapferkeit als einer habituellen „Tugendstärke“46 begegnen. Die in der Vernunft begründete Moralität ist für Kant das höchste zu erreichende Ziel im Leben, auch für den Umgang mit der Furcht. Dabei spielt die bewusste, vernünftige, durch die eigene geistige Kraft zu leistende Formung des persönlichen Charakters eine besondere Rolle, denn sie ermöglicht es, die gefühlten Ängste zu kontrollieren und der Perspektive der Verzagtheit als einer Art Angst im Geiste etwas entgegenzusetzen. Dabei steht im Vordergrund die Hoffnung, dass Menschen in der Lage sind, eine tugendhafte Lebenseinstellung und eine vernünftige Weltund Selbstsicht zu entwickeln und auf deren Grundlage ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Kants Konzept ist getragen vom Grundgedanken der Mündigkeit und Autonomie. Mit der eigenen Freiheit vernünftig umzugehen, ist für die gesamte klassische deutsche Philosophie ein wesentlicher Kerngedanke, in dem die Verantwortung für das eigene Leben hervorgehoben wird. Vernünftige Selbstbestimmung und Charakterformung bilden dabei entscheidende Kapazitäten, um auch auf Furcht und Ängste Einfluss nehmen zu können, um die Gefühle und Gedanken inhaltlich im Sinne einer vernünftigen Sicht- und Lebensweise auszurichten.
Kant 1983 [1798], A 212. Kant 1983 [1798], A 212.
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4.3.4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Angst als Fähigkeit des Selbstbewusstseins Einen etwas anderen Fokus als Kant setzt Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Während Kant vor allem eine moralische Perspektive eingenommen hat, geht Hegel der Frage nach der Bedeutung von Furcht (hier wären in heutigem Begriffsverständnis die gefühlten Ängste gemeint) für die Funktionsweise des Bewusstseins und für das menschliche Selbstverständnis nach. Auch er sieht in der „Furcht“ den Oberbegriff, „Angst“ hingegen bezeichnet eher die konkrete, augenblickliche Furcht. Dabei sind zwei Aspekte von Hegels Überlegungen besonders hervorzuheben. Zum einen untersucht Hegel, welche Beziehung zwischen Mensch (Subjekt) und Gegenstand oder Situation im Fall der Furcht besteht. Er zeigt auf, dass Furcht eine Art innere Spannung darstellt, die sich aus dem spezifischen Bezug auf etwas in der Welt bezieht. Diese Spannung entsteht daraus, dass der Mensch sein Interesse auf etwas richtet, dieses Interesse aber zugleich gestört wird. So schreibt Hegel: „Bei der Furcht z. B. ist eine Existenz vorhanden, für welche das Subjekt Interesse hat, zugleich aber das Negative nahen sieht, das diese Existenz zu zerstören droht, und nun beides, dies Interesse und jenes Negative, als widersprechende Affektion seiner Subjektivität unmittelbar in sich findet.“47 Hegel hebt also hervor, dass in der Furcht (den Ängsten bzw. der Angst) zwei gegenläufige Momente aufeinandertreffen und zu einer inneren Spannung führen: einerseits das Interesse an etwas und andererseits das Bewusstsein der Möglichkeit, dass das, dem mein Interesse gilt, bedroht oder vernichtet werden könnte. So sieht Hegel in der Furcht ein „Bewußtsein der Negation“.48 Das heißt, in der Furcht trägt der Mensch Befürchtungen von Gefahren, Schaden, Verlust aus für Dinge oder Gegebenheiten, die ihm wichtig sind, denen sein Interesse gilt. Wenn ich mir wünsche, dass meine Kinder gesund aufwachsen, ist jede Bedrohung der Gesundheit durch Krankheit oder Unfall etwas, das mich mit Ängsten erfüllt. Je wichtiger mir etwas ist, umso ausgeprägter sind dann auch die Ängste vor dem Verlust. Diese Befürchtungen können sich prinzipiell auf alles richten, was ich mir als bedroht und gefährdet oder gar zerstörbar vorstellen kann. Hegel hebt dabei hervor, dass es dabei nicht um das geht, was in der Außenwelt das Gefährliche ist, sondern dass der Angriffspunkt der Furcht das eigene Innere des Subjekts ist, das erschüttert werden kann, sodass in der Furcht das eigene Ich sich wie von einer fremden Macht bedroht sieht. „Furcht habe ich durch die Vorstellung einer Macht über mir, welche mich in meinem Gelten […] negiert.“49 Es geht hier also um mich selbst, um die Vorstellung von etwas, das mich selbst bedroht und mich sogar vernichten kann. Dies können andere Men Hegel 1986b [1820–1829], S. 53. Hegel 1986c [1821–1831], S. 277. 49 Hegel 1986d [1821–1831], S. 80. 47 48
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schen sein oder auch Naturereignisse, denen ich mich nicht entziehen kann. Und durchaus kann man in dieser Formulierung auch an die Gottesfurcht denken, denn im christlichen Sinn hat Gott in seiner Allmacht auch die Macht über jeden einzelnen Menschen. Entscheidend ist hier für Hegel, dass ich mich „in meinem Gelten“, in meiner Persönlichkeit, meinem Subjektsein, bedroht sehe. Dieser Angriff auf meinen Subjektstatus, auf mein Ich-Sein, ist der eigentliche Kern dessen, was Hegel an der Furcht (im Sinne von Ängsten bzw. Angst) interessiert. Damit verbindet sich sein zweiter wichtiger Beitrag zum Verständnis der Bedeutung von Furcht. Er besteht darin, dass er aufzeigt, wie sich in der Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten eine Bewusstseinsreifung vollzieht und Strukturen des Selbstbewusstseins, der Selbstreflexivität und schließlich der Vernunft gebildet werden. Hierzu sind einige Passagen in der Phänomenologie des Geistes (1806) aufschlussreich. In diesem Werk zeichnet Hegel die Entwicklung des menschlichen Geistes von den einfachsten Wissensformen über das Selbstbewusstsein bis hin zur Vernunft nach, wobei sich immer komplexere Bewusstseinsstrukturen herausbilden. Furcht ist dabei eine Gegebenheit, die gebunden ist an die Herausbildung von Selbstbewusstsein als reflexiver Struktur. Ein Subjekt muss erst in der Lage sein, ein Bewusstsein von sich selbst zu haben, sich selbst beobachten und über sein Leben nachdenken zu können, bevor es überhaupt die geistigen Voraussetzungen besitzt, um Furcht als Gefühl erleben zu können. Selbstbewusstsein wiederum bildet sich Hegel zufolge nur in wechselseitigen sozialen Beziehungen zwischen verschiedenen Subjekten heraus. Nur in Konfrontation mit anderen Menschen, die in der Lage sind, über sich selbst nachzudenken, ihre Handlungsziele bewusst zu setzen und entsprechend darauf ihr Handeln anderen gegenüber auszurichten, kann ein Mensch selbst zu einem Wesen mit einem Bewusstsein von sich selbst werden. Denn im sozialen Umgang muss jeder Mensch lernen, seine eigenen Ziele zu verfolgen, sie mit anderen abzugleichen, mit anderen zu kooperieren und auch seine Freiheit anderen gegenüber in Konflikten zu behaupten. Jedes Individuum macht die Erfahrung, dass es in seinem Sein bedroht sein kann, dass es Schmerz empfindet, krankheitsanfällig und sterblich ist, dass es eine letzte Sicherheit nicht gibt. Der Begriff Furcht dient Hegel dazu, das Bewusstsein des Menschen von den Gefährdungsmöglichkeiten zu fassen, das bis zur Furcht vor dem Tod als höchster Steigerung reichen kann. Das Entscheidende für Hegel ist dabei, dass das Subjekt in der Furcht (vielleicht sogar Todesfurcht) etwas ganz Spezifisches erlebt, nämlich das Bewusstwerden dessen, was es heißt, ein Subjekt zu sein, über sich nachdenken und sich selbst aus eigener Freiheit zum Handeln anleiten zu können. Hierfür muss aber zunächst eine prinzipielle Infragestellung der Bindung ans das Äußere erfolgen. Das Subjekt ist in der Furcht zunächst „innerlich aufgelöst worden, hat
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durchaus in sich selbst erzittert, und alles Fixe hat in ihm gebebt“, und es geschieht „das absolute Flüssigwerden alles Bestehens“.50 Für das Ich ist alles flüssig geworden, aller Halt ist aufgelöst. In der Gefahr, die in der Furcht durchlebt wird, entgleitet dem Ich jede Bindung an das Äußere. Doch diese Destabilisierung in der Furcht darf nicht dauerhaft sein, sonst könnte sie das bewusste Ich zerstören, wie dies in pathologischen Ängsten der Fall sein kann. Das Ich muss nun durch eigene innere Kraft und Zielsetzung die zersetzende Kraft der Furcht überwinden, in dem Flüssigen etwas Festes etablieren. Dies kann es aber nur aus sich selbst gewinnen, denn aller äußerer Halt ist aufgelöst und verloren. Das Ich muss in sich einen Akt der Selbstbestimmung vollziehen, um die zersetzende Wirkung der Furcht zu überwinden. Die Furcht hat also zwar eine die eigene Beziehung zur Welt gefährdende Kraft, aber dabei zugleich eine durchaus positive Funktion. Sie bewirkt, dass das Ich verstehen lernt, dass das Entscheidende am Menschsein in der Fähigkeit besteht, sich selbst Ziele zu setzen. Es lernt seine eigene Autonomie und dabei den Sinn und Wert seines eigenen Selbstseins zu verstehen. Hegel weist der Furcht damit eine für das Selbstwerden essenzielle Funktion zu. Ohne den bewussten Umgang mit der eigenen Furcht (im Sinne der Ängste und durchaus auch der geistigen Angst) kommt das Ich nicht zum Selbstbewusstsein als einem Akteur der freien Lebensgestaltung. Es erwirbt Reflexivität und damit Freiheitsbewusstsein dadurch, dass es das eigene Leben und Selbstsein als etwas begreift, das immer gestört und erschüttert werden kann. Diese Einsichten Hegels, die bei ihm nur am Rande anklingen, werden mit der Existenzphilosophie, zunächst durch deren Initiator, Sören Kierkegaard, weiter vertieft. 4.3.5 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Angst, Freiheit und das Böse Zwischen Hegel und Kierkegaard gibt es aber noch einen wichtigen Zwischenschritt bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854). Schelling setzt sich unter anderem intensiv mit der Frage auseinander, wie viel Macht die menschliche Vernunft tatsächlich hat, die verschiedenen Gefühle, Triebe, Leidenschaften, die in einem Menschen wirksam sind, zu beherrschen. Vor allem stellt er mit Blick auf die menschliche Freiheit die Frage, woher das Böse komme, wenn doch Gott die Inkarnation des Guten und der Liebe sei. Das Böse kommt Schelling zufolge dadurch in die Welt, dass es der menschlichen Vernunft nicht gelingt, den Willen im Sinne des Guten auszurichten. Auf eine gewisse Weise ist der Mensch aufgrund seiner eigenen Endlichkeit als körperliches Wesen niemals in der Lage, Gottes Willen zu erfüllen und das rein Gute zu wollen und zu tun. Der Grund dafür liegt Schelling zufolge aber nicht im Menschen allein, sondern darin, dass Gott als Geist in seiner Schöpfung selbst die zwei Prinzipien des Guten und des Bösen vereinigt habe, sonst wäre so etwas wie Liebe gar nicht möglich. Dieses Zusammensein des Guten und Hegel 1986a [1806], S. 153.
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Bösen findet sich auch im Menschen, der „die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen gleichweise in sich hat: das Band der Prinzipien in ihm ist kein notwendiges, sondern ein freies“.51 In seiner eigenen Freiheit trägt der Mensch damit aus, welchen Stellenwert das Gute oder Böse für sein eigenes Wollen einzunehmen vermag. Die beiden Prinzipien werden von Schelling auch damit erläutert, dass er die Selbstbehauptung des Kreatürlichen, Körperlichen, Endlichen und die Fähigkeit zur Freiheit, zum Geistigen als widerstrebende Seiten im Menschen darstellt. Damit findet eine ungeheure innere Spannung statt, die den Menschen in einen Schwindel versetzt, in einen Strudel zieht, so wie es später Kierkegaard als Bild übernimmt, um die Wirkung der Angst zu schildern. Und auch Schelling verwendet hier den Begriff der Angst, um den „Widerspruch“ im Menschen zu charakterisieren: „Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Centrum, in das er erschaffen worden“.52 Diese Angst bekundet, könnte man sagen, dass der Mensch seine Freiheit einsetzen muss, um sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden. In diesem Sinne „bleibt das Böse immer die eigne Wahl des Menschen“, und wenn er sich zum Bösen entscheidet, wenn er sich in die Sünde begibt, dann ist es seine eigene Schuld.53 Es ist dieselbe Fragestellung, die dann auch Sören Kierkegaard umtreiben wird, nämlich die Frage nach der Bedeutung der Freiheit im Kontext der Sünde und der damit verbundenen wesenhaften Angst des Menschen. Kierkegaard, der noch bei Schelling Vorlesungen gehört hat, widmet sich der Angstproblematik mit einer bisher kaum gekannten Intensität und auch Radikalität. Angst wird zum Kennzeichen menschlicher Freiheit und Reflexivität. Mit diesem augenfälligen Interesse an der Angstproblematik wird aber zugleich auch deutlich, dass die Entwicklung seit der Neuzeit in eine neue Phase eingetreten ist, in der die bisher angenommenen Grundideen im Welt- und Menschenbild verblassen. In der Vergangenheit trugen die Konzepte einer ewigen Weltordnung oder eines Schöpfergottes die Überzeugung von der Stabilität der Welt, der Glaube oder die Vernunft lieferten dazu den inneren Halt. Alle diese Annahmen werden nun in Frage gestellt. Die immer weiter sich vollziehende Auflösung der bisher verbindlichen, allumfassenden Weltsicht hat tiefgreifende Folgen für die Vorstellung vom Gesamtgeschehen, für die Auffassung von Natur, Gesellschaft und Politik und für das Selbstverständnis der Menschen als Akteure in der Welt. Diese Veränderungen bilden den Hintergrund für die Arten von Ängsten und Angst, die nun das Leben und Denken bestimmen. Vor allem in der Ausprägung der geistigen Angst werden die Unbestimmtheit und Ungewissheit als innere und äußere Haltlosigkeit sichtbar.
Schelling 1834, S. 469. Schelling 1834, S. 476. 53 Schelling 1834, S. 477. 51 52
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4.4 Das Angstbewusstsein in der Moderne In diesem Kapitel sollen einige signifikante Momente des modernen Weltbildes daraufhin erörtert werden, welche Aspekte des Angstphänomens im Zuge der Herausbildung moderner Weltauffassungen und Lebensweisen besonders in den Vordergrund treten. Dabei werden mit dem Begriff „Moderne“ gesellschaftliche Entwicklungen, Sichtweisen und Lebensauffassungen zusammengefasst, die eher als Tendenzen identifizierbar sind und sich weder gleichförmig ausprägen noch in allen Bereichen, Regionen und für alle Menschen gleichermaßen wirksam sind. Es sind Charakterisierungen, die nachvollziehbar machen sollen, inwiefern gerade die jüngste Geschichte auf eine besonders enge Weise mit dem Angstkontext verbunden ist. Den Begriff der Moderne beziehe ich hier auf die Entwicklungen ungefähr ab Mitte des 19. Jahrhunderts und zunächst in der westlichen Welt. Die im 19. Jahrhundert massiv einsetzende Industrialisierung und sich deutlich verstärkende Globalisierung, aber auch tiefgreifende politische, gesellschaftliche und weltanschauliche Veränderungen haben gravierende Auswirkungen auf das Denken und Leben der Menschen. Der große Arbeitskräftebedarf zieht die Menschen vermehrt in die Städte, sie verlassen ihre bisherigen Gemeinschaften. Die traditionellen Bindungen und Identitätsmuster verlieren an Kraft oder lösen sich ganz auf. Diese Umbrüche führen zu großen Problemen, sich in den neuen Lebenssituationen zurechtzufinden. Die rasante technische, wissenschaftliche und ökonomische Entwicklung ist für viele Menschen schwer einzuordnen. In den folgenden Jahrzehnten wird deutlich werden, dass gerade die Moderne zwar eine immer verlässlichere Grundversorgung mit lebensnotwendigen Gütern, eine bessere medizinische Versorgung und mehr Wohlstand mit sich bringt, aber zugleich eine gesteigerte innere Verunsicherung beobachtet werden kann, Gefühle der Entwurzelung und Heimatlosigkeit. Es entsteht ein Bewusstsein davon, dass die Entwicklung der Menschheit insgesamt, auch mit den technischen Möglichkeiten, unberechenbar geworden ist. Dazu trägt auch die politische Umorientierung von monarchistischen zu demokratischen Verfassungen bei, die für viele Menschen nur als Destabilisierung oder sogar Verfall von Gesellschaften gedeutet wurden. Gerade Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts entstehen Theorien, die technikkritisch bis kulturpessimistisch ausgerichtet sind, denken wir an das viel gelesene Werk Oswald Spenglers von 1918: Der Untergang des Abendlandes. Aber auch Texte wie „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“ (1911) vom Soziologen und Philosophen Georg Simmel oder Sigmund Freuds Das Unbehagen in der Kultur (1930) spiegeln eine Stimmung der Sorge um die menschheitliche Zukunft, eine geistige Angst, die sich gerade in der Moderne besonders bemerkbar macht. Sie zeigt sich in zwei grundlegenden Komponenten. Die hohe Dynamik der Veränderungen von Wissen, Technik, Lebensbedingungen und Wertvorstellungen bewirkt die Herausbildung einer nach außen gerichteten Welt-Angst. Zugleich prägt sich
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ein starker Individualismus aus, eine Selbstbezüglichkeit, deren Last sich in einer nach innen gerichteten Selbst-Angst zeigt. Das wohl gravierendste Merkmal der Moderne besteht in der hohen Dynamik der Veränderungen von Wissen, Technik, Lebensbedingungen und Wertvorstellungen. Die Moderne ist eine Epoche, die kein letztes Ziel hat, keine Erfüllung einer Vision oder Utopie anstrebt. Sie geht weder von einer kosmischen Vernunft aus, an der sich der Mensch orientieren kann, noch von einem Reich Gottes. Die Ideen von Wachstum, Veränderung, Innovation und Fortschritt zeigen in eine unbestimmte Zukunft, sie kennen kein Endstadium, kein höchstes Ideal, nichts Absolutes. Darin hebt sich die Moderne von den vorangegangenen Jahrhunderten ab. Der Unterschied von traditioneller und moderner Denkweise lässt sich an einer geometrischen Figur verdeutlichen. Die antike Denkweise entspricht dem Kreis, dem ewigen Zyklus von Werden und Vergehen, einem Gesamtgeschehen, das um einen unveränderlichen Mittelpunkt zentriert ist und dabei statisch und in sich vollkommen ist. Das jüdisch-christliche Weltbild sieht die Menschheitsgeschichte als eine lange Zeitstrecke, die mit der Schöpfung beginnt, durch das Zeitalter der Sündigkeit führt und in einem höchsten Endzustand, dem Paradies, endet. Von diesen beiden Zeitvorstellungen unterscheidet sich die moderne Denkweise dadurch, dass sie einen unaufhörlichen Progress annimmt. Der Kreis öffnet sich zur aufsteigenden Spirale, der Zeitstrahl läuft Richtung Zukunft ins Unendliche. Auch die menschliche Existenz befindet sich demnach in ständigem Fortschreiten, einer permanenten Weiterentwicklung, wobei das Festhalten am Altbewährten, an den Traditionen und Selbstverständlichkeiten nicht mehr hilfreich ist für die Lebensführung und vom Drang zur Innovation abgelöst wird. Mit dem Eintritt in die Moderne verliert die Ausrichtung an einem allumfassenden Orientierungsmodell, wie es die klassische Metaphysik und die Religionen über viele Jahrhunderte bereitgestellt haben, an Überzeugungskraft. Nietzsche bringt es mit der Formulierung auf den Punkt: Gott ist tot. Dies heißt nicht, dass Religionen aus dem Leben der Menschen verschwunden sind und dass nicht weiterhin viele Menschen an ihren Gott glauben. Sondern es bedeutet, dass es keine unbezweifelbare, für alle verbindliche Richtschnur des Lebens mehr gibt, an der sich die ganze Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft, die Kunst und jeder einzelne Mensch in seinem individuellen Leben ausrichten. Gottes Schöpfung, das gesamte Weltgeschehen, wurde einst als ein in sich geschlossenes Ganzes verstanden. Für den Menschen ging es darum, sich in diese Welt einzufügen, auch in die gesellschaftlichen Strukturen. Am Ende des irdischen Lebens stand dann die Hoffnung auf ein jenseitiges, ewiges Seelenheil. Diese Weltsicht ändert sich in der Moderne grundlegend. Max Weber kennzeichnete diese Situation als „Entzauberung der Welt“. An die Stelle mythisch-religiöser Weltdeutung tritt Weber zufolge die Rationalität, die rationale Kalkulation des Handelns, die wissenschaftliche Erklärung der Welt, die effektive Einrichtung von Institutionen, das kühle Berechnen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorteils. Diese Rationalisierung ist erforderlich, um den schnellen Veränderungen, dem ständigen Wissenszuwachs, dem Zu-
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sammenleben in Riesenstädten und der globalisierten Ökonomie Rechnung tragen zu können. Je rasanter sich die Welt verändert, umso weniger vorhersagbar ist die Zukunft, umso unklarer sind die Lebensperspektiven für die Menschen, umso weniger können tradierte Lebensweisen weiterhin als gute Ratgeber angesehen werden. Heute fragen wir unsere Kinder, wenn wir mit dem PC oder Smartphone nicht klarkommen, nicht aber unsere Eltern oder Großeltern. Wenn sich aber alles als formbar und veränderbar erweist, erscheint das gesamte Leben wie ein unaufhörlich weitertreibender Fluss, dessen Fließgeschwindigkeit ständig zunimmt. Man bekommt keinen festen Boden unter die Füße. Die so erlebte ständige Veränderung bringt Gefühle der Unsicherheit, Haltlosigkeit und Desorientierung mit sich und wird zunächst in den vielen individuellen Ängsten verarbeitet. Je komplexer moderne Gesellschaften werden, umso vielfältigere, subtilere und unberechenbarere Ängste tauchen auf. Zugleich gibt aber die Gesamtsituation der Moderne zu umfassender Sorge Anlass, wird Angst in einem allgemeinen geistigen Sinn ausgeprägt. Diese Situation in der Welt, die als gefährdet und unsicher empfunden wird, die man auch nicht mehr überschauen kann, befördert eine prinzipielle Angst vor der Welt und um die Welt, eine geistige Welt-Angst. Zur Dynamik der Moderne trägt zu großen Teilen der Wissenszuwachs bei, der sich in den Entwicklungen in Wissenschaft, Technik und Technologien abbildet, denken wir nur an automatisierte Fertigungsstrecken, Computer und Künstliche Intelligenz. Die christliche Vorstellung vom Kosmos, vom naturhaften Gesamtgeschehen, war von Anfang an darauf ausgerichtet, dass Gottes Schöpfung beständig und vollkommen sei. Die neuzeitlichen Wissenschaften, vor allem die Astronomie, Physik und Mathematik, die im 16. und 17. Jahrhundert einen spürbaren Aufschwung erlebten und nach neuen Erkenntnissen und Erkenntnismodellen strebten, waren der festen Überzeugung, durch ihre wissenschaftliche Forschung dem Begreifen von Gottes Schöpfung in ihrer inneren Rationalität und Schönheit näher zu kommen. Man war sich sicher, mit Mathematik und mechanischer Physik alle Gegebenheiten erklären zu können. Doch in der Moderne bildeten sich neue Fragestellung und wissenschaftliche Zugänge heraus. Niemand würde heute noch ernsthaft die Komplexität eines biologischen Organismus oder gar eines Ökosystems nach Analogie eines Uhrwerks beschreiben. Ständig entstehen neue Forschungsfelder. So haben sich auch in den Naturwissenschaften, die im Kontext der Neuzeit begannen, das Weltganze mechanistisch zu erklären, wesentliche Veränderungen ergeben, die sich unter anderem in der Charakterisierung ihrer Forschungsansätze bekunden. In der Physik und Mathematik sind Theorien entstanden, die sich mit Relativität von Raum und Zeit, Indeterminismus, Wahrscheinlichkeit, Chaos, Unschärferelation und nichteuklidischer Geometrie befassen. Auch die Unvorhersehbarkeit der Entstehung von Neuem (Emergenz) ist ein wichtiges Element verschiedener wissenschaftlicher Modellierungen. Dabei ist die Grundthese, dass sich unaufhörlich qualitativ neue Strukturen ausbilden, deren Erscheinen nicht prognostiziert werden kann. So wird in der Kosmologie davon
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ausgegangen, dass sich beginnend mit einem hypothetisch angenommenen Urknall eine stete Expansion des Weltalls vollzieht, wobei sich die Materie immer weiter ausdifferenziert und neue Strukturen bildet. Dies gilt auch für die Erklärung der biologischen Evolution als dem vielschichtigen Prozess, in dem immer neuer Arten entstehen, wobei auch hier die Richtung der zukünftigen Entwicklungen nicht vorhersagbar ist. Und schließlich zeigen Wissenschaften wie Psychologie oder Soziologie, wie stark formbar ein menschliches Individuum ist. Sogar die Hirnforschung betrachtet heute das Gehirn als ein „plastisches Organ“. Alle diese wissenschaftlichen Sichtweisen stellen Dynamik, Veränderung, Fortschreiten heraus, statt Wesenhaftigkeit und Kon stanz. Philosophie und Wissenschaft hüten sich heute, ihre Aussagen über die Welt so zu formulieren, als sprächen sie über so etwas wie das „Wesen“ der Dinge oder gar das Weltganze. Vielmehr wird das Wissen stärker relativistisch ausgeformt. Es gibt nicht mehr die eine überwölbende Perspektive auf die Natur, die alle Wissenschaften zusammenbindet und eine in sich stimmige wissenschaftliche Theorie des Weltganzen liefert, wie es das Programm zu Beginn der Neuzeit gewesen war. Insgesamt nimmt das Einzelwissen in allen Feldern ständig zu, die verschiedenen Wissensaspekte sind aber kaum noch überschaubar und in einer stimmigen Gesamttheorie zusammenzufügen Dies bedeutet aber, dass bei allen wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritten doch auch der Eindruck entstanden ist, dass die Wissenschaften nicht das Forum sind, aus dem eine hilfreiche Lebensorientierung zu gewinnen wäre. Wissenschaften liefern enorm viel Einzelwissen, aber stiften keinen Lebenssinn. Ein solcher Lebenssinn ist in traditionellen Gemeinschaften sehr stark an die soziale Einbettung in bestehende Strukturen gebunden. So bestimmte eine feste Ständeordnung über Jahrhunderte und vielleicht Jahrtausende den sozialen Platz der Menschen, was sie tun durften, wie sie sich innerhalb ihres Standes oder gegenüber der Obrigkeit oder den Untergebenen zu verhalten hatten, welche Kleidung ihrem Stand angemessen war, wo ihre Rechte und Pflichten lagen. Anhand dieser Vorgaben konnten sich Menschen sozial einordnen und dementsprechend verhalten. Sie mussten sich keine Gedanken über ihre Identität oder ihre Lebensaufgaben machen. Moderne Gesellschaften hingegen sind tendenziell offen, flexibel, plural und individualistisch ausgerichtet. Die sozialen Kontexte und Milieus schichten sich permanent um. Damit ist einerseits mehr Selbstbestimmung in der Lebensführung möglich, andererseits bedeutet dies aber, dass stabile gesellschaftliche und familiäre Strukturen nicht mehr selbstverständlich sind. Und dies verlangt den Individuen mehr Kraft ab, ihren eigenen Platz zu bestimmen und dabei auch zu ertragen, dass die Wahl eines Berufs, einer Arbeitsstelle, eines Wohnorts oder eines Ehepartners nicht für das ganze weitere Leben lang trägt, sondern die eigenen Lebensstrukturen durch ständige Bemühung aufrechterhalten werden müssen. Zwar existieren weiterhin religiöse Gemeinschaften oder enge familiäre oder gruppenspezifische Bindungen. Aber es besteht nun die Möglichkeit, diese verlassen zu können, ohne damit zugleich die eigene Lebensgrundlage zu verlieren. Nach wie vor sind zwar die Erfolgschancen innerhalb der Gesellschaften sehr unterschiedlich ver-
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teilt, erst recht, wenn man die Möglichkeiten der Menschen weltweit vergleicht. Es gibt weiterhin Reiche und Arme, Mächtige und Unterprivilegierte. Aber moderne Gesellschaften sind durchlässiger geworden. In der Vergangenheit war es einem Bauern oder einfachen Handwerker prinzipiell unmöglich, Herrscher eines Landes zu werden. Heute steht das Präsidialamt in den modernen Demokratien jedem Menschen offen, zumindest als politische Möglichkeit. Auch die liberale Demokratie, obwohl es schon Vorformen in der Antike gab, ist als politische Organisationsform eine Erscheinung der Moderne. Sie trägt der modernen Befindlichkeit Rechnung und lässt jede Bürgerin und jeden Bürger als freie und gleiche Individuen gelten. Jede einzelne Wählerin und jeder einzelne Wähler bestimmen durch die eigene Stimme mit, wer die Geschicke des Landes für die nächsten Jahre leiten soll. Auch hier ist die Dynamik eingepreist. Jede neue Wahl stellt alles Bisherige auf den Prüfstand. Regierungen werden abgelöst. Alles ist immer neu verhandelbar. Neue Interessengruppierungen können innerhalb weniger Jahre an die Spitze politischer Bewegungen drängen und politische Macht erlangen. Gesetze und ganze Verfassungen lassen sich in kurzen Zeiträumen umschreiben. Und auch die politischen Zielstellungen sind kurzfristiger und weniger substanziell ausgerichtet. Demokratie ist verflüssigte Politik. Wer aber Stabilität wünscht, sucht eher nach einer starken politischen Autorität. So sehen wir in der Moderne dann auch immer wieder das Wechselspiel von Demokratie und autokratischen Regierungsformen. Innerhalb fluider politischer Strukturen ist es wesentlich schwieriger, sich selbst eine feste politische Überzeugung aufzubauen. Politisch gesehen ist man gut beraten, jeweils die Akteure zu unterstützen, denen man für bestimmte Aufgabenfelder die besten Lösungen zutraut. Dafür muss man aber das politische Gerangel überschauen und die verschiedenen Angebote immer wieder prüfen. Doch dies ist weder zeitlich noch inhaltlich als Einzelperson zu leisten. Das Gefühl der Überforderung mit dem entsprechenden Unbehagen oder sogar die Abkehr von der Politik sind die Folge. Die Moderne ist sehr stark ausgerichtet am Fokus auf das Individuum als dem entscheidenden Akteur aller Geschehnisse. Individualität bedeutet aber zugleich, dass jede/r Einzelne eine größere Verantwortung für die eigenen Wertsetzungen, für das eigene Handeln und für die eigene Lebensführung hat. Dabei werden Vorstellungen von Autonomie, Selbstverfügung über die eigenen Handlungen, aber auch die damit verbundene Eigenverantwortung zu grundlegenden Bestimmungen des Menschseins. Zugleich richtet sich mit der individualistischen Perspektive viel Aufmerksamkeit auf das eigene Ich. Das Ich spiegelt ständig sich selbst und muss dies auch, denn es muss sich vergewissern, wer es selbst ist, was es denkt und will. Es treten Ängste auf, die sich um das eigene Selbstbild, die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten in der Gesellschaft, die Anerkennung durch andere drehen. Doch das Selbstbild, die eigene Identität als Person, ist selbst ein Konstrukt, das man sich auf der Grundlage der jeweiligen Lebensbedingungen, des vorherrschenden Weltbildes, der kulturellen Perspektiven und individuellen Präferenzen schafft. Das Selbstbild bindet die verschiedenen Komponenten, die für das eigene Leben als relevant
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erachtet werden, wenn es gut läuft, zu einem halbwegs stimmigen Gesamtkonstrukt zusammen. Doch wird es unter modernen Lebensbedingungen schwieriger, eine Identitätsvorstellung zu bilden, die als stabile Orientierungsinstanz fungieren kann. Das eigene Ich ist damit auf eine gewisse Weise auch etwas Undurchsichtiges und Unberechenbares, etwas, dem man nicht vertrauen kann. Denn es ist unklar, wozu dieses Ich fähig sein wird. Dies ist der Kern der geistigen Selbst-Angst. Sie ist eine Überforderungsangst, eine geistige Angst davor, dem Anspruch an das Selbstsein nicht gerecht zu werden. Mit der Individualisierung und der steigenden Aufmerksamkeit auf sich selbst entsteht also ein Druck zur Selbstoptimierung, Selbstformung, Selbstverwirklichung. Diese Selbst-Ängste oder Selbst-Angst reichen von der Vorstellung, die eigene Sinnstiftung nicht leisten zu können, bis hin zur Befürchtung, mit dem „Selbst“ nicht zufrieden zu sein oder es gar nicht fixieren zu können. Die permanente Selbstbeobachtung und Selbsthinterfragung kann dann zu Ausprägungen von Selbstverdruss, Selbstzweifel bis übersteigerter, narzisstischer Selbstüberhöhung führen. Dahinter verbirgt sich durchaus auch ein Leistungsdruck, nämlich sich selbst immer weiter vervollkommnen zu sollen oder zu wollen. Es ist naheliegend, dass sich mit der Auflösung der großen traditionellen Weltbilder, die auf Absolutheit, klarer hierarchischer Struktur, Konstanz und Abgeschlossenheit begründet waren, eine Orientierungsnot bei vielen Menschen einstellt, die sie unter anderem in der geistigen Angst und verschiedenen psychischen Ängsten austragen. Die Kontingenzerfahrungen der Moderne befördern bestimmte Typen von Ängsten: diejenigen Ängste, die als Sinnverlustängste oder Weltanschauungsängste bezeichnet werden können. Sie kreisen um Vorstellungen von Nihilismus, dem Horror der Leere (horror vacui), Sinnlosigkeit, Verlorenheit, Beliebigkeit, Werteverfall, Traditionsverlust, Heimatlosigkeit. So gibt es auch den starken Wunsch danach, die Sinn-Leere zu füllen. Schaut man auf den modernen Meinungsmarkt, sind viele Sinn- und Deutungsangebote zu finden: Sekten, esoterische Zirkel, spirituelle Gemeinschaften, Freikirchen, Ideologien, Verschwörungstheorien, politische Parteien, sie alle preisen ihre Waren an und hoffen auf Zuspruch. Sie werden feilgeboten, weil viele Menschen das Bedürfnis nach einer Weltsicht haben, die sie als „die Wahrheit“ annehmen können. Und Angebote einer solchen „Wahrheit“, der einzig wahren Sicht auf die Dinge, vermehren sich historisch immer in krisenhaften Zeiten, wenn Menschen besonders stark verunsichert sind. Sie waren schon immer ein Mittel, auf die Ängste der Menschen zu reagieren, oder dienten sogar dazu, Ängste zu schüren, um dann als Retter der Menschheit auftreten zu können. Vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde ein weltanschaulicher Ersatz für den verlorenen religiösen Orientierungsrahmen geschaffen, der den Menschen wieder eine große Vision geben sollte, nämlich die Weltanschauungen und politischen Systeme des Kommunismus und Nationalsozialismus. Sie haben versprochen, wie ehemals die christliche Religion, etwas Unangreifbares und Unerschütterliches zu bieten, verhieß dies nun eine kommunistische Zukunft oder ein tausendjähriges Reich. Der damit verbundene
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Totalitätsanspruch führte zu den schrecklichsten Gräueln mit Millionen Toten, zu Weltkrieg und dem Kaltem Krieg. Diese neuen Totalitarismen, die sich oft nur gewaltsam als Diktatur gegen individualisierende Lebensformen durchzusetzen vermochten, zeigen deutlich, wie viele Menschen dem Versprechen einer sinnerfüllten gesellschaftlichen Utopie Glauben schenken möchten. Es ist aber auch wichtig zu sehen, dass die großen totalitären Systeme sich für die Durchsetzung ihrer politischen Ziele auch auf moderne Instrumente gestützt haben, vor allem die Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik. Totalitäre Machtsysteme sind immer möglich und bis heute nicht aus der Welt verschwunden. Und auch die entsprechenden Ideologien werben weiter um Anhänger. Sie versprechen Stabilität in Situationen, die als chaotisch, krisenhaft und bedrohlich wahrgenommen werden. Aber auch das Einschwören auf einen dominanten Nationalismus spricht viele Menschen deshalb an, weil sie das Gefühl haben, dass die globalen Prozesse, dass transnationale politische Strukturen und Institutionen ihnen die Kontrolle über ihr Leben entziehen. Die entstandene Unübersichtlichkeit wird durch die modernen Informationstechnologien und medialen Plattformen noch weiter verstärkt. Es gibt heute unüberschaubar viele Informationsangebote, eine ungeheure Menge an Daten in verschiedensten Formaten. Es ist für den Einzelverbraucher unmöglich, Fakten von Behauptungen, gesichertes Wissen von Pseudowissen zu unterscheiden oder gar gefälschte Daten als solche zu identifizieren. Die in den Medien präsentierten Informationen, Bilder, Berichte kann niemand selbst überprüfen. Umgekehrt hat jeder inzwischen die Möglichkeit, sich im Internet mit eigenen Meinungen zu platzieren, seine Weltsicht darzulegen, gut geprüftes Wissen oder falsche Informationen unter die Leute zu bringen. Abstruseste Fake News, schlimmste Hasskommentare und unglaublichste Verschwörungsannahmen wabern durch das weltweite Informationsnetz. Es kann schnell passieren, dass man in den sozialen Netzwerken verleumdet, beschimpft oder beleidigt wird. Damit wachsen verständlicher Weise die Ängste der Menschen vor dem Missbrauch oder Diebstahl persönlicher Daten. Angesichts der vielen Informationen über sich selbst, die man im Netz preisgibt, muss man immer damit rechnen, dass diese missbraucht werden, zu Werbezwecken, zum Füttern irgendwelcher Künstlicher Intelligenz, von Geheimdiensten oder was auch immer man sich vorstellen mag. Und da niemand ausreichend Informationen und Urteilsfähigkeit hat, um jeden Teilbereich des Lebens, der Gesellschaft, der Wirtschaft einschätzen zu können, nistet sich ein latentes Misstrauen, selbst gegenüber wahrscheinlich soliden Quellen, ein. Die modernen Medienwelten bringen noch weitere Arten von Ängsten mit sich. So werden Ängste befördert aufgrund der Inhalte der Beiträge, wenn über bestimmte Ereignisse berichtet wird, über Katastrophen, Terroranschläge, Krankheitswellen oder Bandenkriminalität. Die ganze Welt findet bei uns zu Hause auf dem Bildschirm statt. Wir sind mittendrin und können doch nichts tun, fühlen uns ohnmächtig angesichts der Geschehnisse, über die tagaus, tagein berichtet wird. Wir erleben die Katastrophen, Kriege, Nöte aus aller Welt
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quasi live mit, auch in ihren Auswirkungen, den Flüchtlingsströmen, den Marktkrisen, den Diskussionen um mögliche Hilfen. Es entwickeln sich aber auch Ängste hinsichtlich der modernen Technologien selbst. Wir nutzen Computer, Smartphone, Internet, Künstliche Intelligenz. Auch hier ist für den Durchschnittsverbraucher das Geschehen nicht überschaubar, man fühlt sich von der Entwicklung abgehängt. Denn wer versteht ein Computerprogramm, kann Viren oder Trojaner erkennen, Hackerangriffe abwehren oder seine Unterhaltungsgeräte oder Smart-Küche selbst programmieren. Und immer mehr Lebensbereiche werden in die elektronisch gesteuerte Welt integriert: Bankwesen, Verwaltungen, Bildung, Gesundheitsfürsorge, Infrastruktur, Tourismus, selbstfahrende Autos, die eigene Wohnung. Damit wird aber auch der ursprünglich vertraute und beherrschbare Bereich des privaten Lebens zu einem potenziellen Raum der Ängste. Dennoch ist heute das normale Leben der Menschen besser abgesichert als in den Jahrhunderten zuvor. Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Politik sorgen für Wohlstand, Gesundheit, Bildung in einem Umfang, wie er noch nie vorher für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung erreicht wurde. Staat und Recht garantieren in vielen Ländern ein gutes Zusammenleben, zumindest in den nicht von Kriegen heimgesuchten, entwickelten Regionen der Welt. Im Gesamtphänomen der Angst haben sich damit die Relationen verschoben. Die Furcht vor den natürlichen Gefährdungen, denen man ausgeliefert ist, hat ihre Bedeutung verloren. Wir gehen im Wald spazieren, ohne fürchten zu müssen, dass uns Räuberbanden überfallen. Wir bewegen uns frei in unseren Wohngebieten und rechnen in der Regel nicht damit, entführt oder ermordet zu werden. Wir reisen als Touristen in der ganzen Welt umher, meist passiert nichts Schlimmes. Auch die Willkür staatlicher Gewalt ist rechtsstaatlich eingegrenzt. Wir haben eine statistisch sehr hohe Lebenserwartung im Vergleich mit früheren Jahrhunderten, vor allem auch wegen eines hoch entwickelten Gesundheitssystems. Die Wohlstandsgesellschaften produzieren ausreichend Nahrung und Lebensgüter für alle ihre Mitglieder. Doch es ist nicht so, dass es in diesen Gesellschaften gleichermaßen allen Menschen auch gut geht. Es gibt nach wie vor Diskriminierung und Ausgrenzung, Ausbeutung und soziale Not vor allem der Schwachen und Unterprivilegierten. Es gibt prekäre Arbeitsverhältnisse, Niedriglohnbereiche und ungerechte Gehaltsstrukturen, auf der anderen Seite riesige Privatvermögen und damit verbunden Privilegien, Einfluss und Macht. Der erwirtschaftete Wohlstand moderner Gesellschaften beruht wesentlich darauf, dass die Ökonomien auf Wachstum, Wettbewerb und Effizienz hin ausgerichtet sind. Dies bedeutet für alle Beteiligten einen hohen Leistungsdruck, der nicht von allen gut ausgehalten wird und Ängste verstärken kann, die mit den ökonomisch-sozialen Bedingungen zu tun haben: Versagensängste, Abstiegsängste, Verlustängste, Ängste zu scheitern. Und es kommen die Ängste hinzu, die direkt mit den modernen Lebensumständen zu tun haben, mit der Unübersichtlichkeit, der Schnelllebigkeit, den technischen Risiken, der Vervielfältigung von Weltsichten und Lebensstilen, der permanenten Heraus-
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forderung, aus der Vielfalt auszuwählen und Verantwortung für die eigenen Entscheidungen zu übernehmen. Schauen wir noch einmal auf das Ganze: Die Moderne ist zutiefst geprägt von permanenten Umwälzungen in allen Lebensbereichen. Sie kann in ihrem Fortschreiten als Prozess der Liberalisierung, Pluralisierung und Individualisierung des Lebens angesehen werden. Die liberale Entwicklung mit ihrer Akzeptanz von Vielfalt, mit ihrer Toleranz und Perspektivenvielfalt, mit ihren disparaten Lebensstilen wurde als Befreiung von überkommenen Lebensvorstellungen gefeiert, aber sie hat eben auch die Kehrseite größerer Verunsicherungen und daraus erwachsender Ängste, die eine gewisse Haltlosigkeit spiegeln. So ist die Rede von Risiken ständig präsent. Man könnte auch von einer konstitutiven Ungeborgenheit und Heimatlosigkeit sprechen, die unter den Bedingungen der Moderne das Grundgefühl der Menschen zu sein scheint. Denn das Leben in der Moderne ist zunehmend bestimmt von der Wahrnehmung von Schnelligkeit und Dynamik, Bindungslosigkeit und Traditionsverlust, Vielfalt und Beliebigkeit der Meinungen, Unübersichtlichkeit und Komplexität. Ein Überblick über das Ganze ist nicht mehr möglich, selbst die Wissenschaften arbeiten immer spezialisierter. Wir sehen, dass sich die Welt um uns ständig verändert in großer Geschwindigkeit. Das eigene Leben scheint dann keinen festen Halt zu haben, der Boden, auf dem wir stehen, gleicht eher Treibsand als einer asphaltierten Straße mit Straßenmarkierung und Verkehrsschildern. Und auch wir selbst setzen weniger auf einen unveränderlichen Charakter oder ein vorgegebenes Schicksal als auf Flexibilität, Entwicklung, Formbarkeit und eigene Tatkraft. Wenn kein allgemein verbindlicher stabiler Maßstab und keine klare Orientierung mehr angenommen werden können, betritt die geistige Angst die Innenbühne des Bewusstseins. Sie konstituiert sich aus der reflexiven Bezugnahme auf sich selbst als einem Wesen, das letztlich keinen Halt hat, weder außen noch innen, und dies weiß. Die Sorge darum, was die Zukunft bringen mag, die Herausforderung, die Lebensorientierung selbst leisten zu müssen, für alles selbst verantwortlich zu sein, und die quälende Ungewissheit, dem eventuell nicht gewachsen zu sein, sind die wesentlichen Komponenten der rein geistigen Angst, die über die gefühlten Einzelängste hinausreicht. Sie ist verbunden mit dem Blick in eine ungewisse Zukunft, die immer unkalkulierbarer wird, je schneller sich die Welt verändert. Mit dem Begriff der geistigen Angst wird eine Gesamtstimmung, ein Habitus charakterisiert, der durch Selbstreflexivität bestimmt ist und die nicht mehr aufzufangende Halt- und Orientierungslosigkeit des Menschen zum Gegenstand hat. Es wird deutlich, dass den Individuen immer größere Anstrengungen abverlangt werden, so etwas wie eine eigene „Identität“ zu schaffen, die verschiedenen äußeren Anforderungen und die eigenen Lebensvorstellungen immer wieder aufeinander abzustimmen. Die geistige Angst hat damit zwei grundlegende inhaltliche Komponenten. Bezogen auf die menschliche Innensicht ist sie wesentlich eine Identitäts-, Freiheits- und Orientierungsangst. Sie resultiert aus der schnellen Veränderung
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der Lebenswelt, aus der den Individuen zugemuteten größeren individuellen Freiheit, das eigene Leben zu gestalten, aus der starken Fokussierung auf das eigene Ich und dem Verlust stabiler Sinnorientierung. Bezogen auf die Situation des Menschen in der heutigen Welt ist die geistige Angst als Welt-Angst getragen von der Sorge, dass das Weltganze nicht mehr begreifbar ist und dass die menschheitlichen Probleme eine solche Größenordnung angenommen haben, dass sie nicht mehr zu bewältigen sind. Diese Zuspitzung der menschlichen Lebenssituation in den letzten Jahrzehnten wird auch als Spätmoderne oder Postmoderne gekennzeichnet, um die drastischen Verschiebungen auch im Welt- und Selbstverständnis der Menschen deutlich zu machen. Wie im nächsten Kapitel (Kap. 5) gezeigt werden soll, ist es vor allem eine Philosophierichtung gewesen, die sich auf das Selbstsein, die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung unter dem Stichwort Existenz konzentriert, die die Problematik speziell der geistigen Angst in Zusammenhang gebracht hat mit dem modernen Lebensgefühl. Die Möglichkeit der individuellen Selbstbestimmung bringt immer auch die Last der Verantwortung mit sich. Die Perspektive einer offenen Zukunft mit ihren vielen Wahlmöglichkeiten befördert ein Bewusstsein der Ungeborgenheit und Haltlosigkeit und verstärkt den Wunsch nach Sinnhaftigkeit und stabilen Strukturen. Die Existenzphilosophie hat auch immer wieder deutlich gemacht, dass die Menschen nach etwas suchen, an dem sie sich festhalten können, vor allem im Alltagsleben. Doch ist dieser Halt eben nicht wirklich zu haben, sondern eine Illusion. Dies auszuhalten oder sich Wege der inneren oder äußeren Stabilisierung zu bahnen, ist die Herausforderung an den modernen Menschen.
KAPITEL 5
Der Angstbegriff der Existenzphilosophie
Mit dem Übergang vom christlich geprägten Mittelalter zur Neuzeit wendet sich der Blick der Menschen vom Jenseits ab und dem Diesseits zu, den weltlichen Bereichen der Wirtschaft, der Politik, der Gesellschaft, der sozialen Beziehungen. Aufgabe der Menschen ist es nun, diese Bereiche aktiv mitzugestalten. Damit beginnt auch eine Epoche, in der der Mensch sich intensiv mit ich selbst beschäftigt. An die Stelle des Vertrauens auf ein gottgegebenes Schicksal tritt nun die Würdigung der eigenen Freiheit. Doch Freiheit ist verbunden mit der Herausforderung, selbst zu wählen, zu entscheiden, für das eigene Leben und sogar die Gemeinschaft verantwortlich zu sein. Die Aufklärung bis hin zur klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel hatte dabei vor allem die Vernunfteinsicht und die autonome Selbstbestimmung zum Höchsten des Menschen erhoben. Doch ist immer auch präsent, dass der Mensch nicht nur Vernunftwesen ist, sondern auch beherrscht wird von seinen Leidenschaften und Gefühlen. Dass der Mensch mit den Aufgaben der Selbstbestimmung auch überfordert sein kann, dass es die Möglichkeit des Unberechenbaren und Unbeherrschbaren, des Fehlgehens und Entgleitens gibt, wurde in der klassischen deutschen Philosophie jedoch kaum erwogen. Erst in der Spätphilosophie Schellings klingt dergleichen an. Die Forderungen an die Menschen, ihr eigenes Leben und auch die soziale Welt zu gestalten, wachsen in dem Maße, wie die Gesellschaften offener, pluraler und schnelllebiger werden. So ist es naheliegend, dass mit der Zunahme individueller Freiheit, aber auch mit dem raschen Wandel in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Kultur, wie dies die Moderne zunehmend kennzeichnet, auch die Ängste sich verändern. Vor allem die Dimension der geistigen Angst wird nun stärker thematisiert, wenn der Blick auf die individuelle Subjektivität in ihrer Dimension der Autonomie und freien Selbstbestimmung gerichtet wird. Es ist der Däne Sören Kierkegaard, der einer erste umfassende Angsttheorie vorlegt, in der das fragile, instabile und seiner Freiheit aus© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Frischmann, Angstwesen Mensch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67876-3_5
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gelieferte Selbst-Sein im Zentrum steht. Die besondere Herausforderung an das Selbst-Sein kennzeichnet Kierkegaard durch den Begriff Existenz, der fortan eine eigenständige Philosophierichtung trägt, die Existenzphilosophie. Dieser Existenzbegriff ist damit reserviert für die Beschreibung des Menschen als geistigem Wesen. Nur der Mensch existiert in dem Sinne, dass er eine reflexive Selbstbeziehung hat und sein Selbstsein, sein Leben, durch eigene, freie Wahl und ganz auf sich gestellt bestimmen muss. Was alle Existenzphilosophen eint, ist nicht ein gemeinsamer Gegenstand oder eine gemeinsame Methode, sondern eine Perspektive, die Kierkegaard „Innerlichkeit“ nennt. Das Augenmerk richtet sich nun auf die Selbstsicht des Menschen, auf das reflexive Selbstverhältnis, auf sein Selbstverständnis als jeweils einmaliger Persönlichkeit. Die Philosophie der Aufklärung war getragen von der Hoffnung auf die ordnende Kraft der Vernunft als einem allen Menschen gegebenes Vermögen der Einsicht in das Notwendige, der bewussten Steuerung der eigenen Freiheit im Sinne von Moral und Gerechtigkeit. Auch für die Existenzphilosophie dreht sich alles um die Freiheit als individuelle, autonome Selbstbestimmung, aber für sie ist das Vertrauen auf die Vernunft geschwunden. Der Mensch wird nun verstanden als ein Wesen der Möglichkeit, das wählen und entscheiden muss, aber für diese Wahl auf nichts zurückgreifen kann, das sie begründen, rechtfertigen oder entschuldigen könnte, sodass Freiheit und Verantwortung zu einer inneren Bürde werden, die in ihrer Tragweite zutiefst ängstigt. Die Aufgabe der autonomen Selbstbestimmung erhält nun eine gewendete Perspektive, sie wird auch empfunden als Grund von Überforderung, Beängstigung und Last. Damit gilt Angst in der Existenzphilosophie als diejenige Befindlichkeit und Sichtweise, die dem Menschen seine Freiheit anzeigt. Kierkegaard definiert Angst als Bewusstsein der „Möglichkeit der Freiheit“.1 Angst ist nicht einfach ein Gefühl, sondern ein Akt der geistigen Reflexion, in dem sich dem Ich sein Nicht-Festgelegtsein erschließt. Um diese Dimension der geistigen, den Menschen wesenhaft bestimmenden Angst verdeutlichen zu können, hat Kierkegaard sie von der Furcht als dem konkreten Gegenstandsbezug und auch von den subjektiven Einzelängsten unterschieden. Kierkegaards spezifischer Blick auf das Menschsein und die damit verbundene Angsttheorie inspirieren im 20. Jahrhundert verschiedene Autoren, die die Grundgedanken der Existenzphilosophie weiterführen. Martin Heidegger bestimmt das menschliche Dasein als das Bewusstsein der Freiheit, das sich in Phänomenen wie Angst und Sorge zeigt. Jean-Paul Sartre hebt in seinen Angstanalysen nicht nur die menschliche Freiheit hervor, sondern bindet sie zurück an die Verantwortlichkeit des Menschen für andere und die Menschheit überhaupt. Doch auch hier bleibt der Blick beim Einzelnen, geht es um das Verständnis dessen, was Freiheit aus der Sicht des Individuums, ohne Rückhalt und Rückversicherung, bedeutet. Verstärkt wird das immer deutlicher werdende Gefühl der Halt- und Orientierungslosigkeit im 20. Jahrhundert mit den schnellen Veränderungen, 1
Kierkegaard 1992 [1844], S. 181.
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technischen Neuerungen und gesellschaftlichen Umwälzungen, aber auch mit den fundamentalen Erschütterungen durch Weltkriege und der Möglichkeit, die Menschheit insgesamt zu vernichten. So müssen auch die Angstpotenziale entsprechend neu eingeordnet werden und sollten sogar, so wie es die Autoren Günther Anders und Hans Jonas fordern, gezielt gefördert werden, um für die gewachsenen Bedrohungslagen zu sensibilisieren und die Entwicklung einer Moral zu befördern, die den neuen Herausforderungen gewachsenen ist. Denn in der Angst wird das deutlich, was Menschen schützenswert finden.
5.1 Sören Kierkegaard: Angst als Blick in den Abgrund der Freiheit Sören Kierkegaard (1813–1855) schuf in seinem kurzen Leben ein bemerkenswertes philosophisches Werk. In dessen Zentrum steht die Frage nach dem individuellen Selbstverhältnis, wobei Kierkegaard die philosophischen Problemstellungen in einem christlichen Orientierungsrahmen entwickelt. Man könnte es auch so lesen, dass er nachzeichnet, wie in den religiösen Grundgedanken die Themen aufscheinen, die das Menschsein prägen. Aber er setzt sich auch mit Interpretationen im Sinne der christlichen Dogmatik auseinander, wenn sie seiner Meinung nach zu flach und einseitig ausfallen. Philosophisch gesehen knüpft Kierkegaard an die Denktradition der Subjekt-Philosophie des Deutschen Idealismus, vor allem Hegels und Schellings an. Dabei liegt der Schwerpunkt des Idealismus auf der Bestimmung des Menschen durch seine Vernunft, also der Fähigkeit, sich selbst als rationales, autonomes und selbstreflexives Wesen zu verstehen und als solches das eigene Wollen und Handeln auch vernunftgemäß auszurichten. Vernunft aber beruht auf Selbstbewusstsein und Selbsteinsicht. Was hier Selbstbewusstsein genannt wird, heißt in näher charakterisierenden Termini auch Subjekt, Subjektivität, Ich, Selbst oder wie bei Kierkegaard Geist. Der Mensch ist deshalb Subjekt, weil er in der Lage ist zur Re-flexion, das heißt zur Umwendung des Blickes auf das Ich selbst. Damit existiert für den Menschen im Unterschied zum Tier eine zweite Ebene des Denkens. Ein Mensch kann sein eigenes Tun so beobachten, als ob er sich von außen zuschaut. Er kann sich selbst zum Objekt seines Denkens machen. Er vermag, über seine Gedankeninhalte, seine moralischen Wertvorstellungen, seine Wünsche nachzudenken und diese gegebenenfalls zu verändern. Er hat nicht nur Schmerzen, sondern weiß dies auch und sinnt über Möglichkeiten nach, Abhilfe zu schaffen. Ja, mehr noch. Er hat ein Wissen davon, was Schmerzen überhaupt sind, wie sie entstehen, wie der Körper physiologisch funktioniert. Diese Reflexionsebene ist für Kierkegaard der Bereich des menschlichen Geistes, der auch die Fähigkeit zur Vernunft beinhaltet. Zugleich ist das Selbst, der individuelle Geist, etwas, das den Menschen als Einzelnen kennzeichnet, der auf je eigene Weise fühlt, denkt, wählt und handelt. Diese individuelle Seite ist der entscheidende Fokus der Existenzphilosophie.
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Kierkegaard richtet sein Augenmerk genau auf diese zentrale Schaltstelle des menschlichen Denkens und Tuns. Er will wissen: Was vermag das „Selbst“ eigentlich? Haben wir Macht über unser eigenes Selbst? Sind wir frei in der Selbstbestimmung unserer Gedanken und unserer Entscheidungen? Und wie gehen wir mit uns selbst um, wie verhalten wir uns zu uns selbst? Woher beziehen wir als Individuum moralische Wertungen wie Gut und Böse? Was bedeutet Schuld? Und zutiefst bedeutsam ist für Kierkegaard dabei auch die Frage: Wie stehe ich zu Gott und was bedeutet Selbstsein religiös gesehen angesichts der absoluten Macht Gottes? Die Beschäftigung mit diesen Fragen führt ihn zu einem Menschenbild, in dem Angst und Verzweiflung einen zen tralen Stellenwert besitzen. Denn für Kierkegaard ist der Mensch geprägt von einer prinzipiellen Lebenssituation der Verunsicherung, die aber ein Stück weit aufgefangen werden kann durch den Glauben als eine „innere Gewißheit“,2 die die in der Angst aufscheinende Ungewissheit vielleicht nicht ganz überwindet, aber doch mildert und erträglich macht. Kierkegaard weist aber immer wieder auch darauf hin, dass man sich des eigenen Gottesverhältnisses nie sicher sein kann, da die Kluft zwischen der menschlichen Endlichkeit und der Transzendenz Gottes nie zu überbrücken ist. 1844 veröffentlicht Kierkegaard seine berühmte Schrift Der Begriff Angst, die seit ihrem Erscheinen zu einem der maßgeblichen Werke zum Thema Angst geworden ist. Dies betrifft zum einen die grundlegende Unterscheidung von Furcht und Angst, vor allem aber die inhaltliche Bestimmung der Angst als Freiheitsbewusstsein. 1849 erscheint sein Büchlein Die Krankheit zum Tode, in dem er an die Angstanalysen nun seine Erörterung der menschlichen Verzweiflung anschließt. Beide Begriffe, Angst und Verzweiflung, haben parallele Funktionen, sie markieren die Möglichkeit der geistigen Verunsicherung und Erschütterung, von der Menschen konstitutiv betroffen sind und mit der sie individuell sehr unterschiedlich umgehen. Die Begriffe Angst und Verzweiflung fassen Kierkegaard zufolge die Grundbefindlichkeit des Menschen, die nicht aus konkreten äußeren Anlässen erklärbar ist, sondern die aus der Verfassung des menschlichen Geistes entspringt. Versuchen wir nun etwas genauer zu ergründen, was Kierkegaard unter „Geist“ oder „Selbst“ und dem Selbstverhältnis versteht, denn es wird sich zeigen, dass hiervon sein Angstbegriff unmittelbar abhängt. 5.1.1 Ein Engel hat keine Angst. Das reflexive Verhältnis zu sich selbst als Grundlage der Angst Ausgangspunkt und Grundlage von Kierkegaards Angsttheorie ist die Bestimmung des Menschen als geistigem Wesen, das sich seiner selbst bewusst ist und sich mit sich selbst auseinandersetzen kann. Kierkegaard formuliert dies so: „Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist
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Kierkegaard 1992 [1844], S. 183.
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das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“.3 Das menschliche Selbst besteht Kierkegaard zufolge also in der geistigen Fähigkeit der Bezugnahme auf sich selbst, auf die eigenen Befindlichkeiten, Gedanken und Gefühle, weshalb Selbst und Geist nicht zu trennen sind. Die hier maßgeblichen Begriffe Geist oder Selbst meinen nichts Esoterisches, sondern sind diejenigen Funktionen des Bewusstseins, die dazu dienen, sich gedanklich ein Bild von sich selbst zu formen und davon ausgehend freie Entscheidungen treffen zu können. Dabei ist dieses Selbst strukturell, wie es im Zitat heißt, ein „Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“. Das Selbst ist keine homogene Instanz, sondern beruht auf dem Verhältnis der Grundbestandteile Körper und Seele. Doch deren Aktivitäten werden dem Menschen immer erst bewusst, wenn er sich geistig auf sie bezieht, sie einordnet, bewertet, anleitet usw. Diese Bezugnahme auf sich selbst als einem geistigen Verhältnis ist eine geistige Aktivität, die Kierkegaard als Schaffen von „Synthesen“ charakterisiert. Er schreibt: „Der Mensch ist eine Synthese aus Seelischem und Körperlichem. Doch eine Synthese ist undenkbar, wenn sich die beiden Teile nicht in einem Dritten vereinen. Dieses Dritte ist der Geist.“4 Körper und Seele (in der Terminologie Kierkegaards) ermöglichen in ihrem unmittelbaren Zusammenwirken die Verarbeitung der Informationen aus der Umwelt. Dies gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere mit höherer Entwicklungsstufe ihres Gehirns. Doch Tiere sind sich dieses Verarbeitungsprozesses nicht bewusst, es ist in diesem Sinne noch kein „Verhältnis“. Sie sind nicht zu einer bewussten Synthese der Informationskomponenten in der Lage, sondern deren Zusammenwirken geschieht naturhaft und instinktiv. Im Unterschied dazu ist die Synthese durch den Geist eine bewusste Aktivität der Zusammenfügung und Verbindung von einzelnen Bewusstseinsinhalten, die durch das Wechselspiel von Körper und Seele geliefert werden. Die eigentliche Synthesearbeit besteht dabei darin, Einzelinhalte zu beurteilen und in den Kontext der schon bestehenden Inhalte einzugliedern. Jede einzelne Synthese ist dabei so etwas wie eine momentane Fixierung dessen, was der Geist gerade weiß und tut. Das Ergebnis dieser Synthese ist das „Selbst“, ist das geistige Bild von der Welt und sich selbst, das durch die synthetisierende Aktivität des Geistes ständig neu hergestellt wird. Das Selbst ist also nichts Festes, sondern das Ergebnis der ständig zu erbringenden Synthesen aus den eigenen Gedanken, Vorstellungen, Gefühlen und körperlichen Reaktionen. Die entscheidende Leistung dabei ist die Reflexion, das heißt die Fähigkeit der Bezugnahme auf sich selbst. Wir können alles das, was wir bewusst tun, gedanklich noch einmal spiegeln, reflektieren, und uns auf diese Weise damit auseinandersetzen. Reflexion erfordert, innerlich in eine Art Distanz zu sich selbst gehen zu können, wodurch es möglich wird, zugleich Beobachter und beobachtetes Objekt zu sein. Wenn ich mich selbst anschaue, bin ich im selben Tätigkeitsakt sowohl anschauendes Subjekt als auch angeschautes Objekt. Erst 3 4
Kierkegaard 1995 [1849], S. 13. Kierkegaard 1992 [1844], S. 52.
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aufgrund dieser geistig-reflexiven Kapazität ist der Mensch fähig, komplexe kognitive Leistungen hervorzubringen: abstrakte Begriffe, Fantasiegebilde, Glaubensinhalte, moralische Wertvorstellungen, wissenschaftliche Theorien, künstlerische Ideen, Konzepte von Recht und Politik. Ein Mensch kann sich Vergangenheit und Zukunft vorstellen. Er vermag kraft seiner geistig-reflexiven Möglichkeiten, über sich selbst nachzudenken und zu entscheiden, wer er selbst sein will. Menschen fühlen zum Beispiel nicht nur eine Zuneigung zu anderen, sondern sie setzen sich damit auseinander, was dieses Gefühl bedeutet und wie sie damit umgehen sollen. Sie überlegen, wie sie diese Zuneigung einordnen könnten, ob es sich um Sympathie, Kollegialität, Freundschaft oder Liebe handelt und wie weit sie sich für diese Zuneigung engagieren wollen. Aber die Selbstreflexion erkundet auch, was ihnen das Gefühl über sie selbst sagt, über ihre Wünsche und Sehnsüchte, ihre Liebesfähigkeit, ihre Lebenssituation oder ihre moralischen Werte. Sicherlich ist es angebracht, auch höher entwickelten Tieren schon seelische Dispositionen zuzusprechen, sie fühlen Hunger, Schmerz, Furcht, Wohlergehen. Aber dies sind unmittelbare, affektive Bewusstseinsinhalte. Ein Tier hat keine geistigen Kapazitäten, über seine Körperzustände nachzudenken, sie zu bewerten und dann Verhaltensmöglichkeiten abzuwägen. Eine Katze spürt vielleicht gerade ein wohliges Gefühl der Wärme und Sattheit, aber sie macht sich wohl keine Gedanken darüber, wie es ihr gerade geht, wodurch dieses angenehme Gefühl erreicht wurde und wie sie sich diesen Zustand morgen oder in ein paar Wochen erneut verschaffen könnte. Es gibt noch keine Freiheit von den Instinkten, kein bewusstes Wissen von sich selbst wie dann beim menschlichen Geist. Das heißt, dass der Mensch in sich selbst eine ständige Vermittlungsarbeit leistet, eben die Synthese zwischen den konkreten Bewusstseinsinhalten und ihrer Einordnung und Bewertung. Der Geist, das Selbst, stellt also die Synthese, die Vermittlung zwischen den verschiedenen Seiten einer Person her, zwischen Vorstellungen, Gefühlen, Ideen, Wünschen, Erinnerungen und Hoffnungen und tritt dazu noch einmal in ein Verhältnis der Reflexion. Das geistige Ich, das Selbst, beruht somit immer auf innerer Vielfalt und Selbstdistanz, es ist niemals in vollkommener Identität mit sich selbst, sondern ein Verhältnis, in dem es Subjekt und Objekt zugleich ist. Aus Sicht der Existenzphilosophie ist es dabei vollkommen in die individuelle Freiheit gestellt, wie ein Mensch seine geistigen Synthesen gestaltet, es gibt dafür keine Anleitung, keine vorgegebenen Muster und keine Regeln. Damit steht jeder Mensch mit seinen Entscheidungen der Selbstbestimmung letztlich ganz allein vor sich selbst. Kierkegaard verwendet hier den Begriff Schuld, um die permanente Verantwortung der eigenen Entscheidungen zu kennzeichnen. Und an dieser Stelle wird zugleich der Kern der Angst sichtbar, nämlich ständig Synthesen herzustellen, weil dies die Funktionsweise des menschlichen Geistes ist, und zu wissen, dass man der Freiheit nie ganz gewachsen ist, weil es unendliche viele Synthesemöglichkeiten gibt und jeder Zustand, den man erreicht hat, sogleich wieder Möglichkeiten eröffnet. Diese Möglichkeitsstruktur wird von
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Kierkegaard in der christlichen Terminologie auch als Sünde charakterisiert. Was unter Sünde genau zu verstehen ist, lässt sich Kierkegaard zufolge nicht bestimmen, da sie individuell und situativ jeweils einmalig ist. Keinesfalls ist die Sünde ein Zustand, in dem man sich befindet. „Ihre Idee ist, daß ihr Begriff sich ständig aufhebt.“5 Annäherungsweise könnte man die Sünde als die innere Ambivalenz des Selbst verstehen, die sich zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, Unendlichkeit und Endlichkeit, Freiheit und Festlegung bewegt. Das Ich muss leben, es kann nicht im Schwebezustand der Möglichkeit bleiben, sondern muss entscheiden, womit es für diesen Moment die Möglichkeit in Wirklichkeit überführt, also einen bestimmten Zustand erreicht und damit die Möglichkeit tilgt, aufhebt, vernichtet. Doch gerade diese Festsetzung als Wirklichkeit ist „unberechtigt“, weil Wirklichkeit immer wieder in Möglichkeit umschlägt und deshalb nie ihre endgültige Berechtigung haben kann. Mit Kierkegaards Worten: „Die gesetzte Sünde ist zwar eine aufgehobene Möglichkeit, doch zugleich ist sie eine unberechtigte Wirklichkeit.“6 Möglichkeit ist dabei grundsätzlich zu verstehen. Sie ist nicht das Mögliche von diesem oder jenem Konkreten, beispielsweise, dass ich jetzt die Möglichkeit habe, mir einen Kaffee oder Tee an den Schreibtisch zu holen. Sondern Möglichkeit ist die Grundverfassung des menschlichen Geistes, der frei seine Synthesen setzen kann und dabei in seiner Aktivität offen und unbestimmt ist. So ist das Ich wesenhaft sündig nicht aufgrund der Erbsünde, sondern aufgrund der Beschaffenheit des menschlichen Geistes, der nie zur Ruhe kommt, nie Halt findet, den Gottesbezug nie ganz erreicht, der immer fehlgehen kann. Kierkegaard verweist da rauf, „daß sich die Sünde wie die Freiheit selbst voraussetzt und sich ebensowenig wie diese aus etwas Vorangegangenem erklären läßt“.7 Ja, Freiheit und Sünde lassen sich überhaupt nicht erklären, weil sie durch verendlichende Bestimmungen, wie dies eben eine Erklärung wäre, nicht angemessen gefasst werden können. Sünde und Freiheit sind der Bezugspunkt der Angst. Sie resultiert aus dem Unberechenbaren der Möglichkeit des freien Wollens. Dem kann das Ich sich nicht entziehen, es muss wählen und entscheiden, ohne die Folgen wirklich vorhersehen zu können. Dieses Entscheiden ohne Sicherheit bezeichnet Kierkegaard als Sprung. Was der Sprung bedeutet, vermag das Selbst nicht zu überschauen oder zu bestimmen. Der Geist weiß um die ständige Möglichkeit des Misslingens seiner Synthesen, seines Tuns, und um die Unkalkulierbarkeit der Folgen: im Ich selbst und in der Welt. Denn das Resultat des Wählens ist ein neuer Zustand, den das Ich auf sich nehmen muss und der zugleich neue Herausforderungen nach sich zieht. Weil der Mensch seine eigene Synthese ist und über sie nachdenken kann, weil er über Geist verfügt, weil er frei ist in seiner Entscheidung und weil er mit den Folgen seiner eigenen Entscheidungen konfrontiert ist, befällt ihn die Kierkegaard 1992 [1844], S. 20. Kierkegaard 1992 [1844], S. 132. 7 Kierkegaard 1992 [1844], S. 131. 5 6
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Angst. „Wenn der Mensch ein Tier oder ein Engel wäre, dann würde er sich nicht ängstigen können. Da er eine Synthese ist, kann er sich ängstigen“.8 Ein Tier ist zwar ein Verhältnis Körper-Seele, aber es verfügt nicht über die Kapazität der Angst, weil es keine Reflexivität, also keine geistigen Fähigkeiten hat. Ein Engel hingegen kann sich ebenfalls nicht ängstigen, weil er keine Synthese aus Körper und Seele ist, da in ihm keine Verschiedenheit, kein Widerstreit verschiedener Gemütszustände und Gedanken gegeben ist. Nur der Mensch hat Angst, und zwar immer. Denn: „In jedem Zustand ist die Möglichkeit und insofern auch die Angst gegenwärtig.“9 Kierkegaard sieht hier sehr deutlich, dass das ständige innere Befragen des eigenen Lebens eine nicht zu überwindende und ständig wirksame Verunsicherung mit sich bringt. Speziell mit diesen Verunsicherungen setzt er sich auseinander, sie sind sein philosophisches Kernthema, das er in den Problematiken Angst und Verzweiflung intensiv durchdenkt. Dabei zeigt er auf, dass diese beiden Formen des Selbstbezugs in unterschiedlichen Graduierungen und Ausformungen auftreten. 5.1.2 Halt am Abgrund? Die Unterscheidung zwischen Furcht, einzelnen Ängsten und wesenhafter Angst Kierkegaard grenzt Furcht und Angst klar voneinander ab. Um diese Unterscheidung zu verstehen, ist es sinnvoll, noch einmal zum anthropologischen Grundmodell zurückzukehren, in dem Kierkegaard den Menschen in der reflexiven Kapazität des Geistes als Synthese, als Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, beschrieben hat. Diese geistige Synthese ist der konstitutive Boden der Angst. Furcht hingegen erwächst aus dem Zusammenspiel Körper – Seele. Schon bei höheren Tieren bilden Körper und Emotionen keine starre Einheit, sondern Tiere nehmen ihre Umwelt wahr und können auf diese Informationen aktiv reagieren. Sie empfinden in Gefahrensituationen Furcht und verhalten sich bei Bedrohung instinktiv mit entsprechenden Mustern, zum Beispiel Flucht oder Kampf oder einfach Stillhalten. Das Kennzeichen der Furcht besteht darin, dass sie sich immer auf Konkretes hier und jetzt bezieht, auf im Moment als gefährlich wahrgenommene Kontexte oder Gegebenheiten: die Spinne an der Wand oder das Betreten eines engen Raumes. Furcht kann anhand körperlicher Symptome identifiziert werden, ihre Wirkungsmechanismen lassen sich empirisch untersuchen. Für die Furcht ist die Gefahr real gegeben. Auch der Mensch hat als körperlich-seelisches Wesen Furcht angesichts unmittelbarer Gefahren und Bedrohungen. Hierfür ist die geistige Verarbeitung nicht erforderlich. Angst hingegen entspringt der Fähigkeit, die Möglichkeit der Gefahr und ihrer Auswirkungen vor dem geistigen Auge durchzuspielen. Da ein Tier keine geistigen Vermögen hat, lebt es im Augenblick. „Daher wird
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Kierkegaard 1992 [1844], S. 181. Kierkegaard 1992 [1844], S. 132.
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man beim Tier, eben weil es in seiner Natürlichkeit nicht als Geist bestimmt ist, keine Angst finden.“10 Kierkegaard beschreibt den Mechanismus der Angst mit dem Blick in einen Abgrund: „Man kann die Angst mit einem Schwindel vergleichen. Wer in eine gähnende Tiefe hinunterschauen muß, dem wird schwindlig. Doch was ist die Ursache dafür? Es ist in gleicher Weise sein Auge wie der Abgrund – denn was wäre, wenn er nicht hinuntergestarrt hätte? Demgemäß ist die Angst jener Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthese setzen will und die Freiheit nun hinunter in ihre eigene Möglichkeit schaut und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran zu halten.“11 Auch ein Tier mag erschaudern, wenn es am Abgrund steht. Für das Tier gibt es nur ein Unbehagen, eine Scheu, ein Zurückschrecken. Hier schützt sich der Organismus durch instinktgesteuerte Reaktionsweisen. Hinsichtlich seiner körperlich-seelischen Seite hat auch der Mensch diese instinktive Furcht am Abgrund, darin sind Menschen ebenso biologisch geprägt wie Tiere. Doch an dieser Instinktreaktion ist nicht der menschliche Geist beteiligt. Dieser ermöglicht nämlich qualitativ etwas prinzipiell anderes, nämlich das Reflektieren über die Bedeutung des Abgrunds, der Gefahr, der Bodenlosigkeit, wie Kierkegaards Beispiel mit dem Abgrund auch im übertragenen Sinn verstanden werden muss. Der Grund der Angst liegt im Bewusstsein davon, dass man den Boden unter den Füßen verlieren könnte oder, noch weiter zugespitzt, dass man eigentlich immer am Abgrund der Freiheit lebt. Wenn dies zu Bewusstsein kommt, drängt die Angst hervor. Dann gerät man in einen Strudel, der alles mitreißt, in dem einen selbst der Schwindel befällt, sich alles dreht und kein Halt zu finden ist. Die Angst hat ihren Kern immer im Selbst, nicht in der Welt. So ist es auch mit dem, was als „Versuchung“ angesehen wird. Sie kann niemals durch das Äußere erklärt werden: „wer in Versuchung fällt, der ist an der Versuchung selber schuld“.12 Um uns herum sind viele Dinge, die auf uns einwirken. Dass sie aber zu einer Versuchung werden, ist der Wert, den man ihnen selbst beimisst. Wenn ich aufhören möchte zu rauchen und mir wird eine Zigarette angeboten, dann ist dies Angebot keine Versuchung. Denn jemanden, der nicht raucht, würde dies gar nicht interessieren. Die Versuchung steckt also nicht in dem Angebot der Zigarette, sondern in mir selbst, in meinem Wunsch zu rauchen. So ist es auch mit der Angst. Sie ist nicht dort draußen, es sind nicht die Dinge, die die Angst auslösen. Sondern ich bin es selbst durch meine Sichtweise, meine Befindlichkeit. In seinem kleinen Text „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ geht Kant der Frage nach, wie sich der Mensch aus dem Tierreich herauslösen konnte, was ihn demzufolge von den Tieren unterscheidet. Kant sieht den maßgeblichen Schritt in der Herausbildung der menschlichen Vernunft, die es dem Menschen ermöglicht, sich von der „Herrschaft des Instincts“ zu lösen Kierkegaard 1992 [1844], S. 50. Kierkegaard 1992 [1844], S. 72. 12 Kierkegaard 1992 [1844], S. 129. 10 11
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und frei sein Leben zu führen. Interessant ist nun, dass er als Begleiterscheinung der Freiheit auf die Angst verweist und zur Illustration das Bild des Abgrundes wählt, das dann auch Kierkegaard benutzt hat. Dieser Abgrund hat etwas mit der Unendlichkeit der Wahlmöglichkeiten zu tun, vor denen der Mensch nun angesichts seiner Freiheit steht. „Er entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen und nicht gleich anderen Tieren an eine einzige gebunden zu sein. Auf das augenblickliche Wohlgefallen, das ihm dieser bemerkte Vorzug erwecken mochte, mußte doch sofort Angst und Bangigkeit folgen: wie er, der noch kein Ding nach seinen verborgenen Eigenschaften und entfernten Wirkungen kannte, mit seinem neu entdeckten Vermögen zu Werke gehen sollte. Er stand gleichsam am Rande eines Abgrundes; denn aus einzelnen Gegenständen seiner Begierde, die ihm bisher der Instinkt angewiesen hatte, war ihm eine Unendlichkeit derselben eröffnet, in deren Wahl er sich noch gar nicht zu finden wußte; und aus diesem einmal gekosteten Stande der Freiheit war es ihm gleichwohl jetzt unmöglich, in den der Dienstbarkeit (unter der Herrschaft des Instinkts) wieder zurück zu kehren.“13 Gerade mit diesem Angstbewusstsein blickt der Mensch auf die eigenen Möglichkeiten, aber auch die damit verbundenen Gefahren und Abgründe, er schätzt sie ab und gewichtet sie. Die innere reflexive Bezugnahme auf sich selbst konstituiert sich aus der Fähigkeit, in Distanz zu sich selbst zu treten und sich immer wieder mit sich selbst auseinanderzusetzen, über sich selbst nachzudenken, die eigenen Einstellungen zu prüfen und auch zu ändern, die geistige Synthese stets neu in Angriff zu nehmen und mit den unendlichen Möglichkeiten des Lebens so oder anders umzugehen. Für Kierkegaard ist dabei der entscheidende Punkt, dass in dieser Freiheitsarbeit das Ich sich zwar müht und nach Halt sucht, das Selbst aber nicht zu festen Bestimmungen kommt, sondern immer nur zu vorübergehenden Fixierungen, die sich bei näherem Hinsehen aber als gar nicht so fest erweisen, sondern immer wieder schwankend werden oder sich ganz auflösen. Wer wir jeweils sind, wie wir uns selbst verstehen, welchen Platz wir uns in der Welt zuschreiben, welche Aufgaben wir uns stellen, all dies hat im Inneren letztlich keine Stabilität, sondern nur die ständige Bewegung der Gestaltung und Umgestaltung, ein Fass ohne Boden wie der Abgrund. Genau diese Instabilität und Ungesichertheit, die aus der Freiheit resultiert, hat für das Selbst in seiner Selbstreflexion den Status der Angst. Sie ist die Grundstimmung, in der der Mensch reflexiv-geistig als Selbst existiert. Damit ist das Verhältnis des Menschen zur Angst zwiespältig, denn einerseits fürchtet der Mensch sie, weil sie ihn verstört, und zugleich sucht er sie, weil sie die Möglichkeiten des Lebens andeutet. Deshalb ist das Verhältnis zur Angst eine „sympathetische Antipathie“ oder „antipathetische Sympathie“.14 Sie beinhaltet Ohnmacht und Freiheit zugleich. Angst ist Symptom und Spiegel der prinzipiellen Situation des Menschen, in seinem Denken und Tun nicht Kant 1983 [1786], S. 88–89. Kierkegaard 1992 [1844], S. 51.
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festgelegt zu sein. So weist Kierkegaard darauf hin, dass Angst nicht einfach über einen kommt wie die Furcht, sondern dass der Mensch „selbst die Angst produziert“,15 weil er geistig auf sich selbst Bezug nimmt, weil er sich selbst infrage stellen, sein Leben ändern kann und weil er fähig ist, das Böse zu tun. Kierkegaard verweist aber in der Textstelle über den Schwindel am Abgrund auch darauf, dass wir uns stets abzusichern versuchen und nach etwas greifen, woran wir uns festhalten können. Dieses Halten ist immer der Schritt in die konkrete Entscheidung und damit ein kurzzeitiges Stillstellen des Freiheitsdrucks. Das Bedürfnis nach Halt resultiert nicht aus dem Geist, sondern aus den anderen Faktoren unseres Menschseins, unserer Körperlichkeit und unserem sozialen Leben. Wir sind eben nicht nur freie Reflexivität, sondern eine Synthese verschiedener Bestandteile. Der Hunger zwingt uns, etwas zu essen, Gesetze halten uns dazu an, nicht gegen sie zu verstoßen, moralische Konventionen geben uns Leitplanken für das Handeln, der Glaube verlangt, nicht Schuld auf sich zu laden und nicht zu sündigen. Doch der damit zu gewinnende Halt ist immer nur äußerlich, er kann das Selbst in seiner Aufgabe der geistigen Synthesen niemals ganz beruhigen und entlasten, er ist nicht mehr als eine dünne Eisschicht, die jederzeit einbrechen kann. So bewegt sich der Geist zwischen Abgrund und Halt. Das Ich pendelt hin und her zwischen den beiden Polen, einerseits frei vor Möglichkeiten zu stehen (Dimension der Unendlichkeit), andererseits sich im Konkreten für eine der Möglichkeiten zu entscheiden (Dimension der Endlichkeit). Wenn ich aus einer Vielzahl von Möglichkeiten meine Wahl getroffen habe, ist mit dieser Wahl ein synthetisierender Akt beendet worden. Die Entscheidung ist ein Festlegen, ein vorübergehendes Beenden der geistigen Aktivität, die dann aber sogleich wieder neu aufflammt, wenn das Bewusstsein in der nächsten Situation wieder geistig aktiv ist. So gehört es zum Menschen, dass er versucht, sich stabile Orientierungen zu schaffen, aber dennoch damit rechnen muss, dass diese Stabilität immer wieder aufgehoben werden kann, auch wenn er dies nicht immer wahrhaben will. Die Angst am Abgrund, die Kierkegaard erörtert hat, wird von ihm „subjektive Angst“ genannt. Sie ist „die im Individuum gesetzte Angst, welche die Folge seiner Sünde ist“.16 Sie resultiert daraus, dass der Mensch immer zwischen Halt und Haltlosigkeit, gesetzter Synthese und neuen Möglichkeiten steht. Die subjektive Angst manifestiert sich vor allem in den einzelnen, individuellen Ängsten, die alle Lebenslagen betreffen können. Diese subjektiven Ängste sind verbunden mit der individuellen Identifizierung möglicher Gefahren, die sich ein Mensch jeweils in einer bestimmten Situation vorstellt. Wie stark diese subjektiven Ängste den Menschen fesseln und lähmen, ja sogar foltern können, wie sie einen Menschen ganz beherrschen können, hat Kierkegaard immer wieder betont. Der subjektiven Angst stellt Kierkegaard eine „objektive Angst“ gegenüber, eine wahrhafte Angst, die etwas mit der spezifischen Kierkegaard 1992 [1844], S. 181. Kierkegaard 1992 [1844], S. 67.
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menschlichen Konstitution als einem Wesen der Möglichkeit, d. h. der Freiheit, zu tun hat. Unter objektiver Angst soll „die Reflexion der Freiheit in sich selbst in ihrer Möglichkeit“17 verstanden werden. Die subjektiven Ängste sind dementsprechend überhaupt nur möglich, weil es eine prinzipielle Angstfähigkeit gibt, die nicht nur bei bestimmten Gelegenheiten aufkeimt, sondern immer da ist, ob bewusst oder im Hintergrund. Die objektive Angst ordnet Kierkegaard der Natur zu, man könnte sagen, der naturhaften Grundverfassung des Menschen als Gattungswesen. Die subjektive Angst hingegen betrifft das einzelne Individuum.18 Sie resultiert aus dem Freiheitsbewusstsein des Selbst, das nach dem eigenen Lebensinhalt und nach dem Umgang mit der eigenen Freiheit fragt und dabei weiß, dass es die Möglichkeiten nie bewältigen kann. Doch sie ist immer gebunden daran, dass die geistigen Inhalte, die die Ängste konstituieren, stets zurückgebunden sind an Situationen, konkrete Gedanken und Vorstellungen. Die objektive Angst hingegen hat selbst keinen Inhalt, sie bezieht sich in dem Sinne auf nichts. Indem dann aber das Nicht-Ge wisse, Nicht-Berechenbare, das hinter der Angst steht, auf etwas Konkretes bezogen wird, gewinnen die einzelnen subjektiven, inhaltlich identifizierbaren Ängste Kontur. Mit Kierkegaard formuliert könnte man auch sagen, „daß jenes Nichts, das der Gegenstand der Angst ist, gleichsam mehr und mehr ein Etwas wird“.19 Das Nichts als Aspekt der Möglichkeit wird dadurch ein Etwas, dass die unbestimmte Angst in der interpretierenden Tätigkeit des Geistes gefüllt wird und damit in Gestalt der konkreten, subjektiven Ängste mit ihren individuellen Vorstellungen von Gefahren, Risiken und Bedrohungen in Erscheinung tritt. Diese kleineren oder größeren alltäglichen Ängste müssen jedoch im Vergleich mit der eigentlichen wesenhaften Angst als belanglos, banal und oberflächlich erscheinen. Die Unterscheidung objektive Angst – subjektive Angst (Ängste) lässt sich noch weiter plausibel machen, indem Kierkegaards Differenzierung zwischen qualitativen und quantitativen Aspekten der Angst20 einbezogen wird. Im quantitativen Sinn kann es ein Mehr oder Weniger der Ausprägung der einzelnen Ängste geben. Qualitativ gesehen geht es um die gattungsspezifische, wesenhafte Angst als einem Charakteristikum des Menschseins überhaupt, und für diese prinzipielle Angst gibt es keine Steigerung oder Abschwächung. Vielmehr ist sie von dem Moment immer da, wo der Geist seine Reflexivität entfaltet hat. Die mit der Reflexion des Geistes verbundene Angst betrifft das Qualitative, dass es hier um die Freiheit selbst geht, um die Möglichkeit, Neues zu initiieren, aber auch fehlzugehen und das Böse tun, schuldig zu werden. Demgegenüber betrifft das Mehr oder Weniger im Abwägen des Konkreten jeweils nur das Quantitative der jeweiligen konkreten Ängste, die sich am Gegebenen ausrichten und so in der Endlichkeit hängenbleiben. „Wenn der Kierkegaard 1992 [1844], S. 67. Kierkegaard 1992 [1844], S. 71. 19 Kierkegaard 1992 [1844], S. 73. 20 Kierkegaard 1992 [1844], S. 64. 17 18
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Gegenstand der Angst ein Etwas ist, bekommen wir keinen Sprung, sondern einen quantitativen Übergang.“21 Für Kierkegaard ist also diese wesenhafte Angst etwas anderes als die subjektiven Ängste vor einer faktischen oder vorgestellten Gefahr. Angst charakterisiert das Menschsein grundlegend, so grundlegend wie Freiheit und Geistigkeit, ja sie ist mit ihnen aufs Engste verbunden. Es ist diese geistige Angst, die von Kierkegaard in ihrer positiven Funktion für das Menschsein gewürdigt wird. Dieser besonderen Leistung der Angst soll im folgenden Abschnitt etwas genauer nachgegangen werden. 5.1.3 Angst als dienender Geist. Freiheitsbewusstsein und Selbstbildung Der Mensch ist frei, immer wieder seine Verhaltensweisen zu ändern, Neues zu erforschen, unerwartete Kunstwerke zu erschaffen oder innovative ökonomische Strategien zu finden. Er verfügt über Spielräume autonomer Entscheidungen. Dies ist aber nicht nur die besondere Begabung des Menschen, sondern auch seine Last. Er kann mit sich und seiner Situation zufrieden oder unzufrieden sein, sich selbst glücklich oder unglücklich fühlen, sich seinen Begierden hingeben oder in Askese leben. Menschen sind in der Lage, die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse aufzuschieben. Sie müssen nicht jetzt essen, sondern halten es aus, noch zwei, drei Stunden zu warten. Sie sind in der Lage zu planen, wann sie welche Aufgabe erledigen wollen. Sie haben die Fähigkeit, darüber nachzudenken, was ihnen wichtig ist, und danach ihr Handeln auszurichten. Sie können sich Geschichten auf eine immer abgewandelte Weise erzählen und verschiedenste Zukunftsvisionen entwickeln. Mit den geistigen Fähigkeiten öffnen sich vielfältigste Möglichkeiten und Optionen. Der Begriff der Möglichkeit ist ein wichtiger Leitbegriff für Kierkegaards Überlegungen. Das Wissen um Möglichkeiten, die als Möglichkeiten noch nicht bestimmt sind (sonst wären es nicht Möglichkeiten), sondern aus deren Spektrum der Mensch jeweils selbst wählen muss, ist für Kierkegaard der Kern von Freiheit und zugleich der Boden der konstitutiven, den Menschen prägenden Angst. Kierkegaard setzt diese drei Aspekte – Möglichkeit, Freiheit, Angst – unmittelbar in Beziehung: „Die Angst ist die Möglichkeit der Freiheit“.22 Oder: „In der Angst liegt die selbstische Unendlichkeit der Möglichkeit“.23 Der Mensch ist durch Angst geprägt, weil er sich der Möglichkeit der Freiheit bewusst ist. Die Möglichkeit der Freiheit eröffnet sich aufgrund des geistigen Selbstverhältnisses. Weil der Mensch ein geistiges Wesen ist und Freiheitsbewusstsein hat, begleitet ihn die Angst. Zugleich ist Angst umgekehrt der Spiegel der Freiheit: „Die Möglichkeit der Freiheit verkündigt sich in der
Kierkegaard 1992 [1844], S. 90. Kierkegaard 1992 [1844], S. 181. 23 Kierkegaard 1992 [1844], S. 73. 21 22
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Angst.“24 Man könnte auch sagen, dass der Mensch überhaupt nur aufgrund der Angst weiß, wie es um ihn bestellt ist, dass sein geistiger Handlungsraum der Raum der Möglichkeiten ist. Die Dimension der Möglichkeit ist dabei entscheidend bestimmt durch die Fähigkeit des Menschen, aus Möglichkeiten wählen zu können und zu müssen, die quantitative Vielfalt der Möglichkeiten für ein konkretes Tun in der Realität hingegen ist nicht der entscheidende Aspekt. Und genau an dieser Qualität des Geistes, überhaupt ein Verständnis von Möglichkeit zu haben, setzt der Angstbegriff an. Angst ist „eine ängstigende Möglichkeit zu können“,25 denn der Kern der Angst ist es, frei entscheiden zu können, frei wählen zu können, frei etwas tun zu können. Der Bezugspunkt der Angst ist nicht etwas Fassbares, wie dies für die Furcht und die einzelnen Ängste gilt, sondern er ist die Unbestimmtheit, die Möglichkeit überhaupt. Im Phänomen der Angst werden wir uns aber nicht nur überhaupt erst bewusst, dass wir immer im Zustand der Freiheit sind, dass niemand uns das Leben und Abwägen abnimmt. Möglichkeit bedeutet als freie Wahl immer auch Belastung, Unüberschaubarkeit und Zweifel. Denn die Freiheit stellt den Menschen vor die prinzipielle Herausforderung, die Möglichkeiten seines Wollens und Tuns ständig abzuwägen, die Handlungsfolgen zu kalkulieren, schließlich zu entscheiden und die Entscheidungen verantworten zu müssen, ohne zu wissen, was letztlich aus ihnen erwachsen wird. Bringe ich mein Kind mit dem Fahrrad zur Kita, leiste ich damit etwas zum Klimaschutz, setze uns aber einem größeren Unfallrisiko aus als mit dem Auto. Fahren wir die Strecke mit dem Bus, ist es zwar am sichersten, kostet mich aber wegen ungünstiger Verbindung viermal so viel Zeit, die ich für andere Dinge sinnvoller verwenden könnte. Egal, wie ich entscheide, ich trage immer die Last der Verantwortung für mein Tun, weil es meine Möglichkeiten sind. Die Qual der Wahl mit ihrem Angstpotenzial spitzt sich noch dadurch zu, dass jedes Entscheiden nur einen Augenblick währt, denn sofort steht man wieder vor der Herausforderung, neue Aufgaben in Angriff zu nehmen. Im Prinzip stehe ich jeden Tag neu vor der Frage, wie ich mein Kind am besten zur Kita bringe. Ich kann diese Abwägungsprozesse zwar durch eine endgültige Festlegung beenden, ab sofort nehmen wir immer den Bus. Doch ich weiß auch, dass die Frage letztlich im Hintergrund präsent bleibt, weil die Freiheit nicht verschwindet. Ich kann nächste Woche meine „endgültige Festlegung“ doch wieder revidieren und lieber das Auto nehmen. So gibt es für das geistige Tun des Menschen kein Innehalten, kein Bewahren des Jetztzustandes, da dieser sogleich wieder zerrinnt in die Vielfalt der Möglichkeiten. Der Sinn der Möglichkeit ist gekoppelt an einen in die Zukunft offenen zeitlichen Horizont, an das noch Wählbare und Gestaltbare: „Das Mögliche ist für die Freiheit das Zukünftige, und das Zukünftige für die Zeit das Mögliche.“26 Der Mensch ist in der Lage, über den Moment hinaus zu denken, vorauszu Kierkegaard 1992 [1844], S. 88. Kierkegaard 1992 [1844], S. 53. 26 Kierkegaard 1992 [1844], S. 107–108. 24 25
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schauen, zu planen, Folgen abzuschätzen. Und er kann aus bisherigen Erfahrungen lernen, sich immer wieder vergegenwärtigen, was gut gelungen ist, oder sich mit eigenen Fehlern und Niederlagen auseinandersetzen. Angst als Reflexion der Möglichkeiten hängt auf diese Weise mit der spezifischen Art von Zeitbewusstsein des Menschen zusammen. Ohne die Fähigkeit, zeitlich zu denken, gäbe es keine Angst. Anders gesagt: Angst ist Bewusstsein der Freiheit – hinsichtlich der Zeitdimension der Zukunft. Wir denken in die Zukunft voraus, sind dabei aber niemals sicher, ob es so kommen wird, wie wir es uns vorstellen. So beschreibt Kierkegaard diese Verunsicherung sehr eindringlich: „Was wird kommen? Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht, ich ahne nichts. Wenn eine Spinne von einem festen Punkt sich in ihre Konsequenz hinabstürzt, so sieht sie stets einen leeren Raum vor sich, in dem sie nirgends Fuß fassen kann, wie sehr sie auch zappelt.“27 Dieser leere Raum ist die ungewisse Zukunft, von der ich nie wissen kann, was sie für mich bereithalten wird, oder genauer: was ich für mich wählen werde. Und ich kann strampeln, so viel ich will, wohin es mich führt, kann ich nicht mit Sicherheit wissen. Wie aber öffnet die geistige Angst den Blick für die eigene Freiheit, für die Möglichkeiten? Die Kapazität der Angst ist die Negation. Angst vernichtet die Bindung an das Konkrete, Endliche und Beschränkte und stärkt den Geist für seinen Blick ins Unendliche der immer neuen Möglichkeiten, aber auch – im Kontext des Glaubens – für den Bezug zur Transzendenz. Die Funktion der Angst besteht also darin, dass sie „alle Endlichkeiten verzehrt und deren sämtliche Täuschungen aufdeckt“,28 uns damit die vermeintlichen Sicherheiten des Alltags entzieht. Gerade dadurch ist der Mensch herausgefordert, sich selbst seine Lebensgestaltung zuzumuten. Die Angst hat freisetzende und reinigende Funktion, sie eröffnet dem Menschen den Sinn für neue Möglichkeiten. Angst zeigt die Freiheit des eigenen Wollens und Tuns. Durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Angst versteht der Geist sich selbst, seine Dimension der unendlich vielfältigen Sichtweisen und Handlungen. Sie ist auf diese Weise ein wesentlicher Aspekt der Selbstbildung des Geistes. „Wer durch die Angst gebildet wird, der wird durch die Möglichkeit gebildet, und erst wer durch die Möglichkeit gebildet wird, wird nach seiner Unendlichkeit gebildet.“29 Denn der Mensch ist nicht eine begrenzte, endliche Gegebenheit, sondern unendlich formbar, entwicklungsfähig, kreativ. Es ist nicht vorgegeben, was ein Mensch jeweils aus sich machen können wird. Die objektive, qualitative, grundlegende Angst ist es, um die es letztlich geht und der sich jeder Mensch stellen muss, denn nur an ihr kann sein Selbst wachsen und sich bilden: „erst wer die Angst der Möglichkeit durchgemacht hat, erst der ist gebildet genug, um sich nicht zu ängstigen – nicht weil er den Schrecken des Lebens entginge, sondern weil diese im Vergleich mit denen der
Kierkegaard 1988 [1843], S. 33. Kierkegaard 1988 [1843], S. 33. 29 Kierkegaard 1992 [1844], S. 182. 27 28
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Möglichkeit allemal verblassen“.30 Man kann sich also gegen die eigenen kleinen Ängste wappnen, indem man begreift, dass sie gegenüber der wahren Angst „verblassen“. Die eigentliche, qualitative Angst verweist auf die Ungewissheit dessen, wer wir selbst sind. Wenn der Geist sich selbst, sein eigenes Selbst fassen will, ist nichts zu ergreifen, das unerschütterlich Bestand hätte. „Die Wirklichkeit des Geistes zeigt sich ständig als eine Gestalt, die seine Möglichkeit versucht, jedoch fort ist, sobald er nach ihr greift, und ein Nichts ist, das nur zu ängstigen vermag.“31 Denn der Geist ist selbst nicht ein identifizierbares Ding, sondern eher ein Horizont oder eine Kapazität, aber kein feststehendes Faktum. Damit kann die Reflexivität auch nichts fassen, wenn sie das „Selbst“ ergreifen will. Alles löst sich auf in Möglichkeit, in das Unbestimmte, weil das geistige Tun Prozess ist, Fortschreiten, getragen von Freiheit. Und Freiheitsbewusstsein ist der Kern der Angst. Die geistige Selbstbildung, die Formung des eigenen Selbst, ist eine freie Aktivität des Geistes mit in die Zukunft offener Perspektive. Je weniger das Selbst durch konkrete Inhalte bestimmt wird, umso stärker kann es seine geistige Dimension der freien Selbstgestaltung entfalten. Wer sich selbst so ansieht, als ob er eine feststehende Persönlichkeit habe, eliminiert die Möglichkeit und behält nur die Endlichkeit zurück. Denn die Endlichkeit stellt die geistige Bewegung still. Jedoch „in der Möglichkeit ist alles gleich möglich“32 und damit nichts schon bestimmt. Dies zu verstehen, entspricht dem Begreifen des Zusammenhanges von Geist, Freiheit und Angst. Wer sich zur Angst bildet, entfaltet die volle Potenzialität seines Geistes. In diesem Bildungsprozess kann sich ein Mensch an der Angst orientieren und mit ihr wachsen: „Die Angst wird ihm ein dienender Geist, der ihn gegen den eigenen Willen führt, wohin er will. Und wenn sie sich dann meldet, wenn sie hinterlistig tut, als hätte sie jetzt ein ganz neues Mittel des Schreckens erfunden, als wäre sie jetzt noch viel entsetzlicher als zuvor, dann zieht er sich nicht zurück, noch weniger sucht er sie durch Lärm und Verwirrung fernzuhalten, sondern er heißt sie willkommen, er begrüßt sie feierlich, wie Sokrates feierlich den Giftbecher schwenkte, er schließt sich mit ihr ein, er sagt wie ein Patient zum Operateur, wenn die Operation beginnen soll: Jetzt bin ich bereit. Dann geht die Angst in seine Seele ein und prüft alles und ängstet das Endliche und Kleinliche aus ihm he raus, und dann führt sie ihn, wohin er will.“33 Hiermit ist bildlich beschrieben, was die Angst vermag. Sie befreit den Menschen von der Gebundenheit an die endlichen, beschränkten Gegebenheiten. Angst öffnet den Geist für die unendliche Potenzialität der eigenen Möglichkeiten und zwar der Möglichkeiten, die man selbst wählt und will, oder wie es im Zitat hieß, die Angst führt ihn, „wohin er will“.
Kierkegaard 1992 [1844], S. 183–184. Kierkegaard 1992 [1844], S. 48. 32 Kierkegaard 1992 [1844], S. 182. 33 Kierkegaard 1992 [1844], S. 185–186. 30 31
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Doch muss verstanden werden, dass die Ausrichtung allein auf die Freiheit ebenfalls zur Vereinseitigung führt. Die richtige Sichtweise besteht darin, Endlichkeit und Unendlichkeit, Bestimmtsein und Freiheit zugleich zu sehen. Blickt man nur auf die Endlichkeit, verliert man sich in der Furcht und den einzelnen Ängsten. Diesen Zustand nennt Kierkegaard „geistlos“, hier wird die eigentliche Angst gar nicht erreicht. Blickt man nur auf die Seite der Unendlichkeit, d. h. der Möglichkeit, der Freiheit, der Unbestimmtheit, bleibt alles in der Schwebe, verliert sich das Ich und der Geist kommt nie zu Entscheidungen, weil ihm der substanzielle Inhalt fehlt. Hier kann Angst eigentlich auch nicht entstehen, weil das fehlt, worum sich das Ich ängstigen könnte. Erst im Zusammenspiel von geistiger Freiheit und dem Setzen der Synthese, die sich auf das Verhältnis Körper – Seele bezieht, kann Angst sich ausbilden. Obwohl die Angst nicht überwindbar ist, spielt sie doch für die verschiedenen Menschen eine unterschiedliche Rolle. Prinzipiell gilt: Entweder der Mensch stellt sich der Freiheit und damit der Angst, oder er versucht, sich der Freiheit zu entziehen und die Angst kleinzuhalten oder ganz zu leugnen. Kierkegaard zufolge entscheiden sich die Meisten für die zweite Variante, die Verdrängung. Hier nutzt der Geist seine Freiheit dazu, sich in Unfreiheit zu begeben. Denn die Flucht vor der Angst ist Flucht vor der Freiheit. Die Angst zu ignorieren oder zu überdecken bedeutet, die Unfreiheit zu wollen. Dies geschieht durch ein innerliches Verschließen gegenüber den Möglichkeiten, die die Freiheit mit sich bringt. Man klammert sich an die konkreten Dinge und Gegebenheiten, an feste Strukturen und Lebensformen, an Autoritäten und Ideologien, weil man die Offenheit des Lebens nicht ertragen kann. Vielfältigste Formen kann diese Angst vor der Freiheit annehmen, von Weltflucht bis zu Feigheit und Heuchelei. Das Selbstverhältnis des Menschen, seine Lebensführung im Umgang mit der eigenen Freiheit und Angst kann verschiedene Stufen der Intensität ausprägen. Ist ein Mensch wenig reflektiert, ist er eher körperlich-seelisch bestimmt, sind für ihn direkte Bedürfnisse und Reaktionen bestimmend. Ist er jedoch eher geistig dominiert, weiß er um die unerschöpfliche Dimension seiner Freiheit. Diese verschiedenen Grade von Freiheit und Angst untersucht Kierkegaard auch hinsichtlich dessen, was er Verzweiflung nennt. 5.1.4 Das Bewohnen der eigenen Kelleretage. Verzweiflung als Äußerungsform der Angst Viele Umschreibungen bietet Kierkegaard an, um das Phänomen der Verzweiflung zu fassen: Sie ist etwas Nagendes, ein innerer Brand, eine Selbstverzehrung, Qual, Bedrängnis etc. Doch dabei geht es gerade nicht um die oberflächliche Sichtweise, in der man schnell einmal davon spricht, über dies oder jenes verzweifelt zu sein. Auf dieser Ebene dringt man gar nicht zum wahren Verständnis der Verzweiflung durch. Für Kierkegaard ist jeder Mensch verzweifelt, ob er es wahrhaben will oder nicht, ob er es zugibt oder nicht, genauso wie auch die geistig geprägte Angst dem Menschen wesenhaft angehört. Die
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Verzweiflung liegt nahe bei der Angst, sie lässt sich so verstehen, als ob beim Menschen „im Innersten eine Unruhe wohne, ein Unfrieden, eine Disharmonie, eine Angst vor etwas Unbekanntem oder vor etwas, womit er nicht einmal Bekanntschaft zu machen wagt, eine Angst vor einer Möglichkeit des Daseins oder eine Angst vor sich selbst“.34 Denn der Mensch steht geistig immer in Relation zu sich selbst, stets schwingt die Selbstreflexivität mit, selbst wenn er sich mit den überschaubaren Dingen in der Alltagswelt beschäftigt. Dieser geistige Selbstbezug ist der Boden der Verzweiflung wie der Angst. Auch bei seinen Erörterungen zur Verzweiflung arbeitet Kierkegaard mit dem begrifflichen Grundmodell Körper – Seele – Geist. Woher kommt die Verzweiflung, fragt Kierkegaard, und er antwortet: „Von dem Verhältnis, in dem die Synthese sich zu sich selbst verhält. Und darin, daß das Verhältnis Geist ist, das Selbst ist, darin liegt die Verantwortung, unter welcher alle Verzweiflung ist und jeden Augenblick ist, den sie ist“.35 Geht man also aus vom reflexiven Geist, der sein Selbstverhältnis stets selbst aus eigener Freiheit konstituiert, so ist er deshalb selbst verantwortlich. Und aus der Verantwortung erwächst die Verzweiflung, weil dem Selbst bewusst ist, dass es die Möglichkeiten des Misslingens, des Fehlgehens, des Ungenügens und Scheiterns nicht auslöschen kann. In der Verzweiflung entfaltet sich damit wie bei der Angst eine innere Spannung, eine Nichtharmonie, ein Missverhältnis. Die Verzweiflung ist kein Automatismus, keine biologische Prägung, sondern sie ist Selbstreflexion. So kann der Mensch die Verzweiflung auch nicht abschütteln, da er sein eigenes Selbstverhältnis und die Verantwortung für sich selbst nicht wegschenken kann wie ein Ding. Es muss also nicht erst irgendetwas im Leben schiefgelaufen sein, um zu verzweifeln. „Denn die Verzweiflung folgt nicht aus dem Mißverhältnis, sondern aus dem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Und das Verhältnis zu sich selbst kann ein Mensch nicht loswerden, sowenig wie sein eigenes Selbst, was im übrigen ein und dasselbe ist, da ja das Selbst das Verhältnis zu sich selbst ist.“36 Kierkegaard sieht in der Verzweiflung dennoch eine Art „Krankheit“ des Geistes. Sie ist die „Selbstverzehrung“37 angesichts der Einsicht, dass man da ist, dass man es ein Leben lang mit der Unbestimmtheit in sich selbst aushalten muss und dass man „nicht zu Nichts werden kann“.38 Denn der Geist, der im Selbstverhältnis die Synthesen setzt, der die Inhalte formt und die eigene Situation beurteilt, leistet dies permanent, er ist in ständiger Bewegung. Das Selbst, der Geist, ist nichts inhaltlich oder personal Fixierbares, sondern ein Prozess, in dem das Selbst zwischen zwei Polen hin- und herspringt, einerseits vor Möglichkeiten zu stehen (Unendlichkeit), andererseits sich im Konkreten für eine der Möglichkeiten zu entscheiden (Endlichkeit). In der geistigen Ver Kierkegaard 1995 [1849], S. 21. Kierkegaard 1995 [1849], S. 21. 36 Kierkegaard 1995 [1849], S. 17. 37 Kierkegaard 1995 [1849], S. 18. 38 Kierkegaard 1995 [1849], S. 19. 34 35
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mittlungsarbeit muss das Selbst immer Synthesen herstellen, aber dies ist nur möglich als ständige Setzung und Aufhebung, aus der die Entwicklung hervortreibt. Dementsprechend ist auch die Verzweiflung (ebenso wie die Angst) immer da: „es gibt keine unmittelbare Gesundheit des Geistes“39 in dem Sinne, dass das Selbst einen Endpunkt der friedvollen Harmonie erreichen könnte. Der Geist ist aktiv und offen, die endliche Seite des Menschen sehnt sich aber nach Stabilität. Doch jede Flucht in äußerliche Sicherheiten ist eine Verdrängung und Verdeckung der eigenen Freiheit und deshalb nur Selbstbetrug, weil das eigene Menschsein mit seiner Freiheit nicht abgelegt werden kann wie ein Kleidungsstück. Es kommt nicht darauf an, sich ein stabiles Fundament zu bauen, auf dem dann das Lebenswerk errichtet werden könnte. Vielmehr ist die entgegengesetzte Strategie die einzig sinnvolle, nämlich mit der Unbestimmtheit bewusst umzugehen. Doch der einzelne Mensch kann sich sehr unterschiedlich zu sich selbst verhalten und an der Freiheit verzweifeln. „Der Grad des Bewußtseins ist im Steigen oder im Verhältnis dazu, wie es steigt, die ständig steigende Potenzierung in der Verzweiflung; je mehr Bewußtsein, desto intensivere Verzweiflung.“40 Kierkegaard hat dabei verschiedene Typen der Verzweiflung unterschieden. Die einfachste Art der Verzweiflung besteht darin, dass gar nicht darüber nachgedacht wird, was es heißt, ein Selbst, ein geistiges, reflektierendes Wesen zu sein. Damit flieht man vor jeglicher bewussten Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben. Es ist dies eine Lebenseinstellung, mit der man die eigene Freiheit nicht wahrhaben oder nicht tragen will, in der man sich vor den eigenen Möglichkeiten versteckt. Diese geistlose, selbstvergessene Lebensform, die sich über sich selbst gar keine Gedanken macht, hat Kierkegaard in einer treffenden Analogie beschrieben: Wenn man sich ein Haus aus Keller, Erdgeschoss und erster Etage vorstellt, in dem die Bewohner der Etagen jeweils von Stock zu Stock durch höhere Selbstbewusstheit gekennzeichnet sind, „so ist leider bei den meisten Menschen dies Traurige und Lächerliche der Fall, daß sie es vorziehen, in ihrem eigenen Haus im Keller zu wohnen“.41 Wer freiwillig im Keller wohnt, verzichtet darauf, sich zur eigenen vollen Geistigkeit zu erheben. Und gerade diese Geistlosigkeit ist eine Form von Verzweiflung, wenn auch unbewusster Verzweiflung. Ein solches Leben der Geistlosigkeit kann voller ästhetischer oder leiblicher Genüsse sein, und dennoch ist es Verzweiflung. Wenn man eine gewisse Selbstreflexivität hat, kann es eine Verzweiflung geben, die sich nach außen richtet, auf das, was einem in der äußeren Welt zustößt, auf all die Misslichkeiten, Schicksalsschläge oder Katastrophen. Fühlt sich das Ich dabei zu schwach, um diesen äußeren Geschehnissen Stand zu halten, hadert es mit dem, was ihm widerfährt, ohne in der Lage zu sein, produktiv mit der Situation umzugehen. Es entstehen Gefühle der Ohnmacht und Schwäche, oder das Ich zieht sich in die Einsamkeit zurück. Diese Haltung Kierkegaard 1995 [1849], S. 24. Kierkegaard 1995 [1849], S. 40. 41 Kierkegaard 1995 [1849], S. 41. 39 40
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kann sich so weit steigern, dass der Betroffene Suizid-Gedanken hegt, um so alles Bedrückende abzuwerfen. Diese Fixierung auf das Äußere kann auch dazu veranlassen, ein Leben der geistlosen und selbstgefälligen Spießbürgerlichkeit zu führen, in dem man sich äußerlichen Normen anpasst. Rückt das eigene Ich in den Fokus, kann sich eine höhere Form der Verzweiflung ausprägen. Wenn dabei die Akzeptanz der Freiheit noch nicht voll erreicht ist, kann der verzweifelte Blick auf sich selbst in zwei Richtungen tendieren. Eine Strategie kann sein, am liebsten nicht man selbst, sondern ein ganz anderer Mensch sein zu wollen, weil man sein eigenes Selbst herabwürdigt und die anderen jeweils besser, schöner, klüger, begehrenswerter, erfolgreicher findet. Auch diese Selbsterniedrigung ist eine Form der Verzweiflung. Oder man stellt sich der Verzweiflung, jedoch auf eine übersteigerte, trotzige Weise. Kierkegaard nennt dies die „Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein zu wollen“.42 Dieser Trotz bewirkt aber das Gegenteil des Gewollten. Wer ein Selbst mit trotziger Anstrengung erschaffen will, findet nur etwas Abstraktes, Inhaltsloses, erreicht nur „ein hypothetisches Selbst“, vergleichbar einem König ohne Land.43 Dies entspräche beispielsweise, so jedenfalls Kierkegaard, der Lebensauffassung der Stoiker, die meinten, ihre innere Stabilität dadurch zu erreichen, dass sie sich möglichst aus der Welt zurückzögen und ihre eigenen Gefühle und Befindlichkeiten kontrollierten. Je geistiger ausgerichtet die Verzweiflung eines Menschen wird, umso intensiver richtet sie sich auf dessen eigene Innerlichkeit, das eigene Selbst. Die höchste und wahrhafteste Form der Verzweiflung nach menschlichem Maßstab ist erreicht, wenn das Ich zum vollen Bewusstsein seiner Freiheit gekommen ist. Hier weiß der Mensch um die Last der Freiheit, um die Unmöglichkeit, sich nicht in Schuld und Sünde zu verstricken. Kierkegaards Darstellung mündet in die Art von Verzweiflung, die nur den religiösen Menschen heimsucht, als Haltung des Ungenügens gegenüber der Forderung einer ewigen und absoluten göttlichen Macht. Denn erst ein solcher Glaube an die Dimensionen von Ewigkeit, Unendlichkeit, Vollkommenheit, Wahrhaftigkeit geben dem Gläubigen den Horizont, den er als Maßstab für sein höchstes Selbstsein braucht und nicht aus sich selbst allein gewinnen kann. Damit ist aber das Selbstsein wieder abhängig von etwas, das nicht in der eigenen Macht steht, und damit ebenfalls Verzweiflung. Zumindest hofft der religiöse Mensch auf eine gewisse Weise auf einen Ausweg aus der Verzweiflung durch seinen Glauben. Kierkegaard weist aber darauf hin, dass der wahre Glaube gerade nicht entlastet, sondern das Selbstverhältnis in seiner Unbeherrschbarkeit noch steigert, weil der Bezugspunkt des Göttlichen als des Absoluten kein menschliches Maß mehr ist, sondern etwas, das den Menschen eigentlich überfordert und nur durch einen tiefen Glauben ertragen werden kann. Das Absolute, Göttliche, scheint zwar einerseits ganz nah und allumfassend, doch andererseits ist es unüberbrückbar weit vom Menschenent Kierkegaard 1995 [1849], S. 65. Kierkegaard 1995 [1849], S. 67.
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fernt. So kann das Bewusstsein des Ungenügens vor Gott nie getilgt werden. Überwunden werden Verzweiflung und Angst niemals. Christlich gesehen gibt es nur die Hoffnung auf Erlösung,44 die aber aus irdischer Sicht nicht mit Sicherheit erwartet werden darf. Der Glaube scheint die einzige Möglichkeit, der Verzweiflung und Angst zu entgehen. „Der Glaubende besitzt das ewig sichere Gegengift gegen Verzweiflung: Möglichkeit; denn bei Gott ist alles möglich in jedem Augenblick. Das ist die Gesundheit des Glaubens, die Widersprüche löst.“45 Und doch bleibt die Freiheit mit ihrer Unberechenbarkeit bestehen, sie kann nicht abgelegt werden. In seiner Charakterisierung der Verzweiflungstypen hat Kierkegaard eine Steigerung dargestellt, in der das Selbst zu immer intensiverer Einsicht in die eigene Geistigkeit gelangt. Die Reflexivität wird dabei Stück für Stück weiter ausgeprägt, die Freiheit immer bewusster und damit die Herausforderung an die Selbstbestimmung immer größer. Er hat dabei zugleich hervorgehoben, dass die volle Reflexivität, die Einsicht in die eigene Verfassung als geistigem Wesen, nur selten erreicht wird. „Je mehr durchreflektiert die Verzweiflung wird, desto seltener ist sie zu sehen oder kommt sie in der Welt vor. Aber dies beweist, daß die meisten Menschen nicht einmal besonders tief geschürft haben im Verzweifeln, keineswegs dagegen, daß sie nicht verzweifelt sind.“46 Dies gilt parallel ebenso für die Angst. Auch für sie sind solche unterschiedlichen Niveaustufen identifizierbar. Die simpelste Stufe ist die der Geistlosigkeit, auf der es noch gar keine Angst gibt, sondern nur Furcht, die affektive körperlich-seelische Reaktion auf Gefahr. Die Angst beginnt erst da, wo der Geist mit seinem Bewusstsein der Möglichkeit aktiv ist. Schon die kleinste Ahnung davon, dass eine Möglichkeit sich auftut und der Geist etwas zu entscheiden hat, lässt die Angst aufscheinen. Doch ist das Ich, das sich selbst die Freiheit nicht zutraut, immer dabei, sich die eigene Ungesichertheit nicht einzugestehen und sich an den Endlichkeiten festzuklammern. Für die meisten Menschen dreht sich deshalb alles um die kleineren oder größeren Ängste des Alltags, sie beruhigen sich bei ihren Gewohnheiten und flüchten in Ablenkungen. Diese fehlgeleitete Fokussierung verhindert aber, die Dimension der geistig-reflexiven Angst als der eigentlichen Möglichkeitsstruktur des Selbst zu erfassen. Damit reduziert man jedoch sich selbst und verkümmert geistig im Keller des eigenen Hauses, obwohl einem die Beletage zur Verfügung stehen könnte. Das Selbst hingegen, das sich der eigenen Freiheit stellt, wird in vollem Umfang die begleitende Angst akzeptieren und gutheißen. Doch auch hier sieht Kierkegaard noch einmal eine Steigerungsmöglichkeit. Die Haltung, die eine wirkliche gereifte Persönlichkeit auszeichnet, nennt Kierkegaard Ernst. Es ist die Haltung der wahren Innerlichkeit und Selbstgewissheit eines geistig- reflexiven, freien Wesens. Die ernsthafte Persönlichkeit weiß, dass ihr Selbst Vgl. Kierkegaard 1992 [1844], S. 63. Kierkegaard 1995 [1849], S. 38. 46 Kierkegaard 1995 [1849], S. 55. 44 45
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nichts anderes als die eigene Wahl und Entscheidung ist und dass sie in dieser Selbstwahl nicht etwas Konkretes und Stabiles wählt, sondern die eigene Existenzform, das eigene Ich insgesamt als Möglichkeit und Freiheit. In dieser Einsicht, in der Bewusstheit des selbstreflexiven Geistigen als der Erlebensform der Angst, besteht Kierkegaard zufolge die wahre Würde des Menschen. Denn in der Angst erweist sich das Wesentliche des Menschen, sie ist „ein Ausdruck für die Vollkommenheit der menschlichen Natur“.47 Sie ist vollkommen darin, dass der Mensch die Freiheit hat, sich zu sich selbst, zu der Welt, in der er lebt, zu seinem Gott nach eigener Entscheidung zu verhalten. Das letzte Kapitel der Angst-Schrift kündigt an: „Angst, als erlösend durch den Glauben“. Jedoch die Hoffnung auf Erlösung wird auch hier nicht eingelöst. Der Glaube geht zwar mutig daran, „ohne Angst der Angst zu entsagen“, aber er muss lernen, dass er dabei „doch nicht die Angst vernichtet“, denn sie ist zutiefst verbunden mit dem Wesen des Geistes. Und nur, weil der Mensch ein geistiges Wesen ist, kann er überhaupt so etwas wie Glauben entwickeln. Der Gläubige muss sogar erkennen, dass der Glaube auf die Angst angewiesen ist, dass sich der Glaube „ständig aus dem Todesaugenblick der Angst entwickelt“.48 Mit dieser Formulierung „Todesaugenblick“ markiert Kierkegaard die Größenordnung, die in der Angst betroffen ist: Es geht um das Ganze der eigenen Existenz. Doch um diese Dimension überhaupt erfassen zu können, ist die richtige geistige Einstellung erforderlich, die die meisten Menschen nach Meinung Kierkegaards nicht auszuprägen willens sind, weil sie sich am Kleinen und Engen festhalten, an den Kulissen und Möblierungen ihres Lebens. Sie kommen gar nicht zur vollen Kapazität dessen, was ein menschlicher Geist als Selbst vermögen könnte. Sie sitzen im fensterlosen Keller und sehen die Sonne nicht. Deshalb geht es darum, eine richtige Einstellung der Verzweiflung und Angst gegenüber zu entwickeln. In den beiden Grundformen der Angst und Verzweiflung hat Kierkegaard aufgezeigt, worin die entscheidende Dimension des Menschlichen besteht: in seiner Geistigkeit, seinem Selbstverhältnis, in dem der Mensch seine Freiheit realisiert. Unter dem Aspekt der Freiheit ist jeder Mensch bedingungslos auf sich selbst gestellt. Das Selbstsein ist niemals zu bemessen an einer Vielheit von Gleichen, sondern ist immer das Besondere und Individuelle, das seinen Maßstab nur in sich selbst haben kann. „Ein Selbst ist qualitativ das, was sein Maßstab ist.“49 Je mehr Reflexivität entfaltet wird, je mehr sich die Aufmerksamkeit auf das eigene Selbstsein, auf die eigene Individualität und freie Gestaltungskraft richtet, desto größer ist das Bewusstsein vom eigenen Gefährdetsein in den Möglichkeiten. Und so, wie das Selbst immer nur für sich selbst steht, muss es die Konsequenzen seiner freien Entscheidung tragen. Religiös gesehen kann dementsprechend ein Einzelner auch seine eigene Sünde nicht mit ande-
Kierkegaard 1995 [1849], S. 85. Kierkegaard 1992 [1844], S. 137. 49 Kierkegaard 1995 [1849], S. 108. 47 48
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ren teilen oder sie anderen auferlegen. „Die Kategorie der Sünde ist die Kategorie des Einzelnen.“50 Diese radikal individualisierte Perspektive koppelt das Selbst von allen äußeren Bedingungen ab. Für die Selbstbestimmung gibt es weder eine Grundlage noch ein fixierbares Ziel, kein bequemes Einrichten im Jetztzustand, da dieser sich sofort wieder auflöst in die Vielfalt weiterer Möglichkeiten. So zerrinnt dem reflektierenden, geistigen Selbst jede vermeintlich stabile Wirklichkeit zu neuen Möglichkeiten, die beim Versuch, sie festzuhalten, sich als nicht fassbar erweisen, als Nichts. In der Bestimmung der Angst als wesenhaftem Charakteristikum des Menschen folgen in der späteren Existenzphilosophie vor allem Heidegger und Sartre der Pionierarbeit Kierkegaards. Während für Kierkegaard jedoch immer auch der Glaubensbezug eine wichtige Rolle spielt und auf eine gewisse Weise sein Menschenbild zuspitzt, tritt dies für Heidegger und Sartre in den Hintergrund.
5.2 Martin Heidegger: Angst als Ausdruck der Sorge um das eigene Dasein Martin Heidegger (1889–1976) wurde mit seinem 1927 erschienen Werk Sein und Zeit berühmt. Er untersucht darin die doppelte Perspektive, dass Menschen einerseits eingebunden sind in ihre alltäglichen Lebensvollzüge, andererseits über die Kapazität der Selbstbestimmung verfügen. Selbstbestimmung erfordert Reflexivität, ein Bewusstsein von sich selbst. Menschen setzen sich mit ihrem eigenen Leben auseinander, sie fragen, wer sie selbst sind, was ihnen wichtig ist, wie sie leben wollen. Diese spezifische Sichtweise unterstreicht Heidegger dadurch, dass er vom Menschen als Da-sein spricht. Das bedeutet, dass der Mensch nicht einfach „ist“, sondern er weiß, dass er „da“ ist, er denkt darüber nach, wie er die Welt sieht und wie er in der Welt lebt. Diese Besonderheit des Menschen, als Dasein zu sich selbst in einem Verhältnis zu stehen, bezeichnet auch Heidegger – in Anlehnung an Kierkegaard – als Existenz. Die Begriffe Dasein und Existenz haben denselben Gehalt. Man könnte auch sagen: Der Mensch existiert in der Form des Daseins. In der Analyse der wesentlichen Strukturen des Daseins eines Menschen zeigt sich, dass alles Tun in der Welt und alle Beziehungen zu anderen Menschen immer zurückbezogen sind auf die Frage nach sich selbst. „Das Dasein existiert als ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht.“51 Das Dasein fragt nach den eigenen Möglichkeiten, sein Leben zu führen, es sorgt sich um sein ganz eigenes In-der-Welt-sein. Insofern ist Dasein gleichbedeutend mit der Sorge um sich selbst, um die eigene Weise, da zu sein. Dieser Begriff Sorge meint nicht das alltägliche Besorgtsein um Dieses und Jenes, sondern soll die Grundsituation des Menschen fassen, dass man bei allem, was man fühlt, Kierkegaard 1995 [1849], S. 113. Heidegger 1986 [1927], S. 406.
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denkt und tut, immer auf sich selbst bezogen bleibt, dass es das eigene „Selbst“ ist, das denkt, hofft, leidet und sich sorgt. Wie jeder Einzelne sein Leben führt, wovon er sich beeindrucken lässt, wofür er sich entscheidet, beruht auf diesem eigenen Selbst. Das Selbst hat an sich selbst den Maßstab, es schwingt überall mit, es sorgt sich um sich selbst, um seine Daseinsmöglichkeiten in der Welt. Heideggers philosophisches Anliegen ist es, die wesentlichen Aspekte zu ermitteln, die das Dasein auszeichnen. Dabei spielt die Angst eine bedeutende Rolle. Aber sie ist nur eine Komponente in einem Geflecht von Strukturen, die dem Dasein seine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen. Dazu gehören auch das Gewissen, die Bezugnahme auf den Tod und das damit verbundene Verständnis der eigenen Endlichkeit, das Entwerfen eigener Zukunftsvorstellungen, aber auch das Bewusstsein der eigenen Freiheit und der daraus resultierenden Verantwortung für die eigenen Entscheidungen. Alle diese Aspekte erfordern ein umfassendes Verstehen der Welt und des eigenen Selbstseins. 5.2.1 Verstehen und Befindlichkeit, Geworfenheit und Entwurf Aus Sicht Heideggers ist es entscheidend, dass die Bezugnahme auf sich selbst nicht vorrangig durch rationales Denken erfolgt, es geht auch nicht um ein bloßes Faktenwissen. Vielmehr sieht Heidegger das menschliche Bewusstsein als eine vielschichtige und komplexe Aktivität an, die Informationen nicht nur kognitiv gewinnt. Zu diesen Vermögen, die das Selbstverstehen gewährleisten, also Auskunft geben über die eigene Grundsituation, gehören auch Furcht und Angst. Bevor genauer erläutert werden kann, wie Heidegger Furcht und Angst einordnet, ist noch ein Zwischenschritt zu gehen, in dem erläutert werden soll, wie das Dasein seine Weltsicht entwickelt. Menschen stehen in der Welt, ihr Leben vollzieht sich innerhalb natürlicher, kultureller, sozialer Umgebungen. Menschen machen hier ihre Erfahrungen, entwickeln Vorstellungen, Einsichten, Überzeugungen, Werturteile, Gefühle, Leidenschaften und Lebensmuster, und sie können sich in der Welt auf unterschiedlichste Weise verhalten. Die entscheidende geistige Leistung dabei ist für Heidegger das Verstehen. Damit meint er nicht so etwas wie inhaltlich zu verstehen, was ein anderer sagt und meint, oder eine Sache in ihrer Funktionsweise zu verstehen. Vielmehr ist für ihn Verstehen die Gesamtheit dessen, wie ein Mensch sich selbst und seine Welt sieht, wie er seinen eigenen Ort in der Welt und damit sich selbst bestimmt. Im Verstehen erhalten die Dinge, Ereignisse und Geschehnisse ihre jeweilige Bedeutsamkeit für den Menschen. Verstehen ergibt sich aus der Gesamtheit der menschlichen Weltbezüge, aus den Stimmungen und Befindlichkeiten, aus den Erfahrungen beim Umgang mit den Dingen und mit anderen Menschen, aus dem Sachwissen und den eigenen Zukunftsvorstellungen. Dieses umfassende Verstehen gibt die jeweilige Sicht des Daseins auf die Welt und untrennbar davon auch das Selbstverstehen.52
Heidegger 1986 [1927], S. 146.
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Was im Selbstverstehen dabei vor allem bewusst wird, ist die Möglichkeit der freien Selbstgestaltung des eigenen Lebens. Für das Verstehen grundlegend ist eine Funktion, die Heidegger Stimmungen nennt. Jede Situation, in der man sich befindet, wird durch Stimmungslagen charakterisiert. Stimmungen sagen etwas über mich selbst und mein momentanes Verhältnis zur Welt aus. Sie geben Aufschluss darüber, wie das Ich eine konkrete Situation wahrnimmt und einordnet, und sagen damit auch etwas über das Ich aus. Stimmungen sind also ein wichtiger Teil des Welt- und Selbstverstehens. Was ihnen aber fehlt, ist die geistige Verarbeitung, die Reflexivität, die erst durch den Gesamtprozess des Verstehens geleistet wird. Stimmungen müssen eingeordnet und bewertet werden. Im umfassenden Verstehen entwickelt der Mensch seine grundlegenden Lebensvorstellungen, gibt er seinem Leben einen eigenen Sinn. Das Verstehen resultiert aus bisherigen Erfahrungen und mündet in das Entwerfen der Lebenszukunft. Hierbei überlagern sich für das Dasein zwei Aspekte. Auf der einen Seite wird jeder Mensch durch Sozialisation zunächst in eine bestimmte Lebenssituation hineingestellt, Heidegger nennt dies Geworfenheit. Denn Eltern, regionale Herkunft, soziale Prägung, kulturelle Einflüsse, Muttersprache, die politische Situation suchen wir uns nicht aus. Sie bilden den nicht zu eliminierenden Lebenshintergrund, in den wir ohne unser Zutun hinein geworfen sind. Auf der anderen Seite ist aber jeder Mensch nicht einfach das Produkt seiner Umwelt, sondern ist zugleich frei darin, wie er sich zu seiner Geworfenheit verhält, was er aus seinen Möglichkeiten macht. Das menschliche Dasein ist keine unveränderliche Gegebenheit, sondern es ist eigene Aktivität, ist Wählen, Entscheiden und Handeln. Jeder Mensch ist nicht nur geworfen und damit kulturell geprägt, sondern zugleich auch entwerfend und gestaltend, er entscheidet über sich selbst im Projektieren seiner Lebensziele, seiner Zukunftsvorstellungen. Jeder Mensch ist herausgefordert, einen Entwurf seines Lebens auszubilden, die Spielräume für sich selbst zu bestimmen. Und dieses Entwerfen der eigenen Lebensziele ist neben der Welterschließung eine der wesentlichen Aufgaben des Verstehens überhaupt. „Das Verstehen ist, als Entwerfen, die Seinsart des Daseins, in der es seine Möglichkeiten als Möglichkeiten ist.“53 Was hier zum Vorschein kommt, ist die Kapazität des Menschen, sein Dasein unter dem Aspekt der Möglichkeitsstruktur zu verstehen. Der Mensch hat nicht nur einfach Möglichkeiten, sondern er ist in seinem Selbstentwurf kon stitutiv nichts anderes als Möglichkeit. Weil das menschliche Dasein mit Blick auf die Zukunft nicht festgelegt, sondern durch Möglichkeit gekennzeichnet ist, muss es im Entwurf erst bestimmen, was es sein will, ohne dabei jedoch die Zukunft fest in der Hand zu haben. Menschen sind niemals rein in der Gegenwart zu Hause, sondern alles, was sie tun, trägt einerseits in der Form der Geworfenheit die Vergangenheit in sich und ist andererseits auf Zukünftiges gerichtet. Unser Blick in die Zukunft ist unserem faktischen Leben immer schon ein Stück voraus, sich-vorweg, wie Heidegger 1986 [1927], S. 145.
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Heidegger es nennt. Während aber die Vergangenheit geschehen ist, an ihr lässt sich nichts mehr ändern, liegt die Zukunft als Feld unbestimmter Möglichkeiten noch vor uns. Hier zeichnet sich die eigentliche Aufgabe ab. Deshalb ist für Heidegger das „sich-vorweg-Sein“, der Blick in die Zukunft, die entscheidende Bestimmung des Daseins. Auf der Grundlage des eigenen Zukunftsentwurfs, der eigenen Lebens-Sicht, schafft sich der Mensch einen Verstehens- und Sinnhorizont, aus dem er alles interpretiert, was ihm begegnet und geschieht. Diese Fähigkeit der Selbstformung mit Blick in die Zukunft ist konstitutiv menschlich. Hier trägt der Mensch Sorge für sich selbst. Die Sorge richtet sich immer auf die Möglichkeiten des Daseins Richtung zukünftiges Leben, auf die noch bevorstehenden eigenen Lebenssituationen und Entscheidungen. Denn das macht ja die menschliche Existenz, das menschliche Dasein aus, sich selbst aus eigener Freiheit die Richtung für das eigene Leben vorzugeben, sich überhaupt als frei für dieses Bestimmen-Können zu verstehen. „Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen.“54 Die entscheidende Frage dabei ist aber nun, wie das Verstehen und Ergreifen der eigenen Freiheit realisiert werden kann, wenn wir als Menschen doch zunächst einmal eingebettet sind in unser soziales und kulturelles Umfeld, das uns prägt, das als normal und selbstverständlich angesehen und meist nicht in seiner Geltung hinterfragt wird. In diesem alltäglichen Leben sind wir fest eingebunden in vorgegebene Normen, Traditionen und Gewohnheiten. In ihnen ist die Perspektive der Selbstbestimmung wie von einem großen Tuch verdeckt. Um hier selbst aus eigener, freier Entscheidung Möglichkeiten zu ergreifen und damit die Sorge für sich zu übernehmen, ist die Loslösung aus den bestehenden Bindungen erforderlich. Dieses nun ist nach Heidegger die Funktion der Angst. Bevor jedoch der Angstanalyse genauer nachgegangen werden kann, muss die Abgrenzung vom Gefühl der Furcht erläutert werden. 5.2.2 Die grundlegende Unterscheidung zwischen Furcht und Angst Die Differenz zwischen Furcht und Angst resultiert in Heideggers Konzept aus der Doppelperspektive auf das Dasein, einerseits eingebunden zu sein in die konkreten, alltäglichen Lebenskontexte, zum anderen aber über Freiheit zu verfügen, die eigene Lebensgestaltung selbst zu wählen. Die Bedrohungen im Alltag fasst Heidegger unter dem Begriff der Furcht zusammen. Furcht ist ausgerichtet auf etwas in der Welt, wodurch man direkt bedroht ist oder sich bedroht fühlt. Formen der Furcht sind beispielsweise Scheu, Schüchternheit, Bangigkeit, Erschrecken, Grauen und Entsetzen. Aber auch alle spezifischen, einzelnen Ängste, in denen Menschen ihre Befürchtungen vor äußeren Geschehnissen in ihrem eigenen Leben austragen, gehören dieser begrifflichen Konzeption nach zur Furcht.55 Das Fürchten Heidegger 1986 [1927], S. 144. Heidegger 1986 [1927], S. 140–142.
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selbst, die Furchtsamkeit bzw. Ängstlichkeit als Verhältnis des Menschen zur Welt, kann unterschiedliche Grade annehmen, je nachdem, wie nah das Bedrohliche ist und wie weit es in seiner Bedrohlichkeit abgeschätzt werden kann, je nach der eigenen psychischen Verfassung und den bisherigen Erfahrungen. Da das Bedrohliche, auf das die Furcht reagiert, immer aus der Welt kommt oder auf die Welt ausgerichtet ist, bindet die Furcht den Menschen an die Welt, sie lässt die Abhängigkeit von den konkreten äußeren Gegebenheiten spüren. In der Furcht ist man unlösbarer Teil dessen, was um einen herum geschieht. Man ist den konkreten Gefahren als Mensch körperlich und emotional ausgeliefert. Zugleich verhindert das Gefühl der Furcht (bzw. der einzelnen Ängste), dass man sinnvoll agieren kann. Es lähmt und blockiert freie Entscheidungen. Furcht untergräbt die Freiheit. Sie bewirkt, dass Menschen sich an das klammern, was im Alltag stabil und verlässlich scheint, denn die Furcht hat nur die konkreten, alltäglichen Lebenskontexte im Fokus. Angst hingegen ist grundsätzlich von der Furcht verschieden. Sie wirkt, könnte man sagen, genau gegenläufig zur Furcht. Im Unterschied zum Weltbezug der Furcht hat die Angst keinen konkreten Anlass oder Bezugspunkt. Sie kommt von innen, bleibt inhaltlich unfassbar und unbestimmt und hat etwas mit dem Selbstsein zu tun. Angst ist eine Befindlichkeit, in der sich dem Menschen erschließt, was das Wesentliche am eigenen Dasein ist, nämlich, dass der Mensch ein Bewusstsein von der eigenen Freiheit hat, dass er mit Möglichkeiten umgehen muss. Was genau leistet aber nun die Angst, im Unterschied zur Furcht? Und wie wirkt die Angst? So wie Kierkegaard der Angst die Funktion zuspricht, dass sie die Beziehung zu den Endlichkeiten der konkreten Dinge auflöst, hat sie auch für Heidegger eine ablösende und verunsichernde Funktion. Im Zustand der Angst verliert die nahe, alltägliche Umgebung die schützende Aura das Vertrauten und Heimatlichen, oder wie Heidegger schreibt: „In der Angst ist einem ‚unheimlich‘.“56 Im Wort unheimlich steckt, dass das Sichere und Behütete des Heims infrage gestellt ist. Dieses Un-heim-liche ist aber nicht das Bedrohliche der Furcht, das jeweils genau in der Welt identifiziert werden kann, sondern es ist etwas im Ich selbst: ein tiefgreifendes „Nicht-zuhause-sein“, ein „Un-zuhause“, der Verlust der beruhigenden Geborgenheit des Alltäglichen.57 Doch das Eigenartige und Beunruhigende besteht darin, dass der Grund dieser eigentümlichen Befindlichkeit nicht ausgemacht werden kann. „Wir können nicht sagen, wovor einem unheimlich ist. Im Ganzen ist einem so. Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit. Dies jedoch nicht im Sinne eines bloßen Verschwindens, sondern in ihrem Wegrücken als solchem kehren sie sich uns zu. Dieses Wegrücken des Seienden im Ganzen, das uns in der Angst umdrängt, bedrängt uns. Es bleibt kein Halt.“58 Diese Haltlosigkeit resultiert also daraus, dass in der Angst die Nähe zu den gewohnten und vertrauten Din Heidegger 1986 [1927], S. 188. Heidegger 1986 [1927], S. 188–189. 58 Heidegger 2004 [1929], S. 111–112. 56 57
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gen verloren geht. Wegen ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit hat die Angst eine große, auflösende Macht. Alles Weltliche verschwimmt in Bedeutungslosigkeit. Gerade dadurch unterscheidet sie sich von der Furcht, die auf ganz Konkretes reagiert und dadurch den Menschen in die Welt hineinzieht und ihn an die jeweiligen Vorkommnisse kettet. Die Furcht beim Durchschreiten eines dunklen Waldstücks liefert mich den konkreten Verhältnissen vollkommen aus, den Schatten, dem Knacken im Gebüsch, dem Knirschen der Steine unter den Schuhen, dem plötzlichen Auffliegen eines Vogels. Ich kann an nichts anderes denken und bin vollkommen aufgesogen von der Konzentration auf die Situation. „Weil der Furcht diese Begrenztheit ihres Wovor und Worum eignet, wird der Fürchtende und Furchtsame von dem, worin er sich befindet, festgehalten.“59 In der Angst hingegen rückt die Welt auf Distanz, sie entgleitet, sie wird diffus, fremd und unverständlich. Dies betrifft nicht nur die Bindung an die Dinge und die alltäglichen Gewohnheiten, sondern auch die Zugehörigkeit zur Familie, zur Gruppe, zur Gemeinschaft. In der Angst wird der Mensch in seinem Dasein isoliert und vereinzelt, er kann sich nicht mehr als selbstverständlichen Bestandteil der alltäglichen Zusammenhänge und der sozialen Gefüge fühlen. Angst erschüttert die vermeintliche Sicherheit des Daseins durch und durch. Sie ist eine wahre „Durchschütterung“,60 die alles Geordnete zerrinnen und die Orientierung unmöglich werden lässt. Im Phänomen der Angst wird dem Dasein bewusst, dass es nicht nur im Moment nicht (wie bei der Furcht), sondern prinzipiell niemals in gesicherter Weise lebt, also immer möglichen Unberechenbarkeiten ausgesetzt ist, was auch heißt, dass es selbst zutiefst als Möglichkeit zu verstehen ist. Man steht nicht mehr mit beiden Beinen fest auf dem Boden, sondern gerät in einen Zustand des Schwindels, wie Kierkegaard es nannte, oder des Schwebens, wie Heidegger es nennt. „Wir ‚schweben‘ in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. Darin liegt, daß wir selbst – diese seienden Menschen – inmitten des Seienden uns mitentgleiten.“61 Wenn in der Angst alles entgleitet, wird dem Menschen deutlich, dass er nicht auf etwas Stabiles vertrauen kann, dass alles offen ist, dass letztlich nichts wirklich Halt gibt. Angst vermittelt ein Bewusstsein der prinzipiellen Bedrohungsmöglichkeit, die keinen Bezug mehr zu den faktischen, bindenden Gegebenheiten der Lebenswelt hat. Damit wird auch der gewohnte Platz in der Welt fragwürdig. Dabei zeigt sich, dass nicht nur der äußere Lebenskontext unberechenbar ist, sondern dass das Dasein selbst nicht stabil ist. Angst vermittelt dem Dasein eine Ahnung von seiner eigenen Ungeborgenheit (Unheimlichkeit), sie lässt „die wesenhafte Unmöglichkeit der Bestimmbarkeit“62 des eigenen Selbst bewusst werden. Damit eröffnet sie dem Dasein das Ver Heidegger 2004 [1929], S. 111. Heidegger 2004 [1929], S. 112. 61 Heidegger 2004 [1929], S. 112. 62 Heidegger 2004 [1929], S. 112. 59 60
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stehen der eigenen Existenzform als Möglichkeit, die jeweils selbst inhaltlich immer neu durch Lebensentwürfe realisiert werden muss. Es ist die Wesensbestimmung des menschlichen Daseins, dass es nicht endgültig bestimmt werden kann, dass Möglichsein immer Nicht-Bestimmtsein ist. „Die Angst offenbart das Nichts.“63 Sie konfrontiert uns damit, dass wir nicht sicher sein können, was das Leben uns bringt. Das Nichts ist nicht zu verstehen als Leere, sondern es ist die Unbestimmtheit, die Ungewissheit, die aus der eigenen Freiheit resultiert. Damit zeigt die Angst aber zugleich indirekt die Freiheit an. Denn dies ist der Kern der Freiheit, dass sie als je individuelle Wahl und Entscheidung keine Grundlage, kein Bedingtsein im Gewohnten und Bekannten hat, dass sie auf nichts bauen kann, aus nichts herzuleiten ist, sonst wäre es nicht Freiheit. In der Angst zeigt sich „das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens“.64 Während die Furcht unfrei macht, wirkt die Angst entgegengesetzt, sie befreit das Dasein, denn sie signalisiert dem Ich, dass es sich vom Gegebenen, vor allem von der eigenen Geworfenheit, lösen kann, dass es eigentlich nicht an etwas gebunden ist, dass es sein Selbstsein wählen kann. In der Furcht oder einzelnen Ängsten sind die Menschen um ihr Wohlergehen mit Blick auf konkrete Gegebenheiten und Belange besorgt. Wenn mich Furcht befällt auf einer Rolltreppe, stelle ich mir zum Beispiel vor, dass ich irgendwo hängen bleiben und zu Schaden kommen oder dass die Rolltreppe in sich zusammenstürzen könnte. Angst hingegen hat keinen Inhalt, keine konkrete Situation, es gibt kein bestimmbares Bedrohungsszenario wie bei der Furcht oder den Einzelängsten. So ist das Wovor und das Worum der Angst letztlich immer nichts Identifizierbares, denn die Angst löst ja gerade den Menschen aus den konkreten Weltbezügen heraus. Deshalb vermag sie es, das Dasein von den anderen zu isolieren, und lässt deutlich werden, dass mein Selbst-Sein darin besteht, dass ich selbst entscheiden muss, dass Verantwortung nicht zu delegieren ist und dass ich mich nicht hinter den anderen verstecken kann. In der Angst stehe ich als die Person, die ihr Leben selbst und nur allein auf sich gestellt zu verantworten hat und dabei in der Dimension als Selbst bodenlos ist. Angst erschließt das Dasein „als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann“.65 Nur in der Besinnung auf sich selbst kann der Mensch den Angelpunkt finden, der die Freiheit trägt und der die Selbstbestimmung ermöglicht. 5.2.3 Angst, Gewissen, Schuld Die fundamentale, den gesamten Menschen prägende Angst ist also nicht psychologisch zu verstehen als ein bestimmter Gemütszustand, ein Affekt, wie die konkrete Furcht oder ein Gefühl wie bei den einzelnen Ängsten vor etwas Heidegger 2004 [1929], S. 112. Heidegger 1986 [1927], S. 188. 65 Heidegger 1986 [1927], S. 188. 63 64
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Gefahrvollem in der Welt. Vielmehr eröffnet Angst den Zugang zum Verstehen der Freiheit des Menschen, indem sie die alltäglichen Bindungen durchtrennt und den Menschen so auf sich selbst zurückwirft. Umgekehrt kann der Mensch Angst als wesenhafte Grundbefindlichkeit des Daseins überhaupt nur ausbilden, weil er die Dimension des Selbstseins hat, der Reflexivität, des Verstehens der Bedeutung seiner Freiheit. Doch dieses Verständnis für das eigene Selbstsein muss erst freigelegt werden. Hierfür reicht aber die Angst allein nicht aus. Die Bewusstwerdung der eigenen Fähigkeit zur Selbstbestimmung ist ein komplexes Geschehen, an dem für Heidegger verschiedene Leistungen beteiligt sind. Die existenziale Angst hat dabei nur eine Teilfunktion, die darin besteht, aus der Alltagsbindung herauszulösen. Sie selbst liefert aber keinen Lebens-Entwurf, keine Sinnhaftigkeit. Sie räumt das Haus aus, möbliert es aber nicht neu. Hierzu ist eine gesonderte Anstrengung erforderlich. In die Angst hinein muss das Selbst angesprochen werden von einer Instanz, die von ihm verlangt, dass es über die alltägliche, lebensweltliche Gebundenheit hinaus für sich selbst einstehen soll. Diese Instanz nennt Heidegger die „Stimme des Gewissens“. Der Begriff des Gewissens erhält dabei im existenzialen Kontext, wie Heidegger ihn vorstellt, eine eigenständige Funktion. Das Gewissen ist hier nicht zu verstehen als moralische Kontrolle, als eine Art mahnende, innere Stimme bei Verfehlungen. Sondern das Gewissen übernimmt eine Grundfunktion für das Dasein, die dort ansetzt, wo die Angst das Dasein zunächst einmal verunsichert und verstört hat. Bisher war das Dasein in die Alltäglichkeit, in die sozialen Bezüge verstrickt und verloren. Deshalb muss es zur Besinnung auf sich selbst aufgefordert werden. Diese Aufforderung kann aber nicht von außen, durch jemand anderen erfolgen, dies wäre wieder nur Fremdbestimmung und würde in die Geworfenheit zurückleiten. Sondern sie muss aus dem eigenen Ich kommen. Genau dies ist der Ruf des Gewissens. Das existenziale Gewissen ruft auf zur Verantwortung für das eigene Selbstsein. Es fordert vom Dasein, die Steuerungshoheit über das eigene Lebensschiff zu übernehmen und sich nicht einfach auf dem Meer umhertreiben zu lassen. Doch dieser Ruf ist nicht mit Inhalten gefüllt. Metaphorisch formuliert Heidegger: „Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens.“66 Das heißt, das Gewissen sagt nicht konkret, was zu tun ist, sondern bewirkt im Dasein lediglich, die Frage nach der eigenen Freiheit zu stellen. Sie fordert den Menschen auf, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, eigene Pläne zu realisieren, einen ganz eigenen Weg zu gehen, eigenständig zu sein. Das Gewissen ist die Selbstmotivation des Daseins, sich für sich selbst zu entscheiden, sein eigenes Selbstsein zu wählen, ja es ruft zum „Wählen dieser Wahl“. „Im Wählen der Wahl ermöglicht sich das Dasein allererst sein eigentliches Seinkönnen“.67 Das Dasein wählt sich selbst, nämlich, wer es sein, wie es leben will, unabhängig von den Vorgaben durch andere. Mit jedem Heidegger 1986 [1927], S. 273. Heidegger 1986 [1927], S. 268.
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Wählen und Entscheiden, mit jedem freien Entwurf des eigenen Lebens bestätigt das Dasein, dass es selbst nicht an etwas gebunden ist, wodurch es sich vereinnahmen ließe. Jeder solcher Entwurf steht vollkommen für sich selbst, er lässt sich nicht begründen oder auf andere Ursachen zurückführen. Er ist eine zutiefst eigene, freie Entscheidung. Würde ich mich nach anderen richten, wäre es nur die Dimension des subjektlosen, undefinierbaren „Man“, nicht die des Selbst, die ich erreichen könnte. Heidegger hebt aber auch hervor, dass es für das Selbst nie ein endgültiges Gelingen oder Ziel geben kann. Das Dasein ist keine fertige Struktur, sondern es muss sein Selbstsein immer wieder neu erwerben, sich ständig neu im Entwurf setzen und behaupten. Dabei lässt sich aus der alltäglichen Lebenswelt keine Orientierung für das Selbst-sein beziehen. Das Dasein bleibt so sich selbst immer ungewiss, weil es sich in seinen vielfältigen Möglichkeiten eines Selbst- Seins immer neu bestimmen kann. „Das Selbst, das als solches den Grund seiner selbst zu legen hat, kann dessen nie mächtig werden“,68 kann aber die Verantwortung für sich selbst auch nicht ignorieren. Als weiteres Problem tritt hinzu, dass die Entscheidung zwar einerseits frei ist, jeder Mensch aber andererseits eingebunden bleibt in die soziale Welt, in der er jeweils lebt, in die hinein er geworfen ist. Denn das Dasein ist ein Doppelwesen, sowohl abhängig von dieser Geworfenheit als auch geprägt durch eine unverwechselbare Individualität und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung im Entwerfen eigener Ziele. Der Mensch ist immer Man-Selbst, immer in einem inneren Spannungszustand. Gerade aufgrund dieser strukturellen Ambivalenz als Man-Selbst ist Angst möglich und notwendig. Sie ist überhaupt möglich, weil Menschen trotz ihrer sozialen Prägungen über die Freiheit verfügen, sich von den Bindungen der Geworfenheit zu lösen und ihr eigenes Selbst zu entwickeln. Diese Freiheit wird in der Angst spürbar. Angst ist aber auch notwendig, um überhaupt den Schritt hinaus über die eigene Fesselung an die bindenden Normen und Strukturen tun zu können, um zu verstehen, dass das Selbst sie hinter sich lassen kann. Denn die Angst lässt deutlich werden, dass das Gewohnte jederzeit zur Nichtigkeit herabsinken kann, dass es den Einzelnen niemals wirklich zu halten vermag, wenn das Selbst darüber hinausdrängt. In der Angst versinkt alles um mich her in die Bedeutungslosigkeit, stehe ich allein mir selbst als Möglichkeit der Selbstbestimmung, des freien Entwurfs gegenüber. Das heißt, Angst löst, entbindet und befreit nicht nur, sondern vereinzelt und individuiert den Menschen zu einem einzigartigen Selbst. Wäre der Mensch nur Geworfenheit, gäbe es nur Furcht, keine Angst. Wäre er fähig zur vollen individuellen Freiheit, ohne Bindung, ohne Sozialität, gäbe es auch keine Angst, denn es gäbe nichts, wovon sich das Ich zu befreien hätte. Die durch und durch wichtige und positive Funktion der Angst besteht darin, dass sie im eigenen Dasein, im zwiespältigen Man-Selbst, den Schritt zum Verstehen der Verantwortung für die eigenen Lebensentwürfe vorbereitet. Die Einsicht in die Verantwortung für das eigene Selbstsein nennt Heidegger Heidegger 1986 [1927], S. 284.
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Schuld. Auch der Begriff der Schuld ist hier nicht umgangssprachlich, moralisch oder gar juristisch einzuordnen. Vielmehr zielt Heidegger mit diesem Begriff darauf, dass der Mensch eine Verantwortung für sich selbst hat, dass er unter dem Gesichtspunkt der Freiheit gewissermaßen sich selbst gegenüber in der Schuld steht, ein sinnhaftes, selbstbestimmtes Leben zu entwerfen und zu führen. Schuldig zu sein heißt, dass man es sich selbst als Dasein schuldig ist, aus Freiheit sich selbst zu bestimmen, und dass dies Verantwortung bedeutet. Verantwortung aber ist auch eine Last, die man bei einem starken Willen zum Selbstsein alleine zu tragen hat. Doch wie gehen Menschen mit dieser Last um? 5.2.4 Flucht oder mutige Entschlossenheit? Jeder Mensch hat in seinem Dasein Anteile einerseits der Geworfenheit, der Alltäglichkeit, des Man und andererseits des freien Selbstseins. Das Dasein ist deshalb strukturell nie absolut frei, sondern immer frei im Rahmen der Bedingungen, unter denen es lebt. Diese unauflösliche Ambivalenz von Gebundenheit und Freiheit, von Man und Selbst, prägt den Menschen. Er steht nie nur auf einer Seite, er ist in seine Welt geworfen und zugleich sich entwerfend, er ist gebunden und zugleich frei für eigene, selbstbestimmte Möglichkeiten, er ist Man-Selbst. Dabei ist es jeweils eine eigene Entscheidung jedes Menschen, wie weit er bereit ist, sich von den Bindungen zu lösen, sich selbst unter dem Aspekt der Freiheit zu sehen und damit das Selbstsein, den eigenen Lebensentwurf als eigene Entscheidung anzustreben. Dies ist die eigentliche Herausforderung für jeden Menschen. Diese „Schuld“ sich selbst gegenüber wird individuell jedoch unterschiedlich stark wahrgenommen und zugelassen. Die einen sehen die positive Seite des Bewusstwerdens der eigenen Freiheit und entwickeln die Stärke zum Wählen des eigenen Lebensentwurfs. Die anderen erleben die Aufforderung zur Selbstbestimmung, den Ruf des Gewissens zum Selbstsein, und die daraus erwachsende Verantwortung für die selbst zu treffenden Entscheidungen als belastend, zum Teil als Überforderung. Sie fliehen in die vermeintlichen Sicherheiten ihres gewohnten Lebens, sie begnügen sich mit der Lebensform des „Man“, in der man als Individuum gesichtslos werden kann. Heidegger spricht dies klar aus: „Das Aufgehen im Man und bei der besorgten ‚Welt‘ offenbart so etwas wie eine Flucht des Daseins vor ihm selbst als eigentlichem Selbst-sein-können.“69 Menschen, die Sicherheit und Halt suchen, bemühen sich, das Offene und Unbeherrschte in sich selbst zu neutralisieren oder zu ignorieren. Sie streben nach dem Vertrauten und Anheimelnden, wie sie es in ihrem gewohnten alltäglichen Leben zu finden hoffen. Sie wollen sich so verhalten, wie „man“ sich verhält, wollen geborgen sein in der gewohnten Lebensweise. Mit dem Anpassen an die Gewohnheiten, mit der Angleichung an die Meinung der Öffentlichkeit, mit dem Verzicht auf Selbstdenken und Entscheiden entlastet man sich von der Verantwortung für das eigene Selbstsein und verbleibt im Zu Heidegger 1986 [1927], S. 184.
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stand der „Unselbständigkeit und Uneigentlichkeit“.70 Dieses unselbstständige Leben verharrt im Durchschnitt, in der Gesichertheit einer Gemeinschaft, in der man sich konform verhält und so nicht aneckt, also gar nicht als ein autonomes, individuelles Selbst in Erscheinung tritt. Durch dieses Ausweichen flieht man letztlich vor der Freiheit, die sich in der Angst und dem Ruf des Gewissens gemeldet hat. In der Flucht vor sich selbst versucht das Dasein, auch seiner Angst zu entkommen und sich dem Anspruch der eigenen Freiheit nicht stellen zu müssen. Aber gerade dieses Bestreben, sich in Sicherheit bringen zu wollen, zeigt an, dass dahinter die Ahnung oder Befürchtung steht, das Leben eben nicht im Griff zu haben, sonst würde dieses Verlangen nach Absicherung gar nicht entstehen. Die Verdrängung der eigenen Freiheit, die als Bedrohung und Last empfunden wird, ist der beste Beweis dafür, dass es immer ein latentes Bewusstsein von der Unberechenbarkeit des Lebens gibt, wie sie in der Angst zum Vorschein kommt. Die Angst als wesenhafte Befindlichkeit, als Anzeige der eigenen Möglichkeitsstruktur des Daseins, als Signalflagge der Freiheit kann nicht eliminiert werden. Sie spricht als soufflierende Stimme immer im Hintergrund, auch wenn sie nicht selbst die Bühne betritt. Wie ließe sich nun sinnvoll mit dieser beunruhigenden Angst umgehen? Auch hier positioniert sich Heidegger ähnlich wie Kierkegaard. Es kommt darauf an, die Angst in sich wirken zu lassen, sie anzunehmen und den Sinn ihrer auflösenden Kraft richtig ins eigene Leben einzuordnen, also bereit zu sein für die Angst. „Die Bereitschaft zur Angst ist das Ja zur Inständigkeit, den höchsten Anspruch zu erfüllen, von dem allein das Wesen des Menschen getroffen ist.“71 Dieser höchste Anspruch ist das Annehmen der eigenen Freiheit als der essenziellen Dimension des Selbstseins. Nur der Mensch hat ein Bewusstsein von sich selbst, von seiner wesenhaften Freiheit, von seiner Orientierung auf die Zukunft und die Verantwortung für die autonomen Entscheidungen im Rahmen des eigenen Lebensentwurfs. Dieses Bekenntnis zu sich selbst als freiem, selbstbestimmtem Wesen, das seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen bereit ist, bedeutet zugleich die Akzeptanz und Würdigung der Angst. Dabei ist noch einmal hervorzuheben, dass die Angst nicht mit der gegenstandsbezogenen Furcht und den einzelnen gefühlten Ängsten verwechselt werden darf, die haften bleiben an den Gegebenheiten der Welt. Stattdessen geht es in der Annahme der eigenen Freiheit um den „Mut zur wesenhaften Angst“.72 Sich der Angst auszuliefern, ihre Funktion zu verstehen, nicht vor ihr zu fliehen, dies ist die eigentliche Herausforderung. Die Bereitschaft, sich der Angst, dem Gewissen und der Verantwortung (Schuld) zu stellen, sich in den Möglichkeiten zu orientieren und immer wieder seine Wahl zu treffen, nennt Heidegger Entschlossenheit. Sie ist „die ur-
Heidegger 1986 [1927], S. 128. Heidegger 2004 [1943], S. 307. 72 Heidegger 2004 [1943], S. 307. 70 71
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sprünglichste, weil eigentliche Wahrheit des Daseins“.73 Sie bezieht sich nicht auf einzelne Gegebenheiten, zum Beispiel, dass ich mich jetzt entschließen könnte, in Kino zu gehen. Sondern es ist die „Entschlossenheit zu sich selbst“,74 zum Selbstsein, zum eigenen Lebensentwurf. Diese Entschlossenheit ist aber ihrerseits nur möglich, wenn überhaupt ein Möglichkeitsraum gesehen wird, in dem ein Entschluss gefasst wird. „Der Entschluß ist gerade erst das erschließende Entwerfen und Bestimmen der jeweiligen faktischen Möglichkeit. Zur Entschlossenheit gehört notwendig die Unbestimmtheit, die jedes faktisch- geworfene Seinkönnen des Daseins charakterisiert.“75 Gerade die hier angesprochene Unbestimmtheit ist es, was den Menschen unter dem Aspekt der Freiheit kennzeichnet und was ihm in der Angst bewusst wird. Entschlossenheit bedarf der Angst, die das Feld bereitet, auf dem das Entwerfen des eigenen Lebens gedeihen kann. Im Entschluss zeigt das Dasein, wie es sein Leben und sich selbst versteht. Wenn sich junge Menschen für eine bestimmte Berufsausbildung oder ein Studium entscheiden oder wenn Menschen eine Ehe schließen, haben sie eine eigene Zukunftsvision ihrer selbst vor Augen. Sie wählen also sich selbst in der Zukunft. Jedoch was die Zukunft bringen wird, wissen sie nicht. Deshalb haben jeder Entwurf und jeder Entschluss dennoch im Hintergrund das Wissen, dass die Entscheidungen keine Konstanz, keine Ruhe und keine innere Zufriedenheit bringen, sondern das Dasein damit konfrontieren, dass der Blick in die Zukunft mit ihren unbestimmten Möglichkeiten, dass die Konfrontation mit der eigenen Freiheit nicht verschwunden sind. Jeden Tag kann man sein Leben ändern, kann neue Wege einschlagen, sich die eigene Zukunft doch wieder anders vorstellen. So laufen die Möglichkeiten mit dem eigenen Leben immer mit, so wie der Horizont beim Gehen immer mitwandert. Doch wie der Horizont niemals erreicht wird, ist auch die Idee des eigenen Selbstseins ein offenes Konstrukt, das nicht in einer bestimmten Daseinsweise seine wahre Erfüllung findet. Vielmehr geht es darum zu verstehen, dass Freiheit darin besteht, aus Möglichkeiten der Existenz zu wählen und so sich sein Selbst zu formen, dass dies aber wie ein Gang über ein Seil ohne Netz ist und das Ende des Seils sich im Nebel verliert. Das Dasein ist genau deshalb, weil es nie fertig ist, sondern sich ständig um seine Lebensgestaltung bemühen muss, im Zustand der Sorge um sich selbst. Sorge als Inbegriff des Selbstverhältnisses verweist das Selbst darauf, dass es sich selbst ergreifen, sich im Entwurf seines Selbst ständig aus dem Feld seiner Möglichkeiten erst noch bestimmen muss, dass der Mensch wählen muss, wer er sein will, wie sein Leben aussehen soll, was ihm wichtig oder unwichtig ist. Sein eigenes Selbst dabei nicht durch etwas Äußerliches beherrschen zu lassen, ihm einen selbstbestimmten, festen eigenen Stand zuzumuten, nennt Heidegger Selbst-Ständigkeit. Zu dieser Selbstständigkeit gehört aber im Sinne der Heidegger 1986 [1927], S. 297. Heidegger 1986 [1927], S. 298. 75 Heidegger 1986 [1927], S. 298. 73 74
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Sorge wesentlich wiederum „die sich Angst zumutende Entschlossenheit“,76 die Bereitschaft und Entschlossenheit zum Entwurf der eigenen Zukunft. So zeigt sich, dass die verschiedenen Aspekte, die das Dasein konstitutiv bestimmen, wie in einem Gewebe verbunden sind: der Freiheitsgedanke, die Akzeptanz der Angst, das Hören auf die Stimme des Gewissens, die die Verantwortung (Schuld) für ein selbstbestimmtes Leben anmahnt, das Wählen und Sich-Entschließen, und das alles im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit und Sterblichkeit. Hinter der selbstständigen, freien Entscheidung steht die Verantwortung für die Wahl. Dies ist eine Bürde, dafür geradezustehen, wofür ich mich entschieden habe, genauso wie für das, das ich nicht gewählt habe, denn dies kann mich genauso verfolgen und peinigen wie das, was ich gewählt habe. Und daraus wiederum erwächst die Angst, die Folgen der eigenen Freiheit auf sich nehmen zu müssen. Jeder Mensch hat stets die Wahl, ob er ins „Man“ abtaucht oder sein Leben selbst in die Hand nimmt. Die Funktion der Angst ist es dabei, den Schein der vermeintlichen Sicherheit des Gewohnten zu durchbrechen, sich dem Irritierenden des Un-heimlichen auszusetzen und sich der Aufgabe zu stellen, sein eigenes Selbstsein als permanente Aufgabe anzunehmen. Dies erfordert eine sehr spezielle Art von Mut: den Mut zur Freiheit. Der Bezugspunkt der Angst ist damit das Bewusstsein der eigenen Freiheit als der Art und Weise, wie der Mensch in der Welt ist und in der Welt sich platziert, wie er entscheidet und handelt. Um es zusammenfassend noch einmal mit einem Zitat zu belegen: „Das Sichängsten ist als Befindlichkeit eine Weise des In-der-Welt- seins; das Wovor der Angst ist das geworfene In-der-Welt-sein; das Worum der Angst ist das In-der-Welt-sein-können.“77 Das Prägende der Angst ist das Bewusstsein des Könnens als Aspekt der Freiheit, der Möglichkeit der eigenen Entscheidung. Heidegger hat eine weitreichende Bestimmung des Phänomens Angst vorgenommen, die vielfach rezipiert worden ist. Wie auch schon Kierkegaard hat er einen Angstbegriff entwickelt, der nicht auf die affektiv-emotionalen und gefühlsmäßigen Dimensionen der Furcht, Ängste und Ängstlichkeit zielt, sondern auf der geistig-reflexiven Ebene angesiedelt ist. Dabei ist es entscheidend, die positive Funktion der Angst zu verstehen, nämlich deren Beitrag zur Bewusstwerdung der eigenen Freiheit. Deshalb fordert Heidegger die Bereitschaft zur Angst als der reflektierten Haltung zur eigenen Freiheit.
5.3 Jean-Paul Sartre: Angst, Freiheit und Verantwortung Jean-Paul Sartre (1905–1980) knüpfte direkt an Kierkegaards und Heideggers Existenzphilosophie und Angstkonzepte an. Er entfaltete mit seinem Existenzialismus eine enorme Wirksamkeit. Schon bevor er mit dem Philosophie Heidegger 1986 [1927], S. 322. Heidegger 1986 [1927], S. 191.
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studium begann, hatte er kleinere literarische Texte veröffentlicht. Er setzte sich mit Descartes und Spinoza, Kant und Hegel auseinander. 1934 fuhr Sartre zu einem Forschungsaufenthalt nach Deutschland, um speziell Husserls und Heideggers Philosophie genauer kennenzulernen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er in Frankreich als Philosophielehrer. Doch er wollte seine eigene Weltsicht literarisch darstellen, er wollte durch das geschriebene Wort wirken, die Welt als Schriftsteller und Intellektueller mitgestalten. 1938 erschien sein sehr erfolgreicher Roman Der Ekel. Unter widrigen Bedingungen des Krieges schrieb er sein philosophisches Hauptwerk Das Sein und das Nichts (1943). Sartre engagierte sich in der Résistance und nahm nach Kriegsende immer wieder zu gesellschaftlichen Themen seiner Zeit Stellung. Ihm wurde 1964 der Literaturnobelpreis zugesprochen, aber er lehnte ihn ab, weil er nicht als Intellektueller vereinnahmt werden wollte. Als er 1980 starb, folgten seinem Sarg in Paris um die fünfzigtausend Menschen, um ihm das letzte Geleit zu geben. Die Herausforderung, sich als ein unverwechselbares Individuum zu sehen und die Freiheit als Verpflichtung zum eigenen Lebensentwurf ernst zu nehmen, prägt Sartres philosophisches und literarisches Werk in allen seinen Facetten. Stets geht es ihm um die Frage nach der Möglichkeit der freien Selbstbestimmung des eigenen Lebens. Doch das individuelle Leben findet nicht isoliert statt. Es ist eingebunden in eine Gemeinschaft mit anderen. Sartre fasziniert die Frage, was aus uns selbst wird, wie wir uns zu unserem eigenen Dasein verhalten, wenn die äußere Welt nicht mehr als vertrautes Umfeld, nicht mehr als ein in sich sinnvolles Ganzes wahrgenommen wird, wenn man die eigene Existenz eigentlich nur für einen Zufall hält. Muss dies nicht zur tiefen Erschütterung, zu einer fundamentalen Angst führen? 5.3.1 Ekel als Symptom der Angst In seinem ersten großen literarischen Werk Der Ekel zeichnet Sartre nach, wie eine tiefe Verunsicherung zunächst schleichend, dann immer offensichtlicher vom Ich-Erzähler des Buches, Monsieur de Roquentin, Besitz ergreift. Im Kontext dieser Irritationen und inneren Destabilisierungen taucht zwangsläufig auch die Angst auf. Roquentin lebt allein, ohne nennenswerte soziale Kontakte, auch ohne Empathie für andere, und sinniert stets über sich und sein Verhältnis zur Welt, das ihm vollkommen undurchsichtig erscheint. Ein Gefühl der Unsicherheit, des Entgleitens der festen Orientierung lässt sich schon zu Beginn des Romans identifizieren. Roquentin nimmt wahr, dass sich sein Bezug zu alltäglichen Dingen verschiebt. Er hat den Eindruck, dass sich diese simplen Dinge irgendwie verändert zu haben scheinen, dass die Berührung eines normalen Kieselsteins ihm plötzlich unangenehm ist, ihn regelrecht „angewidert“ hat. Er versucht sich einen Reim darauf zu machen und stellt fest, dass er „Angst oder so etwas Ähnliches“ gehabt habe, und fügt irritiert hinzu: „Wenn ich bloß wüßte,
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wovor ich Angst gehabt habe“.78 Roquentin möchte seine Angst verstehen, sie konkret fassen, aber das „Warum“ und „Wovor“ entziehen sich ihm. Es deutet sich hier schon an, dass Sartre – wie schon Kierkegaard und Heidegger – die Angst dadurch kennzeichnet, dass ihr Gegenstand und die Situation, in der sie auftaucht, unbestimmt bleiben. Damit ist der Rahmen skizziert, um den es existenzialistisch geht: Die Welt entgleitet, sie wird fremd, der noch vor kurzem vertraute Umgang mit den Dingen ist durchbrochen. Und dies bereitet Unbehagen, es macht Angst. Aber es ist kein konkretes Gefühl, sondern eine schleichend das ganze Ich ergreifende Verrückung der gewohnten Weltsicht. Heidegger hatte geschrieben, in der Angst werde einem „unheimlich“. Dies ist die Stimmung, die hier beschrieben wird. Um dieser zersetzenden Stimmung zu entkommen, konzentriert sich Roquentin auf alles, was vertraut ist und in seinen geregelten Bahnen läuft, den Bus, der in einem bestimmten Zeittakt fährt, die bekannten Schritte des Nachbarn im Treppenhaus, das eigene Zimmer mit seinem anheimelnden Flair. Alles das beruhigt in seiner alltäglichen Routine und Gewöhnlichkeit. Doch es wird sich erweisen, dass auch diese Vertrautheit nur eine scheinbare ist. Roquentin will herausfinden, was ihn eigentlich verunsichert. Diese Suche trägt das gesamte Romangeschehen. Die Beobachtungen und Deutungen, die dabei erörtert werden, stellen zugespitzt zwei Lebenseinstellungen gegenüber: die Welt der bürgerlichen Gediegenheit, der Regeln, der Zuverlässigkeit, des Gewohnten und Normalen einerseits; auf der anderen Seite die Verunsicherung, die Isolierung, die quälende Selbstsuche. Roquentin verkörpert diese zweite Seite. Er sucht zu verstehen, woher sein eigenes Unbehagen rührt, das die Menschen in seiner Umgebung offensichtlich nicht teilen. „Irgend etwas ist mit mir geschehen, ich kann nicht mehr daran zweifeln. Es ist wie eine Krankheit gekommen, nicht wie eine normale Gewißheit, nicht wie etwas Offensichtliches. Heimtückisch, ganz allmählich hat sich das eingestellt; ich habe mich ein bißchen merkwürdig, ein bißchen unbehaglich gefühlt, das war alles. Einmal festgesetzt, hat sich das nicht mehr gerührt, hat sich totgestellt, und ich habe mir einreden können, ich habe nichts, es war blinder Alarm. Und jetzt breitet sich das aus.“79 Was aber ist dieses „Das“, das im Text nicht weiter spezifiziert wird und zunächst sogar als „nichts“ abgetan werden sollte? Es ist nicht bestimmt. Es bewirkt, dass eine Irritation wächst. Und mit dieser Irritation verändert sich ganz schleichend auch das Verhältnis zu den ganz gewöhnlichen Alltagsdingen. Ihre Erscheinungsformen verändern sich, weil sich im Bewusstsein von Roquentin irgendetwas verschoben hat. Es findet eine mentale Wucherung im Inneren statt, wie ein Krebsgeschwür, das immer größer wird und immer weitere Organe befällt. So geht es auch hier, nur wird nicht der Körper erfasst, sondern die Selbstreflexion des Ich. Und der Betroffene sinniert weiter: „Es ist also in diesen letzten Wochen eine Veränderung eingetreten. Aber wo? Eine abstrakte Sartre 1982 [1938], S. 9. Sartre 1982 [1938], S. 12.
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Veränderung, die sich auf nichts legt. Bin ich es, der sich verändert hat? Und wenn ich es nicht bin, dann ist es dieses Zimmer, diese Stadt, diese Natur; man muß wählen.“80 Es ist damit eine Entscheidung verlangt, wie die wahrgenommene Veränderung der eigenen Befindlichkeit und Sichtweise erklärt werden kann: Habe ich mich verändert, oder hat sich die Welt verändert? Damit aber stellt sich die Herausforderung, dem ganzen Geschehen, der ganzen subtilen Entwicklung eine Deutung zu geben, aber diese Deutung selbst ist ja nicht einfach da, sondern „man muß wählen“. Und Roquentin trifft seine Wahl: „Ich glaube, daß ich es bin, der sich verändert hat: das ist die einfachste Lösung. Auch die unangenehmste.“81 Aber warum ist das die einfachste Lösung? Weil die Welt dann intakt bleibt, Roquentin sich damit beruhigen kann, dass sie für ihn auf diese Weise berechenbar und überschaubar bleibt. Er kann sein Leben so weiterführen wie bisher. Das gibt ihm Halt und Zuversicht. Allerdings erkauft er diesen Optimismus mit der Antwort Nummer zwei, die eben die „unangehmste“ ist, nämlich, dass er selbst sich verändert haben müsse, wenn die konstatierte Veränderung erklärt werden soll. Dies ist deshalb unangenehm, weil die eigene Veränderung ja gar nicht gewollt worden ist, sie hat sich einfach hinterrücks vollzogen. Und das ist doch sehr beängstigend, dass da mit einem etwas geschieht, das man selbst gar nicht gewollt und entschieden hat. Es ist wie ein Entgleiten des eigenen Ich, und dieses Entgleiten ist zutiefst verstörend. Deshalb wünscht sich Roquentin, dass er sich selbst durchsichtig wäre: „Ich möchte klarsehen in mir, bevor es zu spät ist.“82 Welche Rolle spielt nun aber die Erfahrung des Ekels, der unseren Protagonisten bei Kontakt mit manchen Gegenständen aus heiterem Himmel überfällt? Roquentin sieht, dass er diesem Ekel nichts entgegensetzen kann, dass er plötzlich da ist. Er gerät in eine Abhängigkeit, die er nicht mehr kontrollieren kann. Immer wieder sagt er sich: „Ich bin nicht mehr frei, ich kann nicht mehr machen, was ich will.“83 Genau dies ist aber die Angst, nämlich die Angst, nicht mehr über sich selbst zu verfügen, die Angst vor Freiheitsverlust. Nun versucht Roquentin aus Gründen eines psychischen Selbstschutzes, sich das Gefahrenpotenzial dieser Selbstveränderung kleinzureden, indem er sie darauf zurückführt, dass er sich zu wenig mit sich selbst beschäftigt habe und deshalb die vielen kleinen Metamorphosen nicht bemerken konnte, die sich nun zu einer regelrechten inneren Revolution verdichtet hätten. „Das ist der Grund, weshalb mein Leben so unstet, so zusammenhanglos wirkt.“84 Roquentin aber sehnt sich nach dem Gegenteil. Er wünscht sich gediegene, zuverlässige, konstante Alltäglichkeit. Er verbringt seine Tage mit historischen Sartre 1982 [1938], S. 13. Sartre 1982 [1938], S. 13. 82 Sartre 1982 [1938], S. 15. 83 Sartre 1982 [1938], S. 21. 84 Sartre 1982 [1938], S. 21. 80 81
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Büchern in der Bibliothek. Er hat keine Familie, keine Freunde, lebt bescheiden und zurückgezogen, er scheut die Veränderung. Und dennoch überfällt ihn ab und an einmal eine unerwartete Idee, die ihn aus diesem Trott ausscheren lässt, die innerlich die Oberhand gewinnt und die Ordnung und Pläne durcheinanderwirbelt. Das macht ihm Angst, nicht um sein Leben, sondern hinsichtlich des Kontrollverlusts, den er angesichts des Unklaren, Undurchschaubaren und doch irgendwie Machtvollen in ihm selbst eingestehen muss: „ich habe Angst vor dem, was entstehen, sich meiner bemächtigen wird – um mich wohin zu verschlagen?“85 Genau auf diese Frage, wie es weitergeht, wohin ihn das Leben verschlagen wird, gibt es keine Antwort, weil niemand die Zukunft kennt, nicht einmal das Morgen, nicht einmal die nächste Stunde. Solange wir mittendrin sind im Geschehen, im alltäglichen geschäftigen Tun, das uns vollkommen in Beschlag nimmt, denken wir kaum an mögliche Störungen. So beschreibt es Roquentin: „Wenn man lebt, passiert nichts. Die Szenerie wechselt, Leute kommen und gehen, das ist alles. Es gibt nie Anfänge. Ein Tag folgt dem anderen, ohne Sinn und Verstand, ein unaufhörliches, eintöniges Aneinanderreihen.“86 Dies ist ein Leben, in dem die Angst verdrängt ist. Doch stets besteht die Möglichkeit, dass sich die Angst zeigt, dass sie die Routinen durchbricht und plötzlich alles gefährdet scheint. Die Gefahr lauert in der eigenen Unberechenbarkeit. Heute kann ich noch nicht wissen, was ich morgen wählen werde. Die Welt hilft mir nicht. Sie gibt keine Antwort auf die Frage danach, was das eigene Selbst ist, zu welchen Einfällen und Entscheidungen es sich hinreißen lassen wird, zu welchen Neuanfängen es fähig ist. Die Dinge fügen sich nicht zusammen zu etwas, das wirklich Bestand hat. Ganz im Gegenteil, sie erscheinen diffus, wie in einem dichten Nebel, sie verlieren ihre Kontur, und Roquentin verliert seine Orientierung. Diese Einsicht stürzt Roquentin in eine „regelrechte Panik“, denn: „Alles kann geschehen.“87 Er schlittert wie auf einer schiefen Ebene immer tiefer in diese Stimmung der Irritation und des Identitätsverlustes hinein. „Ich suchte um mich herum nach einem festen Halt, nach einer Abwehr gegen meine Gedanken. Es gab keinen“.88 Der Roman dreht sich um die Unerklärbarkeit sowohl der eigenen Persönlichkeit als auch der Welt. Jemand lebt sein Leben, und plötzlich verändert sich die Stimmung, ändert sich der Blick auf die Welt und auf sich selbst, ohne dass sich dafür eine äußere oder innere Ursache erkennen ließe. Auf einmal treten ganz neuartige Gedanken auf und drängen sich neue Sichtweisen in den Vordergrund. Wie soll man das verstehen? Antwort: Es gibt da nichts zu verstehen. Es gibt keine Erklärung. Es ist, wie es ist, unvorhersehbar, unkalkulierbar: Es ist die Kontingenz. Oder man könnte dies auch von der Seite der Wirkung auf das Ich beschreiben als eine Reflexion der eigenen Haltlosigkeit, als Sartre 1982 [1938], S. 15. Sartre 1982 [1938], S. 62. 87 Sartre 1982 [1938], S. 115. 88 Sartre 1982 [1938], S. 111. 85 86
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Angst. Angst ist Bewusstsein der Kontingenz, das heißt, Angst ist das Bewusstwerden der Nichtbeherrschbarkeit, ja Zufälligkeit des Geschehens. Angst zeigt die Unfähigkeit, dem Leben und der Welt einen endgültigen Sinn zuzuweisen. Kontingenzbewusstsein ist das Spiegelbild der Freiheit. Durch diese Kontingenzerfahrung wird Roquentin zunehmend in seinem Blick auf die Dinge, auf die Menschen und auf sich selbst geprägt. Zwar versucht er sich selbst zu beschwichtigen: „Man darf keine Angst haben.“89 Aber er wird den Gedanken nicht mehr los, dass er für seine Existenz und sein Tun einfach keine Rechtfertigung finden kann. 5.3.2 Existenz, Freiheit, Angst Die philosophische Durcharbeitung der Freiheits- und Angstproblematik liefert Sartre in seinem seitenstarken, schwierigen Werk Das Sein und das Nichts (1943). Er knüpft an die existenzphilosophischen Positionen an, die Freiheit als Grundlage des menschlichen Selbstseins verstehen. Doch er leitet daraus nicht nur die Verantwortung für sich selbst ab, sondern auch für andere, ja sogar für die ganze Menschheit. Angst ist dabei für Sartre die Form, in der der Mensch auf seine eigene Freiheit und eben diese Verantwortung aufmerksam wird, sie ist unauflöslich mit dem Menschsein verbunden. Kern des Begriffs der Existenz, den auch Sartre verwendet, ist die Selbstbestimmung aus eigener Freiheit. Dabei hebt Sartre zwei sich wechselseitig verstärkende Aspekte hervor: Zum einen gibt es für den Menschen immer verschiedene Möglichkeiten, die Welt zu sehen, zu entscheiden und zu han deln. Zum anderen ist der Mensch selbst auch geprägt von Möglichkeit, er hat kein stabiles, wesenhaftes Ich. Freiheit für Sartre bedeutet, dass ein Mensch nicht mit einer fertigen Wesensausstattung geboren wird, sondern sich selbst in seiner Persönlichkeit durch die eigenen Entscheidungen erst erschafft. Würden wir als Menschen durch das definiert, was wir sind, würden wir uns verdinglichen, das heißt, uns ansehen, als ob wir so eindeutig durch Eigenschaften bestimmt wären wie Dinge. Die Dinge sind, was sie sind. Aus einer Tulpenzwiebel entwickelt sich eine Tulpe mit ihrer spezifischen Farbe, Form und Größe. Hier ist die Wesensidentität durch die Natur vorgegeben. Der Mensch aber weist keine solche dinghafte Identität auf, vielmehr formt er sich selbst erst durch das eigene Tun. Und das gilt im übertragenen Sinn für die ganze Menschheit: „der Mensch muß sich sein eigenes Wesen schaffen; indem er sich in die Welt wirft, in ihr leidet, in ihr kämpft, definiert er sich allmählich; und die Definition bleibt immer offen; man kann nicht sagen, was ein bestimmter Mensch ist, bevor er nicht gestorben ist, oder was die Menschheit ist, bevor sie nicht verschwunden ist.“90 Sich selbst unter dem Aspekt der Freiheit zu sehen, bedeutet also, sich als formbar durch sich selbst zu verstehen. Da ich in jedem Augenblick meines Le Sartre 1982 [1938], S. 105. Sartre 2000a [1944], S. 116.
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bens eine Fülle an Wahlmöglichkeiten habe, bin ich nie irgendwo angekommen, bin ich nie fertig, bis zum Tod. Ich kann immer neue Pläne schmieden, mich immer neu erfinden, bin ständig im Werden und niemals ein fertiges Sein. Und damit schiebe ich meine Identität immer weiter vor mir her in Richtung Zukunft. Selbstverständlich ist das radikal gedacht, aber es bringt auf den Punkt, was die Existenzphilosophie im Menschsein hervorhebt und im Begriff der Möglichkeit zu fassen sucht. Jedem Menschen stehen viele Möglichkeiten offen, und man muss immer aus diesem Möglichkeitsspektrum wählen. Die Möglichkeiten sind der Spielraum der Freiheit, des individuellen, selbstbestimmten Wählens und Entscheidens, des Ja zu diesem und des Nein zu jenem. Doch bedeutet dies keine endgültige Festlegung, denn die Freiheit bleibt bestehen. Das, was man ist, bleibt damit immer weiter formbar. Der Mensch selbst ist Möglichkeit. Die Nicht-Bestimmtheit des eigenen Wesens nun ist der Wirkungsraum der Angst. Denn wo Freiheit ist, wo kein fester Grund ist, der Halt bieten könnte, da erwächst die Angst. Deshalb sind Freiheit und Angst untrennbar verbunden: „in der Angst gewinnt der Mensch Bewußtsein von seiner Freiheit, oder, wenn man lieber will, die Angst ist der Seinsmodus der Freiheit als Seinsbewußtsein“.91 Angst ist also die Art und Weise, wie Menschen mit ihrer eigenen Freiheit konfrontiert werden. Freiheit äußert sich in Form von Angst, Angst ist Indiz der Freiheit. Und so gibt das Auftreten von Angst Auskunft über die Freiheit, und zugleich stellt Freiheit die Bedingung für das Entstehen von Angst dar. Angst macht deutlich, dass es keine letzte Rechtfertigung für die eigenen Perspektiven und Handlungen gibt, dass das ganze Konstrukt „Ich“ instabil und bodenlos ist, dass das Ich-Haus, in dem wir uns einzurichten versuchen, ein wackliges Kartenhaus ist. So geht es in der Angst immer um mich selbst: „die Angst, das bin Ich“.92 Wie Kierkegaard und Heidegger unterscheidet auch Sartre grundsätzlich zwischen Angst und Furcht. Furcht hat immer ein konkretes Objekt, an dem sie ausgelöst wird. Die Funktionsrichtung der Furcht führt von außen, von der Welt her zum Ich. Die Furcht ist das Erschaudern angesichts der direkten Gefahr, zum Beispiel beim Blick in den Abgrund. Sie bietet eine „genau bestimmte Zukunft“, die konkrete Vorstellung, nämlich jetzt abzustürzen. Angst hingegen „hat nur eine unbestimmte Zukunft“.93 Angst ist diffus, sie ist nicht inhaltlich fixierbar, denn sie resultiert aus der eigenen Unbestimmtheit. Die Funktionsrichtung der Angst geht immer vom Ich aus und läuft zum Ich zurück, denn es geht darum, womit ich zu tun habe, was ich entscheiden muss, wozu ich fähig sein könnte. Sie ist „Angst vor mir“ selbst.94 Sartres Unterscheidung zufolge entspringt Furcht damit immer dem Weltbezug, Angst hingegen dem Selbstbezug eines Menschen. „Eine Situation, die Sartre 1993 [1943], S. 91. Sartre 1993 [1943], S. 98. 93 Sartre 1993 [1943], S. 95. 94 Sartre 1993 [1943], S. 91. 91 92
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Furcht hervorruft, insofern sie von außen her mein Leben und mein Sein zu verändern droht, ruft Angst hervor, insofern ich meinen eigenen Reaktionen auf diese Situation mißtraue.“95 Wenn ich Zahnschmerzen habe und zum Zahnarzt gehe, kann ich auf dem Behandlungsstuhl ganz unmittelbar Furcht vor der Spritze haben, die von außen her auf mich einwirkt. Angst hingegen richtet sich darauf, dass ich nicht weiß, wie ich mich verhalten werde, ob ich vor der Tür der Zahnarztpraxis umkehre, ob ich die Spritze erdulde oder lieber die Schmerzen der Behandlung ertrage, ob ich überhaupt meinen Widerwillen gegen Zahnarztbesuche in den Griff bekommen werde. Dieses Misstrauen gegenüber sich selbst ist der Kern der Angst. Furcht ist klar zu identifizieren, Angst nicht, denn Angst entsteht aufgrund der Veränderbarkeit und Instabilität des eigenen Selbst und damit der Ungewissheit meiner Wahl angesichts verschiedener Sichtweisen und Handlungsoptionen. Wenn also menschliches Sein nicht festgelegt ist, der Mensch keinen inneren Wesenskern hat, der ihm sein Handeln vorgibt, kann er sich seiner selbst, seiner Reaktionen, Wünsche und Handlungsmotive nie wirklich ganz sicher sein. Die Akzeptanz der Freiheit verlangt somit, das Nicht-Beherrschbare, Nicht-Steuerbare, Nicht-Wissbare im eigenen Leben anzuerkennen. Diese Dimension des „nicht“ ist konstitutiv für die Freiheit und vor allem für die Angst, die gerade aus diesem Nicht- Bestimmtsein erwächst. „Das Bewußtsein, seine eigene Zukunft nach dem Modus des Nicht-seins zu sein, ist genau das, was wir Angst nennen.“96 Die in der Angst erfahrene Ungewissheit hängt vor allem am Blick in die Zukunft. Niemand kann vorhersagen, wie die Zukunft aussehen wird und ob man das, was man sich jetzt wünscht, in ein paar Jahren auch noch wünschenswert findet. Heute entschließe ich mich, erst einmal beruflich erfolgreich zu sein und meinen Kinderwunsch hintenan zu stellen. In ein paar Jahren werde ich das vielleicht bereuen. Oder umgekehrt, ich bekomme Kinder und finde darin kein Glück. Wir können unser eigenes Selbst nicht planen, wir haben unser Werden nicht im Griff. Wir sind für uns selbst unberechenbar. Und wir sind auch für andere unberechenbar, unser Handeln ist unkalkulierbar. Wer werde ich morgen sein? Ein guter oder böser Mensch? Ein streitsüchtiger oder entspannter, euphorischer oder depressiver, integrer oder korrupter, interessierter oder gelangweilter Mensch? Und vor allem, wie kann man permanent weiter Entscheidungen fällen und immer weiter handeln angesichts dieser Ungewissheit darüber, was aus dem Handeln entsteht und wer man selbst wird? Sartre drückt diese angstvolle Verunsicherung in einem metaphorischen Bild aus: Wenn ich mich mit mir selbst in der näheren oder ferneren Zukunft verabreden könnte, weiß ich letztlich nicht, wer mir dann begegnen wird. „Die Angst ist die Besorgnis, mich bei dieser Verabredung nicht anzutreffen, gar nicht mehr hingehen zu wollen.“97 Was, wenn ich in meinem weiteren Leben mir selbst entgleite, wenn ich mich nicht wiedererkenne, wenn ich zu einer Sartre 1993 [1943], S. 91–92. Sartre 1993 [1943], S. 96. 97 Sartre 1993 [1943], S. 102. 95 96
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Fratze dessen geworden bin, was ich einmal sein wollte? Angst ist also grundlegend damit verbunden, dass wir zeitlich denken, dass wir in die Zukunft vorausschauen, uns unser späteres Leben vorstellen, die Entwicklung dorthin aber nicht garantieren können. Die Selbstehrlichkeit müsste darin bestehen zu sagen: Ich weiß nicht, wer ich jetzt bin, und auch nicht, ob die Erinnerungen an das, was ich gewesen zu sein glaube, nicht trügerisch sind. Und erst recht kann ich angesichts der vielen Möglichkeiten, im Leben weiterzuschreiten, nicht vorhersagen, wer ich zukünftig sein könnte. Ich bin niemals eine fertige Ganzheit, da mir mein mögliches zukünftiges Werden, das ich noch nicht bin, im Jetzt entzogen ist. Ich weiß nicht, was die Zukunft sein wird, denn Menschsein realisiert sich im Modus der Möglichkeit und der freien Wahl. Und hier laufen die Fäden zum Auftauchen der Angst zusammen. Angst ist das Bewusstsein davon, dass wir nicht sicher sein können, dass unsere Handlungen durch unsere Motive und Pläne eindeutig bestimmt sind und im Laufe des Lebens Bestand haben werden. Vielleicht passen sie schon morgen nicht mehr zu meinem Leben. Wie kann ich sie dann noch gutheißen? Und auch ich selbst werde mich verändern und morgen nicht mehr genau dieselbe sein wie heute. Wir wissen nicht, welcher Mensch wir in zehn oder zwanzig oder dreißig Jahren sein werden. Und trotzdem, und dies ist die große Bürde, müssen wir jetzt entscheiden und handeln. Niemand kennt die Zukunft, wir können nicht absehen, wohin wir uns selbst entwickeln werden, und erst recht wissen wir nicht, wie wir auf zukünftige Lebensumstände, vielleicht Krankheit, Not, Krieg, reagieren werden. Viele Menschen stellen sich vor, wie es wäre, von einer unheilbaren Krankheit betroffen zu sein. Aber niemand kann genau vorhersagen, wie man sich dann unter diesen Umständen tatsächlich verhalten würde. Wir bestimmen unser Leben und haben es doch nicht in der Hand. Dies ist der Kontext der Angst. Es sei hier ein etwas längeres Zitat Sartres gestattet, das die Dimensionen des Angstbegriffs noch einmal zusammenfasst: „Die Angst, die, sobald sie enthüllt ist, unserm Bewußtsein unsere Freiheit manifestiert, bezeugt diese fortwährende Modifizierbarkeit unseres Initialentwurfs. In der Angst erfassen wir nicht bloß die Tatsache, daß die Möglichkeiten, die wir entwerfen, durch unsere künftige Freiheit fortwährend untergraben werden, wir nehmen außerdem unsere Wahl, das heißt uns selbst, als nicht zu rechtfertigen wahr, das heißt, wir erfassen unsere Wahl als nicht von irgendeiner vorherigen Realität herrührend, sondern im Gegenteil als etwas, was der Gesamtheit der Bedeutungen, die die Realität konstituieren, als Grundlage dienen muß. Das Nicht- rechtfertigen-Können ist nicht nur die subjektive Anerkennung der absoluten Kontingenz unseres Seins, sondern auch die der Verinnerung und der Übernahme dieser Kontingenz. […] So sind wir fortwährend in unsere Wahl engagiert und uns fortwährend dessen bewußt, daß wir selbst diese Wahl unversehens umkehren und das Steuer herumreißen können, denn wir entwerfen die Zukunft durch unser Sein-selbst und untergraben sie fortwährend durch unsere existentielle Freiheit: wir zeigen uns selbst durch die Zukunft an, was wir sind, und ohne Einfluß auf diese Zukunft, die immer möglich bleibt, ohne jemals in den Rang von
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Realem zu gelangen. So sind wir fortwährend von der Nichtung unserer aktuellen Wahl bedroht, fortwährend bedroht, uns als andere, als wir sind, zu wählen – und folglich so zu werden.“98
Wir leben in der permanenten Bedrohtheit unserer Entwürfe und Entscheidungen durch uns selbst, durch die Möglichkeit, unsere Pläne wieder umzuwerfen, die Dinge nun anders zu bewerten, etwas anderes zu wollen. Dies ist für Sartre der Kern der Angst. Deshalb bezieht sich die Angst auf uns selbst, nicht auf die Welt. In der Angst wird bewusst, dass Freiheit alles durchdringt, dass wir keinen endgültigen Halt finden können, dass unsere Entscheidungen immer höchst fragil sind, weil wir sie jederzeit wieder ändern können. Doch wir können auch nicht nicht entscheiden, auf das Entscheiden verzichten. Dies gilt auch für moralische Wertungen. Ständig stehe ich vor den Fragen: Was ist das Angemessene, Gute, Gerechte, wie soll ich in dieser oder jener Situation handeln, was ist geboten? Unsere gesamte Lebenswelt ist durchdrungen von Normativität: Freundschaft, Fürsorge, Liebe, Solidarität, Ehrlichkeit, Treue, Zuverlässigkeit, sodass es scheinen könnte, dass diese Werte und soziale Strukturen fest und verlässlich sind. Aber Werte sind nicht einfach da, sondern ich muss ihre Geltung akzeptieren, ich muss für mich entscheiden, ob es gut und richtig ist, für Erdbebenopfer zu spenden, ein Haustier zu versorgen, ein Versprechen zu halten. Ich gebe einer Sache ihren Wert für mich. „Folglich ist meine Freiheit die einzige Grundlage der Werte, und nichts, absolut nichts rechtfertigt mich, diesen oder jenen Wert, diese oder jene Werteskala zu übernehmen. Als Sein, durch das diese Werte existieren, bin ich nicht zu rechtfertigen. Und meine Freiheit ängstigt sich, die unbegründete Begründung der Werte zu sein.“99 In der Angst reflektiert das Ich, dass die Freiheit allein in ihm selbst verankert ist, nicht auf etwas anderes zurückzuführen ist, nicht durch etwas anderes bedingt ist, sondern in autonomer Selbstbestimmung besteht. Augenblick für Augenblick müssen wir aus einer Fülle von Möglichkeiten wählen und entscheiden. Doch für die Entscheidungen selbst, die wir dabei treffen, für unsere eigene Selbstwahl, gibt es unter dem Aspekt der Freiheit keine verbindlichen Gründe, keine letzten Wahrheiten oder Begrenzungen. Wir sind quasi hin- und hergeworfen zwischen Wählenmüssen und Ungewissheit. Weil sich aber Menschen zumeist wünschen, dass alles seinen richtigen Gang geht, das Leben so verläuft, wie man es plant, alles überschaubar und kalkulierbar ist, besteht die alltägliche, normale Lebenseinstellung darin, sich möglichst nicht mit dem Ungewissen zu beschäftigen. Man tut so und lebt so, also ob es keinen Abgrund gäbe, man schaut einfach nicht hin. Oder man ist allzu gerne bereit, sich auf externe Autoritäten, auf gesellschaftliche Strukturen oder auf das absolut Unbezweifelbare zu berufen, und beweist damit die Sehnsucht nach einem Leben ohne Freiheit.
Sartre 1993 [1943], S. 805. Sartre 1993 [1943], S. 106.
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5.3.3 Flucht vor der Angst: Die Unaufrichtigkeit Angst in der essenziellen Funktion, dass sie uns immer und immer wieder auf unsere Freiheit stößt, wird meist als störend empfunden. Deshalb neigen Menschen dazu, ihre Angst irgendwie zu unterdrücken. Denn damit vermeiden sie, den Unwägbarkeiten des Lebens zu viel Raum zu geben. Dies bedeutet aber auch, möglichst nicht in Rechnung zu stellen, dass die Zukunft anders aussehen könnte, als man es sich selbst erhofft. Das Unbehagen der Angst resultiert aus der Reflexion darauf, dass das Ich mit der Ungewissheit konfrontiert ist. Das Bewusstsein der Unsicherheit kann zu unterschiedlichsten Verhaltensweisen führen, „vor allem Fluchtverhaltensweisen“.100 Auch in dieser Hinsicht argumentiert Sartre wie Kierkegaard und Heidegger, denn er sieht die prinzipielle Strategie der Angstvermeidung der meisten Menschen in der Verdrängung, in der Flucht vor der eigenen Freiheit, indem sie sich in den alltäglichen Gewohnheiten, fest gefügten Strukturen, verbindlichen Lebensmustern einrichten und darauf hoffen, dass diese sich als stabil und unverrückbar erweisen. Solche Fluchtstrategien können darin bestehen, gezielt das Spektrum der eigenen Möglichkeiten zu verkleinern. Oder man kann sich ein Selbstbild zurechtlegen, das Freiheit minimiert, zum Beispiel durch deterministische Hintergrundannahmen oder durch den Glauben an Schicksal oder Vorsehung. Auch wenn man bestimmte Entscheidungen als „alternativlos“ ansieht, reduziert man seine eigene Freiheit. Menschen können viele Strategien und Mechanismen entwickeln, die Angst zu überdecken. Sie stürzen sich in die Arbeit oder das Vergnügen, um nicht darüber nachdenken zu müssen, wie sie leben wollen. Sie trainieren Verhaltensweisen, die dabei behilflich sind, mit wenig Entscheidungsaufwand durchs Leben zu kommen: Anpassung, Gehorsam, Konformität. Sie folgen Ideologien, die durch externe Orientierungsvorgaben die eigene Entscheidungslast begrenzen. Man kann versuchen, die Angst zu kaschieren, indem man so lebt, als ob eigentlich alles doch in festen Bahnen läuft. Wem es gelingt, sich als Gefangenen der Umstände zu definieren (und damit seine Freiheit aufgibt), der kann in sich die Angst der Verantwortung für die Freiheit der Selbstbestimmung dämpfen. Diese gesamten Flucht- und Verdrängungsstrategien sind nach Meinung Sartres nichts anderes als ein Verstecken vor sich selbst, eine tiefe Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber. Die Unaufrichtigkeit ist das normale, alltägliche Manöver der Angstkompensation: „die meiste Zeit fliehen wir vor der Angst in die Unaufrichtigkeit“.101 Diese Unaufrichtigkeit ist nicht zu verwechseln mit der Lüge, die das bewusste Täuschen anderer bezeichnet. Die Unaufrichtigkeit hat immer mit dem Verhältnis zu sich selbst zu tun, mit einer mehr oder weniger bewussten Selbstflucht, sie wird als Lebenseinstellung aus freien Stücken gewählt, aus Bequemlichkeit und aus Angst. Man redet sich damit heraus, dass man ja eingebunden sei in seine Familie, seinen Job, seine Partei, sein Land, Sartre 1993 [1943], S. 109. Sartre 1993 [1943], S. 955.
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dass man nicht einfach alles aufgeben könne. Man sieht in den sozialen Strukturen wie Familie, Freunde, Arbeitskontexte und gesellschaftliche Institutionen das, was dem Leben Kontur und Regelhaftigkeit gibt. Dies alles funktioniert auch auf eine gewisse Weise. Aber dann kann plötzlich eine leise Skepsis wachsen, wie beim Hacker Neo im Film Matrix, und plötzlich etwas geschehen, das alle Stützen wegreißt. Oder es ist eine existenzielle Entscheidung gefordert, die alles Bisherige in Frage stellt. Versetzen wir uns in die Zeit Anfang der 1940er-Jahre. Arbeite ich als Französin mit den Faschisten zusammen oder schließe ich mich der Widerstandsbewegung an? Ist das eigene Überleben wichtiger als das Leben anderer? Es kann etwas Gewaltiges und Vernichtendes ins Leben hereinbrechen, das alles umwälzt und die dünne Schicht der Zivilisation wegspült. Oder es ist etwas ganz Kleines und Privates, ein Liebeskummer, ein gescheitertes Bewerbungsgespräch, ein Satz in einem Buch, den wir gelesen haben und der uns nicht mehr die Person sein lässt, die wir vorher waren. Dann bricht die Angst ins Leben ein und öffnet den Blick für die eigene Freiheit. Dann muss man begreifen, dass die alltägliche Flucht vor der Freiheit in die Unaufrichtigkeit nicht funktioniert, dass der Freiheit nicht zu entrinnen ist, dass sie die entscheidende und wesentliche Bestimmung des Menschen ist. Doch Freiheit bedeutet nicht Beliebigkeit, Willkür, Entscheiden nach Lust und Laune, sondern sie hat Konsequenzen, für die ich in der Ausübung meiner Freiheit dann auch die alleinige Verantwortung trage. Und auch diese Seite der Verantwortung aufgrund der Freiheit hat etwas mit Angst zu tun. 5.3.4 Existenzialismus, Freiheit und Verantwortung Sartre hat die Perspektive der Freiheit, der Unbestimmtheit und Zukunftsoffenheit zugespitzt. Er hat alle Kraft darauf verwendet, deutlich zu machen, dass sich die Akte autonomer Entscheidung und Selbstbestimmung durch nichts Vorgegebenes rechtfertigen lassen, sondern immer Äußerungen der individuellen Freiheit sind. Wenn ich aber selbst der Urheber und Akteur bin, der Schöpfer meines eigenen Lebens, dann bin ich auch allein dafür verantwortlich. Diese Verantwortung ist nach Auffassung Sartres absolut, weil die Freiheit absolut ist, ich kann sie an niemanden abtreten, ich kann keine andere Instanz als mich selbst für mein Leben verantwortlich machen. „So besteht die erste Absicht des Existentialismus darin, jeden Menschen in den Besitz seiner selbst zu bringen und ihm die totale Verantwortung für seine Existenz aufzubürden.“102 Die Einsicht in die Freiheit entlastet also nicht von der Verantwortung, sondern bürdet sie auf. Und auch diese Verantwortlichkeit spiegelt sich in der Angst. Denn die Angst zeigt an, dass ich nicht tun und lassen kann, was ich will, sondern dass die Freiheit eben diese Bürde mit sich bringt, so zu wählen und zu leben, dass ich diese eigene Wahl vor mir selbst, aber auch vor anderen rechtfertigen kann. Der Begriff der Verantwortung zielt auf das, was mir in Sartre 2000b [1945], S. 150.
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jeder konkreten Situation als Handlungsoptionen verfügbar ist und wie ich aus eigener Entscheidung mit diesen Optionen umgehe, wie viele ich davon überhaupt sehen will und für mich zulasse, wie ich meine eigenen Möglichkeiten für mich interpretiere, ja, für all dies bin nur ich allein verantwortlich. Das heißt nicht, dass es nicht die historischen Umstände gibt, die ich mir nicht ausgesucht habe, in denen ich aufgewachsen bin und lebe. Wir sind sozial und kulturell geprägte Wesen, aber dies hebt die Freiheit dennoch nicht auf. Meine Eltern habe ich mir, zumindest biologisch gesehen, nicht gewählt. Aber ob ich meine Mutter und meinen Vater mein Leben lang als meine „Eltern“ ansehe, ob ich sie achte und sie pflege, wenn sie krank sind, ist meine Entscheidung. Ich kann es verweigern. Aber ich habe die Konsequenz dieser Verweigerung für mich, für mein Selbstbild, für mein Gewissen und im Urteil meiner sozialen Umwelt zu tragen. Der Verantwortung aus Freiheit kann man eben nicht entkommen: „der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut“.103 Und genau an dieser Stelle der Verantwortung ist die Angst angesiedelt. Wo Freiheit ist, ist Angst; wo Angst ist, ist Freiheit. Wenn wir zur Freiheit verurteilt sind, sind wir zur Angst verurteilt. Denn die Wahl im Feld der Möglichkeiten muss ich selbst leisten. Wie ich mich selbst entwickle, kann ich nicht wirklich vorausberechnen. Ich kann nicht vorhersagen, wie ich in Extremsituationen reagieren werde. Ich kann noch nicht einmal mit Sicherheit wissen, was ich in normalen Situationen, morgen, übermorgen, nächste Woche tun werde. Und dennoch entscheide ich und habe die alleinige Verantwortung dafür. Die Angst resultiert genau aus dieser unendlichen Verantwortung ohne Hilfe, sie entspringt daraus, dass ich selbst die Entscheidungen für mein Leben fällen muss und die Folgen der Entscheidungen auf mir lasten. Man könnte also sagen, und dies ist eine wesentliche positive Funktion der Angst, sie zeigt uns erst, dass Freiheit zugleich Verantwortung ist, dass wir als denkende und handelnde Menschen Verantwortung tragen. Sie macht uns bewusst, dass wir selbst es sind, die aus den Möglichkeiten auswählen, die uns das Leben bereithält. Die Alltagsmoralität, die nichts hinterfragt, sondern dem Gewohnten folgt, schließt die ethische Angst aus, weil sie die Welt so erscheinen lässt, als ob alles seine Ordnung hätte. Die alltägliche Lebensführung folgt vorgegebenen Regeln und Gewohnheiten. Im Großen einer Gesellschaft oder eines Staates sind solche Regeln vor allem die Gesetze, die moralischen Gebote und die kulturellen Gepflogenheiten, die uns durchs Leben führen. Sie entlasten uns von der Aufgabe, über jeden einzelnen Schritt, den wir tun, nachdenken zu müssen. Wenn wir aber meinen, sie seien unumstößlich, dann irren wir. Und damit ist nicht gemeint, dass vielleicht beim nächsten Regierungswechsel bestehende Gesetze geändert oder neue in Kraft gesetzt würden. Sondern der Existenzialismus beharrt darauf, dass wir selbst uns gegen sie entscheiden können. Es liegt in meiner Freiheit, gegen das Gesetz zu verstoßen, gegen moralische Normen, Sartre 2000b [1945], S. 155.
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gegen meine eigenen Lebensmaximen. Ich muss nicht ans Telefon gehen, wenn mich jemand anruft, ich muss nicht für meine Kinder sorgen, ich muss nicht bei Rot an der Ampel stehen bleiben, ich muss nicht aufstehen, wenn morgens der Wecker klingelt. Ich kann einfach aussteigen aus den einzelnen Lebenskontexten und mich für andere entscheiden. Aber ich kann nicht aussteigen aus der Verantwortung für mein Tun. Die Verantwortung fällt immer und bedingungslos auf mich zurück. Egal, ob ich bleibe oder gehe, es ist immer meine Entscheidung und ich trage die Last der Verantwortung. Sartre spitzt diese Überlegung aber noch zu. Schon die Verantwortung für sich selbst, für die eigene Lebensführung, für den eigenen Lebensentwurf, tangiert die andern, und zwar alle anderen. „Wenn wir sagen, der Mensch wählt sich, verstehen wir darunter, jeder von uns wählt sich, doch damit wollen wir auch sagen, sich wählend wählt er alle Menschen. In der Tat gibt es für uns keine Handlung, die, den Menschen schaffend, der wir sein wollen, nicht auch zugleich ein Bild des Menschen hervorbringt, wie er unserer Ansicht nach sein soll.“104 Woran wir also jeweils ganz individuell beteiligt sind, wenn wir unser Leben führen, wenn wir aus Möglichkeiten die uns gerade passende auswählen, ist ein Mosaikstein im „Bild des Menschen“ überhaupt. Sartre legt in seiner Argumentation somit großen Nachdruck darauf, dass der Begriff der Verantwortung niemals nur mich allein betrifft: Verantwortung habe ich aufgrund meines Verhältnisses zu anderen. Da wir alle Teil einer gemeinsamen Welt sind, ist meine Freiheit immer mit der Freiheit anderer verknüpft. Wir hängen wechselseitig voneinander ab, von der Art, wie wir unser Leben führen. Bin ich mit meinem Auto unterwegs, sind andere Verkehrsteilnehmer davon betroffen, ob ich rücksichtsvoll oder rücksichtslos fahre. Ein Offizier, so Sartres Beispiel, der seine Truppe in den Kampf auf Leben und Tod schickt, muss genau abwägen, aber letztlich muss er entscheiden, und das geht nicht ohne Angst. Für Sartre besteht also der entscheidende Aspekt am Mechanismus der Angst in dem Anerkennen der Verantwortung, und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere, im Grunde genommen sogar für die gesamte Menschheit. Wie aber soll man diese Verantwortlichkeiten schultern, ohne von ihnen erdrückt zu werden, ohne an der Angst zu scheitern? Wie gehen wir individuell mit der Angst um, die aus unserer Freiheit resultiert? Wie gehen diejenigen damit um, die große soziale oder politische Verantwortung tragen? Sind sie sich überhaupt der Tragweite ihres Tuns bewusst? Oberflächlich gesehen scheint es möglich, Verantwortung umzulenken mit der Selbstbeschwichtigung, dies oder jenes sei gefordert, es handle sich ja um einen Befehl, es gäbe Sachzwänge, dies sei alternativlos usw. Aber gerade die Angst der Verantwortung macht deutlich, dass die eigene Verantwortung, die aus der freien Entscheidung resultiert, immer bei einem selbst bleibt, dass sie unabdingbar individuell ist. Sartre richtet alle Aufmerksamkeit auf diese positive Funktion der Angst, dass sie auf die Verantwortung hinweist und sie erst in vollem Umfang bewusst Sartre 2000b [1945], S. 150–151.
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macht. „Die Angst ist keineswegs ein Hindernis für das Handeln, sondern vielmehr dessen Voraussetzung, und sie ist eins mit dem Sinn jener erdrückenden Verantwortlichkeit aller gegenüber allen, die unsere Pein und unsere Größe ausmacht.“105 Gerade die soziale Dimension der Verantwortung für andere bildet für Sartre einen zentralen Aspekt der Angst. Damit wird aus der Ich-Perspektive eine Wir-Perspektive. Wir entscheiden zwar je individuell und für uns, aber dennoch als Teil der Menschheit und mit Auswirkungen auf alle anderen. Wir formen die Zukunft mit, die es jetzt noch nicht gibt. Wir sind verantwortlich für das, was aus der Menschheit insgesamt werden kann, auch wenn der eigene Beitrag nur klein sein mag. Sartre mahnt immer wieder, auch in seinen literarischen Texten, eine menschheitliche Gesamtperspektive an, denn jede einzelne Tat hat ihre Auswirkungen aufs Ganze der Menschheit: „Wenn der Mensch nicht ist, sondern sich schafft, und wenn er, indem er sich schafft, die Verantwortlichkeit für die ganze Gattung Mensch übernimmt, […] wenn wir in jedem Fall allein entscheiden müssen, ohne Stütze, ohne Führung und dennoch für alle, wie sollten wir da nicht Angst haben, wenn wir handeln müssen? Bei jeder unserer Taten geht es um den Sinn der Welt und den Platz des Menschen im Universum; selbst wenn wir es nicht wollen, schaffen wir durch jede unserer Taten eine allgemeine Wertskala“.106 Was ich also ganz individuell tue, ist dennoch ein Teil des Tuns der ganzen Menschheit. Von dem Moment an, wo irgendwann einmal ein einzelner Mensch etwas an eine Höhlenwand gemalt hat und dies dann von anderen bestaunt, gedeutet und weitergeführt wurde, gehört die künstlerische Ausdrucksform zur Menschheit. Wenn ich mit einem Plakat auf dem Marktplatz stehe und für eine soziale Atmosphäre der Höflichkeit und Freundlichkeit werbe, trage ich vielleicht dazu bei, dass Menschen über sich selbst nachdenken. Mein Handeln hat Auswirkungen darauf, welche Werte in der Welt existieren, welche Bedeutung kulturelle Ereignisse erlangen, wie Menschen miteinander umgehen, welche politischen Möglichkeiten sich eröffnen. Sartre hat den Zusammenhang von individueller Freiheit, der damit verbundenen Verantwortung für die Menschheit und der mit Freiheit und Verantwortung verbundenen Angst eindringlich betont. Je mehr man sich der Freiheit und Verantwortung bewusst ist, umso größer wird die Angst davor, falsch zu entscheiden, Fehler zu machen, Schlimmes zu bewirken, sich selbst zu verlieren. Die Angst wird sogar potenziert, indem sich ihre beiden Funktionsrichtungen überlagern: zum einen meine Freiheit und zum anderen meine Verantwortung für andere. Beide Werte, individuelle freie Selbstbestimmung und Verantwortung für andere, sind jeweils für sich absolut, keine Seite kann die andere ersetzen. Und beide sind für mich gleichermaßen bindend. Ich kann weder meine Freiheit noch meine Verantwortung abwerfen. Und ich habe nur mich selbst, um die Verantwortung zu tragen. Ich bin die absolute und letzte Sartre 2000a [1944], S. 117. Sartre 2000a [1944], S. 117.
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Instanz für meine Freiheit. Freiheit ist meine Freiheit, sie ist individuell, so wie die Angst, so wie die Verantwortung. „Der Mensch kann nichts wollen, wenn er nicht zunächst begriffen hat, daß er auf nichts anderes als auf sich selber zählen kann, daß er allein ist, verlassen auf der Erde inmitten seiner unendlichen Verantwortlichkeiten, ohne Hilfe noch Beistand, ohne ein anderes Ziel als das, das er sich auf dieser Erde schmieden wird.“107 Und dennoch bedeutet diese individuelle Freiheit nicht willkürliches Tun dessen, was man will, sondern eben gerade Verantwortung für die eigene Entscheidung, die immer etwas an der Welt verändert und damit andere Menschen betrifft. Sartre hat die Angst, und hier ist vor allem die geistige Angst gemeint, unauflöslich an die individuelle Freiheit und damit verbundene Verantwortung geknüpft. Sie ist Bedingung dafür, das eigene Menschsein zu verstehen und in der Welt sinnvoll handeln zu können. Angst ist „die Angst vor der Freiheit“.108 Der Mensch ist frei, weil er nicht dem Sein ausgeliefert ist, weil er kein unwandelbares Ding ist, sondern sich zu sich selbst, zur Welt, zu seinem Leben verhalten kann, weil er wählen kann, weil nicht vorgegeben ist, was er selbst ist, wohin er sich entwickeln kann, wie er entscheidet. Wenn ich Freiheit positiv sehe, muss ich auch Angst positiv sehen. Oder ich erschrecke vor der Freiheit, dann ist auch Angst etwas Verstörendes und Lästiges. Das Verhältnis zu meiner eigenen Freiheit und damit zu meiner Angst ist meine freie Entscheidung. Die vorgestellten existenzphilosophischen Theorien haben deutlich werden lassen, dass seit Kierkegaards weitreichenden Überlegungen der Phänomenbereich der Angst weiter ausdifferenziert wird, eine neue Dimension geistiger Angst ins Blickfeld tritt und mit einem ganz neuen, positiven Blick behandelt wird. Sie haben die grundlegendsten und weitreichendsten Überlegungen darüber präsentiert, was unter Angst verstanden werden kann und welche Tragweite sie für den Menschen hat. Mit diesen Theorien ist das Angstverständnis der Moderne auf eine neue konzeptionelle Basis gestellt worden, deren Bedeutung leider in den einzelwissenschaftlichen Forschungen zu Furcht, Ängsten und Angst oft zu wenig beachtet wird.
5.4 Günther Anders und Hans Jonas: Die moralische Funktion der Angst Zum Abschluss der Beschäftigung mit den existenzphilosophischen Angsttheorien möchte ich auf eine interessante Weiterführung einiger Gedanken zur Angstproblematik hinweisen, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch als Reaktion auf die Katastrophen zweier Weltkriege, auf atomare Aufrüstung und rasante technische Entwicklungen findet. Es handelt sich hierbei um zwei Autoren, die mit der Existenzphilosophie bestens vertraut waren, Günther Anders und Hans Jonas. Sie sind insofern besonders zu würdi-
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Sartre 2000a [1944], S. 118. Sartre 1993 [1943], S. 765.
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gen, als sie noch einmal die positive Seite der Angst hervorgehoben haben und die Bereitschaft zur Angst als Gefahrenbewusstsein sogar direkt einfordern. Günther Anders setzt sich in seinem Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen (erster Band 1956) mit den Folgen von Technik und Arbeitsteilung, Marktwirtschaft und Konsumzwang, Massenmedien und Informationsschwemme sowie mit der atomaren Bedrohung auseinander. Er geht davon aus, dass diese Entwicklungen für die einzelnen Menschen schwer zu verarbeiten sind und zu Überforderungen führen, was das Verstehen und die eigenen Reaktionen darauf betrifft. Seine etwas pessimistische Sicht ist aber durchaus von scharfsinnigen kulturellen, sozialen und politischen Beobachtungen getragen. Vor allem kreisen seine Überlegungen um die mögliche Selbstauslöschung der Menschheit, die wiederum in ihrer Unfassbarkeit gar nicht gedacht werden kann. Viele Erschütterungen hat die Menschheit schon erlebt, aber dass sie die Macht hat, den gesamten Planeten mit einem Schlag zu verwüsten, ist seit den Atombombenabwürfen 1945 eine vollkommen neue Per spektive. Mittlerweile haben sich die Bedrohungslagen durch andere Vernichtungsmöglichkeiten potenziert. Was Günther Anders nun jedoch feststellt, ist eine Verweigerung der Menschen, der Gefahr ins Auge zu blicken, eine „Apokalypse-Blindheit“, wie er es nennt. Sie resultiere aus unterschiedlichen habituellen Strategien, beispielsweise Ignoranz, Verharmlosung, Abschottung oder einfach mangelnder Bereitschaft, die ungeheure Größe der Bedrohung zu bedenken. Heute scheint es so, dass wir uns sogar an diese ständigen Gefahren gewöhnt haben. Selbst die Fakten zum Klimawandel mit ihren dystopischen Zukunftsszenarien bewegen nur eine Minderheit der Menschen dazu, etwas in ihrer Lebensführung zu ändern, und veranlassen Politikerinnen und Politiker selten, wirksame Maßnahmen für Nachhaltigkeit zu ergreifen. Die Gefahren sind zu anonym, zu abstrakt, um die Menschen wirklich zu erreichen. Warum dies so ist, erklärt Anders unter anderem mit der fortschreitenden Arbeitsteilung und Spezialisierung. Menschen werden daraufhin konditioniert, nur noch das Kleine und Nahe zu sehen, was dazu führt, dass „die Summe der spezialisierten Gewissenhaftigkeiten die monströseste Gewissenlosigkeit ergeben kann“.109 Vielleicht darf man hinzufügen, dass heute die unüberschaubare Vielzahl der Einzelinformationen, die medial zur Verfügung stehen und sich permanent verändern, kaum mehr individuell in ein konsistentes Orientierungssystem gebracht werden können. Noch nie zuvor konnten so viele Menschen auf so viel verfügbares Wissen zugreifen wie heute, und dennoch hat dies nicht dazu geführt, dass Menschen sich heute besser in ihrer Welt zurechtfinden. Eher das Gegenteil ist der Fall, die Orientierungslosigkeit nimmt zu. Anders setzt sich nun damit auseinander, dass das heutige Zeitalter als „Zeitalter der Angst“ angesehen wird und dass der Angstbegriff inflationär überall auftaucht. Er weist darauf hin, dass dabei der eigentliche Kern der Angst gar nicht erfasst wird. Vielmehr ist es ein „Zeitalter der Unfähigkeit zur Angst“. Anders 1985 [1956], S. 247.
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Denn zwar ängstigen sich die Menschen um allerlei, aber sie sind eigentlich gar nicht auf der Höhe der Angst, sie sind vielmehr „Analphabeten der Angst“.110 Nicht die Befreiung von Angst ist nach Meinung von Anders notwendig, sondern die Fähigkeit, „angemessene Angst, dasjenige Quantum an Angst aufzubringen, das wir leisten müßten, wenn wir uns von der Gefahr, in der wir schweben, wirklich frei machen“ wollen.111 Die Menschen müssen überhaupt erst lernen, sich der Bedrohung wirklich bewusst zu sein und entsprechend zu handeln. Erforderlich ist, „Angst zu haben, um frei zu werden, oder um überhaupt zu überleben“.112 Anders unterscheidet begrifflich nicht zwischen Angst, Ängsten und Furcht. Aber er zieht eine Trennlinie zwischen instrumentellen, oberflächlichen, lähmenden Ängsten, die in Medien und Öffentlichkeit herbeigeredet werden, und jenen Ängsten, die notwendig sind, um die gegenwärtige Gefahrenlage richtig zu bewerten. Diese Ängste müssten tief empfunden und durchlitten werden, um zum Handeln zu motivieren und um in eine moralische Einstellung umgesetzt werden zu können. Diese produktiven Ängste erfordern ein bewusstes Verhältnis zur eigenen Lebenssituation und haben damit Aspekte der reflexiven Grundbefindlichkeit der Angst. Sie sollen dazu befähigen, eine Umorientierung der gesellschaftlichen, ökonomischen und individuellen Zielsetzungen zu erreichen. Die Art von Angst, die die Apokalypse-Blindheit durchbrechen soll, hat etwas zu tun mit der sich immer weiter aufspreizenden Kluft zwischen dem, was Menschen hervorbringen, und der Fähigkeit oder besser Unfähigkeit, das Hervorgebrachte zu beherrschen und zu verstehen. Die Verantwortung für etwas, die Sorge um etwas, die Imagination von etwas haben immer auch einen Aspekt der geistigen Angst, die den Blick in die Zukunft richtet und die jeweiligen Möglichkeiten durchspielt. Die Unfähigkeit zur Angst wäre damit auch ein Verlust an Zukunftsvision und Hoffnung. Günther Anders betont die positiven Aspekte der Angst: Die Fähigkeit zur Angst bzw. zu Ängsten sei notwendig, um sensibel zu sein für die Gefahren der eigenen Zeit und bereit zu sein, sich einzusetzen für die Bewältigung der Probleme. Erst wenn ich Angst habe, bin ich mir selbst etwas wert und ist mir die bewusste Gestaltung der Zukunft ein hohes Ziel. Dementsprechend ist auch die Ethik neu gefordert, denn sie muss neue Perspektiven entfalten, die nicht mehr nur den menschlichen Nahbereich des Verhältnisses von Individuen im Blick haben, wie dies auch Hans Jonas mit seiner Ethik der Verantwortung für zukünftige Generationen in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung (1979) versucht hat. Verantwortung richtet sich immer auf andere Menschen. „Verantwortung ist die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein“.113 Wenn wir uns um dieses Sein anderer sorgen, ist dies eine Anders 1985 [1956], S. 265. Anders 1985 [1956], S. 266. 112 Anders 1985 [1956], S. 266. 113 Jonas 1984 [1979], S. 391. 110 111
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Furcht um sie. Wir haben immer die Aufgabe, darüber nachzudenken, welche Auswirkungen unsere Entscheidungen und Handlungen für andere haben, auch mit Blick auf die Zukunft. Da wir dies aber nie genau einschätzen können, erfordert gerade die Unberechenbarkeit der Zukunft besondere Aufmerksamkeit und Verantwortlichkeit für das Handeln im Jetzt: „je weiter noch in der Zukunft, je entfernter vom eigenen Wohl und Wehe und je unvertrauter in seiner Art das zu Fürchtende ist, desto mehr müssen Hellsicht der Einbildungskraft und Empfindlichkeit des Gefühls geflissentlich dafür mobilisiert werden“.114 So wie Anders eine neue Bereitschaft zur Angst einfordert, hält Jonas eine „Heuristik der Furcht“115 für notwendig. Sein Anliegen ist es, eine Ethik zu begründen, die sich den modernen Herausforderungen und Gefahren stellt, die er vor allem mit der modernen Technik verbunden sieht. Er hat dabei aber nicht nur im Sinn, dass es um den physischen Fortbestand der Menschheit geht, sondern er mahnt auch vor der Gefährdung des Menschenbildes, unserer Vorstellung vom Menschlichen. Um aber überhaupt die Bedrohungen und Gefahren einschätzen zu können, muss bestimmt werden, was für das Menschsein wichtig ist und was durch eine Ethik gefasst werden soll. Jonas geht davon aus, dass eine Ethik zwei Seiten hat: Sie bestimmt zugleich das Gute als auch das Übel wie zwei Seiten einer Medaille. Da es oft schwierig ist, das Gute eindeutig zu identifizieren, schlägt er vor, methodisch zunächst den indirekten Weg über die Identifizierung des Negativen zu nehmen. Dies ist die Aufgabe der „Heuristik der Furcht“. Sie ist eine Untersuchung dessen, was wir als das Übel, das Schlechte, das Böse ansehen, um dann für unser Handeln zu ermitteln, was zu meiden ist und was im Gegensatz dazu das moralisch Gute sein könnte. Erst diese Antizipation des Übels und der Gefährdung ermöglicht es also, dass „das davor zu rettende Gute sichtbar wird“.116 Dabei entspricht der Begriff der Furcht hier dem, was ich geistige Angst nenne. Jonas selbst hebt explizit hervor, dass Furcht nicht das ist, was einen als Reaktion auf bestimmte Gegenstände oder Situationen befällt. Vielmehr ist sie „eine Furcht geistiger Art, die als Sache einer Haltung unser eigenes Werk ist“.117 Es geht um eine bewusst eingenommene Haltung der geistigen Furcht, die sich darauf einstimmt, „sich vom erst gedachten Heil und Unheil kommender Geschlechter affizieren zu lassen“,118 damit daraus die moralischen Grundideen zu gewinnen sind, die uns heute anleiten können. Diese geistige Furcht ist nicht zu verwechseln mit Ängstlichkeit oder Zaghaftigkeit, sondern sie ist vielmehr Bedingung des moralischen Engagements. „Nicht die vom Handeln abratende, sondern die zu ihm auffordernde Furcht meinen wir mit der, die zur Verantwortung wesenhaft gehört, und sie ist Furcht um den Gegenstand
Jonas 1984 [1979], S. 391–392. Jonas 1984 [1979], S. 64. 116 Jonas 1984 [1979], S. 392. 117 Jonas 1984 [1979], S. 65. 118 Jonas 1984 [1979], S. 65. 114 115
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der Verantwortung.“119 Diese geistig ausgerichtete Furcht ist für die Ethik unverzichtbar, sie erschließt das, worauf sich die Verantwortung richtet. Die Überlegungen von Jonas zielen nun aber vor allem auf Fragen der zukünftigen Entwicklung, doch die Zukunft ist kaum abschätzbar. Deshalb bekommt die methodisch-heuristische Furcht eine noch wichtigere Funktion: „eine aufspürende Heuristik der Furcht wird nötig“,120 die erst einmal herausfinden muss, worin zukünftige Gefahren bestehen könnten, welche moralischen Interessen betroffen sein könnten und wie darauf angemessen zu reagieren wäre. In diesem Sinne „wird also das Fürchten selber zur ersten, präliminaren Pflicht einer Ethik geschichtlicher Verantwortung werden“.121 Gerade auf der Grundlage dieser Haltung der Furcht ist es möglich, sich mit den wesentlichen Fragen des Menschseins auseinanderzusetzen. Hans Jonas und Günther Anders haben mit ihren Texten deutlich gemacht, dass ein angemessenes, reflektierendes Angstbewusstsein eine moralische Funktion haben kann, denn es gibt grundlegende Fragestellungen vor, um sich mit den eigenen Lebenszielen auseinanderzusetzen, sich den Zukunftsfragen zu widmen und insgesamt die Größenordnungen von Bedrohungen richtig einschätzen zu können. Angst ist in diesem umfassenden Sinn überlebenswichtig.
Jonas 1984 [1979], S. 391. Jonas 1984 [1979], S. 392. 121 Jonas 1984 [1979], S. 392. 119 120
KAPITEL 6
Ängste und Angst als soziales Phänomen
Verschiedenste Tierarten leben in Gemeinschaften zusammen, weil dies ihr Überleben sichert und besseren Schutz bietet. Dies gilt auch für den Men schen. Doch gerade das Zusammenleben mit anderen ist eine der Haupt quellen von Ängsten überhaupt. Menschen sind sich einander nicht nur Freund, sondern auch Feind. Diebstahl, Plünderung, Brandschatzung, Ver gewaltigung, Versklavung, Folter, Mord, aber auch Betrug, Intrigen, Er pressung, Verrat – Menschen haben allen Grund, sich vor ihren Mitmenschen zu ängstigen. So heißt es in Sartres Stück Geschlossene Gesellschaft: „Die Hölle, das sind die anderen“. Zwar wechseln die Formen und Ausmaße, wie Men schen anderen Schaden zufügen und ihnen Leid bereiten, aber der Faktor Mensch ist immer eine gravierende Bedrohung für die Mitmenschen. Selbst verständlich gibt es auch Gefahren in der Natur oder kann man von einem Un fall betroffen sein. Doch es macht in der Bewertung einen Unterschied, ob man durch einen Unfall oder durch die Hand eines Menschen stirbt. Das Schlimmste, das Menschen widerfahren kann, stammt von anderen Menschen, denn Menschen können bewusst peinigen. Sie können sich gezielt die Schwach stellen anderer aussuchen, um daraus einen Vorteil für sich selbst zu ziehen. Sie vermögen zu lügen und zu täuschen. Und Menschen sind in ihren Charakte ren so vielschichtig, dass es insgesamt kaum möglich ist, andere in ihrem Ver halten verlässlich einschätzen zu können. Deshalb fühlen sich Menschen nie vollkommen sicher vor anderen Menschen. Die Ängste gelten oft denen, die fremd sind, die man nicht kennt und deren Verhalten man nicht einschätzen kann. Aber auch im Nahbereich sind Be kannte oder gar Familienmitglieder Auslöser von Ängsten und auch direkter Furcht. In vielen Familien findet häusliche Gewalt statt, oft auch gegen Kinder. Jeder kennt Situationen im Leben, in denen körperlich Stärkere Furcht ver breiten. Schon Kinder auf dem Spielplatz oder in der Schule machen die Er fahrung, dass sich andere Kinder rücksichtslos und aggressiv verhalten, andere © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Frischmann, Angstwesen Mensch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67876-3_6
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einschüchtern und drangsalieren. Jugendgangs oder Banden üben Macht über andere aus, zocken sie ab, prügeln und grenzen ihre Reviere ab. Im Arbeits leben erfahren Menschen Mobbing, Ausgrenzung und mangelnden Respekt, sodass der tägliche Weg zur Arbeit voller Ängste angetreten wird. Es gibt viele Formen von sozialer Missachtung, Aggression und Gewalt. Überall, wo Men schen agieren, ob in der Politik, der Wirtschaft, der Kirche, der Familie, überall wird auch gelogen, getrickst und manipuliert. Und entsprechend sind auch die daraus erwachsenden Ängste im sozialen Bereich stets präsent und dabei auch sehr vielgestaltig. Soziale Ängste haben Menschen deshalb, weil sie soziale Wesen sind, von anderen in vielen Hinsichten abhängen, ihr Leben und Überleben immer nur in Gemeinschaften möglich ist. Soziale Ängste können unterschiedlich aus gerichtet sein: Sie sind zum einen individuelle Ängste der Menschen vor ihren Mitmenschen. Zum anderen richten sich Ängste aber auch auf den möglichen Verlust der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft, von der man ab hängig ist. Darüber hinaus beziehen sich soziale Ängste auf die Entfaltungsund Partizipationsmöglichkeiten in einer Gemeinschaft. Dabei geht es um Ängste bezogen auf den sozialen Status oder um Abstiegsängste. Und soziale Ängste können zu kollektiven Ängsten werden und ganze Gruppen, Gemein schaften oder Staaten durchdringen, zu Massenpaniken und sozialen Hysterien führen. Sie entstehen vor allem in schwierigen Krisensituationen, bei schlim men Katastrophen oder solchen Ereignissen wie Seuchen und Pandemien, wenn niemand sich vor einer großen Gefahr sicher fühlen kann. Dies werde ich an einigen historischen Beispielen aus entsprechenden Forschungen illustrieren. Blicken wir auf unsere Gegenwart, finden wir zahlreiche Einschätzungen darüber, dass Ängste eine immer größere Rolle spielen würden, dass wir in einer Angstgesellschaft leben würden, dass vor allem die Deutschen ein Volk der Angsthasen seien. Beurteilungen dieser Art lassen sich dann auch schnell in den Feuilletons, Therapiehandbüchern und Lebensratgebern finden. Denn erst, wenn den Menschen suggeriert wird, dass sie Hilfe benötigen, sind sie be reit, sich in die Hände derer zu begeben, die ihnen diese Hilfe versprechen. Deshalb soll in diesem Kapitel verfolgt werden, wie soziale Ängste einzuordnen sind, aber auch, wie soziologische Theorien das Angstthema behandeln. Um diese Perspektive vorzubereiten, soll noch einmal auf die biologische Ver haltensforschung geblickt werden, von der schon im Kap. 3 zu den bio logischen Theorien die Rede war, nun aber speziell mit der Frage nach der Er klärung sozialer Ängste.
6.1 Sozialverhalten und soziale Ängste im Licht der Verhaltensforschung Die biologische Verhaltensforschung trägt dazu bei, das soziale Leben von Tierarten zu erforschen und auch die Spezies Mensch hierbei unter verhaltens biologischer Perspektive einzuordnen. So lassen sich grundlegende Gefühle
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und Verhaltensweisen wie Freundschaft, Liebe und Anhänglichkeit, Feind schaft, Neid und Hass, Zorn, Ekel, Freude, Aggressivität, Neugier, Wett bewerb, Vertrauen oder Misstrauen, Furcht und Ängste durch Weiter entwicklung biologischer Funktionen und Ausstattungen erklären. Sie alle dienen im weitesten Sinne der Lebenssicherung, beispielsweise der Abwehr von Feinden, dem Zusammenhalt und der Organisation der Gruppe, der Fort pflanzung oder der Beschaffung von Nahrung. In den Theorien der Verhaltensforschung wird auch das Thema Furcht, Ängste, Angst behandelt. Tiere haben aus unterschiedlichsten Gründen Furcht: weil sie einfach nur erschrecken, weil in der Umwelt etwas passiert, was ihnen unvertraut ist, weil sie mit Fressfeinden konfrontiert sind, weil sie innerhalb der eigenen Art um etwas kämpfen und sich gegen Konkurrenten behaupten müs sen, die vielleicht stärker als sie selbst sind. Es kann auch der Fall sein, dass sie so etwas wie rudimentäre Ängste haben, durch ihr Verhalten aus der Gruppe hinausgedrängt zu werden und nicht mehr deren Schutz genießen zu dürfen. Und vielleicht gibt es auch schon erste Ansätze mitfühlender Ängste bei Gefahr für den Nachwuchs oder die Lebensgefährten. Irenäus Eibl-Eibesfeldt schreibt dazu: „Angst und Mißtrauen gehören sicher zu den ältesten Gefühlsregungen. Es gibt zwei Hauptursachen tierischer Angst: die Angst vor dem Freßfeind und die Angst vor Artgenossen. Die Angst vor dem Freßfeind ist vermutlich die ur sprünglichste aller Ängste, denn tierisches Leben lebt von der Vernichtung an deren, oft hochorganisierten Lebens.“1 Soziale Ängste sind der Spiegel des Lebens in sozialen Gemeinschaften und ein wichtiges Steuerungselement für das Sozialverhalten. Anhand der sozialen Ängste werden soziale Hierarchien aufrechterhalten oder Strukturen stabili siert, die für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft klare Regeln vorgeben. Auch viele Tierarten leben in Gemeinschaften. Das Sozialverhalten in der Gruppe wird überwiegend instinktiv gesteuert. Hierfür haben sich im Verlauf der Evolution diejenigen Verhaltensweisen durchgesetzt und genetisch ab gespeichert, die das Überleben und Wohlergehen in einem bestimmten Umweltbereich effizient regeln. Dabei geht es um Verhaltensweisen wie Domi nanz und Unterordnung, Aggression gegenüber Konkurrenten, Besitz oder Teilen, Paarungsrituale, Aufzucht des Nachwuchses, Weitergabe von Informa tionen über Nahrungsquellen und vieles mehr. Die meisten lebensnotwendigen Verhaltensmuster sind angeboren, z. B. das Balzverhalten von Fischen, Vögeln oder Säugetieren, denken wir an die Gesänge der Vögel oder das Spreizen ihres Gefieders. Die biologische Verhaltensforschung liefert dazu aufschlussreiches Material in Fülle. Je höher entwickelt die Tierarten sind, umso stärker treten mit einem aus differenzierten Gehirn zu den rein angeborenen Verhaltensdispositionen je doch auch gelernte Elemente hinzu, die durch Versuch und Irrtum flexiblere Verhaltensweisen ermöglichen. Beispielsweise ist der Nestbau für viele Vögel eine angeborene Triebhandlung. Sie wird also nicht von den Eltern abgeschaut 1
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und gelernt, aber der einzelne Nestbau selbst wird entsprechend der zur Ver fügung stehenden Materialien und Gegebenheiten unterschiedlich ausgeführt. Oder Tiere lernen Strategien der Futtersuche von ihren Familienmitgliedern, sind aber dennoch darauf genetisch programmiert, auf bestimmte Schlüssel signale in der Umwelt durch angeborene Verhaltensweisen zu reagieren. Der Tierverhaltensforscher Konrad Lorenz geht davon aus, dass die für das Überleben entscheidenden Verhaltensweisen unbedingt verlässlich sein müssen, dass sie deshalb tief genetisch verankert und damit relativ starr und unver änderlich sind. Dies gilt bei in Gruppen lebenden Tieren auch für das soziale Verhaltensspektrum, das das Zusammenleben bestimmt. So haben die For schungen ergeben, dass Jungtiere, die artfremd aufgewachsen sind, dennoch ein für ihre Art typisches Sozialverhalten entwickeln. Lorenz hat auch heraus gefunden, dass bestimmte Vogelarten in ihrer frühen Entwicklungsphase auf soziale Partner fixiert werden, von denen sie sich schwer wieder lösen können. Er nennt dies „Prägung“. Ausnahmen sind nur dort zu finden, wo die hierbei wirksamen angeborenen Mechanismen aufgrund veränderter Umwelteinflüsse gestört sind, zum Beispiel dadurch, dass Tiere entweder auf falsche Ersatz objekte für ihre angeborenen Triebhandlungen geprägt sind oder die Schwellen werte für die Auslösung von Reaktionen verschoben sind. Dies kann unter an derem dann geschehen, wenn Tiere auf zu engem Raum leben müssen, wie dies in Massentierhaltungen der Fall ist. Lorenz hat sich gerade mit Blick auf das Sozialverhalten intensiv mit der ver haltensbiologischen Funktion von Aggressionen beschäftigt, deren Pendant die Furcht bildet. Aggression, die Bereitschaft zum Kampf, gehört zur Grund ausstattung jeder Tierart. Sie kann dabei unterschiedliche Bezugspunkte haben. Aggression gegenüber natürlichen Feinden ist überlebensnotwendig, sowohl auf Seiten des Raubtieres gegenüber seiner Beute als auch umgekehrt. Aggressivität setzt darauf, dass das Gegenüber in Furcht versetzt wird. Furcht ist eine direkte Reaktion auf Aggressivität.2 Wer sich nicht stark genug fühlt, dem Angreifer Paroli zu bieten, flieht. Flucht ist klug, weil sie das Überleben des Schwächeren sichert. Wenn ein Tier im Kampf sein Leben verliert, hat es biologisch gesehen nichts gewonnen. Es sei denn, es hat damit seine Nach kommen oder die Gruppe geschützt. Neben der Flucht besteht die andere Überlebensstrategie im Gegenangriff. Furcht kann auch Antrieb sein, sich dem Feind entgegenzustellen, um die eigene Existenz oder die eigene Gruppe zu verteidigen. Aggression ist aber auch innerhalb einer Gruppe oder Art wichtig, um Rangordnungen zu bestimmen, um eine optimale Verteilung einer Tierart über das zur Verfügung stehende Territorium zu erreichen oder um bereit zu sein zum Kampf um Fortpflanzungspartner. Aggressionsweisen und Aggressionsstärke sind dabei normalerweise biologisch angepasst an die Kon texte und Aktivitätsziele. Innerhalb der eigenen Gruppe geht es meist nicht um die Vernichtung des jeweiligen Kampfgegners, beispielsweise bei Auseinander setzungen um den Vorrang in der Gruppe, denn die Tötung eines starken 2
Lorenz 1974, S. 35.
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Gruppenmitglieds würde die ganze Gruppe schwächen. Deshalb gibt es ent sprechende angeborene „Hemmungen“ im Verhalten. Insbesondere Raub tiere, die mit gefährlichen Kampfmitteln ausgestattet sind wie Hörner, Krallen, Reißzähne, benötigen dabei für ihr Verhalten innerhalb der eigenen Art in stinktive Hemmungsmechanismen, um in Streitigkeiten innerhalb des Rudels die Artgenossen nicht zu töten. Doch Lorenz hebt auch hervor, dass unter schlechten Umweltbedingungen, z. B. bei Nahrungsnot oder zu kleinem Lebensraum, die Aggressionsschwelle sinkt. Die Aggressivität wird dann dys funktional, sie schießt übers Ziel der Arterhaltung hinaus und kann dazu füh ren, dass sich eigentlich friedfertige Tiere gegenseitig angreifen, dass der eigene Nachwuchs aufgefressen wird oder eine Tiergruppe sich selbst die eigene Lebensgrundlage zerstört. Vor allem bei gezüchteten Rassen können Ver schiebungen an den angeborenen Instinkthandlungen auftreten, sodass dann die Aggressivität oder auch die Hemmung nicht mehr funktionieren und Tiere unberechenbar werden. Dies hat dann auch wieder Auswirkungen darauf, in wieweit eine angemessene Furcht ausgeprägt wird oder vielleicht bei widrigen Bedingungen die Ängstlichkeit so gesteigert wird, dass die Tiere vollkommen unangemessen reagieren, entweder überreagieren oder lethargisch werden. Für den Menschen stellt sich aber nun die Frage, wie weit die biologischen Instinktausstattungen überhaupt noch wirksam sind. Die Verhaltensforschung geht davon aus, dass beim Menschen keine durchgängige Instinktprägung mehr vorhanden ist, was das Entstehen menschlicher Freiheit eröffnet, sich aber durchaus noch Restelemente eines angeborenen Sozialverhaltens erhalten haben. Als Indiz dafür werden durchgehend beobachtbare menschliche Re aktionen auf bestimmte Reize angesehen wie das sogenannte KindchenSchema. Kleine Kinder und auch Tierjunge wecken in uns das Bedürfnis, sie zu beschützen und zu umsorgen. Auch grundlegende menschliche Ausdrucks formen gehören zu den angeborenen Verhaltensweisen. Menschen in jeder Kultur erkennen an Mimik, Gestik und Körperhaltung, ob ihr Gegenüber lacht oder weint, Kummer und Schmerz hat, sich fürchtet oder entspannt ist, sich in wütender und aggressiver oder fröhlicher und versöhnlicher Stimmung befindet.3 Aber auch Verhaltensweisen von Tieren, die mit einer ganz simplen Schutz funktion zu tun haben, finden sich noch beim Menschen. So gibt es Eibl- Eibesfeldt zufolge so etwas wie eine „Urangst vor dem Feind: Wenn sich Men schen irgendwohin zum Rasten setzen, dann suchen sie bevorzugt Orte auf, die Rückendeckung und Ausblick gewähren.“4 Ein anderes Beispiel ist die so genannte „Aufblickhäufigkeit“. Tiere in einer vertrauten Umgebung blicken beim Fressen seltener auf als in einer unbekannten Umgebung, die sie nicht einschätzen können und die sie deshalb intensiver beobachten. Sie sichern sich durch das häufige Aufblicken besser gegenüber möglichen Überraschungen ab, was im vertrauten Umfeld nicht notwendig ist. Menschen verhalten sich 3 4
Lorenz 1992 [1965], S. 156–160. Eibl-Eibesfeldt 1991, S. 106–107.
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ähnlich, auch für sie funktionieren basale Verhaltensweisen zur Gewährleistung des biologischen Überlebens.5 Doch sind in den zivilisierten Lebensformen die Ängste vor Bedrohungen durch wilde Tiere, die dem Menschen gefährlich werden können, kaum noch von Belang. Wir rechnen nicht damit, beim Spaziergang durch die Stadt einem Tiger oder Bären zu begegnen. Von viel größerer Bedeutung ist die Bedrohung durch Mitmenschen. So kann es durch aus passieren, beim Spaziergang Opfer eines Diebstahls zu werden. Im Tierreich gibt es sehr unterschiedliche Lebensweisen, manche Arten wie Bienen und Ameisen bilden Staaten, viele Säugetierarten leben in Herden oder auch kleineren Gruppenverbänden, und manche Tierarten sind ausgeprägte Individualisten. Das Zusammenleben in Insektenstaaten ist instinktiv geregelt. Für Sozialverbände höher entwickelter Tierarten, die ein größeres individuelles Verhaltensspektrum aufweisen, sind Mechanismen notwendig, die die Aggressivität der Gruppenmitglieder untereinander hemmen und vertrauens bildende Verhaltensweisen unterstützen. Dies sind oft Rituale, die den Tieren anzeigen, wie verlässlich die anderen jeweils sind. Dabei hat sich aber dieses Sozialverhalten evolutionär erst herausbilden müssen. Reptilien beispielsweise, die in Gruppen leben, befinden sich in ständiger Kampfbereitschaft. Erst mit der Brutpflege bei Vögeln und vor allem Säugetieren kam, so Eibl-Eibesfeldt, eine auf „Freundlichkeit“ basierende Sozialität in die Welt.6 Je längere Zeit Jungtiere benötigen, bis sie für sich selbst sorgen können, umso mehr sind sie auf Betreuung durch Eltern oder die Gruppe angewiesen. Für diese soziale Zu wendung haben sich entsprechende biologische Verhaltensmuster entwickelt. Die Ermöglichung des kooperativen Zusammenlebens wird abgesichert vor allem durch biologisch verankerte Grundinstinkte. Sie regulieren die Brut pflege, das Paarverhalten, die soziale Stellung, die Art des Austragens von Kon flikten. Dabei haben Eibl-Eibesfeldt zufolge die Ängste vor anderen Art genossen, zum Beispiel vor dem Stärkeren, vor Paarungskonkurrenten oder vor äußeren Bedrohungen für die Gruppe, eine steuernde Funktion, die für das soziale Gefüge und das Überleben notwendig ist. Dies gilt auch für den Men schen. „Die Angst des Menschen vor dem Mitmenschen gehört zu den Primär ängsten, die keine persönlichen negativen Erfahrungen zur Voraussetzung ha ben.“7 Sie sind für ein Individuum lebenssichernd. Ein schon sehr früher Beleg dafür in der Individualentwicklung ist das sogenannten „Fremdeln“ von Säug lingen, die sich etwa in einem Alter von sechs Monaten von unbekannten Per sonen abwenden. Sie unterscheiden instinktiv zwischen vertraut und fremd. Dieses Verhalten lässt sich kulturübergreifend beobachten und ist unabhängig von der Art der Erziehung oder den Lebensweisen der Menschen. Wir lernen also sehr früh, einen Unterschied zu machen zwischen nahe stehenden Menschen und anderen, die unbekannt sind und deshalb nicht ein geschätzt werden können. In vertrauten Gruppen fühlen wir uns geborgener Eibl-Eibesfeldt 1991, S. 106. Eibl-Eibesfeldt 1991, S. 109. 7 Eibl-Eibesfeldt 1991, S. 109. 5 6
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und sicherer als in einer fremden Gruppe, denn das Verhalten von Menschen, die wir nicht kennen, lässt sich schwerer vorhersagen, erst recht, wenn diese Fremden aus Kulturen kommen, deren Wertvorstellungen, Traditionen, Ritu ale uns unbekannt sind. Wenn wir in unserem Heimatort unterwegs sind und Bekannte treffen, fühlen wir uns sicherer, als wenn wir uns an einem fremden Ort orientieren müssen und uns nur unbekannte Menschen begegnen, deren Gewohnheiten und Erwartungen wir nicht kennen. Im Freundeskreis oder in der Familie als Vertrauensraum spielen Ängste eine geringere Rolle. Aus nahmen bilden die Fälle, in denen Menschen aus diesem Nahbereich selbst Ge walt entgegenschlägt, was durchaus auch in der Familie geschehen kann. Dies ist für die Betroffenen dann deshalb so schwer zu ertragen, weil der Privat bereich, in dem normalerweise die Psyche auf eine gewisse Weise zur Ruhe kommen kann, gerade die essenzielle Schutz- und Sicherheitsfunktion nicht bietet. Das Bedürfnis nach Geborgenheit und Vertrautheit führt aber oft auch dazu, dass innerhalb sozialer Gruppen eine Art Homogenisierung des Ver haltens erfolgt und abweichendes Verhalten abgestraft wird bis hin zum Aus schluss aus der Gruppe. Um nicht isoliert und ausgegrenzt zu werden, sind Menschen deshalb umgekehrt bereit, sich an die Gruppennormen anzupassen, um dazugehören zu dürfen. Dies lässt sich ohne weiteres weiterdenken bis zu Religionsgemeinschaften, politischen Vereinigungen oder ganzen Staaten, die historisch gesehen gerade dadurch funktionieren konnten, dass sie ihre Gegner ausschlossen und bekämpften und damit innerhalb der Gruppe wiederum Zu sammengehörigkeit beförderten. Die Anderen, die Feinde, Gegner usw. waren dabei oft Minoritäten, die dann auch zu Sündenböcken für bestimmte Ereig nisse oder Katastrophen gemacht wurden. Die eigenen Aggressionen und Ängste werden dann an diesen vermeintlichen Übeltätern ausgelassen. In ver schiedenen Experimenten konnte auch gezeigt werden, dass Menschen größtenteils dazu neigen, sich Mehrheitsmeinungen anzuschließen und zwar zum Teil sogar entgegen dem eigenen besseren Wissen. Es gibt so etwas wie eine „Bereitschaft zur Konformität“,8 eine freiwillige Unterordnung unter den Gruppenzwang, um die Sicherheit der Gruppe genießen zu dürfen. Dies hat auch etwas mit sozialen Ängsten zu tun. Die Ablehnung des Fremden erklärt Eibl-Eibesfeldt wie andere Verhaltens forscher auch damit, dass Menschen die längste Zeit der Geschichte in kleinen Gruppen lebten, in denen alle sich gut kannten. Bis heute ist es so, dass wir uns in einer Gruppe vertrauter Menschen wohler fühlen als in einer Gruppe voll kommen unbekannter Leute, die wir nicht einschätzen können. Doch heute leben wir in unüberblickbaren, anonymen Großgesellschaften, in denen sich die meisten Menschen nicht untereinander kennen. Sie bergen daher wegen des permanenten Gefühls der Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit der eige nen Lebenskontexte sozial gesehen viel mehr Angstpotenzial als kleine, ur
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Eibl-Eibesfeldt 1991, S. 117.
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wüchsige Verbände, wobei die sozialen Ängste diffuser werden, weil die Ge fahren nicht genau bestimmt werden können. Weil Menschen soziale Wesen sind, weil sie ihr Menschsein nur in Gemein schaft mit anderen entwickeln und sichern können, gehören vor allem die so zialen Ängste vor Verlust der Zugehörigkeit, vor Ausgrenzung und sozialer Missachtung zu den größten Ängsten, die Menschen ausprägen können. In fast allem, was Menschen tun, sind sie auf andere Menschen angewiesen. Wenn wir unsere Mitmenschen richtig einzuschätzen vermögen, ihnen vertrauen, be fördert das ein Gefühl der Sicherheit und mindert die Ängste. Gesellschaftliche und staatliche Strukturen führen Interessen zusammen und gleichen Men schen einander an. Nur so ist überhaupt Zusammenleben möglich. Im Freun des- und Familienkreis, im Arbeitskontext, in den kleinsten Vereinen bis zu Parteien und den tragenden Institutionen wie Rechtsprechung, Parlament, Bildungseinrichtungen und Gesundheitsfürsorge kooperieren wir und wollen als zuverlässige soziale Partner gelten, um nicht die Unterstützung der anderen zu verlieren. Diese kulturell geschaffenen Strukturen leiten das Leben der Menschen an und bieten damit so etwas wie Regulatoren für die Ängste vor dem Ungewissen und Unberechenbaren. Verändern sich diese sozialen Ein richtungen und ihre Orientierungssysteme zu schnell, so die Vermutung, kön nen sich viele Menschen nicht mehr an ihnen festhalten, verlieren sie ihre sta bilisierende Funktion. Und dies hat wesentlichen Einfluss auf die Ausprägung der Ängste der Menschen. Da auch soziale Ängste also direkt abhängig sind von den Bedingungen, unter denen Menschen leben, kann auf sie auch in einem negativen Sinn Ein fluss genommen werden. Vergegenwärtigen wir uns, was Ängste für die Men schen psychisch bedeuten. Eibl-Eibesfeldt macht auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam: „Angst infantilisiert“.9 Ängste versetzen Menschen in einen Zu stand der Hilflosigkeit und Ohnmacht. Sie veranlassen dazu, gezielt nach Schutz zu suchen, wie dies auch Tiere in ihrer Furcht tun. „Bei Angst neigen wir Menschen dazu, uns Personen oder Ideologien anzuvertrauen, die Sicher heit bieten.“10 Es kommt darauf an zu durchschauen, dass Ängste uns dazu verführen, bereitwilliger anderen zu folgen. Dem kann Aufklärung entgegen gesetzt werden, Aufklärung darüber, wie Ängste funktionieren, um so eine kri tische Reflexion der ideologischen und politischen Angebote zu unterstützen. „Uns bleibt nur die Möglichkeit, immer wieder auf die Wirkungsweise der Angstbindung hinzuweisen und damit zu einer kritischeren Haltung gegen über all jenen zu erziehen, die sich als Führer aus der Not anbieten.“11 Es muss deshalb aufgezeigt werden, dass Ängste nicht einfach nur da sind, sondern sich manipulativ erzeugen lassen. So ist es ein altes Mittel der Machtausübung, Ängste gezielt zu schüren, um sich dann als Schutz- und Heilsbringer in Szene setzen zu können. Darauf werde ich in den beiden folgenden Teilen des Bu Eibl-Eibesfeldt 1991, S. 121. Eibl-Eibesfeldt 1991, S. 120–121. 11 Eibl-Eibesfeldt 1991, S. 121–122. 9
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ches ausführlicher zu sprechen kommen. Das Erzeugen von Ängsten und Angst ist stets auch als ein Herrschaftsinstrument eingesetzt worden, um Men schen zu kontrollieren und zu lenken. Doch das Wissen um solche Mechanis men kann ebenso umgekehrt eingesetzt werden, um Ängste gezielt zu dämp fen, sowohl dadurch, dass „ein soziales Klima des Vertrauens“12 geschaffen wird, als auch durch eigene, individuelle Auseinandersetzung mit sich selbst. Deshalb ist der Infantilisierungsaspekt, den Eibl-Eibesfeldt angesprochen hat, nur die eine Seite des Ganzen. Ängste können ebenso Anlass sein, um über sich selbst, die Welt, die Gesellschaft und die Mitmenschen nachzudenken. Gerade soziale Ängste tragen auch in einem positiven Sinn dazu bei, dass ein gemein schaftliches Leben möglich ist.
6.2 Institutionalisierung des Zusammenlebens Für die Regulierung des Gruppenlebens sozialer Tiere ist eine verlässliche Kommunikation zwischen den Gruppenmitgliedern erforderlich. Normaler weise „verstehen“ Tiere problemlos und eindeutig die auf das Sozialverhalten bezogenen Signale, die ihre Artgenossen aussenden. Wenn ein Hund knurrt, die Zähne zeigt und die Ohren anlegt, hat dies eine andere Signalwirkung, als wenn er mit dem Schwanz wedelt. Durch die instinktgeprägte Signalsprache regeln Tiere ihr Zusammenleben. Konrad Lorenz geht davon aus, dass dabei auch schon bei Tieren im Laufe der Entwicklung bestimmte Signale und Ver haltensweisen zu festen Ritualen geworden sind, die sich als Instinkte verfestigt haben. „Alle Verständigung unter Tieren und damit jegliche Organisation tie rischer Sozietäten baut sich auf Verhaltensweisen auf, die durch stammes geschichtliche Ritualisierung zu Verständigungsmitteln geworden sind.“13 Wichtig für die Funktion der Ritualisierung ist dabei, dass ein „Vorgang der Verselbständigung“ abläuft, wodurch der neu sich bildende Ritus „zu einem autonomen Antrieb des Verhaltens“ wird.14 Die entscheidende biologische Funktion dieser Ritenbildungen besteht darin, dass sie das Verhalten der Tiere steuern. Rituelle Verhaltensweisen beinhalten solche Aspekte wie Gebärden der Drohung oder Unterwerfung, das Werben zum Paaren, die Bereitschaft zum Teilen von Futter, ein bestimmtes Geschrei als „Begrüßungszeremonie“ beim Wiedersehen, oder sie unterstützen die Bewegungskoordinierungen bei Fisch- oder Vogelschwärmen.15 Die auf diese Weise erfolgende Verständigung in der Gruppe dient der sozialen Strukturierung und dem Zusammenhalt. Dafür müssen die Signale eindeutig und stabil sein, damit sie das Verhalten ver bindlich steuern können. Die Stabilität wird gewährleistet durch die genetisch-biologische Verankerung, die dazu führt, dass für die einzelnen Tiere die Reaktion auf bestimmte Reize jeweils auf die gleiche Weise erfolgt. Senden Eibl-Eibesfeldt 1991, S. 121. Lorenz 1990 [1966], S. 154. 14 Lorenz 1990 [1966], S. 159. 15 Lorenz 1990 [1966], S. 161. 12 13
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Tiere hingegen Signale aus, die ihre Artgenossen nicht zuordnen können, be deutet dies Verunsicherung und Furcht, das Sozialleben wird gestört. Beim Menschen wird mit der Entstehung einer immer komplexeren Kultur die vormals instinktive Verhaltensregulierung überlagert, wobei die biologischen Mechanismen nach und nach an Bedeutung verlieren und durch kulturell ge schaffene Rituale überbaut werden. Wie Konrad Lorenz darstellt, geht beim Menschen aus den biologisch verankerten instinktiven Verhaltensweisen im Zuge der Kulturalisation eine Fähigkeit hervor, über die keine andere Spezies verfügt, nämlich Normativität. Die kulturell entstandenen Regeln, Traditionen und Ver haltensweisen bilden nun ein neues, zusätzliches Verhaltensgerüst, das dazu bei trägt, dass die instinktive Verhaltenssteuerung nicht mehr notwendig ist, das Überleben der Menschheit als Gattung zu gewährleisten. Diese Normen, Regeln und Orientierungen bestimmen das Zusammenleben, indem sie bewährte Ver haltensweisen von Generation zu Generation über individuelles Lernen weiter geben. Traditionen, Gebräuche, Riten und Gewohnheiten haben ihre Funktion genau darin, dass sie sich über längere Zeiträume bewährt haben, dass sie ver traut und verinnerlicht sind und so Handlungsanleitung geben. Damit ver bunden ist eine innere Sicherheit, weil Menschen aufgrund der von Kindheit an gelernten Regeln wissen, wie sie sich verhalten sollen. Selbst kleine alltägliche Ri tuale sind normierte Abläufe, die sich bis in den privatesten Bereich hinein und auch nur für kürzere Zeiträume entwickeln können. So haben viele Familien Rituale, wie Eltern ihre Kinder zu Bett bringen, ob sie etwas vorlesen, ein Lied singen, noch mit dem Lieblingskuscheltier spielen oder eine Spieluhr aufziehen. Für die Kinder bedeuten diese geregelten Abläufe, dass sie sich geborgen fühlen und sie Vertrauen zu ihrer Umgebung aufbauen können. Religionen haben ihre festen Zeremonien, wie Festtage gefeiert werden, wie geheiratet wird oder sich die Aufnahme in die Religionsgemeinschaft vollzieht, wie Tote bestattet werden oder wie Menschen in ihrer Gemeinschaft beten. Politische Parteien und Vereine entwickeln ihre eigenen Gewohnheiten, die sowohl die inhaltliche Arbeit als auch die Umgangsformen untereinander betreffen und die zugleich der Ab grenzung von den anderen Gruppierungen dienen. Die Menschen wissen in den ihnen bekannten Strukturen, was von ihnen erwartet wird. Die so gebildeten Gewohnheiten und Vorschriften, welche die einzelnen Individuen, Gruppen oder größere Gemeinschaften in ihrem Verhalten anleiten oder sogar bestimmte Handlungen vorschreiben oder verbieten, formen das soziale Leben. Sie stiften geistig und sozial Ordnung und bieten den Menschen feste Regeln. Diese Re geln vereinfachen das Leben, wenn die Individuen diese Formen annehmen und damit sich selbst davon entlasten, in jedem Einzelfall immer wieder neu ent scheiden zu müssen. Sie vermitteln Sicherheit und reduzieren damit die sozialen Ängste davor, nicht dazuzugehören, allein zu sein, in der Not keine Hilfe zu er halten. Sie stabilisieren die Orientierung im Leben, was den Ängsten vor Un überschaubarkeit und Sinnverlust entgegenwirkt. Verändern sich die tradierten Normen jedoch zu schnell, haben die Menschen weniger Halt und Zusammen halt, es prägen sich soziale Ängste aus, weil das Sozialverhalten nicht mehr ein deutig angeleitet wird.
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Die Etablierung sozial verbindlicher Normen ist also ein wichtiges Instru ment der Angstbewältigung. Sie treten an die Stelle der biologischen In stinkte, um das Handeln der Menschen zu leiten. Tiere reagieren und agieren instinktiv, sie kennen keine bewussten Wertungen. Doch Menschen können frei entscheiden, so oder so zu handeln, dies oder jenes zu tun oder zu unter lassen. Sie fällen diese Entscheidungen auf der Grundlage von Gründen und Motiven. Sie sind in der Lage, ihre eigenen Zwecksetzungen und Hand lungen zu reflektieren und zu prüfen. Dies eröffnet den Raum der Ver antwortlichkeit. Verantwortung aber ist eine soziale Norm. Sie entspringt da raus, dass die Gemeinschaft von ihren Mitgliedern das Einhalten von Regeln erwartet und Verstöße bestraft. Alle Handlungen unterliegen damit immer auch einer Beurteilung durch andere. Und deren Urteil ist für die Gruppen mitglieder zum Teil überlebenswichtig. Wer den Normen nicht folgt, wird bestraft. Auch soziales Leben ist damit ein potenzieller Gefahrenkontext für die Einzelnen, der von entsprechenden, auf soziale Aspekte ausgerichteten Ängsten durchzogen ist: Ängste vor einer negativen Beurteilung durch die Mitmenschen im weitesten Sinne, Ängste um die eigene Stellung in der Ge meinschaft, Ängste vor Strafe und Ausgrenzung. Aus Gründen der Über lebenssicherung werden die sozialen Erwartungen verinnerlicht. Alles Han deln wird überzogen von der inneren Normkontrolle (beispielsweise durch solche Funktionen wie das Gewissen), die aber niemals endgültig sicher ist. Denn Gemeinschaften ändern sich, Herrschaftsweisen werden umgeformt, es finden politische Systemwechsel statt, Wissensinhalte werden neu formuliert. Was heute richtig war, kann morgen falsch sein. Wer heute Freund ist, kann morgen Feind sein. Normen sind zwar einerseits orientierend und be ruhigend, andererseits können sie selbst wieder Quelle von Ängsten sein. Denn es ist immer möglich, gegen sie zu verstoßen, ihnen nicht zu ent sprechen, den Anforderungen der Gemeinschaft nicht gerecht zu werden oder gar andere Lebensauffassungen als die Gemeinschaft zu haben und sich den Normen zu entziehen. Der Soziologe Arnold Gehlen hat sich ebenfalls mit der Bedeutung der Ab sicherung des menschlichen Lebens in sozialen Gemeinschaften durch die Etablierung von Ritualen, Gewohnheiten und Institutionen beschäftigt. Er entwickelt in seinem Werk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940) einige Grundbestimmungen, um die Spezifik des Menschen zu charakterisieren. In Anknüpfung an einige Theorieelemente der Verhaltens forschung betont er die Abkopplung des Menschen von der instinkt gebundenen Verhaltenssteuerung, wie sie bei Tieren vorhanden ist. Es man gelt dem Menschen an den angeborenen, biologischen Prägungen, die sein Verhalten eindeutig bestimmen könnten. Er ist deshalb ein Mängel-Wesen. Er ist nicht angepasst an bestimmte Umweltbedingungen und nicht spezialisiert auf konkrete Verhaltensweisen. Er hat kein Fell, keine besonders leistungs fähigen Sinnesorgane, keine Angriffs- und Verteidigungsausstattung wie Reiß zähne, Hörner oder Geweih, und er kann auch nicht besonders schnell flie hen. So kennzeichnet G ehlen den Menschen als das „gefährdete“ oder
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„riskierte“ Wesen, „mit einer konstitutionellen Chance, zu verunglücken“.16 Und diese permanente Gefährdung wird für den Menschen gesteigert da durch, dass er dies weiß. Aus diesem Wissen rühren alle Ängste. Sie sind das Bewusstsein der eigenen Gefährdungsmöglichkeit, der risikovollen Un gesichertheit des eigenen Lebens. Gehlen erörtert nun, wie Menschen in ihrem Zusammenleben mit dieser unsicheren Lebensverfassung umgehen. Wie er nachzeichnet, hat der Mensch dank seiner rationalen, geistigen Fähigkeiten die nicht mehr tragende natür liche Ausstattung mit Instinkten durch „künstliche“ Mittel abgelöst, die nun das Leben stützen. Sie konstituieren die Kultur im weitesten Sinn: „die Kultur welt ist die menschliche Welt“.17 Menschen kompensieren die Riskiertheit dabei vor allem dadurch, dass sie soziale Strukturen, Normen und Institutio nen schaffen, die das Zusammenleben organisieren und soziale Verbindlich keiten herstellen. Jede Gruppe wird zusammengehalten von gemeinsamen In teressen und Vorstellungen. Nur wenn Gruppen oder auch größere Gemein schaften bestimmte Regeln, Gepflogenheiten, Verhaltensmuster und Rituale ausbilden, können sie als Gemeinschaft existieren. Durch diese institutionali sierten Strukturen wird der Außenbereich des Menschen, also sein Leben mit anderen, stabil gehalten. Diese äußere Stabilisierung ersetzt das, was Menschen biologisch gesehen in ihrem Inneren, in ihrer Instinktausstattung, nicht mehr mitbringen. Gehlen nennt diese institutionellen Einrichtungen und Strukturen „Außengaranten“.18 In den Institutionen werden verschiedene Grundbedürfnisse der Menschen erfüllt: nach Kooperation, nach sozialem Zusammenhalt, nach religiöser Orien tierung, nach Schutz und vieles mehr. Menschen organisieren dement sprechend ihr eigenes Leben in der Regel innerhalb der sozial-kulturell vor herrschenden Normbereiche. Auch Familien bilden so etwas wie Gewohn heiten und Rituale aus, wie die Mahlzeiten eingenommen werden, wie die Abende, Wochenenden und Urlaube ablaufen. Diese Gewohnheiten und Familientraditionen strukturieren das Verhalten der Familienmitglieder und entlasten sie davon, jeden Tag dies alles neu entscheiden zu müssen. Alle sozia len Gruppen, die längere Zeit bestehen, entwickeln so etwas wie ihre eigenen Traditionen und Rituale, z. B. auf welche Weise sich Freunde begrüßen, wie im Arbeitskollektiv Geburtstage gestaltet werden oder wie das Vereinstreffen abläuft. Zu den kulturellen Normierungen gehören auch allgemeinen Grundideen zur Welterklärung wie in Religionen. So bieten die Vorstellungen von Göttern dadurch das Gefühl der Sicherheit, dass sie als große Mächte angesehen wer den, die über das Leben wachen und die man durch Opfergaben um Schutz oder Jagderfolg bitten kann. Wenn alle darauf angewiesen sind, dass der Fluss als Nahrungsgrundlage immer ausreichend Fisch mit sich führt, dann sind die Gehlen 1986 [1940], S. 32. Gehlen 1986 [1940], S. 38. 18 Gehlen 1986 [1940], S. 50. 16 17
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gemeinsamen, regelmäßigen, über Generationen weitergegebenen Tänze er klärbar, mit denen der Gott des Flusses um Fisch gebeten wird. Ja, es lässt sich gar nicht vorstellen, dass man auf diese Tänze verzichten könnte. Denn bisher hat es immer gut funktioniert, der Flussgott hat ausreichend Fisch beschert. Aus den gemeinsamen Erwartungen, aus den wechselseitigen Verbindlich keiten entstehen Normen und feste soziale Strukturen, die bei langer Aus übung zum Teil von den Menschen gar nicht mehr als künstlich geschaffen wahrgenommen, sondern für selbstverständlich gehalten werden. Diese tra dierten Regeln werden über Generationen weitergegeben und als Hintergrund des Verhaltens als normal empfunden, die Menschen sind sich zum Teil gar nicht dessen bewusst, dass ihr Zusammenleben von solchen Regeln zusammen gehalten und stabilisiert wird. Diese Stabilisatoren, die dauerhaften Institutio nen und Normen, bieten Konstanz, Halt und Orientierung und damit auch ein Gefühl von Sicherheit. Ohne solche Institutionen ist das menschliche Leben dauerhaft nicht möglich. So schreibt Gehlen: „Alles gesellschaftliche Handeln wird nur durch Institutionen hindurch effektiv, auf Dauer gestellt, normierbar, quasi-automatisch und voraussehbar.“19 In einer stabilen Gemeinschaft zu leben, bietet für die einzelnen Individuen die beste Gewährleistung der Lebensgrundlagen. Eine Gemeinschaft als Gesamtheit ist dadurch stabil, dass sie sich auf dauerhafte und verlässliche In stitutionen gründet, dass alle Gemeinschaftsmitglieder den Regeln und Nor men folgen, dass sie alle ähnliche Grundauffassungen vom Zusammenleben haben. Wer in einer Gemeinschaft leben will, muss sich in die Strukturen ein fügen. Regeln geben dabei nicht nur an, wie man sich verhalten soll, sondern haben auch die Funktion des Verbots. In jeder Gemeinschaft finden sich Tabus, werden bestimmte Verhaltensweisen als ungehörig, falsch, schlecht, unziem lich, böse, kriminell usw. angesehen. So gibt es in jeder Gemeinschaft auch die Institution der Strafe, die milde oder hart ausfallen kann, je nachdem, wie schä digend für die anderen ein Regelverstoß ist oder empfunden wird. Regeln und Institutionen verkörpern die verbindlichen Anforderungen, die die Gemein schaft an die Einzelnen stellt. Je höher Gemeinschaften entwickelt sind, je komplexere Gesellschaften aus ihnen entstehen, je größeren Organisationsaufwand das Zusammenleben er fordert, umso dichter ist auch das institutionelle Netz mit seiner normierenden Gewalt. Wir haben Verkehrsordnungen, Schulen und Universitäten, Gerichte, Vereine, Parteien, Wirtschaftsunternehmen und Läden zum Einkaufen, wir sind gewohnt, dass es Banken, Post und Apotheken, staatlichen Straßenbau und Müllabfuhr gibt. So sind wir in hoch entwickelten Gesellschaften vielfach eingebunden in Familie, Berufsleben, Freizeiteinrichtungen, weltanschauliche Gemeinschaften, Organisationen und Freundeskreise. Sie bilden gegenüber dem Individuum etwas Vorhandenes, Etabliertes, etwas, das eine bestimmte Geltung und Macht hat, an dem man sich selbst orientieren kann. Man muss sich nicht jede einzelne Entscheidung, jede Beurteilung, jeden Lebensschritt Gehlen 1986 [1956], S. 42.
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selbst ausdenken, sondern kann sich an entsprechende gesellschaftliche Vor gaben anschließen. Institutionen bringen damit einen zweifachen Nutzen. Sie stabilisieren einerseits das Verhalten in der Gemeinschaft. Andererseits werden die Regeln aber auch verinnerlicht und gewährleisten so auch eine innere psy chische Stabilität des einzelnen Individuums. Die Außenstabilität bewirkt also zugleich eine Innenstabilität. Denn die sozial-kulturellen Gegebenheiten geben den Rahmen und Horizont vor, worin die individuelle Herausbildung von Ideen, Motiven, Vorstellungen geschieht. Je besser das Gemeinschafts leben durchorganisiert ist, umso weniger Energie müssen die einzelne Men schen aufwenden, um sich selbst ihre eigenen Motive und Handlungsziele zu geben. Dies ist die Grundverfassung vor allem traditioneller, relativ homogener und nach außen hin geschlossener Gemeinschaften. Soziale Ängste nun sind direkt auf die Vorgaben durch gesellschaftliche In stitutionen und Strukturen bezogen. Sie können zum einen entstehen, wenn diese Strukturen zu eng sind, Menschen in ihrem Leben beschränken oder gar bedrohen. Oder sie können umgekehrt aufbrechen, wenn die Institutionen er schüttert werden und so ihre haltgebende Funktion verlieren. Ist nämlich die stabile „Garantiesituation“ gefährdet, bringt dies den Menschen „auf höchste Alarmstufe“.20 Für Gehlen betrifft dies insbesondere die Erschütterung der sta bilisierenden Funktion von Institutionen, wie dies durch Revolutionen, Kriege oder sonstige Umwälzungen geschehen kann, aber auch durch die schnellen Veränderungen in modernen Gesellschaften. Moderne Zivilisation wird kom plizierter, offener, dynamischer und legt weniger Wert auf Traditionen, sodass sie „den Einzelnen mit Entscheidungszumutungen überfordert. Mit dieser Er schütterung beginnt die Verunsicherung des Einzelnen, die angstvolle Affekt bereitschaft, das ganz automatisch entstehende Mißtrauen“.21 Gehlen zufolge führt die Auflösung von gesellschaftlichem Zusammenhalt zu hochgradiger Destabilisierung und Desorientierung, die sich auch auf Wertvorstellungen, Moral und Rechtsempfinden auswirken. Die Menschen haben keinen festen Halt mehr, sie müssen improvisieren, sich ins Ungewisse vortasten oder suchen sich beliebige, kaum durchschaute Ideologien, an die sie sich klammern kön nen. Der Verlust der äußeren Stabilität bedeutet Gehlen zufolge dann immer auch eine innere, psychische Verunsicherung, die sich auch in den Ängsten ma nifestiert. Er verweist diesbezüglich auf die Erfahrungen mit zwei Weltkriegen und mit Revolutionen, aber er spricht auch die Umwälzungen durch die In dustrialisierung und ständige Fortschrittsorientierung an. Wenn Gesellschaften erschüttert werden, wird deutlich, wie zerbrechlich alle menschlichen Ein richtungen sind und wie hilflos Menschen werden können. Gehlen charakterisiert den Menschen, das Gattungswesen Homo sapiens, wegen seiner instinktreduzierten Verhaltensausstattung als riskiert und un stabil. Das damit verbundene Grundgefühl der Verunsicherung lässt sich durchaus als eine menschliche Disposition zur Angst überhaupt verstehen. Der Gehlen 1986 [1956], S. 51. Gehlen 1986 [1956], S. 54.
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Mensch kann sich demzufolge nur dadurch entlasten und schützen, dass er sich kulturelle und institutionelle Strukturen schafft, die ihn auf eine gewisse Weise einbetten, ihm Schutz gewähren, ihm Normierungen vorgeben und so sein Leben anleiten. Werden diese Stützen wacklig oder brechen einige von ihnen ganz weg, keimen die Ängste, die Angst, die Sorge hervor. Vertraute Situatio nen und Verhaltensweisen geben Sicherheit, geschieht etwas Ungewohntes, sind Menschen verunsichert und ängstlich. Denken Sie dabei aber über diese gesamte Situation auf grundlegendere Weise nach, verstehen sie die eigene Riskiertheit im Spiegel der geistigen Angst. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat sich seinerseits auch mit Gehlens Theorie intensiv beschäftigt und sich immer wieder auf sie bezogen, vor allem auf den Aspekt der Riskiertheit des Menschen. Lorenz verweist darauf, dass die Kehrseite jeder neuen Freiheitsstufe der Menschheitsentwicklung immer auch eine Vergrößerung des Gefühls von Gefährdung, Risiko und Unsicherheit mit sich bringt. „Jede neue Plastizität des Verhaltens mußte um einen Verzicht auf gewisse Sicherheitsgrade erkauft werden.“22 Dies führte dann vor allem bei schnellen sozialen Veränderungen dazu, dass die orientierende und haltende Funktion der traditionellen Werte und Lebenseinstellungen ihre Geltungskraft verlieren und die stabilisierenden Institutionen keine Bindungskraft mehr ent falten können. Diese Entwicklungen sind dann die Ursache für die besonders starke Ausprägung von Angst als einem Kennzeichen der Moderne, allerdings für Lorenz nur in einem negativen Sinn. „Angst in jeglicher Form ist ganz sicher der wesentlichste Faktor, der die Gesundheit moderner Menschen unter gräbt“.23 Er sieht eine Zivilisationspathologie entstehen, weil die biologischen Dispositionen und historisch herausgebildeten sozial-kulturellen Strukturen, die bisher sinnvoll das Leben der Menschen geleitet hätten, nun zu Fehl leistungen führen würden. Hierzu zählt Lorenz zum Beispiel Überbevölkerung, Verwüstung des Lebensraums und Wettlauf mit sich selbst, wie er es in Büchern wie Der Abbau des Menschlichen oder Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit angesprochen hat. Sicher ist diese Sichtweise zugespitzt und viel leicht auch zu einseitig. Doch das Nachdenken über die eigenen Lebens kontexte, das Hinweisen auf Fehlentwicklungen, die Sorge um die Zukunft ge hören zu den Aufgaben, vor denen wir alle stehen. Solche Moderne-Diagnosen werden immer auch zu einem Anknüpfungspunkt für die Frage nach den Ängs ten der Menschen. Dies belegen auch verschiedene soziologische Theorien.
6.3 Einige soziologische Perspektiven auf die Problematik der sozialen Ängste Die Soziologie beschäftigt sich mit der Erforschung des menschlichen Zu sammenlebens, der dabei sich ausprägenden gesellschaftlichen Strukturen und ihrer Funktionsweisen sowie ihrer Auswirkungen auf das Leben der einzelnen Lorenz 1992 [1965], S. 185. Lorenz 1973, S. 35.
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Menschen. Umgekehrt ist dabei zu fragen, wie sich Gemeinschaften durch das Zusammenleben vieler einzelner Individuen konstituieren. Bezogen auf das Angstphänomen hat der Frage- und Erklärungshorizont der Soziologie als em pirischer Wissenschaft vor allem den Bereich der sozialen Ängste zum Gegen stand, die daraus entstehen, dass Menschen in Gemeinschaften zusammen leben, für sie also die Mitmenschen immer einen wesentlichen Faktor im eigenen Leben darstellen. Soziologisch gesehen eröffnen sich verschiedenste Fragen komplexe, wenn darüber nachgedacht wird, unter welchen sozialen Be dingungen Ängste entstehen und befördert oder vermindert werden können, was Ängste überhaupt mit dem Zusammenleben von Menschen zu tun haben, welche Bedeutung sie für Individuen, Gruppen und ganze Gesellschaften be sitzen und wie mit ihnen umgegangen wird. So wäre soziologisch zu erkunden, wie sich in den Ängsten der Menschen jeweils die Bedingungen ihres ge sellschaftlichen Lebens niederschlagen. Was sagen die Arten von Ängsten über die Verfasstheit einer Gesellschaft aus? Man könnte sogar noch weitergehen und fragen, ob nicht gemeinsame Ängste auch eine Art sozialen Zusammen halt schaffen können. Auch ist es durchaus interessant zu erforschen, wie Ängste sozial verteilt sind: Sind jüngere oder ältere Menschen anfälliger für Ängste? Hängt die Ängste-Bereitschaft von sozialem Status, Einkommen und der Möglichkeit solider materieller Lebensabsicherung ab? Sind Frauen im Durchschnitt ängstlicher als Männer? Wie stark prägen Religionen und kultu relle Sozialisation die Ausprägung von Ängsten? Schlagen Menschen mit einer höheren Ängstlichkeit andere Berufswege ein als diejenigen, die eher forsch und abenteuerlustig sind? Inwiefern sind Ängste überhaupt „sozial“ verursacht, also nicht nur abhängig von der individuellen Veranlagung, sondern gelenkt und befördert durch das soziale Umfeld, das gesellschaftliche Klima? Denn jede Gesellschaft übt einen gewissen Anpassungsdruck auf ihre Mitglieder aus. Menschen haben deshalb immer Ängste, den sozialen Normierungen eventuell nicht zu entsprechen und dafür abgestraft zu werden. Oder sie haben Ängste, weil sie sich in modernen Gesellschaften überfordert fühlen. Neben den zahlreichen konkreten empirischen Fragestellungen hat die Soziologie auch allgemein-theoretische Forschungsanteile, in denen die grund sätzlichere Bedeutung geistiger Angst mit bedacht wird. Max Dehne hat in sei nem Buch Soziologie der Angst (2017) eine ganze Reihe von Aspekten zu sammengetragen, die in gegenwärtigen soziologischen Theorien behandelt werden und die alle Anlass für Ängste sein können und sich in ihrer Summie rung zugleich in ihrem Ängstigungspotenzial verstärken. Zunächst wäre an Themen zu denken wie Entwicklung der modernen Technik und Techno logien, Klimawandel, Terrorismus, Epidemien, Kriege, Globalisierung, Ent machtung nationaler Politik, Finanz- und Wirtschaftskrisen, Kriminalität, Terrorismus usw. Aber auch die Schnelligkeit der Veränderungen der Lebens bedingungen trägt dazu bei, dass die Entwicklungen kaum zu überschauen sind. Dazu kommt, dass auch Verantwortlichkeiten nicht mehr klar bestimmt werden können, wenn es um globale Risiken geht, die eine konkrete B emessung
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und Folgenabschätzung übersteigen und die nationalen politischen Institutio nen zugleich überfordern. Damit stellt auch die individuelle Standortbestimmung eine beachtliche Herausforderung dar. Individualisierungsprozesse sind begleitet von der Auf lösung sozialer Wertmuster, wie sie sich in festen Familienstrukturen, Zuge hörigkeiten zu Religionen oder weltanschaulichen Gruppierungen oder der langjährigen Ausübung derselben Berufstätigkeit niederschlagen. Wenn diese Bindungen nicht mehr so stark sind, müssen die einzelnen Individuen viel grö ßere Entscheidungslasten tragen, denen sie sich oft nicht gewachsen fühlen. Hinzu kommen die vielen Nachrichten aus allen Bereichen des Lebens und allen Teilen der Welt, die täglich auf die Menschen einprasseln und die man als Einzelner nicht mehr angemessen bewerten und einordnen kann. Große Frei heitsspielräume, Unübersichtlichkeit des Wissens, immer wieder Veränderungen im gesellschaftlichen Leben, verbunden mit weniger sozialem Halt, strapazie ren die Orientierungskapazität vieler Menschen. Sie fühlen sich alleingelassen, ausgeliefert, entwurzelt, desorientiert und überfordert. Ihr eigener Platz in der Gesellschaft ist nicht klar bestimmt. Kommen dann noch negative Verstärker wie Krisen, Krankheiten oder einfach persönliche Miseren dazu, entstehen Minderwertigkeitsgefühle, Ängste und Depressionen. Dehne sieht deshalb in der Angst die „sozial bedingte Grundbefindlichkeit der Gegenwart“.24 Angst scheint mit modernen Lebenskontexten besonders verbunden zu sein, wie im Abschn. 4.4 zum Angstbewusstsein in der Moderne bereits etwas an gedeutet wurde. Alle Aspekte des sozialen Lebens können Inhalte von Ängsten sein. Hier soll nun nicht der Facettenreichtum sozialer Ängste im Einzelnen verfolgt werden. Vielmehr möchte ich anhand einiger exemplarischer Theorien aufzeigen, mit welchen Problemstellungen und Theorieansätzen sich die Soziologie dem Thema Ängste widmet, wie sie die sozialen Bedingungen für die Ausformung von Ängsten bewertet, welchen Stellenwert dabei den sozialen Ängsten zu gesprochen wird und inwiefern eventuell auch Ansätze angeboten werden, um gefühlte Ängste und geistige Angst zu unterscheiden. Dabei lässt sich zunächst konstatieren, dass auch in der Soziologie kein einheitlicher Begriffsgebrauch im Wortfeld Furcht – Ängste – Angst entstanden ist. Dies mag unter anderem daran liegen, dass sich keine systematische Verortung des Angstthemas in der Soziologie entwickelt hat. Das heißt nicht, dass nicht Einzelaspekte genauer untersucht wurden oder Bücher und Aufsätze mit dem Thema befasst sind, gang im Gegenteil. Die meisten soziologischen Theorien, die sich mit der Angstthematik beschäftigen, gehen davon aus, dass die heutigen modernen Lebenskontexte die Ängste verstärkt haben. Wie Dehne konstatiert, ist Angst „zum gegenwartsdiagnostischen Kernbegriff avanciert“. Aber er stellt auch fest, dass es bisher in der Soziologie keine umfassende theoretische und empirische Dehne 2017, S. 87.
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Bearbeitung des Gegenstandes Angst gibt. Überhaupt fehlt es seiner Meinung nach an einer klaren begrifflichen Bestimmung, was mit Angst überhaupt ge meint ist.25 Er arbeitet in Anlehnung an Kierkegaard mit der begrifflichen Unterscheidung zwischen Furcht und Angst. Unter Furcht soll eine konkrete Objekt-Angst verstanden werden, also die Furcht vor etwas, das als Furchtaus löser identifizierbar ist. Hierzu könnte man dann auch die konkreten Ob jekt-Ängste zählen. Angst hingegen ist unspezifisch und inhaltlich unbestimmt, Dehne nennt sie deshalb „Kontingenzangst“. Diese Kontingenzangst entsteht dann, wenn für Menschen die Beziehung zur Welt unklar wird, wenn ein Orientierungsverlust stattfindet und die konkrete Lebenslage für ein Indivi duum oder eine Gemeinschaft nicht mehr überschaut werden kann. Kontingenz angst resultiert aus Ungewissheit und dem latenten Gefühl des Nicht-Wissens, des Sich-nicht-Zurechtfindens, aus dem „Verlust epistemischer Kontrolle“.26 Sie ist begleitet von einem Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit, das vor allem das moderne Lebensgefühl prägt. Einen etwas anderen Ansatz verfolgt der Soziologe Ulrich Beck. Er charak terisiert in seinem gleichnamigen, populär gewordenen Buch von 1986 die moderne Gesellschaft als „Risikogesellschaft“. Er möchte zeigen, dass die mo dernen Industriegesellschaften, die sich enorm schnell verändern, die global agieren, die einen großen Ressourcenverbrauch haben und gefährliche Umwelt verschmutzung bewirken, in denen die Individualisierungsprozesse die einzel nen Menschen stark verunsichern, dass diese Gesellschaften unberechenbar ge worden sind. Was entschieden und getan wird, ist jeweils hoch riskant, weil die Folgen nicht überschaut werden können. Beck zufolge entwickelt sich deshalb die moderne Gesellschaft zu einer Risikogesellschaft, die Sicherheit sucht, aber nicht finden kann.27 Eine solche Risikogesellschaft hat deshalb auch eine be sondere Affinität zur Angst. In dem Kapitel „Von der Solidarität der Not zur Solidarität aus Angst?“ beschreibt Beck, dass es heute (in den wohlhabenden Gesellschaften) nicht mehr darum geht, sein Überleben zu sichern, sondern seine Orientierungslosigkeit zu mildern. An die Stelle von „Ich habe Hunger!“ tritt: „Ich habe Angst!“28 Damit verändern sich die gesamten Wertestrukturen einer Gesellschaft. Man tut die Dinge nicht, weil man sie für richtig und an gemessen hält, sondern weil man Angst hat, weil man die Dinge nicht über schaut, so Beck. Denn die Moderne mit ihren vielfältigen, global dimensionier ten Gefährdungen vereint alle Menschen in einem „Gefährdungsschicksal“,29 das seinen Ausdruck in der Angst der Menschen findet. Die entscheidende Frage ist nun, wie diese Angst zu deuten ist und welche Funktion ihr zu gesprochen werden kann.
Dehne 2017, S. 13. Dehne 2017, S. 36. 27 Beck 1986, S. 65. 28 Beck 1986, S. 66. 29 Beck 1986, S. 8. 25 26
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Beck zufolge lässt sich die Moderne in zwei Phasen unterteilen. In der ers ten Phase der Modernisierung setzte sich vor allem die Industrialisierung durch, begleitet von Not und Verelendung vor allem der unteren Gesellschafts schichten. Die zweite Phase der Modernisierung hingegen bringt die Risiko gesellschaft hervor aufgrund der Bedrohung der Lebensgrundlagen überhaupt, und diese Gesamtgefährdung wird reflektiert in der sich ausprägenden, alle Menschen erreichenden Angst. Gerade dadurch, dass die neuen Risiken alle betreffen, sich um den ganzen Globus ziehen und die Bedrohungsangst alle Gesellschaftsschichten erfasst, erhält sie eine besondere soziale Funktion als eine verbindende Macht. Da nun alle die Angst teilen, könnte gerade daraus eine neue Verbindlichkeit und Solidarität entstehen. „Der Typus der Risiko gesellschaft markiert in diesem Sinne eine gesellschaftliche Epoche, in der die Solidarität aus Angst entsteht und zu einer politischen Kraft wird. Noch ist aber völlig unklar, wie die Bindekraft der Angst wirkt.“30 Es ist also fraglich, inwieweit die Angst tatsächlich gemeinsame Handlungen tragen kann. Wie aber lässt sich vorstellen, dass eine solche allgemeine Angst als soziales Bindeglied fungieren könnte? Und wie stark wäre eine solche Bindungskraft der Angst? Wie verlässlich wäre sie für den sozialen Kontext einer Gemein schaft? Beck stellt einige Fragen, die die Problematik markieren: „Wie weit sind Angst-Gemeinsamkeiten belastbar? Welche Motivationen und Handlungs energien setzen sie frei? Wie verhält sich diese neue Solidargemeinde der Ängst lichen? Sprengt die soziale Kraft der Angst tatsächlich das individuelle Nutzen kalkül? Wie kompromißfähig sind angsterzeugende Gefährdungsgemeinsam keiten? In welchen Handlungsformen organisieren sie sich? Treibt die Angst die Menschen in Irrationalismus, Extremismus und Fanatismus? Angst war bis her keine Grundlage rationalen Handelns. Gilt auch diese Annahme nicht mehr? Ist Angst vielleicht – anders als materielle Not – ein sehr schwankender Grund für politische Bewegungen? Kann die Gemeinsamkeit der Angst viel leicht schon durch die dünne Zugluft von Gegeninformationen auseinander geblasen werden?“31 Die Fragen, die Beck hier aufwirft, schlagen einen weiten Bogen und deuten damit einen Begriff von Angst an, der weit über die normalen Alltagsängste hinausreicht. Er hat etwas zu tun mit der Nicht-Gewissheit moderner Lebens formen, dem Nicht-Festgelegtsein des Menschen, der Nicht-Bestimmbarkeit der Zukunft. Gerade dieses nicht tritt für Beck in den Vordergrund der moder nen Risiken. Während Lebensbedingungen wie Elend, Hunger, Krankheit, Obdachlosigkeit direkt und unmittelbar gegeben sind, lassen sich die all gemeineren Gefährdungen wie beispielsweise durch die Umweltzerstörung oft nicht greifen. „Der Unmittelbarkeit persönlich und sozial erlebten Elends steht heute die Ungreifbarkeit von Zivilisationsgefährdungen gegenüber, die erst im verwissenschaftlichen Wissen bewußt werden und nicht direkt auf Primär
Beck 1986, S. 66. Beck 1986, S. 66.
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erfahrungen zu beziehen sind.“32 Insofern ist das Risikobewusstsein ein all gemeines, wissenschaftlich vermitteltes, reflektiertes Wissen, dem eher die geis tige Angst korrespondiert. Sie bezieht sich auf die allgemeinen Menschheits risiken, während die konkreten Ängste und Befürchtungen die Möglichkeiten konkreten sozialen Elends zum Gegenstand haben. Das Charakteristische dieser großen Menschheitsrisiken besteht darin, dass die Gefährdungsdimensionen und auch die Möglichkeiten der Gefahren abwehr nicht klar bestimmbar sind. Gerade diese Ungesichertheit lässt sich aber nicht vermeiden. Deshalb muss das Leben in der Risikogesellschaft er lernt werden. Beck hält die Fähigkeit für entscheidend, „Gefahren zu anti zipieren, zu ertragen, mit ihnen biographisch und politisch umzugehen“.33 Die besondere Herausforderung besteht dabei darin, dass die einzelnen Individuen mit ihren Ängsten in der Risikogesellschaft nicht mehr ausreichend durch die bisherigen sozialen Strukturen und Mechanismen in Familie und Gesellschaft aufgefangen werden. „Die überlieferten Formen der Angst- und Unsicher heitsbewältigung in sozial-moralischen Milieus, Familien, Ehe, Männer- und Frauenrolle versagen. In demselben Maße wird deren Bewältigung den Indi viduen abverlangt. Aus den damit verbundenen sozialen und kulturellen Er schütterungen und Verunsicherungen werden über kurz oder lang neue An forderungen an die gesellschaftlichen Institutionen in Ausbildung, Beratung, Therapie und Politik entstehen.“34 Es ist also erforderlich, neue Formen des Umgangs mit den eigenen Ängsten zu lernen. Die Menschen müssen die „Selbstverarbeitung von Unsicherheit“ einüben; diese Fähigkeit muss zu einer „zivilisatorischen Schlüsselqualifikation“ werden.35 Hierbei dürfen die Men schen, vor allem die Heranwachsenden, nicht allein gelassen werden, sondern es bedarf entsprechender Hilfestellungen durch Bildungsinstitutionen, soziale Einrichtungen und politische Rahmungen. Beck hat mit seinem Topos der Risikogesellschaft die modernen Gesell schaften charakterisiert als geprägt von Ungewissheit und permanenten Risi ken, die die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung durchziehen. Auf diese Risiken reagieren die Menschen mit Ängsten als dem Bewusstsein, der Risikobewältigung nicht ausreichend gewachsen zu sein. Beck hat in Erwägung gezogen, der Angst selbst eine soziale Kraft zuzuschreiben, die Menschen ver bindet und Gesellschaften zusammenhält, doch bleibt er selbst dieser Idee gegenüber auch skeptisch. Die Überlegungen Becks ließen sich jedoch durch die Unterscheidung zwischen den gefühlten Ängsten und der geistigen Angst vertiefen. Die Einzelängste der Menschen können ganze Gesellschaften be herrschen, aber sie sind damit kein stabiles verbindendes Element, weil die Ängste als Gefühle individuelle Färbungen tragen und als Gefühle nicht un mittelbar steuerbar sind. Die Einzelängste der Menschen könnten bestenfalls Beck 1986, S. 68. Beck 1986, S. 101. 34 Beck 1986, S. 251–252. 35 Beck 1986, S. 102. 32 33
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vorübergehende Bündnisse der Ängstlichen zu bestimmten Einzelproblemen bewirken. Die geistige Angst allerdings resultiert aus der bewussten Aus einandersetzung mit den modernen Risikolagen. Sie ist im Kontext der Risikogesellschaft die Angst davor, Risiken einzugehen, die unüberschaubar sind. In diesem Sinne könnte sie durchaus auch als politische Antriebskraft wirken, um sich den heutigen Problemen zu stellen. Diese Probleme resultie ren in ihrer Tragweite aus der Spezifik moderner Gesellschaften und Lebens kontexte mit ihrer Schnelllebigkeit, Offenheit und Ungewissheit. Um diesen Bedingungen gewachsen zu sein, ist es erforderlich, dass Menschen institutio nell, gesellschaftlich und politisch den angemessenen, geistigen Umgang mit dem Risiko und den eigenen Risiko-Ängsten lernen, was für Beck zu einem wichtigen Moment der modernen Risikobewältigung wird. Der Soziologe Niklas Luhmann setzt sich in seinem Buch Ökologische Kom munikation (1986) mit der Ökologie-Bewegung, ihren Sichtweisen und Argu menten auseinander. Dabei geht es auch um die Frage, wie die heutigen Gesell schaften speziell auf die Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen reagieren und welche Rolle dabei die Ängste der Menschen spielen.36 Luh mann geht davon aus, dass es in modernen, vielschichtigen und funktional weit ausdifferenzierten Gesellschaften schwierig geworden ist, stabile normative Einordnungen und Festlegungen vorzunehmen, die für alle gesellschaftlichen Bereiche Geltungskraft besitzen. Denn solche Festlegungen erfordern, dass es allgemein anerkannte Normen gibt, auf die sich dann die Einzelnen beziehen können, entweder im Sinne von Bestätigung oder auch von Ablehnung. Tradi tionelle Gesellschaften ordnen sich um normative Zentren, die als feststehend angesehen werden, Gott, der Monarch, die Stände, die Republik. Die Indivi duen werden daran gemessen, ob sie den herrschenden Normen folgen. So ziale Ängste haben dann immer etwas mit dem Verstoß gegen diese Normen zu tun. In Gemeinschaften, die zum Beispiel von einer bestimmten Religion geprägt sind, bindet und organisiert diese Religion das Denken und Handeln der Menschen. Der Verstoß gegen die religiösen Normen und Regeln wird nicht toleriert und ist dementsprechend von sozialen Ängsten flankiert. Die modernen Gesellschaften hingegen werden nicht mehr durch ein stabi les Fundament zusammengehalten, es gibt in ihnen keinen übergreifenden Konsens, sondern sie setzen sich Luhmanns Theorie zufolge zusammen aus funktionalen Teilbereichen wie Ökonomie, Politik, Recht, Kunst, Religion, Wissenschaft, Bildung, die jeweils ihren eigenen Prinzipien folgen. Der Gesell schaft insgesamt fehlt damit eine allgemein orientierende „normative Sinn gebung“,37 die nur auf einem Konsens der Gesellschaftsmitglieder begründet sein kann, den es aber nicht gibt. Die Ängste der Menschen erwachsen nun genau daraus, dass eine gemeinsame normierende Grundlage der Gesellschaft nicht mehr allgemein anerkannt wird. Das Gefühl der Unsicherheit wird zu einer tragenden Komponente der modernen Gesellschaft. Deshalb hat sich für Luhmann 1986, insbes. Kapitel XIX: „Angst, Moral und Theorie“. Luhmann 1986, S. 237.
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Luhmann vor allem die soziale Funktion der Ängste geändert. Sie sind inhalt lich nicht mehr bezogen auf den möglichen Verstoß gegen die Grundnormen der Gesellschaft, sondern auf den Verlust von Orientierung und Halt in moder nen Lebenskontexten. Ängste sind die Grundgefühle, die die Funktionsweisen moderner Gesellschaften zum Ausdruck bringen. Sie rücken als Reflexions form der Gesellschaft selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dadurch gewin nen sie bei allem Verstörenden und Ängstigenden zugleich auch etwas Kons tantes und Verbindliches. Denn bei aller Ungewissheit darüber, wie die Dinge sich entwickeln werden, ist eines unbezweifelbar, nämlich das Vorhandensein dieser Ängste. Gerade ihre ständige Präsenz gibt ihnen ihren besonderen Sta tus, etwas Prinzipielles zu sein, das für sich selbst steht, und nicht mehr Einzel ängste betrifft, sondern eine allgemeine Angst. „Angst ist, da sie die Ungewiß heit der Sachlage in die Gewißheit der Angst transformiert, ein selbstsicheres Prinzip, das keines theoretischen Fundaments bedarf.“38 Dass es sie gibt, stabi lisiert und verbindet die Menschen, und zwar nicht auf der Ebene der Normen oder der Vernunft, sondern der Gefühle und Stimmungen. Weil Angst auf diese Weise für die moderne Gesellschaft als Grundstimmung konstitutiv ge worden ist, kann sie weder umgelenkt noch ganz beseitigt werden, ist sie auch durch die Vernunft kaum zu erreichen. „Angst widersteht jeder Kritik der rei nen Vernunft. Sie ist das moderne Apriori – nicht empirisch, sondern transzen dental. Sie ist das Prinzip, das nicht versagt, wenn alle Prinzipien versagen.“39 Diese Formulierung ist philosophisch überhöht, aber kann vielleicht so gelesen werden, dass sie die große Tragweite des Faktors Angst in modernen Gesell schaften in den Vordergrund stellt. Die Universalisierung der Ängste zur Angst als Grundstimmung moderner Lebensweisen entspricht der funktionalen Verfassung moderner Gesellschaften als veränderlich, inhomogen und ohne normativem Zentrum. Der überall prä senten Angst können die einzelnen Funktionssysteme der Gesellschaft nicht gerecht werden. „Angst ist also von den Funktionssystemen aus nicht zu kon trollieren.“40 Sie ist gesellschaftlich gesehen gar nicht zu kontrollieren und wu chert in den individuellen Ängsten und Sorgen der Menschen, die immer mehr Raum einnehmen. Und je mehr über sie geredet wird, umso mehr gesellschaft liche Macht erhalten sie. So kann die Beschäftigung mit den Ängsten an die Stelle der eigentlichen Inhalte treten und als eine Art Norm-Ersatz fungieren. Wenn alle über Angst reden, werden die moralischen, politischen oder öko logischen Probleme überlagert. Hatte man ursprünglich Angst aufgrund eines Verstoßes gegen soziale Normen, dreht sich jetzt alles nur noch um die Angst selbst. Dem fügt sich auf eine gewisse Weise auch die Politik, indem sie darauf ausgerichtet wird, Entscheidungen zu treffen, die den Menschen ihre Ängste nehmen sollen. Doch gerade dies verstärkt die Problematik. So entsteht eine paradoxe Situation. Je mehr gegen die Ängste angegangen wird, umso wichti Luhmann 1986, S. 246. Luhmann 1986, S. 240. 40 Luhmann 1986, S. 239. 38 39
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ger werden sie genommen und umso mehr verbreiten sie sich. Denn die Kom munikation über die Ängste führt nicht dazu, dass sie überwunden werden können, sondern dass sie eher verstärkt und weiterverbreitet werden. Die Angstkommunikation zieht damit alle, auch die bisher nicht von den Ängsten Geplagten, in ihren Dunstkreis hinein. Angst wird als die richtige und an gemessene Einstellung zu den Problemen der Gegenwart sogar eingefordert. Angst gewinnt damit „eine moralische Existenz. Sie macht es zur Pflicht, sich Sorgen zu machen, und zum Recht, Anteilnahme an Befürchtungen zu er warten und Maßnahmen zur Abwendung der Gefahren zu fordern.“41 Diese moralische Aufladung der Angstbereitschaft, die Luhmann hier kritisch sieht, wird von anderen Autoren jedoch geradezu angemahnt. Erinnern wir uns an Abschn. 5.4: Günther Anders und Hans Jonas hatten in ihren Gegenwartsanalysen eine Angstvergessenheit identifiziert und eine Angstbereitschaft nun gerade in einem durchaus moralischen Anspruch ge fordert. Angst sollte dazu dienen, dass Menschen überhaupt die Dimension der heutigen Bedrohungen wahrnehmen können. Für Anders und Jonas haben die Ängste und vor allem die geistige Angst eine aufklärende und sensibilisie rende Funktion. Sie sollen ein Mittel zu dem moralischen Zweck sein, die Ge fahren der Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen und nach Wegen zu ihrer Be wältigung zu suchen. Luhmann hingegen kritisiert die Überhöhung der Relevanz der Ängste, ihre Instrumentalisierung „zum funktionalen Äquivalent für Sinngebung“,42 wodurch sie die eigentlichen normativen Fragen über lagern, statt sichtbar zu machen. Ihm geht es um die Gefahr, dass die ständige Beschäftigung mit den Ängsten, die man selbst hat und die andere haben, das Interesse an anderen Inhalten wie Politik, gesellschaftlichen Verwerfungen und individueller Sinnstiftung gänzlich ablöst. Die Ängste und Angstthemen haben sich in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskurse gedrängt. Damit erfolgt aber eine fundamentale Verschiebung. Das Symptom wird zum Wesen selbst, die wirklichen Probleme der Gesellschaft aber verschwinden dahinter. Wir be schäftigen uns mit unseren Ängsten, aber nicht mit Ausbeutung, Ungerechtig keit, Machtmissbrauch oder Umweltzerstörung. Luhmann hat hier einen Angstbegriff herausgearbeitet, der Angst als eine Sichtweise, ein Prinzip der Erklärung moderner Konstellationen bestimmt. Ausgetragen wird die Angst in den individuellen Ängsten der Menschen. Dass aber diese Ängste einen solch wichtigen Stellenwert erhalten konnten, lässt Rückschlüsse auf die moderne Lebenssituation zu. Der Verlust verbindlicher, die Gesellschaften zusammenhaltender Normen und einer stabilen individuel len Sinnorientierung wird in den individuellen Ängsten und noch grund legender in einer allgemeinen sozialen Angstbereitschaft und der ent sprechenden Kommunikation darüber sichtbar. Der öffentlichkeitsprägende Angstdiskurs tritt nach Meinung Luhmanns nun an die Stelle des fehlenden Zusammenhalts, ohne ihn jedoch neu stiften zu können. Luhmann 1986, S. 245. Luhmann 1986, S. 238.
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Wie die Behandlung des Angstthemas bei Dehne, Beck und Luhmann ge zeigt hat, wird Angst durchaus in einem über die Einzelängste hinausgehenden Verständnis gesehen als ein signifikantes Merkmal der Moderne. Dehne spricht von Angst als „Grundbefindlichkeit der Gegenwart“,43 Beck charakterisiert die heutige Gesellschaft als Risiko- und Angst-Gesellschaft, Luhmann verbindet mit der Angst die Funktion eines Prinzips für heutige Lebensorientierung. Damit bewegen sie sich auf einer Theorie-Ebene, die der geistigen Angst ent spricht, auf der also nicht Einzelängste thematisiert werden, sondern Angst als eine Perspektive, Haltung und grundlegende Befindlichkeit fungiert. Eine ganze Reihe weiterer jüngerer soziologischer Theorien verwenden den Angstbegriff für ihre Diagnosen heutiger Gesellschaften als Angst- Gesellschaften. So schreibt der Soziologe Heinz Bude dem Begriff der Angst eine wichtige Erklärungsfunktion für heutige Gesellschaften zu. Er sieht im Phänomen der Angst einen sensiblen Gradmesser dafür, wie sich Menschen in ihren Lebenslagen selbst beurteilen. „Angst ist hier ein Begriff für das, was die Leute empfinden, was ihnen wichtig ist, worauf sie hoffen und woran sie ver zweifeln. In Begriffen der Angst wird deutlich, wohin die Gesellschaft sich entwickelt, woran Konflikte sich entzünden, wann sich bestimmte Gruppen innerlich verabschieden und wie sich mit einem Mal Endzeitstimmungen oder Verbitterungsgefühle ausbreiten. Angst zeigt uns, was mit uns los ist. Die Soziologie, die ihre Gesellschaft verstehen will, muss heute die Gesellschaft der Angst in den Blick nehmen.“44 Ausgehend von dieser allgemeinen Funktions bestimmung der Angst wechselt Bude dann aber zu den konkreten Ängsten. Er geht davon aus, dass sich gerade soziale Ängste in vielen Bereichen etabliert haben: Ängste im Zusammenhang mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, Ängste der sozialen Aufsteiger vor dem Statusverlust, Ängste vor Minderheiten oder umgekehrt vor Mehrheiten, Anerkennungs- und Identitätsängste, Kontrollverlustängste. Er sieht in den überall präsenten Ängsten jedoch vor allem ein Mittelschichtproblem. Seiner Meinung nach offenbart Angst „die Seelenwirklichkeit der mittleren Lagen in unserer Gesellschaft. Angst haben diejenigen, die etwas zu verlieren haben“.45 Und diejenigen, die solche Ängste mit sich herumtragen, folgen gerne demagogischen Versprechen dahingehend, wie sie ihren status quo erhalten können. Doch hier drängt sich die Frage auf, ob Bude recht hat. Lassen sich diese Einordnungen tatsächlich bestätigen? Ei nige Studien, auf die ich gleich eingehen werde, sagen: Nein. Unabhängig von den konkreten Ausprägungsformen der Ängste, die nur durch empirische Untersuchungen belegt werden können, bleibt aber die Perspektive Budes be achtenswert, dass das Thema Angst eine Art Selbstreflexion der Gesellschaft bietet, oder wie er es formuliert: „In Begriffen der Angst fühlt sich die Gesell schaft selbst den Puls.“46 Damit werden die Ängste der Menschen nicht nur als Dehne 2017, S. 87. Bude 2014, S. 10. 45 Bude 2014, S. 60. 46 Bude 2014, S. 12. 43 44
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eine zu bearbeitende psychische Problematik gefasst. Sondern Bude verdeut licht, dass die Auseinandersetzung der Menschen mit ihrem Leben, ihrer Ge sellschaft, ihren Wünschen und Befürchtungen in der Thematik der Ängste einen Fokus hat, in dem viele wichtige Aspekte zusammenlaufen. Damit sind aber Ängste mehr als nur individuelle, singuläre Gefühle. Sie werden zu einem Gradmesser dafür, wie die eigene Lebenssituation reflektiert wird und wie die Gesellschaft insgesamt auf Krisen oder Bedrohungen zu reagieren vermag. So wie Bude vor allem die Mittelschicht von Ängsten betroffen sieht, die sich auf ihren sozialen Status und möglichen sozialen Abstieg richten, betont auch der Soziologe Oliver Nachtwey in seinem 2016 erschienen Buch Abstiegs gesellschaft einen engen Zusammenhang zwischen sozialen Ängsten und ge sellschaftlichen Fehlentwicklungen: „Aus der Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration ist, so die Hauptthese, eine Gesellschaft des sozialen Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung geworden.“47 Er sieht dies vor allem in wirtschaftlicher Schwächung, im „Umbau des Sozialstaats“ und dem „Rück bau sozialer Staatsbürgerrechte“48 begründet, woraus sich „ein neues Auf begehren“ der Benachteiligten entwickeln würde. Dementsprechend sei „eine kollektive Angst vor dem sozialen Abstieg allgegenwärtig“.49 Nachtwey zu folge prägen sich in heutigen modernen Gesellschaften regressive, zersetzende Tendenzen aus, die sich unter anderem in steigender sozialer Ungleichheit, Entsolidarisierung, nicht gut gelingender sozialer Integration und den damit verbundenen Ängsten äußern. Diese Phänomene sind in heutigen Gesellschaften ausgeprägt. Doch die Frage muss gestellt werden, wie sie einzuordnen sind. Wie weit ausgeprägt sind die Abstiegsängste? Dominieren sie tatsächlich das Lebensgefühl in diesem Land? Hier können nur genaue Erhebungen die Antwort liefern. In dem von Christiane Lübke und Jan Delhey 2019 herausgegebenen Sammelband Dia gnose Angstgesellschaft?50 wird solchen allgemeinen Zuschreibungen deutlich widersprochen und zwar auf der Grundlage empirischer Studien, die sich mit verschiedenen Aspekten sozialer Ängste auseinandersetzen. So geht es um Ab stiegsängste, Ängste bezogen auf die eigene Situation am Arbeitsplatz, Ängste von Menschen mit Migrationshintergrund oder die Bedeutung von Ängsten für den Populismus. So hat Holger Lengfeld die Entwicklung nach der Wende in Deutschland in einem Zeitraum von 25 Jahren genauer unter die Lupe genommen und heraus gefunden, dass die Abstiegsängste in Deutschland zwischen 1990 und 2016 (bei einer leichten Erhöhung um 2005) insgesamt auf ein niedriges Niveau zurückgegangen sind und dass sich die „Abstiegsangst der Deutschen auf his torischem Tiefstand“ befindet.51 Dies spricht dafür, dass es gar nicht so aus Nachtwey 2016, S. 8. Nachtwey 2016, S. 13. 49 Nachtwey 2016, S. 7. 50 Lübke/Delhey 2019. 51 Lengfeld 2019, S. 59. 47 48
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geprägte Ängste, vor allem weniger Status- und Abstiegsängste gibt, als dies Autoren wie Bude und Nachtwey behaupten und oft auch einfach in den öf fentlichen Debatten angenommen wird. Diesen Befund bestätigen auch Jan Delhey und Leonie D. Steckermeier. Sie können aufgrund ihrer Forschungen zeigen, dass Deutschland im europäischen Vergleich im unteren Feld des Pe gels der Statusängste liegt, dass sich insgesamt das Ängste-Niveau in Deutsch land auf niedrigem Niveau befindet und die Menschen hier im Grunde ganz zufrieden mit ihrem Leben sind. Für Delhey und Steckermeier ist die vielfach behauptete Zunahme speziell der auf den eigenen sozialen Status bezogenen Ängste deshalb eher ein „zeitdiagnostischer Mythos“, den die empirischen Untersuchungen nicht bestätigen können.52 Sicherlich spielen in modernen Gesellschaften, die ihre Strukturen schneller verändern als traditionelle Gesellschaften, speziell Abstiegsängste und Ängste um den Verlust des sozialen Status eine wichtige Rolle. Denn hier geht es um den Erhalt des sozialen Platzes in der Gesellschaft und die damit verbundenen Entfaltungsmöglichkeiten. Wer sozial absteigt, verfügt über weniger materielle Mittel für die Lebensführung, aber auch über weniger Ansehen in der Gesell schaft. Solche Verluste und Einschränkungen möchte niemand erleben. Des halb werden die Abstiegsängste auch als eine Erklärung für die Zuwendung der Menschen zu populistischen Ideologien und Politikrichtungen vorgebracht. Sind nun aber die Abstiegsängste faktisch gar nicht so stark ausgeprägt, ist diese Begründung des Aufschwungs populistischen Gedankenguts nicht über zeugend. Mit dem möglichen Zusammenhang von Statussorgen und Abstiegs ängsten und Erstarken des Populismus hat sich Luigi Droste genauer be schäftigt.53 Er sieht drei mögliche Aspekte, die für populistische Einstellungen relevant sein könnten: 1) Abstiegs- und Statussorgen, 2) Ungerechtigkeits empfindungen (Deprivationsthese) und 3) das Leiden an der Unübersichtlich keit der Welt und der damit verbundenen Desorientierung (Komplexitäts these). In seinen Studien kommt er zu dem Ergebnis, dass die These einer Angstgesellschaft verbunden mit den Sorgen um den sozialen Status und mög lichen Abstiegsängsten „lediglich einen kleinen Beitrag zur Erklärung populis tischer Einstellungen“ leisten.54 Den wichtigsten Faktor für das Anwachsen des Populismus stellt die weltanschauliche Desorientierung vieler Menschen dar, die mit der komplexen modernen Welt überfordert sind und sich nach ein fachen Erklärungen mit klaren Freund-Feind-Mustern sehnen. Und die Herausgeber des Buches Diagnose Angstgesellschaft?, Christiane Lübke und Jan Delhey, verweisen in ihrem Vorwort darauf, dass die These, die Mittelschicht werde von Abstiegsängsten gebeutelt, dazu diene, für bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen – wie eben beispielsweise den Rechtspopulis mus – eine einfache Erklärung zur Hand zu haben.55 Wenn man den Leuten Delhey/Steckermeier 2019. Droste 2019, S. 224. 54 Droste 2019, S. 242. 55 Lübke/Dehlhey 2019, S. 13. 52 53
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Angst attestiert, lässt sich letztlich alles Verhalten damit plausibilisieren. Lübke und Delhey fassen die Kernaussagen der kursierenden Angstdiagnosen in drei Punkten zusammen: 1) Die persönlichen und gesellschaftsbezogenen Sorgen und Ängste sind so stark angestiegen, „dass sie heute zu einem bestimmenden Merkmal moderner Gesellschaften geworden sind. Nie waren demnach die Sorgen der Menschen größer und vielfältiger als in den letzten Jahren“. 2) Die Sorgen und Ängsten betreffen alle Bevölkerungsschichten, auch die Mittel schicht. 3) Zugleich sind die Sorgen und Ängste „heute folgenreicher für Indi viduen und Gesellschaft, da sie zunehmend das Denken und Handeln der Menschen beeinflussen. Insbesondere werden gestiegene Sorgen und Ängste mit einer gewissen politischen Unzufriedenheit und dem Erstarken rechts populistischer Bewegungen und Parteien verantwortlich gemacht.“56 Ent scheidend ist nun die Einschätzung, dass zwar ständig von Angstgesellschaft die Rede sei, die Behauptungen jedoch derzeit nicht empirisch bestätigt wer den könnten.57 Die These vom Deutschland als Angstgesellschaft lässt sich somit nicht durch die durchgeführten Studien bestätigen. Es ist also immer eine genauere Analyse der Begriffe Furcht, Ängste, Angst notwendig, denn sie verändern historisch und kulturell ihre Inhalte und auch ihre Funktion für die Menschen und ihr Leben. Und es ist sinnvoll zu fragen, wie sich gesellschaftliche Stimmungen, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Fra gen in den Medien, politische Orientierungen auf die Angstwahrnehmung und Angstbereitschaft der Menschen auswirken. Dem ist der Soziologe Gerhard Kleining schon in den 1960er-Jahren bezogen auf den Stellenwert des Angst begriffs für die Beschreibung der modernen Lebenssituationen nachgegangen. Er verweist darauf, dass in Umfragen zur Einschätzung der eigenen Lebens situation und der modernen Lebensbedingungen die Befragten oft den Angst begriff verwendet haben. Er dient dabei neben Aspekten wie Unbeherrschbar keit der Technik, soziale Spaltung der Gesellschaft, Isolierung und Vereinsamung dazu, das Gefühl des Bedrohtseins des eigenen Lebens zum Ausdruck zu brin gen. Dabei sind aber zwei verschiedene Dimensionen des Angstbegriffs zu unterscheiden, wie Kleining es herausstellt. Auf der einen Seite gibt es die tat sächlichen Ängste der Menschen, die in jeder Zeit und Kultur existieren und für die immer auch Bewältigungsmittel ersonnen werden. „Jede Gesellschaft muß offenbar Formen finden, die es ihren Mitgliedern erlauben, mit erlebter Angst fertig zu werden.“58 Doch auf der anderen Seite hat sich der Angst begriff auf eine gewisse Weise verselbstständigt. „Angst“ wird zu einem vor geformten Schema, zu einer kulturellen Norm zur Charakterisierung der Spezifik der Moderne.59 Das soll heißen, dass die Menschen diese Norm: Mo derne = Angst ganz selbstverständlich benutzen, um die heutige Lebens
Lübke/Dehlhey 2019, S. 13. Lübke/Dehlhey 2019, S. 13. 58 Kleining, 1967, S. 214. 59 Kleining 1967, S. 196. 56 57
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situation zu beschreiben. Es gibt also so etwas wie eine „Ideologie der Angst“.60 Angst ist zum Erklärungsmuster und Deutungsrahmen geworden und ist damit als „eine kulturelle Norm gesetzt“,61 auf die man sich für die W elterklärung berufen kann. Diese ideologische Funktion der Angst ist prinzipiell unter schieden von den gefühlten, erlebten Ängsten. Deshalb verweist Kleining auf die Differenz zwischen diesen beiden Angstformen: „Angst als Empfindung, als Erlebnis, als Affekt und Angst als Teil eines kulturell akzeptierten Schemas, als ‚normale‘ Reaktion auf bestimmte Seiten der Umwelt, als Illusion oder Ideologie“.62 Wichtig daran ist zweierlei. Zum einen wird deutlich, dass „Angst“ selbst als ein Erklärungsmodell verwendet werden kann, um Phäno mene der gesellschaftlichen Entwicklung und des eigenen Lebens einzuordnen. Zum anderen ist aber auch zu sehen, dass die Ausprägung der individuellen Ängste durch die Rückbindung an die Ideologie, die besagt, die Moderne sei das Zeitalter der Angst, auch mitgeformt werden. Es scheint normal, sich unter dem Aspekt von Angst zu sehen. „Man kann hier von einer Akzeptierung des Angsterlebnisses an sich reden oder von einer Emanzipation der Angst. Angst zu haben, ist legitim geworden. Es ist heute ‚natürlich‘, in Anschauung be stimmter Kennzeichen der Welt Angst zu empfinden.“63 Die von Kleining als ideologische Norm verstandene Angst kann dabei als eine mögliche Ausformung der geistigen Angst angesehen werden. Doch diese Ideologisierung der Angst als ein Signum der Moderne hat selbst wieder zwei Seiten. Sie kann zum einen durchaus das Lebensgefühl der Ungewissheit und des Gefährdetseins zum Ausdruck bringen. Wird dieses ideologische Muster jedoch zu simplifizierend verwendet, kann es eben nichts erklären. Angst, die abgekoppelt ist von den konkreten Befürchtungen und Sorgen bleibt abstrakt und inhaltsleer. Und vor allem bietet allein der Verweis auf die Angst selbst keine Lösungen für anstehende Probleme. Auf eine Überhöhung und Ideologisierung der Angst macht auch Frank Fu redi aufmerksam. In seinem Buch Culture of Fear (2002) sucht er zu belegen, dass westliche Gesellschaften durchzogen sind von dem Grundgefühl der Furcht: „Western societies are increasingly dominated by a culture of fear.“64 Viele Menschen fürchten sich davor, überhaupt irgendwelche persönlichen oder gesellschaftlichen Risiken einzugehen. Dies zeigt sich in der Paranoia, was die Sorge um die eigenen Kinder, die Ernährung, die Gesundheit oder den an gemessenen Umgang miteinander betrifft. Furedi sieht vor allem eine Um definition im Menschenbild. Menschen werden nicht als stark und widerstands fähig, sondern als verletzlich und fürsorgebedürftig angesehen. Dies hat gravierende Folgen. Denn die „neue Verletzlichkeit“ führt nicht einfach zu mehr Sensibilität, sondern bringt Menschen dazu, sich letztlich ständig zu Kleining 1967, S. 197. Kleining 1967, S. 215. 62 Kleining, 1967, S. 213. 63 Kleining 1967, S. 215. 64 Furedi 2002, S. vii. 60 61
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ängstigen und aus Erstarrung handlungsunfähig zu werden. Und er konstatiert auch, dass es in einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaft Men schen und Institutionen gibt, die aus Ängsten auch Profit schlagen. Furedi nennt sie die „Angst-Unternehmer“. Es sind Versicherungen, Pharmaindustrie, Anbieter von Sicherheitssystemen, aber auch Therapeuten und Kliniken. Sie bestimmen den „Angstmarkt“, der natürlich seine Kundinnen und Kunden braucht, damit er wirtschaftlich gesehen funktioniert. Wichtig für Furedis Herangehensweise an die Problematik der Ängste ist dabei, dass er Ängste nicht einfach als naturgegebene Emotionen und Gefühle ansieht, sondern dass sie seiner Meinung nach durch die gesellschaftlich eta blierten Deutungsmuster und Wertsetzungen kulturell geprägt, zum Teil sogar erzeugt werden. Die kulturellen Deutungsmuster geben auch den einzelnen Menschen die Komponenten für die Interpretationen ihrer jeweiligen Ein stellungen, Gefühle und Gedanken. Wie Ängste erlebt werden, ist dement sprechend kulturell und sozial normiert (und damit, blicken wir zurück auf die Herangehensweise von Kleining, zur Ideologie geworden). Ist eine ganze Ge sellschaft davon durchdrungen, überall Gefahren und Risiken und Be drohungen zu sehen, werden auch die Individuen verstärkt Ängste ausbilden oder zumindest ihre eigene Weltsicht mit Angstkomponenten ausstatten. Doch Furedi nimmt dies nun nicht einfach als gegebene sozialpsychologische Reali tät hin, sondern hält dagegen und will motivieren zu einer Überwindung der mit den Ängsten verbundenen Lähmung der Menschen und ganzer Gesell schaften. Furedi argumentiert nicht gegen Ängste, sondern gegen deren ge sellschaftliche Überhöhung. Wenn diese durchschaut wird, kann mit Ängsten angemessen umgegangen werden. Wie an den bisher vorgestellten Autoren und Theorien deutlich wurde, ge hört es zur grundlegenden Arbeit der Soziologie, gegenwärtige Gesellschaften in ihren strukturellen Zusammenhängen zu beschreiben, aber auch in ihrer Beurteilung durch die Menschen zu erfassen. Sie diskutieren verschiedene As pekte des Zusammenlebens in modernen Lebenskontexten und die jeweiligen Interpretationsvarianten der heutigen Lebenssituation. Das moderne Lebens gefühl speist sich aus schnellen Veränderungen, pluralen Wertmustern, hohen Anforderungen an die Selbstorganisation und Selbstbestimmung des eigenen Lebens. Gefordert sind große Eigenverantwortung für das individuelle Han deln und die Fähigkeit zur ständigen Neuorientierung. Hier nicht mithalten zu können, im Wissen, im Beruf, im sozialen Leben abgehängt zu werden, gehört zu den gravierendsten sozialen Ängsten der Menschen. Zugleich ist das all gemeine Risikobewusstsein gestiegen und prägt Formen geistiger Angst aus. Ängste tauchen überall dort auf, wo die individuelle Lebensführung un berechenbar und ungewiss erscheint. Sie werden mit der Reichweite der Be drohungen abstrakter und unbestimmter, und dies hat etwas mit der Funktions weise der modernen Welt zu tun. Die Angst angesichts der eigenen Boden losigkeit, so als ob man haltlos über einem Abgrund schwebt, den man aber nicht sieht, sondern nur ahnt, hat sich dafür deutlich herauskristallisiert. In den einzelnen gefühlten Ängsten wird das Gefühl der Verunsicherung, der Rast
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losigkeit und Heimatlosigkeit dann jeweils ausgestaltet. Als Dauerzustand mündet dies in die ständige innere psychische Angstbereitschaft, die viele Men schen belastet und einen hohen Leidensdruck erzeugen kann.
6.4 Untersuchungen zu den Ängsten der Deutschen Die eben vorgestellten Theorien haben allgemeine Einordnungen vor genommen. Doch inwiefern lässt sich an den Ängsten tatsächlich die ge sellschaftliche Stimmung ablesen? Welche Ängste beschäftigen die Menschen heute eigentlich am stärksten? Was sagen die Ängste über die jeweiligen Be findlichkeiten der Menschen? Einen informativen Beleg zur Ängste- Entwicklung in Deutschland liefert die Langfriststudie, die von der R&V Ver sicherung beauftragt worden ist und Anfang der 1990er-Jahre startete. Hieran kann man über einen Zeitraum von mittlerweile dreißig Jahren sehr gut ab lesen, wie tagespolitische Ereignisse, weltwirtschaftliche Lagen, konkrete Kri sen und soziale Atmosphären die Ängste-Wahrnehmung beeinflussen. Hier werden auch die Ängste-Studien nach verschiedenen Bundesländern, nach Ost- und Westdeutschland, nach Altersgruppen oder nach Frauen und Män nern systematisiert. Der Gesamtangstindex, so man ihn überhaupt bestimmen kann, scheint dabei in Deutschland eher moderat zu sein, wie dies in Abb. 6.1 zu den Ängs ten der Deutschen im Langzeitvergleich deutlich wird.65 Welche alltäglichen Ängste jeweils das Denken der Menschen dominieren ändert sich von Jahr zu Jahr zum Teil erheblich, wie in der Statistik zu den Top-Ängsten der Deutschen im Zeitraum der letzten 15 Jahre deutlich ist (Abb. 6.2). In Jahren mit gehäuften Terroranschlägen in Europa nimmt die Terrorangst zu. In Zeiten der Finanzkrise waren ökonomische Ängste aus geprägt. Nach großen Naturkatastrophen steigen die Umweltängste. In den Jahren 2018 und 2020 nahm Platz 1 der Ängste die Ungewissheit ein, welche Folgen die Politik von Donald Trump hervorbringen könnte. Die Jahre 2011–2015 waren geprägt von der EU-Schuldenkrise. 2021 schlugen sich die Befürchtungen nieder, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie länger fristig wirtschaftlich haben werde, zum Beispiel hinsichtlich der Steuerlast. Aber auch das Thema Immigration ist weiterhin relevant. Mit der Energiekrise sind 2022 die Lebenshaltungskosten Hauptthema. Die Ängste vor einer schweren Erkrankung sind ein paar Jahre zurück gegangen, mit Corona wieder etwas angestiegen, aber sie bilden nicht die Hauptängste der Menschen. Die Angst vor Terroranschlägen, die um 2016/17 hochgeschnellt war, ist nun wieder auf einem niedrigeren Stand. Nach dem Hochwasser im Sommer 2021 war ein deutlicher Anstieg der Umweltängste zu verzeichnen gewesen. Im Jahr 2022 sind unter den Top Ten der Ängste der 65 Die Grafiken zu den „Ängsten der Deutschen“ stammen von der Homepage der R&V Ver sicherung: https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen/grafiken-die-aengste-der-deut schen.
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52 49
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14
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2003: hohe Arbeitslosenzahlen, Beginn des Irakkriegs
42
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20
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22
2020: Beginn Corona-Pandemie
2005: Wirtschaftsangst auf Rekordhoch, Scheitern der rot-
2022: Beginn Ukraine-Krieg
Abb. 6.1 Die Ängste der Deutschen im Langzeitvergleich. (Quelle: r + v)
Die Top76 73 66
68
70
73
71
68
69
67
64 60 56
2008
2009
2010
steigende Lebenshaltungskosten
schlechtere Wirtschaftslage
steigende Lebenshaltungskosten
2011
2012
2013
2014
2015
-Schuldenkrise
2016
2017
Terrorismus
2018
2019
lichere Welt durch TrumpPolitik
derung durch
53
53
2020
2021
Steuererlichere Welt durch LeistungsTrumpPolitik d. Corona
2022 steigende Lebenshaltungskosten
in Prozent
Abb. 6.2 Die Top-Ängste der vergangenen 15 Jahre in Deutschland. (Quelle: r + v)
Deutschen steigende Wohnkosten und auch Ängste, dass autoritäre Herrscher weltweit immer mächtiger werden, neu hinzugekommen (Abb. 6.3). Aufs Ganze gesehen scheint die Stimmung in Deutschland nicht so Ängste-besetzt zu sein, wie dies oftmals behauptet wird. Insgesamt bietet die R&V-Studie interessantes Material, um einen Eindruck von den Ängsten der Menschen, von deren Ausprägungsgrad und auch von deren Schwankungen seit den 1990er-Jahren zu erhalten.
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B. FRISCHMANN
–10)
67 58
57 52
steigende Lebenshaltungskosten
Wohnen in Deutschland unbezahlbar (neu in 2022)
schlechtere Wirtschaftslage
SteuerLeistungs-
51
Steuerzahler durch EUSchuldenkrise
49
Naturkatastrophen/ Wetterextreme
durch Corona 1.
2.
3.
4.
47
46
weltweit
Klimawandel
Herrscher immer
45
44
des Staats durch
der Politiker und Politikerinnen
(neu in 2022) 5.
6.
7.
8.
9.
10. in Prozent
Abb. 6.3 Die zehn wichtigsten Ängste der Deutschen im Jahr 2022. (Quelle: r + v)
Der Historiker Frank Biess greift mit seiner Untersuchung noch weiter in die Geschichte der Bundesrepublik zurück. Er ist der Frage nachgegangen, wie sich in den Jahrzehnten seit ihrer Gründung die Ängste und Angstdiskurse ver ändert haben. Dabei ist vor allem bemerkenswert, wie deutlich sich historische Konstellationen an den Ängsten ablesen lassen. So kann man das Buch über die Geschichte der Bundesrepublik auch „als eine Geschichte von Angstzyklen“66 lesen. Dabei präsentiert Biess vor allem zwei Einsichten. Zum einen sieht er eine durchgehende Komponente der Ängste darin, dass angesichts der Ver antwortung Deutschlands für Nationalsozialismus, Holocaust und den 2. Weltkrieg in den Stimmungslagen der Bevölkerung (bei allen Verdrängungs versuchen) doch immer die Befürchtung mitschwingt, ob man dauerhaft Demokratie, Frieden und Wohlstand bewahren kann. Der Blick in die Zukunft blieb bis in die Gegenwart immer überschattet vom Erbe der ersten Jahr hunderthälfte. „Die Westdeutschen konnten sich nach 1945 nie völlig sicher sein, dass sich ihr Staat in eine friedliche, wohlhabende und relativ pluralisti sche demokratische Gesellschaft entwickeln würde.“67 Biess schätzt ein, dass gerade die Ängste, die aus dem Versuch resultierten, die Vergangenheit zu verarbeiten und immer die Gefahren des politischen Entgleitens vor Augen zu haben, insgesamt eine positive Funktion beim Aufbau der Bundesrepublik hat ten. „Die erhöhte Angstbereitschaft der Deutschen sensibilisierte sie auch für mögliche Gefahren. Sie intensivierte die demokratische Wachsamkeit und schärfte das Bewusstsein für die inhärente Krisenanfälligkeit moderner Demo
Biess 2019, S. 22. Biess 2019, S. 19.
66 67
6 ÄNGSTE UND ANGST ALS SOZIALES PHÄNOMEN
213
kratien. Die Angstgeschichte nach 1945 trug paradoxerweise auch zur Stabili sierung und letztlich dem ‚Erfolg‘ der Bundesrepublik bei.“68 Zum anderen zeigt Biess, dass sich die einzelnen Ängste mit den histori schen Konstellationen und den konkreten gesellschaftlichen Entwicklungen verändern. So behandelt Biess die Vergeltungsangst in der Nachkriegszeit. Da viele Menschen in die Machenschaften des Nationalsozialismus verwickelt waren, befürchteten sie, dass diejenigen, die Opfer des Regimes geworden waren, beispielsweise Zwangsarbeiter, Kriegsopfer oder KZ-Überlebende, sich nun rächen könnten. Oder sie stellten sich eine globale jüdische Rache vor, die zum Teil auch mit den USA verbunden wurde. Es gab auch ausgeprägte Ängste gegenüber den Millionen Flüchtlingen aus den Ostgebieten, die als Konkur renten um Arbeit, Nahrung und Wohnung angesehen wurden. Weiterhin wur den die Besatzermächte als Gefahr angesehen, wusste man doch nicht genau, wie sie mit der deutschen Bevölkerung umgehen würden. Dies betraf dann auch die Ängste vor der Entnazifizierung. „In den Entnazifizierungsverfahren der amerikanischen Zone wurden nur 0,17 % der Bevölkerung oder 1654 Per sonen als ‚Hauptschuldige‘ eingestuft, 2,33 % oder 22.122 Personen als ‚Be lastete‘ und 106.422 als ‚Minderbelastete‘. Der Rest wurde zum ‚Mitläufer‘ oder gar ‚unschuldig‘ erklärt. Der Entnazifizierung gelang es daher nicht, die personelle Kontinuität von Drittem Reich und neuem Staat in Verwaltung, Polizei, Justiz oder Erziehungswesen zu brechen. Nach der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 sollten laut Artikel 131 des Grundgesetzes so genannte ‚Entnazifizierungsverdrängte‘ in die öffentlichen Verwaltungen wiederaufgenommen werden. Auch in der Privatwirtschaft kehrten ehemalige Nazis reibungslos in Führungspositionen zurück.“69 Nach Gründung der Bundesrepublik bestand dann die Regierungspolitik genau darin, durch Ver meidung weiterer Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit so etwas wie eine innere Stabilität zu erreichen, die jedoch andererseits dadurch flan kiert war, dass sich ein gesteigerter Antikommunismus ausbreitete, der neue Ängste schürte und zynischer Weise zur Legitimation dafür genutzt werden konnte, ehemalige Nazis wieder ins politische System zu integrieren. Als An fang der 1960er-Jahre die Prozesse gegen die NS-Verantwortlichen statt fanden, waren viele Menschen beunruhigt, weil sie befürchteten, dass damit der soziale Zusammenhalt in der Gesellschaft zerstört werden könnte. 1965 wollten 54 % der Bevölkerung keine weiteren Prozesse mehr.70 Die rasche wirtschaftliche Erholung in den Wirtschaftswunderjahren be schwichtigte zwar die Existenzängste, führte aber auch zu Befürchtungen be zogen auf die moderne Technik. So fanden seit den 1960er-Jahren immer in tensivere Debatten über Automatisierung und Ersetzung der menschlichen Arbeitskraft statt. Und über allem schwebten die Ängste vor einem Atomkrieg, die schließlich seit den 70er-Jahren zu den Friedensbewegungen führten. Biess 2019, S. 20–21. Biess 2019, S. 77. 70 Biess 2019, S. 224. 68 69
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Hinzu kamen Ängste vor einer zu offenen Demokratie auf der einen Seite, Ängste vor einem Rückfall in Totalitarismus auf der anderen Seite. Das Auf einanderprallen dieser beiden Grundeinstellungen kulminierte dann in der Studentenbewegung ab 1967. Hinzu kam zugleich die Verängstigung mit Ent stehung terroristischer Gruppierungen in den 1970er-Jahren. Weitere Ängste betrafen die „Überfremdung“, zunächst durch Gastarbeiter, später durch Einwanderer aus verschiedenen Regionen der Welt, den mög lichen Verlust des erreichten Wohlstands durch gravierende ökonomische Kri sen, Ängste vor Hilflosigkeit oder Gesamtversagen der Politik oder Ängste vor den Kräften und Parteien am politisch rechten oder linken Rand. Und Biess verweist auch darauf, dass mit einem seit den 1970er-Jahren sich ausprägenden „Psychoboom“71 die Menschen sich immer mehr mit ihrer eigenen inneren Gemütsverfassung beschäftigen und in der Suche nach der eigene Identität sich selbst als gefährdet und bedroht wahrnehmen. Biess hat in seinem Buch sehr eindrücklich gezeigt, dass Ängste formbar sind, dass Angstzyklen kommen und gehen.72 Dabei spielt nicht nur die Poli tik eine wichtige Rolle dabei, welche Arten von Ängsten befördert werden. Auch die Medien und die Wissenschaften tragen einen großen Teil zu den Angstdiskursen bei, denn sie liefern die Interpretationsfolien, Wertungs muster und Begriffe, in denen Menschen, einzelne Gruppen und ganze Ge sellschaften ihre Lebenssituationen deuten und interpretieren. Und sie haben eine Verantwortung dafür, über die Zusammenhänge aufzuklären. Vor allem ist für das Verstehen des Angstphänomens auch wichtig zu sehen, dass Ge fühle keine feststehenden, naturgegebenen Inhalte haben. „Ihre Funktion und Signifikanz ist vielmehr radikal kontextabhängig.“73 Gefühle werden in dividuell geformt vor einem politischen und kulturellen Hintergrund, der dafür das Material und die Wertungsperspektiven bereitstellt. Auf die For mungen von Ängsten wird so immer auch von außen, durch die sogenannten „emotionalen Regime“74 Einfluss genommen. Verschiedene Mechanismen zur Beeinflussung der Ängste sind auch in früheren Zeiten schon bekannt ge wesen, zumindest bei denjenigen, denen es um die Sicherung ihrer Macht ging. Vergleicht man die Gegenwart mit Zeiten, in denen Menschen wirklich gra vierenden Bedrohungen ausgesetzt waren, die großen Kriege, Verfolgungen bis zum Genozid, Hungersnöte und grassierende Seuchen, dann leben Men schen heute in Deutschland in einer ziemlich gesicherten und gefahrenarmen Zeit. Durch die Corona-Pandemie ist zwar das Sicherheitsgefüge vorüber gehend etwas aus den Fugen geraten, aber es ist keine existenzielle Bedrohungs lage entstanden. Der moderne Staat sichert durch sozialpolitische Maßnahmen die Grundbedürfnisse der Menschen ab. Die Betreuung von Kindern, Alten Biess 2019, S. 448. Biess 2019, S. 458. 73 Biess 2019, S. 462. 74 Biess 2019, S. 35. 71 72
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und Kranken ist durch sozialstaatliche oder auch private Einrichtungen und Institutionen garantiert. Wie wir wissen, war dies nicht immer so in der Geschichte.
6.5 Ein Blick in die Geschichte: Jean Delumeaus Studie zur „Angst im Abendland“ Selbstwahrnehmungen und politische Gestaltungsräume sind immer von histo rischen Erfahrungen geprägt, denen sich Gesellschaften und Individuen direkt oder indirekt stellen müssen. Wie stark Ängste von den jeweiligen sozialen Be dingungen und politischen Gegebenheiten abhängen, hat Jean Delumeau in einer umfassenden Forschungsarbeit mit dem Titel Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14.–18. Jahrhunderts untersucht, der historischen Zeitspanne von der beginnenden Renaissance bis zur Auf klärung. Es ist eine „unruhige Epoche“.75 Delumeau geht der Frage nach, warum gerade in dieser Zeitspanne die Menschen von tiefsten Ängsten ge peinigt wurden. In diese Zeit fielen die Pestepidemien, der 30-jährige Krieg, die Inquisition, die Hexenprozesse, aber auch die Entstehung der neuzeit lichen Naturwissenschaft, die Aufklärung und das Erstarken der rationalisti schen Vernunftphilosophie. Vor allem ist interessant, dass sich in der unter suchten Epoche das Christentum religiös und institutionell in Europa überall durchgesetzt hatte, zugleich aber schon Tendenzen sichtbar wurden, die das religiöse Weltbild in Frage stellten und so eine heftige Verteidigungsreaktion seitens der Kirche und ihrer Anhänger hervorrief. Angesichts der Komplexität der Thematik müssen natürlich die ver schiedenen Formen und Ausprägungen von Furcht und Ängsten unterschieden werden: Furchtlosigkeit im Sinne von Mut der Ritter im Kampf gegen An greifer ist etwas anderes als die weltlichen Ängste vor Pest, Missernten oder Krieg, und diese sind noch einmal zu unterscheiden von den religiösen Ängs ten vor dem Bösen, dem Satan und seinen Gehilfen. Delumeau richtet sein Augenmerk deshalb auch auf die sprachliche Vielfalt, über Angst, Ängste und Furcht zu sprechen. Er verweist auf Kierkegaard und die hilfreiche Unter scheidung von Furcht und Angst. Er nimmt Kierkegaards Überlegungen auf und schreibt, für Kierkegaard ist Angst „Symbol des menschlichen Schicksals, Ausdruck seiner metaphysischen Beunruhigung. Für uns, die wir im 20. Jahr hundert leben, ist sie zum Gegenstück der Freiheit geworden, zur Er schütterung des Möglichen. Denn sich befreien heißt, die Sicherheit aufzu geben und Risiken einzugehen. Die Angst ist also Charakteristikum der Bedingungen, unter denen Menschen leben, und Eigentümlichkeit eines We sens, das sich ständig erneuert.“76 Delumeau erörtert, dass Angst (bzw. die gefühlten Ängste) positive und negative Kapazitäten freisetzt. Sie ist einerseits Motor der Entwicklung des Delumeau 1985, S. 35. Delumeau 1985, S. 30.
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Menschen, sie lässt mögliche Gefahren vorhersehen und motiviert, sich davor zu schützen. „Aber eine zu lange anhaltende Angst kann ebensogut einen Zu stand von Verwirrung und unangepaßtem Verhalten hervorrufen, eine emotio nal bedingte Blindheit, eine rasche, gefährliche Ausbreitung von imaginierter Wirklichkeit. Sie kann durch eine Atmosphäre der Unsicherheit, die sie in Menschen schafft, einen Prozeß immer weniger differenzierter Wahrnehmung auslösen. Besonders gefährlich ist sie, wenn das Angstgefühl zugleich ein Schuldgefühl ist. Denn die Person richtet in diesem Fall die Kräfte, die sie gegen Angriffe von außen mobilisieren soll, gegen sich selbst und wird so zur Hauptursache ihrer eigenen Ängste.“77 Um mit seiner allgemeinen Angst um zugehen, zerlegt der Mensch sie in „präzise Ängste vor etwas oder jemandem“.78 In einem einführenden Kapitel geht Delumeau der Frage nach: „Wer hatte Angst wovor?“79 Dabei skizziert er die Grundlagen, auf denen sein Buch be ruht. Er zeigt, dass Ängste sehr komplex sind und etwas mit historischen Be dingungen, kulturellen Rahmungen, sozialem Status, Perspektiven, politischen Interessen und individuellen Lebenslagen zu tun haben, damit also eine viel schichtige Gemengelage darstellen. In Auswertung seines umfangreichen Ma terials aus vier Jahrhunderten hat sich dabei für Delumeau herauskristallisiert, dass vor allem hinsichtlich der sozialen Schichten unterschiedliche Ängste aus geprägt werden. Die unteren Bevölkerungsschichten, einfache Menschen, Bauern, Handwerker, kleine Händler, beziehen sich in ihrem Denken und Tun auf ihren Nahbereich. Dagegen ist es die Funktion der politischen und intellek tuellen Eliten, vor allem des Adels und der Vertreter der Kirche, Theorien und Ideologien zu entwickeln, um die Welt zu erklären. Sie nehmen damit auch Einfluss darauf, wie Ängste ausgeformt, gefüllt oder beschwichtigt werden können, sie verfügen über Machtmittel und haben Möglichkeiten der Manipu lation.80 Ausgehend von der Unterscheidung dieser beiden sozialen Schichten lassen sich auch Ängste sehr unterschiedlich einordnen: Auf der einen Seite haben Menschen konkrete, lebensbezogene Ängste: Krankheit, Sterben, Ver lust, Hungersnöte, wirtschaftliches Auskommen, Kriege, zwischenmenschliche Aggressionen, Diebstahl und vieles mehr. Auf der anderen Seite werden The men für Ängste eher künstlich und instrumentell angelegt und demagogisch verbreitet. Dabei konnte Delumeau zeigen, dass diese Ängste konstante Be standteile haben, die immer wirksam sind, aber auch Formen aufweisen kön nen, die nur in akuten Krisenzeiten zur Geltung kommen. Die Feinde, vor denen man sich ängstigen soll, müssen dafür überhaupt erst ausfindig gemacht und benannt werden: die Juden, die Türken, die Ketzer, die Hexen, der Teufel. Und es können sich parallel dazu die Kräfte in Szene setzen, die Schutz und Heil vor diesen Gefahren versprechen. Dabei war eine Hierarchisierung des Übels und der Ängste hilfreich. Im Vergleich mit den weltlichen Belangen, den Delumeau 1985, S. 30–31. Delumeau 1985, S. 31. 79 Delumeau 1985, S. 38. 80 Delumeau 1985, S. 38. 77 78
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normalen Unwägbarkeiten des Lebens, wurde dem Seelenheil und dessen Ge fährdung durch den Satan ein unvergleichlich höherer Stellenwert zu gesprochen. Dazu trug die christliche Kirche wesentlich bei, indem sie die Menschen mit den Vorstellungen von Erbsünde und der allgegenwärtigen Bedrohung durch teuflische Kräfte traktierte, sodass eine Art Angst vor sich selbst, vor dem eigenen Ungenügen, der eigenen Schwäche gegenüber der Sünde entstand. Doch Delumeau hebt auch hervor, dass die Menschen schließ lich, um an dieser permanenten Angstkultur nicht zu zerbrechen, sich Auswege bahnten: alltägliche Freuden, Schutzheilige und Schutzengel, Fiktionen vom Schlaraffenland und Paradies.81 Dabei ist gut nachvollziehbar, dass vor allem in insgesamt unruhigen, krie gerischen, krisenhaften Zeiten Ängste aller Art Hochkonjunktur haben. So be tont Delumeau: „Die Häufung von Aggressionen, die auf die abendländischen Völker von 1348 bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts einstürmten, bewirkte in allen Gesellschaftsschichten eine tiefgreifende seelische Erschütterung, von der sämtliche Ausdrucksformen jener Zeit, Texte und Bilder, Zeugnis ablegen. Ein ‚Land der Angst‘ entstand, in dessen Innern eine Kultur sich ‚unbehaglich‘ fühlte und das sie mit krankhaften Phantasiegebilden bevölkerte.“82 Im Gang durch die vier Jahrhunderte, die Delumeau untersucht, wird aber auch augen fällig, wie Menschen mit Krisen, Kriegen, Seuchen umgehen, wie sie immer wieder gerne bereit sind, „Sündenböcke“ zu suchen und sie auch finden, wie mit Ängsten Politik gemacht wird, ganze Gesellschaften auf Linie gebracht werden gegen tatsächliche oder imaginierte „Feinde“. Dies alles zeigt, wie Menschen für ihre subjektiven Ängste die Inhalte und Ausrichtungen aus den Lebensumständen und angebotenen Weltanschauungen beziehen, dass sich damit Ängste auch mit den Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Ge gebenheiten wandeln. Wenn man an den Teufel, an Hexen und Dämonen glaubt, können alle Alltagsbegebenheiten, in denen etwas schiefläuft, ein Un fall passiert, die eigenen Pläne misslingen, als deren Wirken angesehen werden. Erst recht lässt sich das Erklärungsmuster des Bösen anwenden, wenn existen zielle Bedrohungen eintreten: die Ernte schlecht ausfällt, das Haus nieder brennt, Naturkatastrophen geschehen oder ein Krieg beginnt. Wenn dem Bösen aber so viel reelle Macht zugesprochen wird, erscheint die eigene Lebensführung immer als gefährdet. Und dies den Menschen immer wieder vor Augen zu führen, ist durchaus auch ein Machtinteresse der Institution Kirche, die so in ihrer Funktion der Seelsorge und des Kampfes gegen das Böse als unentbehrlich erscheint. Die Pest83 und andere Krankheiten traten über Jahrhunderte in Wellen in ganz Europa auf. Die wirkliche Entstehungsursache wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts ermittelt. Bis dahin kursierten verschiedenste Vermutungen, zumeist eine Mischung aus Annahmen von ungünstigen Planetenkonstellation Delumeau 1985, S. 41. Delumeau 1985, S. 39. 83 Delumeau 1985, Drittes Kapitel. 81 82
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und vergifteter Luft. Für die Bevölkerung aber ging es oft darum, Schuldige zu finden. Je größer die Panik war, umso heftigere Aggressivität machte sich breit. Dabei richtete sich die Wut vor allem gegen die, die anders waren, gegen Rand gruppen, Fremde, Andersgläubige. So wurden häufig die Juden beschuldigt, die Brunnen oder die Luft vergiftet zu haben. Oder man suchte innerhalb der eigenen Gemeinschaft nach Hexen und Hexenmeistern, man sah ständig Geis ter und Gespenster, die vermeintlich das Unheil gebrachten haben. Da die wahre Ursache der Pest nicht bekannt war, sondern verschiedene Erklärungen kursierten, konnten jeder und alles beschuldigt werden bis hin zur Strafe Got tes für die Sünden der Menschen. So wurde dann durch Beichte und Buße, Prozessionen, vermehrte Gebete und viele andere Bekenntnisse des Glaubens der vermeintliche Zorn Gottes wegen der moralischen Verwerflichkeit der Menschen zu beschwichtigen versucht. Die christliche Kirche präsentierte von ihrem Beginn an Theorien von Apo kalypse und Jüngstem Gericht. Aber es entwickelte sich auch ab dem 11. und 12. Jahrhundert der Satanismus in einem vollkommen neuen Ausmaß.84 Dabei wurden die Vorstellungen vom Reich des Teufels und seiner Macht immer weitreichender und dienten schließlich dazu, alle politischen, ökonomischen, religiösen Gegner als mit dem Satan im Bunde anzusehen. Der Kampf gegen das Satanische mündete in die Hexenverfolgungen und Hexenprozesse, die sich im 16. und 17. Jahrhundert sogar noch steigerten.85 Hier überkreuzten sich dann die Ängste vor den Hexen mit den Ängsten, selbst beschuldigt zu werden. In manchen Regionen entstanden wahre Hysterien. Dabei agierten die Länder und Städte durchaus unterschiedlich, je nach Interessenlage und religiösem Eifer der Machthaber und Würdenträger, je nach Stimmung und Konstellation. Nach Schätzungen wurden mehrere zehntausend Menschen, vor allem Frauen, zum Tode verurteilt, bis ins 18. Jahrhundert hinein. Interes sant an diesem Phänomen ist dabei vor allem auch, dass der religiöse Kampf gegen das Böse erst von dem Zeitpunkt an richtig Fahrt aufnahm, als die christ liche Kirche bemerkte, dass sie an Einfluss verlor, erst dann begann die große Säuberungsaktion, vollzogen durch die Gerichtsbarkeit der Inquisition. Die Angst vor dem Bösen, vor der Sünde, vor der Hölle wurde instrumentalisiert, um potenzielle Glaubensfeinde zu eliminieren. Andere Unsicherheiten sind mit den ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Übergang vom Feudalismus zum Industriezeitalter ver bunden. Viele Menschen sind entwurzelt, haben keine Chance, ihren Lebens unterhalt durch bezahlte Arbeit zu verdienen. Sie ziehen umher, schließen sich zum Teil zusammen, rauben und plündern. Kriege und Aufstände erschüttern den Kontinent. Bauern müssen um ihre Existenzgrundlagen fürchten. In krisenhaften Zeiten flammen dabei immer wieder richtiggehende Paniken auf, die kaum noch zu beherrschen sind.
Delumeau 1985., Siebtes Kapitel. Delumeau 1985, Elftes und Zwölftes Kapitel.
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6.6 Beispiel: Die Große Furcht (La Grande Peur) 1789 in Frankreich Eine epidemische Ausbreitung von Ängsten tritt dann auf, wenn große Teile einer Gesellschaft verunsichert sind. Die Gesellschaft wird zu einem Pulverfass, für das ein Streichholz ausreicht, um es zur Explosion zu bringen. Wachsende Ängste sind ein deutliches Warnsignal, sie verstärken krisenhafte Situationen wie in einem Vergrößerungsglas. Sehr gut erforscht ist die Entstehung und Ausbreitung einer großen Ängste-Welle, die das Frankreich des Jahres 1789 überrollte und maßgeblich zur Entfachung der Französischen Revolution bei trug. Ausgangslage für die Entstehung dieser Großen Furcht waren immer wei ter zunehmende Spannungen aufgrund der Rechtlosigkeit des Dritten Standes, zu dem alle Bürger, Händler, Handwerker, Bauern zählten und der alle Steu ern und Abgaben zu leisten hatte. Vor allem die Bauern litten unter schlechten Lebensbedingungen aufgrund steigender Abgaben und Missernten der ver gangenen Jahre. Deshalb weigerten sich immer mehr Bauern, diese Abgaben zu entrichten oder Steuern zu zahlen. Der erste Stand, die Geistlichen, und der zweite Stand, der Adel, waren hingegen von allen Steuern befreit. Am 17. Juni 1789 trafen sich Vertreter des dritten Standes, sie erklärten sich zu Ab geordneten des dritten Standes und proklamierten eine „Nationalver sammlung“. Da der König aber lange taktierte und die Menschen verunsichert waren, entstand die Forderung, sich zu bewaffnen und zu verteidigen. Am 17. Juli 1789 erfolgte die Einnahme der Bastille durch die Aufständischen. Als die Pariser Geschehnisse im Land publik wurden, entstanden innerhalb weniger Tage Gerüchte, dass der Adel, die Gutsherren, sich rächen würden und ein Heer von Räubern und Bettlern aufgestellt hätten, das gegen die Bauern in den Kampf ziehen und ihre Dörfer vernichten sollte. Plötzlich kursierten Be richte über Plünderungen, Brandschatzungen, Vergewaltigungen aus ver schiedenen Provinzen, die sich dann im Nachhinein als unwahr herausstellten. So entstand ein Klima starker Ängste im ganzen Land, jeder Unbekannte wurde als Feind verdächtigt, die vielen umherziehenden Bettler galten plötz lich als gewalttätige Räuber, jedem noch so abstrusen Bericht von Überfällen wurde Glauben geschenkt. Getrieben von ihren Ängsten gingen die Bauern in die Offensive, sie bewaffneten sich mit allem, was ihnen zur Verfügung stand, und richteten ihren Zorn gegen diejenigen, die sie als Anstifter des vermeint lichen Krieges gegen das eigene Volk sahen, die Grundbesitzer, den Adel. Sie stürmten Schlösser und Landsitze, aber auch Klöster, plünderten und ver nichteten die Urkunden, die den Grundbesitz dokumentierten. Die Aufstände begannen am 20. Juli und endeten am 06. August 1789 mit dem Beschluss der Nationalversammlung, die Privilegien der ersten beiden Stände aufzuheben. Besonders interessant an diesem historischen Beispiel ist, dass sich die Große Furcht wie ein Lauffeuer verbreiten konnte, ohne dass die kursierenden Ge rüchte gezielt von einzelnen Akteuren in die Welt gesetzt worden waren. Sie schossen wie aus dem Nichts hervor und wurden in Windeseile weitergetragen und auch geglaubt, weil sie den konkreten Befürchtungen und demLebens
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gefühl der Menschen entsprachen. Vor allem die Bauern lebten in einer perma nenten existenziellen Notlage, in der sie Jahr für Jahr um ihr eigenes Über leben bangten und ihre Wut gegenüber denjenigen entwickelten, die von ihren Abgaben lebten. Die Große Furcht war Ausdruck ihrer Grundängste und kul minierte, getragen von der revolutionären Stimmung des ganzen Landes, in der aktiven Verteidigung der eigenen Interessen. * * * Wie die dargestellten Beispiele aus dem Kontext sozialer Ängste zeigen, sind ganz verschiedene Faktoren mitentscheidend dafür, welche Ängste ausgeprägt werden und wie mit ihnen individuell umgegangen wird. Das gesellschaftliche Klima, politische Weichenstellungen, die zugänglichen Informationen, die persönlichen Lebenskontexte formen die Ängste inhaltlich und auch in ihrer Mächtigkeit und Kraft. Die jeweilige Perspektive, die man auf gesellschaftliche Entwicklungen, Gegebenheiten und Konstellationen einnimmt, wirkt sich aus auf die Inhalte und Arten von Ängsten. In vielfältigen Gesellschaften mit ihren pluralen Sichtweisen können sich dementsprechend auch ganz konträre Ängste entwickeln. Verschiedenste Lebensformen werden toleriert oder sogar ge fördert, die Gesellschaften werden nicht mehr durch verbindliche Traditionen, eine einheitliche Religion oder Weltanschauung zusammengehalten. Men schen unterschiedlichster Kulturen und Weltbilder leben mit- und neben einander. Und damit stehen auch ganz verschiedene Auffassungen im Raum, wie man leben möchte oder sollte. Die jeweiligen Sichtweisen sind nicht natur gegeben und nicht „objektiv“, sondern werden in einem Zusammenwirken von sozialen, kulturellen und politischen Deutungsangeboten und ganz indivi duellen Präferenzen jeweils „produziert“. Damit betreten wir aber auch das Feld der Politik und der Ideologie, der Instrumentalisierung und Manipula tion. Politisch gesehen ist von besonderem Interesse, wie Ängste mit be stimmten Arten von Politik zusammenhängen und welche Aufgaben und Möglichkeiten Politik hat, um auf Ängste angemessen zu reagieren. Aber es wird auch zu fragen sein, wie sich Ängste steuern lassen und inwieweit sie kontrollierbar sind. Darum soll es in den beiden folgenden Kapiteln (Kap. 7 und 8) ausführlicher gehen.
KAPITEL 7
Politische Ängste. Macht, Totalitarismus, Terror
Im vorigen Kapitel (Kap. 6) wurde die Bedeutung von Ängsten im Zusammen leben der Menschen beleuchtet. Zusammenleben erfordert Strukturen und Regeln. Im Tierreich geschieht die soziale Steuerung durch die angeborenen Instinkte und Verhaltensweisen. Beim Menschen muss das Verhalten durch Normen und Institutionen geleitet werden. Je größer und komplexer Gemein schaften werden, je vielfältigere Aktivitäten in ihnen stattfinden, umso wichti ger ist es, für die Organisation und Verwaltung des Zusammenlebens verbind liche Regeln zu geben. Und es ist notwendig, dass Menschen sich spezialisieren auf die Aufgaben der Steuerung des Gemeinschaftslebens, also das Geschäft der Verwaltung und Politik. Im Kontext politischer Gemeinschaften entsteht dabei unter anderem auch die Institution des Rechts als grundlegende Nor mierung des Handelns. Rechte beinhalten, was Menschen in einer Gemein schaft dürfen bzw. was verboten ist. Dabei geht es um Eigentum, das Schließen von Verträgen, grundsätzliche Vorgaben für das Familienleben, Bestimmungen für Handel und Gewerbe, die Aufgaben der Staatsverwaltung, Steuern, Straf gesetze, die Reichweite individueller Freiheiten und vieles mehr. Es ist auch festzuschreiben, was diejenigen, die die Macht besitzen, tun dürfen oder wobei ihrer Macht Grenzen gesetzt sind. Unter politischen Ängsten sollen diejenigen Ängste verstanden werden, die Menschen deshalb haben, weil sie in einem Staatswesen leben, das Regeln vor gibt und Verstöße gegen diese Regeln ahndet, dem Handeln Grenzen setzt, Strafen verhängt und auf diese Weise gravierend ins Leben der Menschen ein greifen kann. Es sind zunächst einmal die Ängste vor denjenigen, die die poli tische Macht ausüben und dadurch auch über Gewaltmittel verfügen wie Mili tär, Polizei und Gefängnisse. Aber die Perspektive lässt sich auch umdrehen, denn es gibt auch die Ängste der Machthaber vor dem Volk. Nicht nur Mo narchen, Despoten oder Diktatoren leben in permanenter Angst, ermordet oder gestürzt zu werden, auch die demokratisch gewählten Machteliten entwickeln © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Frischmann, Angstwesen Mensch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67876-3_7
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Befürchtungen, bei der nächsten Parlamentswahl nicht mehr genug Stimmen zu bekommen, um weiterhin an der Regierung mitwirken zu können, damit dann aber auch an Macht, Einfluss und Prestige zu verlieren. Doch dies sind selbstverständlich sehr unterschiedliche Ausformungen von Ängsten. Aber sie sind als politische Ängste von spezieller Art, denn sie werden ausgeprägt auf grund der Konstellation, dass Menschen über andere Menschen herrschen und dafür Machtinstrumente einsetzen. Sie haben etwas damit zu tun, dass und wie politische Macht ausgeübt wird, wie der jeweilige Gewaltapparat zur Macht sicherung operiert, wie die Rechtsinstitutionen funktionieren und wie ins gesamt das politische Selbstverständnis einer Gesellschaft aussieht. Politische Ängste drehen sich um den Platz, den man selbst in der politischen Gemein schaft hat, ob man zur politischen Elite oder zu einer diskriminierten und ver folgten Bevölkerungsgruppe gehört. Aber politische Ängste können sich auch in allgemeinerer Hinsicht darauf beziehen, wie die politische Kultur einer Ge sellschaft aussieht, ob sie freiheitlich-demokratisch oder totalitaristisch ist, denn davon sind die Lebensumstände der Menschen direkt und indirekt betroffen.
7.1 Politik und Macht Auch im ganz normalen Alltag gibt es Machtverhältnisse, dominieren die einen über die anderen, sei es körperlich, psychisch oder intellektuell, finanziell oder sozial. Dies funktioniert immer so lange, bis dann jemand auf der Bildfläche er scheint, der noch stärker, aggressiver, rücksichtsloser auftritt, der charismati scher ist, der größere Überzeugungsfähigkeit besitzt und andere besser mani pulieren kann oder der einfach mehr Energie und Durchhaltevermögen be sitzt. Dabei spielt immer auch eine Rolle, welcher Bereich der Macht tangiert ist. Politisch gesehen geht es um die Gesellschaft als Ganzes. Politik ist das Regulierungsprinzip des Zusammenlebens in einer Gemeinschaft. Sie muss dafür verbindliche Regeln vorgeben. Aber gerade diese Verbindlichkeit ist ver bunden mit Macht- und Herrschaftsstrukturen, denn ohne die Durchsetzbar keit, zur Not auch mit Zwang, haben diese Regeln keine Geltungskraft, lässt sich das Befolgen von Regeln nicht erreichen und kontrollieren, sind sie also nichts wert. Nach der Art der Ausübung der politischen Macht unterscheiden sich die verschiedenen politischen Systeme. Dies sind als Grundformen seit der Antike vor allem Arten der Einzelherrschaft (Monarchie, Despotie, Autokratie), die Herrschaft mehrerer Auserwählter oder Würdiger (Aristokratie) und die Machtausübung des gesamten Volkes (Demokratie). Dementsprechend sind die politischen Ängste in verschiedenen politischen Systemen auch unter schiedlich ausgeprägt und verteilt. Die politischen Ängste der Bevölkerung sind in ihren Inhalten und ihrer Intensität abhängig von der Art der politischen Herrschaft. Die jeweiligen Träger der Macht können sehr unterschiedliche politische Strategien einsetzen, um ihre Macht zu erhalten und zu festigen. Re ligiöse Führer agieren aus anderen Erwägungen und mit anderen Instrumen ten als weltliche Fürsten, politische Parteien in einer Demokratie anders als
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eine Königin in einer Monarchie. Eine Regierung oder eine Herrscherin bzw. ein Herrscher können über demokratische Einbindung, Diskussion und Ab stimmungen oder durch die Ausübung brutalster Gewalt ihre politischen Ziele verfolgen. Je größer die Machtfülle an der Spitze des Staates ist, zum Beispiel in einer Despotie oder Diktatur, umso weniger Rechte haben die einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Eine Diktatur oder Despotie sind gerade dadurch ge kennzeichnet, dass sich niemand sicher fühlen kann, dass oft extreme Gewalt eingesetzt wird. Die gesamte Machtausübung kalkuliert mit den Ängsten der Menschen, die stets um Leben, Gesundheit und Existenz fürchten müssen. Sie werden dadurch erpressbar und begehren nicht auf gegen die Herrschaftselite. Wie aber die Geschichte zeigt, hat diese Politik der Angst auch ihre Grenzen. Wird das Leben so stark eingeschränkt, dass das Leid die Ängste überwiegt, kann es zum Aufbegehren der Bevölkerung und sogar zum Umsturz des politi schen Systems kommen, wie anhand von Diktaturen später in diesem Kapitel noch zu zeigen sein wird. In einer Demokratie mit Gewaltenteilung und damit wechselseitiger Kon trolle der Staatsorgane erwachsen für die Bürgerinnen und Bürger viel gerin gere politische Bedrohungspotenziale, dementsprechend sind auch die politi schen Ängste weniger stark ausgeprägt. Denkt man von den Ängsten her, kann man sagen, dass sie in politischer Hinsicht so etwas wie ein Gradmesser für den politischen Zustand einer Gesellschaft und die Handlungsmöglichkeiten der Menschen sind. Je weniger politische Ängste Menschen haben, desto egalitä rer, liberaler und menschenzugewandter ist die Politik. Doch vollkommen frei von politischen Ängsten ist kein Staatswesen, denn Machtausübung beinhaltet immer auch Formen der Disziplinierung und Sanktion. Auch im besten Rechts system geschehen im Einzelfall Fehler und werden ungerechte oder falsche ju ristische Urteile gefällt. Politische Entscheidungen, selbst im besten Willen ge troffen, wirken sich auf die verschiedenen Menschen in ihren unterschiedlichen konkreten Lebenslagen besser oder weniger gut aus. Da politische Gebilde eine Vielzahl von Menschen zusammenschließen, die unterschiedliche Lebensvorstellungen und Interessen haben, verschiedenen so zialen Ständen oder Gruppierungen angehören, über mehr oder weniger ma teriellen Reichtum verfügen, geht es stets auch darum, die Interessen einzelner Gruppen oder sogar der Mehrheit gegen Minderheiten, aber auch von Minder heiten gegenüber der Mehrheit, zu behaupten und zu schützen. Die Macht mittel sind dabei vielschichtig, teils sind es Belohnungen für konformes Ver halten, Ehren, Ämter oder Güter, teils Strafen, von milden Geldstrafen über körperliche Peinigung bis hin zur Todesstrafe. Historisch gesehen ist die Menschheit überaus einfallsreich, wenn es darum geht, den Feinden und Ver brechern, oder die man als solche ansieht, Leid zuzufügen, sie zu Geständ nissen zu bringen, Wiedergutmachung einzufordern oder schlimme Taten zu sühnen. Das Schüren von Ängsten wird dabei politisch und juristisch gezielt eingesetzt, um vermeintliche Kriminelle oder Sünder „weichzukochen“, damit sie ihre Taten gestehen, und vor allem die Bevölkerung abzuschrecken. Jede öffentlich inszenierte Bestrafung dient solchermaßen der Abschreckung. Dabei
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scheint es zunächst so zu sein, dass das Erzeugen von Ängsten eingesetzt wer den kann, um Menschen leichter zu gehorsamen Untertanen zu machen. Da rauf setzen brutale Regime. Sie gehen davon aus, dass die Menschen umso weniger Widerstandsfähigkeit gegenüber Willkür und Terror haben, je stärker eine tief verwurzelte Angststimmung eine Gesellschaft gefangen hält. Doch das Hochpeitschen von Ängsten kann auch aus dem Ruder laufen, es können Massenpaniken entstehen, die alles überrollen, wie das Beispiel der Großen Furcht zu Beginn der Französischen Revolution 1789 gezeigt hat (Abschn. 6.6). Ängste können so unerträglich werden, dass die Menschen lieber bereit sind zu kämpfen, als in einer permanenten Angst zu leben. Ja, sie können so tief aus geprägt sein, dass sie dazu führen, dass sich Menschen plötzlich zu Helden taten aufschwingen, die sie unter normalen Bedingungen niemals für möglich gehalten hätten. Doch welche Ängste jeweils gesellschaftlich wirksam werden und wozu Menschen durch ihre Ängste getrieben werden, ist immer ein Stück weit unberechenbar. Politische Gemeinschaften hängen stets ab von den jeweiligen historischen Gegebenheiten und zu bewältigenden Problemen. In Friedenszeiten und bei guter Ernte sieht die Situation anders aus als in Zeiten von Krieg, Hungers nöten und Naturkatastrophen. Politik hat hier die Möglichkeit zu regulieren, das Gedeihen zu fördern, sozialen Ausgleich zu schaffen und Auswüchse zu verhindern. Oder sie kann das Gegenteil bewirken, nämlich Spannungen ver schärfen, Nöte vergrößern, die Bereicherung einiger Weniger legitimieren und Kriege anzetteln. Dabei ist nicht zu unterschätzen, dass oft auch unterschied liche Akteure mitmischen, die ihre Interessen durchsetzen wollen und sich dafür gezielt auch die Ängste der Menschen zunutze machen. Machiavelli fragte Anfang des 16. Jahrhunderts, in einer aristokratisch ge prägten Zeit, ob ein Fürst eher grausam oder milde sein, ob er besser geliebt oder gefürchtet werden sollte. Und schon Machiavelli wies darauf hin, dass sich diese Frage nicht abstrakt beantworten lässt, sondern die bevorzugte Strategie abhängig sein sollte von den jeweiligen politischen Konstellationen. Im Krieg ist die Situation anders als im Frieden, in Zeiten des Wohlstands anders als in der Not, in der es ums nackte Überleben geht. Großflächige Staaten müssen anders geleitet werden als kleine Stadtstaaten. Verschiedene Straftaten haben unterschiedliche Bedeutung für eine Gesellschaft. Wenn jemand eine Schachtel Zigaretten im Supermarkt stiehlt, ist dies anders zu bewerten, als wenn er seine Frau verprügelt. Ein Verkehrsunfall aus Unachtsamkeit hat einen anderen juris tischen Stellenwert als ein Terrorakt, der mit einem LKW ausgeübt wird. Regeln und Sanktionen sind notwendig, um eine gewisse Grundordnung in Gesellschaften zu bringen. Doch es ist für jede Herrschaftsausübung, für jede Gestaltung von Politik stets eine zentrale Frage, wie viel Gewalt eingesetzt wer den darf. Ist die Todesstrafe gerechtfertigt? Wann werden die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger zu stark eingeschränkt? Welche Vorschriften sind unbedingt notwendig? Denn sind die Gesetze und die Strafen bei Gesetzesver stößen zu streng, fühlen sich die Menschen bevormundet und eingeengt. Sind sie hingegen zu lasch, entstehen auch schnell unliebsame Strukturen. Wenn der
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Staat kriminelle Banden gewähren lässt, werden sie sich immer weitere Ein flussgebiete erobern. Gäbe es überhaupt keine Verkehrskontrollen mehr, würde sich nach einiger Zeit vielleicht niemand mehr so recht an die Straßenverkehrs ordnung halten. Ampeln und Verkehrszeichen stünden dann umsonst an den Straßen herum. Dann würde aber auch das Verkehrsgeschehen insbesondere in Ballungszentren chaotische Formen annehmen. Mit diesen Problemen ist die Politik von Anfang an befasst. Doch über die Jahrhunderte haben sich die politischen Maßstäbe und die historischen Um stände gravierend geändert. War in der Antike die Sklaverei normal, ist dies bei den politischen und moralischen Vorstellungen von Menschenrechten, Ge rechtigkeit und Freiheit nicht mehr der Fall. Mit der Herausbildung liberaler und demokratischer Grundrechte, mit den Ideen von Gleichheit und Gleich berechtigung im Zuge der bürgerlichen und säkularen Entwicklung in einer ganzen Reihe von Ländern ist es nicht mehr selbstverständlich, dass es eine Monarchin oder einen Monarchen von Gottes Gnaden gibt, die absolut und ohne Einschränkung ihre Macht ausüben, die selbst das Gesetz verkörpern und in ihrer absolutistischen Funktion über dem Gesetz stehen, ohne eine kontrol lierende und einschränkende politische Instanz. Klassische Philosophen wie Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant oder Johann Gottlieb Fichte entwickelten Theo rien, die davon ausgehen, dass Menschen ganz prinzipiell und unabhängig von der jeweiligen politischen Verfassung grundlegende Rechte haben. Sie lieferten eine Argumentation, in der sie zu begründen versuchten, warum Menschen überhaupt freiwillig bereit sein könnten, sich politischer Herrschaft zu unter werfen. Sie hatten eine neue, grundlegende Begründungsidee für politische Herrschaft, nämlich, dass Menschen so etwas wie einen Vertrag schließen, wie sie zusammenleben wollen. Dieses Modell eines Gesellschaftsvertrags ist als Kontraktualismus in die Theoriegeschichte eingegangen. Um diese Idee plau sibel zu machen, wird als eine Art Denkexperiment von der Vorstellung aus gegangen, wie Menschen in einem nicht staatlichen oder vorstaatlichen Zu stand miteinander leben würden. Dabei wird ihnen in diesem gedachten naturhaften Urzustand zugeschrieben, dass sie alle frei und gleich geboren sind (es gibt ja noch keine Machtstrukturen), ein natürliches Recht auf Selbst erhaltung und Selbstverteidigung haben und für ihren Lebensunterhalt durch eigene Aktivität sorgen können. Das Land ist noch nicht aufgeteilt und steht allen gleichermaßen zur Nutzung zur Verfügung. Wie wird sich von hier aus die Menschheit entwickeln? Die Szenarien sind unterschiedlich drastisch ge malt, je nachdem, von welchen Annahmen jeweils ausgegangen wird. Stets ist aber klar, dass es angesichts endlicher Ressourcen und verschiedener individu eller Begehrlichkeiten der Menschen schnell zum Konflikt kommen muss. So werden sich über kurz oder lang einfach die Stärkeren durchsetzen, denen aber andere, noch Stärkere in die Quere kommen können. Es fehlen Regeln, wie Streitigkeiten zu schlichten sind. Es fehlen Instanzen, die in Streitfällen mög lichst neutral entscheiden. Deshalb ist es das zentrale Argument der Kontrak tualisten, dass es letztlich für alle vernünftig ist, sich zu einem politischen
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emeinwesen zusammenzuschließen und sich auf Strukturen und Institutio G nen zu einigen, die eine Grundabsicherung der Freiheitsrechte und des Eigen tums gewährleisten. Dabei können die politischen Formen sehr unterschiedlich sein: konstitutionelle Monarchie (Hobbes), repräsentativ-demokratisch (Locke) oder direktdemokratisch (Rousseau). Interessant ist dabei, dass Thomas Hobbes in seinem berühmten Buch Leviathan (1651), in dem er erstmals eine solche Vertragsidee als politisches Be gründungsmodell ausformuliert, speziell auch mit Verweis auf die Ängste der Menschen argumentiert. Er sieht diese Ängste vor allem im angenommenen, vorpolitischen „Naturzustand“ gegeben, in denen es noch keine politischen und rechtlichen Strukturen gibt. Versetzen wir uns in einen solchen fiktiven Urzustand. Die Menschen verfolgen ihre egoistischen Interessen, agieren nicht immer vernünftig und mit Bedacht, sondern sind auch getrieben von Emotio nen und Affekten. Sie geraten deshalb miteinander in Streit. Die materiellen Lebensgrundlagen, Land, Rohstoffe, Naturgüter, sind zudem immer nur in begrenztem Umfang vorhanden, sodass zwangsläufig Verteilungskämpfe ent stehen. Der naturwüchsige Zustand ist deshalb letztlich ein potenzieller Kriegs zustand, ein „Krieg eines jeden gegen jeden“,1 in dem jeder des anderen Feind ist und das Leben letztlich voller Schrecken. Um sich so weit wie möglich ab zusichern, versucht nun jeder, seine Macht so weit wie möglich zu vergrößern. Da dies aber als private Anstrengung nie ausreichend gelingen kann, „herrscht ständige Furcht und die Gefahr eines gewaltsamen Todes; und das Leben des Menschen ist einsam, armselig, widerwärtig, vertiert und kurz“.2 Dieser elende Zustand lässt sich nach Meinung von Hobbes nur überwinden durch die Eta blierung einer staatlichen Macht, die alle gleichermaßen fürchten, weil sie stär ker ist als alle Einzelnen. Denn solange es keine starke staatliche Gewalt gibt, können die Menschen niemals ihres Lebens, ihrer Freiheit und ihres Besitzes sicher sein. Er plädiert für die Monarchie als bester, weil seiner Meinung nach sicherster Staatsform. Seine Überlegungen müssen verstanden werden vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkriegs der 1640er-Jahre, in dem es teils um die religiöse Ausrichtung des Landes, teils um die Rechte des Parlaments gegen den König ging. 1649 wurde der damalige englische König, Karl I., vom High Court of Justice des Hochverrats für schuldig befunden, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Für Hobbes wurde angesichts dieser unruhigen Zeit der in nere Frieden im Staat zum ausschlaggebenden Kriterium für die Beurteilung einer politischen Verfassung, weniger ging es ihm um individuelle Freiheit. Er hielt zwar auch eine parlamentarische Demokratie für möglich, sah aber in der Monarchie größere Chancen für die Gewährleistung von Sicherheit, Stabilität und Frieden. Mit diesem Modell stellt sich aber die Frage nun von der anderen Seite her: Wer schützt die Bürger vor der Staatsgewalt, wenn diese sich vielleicht ver selbstständigt und nicht mehr dem Wohl des Volkes dient? Hobbes antwortet: 1 2
Hobbes 1996 [1651], S. 104. Hobbes 1996 [1651], S. 105.
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Werden Gewalt und Terror massiv gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt, um sie politisch in Schach zu halten, entartet die Machtausübung in die Dikta tur. Dann aber hat der Herrscher seine politische Legitimation selbst verspielt und sein Sturz wird über kurz oder lang die Folge sein.
7.2 Politische Extremform: Diktatur und Totalitarismus Eine Diktatur ist dadurch gekennzeichnet, dass sich der oder die Machthaber sehr weitreichende Befugnisse der Machtausübung anmaßen, dies durch ent sprechende Strukturen wie Militär, Polizei, Geheimdienste, Justiz sicherstellen und die Individualrechte der Menschen sehr weit einschränken. Sie können aus Monarchien heraus entstehen, indem sich der Monarch zum Despoten und Diktator entwickelt oder auch ein Militärregime die Herrschaft übernimmt. Sie kann aber auch als die Machtausübung einer Partei oder sozialen Klasse ge bildet werden. Im 20. Jahrhundert musste die Menschheit die Erfahrung ma chen, wie politische Großvorhaben zu totalitären Staatswesen und Diktaturen entwickelt werden konnten, insbesondere im Nationalsozialismus, Stalinismus, Maoismus oder in Nordkorea. Eine Diktatur wird dann „totalitär“, wenn ihr Anspruch nicht einfach darin besteht, umfassende Macht auszuüben, sondern „allumfassend“ zu wirken, die ganze Gesellschaft zu durchdringen und funda mental umzubauen und sogar das Wesen des Menschen selbst zu ändern. Wie aber funktioniert eine extremistische, totalitäre Gewaltherrschaft, vor allem in einer historischen Epoche, die schon die politische Form der liberalen Demokratie kennt, als deren radikaler Gegenspieler sie etabliert wird? Solche totalitären Regime3 haben folgende Gemeinsamkeiten: Sie entstehen in der Folge einer tiefen gesellschaftlichen Krise, die es ermöglicht, eine soziale Uto pie als Gegenmodell zur bisherigen Gesellschaft zu präsentieren, bei Stalin der Kommunismus, bei Hitler die Annahme der Überlegenheit der arischen Rasse. Für die Umsetzung dieser Zukunftsvision wird oft die Weltherrschaft an gestrebt. Zugleich ermöglicht es die Doktrin, ein klares Feindbild zu ent wickeln, nämlich alle diejenigen Kräfte oder Gegebenheiten, die dem eigenen Ziel entgegenstehen: bei Hitler alle minderwertigen Rassen, bei Stalin alle die jenigen, die dem kommunistischen Gesellschaftsideal nicht entsprechen, vor allem die Großbauern und Kapitalisten, zum Teil auch die Intellektuellen, die ein störendes kritisches Potenzial darstellen. Die totalitären Regime werden getragen von einer hierarchisch organisierten Massenpartei, an deren Spitze ein Führer und eine Führungselite stehen. Sie haben eine Ideologie, die die politi sche Grundidee erläutert, die Regeln vorgibt und in der Form einer um fassenden Propaganda dem Volk immerwährend eingetrichtert wird, um eine ideologische Gleichschaltung zu erreichen. Die Führungsschicht verfügt über alle staatliche Macht, die sie ohne jegliche Kontrolle und vollkommen willkür lich ausüben kann, auch unter Zuhilfenahme aller terroristischen Mittel, wenn 3
Vgl. dazu Jesse 1999.
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dies nötig ist. Sie herrscht uneingeschränkt. Die Macht dieser totalitären Be wegungen stützt sich einerseits auf eine Akzeptanz durch größere Be völkerungsteile, andererseits auf die Ausübung von Terror und Vernichtung von Andersdenkenden. Oft gibt es hierfür spezielle Einrichtungen wie Kon zentrations- oder Arbeitslager. Die totalitaristische Weltanschauung macht einen absoluten Wahrheitsanspruch geltend und duldet keine Kritik. Die Partei kontrolliert und bestimmt die gesamte Gesellschaft, die Wirtschaft, die Informationsmedien, die Bildungs- und Kultureinrichtungen und möglichst weitgehend auch das private Leben der Menschen. Damit verfügen die Führer dieser Partei über eine unermessliche Machtfülle. Die Härte, mit der solche Regime geherrscht haben oder noch herrschen, schlägt sich in den Opferzahlen nieder. Der Zweite Weltkrieg hat nach Schät zungen 60 Mio. Menschen das Leben gekostet, ca. 6 Mio. Juden wurden Opfer des Nationalsozialismus, der Stalinismus hat in seinen Säuberungs aktionen mehrere Millionen Menschen eliminiert. Der chinesischen „Kultur revolution“ unter Mao fielen ebenfalls mehrere Millionen Menschen, vielleicht sogar bis zu 20 Mio., zum Opfer. Dies sind die Ergebnisse des Totalitarismus innerhalb weniger Jahrzehnte seiner Herrschaft: die Hitler-Diktatur 12 Jahre von 1933 bis 1945, die Stalin-Diktatur 26 Jahre von 1927 bis 1953, die maois tische Säuberungsaktion 10 Jahre von 1966 bis 1976. Im 20. Jahrhundert haben sich weltweit nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem im Zuge der lang wierigen Entkolonialisierungsprozesse auch zahlreiche Diktaturen heraus gebildet, so in Spanien und Griechenland, in Chile, Argentinien und Brasilien, in Nordkorea, Kambodscha und Myanmar, ebenso in vielen Ländern Afrikas. Diktaturen haben ihren Boden in fundamentalen Krisen, Erschütterungen und historischen Umwälzungen. Sie können äußerst aggressiv sein. Aber sie haben sich nie zu längerfristig stabilen Machtformen entwickelt.
7.3 Terror und die Erzeugung von Ängsten als Herrschaftsinstrumente Montesquieu hat im 18. Jahrhundert in seinem Werk Vom Geist der Gesetze drei verschiedene politische Regierungsformen unterschieden: Republik (als Demo kratie oder Aristokratie möglich), Monarchie und Despotie. Die Differenz zwi schen Monarchie und Despotie besteht darin, dass der Monarch nach Gesetzen herrscht, der Despot aber ohne Gesetze, also aus reiner Willkür. Die drei Staatsformen sind Montesquieu zufolge jeweils gekennzeichnet durch ein be stimmtes Prinzip des Regierens: Die Republik ist bestimmt von der Idee der Tugend, die Monarchie ist von der Idee der Ehre geleitet, die Despotie hin gegen von „terreur“ (was sowohl mit Terror als auch mit Schrecken oder Furcht übersetzt werden kann).4 Entsprechend dieser verschiedenen politischen Grundprinzipien gestaltet sich auch das Leben in den entsprechenden politi schen Gemeinschaften sehr unterschiedlich. Republik und Monarchie sind im 4
Montesquieu 1994 [1748], 3. Buch.
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idealen Sinn darauf aus, eine Politik für das Wohl des Volkes oder zumindest eines Teils davon zu betreiben, während die Despotie nur auf die Eigen interessen des Herrschers ausgerichtet ist und aufgrund seiner Alleinherrschaft, die vollkommen willkürlich agieren kann, für das Staatsvolk große Unsicher heit mit sich bringt. An Montesquieus Unterscheidung knüpft Hannah Arendt in ihrer Analyse des Totalitarismus an. Sie macht geltend, dass der latente Terror der Despotie die Menschen ständig in Furcht hält und dass gerade dies die Gesellschaft untergräbt. „Der äußere Zwang des Terrors vernichtet mit der Zerstörung des Raums der Freiheit alle Beziehungen zwischen Menschen“.5 Deshalb ist ihrer Meinung nach die so erzeugte Furcht ein Zustand, der Politik unmöglich macht. „Furcht ist daher eigentlich gar kein Prinzip des Handelns, sondern im Gegenteil die Verzweiflung, nicht handeln zu können; innerhalb des politi schen Bereichs ist sie eine Art antipolitisches Prinzip.“6 Das heißt, dass da, wo solche Furcht herrscht, wo also starke politische Ängste entstehen, kein selbst bestimmtes politisches Agieren möglich ist. Allen Diktaturen ist gemeinsam, dass sie ihre Herrschaft mit Mitteln der Ge walt, des Terrors, der Abschreckung durchsetzen und aufrechterhalten. Jede Form von Terrorismus bedient sich des Funktionsprinzips, durch Gewaltan wendung Furcht und Schrecken zu verbreiten. Terrorismus hat seine Be sonderheit darin, dass er möglichst unberechenbar und unvorhersehbar agiert, das heißt aber auch, dass es prinzipiell jeden, jederzeit und an jedem Ort tref fen kann, man sich niemals in einem terroristischen Regime sicher fühlen kann. Dies bringt für die Bevölkerung ein beständiges Gefühl der Bedrohung und damit gesteigerte und anhaltende Ängste mit sich. Man kann tendenziell immer Opfer der Diktatur werden, selbst als treuester Anhänger, wie die stali nistischen „Säuberungsaktionen“ in den eigenen Reihen beweisen. Die Er zeugung eines Klimas, das die Ängste der Menschen auf einem hohen Level hält, wird dabei strategisch bewusst als Mittel der Machtausübung eingesetzt. Die psychologische Seite des Terrors besteht darin, dass die praktizierte Härte und Gewalt gezielt eingesetzt werden, um die Menschen insgesamt in der Ge sellschaft zu verunsichern und eine Angstatmosphäre zu erzeugen, sodass die Erreichung der eigenen Ziele gerade dadurch befördert wird, dass niemand wagt, dem politischen Kurs entgegenzuwirken. Ständig präsente Ängste sollen die Gegner lähmen und widerstandsunfähig machen. Vor allem in totalitären Regimen wird der Terror durch die staatlichen In stitutionen selbst als Instrument der Machtausübung eingesetzt. Die an gestrebten fundamentalen gesellschaftlichen Umwälzungen sind so gewaltig, dass sie nur realisierbar erscheinen durch extreme Mittel und Methoden, vor allem durch einen vom Staat selbst ausgehenden Terror gegenüber den „Fein den“ der eigenen Ideologie. So kann schon der „Grand Terreur“, die Terror herrschaft der Jahre 1793/94 während der Französischen Revolution, als eine 5 6
Arendt 2005 [1955], S. 970. Arendt 2005 [1955], S. 973.
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Form von Staatsterror angesehen werden. Er richtete sich gezielt gegen alle, die als Feinde der Revolution identifiziert oder zumindest als solche beschuldigt wurden, Adlige, Beamte, sonstig Verdächtige, gegen die mit Fortschreiten des Terrors mit immer härteren Strafen und immer willkürlicher vorgegangen wurde. Für die Beschuldigten auf der anderen Seite gab es immer weniger ju ristische Verteidigungsmöglichkeiten. Die Macht des eigens geschaffenen „Revolutionstribunals“ war unbeschränkt, es gab keine Berufungsmöglichkeit. Mehrere Zehntausend Menschen wurden Opfer dieses Revolutionsterrors in Frankreich. Von einem solchen Staatsterrorismus sind die terroristischen Anschläge, die durch einzelne Personen oder Gruppen verübt werden, prinzipiell abzu grenzen. Einzelne terroristischen Anschläge dienen dazu, politische, religiöse oder auch ganz individuelle Ziele durchzusetzen. Beim politisch motivierten Terrorismus der Roten Armee Fraktion in der Bundesrepublik der 1970er-bis 1990er-Jahre galten die Anschläge bestimmten Personengruppen, die als Ver treter des herrschenden ökonomischen und politischen Systems angesehen wurden, das durch diese Anschläge geschwächt werden sollte. Rechts extremistische Terroranschläge richten sich häufig gegen bestimmten Personen oder Gruppen wie beispielsweise Migranten oder unliebsame Politiker. Dieser Gruppenterrorismus nimmt es in Kauf, großen materiellen Schaden anzu richten und Menschen zu töten, um die eigenen Ziele zu verfolgen. Dabei werden zum Teil symbolische Ziele ausgesucht, so das World Trade Center 2001 oder Botschaftsgebäude. Oft dienen aber auch einfach nur belebte Plätze als Zielscheiben des Terroraktes, die einzelnen Opfer werden nicht vorher aus gesucht, sondern sind zufällig. Dementsprechend kann man sich auch nicht davor schützen, jeden Menschen kann es treffen. Die Schutzfunktion des Staa tes scheint außer Kraft gesetzt zu sein. Der Staat reagiert auf Terrorbedrohungen meist mit Maßnahmen, die Schutz suggerieren, aber er kann dies nur um den Preis tun, groß angelegte Fahndungen, Kontrollen und Untersuchungen zu starten. Damit erscheint die Gefahr noch größer, als sie vielleicht in Wirklich keit ist. In Deutschland sind in jüngerer Zeit nur wenige Menschen wirklich Opfer terroristischer Anschläge geworden. Es waren in den letzten 30 Jahren in Deutschland zusammengenommen ca. 100 Todesopfer von Terroran schlägen auf dem Territorium der Bundesrepublik zu beklagen, davon waren ca. drei Viertel rechtsextremistisch bzw. ausländerfeindlich.7 Demgegenüber sterben in Deutschland jährlich ungefähr 10.000 Menschen bei Unfällen im Haushalt8 und auch pro Jahr bis zu 300 Menschen an verschluckten Kugel schreiberteilen.9 Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu wer den, ist im Vergleich zur Möglichkeit, bei einem Unfall ums Leben zu kommen, 7 Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Terroranschlägen_in_Deutschland_seit_1945 (Zugriff 09.03.2023). 8 Quelle: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todes ursachen/Tabellen/sterbefaelle-unfaelle.html (Zugriff 09.03.2023). 9 Quelle: https://german-rifle-association.de/warum-kugelschreiber-toedlicher-sind-als-schuss waffen (Zugriff: 09.03.2023).
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ungleich geringer. Dennoch fühlen sich die Menschen unbegründeter Weise von Terrorismus viel stärker bedroht als von der Leiter, auf die sie beim Fenster putzen steigen. Durch die polizeilichen Maßnahmen zur Terrorbekämpfung sehen sich die Menschen einerseits beschützt, andererseits erhalten die Ängste so aber auch weitere Nahrung, denkt man an die Absicherung der Weihnachtsmärkte mit Betonpollern in ganz Deutschland nach dem Anschlag auf den Weihnachts markt am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016. Zudem wird die Wirk samkeit der Angsterzeugung durch die modernen Informationsmedien noch einmal zusätzlich angeheizt, wenn die Bilder der Anschläge immer und immer wieder vorgespielt werden. Sie nehmen breiten Raum in der öffentlichen Wahr nehmung ein und verdrängen tage- und wochenlang die Berichte über alle an deren Ereignisse. Den Zusammenhang von Ängsten und Terror hat Daniel Suter genauer untersucht. Auch er geht davon aus, dass sowohl die Machthaber als auch die von der Machtausübung Betroffenen in totalitären, terroristischen Systemen von Ängsten gekennzeichnet sind. Totalitäre Herrschaft besteht darin, ein gro ßes gesellschaftliches Ziel mit allen Mitteln realisieren zu wollen und dafür die als Feinde angesehenen Menschen oder Menschengruppen zu verfolgen und zu vernichten. Dieser Vernichtungsideologie liegen tiefe Ängste vor denjenigen Menschen zugrunde, die als Feinde identifiziert und damit als Bedrohung an gesehen werden. Dabei spielen oft Verschwörungsmythen eine Rolle wie zum Beispiel im Nationalsozialismus die „jüdische Weltverschwörung“ oder im Stalinismus „Weltkapitalismus“, „Revisionismus“ oder „Trotzkismus“. Über die paranoide Psyche Stalins gibt es viel Literatur. Auf der anderen Seite steht das Staatsvolk, zum einen diejenigen, die dabei selbst die Verfolgten sind, zum anderen jene, die in einem permanenten Zustand der Ungewissheit leben und versuchen, nicht zu Verfolgten zu werden. Suter vertritt in seiner Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Terrors in totalitären Regimen die These, dass beide Seiten, Machthaber und Ver folgte, nicht nur in ständigen Ängsten leben, sondern dass sie gerade durch diese Ängste auch wechselseitig miteinander verbunden sind. Dies zeigt sich vor allem an denjenigen Aktionen, die zur „Säuberung“, also der Vernichtung der als solche angesehenen Feinde, dienen sollen. „Das Denken und Handeln nicht nur der Verfolgten, sondern dasjenige ihrer Verfolger ist von Angst be stimmt. Die Angst der Verfolgten steht mit der Angst der Verfolger in einer engen Wechselbeziehung, und dieses Zusammenwirken beeinflußt den Verlauf einer Säuberung. Sie verdichtet sich zum Terrorprozeß, indem die Angstvorstellungen beider Seiten sich durch den Einbezug von Angst- Abwehrmechanismen reziprok potenzieren und der Säuberung dadurch eine wachsende Eigendynamik verleihen.“10 Da in totalitären Staaten aber nicht nur einige wenige Personen als Feinde gelten, sondern ganze Gruppen oder Staaten, entsteht eine dauerhafte, alle Suter 2020, S. 9.
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Lebensbereiche durchdringende Stimmung diffuser Ängste, die ein wesent liches Merkmal des Totalitarismus darstellt. Dabei wird das Schüren von Ängs ten durchaus gezielt eingesetzt, um die Bevölkerung zu disziplinieren und ge fügig zu machen, damit sie bereit ist, an der Umsetzung der angestrebten politischen Ziele mitzuwirken. Hierzu ist nicht nur die massive Überwachung der Menschen notwendig, sondern auch die unablässige demagogische In filtrierung. Solche Maßnahmen sind aber ihrerseits nur einsetzbar, wenn eine umfassende Weltanschauung oder Ideologie die gesamte totalitäre Politik fun diert. Sie gibt die politische Vision vor, bestimmt die Wege dorthin und mar kiert das Feindbild. Je klarer das Feindbild konturiert ist, zum Beispiel „Die Juden“, umso sicherer wähnen sich diejenigen, die erst einmal nicht zum „Feind“ gehören. Wird das Feindbild aber stark offengehalten, insbesondere bei den kommunistischen Zielbestimmungen, wirkt sich dies desaströs auf die Entwicklung der Ängste aus. Wie die stalinistischen „Säuberungsaktionen“ zei gen, können immer weitere Gruppierungen zum Feind erklärt werden. Selbst die eigenen politischen Fehler der Machthaber, die zu schlimmen Missernten, Hungersnöten und zu wirtschaftlichem Versagen führten, wurden so um gedeutet, dass sie dann den dazu erklärten Saboteuren, Verrätern und Volks feinden in die Schuhe geschoben werden konnten. Die Kapazität des Terrors, Ängste zu schüren und die Menschen nie zur Ruhe kommen zu lassen, liegt also in zweierlei: Zum einen beruht er inhaltlich auf der Unberechenbarkeit, wer davon betroffen sein könnte, gegen wen sich bestimmte Aktionen richten könnten, was einen bei der Inhaftierung erwartet, ob man gefoltert wird, ob man überlebt, was mit der Familie geschieht. Un gewissheit ist immer der Nährboden von Ängsten. Zum anderen gibt es eine quantitative Komponente, denn die Terror-Ängste resultieren auch aus der Vorstellung davon, mit welch extremer Brutalität bis hin zur Vernichtung der Terror eingesetzt wird und dass er nicht ein Einzelfall ist, sondern flächen deckend vorgeht. Doch Terror muss politisch so gehandhabt werden, dass er nicht ins Gegen teil umschlägt. Die terroristische Strategie hat einen starken Effekt und zu gleich untergräbt sie sich selbst. Auf der einen Seite ängstigen sich Menschen immer um Leib und Leben, um Gesundheit und Existenz, um ihr Ansehen in der Gesellschaft und ihre Karrierechancen, um das Wohlergehen ihrer Familie und ihrer Freunde. Mit diesen Ängsten sind sie erpressbar. Auf der anderen Seite werden Ängste als leidvoll erlebt und können dazu führen, dass sich der Selbstbehauptungswille gegen die Verursacher dieser Ängste richtet, sich ein subversives Widerstandspotenzial gegen die Machthaber ausbildet und das Sys tem selbst gefährdet. Eine Diktatur, die nur auf Gewalt und Schrecken beruht, kann nicht lange Bestand haben. Deshalb kennen Diktaturen nicht nur die Peitsche, sondern auch das Zuckerbrot, nicht nur Strafe, sondern auch Be lohnungen und Privilegien für ihre Anhänger. Und sie müssen durch ihre poli tische Vision viele Menschen an sich binden können, sie brauchen eine breite Bevölkerungsbasis. So schreibt Hannah Arendt: „Totale Herrschaft ist ohne Massenbewegung und ohne Unterstützung durch die von ihr terrorisierten
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Massen nicht möglich.“11 Menschen lassen sich gerade dadurch vereinnahmen, dass ihnen in krisenhaften Zeiten eine bessere Zukunft versprochen wird, an deren Vorbereitung sie selbst sogar mitwirken dürfen. Totalitaristisch ein gestimmte Massenbewegungen sind dabei zugleich geprägt von einer kulti schen Verehrung ihrer Führer. Nur so ist es erklärbar, dass bei aller Härte und Unmenschlichkeit die totalitären Diktaturen wie diejenige Stalins oder Hitlers, Mussolinis oder Pinochets, Pol Pots oder Idi Amins in der Lage waren, einen großen Teil der Bevölkerung zumindest eine Zeit lang auf die eigene Doktrin einzuschwören oder sie zumindest mit terroristischen Mitteln in Schach zu halten.
7.4 Ängste im demokratischen Wohlfahrtsstaat Wie ist jedoch die Situation in modernen liberalen Demokratien? Welche Rolle spielen hier die politischen Ängste? Ist es auch hier im Interesse der Macht sicherung, Ängste der Bevölkerung bewusst anzustacheln bzw. das Erzeugen von Ängsten als ein politisches Steuerungsinstrument einzusetzen? Die politischen Prinzipien der Demokratie, dass es Regierung und Opposi tion gibt, dass in regelmäßigen Abständen die Parlamente gewählt werden und damit die bisherige Regierung abgewählt werden kann, dass Minderheiten ge schützt werden, dass es klare Rechtsstrukturen gibt, sind erst einmal so aus gerichtet, dass es wenig Anlass gibt, sich vor den Inhabern der politischen Macht tatsächlich zu ängstigen, also politische Ängste gegenüber der Staats macht zu hegen. Das politische Ziel liberaler Demokratien besteht darin, sol che Lebensbedingungen zu schaffen, dass Menschen keine politischen Ängste vor Gewalt, Terror oder staatlicher Willkür mehr zu haben brauchen und des halb das politische System akzeptieren und unterstützen. Auch die sozialstaat liche Ausrichtung der Politik auf die Absicherung der Existenzgrundlagen trägt dazu bei, dass niemand Ängste haben muss vor dem schieren Verhungern oder Erfrieren. Der Sozialstaat will soziale Fürsorge geben: Arbeitslose werden unterstützt, Kranke werden versorgt, Kinder und Alte werden betreut, Be hinderte gefördert, Süchtige beraten. Auch leisten die modernen Demokratien viel für die Gewährleistung eines Lebens in Sicherheit und Frieden. Höchstes Verfassungsziel ist das Wohl des Volkes. Unter diesen Aspekten ist die Heraus bildung des demokratischen Sozialstaats durchaus als eine politische Angst bewältigungsstrategie anzusehen. Doch die Wohlfahrtspolitik hat mit Blick auf die Ängste-Kultur auch Kehr seiten. Eine dieser Kehrseiten kann darin gesehen werden, dass die Menschen zu einer ausgeprägten Versorgungs- und Servicementalität erzogen werden, dass sie damit Schwankungen und Spannungen in ihrem Leben immer weniger ertragen können, dass sie also dazu tendieren, zu verweichlichen und damit
Arendt 2005 [1955], S. 658.
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eher mehr Ängste entwickeln, als dass sie ihre Ängste überwinden, wie der Soziologe Frank Furedi meint (wie in Abschn. 6.3 kurz vorgestellt).12 Doch zunächst einmal ist zu sehen, dass in normalen Zeiten die Ängste der Menschen ihren alltäglichen Lebensumständen entsprechen und auf bestimmte Ereignisse reagieren. Dies lässt sich auch an den Statistiken bestätigen, die zu den Ängsten in Deutschland erhoben wurden (vgl. Abschn. 6.4). Nach einem Terroranschlag rücken die Ängste vor Terrorismus vorübergehend ein paar Prozentpunkte auf der Skala nach oben, nach einer Finanzkrise gilt dies für ökonomische Sorgen, in der Corona-Pandemie mit Blick auf die Gesundheit und nach einem Unfall in einem Atomkraftwerk für die Ängste vor Ver strahlung. Ängste sind immer die Spiegel der konkreten, alltäglichen Gescheh nisse im Leben der Menschen und deren Bewertungen und Einordnungen in ihre jeweilige Sicht auf die Welt. Auf diese Weltsicht nimmt nun aber auch die Politik Einfluss dadurch, wie sie öffentlich agiert, mit welchen Argumenten und Szenarien sie arbeitet und welche Entscheidungen sie trifft. Wird beispiels weise alles in einem Krisenjargon präsentiert, der die Lage besonders drastisch erscheinen lässt: Corona-Pandemie, Energieversorgung, Kriege, Flüchtlings bewegungen, Umweltkatastrophen, kann dies das Unsicherheitsgefühl bei den Menschen erhöhen, was zu verstärkten Ängsten führt. Eine fatale Kehrseite der Volkswohlpolitik besteht darin, dass sich die staat liche Fürsorge auch zu einer Bevormundung und Kontrolle auswachsen kann. Das Befördern von Ängsten kann dann dazu benutzt werden, dass staatliche Programme durchgesetzt werden, die zwar den Menschen nutzen sollen, die aber zugleich in ihre Selbstbestimmung eingreifen. Viele staatliche Regelungen sind ausgerichtet auf das Wohl der Menschen: Schutzimpfungen, Einbau von Rauchwarnmeldern, Anschnallpflicht im PKW. Der Fürsorgestaat will Ängste nehmen, aber gerade dadurch schafft er Ängste. Krankenkassen warnen vor ungesunder Lebensweise (Zucker, Fett, Alkohol, Tabak, Bewegungsmangel) und erzeugen damit Ängste. Die staatliche Empfehlung, für die finanzielle Altersabsicherung auch privat vorzusorgen, suggeriert, dass die staatliche Rente nicht reichen wird. Die Strategie, Menschen vor allem als verletzlich und schutzbedürftig anzusehen, lässt sie als schwach erscheinen und erhöht den Wunsch nach einem starken Staat, der Schutz geben kann. Dies könnte dann, zugespitzt formuliert, so weit reichen, dass sich eine Kultur der Krankheit und Krise entwickelt und der Staat sich dann als Therapeut einer pathologisierten Bevölkerung versteht. Die Ängste können dann auch für bestimmte politische Weichenstellungen in Dienst genommen werden bis hin zu massiven Ein schränkungen der bürgerlichen Freiheiten, wie dies in den USA nach den Terroranschlägen von 2001 der Fall war. Mit Blick auf die politischen Ängste in modernen, liberalen Staaten ist aber auch folgender Punkt in die Erwägung einzubeziehen. Es gibt hier im Ver gleich zu totalitären Staatswesen eine Verschiebung der Ängste-Problematik. So vergleicht der Politikwissenschaftler Wolfgang Bergsdorf die Bedeutung Furedi 2002.
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von Ängsten in Diktaturen und liberalen Gemeinschaften und zwar aus der Perspektive der Beziehung zwischen Regierenden und Regierten. Er vertritt die These, „daß in der totalitären Diktatur die Angst immer als Waffe des Re gimes gegenüber der Bevölkerung eingesetzt wird“.13 Umgekehrt geht er davon aus, „daß die Angst in freiheitlich verfaßten Gesellschaften ihre Ziel richtung ändert. Sie droht und bedroht eher die Regierenden als die Regierten. Je höher der Angstpegel einer Gesellschaft, desto größer die Gefahr für die Regierung.“14 Denn wenn Menschen Bedrohungen sehen, fordern sie Abhilfe und politische Alternativen, von denen sie sich eine Besserung der Situation versprechen. Solche Alternativen können auch mit der Abwahl der bisherigen Regierung oder gar einem gewaltsamen Sturz der Regierung verbunden sein. Da in Demokratien verschiedene Interessengruppen auftreten, gibt es immer auch eine Reihe von Menschen, die unzufrieden sind und für die jedes Ge schehnis und jede staatliche Entscheidung Anlass für Unmutsbekundungen sind, seien es Corona-Maßnahmen, Erderwärmung, Inflation, Arbeitslosigkeit, schlechtes Wetter: Immer können dafür „die da oben“ verantwortlich gemacht werden. Dieses latente Protestpotenzial hat dabei auch etwas mit den Ängsten der Menschen zu tun, dass es ihnen schlechter gehen wird, dass ihre Freiheit, Gesundheit, Lebensweise gefährdet sein könnten. Je größer der Frust der Menschen ist, umso größer auch die Gefahr, dass sich Mehrheiten bilden, die das bestehende politische System nicht mehr weitertragen wollen. Dem korrespondieren die Ängste der Regierenden, dass sie in den ganz normalen demokratischen Prozessen des Austarierens von Interessen und der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition nie ganz fest im Sat tel sitzen. Jede Wahl ist auf ihre Art unberechenbar, das freie Wahlvolk ist nie gänzlich zu durchschauen und der eigene Sitz im Parlament kann sehr schnell wieder verloren gehen. Politisch gesehen ist diese Abwahlmöglichkeit selbst verständlich der Vorteil der Demokratie, der ihre politische Dynamik, Beweg lichkeit, Offenheit und Kontrollierbarkeit gewährleistet. Aber aus der Sicht der einzelnen Mandatsträger, Parlamentarier, Regierungsmitglieder impliziert dies auch eine permanente Unsicherheit, aus der Ängste um die eigene individuelle politische und private Zukunft wachsen können. Doch in Abwägung der verschiedenen Regierungsformen hat die Demo kratie unter dem Aspekt der Reduzierung vor allem politischer Ängste klare Vorteile gegenüber Aristokratie und Monarchie, weil die grundlegenden Ideen von Gleichheit und Freiheit, Frieden und Wohl des Volkes den Rahmen für Politik, Recht, staatliche und gesellschaftliche Institutionen bilden. Das politi sche Ziel des friedlichen, gemeinwohlorientierten Austarierens der ver schiedenen Interessen ermöglicht für die Mehrzahl der Menschen in moder nen Demokratien ein gesichertes Leben, in dem die Urängste um Leib und Leben zurücktreten, dafür die Ängste um soziale Anerkennung, Lebenssinn, das Erreichen privaten Glücks, aber auch die Ängste um gesichertes Ein Bergsdorf 2000, S. 16. Bergsdorf 2000, S. 19.
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kommen bis hin zu den allgemeinen Überlebensgrundlagen der Menschheit in Zeiten rapiden Klimawandels eine viel größere Rolle spielen. Für alle Gesellschaften gilt dabei sicherlich, dass Ausnahmesituationen, hef tige Krisen, politische Umbrüche dazu führen, dass Menschen gesteigerte Ängste entwickeln und sich in solchen Angstzuständen eher beeinflussen lassen als unter normalen Bedingungen. Die Journalistin und Autorin Naomi Klein zeigt, wie soziale, politische und ökonomische Krisen, in denen Menschen hochgradig verunsichert sind und tiefe Ängste ausbilden, ausgenutzt werden, um bestimmte politische und ökonomische Ziele durchzusetzen, die vor dieser Krise für die Menschen vollkommen inakzeptabel gewesen wären. Dies nennt sie die „Schock-Strategie“,15 und sie sieht darin Tendenzen des Kapitalismus, aus Krisen und Katastrophen Gewinn zu schlagen und die Weichen für die eigene ökonomische Machtsteigerung zu stellen. Denn wenn eine Gesellschaft unter Schock steht, ist die Rationalität eingeschränkt. Naomi Klein hat viele Beispielegesammelt für das Hineindrängen von ausländischen Groß investoren dort, wo wegen Krieg oder Naturkatastrophen große Verwüstungen stattgefunden haben. Sie hat auch nachverfolgt, wie bei politischen System wechseln durch Großakteure die Umgestaltung der Wirtschaft „empfohlen“ und durchgeführt wurde. Beispiele hierfür wären die Einflussnahme auf die öko nomische Ausrichtung Chiles während der Pinochet-Diktatur oder auf Russ land nach Auflösung der UdSSR, die zum großen Verschachern der vorher staatlichen Industrie geführt und die heutigen Oligarchen hervorgebracht hat, oder aber auch auf die Privatisierungswelle in Südafrika nach Ende der Apart heid. Die Autorin beginnt ihr Buch mit der Schilderung der Vorstellungen einer behavioristischen Psychologie in den USA, die daran geforscht hat, den menschlichen Geist durch Elektroschocks zu entleeren, um dann eine neue Persönlichkeit aufzubauen. Parallel funktioniert die ökonomische Schock-The rapie. Sie sieht die Katastrophen als ein Leerfegen an, das Schaffen einer tabula rasa, auf deren Grundlage nun ein Neuaufbau entsprechend der eigenen Inte ressen erfolgen kann, im Irak oder bei von Tsunamis zerstörten Küsten regionen, die dann für Großinvestoren interessant werden. Wenn nämlich Re gionen oder ganze Nationen unter Schock stehen, sind die Menschen erfüllt von tiefsten Ängsten, sie sind dann weniger weitsichtig, sie sind dünnhäutig und leicht erpressbar. „In diesen Augenblicken, wenn wir alle psychisch hilflos und physisch entwurzelt sind“,16 schlägt die Stunde derjenigen, die hier ihr großes Geschäft wittern. Letztlich lässt sich also politischer und ökonomischer Angstprofit aus allem schlagen, wenn es entsprechend verkauft wird, dies hat sich bis heute nicht ge ändert: Klimawandel, Aufrüstung, Spaltung der Gesellschaft, Radikalisierung, Kriminalität, Schulversagen, Korruption der Entscheidungsträger, Sozial abbau, Demokratieverlust, Mietpreisexplosion, Arbeitslosigkeit, sozialer Ab stieg, Wirtschafts- und Finanzkrisen, Kulturverfall, Überwachung, schlechte Klein 2007. Klein 2007, S. 37.
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Ernährung, Krankheiten aller Art und überhaupt der Verlust an Werten und Orientierungen. Hier sind immer Interpretationen und Bewertungen im Spiel, die die Gegebenheiten im jeweils gewünschten Licht erscheinen lassen und entsprechend die Ängste steuern. Damit lässt sich dann Politik machen, schaf fen Versicherungen neue Einkommensquellen, prägen Unternehmen neue Be dürfnisse und sehen sich Einzelpersonen in ihren privaten Negativweltsichten bestätigt oder provoziert.
KAPITEL 8
Religionen, Ideologien und Verschwörungstheorien
Die bisherigen Weltbilder, die jeweils das Leben der Menschen anleiteten, waren seit Jahrtausenden vor allem religiös geprägt, boten den Menschen Gewissheit darüber, wie die Welt beschaffen ist, wie die Gesellschaft funktioniert, wo der Einzelne seinen Platz im sozialen Gefüge hat, welches Handeln als erlaubt oder verboten angesehen wird. Dies alles war verbürgt durch den Glauben an eine kosmische oder göttliche Ordnung, in die sich auch das Leben jedes Menschen einfügte. Diese Gewissheit einer vorgegebenen, in sich sinnhaften Ordnung spiegelte sich auch in politischen und gesellschaftlichen Strukturen, die meist streng hierarchisch gegliedert und sozial wenig durchlässig waren. Doch auch schon in früheren Zeiten gab es immer wieder tiefgreifende Umwälzungen. Es wurden viele Kriege um Macht, Territorien und Arbeitskräfte geführt. Große Reiche entstanden und gingen wieder unter. So war die Zeit des Zerfalls des Römischen Reichs mit Völkerwanderung, Kriegen und kultureller Zerrüttung von großer Verunsicherung gekennzeichnet. Auch in der asiatischen Welt gab es lange Kriege, schlimme Verwüstungen und Zeiten der Instabilität. Solche Geschehnisse sind immer begleitet von enormen Ängsten und Sorgen. Tiefe Erschütterungen und Verunsicherungen brachten die immer wieder grassierenden Seuchen, vor allem die Pest. Auch politische Systemwechsel, wie sie sich in den Revolutionen in England, Frankreich, später Russland, China und vielen anderen Ländern vollzogen, sind krisenhafte Zeiten mit weltanschaulicher Desorientierung, dem Gefühl der Unberechenbarkeit der eigenen Lebensumstände und großen Ängsten. Sie sind einerseits bezogen auf die Lebensgrundlagen selbst, denn Menschen wünschen sich Frieden und hoffnungsvolle Zukunftsperspektiven. Aber sie betreffen in einem umfassenderen Sinn auch die allgemeine Weltorientierung, die Frage nach der Tauglichkeit des Weltbildes, an das man bisher geglaubt hatte. Gerade in Krisenzeiten mit ihren Irritationen und Umbrüchen wenden sich die Menschen deshalb oft denjenigen Weltsichten oder Ideologien zu, die ihnen Glück
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Frischmann, Angstwesen Mensch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67876-3_8
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und Heil versprechen. Denn das Grundvertrauen darauf, dass es eine glücklichere Zukunft geben wird und dass man den Weg dorthin kennt, baut die Menschen auf und vermag ihre Ängste zu mildern. Selbst die immer wiederkehrenden apokalyptischen Weltuntergangsvorhersagen haben den Sinn, eine neue, bessere Welt zu verheißen, auch wenn in deren Logik zunächst eine tief greifende Zerstörung stattfinden muss. In diesem Kapitel soll verfolgt werden, wie Weltbilder entstehen und welche Relevanz das Weltbild für die Ängste-Produktion hat. Dabei werden vor allem solche Ängste in den Blick genommen, die speziell dann verstärkt auftreten, wenn unklare Verhältnisse herrschen, Umbrüche stattfinden und die Orientierung nicht mehr ohne weiteres gelingt. Gerade diese Orientierungsängste führen dann dazu, dass neue Orientierungsangebote und Sinnstifter gewünscht und gesucht werden. Diesen Bedürfnissen kommen diejenigen entgegen, die hier etwas anbieten können: durch verschiedene weltanschauliche Systeme und Religionen, durch Ideologien, aber auch durch bestimmte Welterklärungen, die nur von Gruppen geglaubt werden, deren Annahmen durch sie bestätigt werden. Dies leisten beispielsweise die sogenannten Verschwörungstheorien.
8.1 Weltbilder und Orientierungsängste Seit Menschen beginnen, über die Welt nachzudenken, formen sie ihr Weltbild aus den geistigen Elementen, die ihnen in ihrer Zeit und ihrer Kultur zur Verfügung stehen. Je besser sie über Naturprozesse und menschliche Belange Bescheid wissen, desto erfolgreicher können sie ihr eigenes Leben sichern, sich Nahrung beschaffen und ihr Zusammenleben regeln. Von den Inhalten der Weltauffassung hängt ab, wie sich das Handeln der Menschen gestaltet, was sie als richtig oder falsch erachten, was sie als erfolgversprechend oder vergeblich ansehen, was als heilig oder profan, gut oder schlecht bewertet wird. Dabei ist es letztlich der Überlebenserfolg, der ihnen Recht gibt oder die Untauglichkeit ihrer Vorstellungen unter Beweis stellt, ein ständiger Prozess zwischen Versuch und Irrtum. Je mehr Wissen zur Verfügung steht, je vielfältiger die einzelnen Bereiche des Lebens werden, je reicher der Erfahrungsschatz, umso mehr Wissenselemente müssen zusammengesetzt und zu einem sinnvollen Gesamtbild von der Welt und dem eigenen Platz darin verknüpft werden. Erklärungen der Zusammenhänge im Naturgeschehen, Imaginationen von Göttern und magischen Kräften, Auffassungen vom Zusammenleben in einer Gemeinschaft, Beurteilungen menschlicher Verhaltensweisen, Deutungen des Schicksals, Ein ordnung von Leben und Tod, alle diese Komponenten werden verbunden zu einem möglichst stimmigen Mosaik. Denn es reicht nicht aus, diese einzelnen Bausteine einfach separat zu benutzen. Das Leben selbst ist ein Leben in Zusammenhängen mit der Natur und mit anderen Menschen. Die verschiedenen Aspekte des Lebens sind miteinander verwoben und bedingen sich wechselseitig. Je klarer strukturiert deshalb das gesamte Mosaik wird, um so bessere Orientierung erhalten die Menschen. Für die Komposition des Weltbild-
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Mosaiks ist zweierlei erforderlich. Zum einen werden die Mosaiksteine, d. h. die Wissensbestandteile aus all den Einzelbereichen des Lebens gebraucht. Zum anderen bedarf es der Fähigkeit des Mosaiklegers, diese einzelnen Aspekte in eine umfassende Ordnung zu bringen, also das Gesamtmosaik sinnvoll zusammenzufügen. Sowohl das spezifische Einzelwissen als auch ein allgemeineres Gesamtbild sind notwendig, um das Leben anzuleiten. Menschen handeln auf vielfältigste Weise, um sich zu ernähren, zu kleiden und zu wohnen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, um ihr soziales Leben zu bestreiten, die Familie zusammenzuhalten, ihre Freundschaften zu pflegen, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein oder in der Politik mitzumischen, um Kunstwerke zu schaffen oder ihren Göttern zu huldigen. Handeln ist dabei geprägt von bestimmten Zielvorstellungen, von Überlegungen hinsichtlich der richtigen Mittel, diese Ziele zu erreichen, und vom vorausschauenden Durchdenken möglicher Folgen des eigenen Tuns. Wir könnten weder ein Auto lenken, Rosen züchten und Flugzeuge bauen noch unsere Kinder erziehen, mit Aktien handeln oder medizinische Operationen vornehmen, wenn wir kein Wissen von diesen Bereichen hätten. Handeln braucht dieses Wissen von der Welt, von der Natur, von anderen Menschen und den gesellschaftlichen Strukturen, damit wir uns in den vielfältigen Bezügen unseres Lebens zurechtfinden können, und zwar nicht nur hinsichtlich des Faktenwissens, wie die Dinge um uns herum funktionieren, sondern auch mit Blick auf normative Aspekte. Moral, Recht, Politik, Religion geben uns ja auch vor, wie wir in bestimmten Situationen handeln sol len, was geboten oder verboten ist, was wir tun oder besser unterlassen sollten. Faktenwissen, Auffassungen vom Weltganzen und normative Grundvorstellungen bilden zusammen die Orientierungssysteme, aus denen wir die Anleitungen für unser Handeln beziehen. Solche Orientierungssysteme im um fassenden Sinn werden auch als Weltanschauungen oder Weltbilder bezeichnet. Sie binden Wissen, Lebensvorstellungen, Erwartungen und Grundüberzeugungen zu sinngebenden Gesamtdeutungen der Welt und des menschlichen Lebens zusammen. Die Schaffung solcher umfassenden Modelle er fordert spezielle Fähigkeiten. Man muss sich von den Einzelaspekten lösen und sich – wie durch einen Draufblick von oben – ein Ganzes vorstellen können. Diese Vorstellungen, die alles in einer „Großen Erzählung“ zusammenführen, können verschiedene Mittel einsetzen und auch unterschiedliche Anliegen haben. Darin unterscheiden sich dann Mythen, Religionen, Ideologien, Philosophien oder Weltanschauungen. Während Philosophie sich in ihrem Vorgehen vor allem an theoretisch- wissenschaftlichen Methodenstandards orientiert, beruhen Mythen, Religionen und Ideologien auf Grundannahmen und auch Argumentationsformen, die nicht auf Systematik, gesicherten Daten, wissenschaftlicher Beweisführung beruhen, sondern unterschiedliche Arten von Inhalten, Wissens- und Glaubenselementen in ein übergreifendes Ganzes zusammenführen. Mythen sind als die kulturell ältesten Orientierungserzählungen zuerst vor allem auf Naturgegebenheiten ausgerichtet, denen magische Kräfte zugeschrieben werden.
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Hieraus haben sich Vorstellungen übermenschlicher Kräfte und schließlich Ideen von Göttern entwickelt, auf deren Grundlage dann komplexere Religionen entstehen konnten. Eine säkulare Form der Welterklärung stellt die Ideologie dar. Im Unterschied zur Religion geht es in Ideologien nicht um den Glauben an eine transzendente, göttliche Macht, sondern um das Vertrauen auf die Gestaltungskraft der Menschen. Es wird die Verbesserung des Lebens nicht für ein Jenseits, sondern für die diesseitige Welt angestrebt, in der man jetzt lebt, oder zumindest für eine durch eigenes Tun zu erreichende nahe Zukunft. Dabei dienen Ideologien oft als Begründungsstrategien für bestimmte Weltsichten. Ideologien funktionieren dabei so, dass sie eine grundlegende normative Leitidee als zentrales Erklärungsmuster für das gesellschaftliche und politische Geschehen benutzen und dabei überhöhen, wie wir es im Stalinismus oder Nationalsozialismus finden. Damit können sie zu tragenden Säulen normativer Lebensorientierungen werden, indem bestimmte Ausgangsideen wie Rassenlehren, biologistische Annahmen vom Konkurrenzkampf, Vorstellungen vom Klassenkampf oder von Freiheit, Solidarität, Gleichheit, Gerechtigkeit zu Grundprinzipien des menschlichen Daseins überhaupt verallgemeinert und zum Teil verabsolutiert werden. Der Begriff „Ideologie“ kann aber auch in einem engeren Sinn verstanden werden, wenn es um bestimmte Einzelideen als Leitmotive für politische Aktionen und die eigene Lebensweise geht. Solche Einzelideologien reichen von politischen Zielstellungen bis zu persönlichen Lebensvorstellungen, von Erziehungsstilen bis zu Ernährungskonzepten. Dies heißt nicht, dass solche Auffassungen nicht sinnvoll und wichtig sind, sondern dass sie nicht überstrapaziert und zur alleinigen Perspektive verabsolutiert werden dürfen. Erst diese vereinseitigende Überhöhung verliert das Maß und macht aus einer guten Grundidee eine simplifizierende Ideologie. Die Reichweite solcher Einzelideologien ist aber zu schmal, um als Fundament einer Weltanschauung fungieren zu können. Jede Generation, jede Gesellschaft und jeder Mensch entwickeln solche orientierenden Weltsichten aus den verfügbaren Wissens- und Bewertungselementen. Sie können mehr oder weniger klar, begründet oder konsistent sein. Denn es gibt viele verschiedene Aspekte, Perspektiven und Wissensbestandteile, die eben wie bei Mosaiken zu ganz unterschiedlichen Welt-Bildern zusammengesetzt werden können. Dabei entscheiden die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmungen, aber auch eigene Erfahrungen, Wertvorstellungen und ideologische Präferenzen sowohl darüber, welche Mosaiksteine man überhaupt zu benutzen bereit ist, als auch darüber, wie man die Steine kombiniert. Menschen, die in sehr heißen und trockenen Regionen der Welt leben, geben den Faktoren Wärme und Niederschlag einen anderen Stellenwert als Menschen, die in kalten und niederschlagsreichen oder gar eisigen Gebieten beheimatet sind. Reiche Industrieländer haben in vielen Aspekten eine andere Agenda als arme Entwicklungsländer. Und auch innerhalb vielschichtiger Kulturen und hochgradig differenzierter Gesellschaften entstehen sehr unterschiedliche Weltbilder und Ideologien, die religiös oder atheistisch ausgerichtet, wissenschaftlich fundiert, esoterisch angehaucht oder von magischen
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Vorstellungen durchzogen sein können. So steht es Menschen in den modernen liberalen Demokratien frei, welcher Religion sie sich anschließen wollen. Falls sie nicht schon von Kindheit an religiös erzogen worden sind und dies dann später nicht in Frage stellen, können die Menschen frei wählen, ob sie überhaupt einer Religion folgen wollen und, wenn ja, welcher. Sie können sich aber auch für eine atheistische Weltsicht entscheiden. Damit setzen sie ihr Mosaik dann auf eine bestimmte Weise zusammen, sodass es entweder durch die Dogmen und Regeln ihrer Religionsgemeinschaft oder durch andere Erklärungsmuster mitgeprägt wird. Analog ist es mit der Grundentscheidung für eine bestimmte politische Partei oder Richtung. Selbst wenn es so etwas wie Familientraditionen auch für politische Ideen gibt, haben Kinder einer Familie, die mit denselben Werten aufgewachsen sind, dennoch die Möglichkeit, später politisch unterschiedliche Vorstellungen zu entwickeln. Obwohl sie als Geschwister mit vielen gemeinsamen Mosaiksteinen gestartet sind, legen sie damit aber in ihrem weiteren Leben unterschiedliche Bilder, gewinnen neue Steine hinzu und sortieren andere aus. In das Mosaikbild gehen auch die Vorstellungen von einem glücklichen und guten Leben ein, die Wünsche und Hoffnungen, Befürchtungen und Ängste. Inwieweit die Lebensziele dann wirklich realisiert werden können, hängt von vielerlei ab, von den Lebensumständen und Umweltgegebenheiten, vom sozialen Platz in der Gesellschaft und der konkreten politischen Situation, von der eigenen Kraft und dem individuellen Durchsetzungswillen, von materiellen Möglichkeiten oder einfach dem Zufall. Die Ausgebeuteten und Diskriminierten einer Gesellschaft haben wohl andere lebenspraktische Ziele als die Machtelite, junge Menschen andere als ihre Großeltern, die schon aus dem Berufsleben ausgeschieden sind. Optimistisch gestimmte Menschen gehen anders mit ihrem Leben um als pessimistische. Oder es kann sein, dass es einfach vielen Menschen aufgrund von Bürgerkrieg, Naturkatastrophen oder grassierenden Krankheiten schlecht geht und sie mit ihrer Lebenslage hadern. Wenn es wenig Hoffnung gibt, die eigenen Lebenswünsche im jetzigen Dasein erreichen zu können, werden die eigenen Fantasien von einem besseren Leben häufig verlagert in die Zukunft oder gar in eine jenseitige, entrückte Welt, ein Paradies, ein Nirwana, ein kosmisches Geschehen. Gerade Religionen und ihre Kirchen oder andere Arten von Glaubensgemeinschaften (z. B. Sekten) versprechen in solchen Situationen Halt und Sinnhaftigkeit für das persönliche Leben. Aber gerade in Krisenzeiten können auch Auffassungen entstehen, die einen radikalen Wandel der bestehenden Gesellschaften anstreben. Für die Umsetzung solcher Umbrüche oder Umwälzungen braucht es nicht nur An hänger, die eine politische oder soziale Bewegung stark machen, sondern auch die Ausformulierung der Vision, der Zielstellungen und Programmatiken mit einer entsprechenden allgemeinen normativen Grundidee, eben der Ideologie. Und es bedarf derjenigen, die die Fähigkeit besitzen, die Unzufriedenen argumentativ zu erreichen, sie von der Vision zu überzeugen und zum Mitmachen zu motivieren, nennen wir sie die Demagogen. Ursprünglich bedeutete im
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Griechischen das Wort Demagogie im positiven Sinn, das Volk zu führen. Heute hat es eher negative Bedeutung erlangt und wird verwendet, um die manipulative Beeinflussung zur Durchsetzung bestimmter Machtinteressen zu beschreiben. Was haben nun Religionen und Ideologien mit dem Thema Ängste zu tun? Im gewohnten Lebensumfeld sind unter normalen Umständen die meisten Geschehnisse vertraut, das eigene Handeln ist von klaren Regeln und von Gewohnheiten geprägt: Familienleben, der Weg zur Arbeit, die Funktionsweise von Ämtern und Behörden, die Straßenverkehrsordnung, der Gang durch den Supermarkt. All dies ist überschaubar, es gibt kaum Anlass für größere Ängste. Treten jedoch Ereignisse ein, die schwer zu bewerten und einzuordnen sind, wachsen Verunsicherungen und die damit verbundenen gefühlten Ängste, aber auch die geistige Angst, die umfassende Bewertung der Situation aus einer Perspektive der Sorge und Unsicherheit. Dabei neigen Menschen umso eher zur Produktion von Ängsten, je größere Ausmaße das Ungewohnte, Neue, Unverstandene hat, je mehr das individuelle Leben davon betroffen ist und je weniger Zeit besteht, sich an dieses Neue zu gewöhnen. Die Gedanken kreisen um das Nicht-Bekannte, Nicht-Begreifbare und deshalb Nicht-Kontrollierte und werden gefüllt mit Ahnungen, welche potenziellen Gefahren sich hinter diesem Nicht verbergen könnten. Gerade an dieser Möglichkeitsperspektive hängen sich die Ängste auf. Und da die Ängste, im Unterschied zur Furcht, in Ge fühlen ver arbeitete Reaktionen auf die Vorstellung von Bedrohungen sind, können sie sehr breit gestreut sein, so wie die Vorstellungen möglicher Gefahren in alle Richtungen wuchern können. Weil Ängste als unangenehme Gefühle wahrgenommen werden, versuchen Menschen immer, ihre Ängste irgendwie zu beschwichtigen. Dies geschieht zum einen auf ganz praktische Art: Sie bauen sich Häuser und sichern ihre Türen. Sie haben Wachhunde und Waffen. Sie etablieren Sicherheitsinstitutionen von den privaten Sicherheitsdiensten bis zur staatlichen Polizei. Sie erfinden Versicherungsgesellschaften, die Risiken abfedern. Aber es muss vor allem auf geistiger Ebene ebenfalls eine Absicherung und Entlastung erfolgen. Dies geschieht gerade dadurch, dass Welterklärungen, Religionen, Ideologien geschaffen werden, in denen die Gefahren ihren Platz erhalten und so berechenbar und bezähmbar erscheinen. Mit ihren Deutungsmustern geben sie den Risiken und Ängsten im Leben einen Ort und nehmen der eigenen Si tuation damit ein Stück ihrer Unberechenbarkeit. Wenn alle Geschehnisse durch Einordnung in solche Deutungssysteme erklärbar werden, heißt dies, dass auf eine gewisse Weise geistige Macht über das Unbekannte gewonnen wird. Das Bedrohliche kann damit abgemildert oder gar als überwindbar angesehen werden. Dies gilt schon für die ersten Beschwörungskulte in grauer Vorzeit. Von daher steht hinter dem größten Teil menschlicher Kulturleistungen der Wunsch nach Schaffung von Struktur, Ordnung, Überschaubarkeit und damit auch der Zähmung der latent wirksamen Ängste. In ihren In stitutionen, Traditionen und Ritualen entlasten sich die Menschen vom Gefühl des Gefährdetseins.
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Die Menschheit hat gelernt, unter welchen Bedingungen Ängste entstehen und wie Ängste direkt hervorgebracht werden können. Zugleich sind aber auch Psychotechniken für die Dämpfung von Ängsten und sogar der affektiven Furcht entstanden. So gab es schon in urzeitlichen Gemeinschaften Menschen, die die Deutungshoheit über Naturphänomene hatten, die Ratschläge in Streitfällen gaben, heilkundig waren oder kultische Rituale ausübten, Kontakt zu den verstorbenen Ahnen herstellten oder zukünftige Ereignisse weissagten. Sie waren damit aber auch diejenigen, die den Umgang der Gruppenmitglieder mit ihren jeweiligen Ängsten steuerten. Sie konnten diese entfachen oder beschwichtigen. Im Laufe der Geschichte hat sich dann ein immer umfangreicheres Wissen um die Entstehungsbedingungen, die Funktionen und die Bedeutung von Ängsten entwickelt. Dabei ging und geht es immer auch darum, gezielt Ängste einzusetzen, um damit bestimmte Ziele zu erreichen. Angstmache und Angstmacher gehören damit genauso zur menschlichen Kultur wie deren Gegenstück, die rituellen Beschwörer, die Seelsorger und die Therapeuten. Es muss aber stets auch mitberücksichtigt werden, dass die individuelle Ausprägung von Ängsten ihre Nahrung aus den zur Verfügung stehenden sozialen, kulturellen, politischen, medialen Angeboten zieht. Hier haben alle eine Verantwortung, die Informationen im öffentlichen Raum zur Verfügung stellen. Und jeder von uns wirkt durch die eigenen Meinungen und das eigene Verhalten auch auf die jeweiligen Umgebungen, Familien, Freunde, Kollegen, Nachbarn. Soziale Stimmungen werden von uns allen geformt. Wir alle haben dementsprechend auch einen Anteil an der Ängste-Kultur unseres sozialen Umfeldes. Es gibt immer Rückkopplungseffekte zwischen Medienpräsenz, gesellschaftlichen Stimmungen und individuellen Wahrnehmungen. Stellen wir uns zwei Gesellschaften vor, die genau identisch funktionieren, mit genau denselben Menschen in denselben Lebenslagen. Nun kommt jemand in Gesellschaft Nr. 1 auf die Idee, das Thema „Ängste“ als sein Forschungsthema zu entwickeln. Er beginnt, ständig von Ängsten der Menschen zu sprechen und schreibt ein Buch darüber. Eine Zeitung nach der anderen nehmen dies auf, Fernsehsendungen laufen, in denen den Ängsten der Menschen nachgegangen wird. In Gesellschaft Nr. 2 findet diese mediale Ängs te-Debatte nicht statt. Wenn man nun die Menschen dieser beiden Gesellschaften nach einer gewissen Zeit danach befragen würde, wie stark ihre Ängste seien, wovor sie sich ängstigen und ob diese Ängste zugenommen haben, würden wir höchstwahrscheinlich in Gesellschaft Nr. 1 viel höhere Werte erhalten als in Gesellschaft Nr. 2, obwohl die Menschen in beiden Gesellschaften eigentlich faktisch nach wie vor dasselbe Leben führen. Sie haben dieselbe Arbeit wie vorher, leben in derselben Familie, haben dieselben Freunde. Nun aber driften sie auseinander, weil sich die Selbstwahrnehmung der Menschen, die kulturelle Atmosphäre, die Gespräche und Gedanken verändert haben und sich damit auch die Interpretation des eigenen Lebens verschiebt. Die Folge wird sein, dass sich beide Gesellschaften und die Menschen in ihnen nun in unterschiedliche Richtungen weiterentwickeln.
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Unter dem Aspekt der Beförderung oder Reduzierung von Ängsten spielen die in einer Gesellschaft verfügbaren Informationen eine entscheidende Rolle, denn Menschen sind für ihre Weltsicht, ihre Sinngebung und ihre Lebensführung abhängig von diesen Informationen, in denen das Wissen der jeweiligen Zeit verarbeitet ist. Hier haben vor allem die Massenmedien einen großen Einfluss auf die Menschen. Aber auch politische Akteure tragen zur Orientierung der Menschen bei, wenn sie in einem Wahlkampf Feindbilder und Hassreden einsetzen und die Menschen aufwiegeln oder um Zusammenhalt bemüht sind. Es können Informationen in Umlauf gebracht werden, die erfunden und erlogen sind und dennoch Menschen massiv beeinflussen können. Es gibt kein Zeitalter und kein individuelles Leben ohne Ängste. Sie können mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommen, aber sie sind als Resultat des Wissens um die Gefährdungen, denen jeder Mensch und heute sogar die Menschheit insgesamt ausgesetzt sind, eine Begleiterscheinung menschlicher Existenz. So finden sich in jeder Kultur und jedem Lebensbereich Bedingungen und Konstellationen, an denen die Ängste andocken können. Die Spanne reicht von persönlicher Beunruhigung bis zum Berechnen des Zeitpunktes des Weltuntergangs. Dabei ist es häufig ein Interesse politischer und religiöser Machtausübung oder sozialer Steuerung, die Ängste-Themen so zu besetzen, dass damit die eigenen Ziele erreicht werden. Im Folgenden soll nun etwas genauer der Frage nachgegangen werden, welchen Stellenwert Ängste weltanschaulich besitzen. Alle weltanschaulichen Orientierungssysteme nähren sich immer auch von den tief sitzenden Ängsten der Menschen in ihrem Bedürfnis nach Sicherheit, nach Überschaubarkeit und Kontrolle. Sie ordnen die Geschehnisse in eine umfassende Gesamtgeschichte ein, die Wertmuster bereitstellt und so Handlungsorientierung gibt, die dem Einzelnen sagt, wo sein Platz ist und wie er oder sie leben soll. Genau diesem Bedürfnis kommen weltanschauliche Gebilde wie weitreichende Ideologien oder auch Religionen entgegen. Ich werde aber auch auf einen speziellen Bereich von Orientierungsangeboten zu sprechen kommen, die als „Verschwörungstheorien“, „Verschwörungserzählungen“ oder „Verschwörungsmythen“ bezeichnet werden. Gerade in diesem Bereich spielen Ängste eine ganz besondere Rolle. Denn Verschwörungen haben fast immer eine negative Aura und sind entsprechend beängstigend. In ihrem Entstehen ähneln sich Religionen, Ideologien und Verschwörungstheorien darin, dass sie aus negativ bewerteten Lebenslagen, aus tiefen Erschütterungen und Krisen herrühren. Religionen, Ideologien und Verschwörungstheorien leisten dabei zweierlei. Einerseits wollen sie die aktuellen Zustände erklären, andererseits stellen sie Möglichkeiten in Aussicht, dass eine bessere, sicherere, heilvollere Zukunft möglich ist und die realen oder angenommenen Gefährdungen überwunden werden können, mit denen die Ängste und Sorgen verbunden sind. Dabei sind gerade die Ängste machtvolle Kräfte, die gezielt angesprochen werden, um Menschen zu etwas zu bewegen oder von etwas abzuhalten. Einerseits spielen dabei natürlich die Urängste um das eigene Leben und Wohlbefinden, um materielle Absicherung und soziale
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Stabilität eine große Rolle. Aber es geht immer auch um die Gesamtbewertung des eigenen Lebens, das heißt der eigenen Chancen auf Glück, Wohlergehen, Erfolg und Anerkennung. So sind Ängste auch darauf bezogen, ob man ausreichend Gestaltungsmöglichkeiten für sich selbst in der Gesellschaft sieht, ob die eigenen Lebensvorstellungen Raum bekommen können. Gerade die in diesem Kapitel behandelten weltanschaulichen Konstrukte korrespondieren einem spezifischen Typ von Ängsten, die als Orientierungs ängste bezeichnet werden können. Dabei geht es um das Bedürfnis der Menschen nach dem Verstehen dessen, was vor sich geht, vor allem angesichts der Beunruhigung über die weitere Entwicklung der Menschheit überhaupt und der Ungewissheit der eigenen Zukunft. Sie sind Ängste davor, sich in der Welt nicht zurechtzufinden, das Geschehen nicht erklären zu können und weltanschaulich überfordert zu sein. Gerade die hier tangierten allgemeinen Fragen nach Welterklärung, nach dem Sinn von allem und dem eigenen Platz in der Welt, werden dabei ausgetragen nicht nur in Einzelängsten, sondern vor allem in der Form geistiger Angst. In der geistigen Angst rückt das Gesamtgeschehen in den Blick. Gerade unter modernen Lebensbedingungen verstärkt sich diese Orientierungsangst, die man auch als Angst vor Orientierungsverlust verstehen kann. Es sind verschiedene Komponenten, die sich in der Moderne wechselseitig verschränken und die Orientierungsängste forcieren. Einen entscheidenden Aspekt bildet die Auflösung einer unbezweifelbaren weltanschaulichen Orientierung. Je mehr Wissen die Menschheit anhäuft, je komplexer die Kulturen werden, je vielfältiger die möglichen Weltsichten und Lebensvorstellungen sind, um so unüberschau barer erscheint das Ganze, sodass es heute nicht mehr möglich scheint, alles in einem einzigen, umfassenden Mosaik zusammenzufügen. Dies bedeutet aber, dass es zum modernen Weltbild gehört, dass nicht mehr von einem von allen geteilten grundlegenden gesellschaftlichen Selbstverständnis ausgegangen werden kann, was aber zugleich viele Menschen beunruhigt und einen Teil der Orientierungsängste ausmacht, die gerade in der Moderne signifikant werden. Hinzu kommen das schwindende Vertrauen in eine bessere oder wenigstens gute Zukunft, die Auflösung gewohnter sozialer Hierarchien, die Fokussierung auf das individualisierte Ich, die Entfesselung ungeheurer technischer Möglichkeiten und der damit verbundenen Gefährdungen in bisher nicht gekannten Ausmaßen sowie die Schnelligkeit der Veränderungen in allen Lebensbereichen. Unter diesen Bedingungen fällt es immer schwerer, sich zu orientieren, Lebensziele zu setzen, die beständig sind. Die Verunsicherung und der Orientierungsverlust werden konstitutive Momente heutiger Existenz. Sie werden ausgetragen vor allem in einer geistigen Angst, die Welt nicht mehr zu verstehen und so auch dem eigenen Leben nicht gewachsen zu sein. Im Folgenden soll die Bedeutung von verschieden ausgerichteten Welterklärungsmodellen für den Umgang mit den Ängsten der Menschen, vor allem ihrer Orientierungsängste, an drei Bereichen beispielhaft illustriert werden: Religionen, Ideologien und Verschwörungstheorien.
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8.2 Religionen Religionen gehören zu den ältesten und dauerhaftesten Hervorbringungen menschlichen Geistes, von den archaischen Naturreligionen bis zu den großen monotheistischen Religionen, die heute die Glaubenswelt global dominieren. Sie entstehen als umfassende Sinngebilde aus langen Traditionen und verbinden verschiedenste Einflüsse und Quellen zu einem einheitlichen Ganzen. Religionen erklären die Welt und die Rolle des Menschen auf der Basis eines alles begründenden Gottesbezugs. Sie beziehen ihren Gehalt aus allgemeinen Grundideen, die Lebensorientierung und Halt geben sollen. Sie legen fest, was heilig und was profan ist, wie man ein gottgefälliges Leben führt und wie man sich seinen Mitmenschen gegenüber verhalten soll. Sie etablieren moralische Normen und strukturieren so das Leben der Menschen. Begründet auf eine absolute, göttliche Instanz beanspruchen Religionen den Status unerschütterlicher, unbezweifelbarer Gewissheit. Sie statten für ihre Anhänger das Leben mit einem höheren Sinn aus, und sie versprechen das höchstmögliche Seelenheil. Religionen sind auch entstanden als Mittel der Verarbeitung der menschlichen Ängste, der Ängste vor den Naturkräften, der weltlichen Ängste vor Leid, Armut, Krieg, Katastrophen und familiärem Verlust, aber auch der tiefen Ängste vor dem Tod und der Ungewissheit dessen, was danach kommt. Und es spielen auch die Ängste vor dem eigenen moralischen Versagen, vor der Sünde eine wichtige Rolle. Religionen liefern Erklärungen dafür, warum wir uns ängstigen, und bieten vor allem Formen der Bewältigung von Ängsten an, beispielsweise durch Opferungen an die Götter, durch Rituale der Götterverehrung, durch Sühne, Gebet, Beichte und spirituelle Versenkung. Doch auch die Orientierungsnöte, keinen Lebenssinn zu finden, werden durch die Bezugnahme auf etwas Göttliches gemildert. Gerade in Zeiten von Krisen und Erschütterungen finden Menschen in der Religion seelische Geborgenheit und Trost. Aber es kann auch die umgekehrte Tendenz geben, dass Menschen angesichts schlechter Lebenslage verzweifeln und sich von der Religion abwenden. Wie die einzelnen Religionen mit dem Thema Angst umgehen, wie sie Furcht und Ängste verarbeiten und auf Angstkonstellationen reagieren, ist jeweils kulturell geprägt. Im Buddhismus geht es darum, durch Meditation innere Ruhe und eine Befreiung von den Empfindungen und Gedanken zu erreichen, die Leid mit sich bringen. Das Leben ist darauf ausgerichtet, egoisti sche Bedürfnisse zu mäßigen und so zu handeln, dass jede Form von Leiden für sich selbst und für andere vermieden wird. Angestrebt wird ein Zustand des inneren Friedens, der größten Einsicht und der Überwindung des Leidens, was gleichbedeutend ist mit der Befreiung von Ängsten und Befürchtungen. Da es das entscheidende Ziel des Buddhismus ist, das Leiden zu minimieren, zunächst das Leiden in sich selbst, dann aber auch das Leiden anderer Menschen und aller Lebewesen überhaupt, ist die Überwindung aller leidbringenden Gefühle, wie sie auch die Ängste darstellen, außerordentlich wichtig. Alles das, was einen Menschen in innere Aufruhr und Verunsicherung bringen kann,
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wird als irreführend angesehen und die Aufmerksamkeit auf die Beruhigung des Bewusstseinsstroms gelenkt. Die innere Ruhe und Erleuchtung ist die höchste zu erreichende Dimension des eigenen Bewusstseins. Sie ist ein Zustand frei von negativen Gefühlen und Gedanken, frei von Ängsten und Furcht. Im Judentum, Christentum und Islam hingegen sollen Furcht bzw. Ängste nicht einfach überwunden werden, sie haben im Gegenteil eine besondere Bedeutung für die Beziehung zwischen Gläubigen und Gott. Wie in Abschn. 4.2 anhand einiger christlicher Theorien schon erläutert, wird diese speziell religiöse Form der Ängste gefasst im Begriff der „Gottesfurcht“. Die Gottes-Furcht meint zum einen die Ehrfurcht vor Gott und dem göttlichen Gesetz. Sie ermahnt die Gläubigen zu einem gottgefälligen Leben und verspricht als Lohn die Überwindung der irdischen Existenzform und eine jenseitige Weiterexistenz in ewiger Seligkeit. Doch Gottesfurcht hat auch die Kehrseite der Gottes-Furcht, der zutiefst verinnerlichten Ängstigung vor der eigenen Fehlbarkeit und Sündigkeit und einer vielleicht zu erwartenden Strafe Gottes. So ist vor allem im Alten Testament der Gott eine durchaus auch gewalttätige Macht, vor der sich die Menschen, sogar die Tiere und ganze Völker fürchten müssen. Deutlich wird im Topos der Gottesfurcht das Bewusstsein davon, dass der Mensch immer in einer Gefährdung steht, aber sich auch moralisch-religiös entwickeln kann. Gottesfurcht hat die starke Komponente der moralischen Forderung, sich selbst immer näher an Gott anzuschließen und die sonstigen, weltlichen Ängste als gering zu erachten. So wird im 1. Buch Mose des Alten Testaments die Schöpfungsgeschichte und die Erschaffung des Menschen Adam erzählt, dem Gott dann Eva an die Seite stellt. Sie leben zeitlos, naturhaft und selbstvergessen im Paradies. Doch nachdem Eva und Adam von der Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen hatten, „gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, daß sie nackt waren“ (Genesis 3,7). Als Adam und Eva dann Gott nahen hörten, versteckten sie sich. „Gott, der Herr, rief Adam zu und sprach: Wo bist du? Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören, da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich.“ (Genesis, 3, 8–10) Die hier von Adam eingestandene Furcht wegen der Nacktheit kann als Gleichnis für die Grundsituation des Menschen gelesen werden: Menschen sind schutzbedürftige, abhängige, sterbliche, den Umständen ausgelieferte Wesen. Sie werden sich dieser Situation erst bewusst mit einsetzender Erkenntnis des eigenen Menschseins, mit dem Vermögen der Reflexion. Nackt sind Menschen aber nicht nur äußerlich in dem Sinne, dass sie den Gegebenheiten der Welt ausgeliefert sind und eine volle Sicherheit niemals zu erreichen ist, sondern auch innerlich. Auch in der eigenen Psyche spielen sich unablässig Zweifel, Sorgen und Ängste ab. In der Abstammungsgeschichte der Bibel gehört die Furcht damit zu den ursprünglichsten Gefühlen des Menschen überhaupt. Sie ist als Grundgefühl schon da, noch ehe überhaupt der erste Mord geschieht. Doch hat der Mensch die Möglichkeit, sich durch den Glauben eine Art religiösen Schutzwall gegen seine Furcht zu schaffen. Aber auch dieser religiöse Schutzwall ist niemals ausreichend, aufgrund der unüber-
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windbaren, den Menschen wesenhaft prägenden Erbsünde. Anders gesagt: Der Mensch bleibt den Gefahren und seinen Ängsten ausgeliefert. Gehen wir noch einmal zurück zu Adam und Eva. Der Sündenfall, der Biss in besagte Frucht, bedeutet den Beginn der Reflexion, des Selbstbewusstseins, der Erkenntnis von Gut und Böse. Er löst Adam und Eva aus dem unreflektierten, naturhaften, tiergleichen Leben im Paradies heraus. Sie sind keine Kinder mehr, sondern erwachsen geworden und nun für ihr Handeln selbst verantwortlich. Die christliche Gottesfurcht als das wahrhafte Verhältnis zu Gott hat immer auch eine Komponente der Erkenntnis dessen, was das Richtige und Tugendhafte im eigenen Tun ist. Wer Böses tut, wird gestraft mit peinigenden Ängsten vor dem Richterspruch Gottes und der ewigen Verdammnis. Die Tugendhaftigkeit scheint damit aber zunächst einmal darin motiviert, nicht gestraft zu werden, sie hat ihren Bezugspunkt im äußeren Geschehen. Erst im Neuen Testament tritt eine Auffassung von Moralität hervor, die viel stärker auf die seelische Tugend, auf die innere Selbstarbeit also, konzentriert ist. Das Christentum hat dabei auch Quellen verarbeitet, die dem frühen Judentum noch nicht zur Verfügung standen, unter anderem die antike griechische Philosophie mit ihrer Fokussierung auf Vernunft und Ethik. Zwar spielt auch im Christentum die Gottesfurcht noch eine zentrale Rolle, aber nicht mehr in dem archaischen Sinn der Furcht vor Gottes Zorn und Strafe. So treten dann im Neuen Testament die Bedeutung von Furcht und Schrecken zurück. Dies ist auch in den Gottesbegriff eingearbeitet. An die Stelle des strafenden, zornigen Gottes ist der liebende und Gnade gewährende Gott getreten. Doch Gott bleibt der absolute Richter über das menschliche Leben. Dem Gottesgericht gelten die größten religiösen Ängste, denn niemand kann sich wirklich dessen gewiss sein, ein gottgefälliges Leben zu führen und dem Anspruch Gottes gerecht zu werden. Die Ängste vor der Sünde, die im Dogma der Erbsünde, der niemand entrinnen kann, noch potenziert sind, erhalten eine konkrete Greifbarkeit in der Verkörperung des Bösen überhaupt, dem Teufel. Wenn der Weg ins Paradies verschlossen bleibt, öffnet sich das Tor in die entgegengesetzte Richtung: zur Hölle mit allen ihren auf schlimmste Weise ausgemalten Martern. Durchaus werden Ängste hier auch seitens der Kirche geschürt, um zu einem gottgefälligen Leben anzuhalten. Die psychische Belastung durch die Teufelsangst, der schrecklichen Befürchtung, der teuflischen Macht nichts entgegensetzen zu können und in die Sündigkeit abzurutschen, in der man ja wegen der Erbsünde sowieso schon mit einem Bein steht, ist enorm und auch unausweichlich. Das Ringen Luthers mit dem eigenen möglichen Ungenügen und seinen Ängsten vor der Macht des Teufels ist hierfür ein eindringliches Beispiel. Mit dem Dualismus Himmel – Hölle gerät aber auch die Situation der Gläubigen stets in eine gewisse Ambivalenz: Einerseits lassen sich die Ängste vor dem eigenen Versagen nie ganz tilgen, die Erbsünde lässt sich nicht überwinden. Andererseits gibt es aber die Heils- und Erlösungshoffnung. Jede Religion ist auf ihre Weise eine Erlösungsreligion, sie verspricht eine bessere Welt, ein besseres Leben, meist in einem noch bevorstehenden Zeitalter, ein Leben
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im Jenseits oder in einem nächsten Lebenszyklus. Religionen sind damit immer auf dreifache Weise auf Angst bezogen: 1) Sie resultieren aus den Ängsten der Menschen, 2) sie versprechen eine Erlösung von diesem Zustand der Ängste, des Leidens, der Sünde, und 3) schaffen sie zugleich auch neue Ängste, nämlich den hohen Anforderungen an den Glauben als Individuum vor Gott nicht gerecht zu werden. Damit ist aber auch klar, dass eine Art Vermittlungsinstanz zwischen der irdischen und jenseitigen Welt erforderlich ist, die die Menschen dabei unterstützt, ihre Gottesnähe zu erreichen. Dies sind die Priesterinnen und Priester jeder Religion, selbst die Medizinmänner der archaischen Religionen erfüllen diese Aufgabe. Denn was als gottgefälliges Leben und was als Sünde anzusehen ist, muss aus bestimmten Zeichen gedeutet oder später in der Auslegung des Textes der Heiligen Schrift und anderer kanonischer Texte durch die Geistlichen interpretiert werden. Jeder Pfarrer, der von seiner Dorfkanzel das Leben der Menschen anleitet und bewertet, hat damit enorme Macht über deren Weltsicht, über die Psychen und das Leben der Menschen. Jeder Priester, der die Beichte abnimmt, kennt die größten Geheimnisse und bösesten Taten der Menschen. Diese religiösen Seelsorger können Ängste schüren und Ängste mildern. Die Institution Kirche nutzte immer auch die Ängste der Menschen, um sie zu manipulieren und gegen „das Böse“ ins Feld zu schicken. Dabei konnte dieses Böse alles sein, es konnte damit gut Glaubenspolitik und auch Machtpolitik betrieben werden. Denn auch die Religionen sind Teil der sozialen Welt und reagieren auf soziale Stimmungen, sie interpretieren für ihre Gläubigen die gesellschaftlichen Geschehnisse, Krisen und Naturereignisse, sie spiegeln kollektive Ängste wider und beeinflussen diese. Und es muss auch gesehen werden, dass ein wichtiger Aspekt religiöser Ängste darin besteht, den kirchlichen Vorgaben nicht zu entsprechen. Die Durchsetzung des Christentums als über Jahrhunderte herrschende Religion in Europa war ein Vernichtungsfeldzug gegen Andersgläubige, Nichtgläubige oder Ketzer, deren Auffassungen der kirchlichen Obrigkeit nicht gefielen. Die gewaltsame Durchsetzung einer Religion ist eine Form von Gleichschaltung ganzer Gesellschaften, die viele Ängste mit sich bringt. Denn wie soll man letztlich so etwas zutiefst Innerliches, nämlich den eigenen Glauben, jemand anderem unter Beweis stellen? Alle guten Taten sagen nichts über die innere Seelenverfassung aus. Die Menschheit wurde immer wieder heimgesucht von verheerenden Kriegen, Naturkatastrophen und Seuchen. Die Ängste vor diesen Bedrohungen waren stets präsent. Die Unsicherheiten, die Gefährdungswahrnehmungen verlangten nach Verarbeitungsstrategien. Sie wurden teils aufgefangen durch den Glauben, teils aber wurden sie auch umgelenkt, indem mögliche Schuldige gesucht wurden, an denen sich dann Zorn und Wut entladen durften. Die Bestrafung oder Eliminierung der (vermeintlich) Schuldigen ist eine Möglichkeit, die eigenen Ängste zu reduzieren. Denn damit erscheint die Misere als beherrschbar. Konnten die Ängste nicht kanalisiert werden, führten sie in schwierigeren Zeiten oft zu regelrechten Massenhysterien, die durchaus politisch gelenkt wurden und ein gutes Beispiel dafür sind, wie Ängste aus Machtgründen
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ideologisch manipuliert werden können. Dies mündet dann vor allem in Krisenkonstellationen in solche Phänomene wie die Verfolgung Andersdenkender, Judenpogrome, Kreuzzüge oder auch das harte Vorgehen gegen Ketzer bis hin zu den Hexenverfolgungen. Interessanterweise fanden gerade die Hexenverfolgungen in Europa vom 15. bis 18. Jahrhundert statt. Es war dies eine Zeit langer Kriege, ungünstiger klimatischer Bedingungen mit Missernten und Hungersnöten, aber auch eines sich langsam ankündigenden Epochenwandels. In Deutschland sollen in diesem Zeitraum mehrere zehntausend vermeintliche „Hexen“ verbrannt worden sein. Allein in Bamberg fiel dem Hexenwahn im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts fast jeder zehnte Einwohner zum Opfer. Inquisition und Hexenverfolgungen, die im Prinzip jede und jeden treffen konnten, auch Kinder, dienten vor allem dazu, die weltanschauliche Dominanz und Machtposition der christlichen Kirche aufrecht zu erhalten, indem Veränderungen der Weltsicht und der gesellschaftlichen Strukturen verhindert werden sollten. Manchmal aber ging es auch einfach darum, sich am Vermögen der Verurteilten zu bereichern. Auch die immer wieder aufflammenden Ängste vor einem Weltuntergang sind kulturgeschichtlich tief verankert und werden oft in einer religiösen Apokalypse verarbeitet und zum Teil verstärkt. Der Terminus „Apokalypse“ bedeutet Enthüllung, Offenbarung, Verkündigung. Dabei geht es um die religiöse oder mythologische Ausmalung einer näheren oder ferneren Zukunft, von der angenommen wird, dass sich nun das Schicksal der Menschheit entscheidet, dass das Weltende eintritt oder eine große Transformation stattfindet. Mit einer Apokalypse verbunden wird der Entscheidungskampf zwischen Gut und Böse, das finale Gericht über die Taten der Menschen und die Vollendung der Weltgeschichte. Die Beschwörung einer Apokalypse dient damit auch der Einstimmung der Menschen auf ein gottgefälliges Leben und die mögliche Bestrafung für deren Sünden. Und sie soll erklären, warum sich für die Menschen, obwohl sie individuell gesehen die göttlichen Gebote befolgen, das Leben nicht bessert, sondern vielleicht sogar verschlechtert. So wird angenommen, dass gerade aufgrund der Zunahme der menschheitlichen Verfehlungen in ihrer Summe das Geschehen auf einen Höhepunkt hindrängt, auf dem sich ein Umbruch, eine Reinigung und Neuformierung vollziehen müssen, womit schließlich Gerechtigkeit, Frieden und Heil erstehen, die Frommen belohnt und die Schlechten durch ewige Verdammnis bestraft werden. Apokalypsen liefern damit so etwas wie Modelle vom Geschichtsverlauf und dessen Kulmi nationspunkt. Sie finden sich schon in alten asiatischen, ägyptischen und griechischen Mythen, haben einen festen Platz in den großen Weltreligionen und werden bis heute vor allem in Krisenzeiten immer wieder ins Spiel gebracht. Zweifellos hatten und haben die Religionen eine machtvolle Orientierungsfunktion. Diese Funktion wird im Zuge der Säkularisierung und Verweltlichung der menschlichen Lebensperspektiven Stück für Stück aufgelöst und zum Teil durch nicht religiöse Weltdeutungen übernommen. Dabei spielen Ideologien eine maßgebliche Rolle. Sie haben im Grunde dieselben Funktionen wie Religionen, benötigen dafür aber keine Berufung auf eine göttliche Instanz mehr.
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8.3 Politische Ideologien Große politische Ideologien formulieren normative Leitideen dafür, wohin sich eine Gesellschaft entwickeln soll, was in einer solchen Gesellschaft als ein gutes, erfülltes und sinnvolles Leben gelten kann und wie dieses zu erreichen ist. Insgesamt geht es in solchen umfassend ausgerichteten Ideologien um weitgespannte politische und gesellschaftliche Visionen von einer besseren Zukunft als Gegenentwurf zu bestehenden Gesellschaften oder zu bestimmten politischen Gegebenheiten und Machtverhältnissen. Auch solche politischen Ideologien stellen eine Art Heilsversprechen dar, aber sie berufen sich nicht mehr auf Götter und sind nicht auf ein Jenseits ausgerichtet. Deshalb sind sie keine Religion. Sie unterscheiden sich aber auch von wissenschaftlichen Theorien, und zwar dadurch, dass sie einzelne Grundideen überhöhen und diese so jedem Zweifel und jeder Kritik entziehen. Dazu schreibt Hannah Arendt: „Ideologisches Denken ist, hat es einmal seine Prämisse, seinen Ausgangspunkt, statuiert, prinzipiell von Erfahrungen unbeeinflußbar und von der Wirklichkeit unbelehrbar.“1 Politische Ideologien verlangen Anhängerschaft und keine kritische Beurteilung und Reflexion. Sie dienen dazu, Menschen in ihren Lebensvorstellungen zu prägen und auf bestimmte Ziele einzuschwören, sie damit zusammenzuschweißen und an die eigene soziale oder politische Bewegung, Partei oder Gruppe zu binden. Die Menschen ihrerseits müssen dem ideologischen Versprechen aus tiefster Überzeugung „Glauben“ schenken können. Ideologien können messianische Züge tragen oder auch apokalyptischen Charakter annehmen. Sie können eine kleine Anhängerschaft haben, aber auch zu einer Massenideologie werden. Wird nun die eigene Ideologie verabsolutiert, werden die eigenen politischen und gesellschaftlichen Ziele so überhöht und normativ aufgeladen, dass sie keine Alternative mehr zulassen, münden sie in Fundamentalismus und Totalitarismus. Dann geht es nicht mehr um einen historischen Wettstreit zwischen verschiedenen Zielen und Werten, sondern um die Behauptung, die alleinig wahre Weltsicht zu vertreten. Damit ist der Weg gebahnt, alle diejenigen, die dieser Ideologie nicht folgen, als „Feinde“ anzusehen und schließlich auch auf die Vernichtung dieser Feinde hinzuarbeiten. Wie im Totalitarismus-Kapitel (Abschn. 7.2) schon angesprochen, gehen die Ideologien totalitärer Bewegungen davon aus, dass das von ihnen angestrebte Ziel so großartig und unbezweifelbar ist, so zukunftsweisend und unabwendbar, dass für seine Erreichung alle Mittel und Maßnahmen gerechtfertigt sind. Allerdings müssen die Menschen davon erst überzeugt werden. Dazu bedarf es einer großen Propagandamaschinerie, die die Gesellschaft auf einen Gleichklang stimmt wie ein Instrument. Warum aber glauben Menschen einer Ideologie? Ideologien bekommen dann Zuspruch, wenn die angebotenen Inhalte den Wünschen und Hoffnungen der Menschen in ihren jeweiligen konkreten 1
Arendt 2005 [1955], S. 966.
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Lebenslagen entgegenkommen. Das Versprechen der Erreichbarkeit dieser Ziele muss für die Menschen schlüssig und nachvollziehbar sein, selbst wenn dies erst in einer nicht näher bestimmten Zukunft eintreten wird. Um eine sol che Bindung der Menschen zu bewerkstelligen, ist es auch notwendig, dass die komplexen Zusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens auf wenige, klare Grundprinzipien zurückgeführt werden, von denen aus die Argumentation aufgebaut wird. Hannah Arendt wies in ihrer Totalitarismus-Analyse auf die pseudowissenschaftliche Strategie der totalitären Propaganda hin, die durch Berufung auf eine als „wissenschaftlich“ ausgegebene Wahrheit ihre Weltanschauung begründet und damit jedem Zweifel entzogen ist.2 So berief sich der Nationalsozialismus auf die biologische Rassenlehre als Naturgesetz, d. h. die Annahme der menschlichen Höherentwicklung durch Züchtung. Der Stalinismus behauptete die unbezweifelbare Wahrheit der historischen Gesetzlichkeit, dass der Kommunismus den Kapitalismus besiegen wird und die höchste Form menschlicher Gesellschaft darstellt. Arendt hob auch hervor, dass die Überzeugungskraft von Ideologien, „trotz größter inhaltlicher Absurdität“, dadurch erreicht werden kann, dass man „ein Argument prinzipiell und in voller Konsequenz der Kontrolle durch Gegenwart wie Vergangenheit entzieht und behauptet, daß nur eine unbestimmt gehaltene Zukunft seine Richtigkeit beweisen kann. Dies muß in jeder Krise wirken, in der die Vergangenheit suspekt und die Gegenwart unerträglich geworden ist.“3 Da Glück und Heil erst in der Zukunft erreicht werden können, lässt es sich auch rechtfertigen, dass noch ein langer, harter und opferreicher Kampf geführt werden muss, durch den die richtige Gesellschaftsform auf den Weg gebracht und dann gestaltet werden soll. Und die Einzelnen können dann sogar stolz darauf sein, an diesem welthistorischen Projekt mitwirken zu dürfen. Ideologien funktionieren oft so, dass sie die Welt durch Oppositionen beschreiben: gut und böse, wahr und falsch, schön und hässlich, Freund und Feind, Liebe und Hass. Sie dienen dazu, das Weltbild auf eine eindeutige Weise zu strukturieren. Doch gerade solche Allgemeinbegriffe wie Wahrheit, Schönheit, Glück, Freiheit, Gut und Böse bilden keine faktischen Gegebenheiten ab, sondern sind Abstraktionen. Wenn sie so verstanden werden, als ob es „das Gute“ oder „das Böse“, „den objektiven Feind“ oder „die Gesetzmäßigkeit der Geschichte“ wirklich gibt, und man selbst für sich in Anspruch nimmt, sicher zu wissen, was „die Wahrheit“ ist, errichtet man ein ideologisches Fundament aus dem Grundbestand von als „wahr“ ausgegebenen Auffassungen, von dem aus alle konkreten Geschehnisse eingeordnet werden können. So sind Ideologien im Kern immer fundamentalistisch und durch Argumente von außen nicht angreifbar, ebenso wenig wie Religionen in ihren Glaubensgrundsätzen angreifbar sind. Wenn auf diese Weise die eigenen Vorstellungen als schlechterdings richtig und unbezweifelbar für alle Menschen angesehen werden, legt man sich mit seiner eigenen Ideologie so etwas wie eine Rüstung an, 2 3
Arendt 2005 [1955], S. 734. Arendt 2005 [1955], S. 735.
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mit der man gegebenenfalls mit seiner ideologischen Wahrheit gepanzert in den Krieg zieht. Denn wenn man die eigenen Vorstellungen von der Welt für unbezweifelbar richtig hält, müssen die Vorstellungen der anderen, die ja gerade wegen dieser ideellen Diskrepanz als „die Anderen“ angesehen werden, falsch sein. Daraus lässt sich der bedingungslose Kampf gegen den Feind legitimieren. Doch die Jahrtausende alte Diskussion über den Gehalt solcher Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit, das Wahre, Gute und Schöne, Sinn des Lebens oder Ziel der Geschichte müsste uns eigentlich eines Besseren belehren. Sie zeigt uns, dass diese Allgemeinbegriffe immer wieder neu mit Bedeutung gefüllt werden, durch Gemeinschaften, Gruppen und Individuen. Was für die eine Gruppe geboten und richtig erscheint, ist für die andere Gruppe verwerflich und inakzeptabel. Dies betrifft die Vorstellungen von Familienleben, Gastfreundschaft, Ehre und Pflicht genauso wie die Gepflogenheiten in Kleidung, Ernährung und Wohnen. Für die eine Kultur ist es legitim, mehrere Frauen zugleich zu heiraten, für andere Kulturen vollkommen ausgeschlossen und unmoralisch. In der einen Kultur finden es Menschen schön, möglichst wenig Dinge in einen Wohnraum zu stellen, in der anderen Kultur staffieren sie die Räume mit überbordendem Mobiliar und farbenfroher Ornamentik aus. Manche Frauen tragen Tops und kurze Röcke, von anderen wird Vollverschleierung verlangt. Die einen essen Fleisch, die anderen nicht. Werden diese Unterschiede nicht mit Toleranz ausgehalten, sondern in unversöhnlichen ideologischen Abgrenzungen zugespitzt, führt es zu Konflikten und Auseinandersetzungen. Unter alltäglichen Umständen haben wir meist keine Probleme, unser Leben zu führen, weil wir geleitet werden von sozialen Regeln, bewährtem Wissen und gesammelten Erfahrungen. Das Wort Alltag sagt dies selbst aus: Es ist wie „alle Tage“, hier passiert im Grunde immer das Gleiche. Damit ist das Alltagsleben das Gewohnte, Vertraute und Überschaubare, in dem auch die Ängste im Rahmen des Alltäglichen bleiben und die gelernten Methoden ihrer Linderung und Verarbeitung gut funktionieren. Wenn wir aber in Situationen geraten, die durch das Gewohnte nicht abgedeckt sind, formen sich Arten von Ängsten aus, für die keine Bewältigungsstrategien eingeübt werden konnten. Menschen kommen immer wieder in Situationen, in denen sie etwas tun sollen, das sie bisher noch nie getan haben, das sie noch nicht ausprobieren konnten, von dem sie sich vielleicht überfordert fühlen: ein Bewerbungsgespräch, eine neue Arbeit, eine erste Flugreise, das erste Kind, das man erwartet. Und je grö ßer die Wahrscheinlichkeit ist, mit neuen Herausforderungen konfrontiert zu werden, umso mehr kreisen die Gedanken um das Unberechenbare und umso weiter spannt sich das Netz der Ängste in der eigenen Vorstellungswelt. Wir können uns so vieles ausmalen, was schiefgehen könnte, dem wir vielleicht nicht gewachsen sind. Nicht die gelebte Vergangenheit, sondern das Unberechenbare der Zukunft ist der Boden aller Ängste. Vergangenheit kann nicht ängstigen, weil hier nichts mehr zu ändern ist. Relevant ist immer nur das, was mir oder anderen oder der ganzen Menschheit noch bevorstehen
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könnte. Doch je mehr auf dem Spiel steht, je auswegloser die eigene Situation ist, je weniger Hilfe in Sicht ist, desto größer das Ängste-Potenzial, das angesprochen werden kann, auch ideologisch. Dann entstehen große weltanschauliche Verunsicherungen, die Menschen dazu verleiten, sich schnell an diejenigen anzuschießen, die am lautesten oder zunächst plausibelsten Erklärungen anbieten und Lösungen versprechen. Und um Rettung verkaufen zu können, ist es hilfreich, Menschen weiter zu verunsichern und Ängste anzustacheln. Der Sinn dahinter, Ängste absichtlich zu schüren, besteht darin, Menschen zu etwas zu bewegen, das sie ohne diese Ängste nicht tun würden. Sie überschreiten die Grenzen ihres gewohnten Lebens aus einem Gefühl des Bedrohtseins heraus und der Bereitschaft, sich selbst, die Familie, die Gemeinschaft vor der Gefahr zu beschützen, notfalls durch Kampf. Ängste sind eine mächtige Waffe. Gerade politische Ideologien sprechen die Ängste der Menschen an und versprechen ihnen ein besseres Leben, eine schönere Zukunft und vielleicht auch die Möglichkeit zur Mitarbeit an einer großen historischen Mission. Sie mobilisieren gegen diejenigen, die als Feinde angesehen werden, von denen man deshalb glaubt, dass sie der eigenen Sache schaden. Und auch die engere Gefolgschaft muss immer wieder bei der Stange gehalten werden, durch Belohnung, aber auch durch das Schüren von Ängsten, Ängsten vor Strafe, vor Verfolgung, vor der ideologischen Aburteilung, vor dem Verlust der sozialen Zugehörigkeit. Jede Ideologie hat ihre Ideologen, die für die geistige Erarbeitung der ideologischen Ziele, Wertvorstellungen, politischen Grundideen und deren ständige Anpassung zuständig sind. Und sie braucht diejenigen, die diese Ideologie verkünden und erklären können und die es schaffen, Menschen für die eigenen Ziele zu begeistern. Solche Ideologen können sich der Mittel der Demagogie und des Populismus bedienen, sie haben die Aufgabe, rhetorisch und argumentativ geschickt zu manipulieren und die öffentliche Meinung gezielt zu beeinflussen. Und oft werden sie angeführt von charismatischen Persönlichkeiten mit einem Sendungsbewusstsein, denen es aufgrund ihrer Selbstgewissheit und visionären Kraft auch gelingt, viele Anhänger in ihren Bann zu ziehen. Dies trifft für alle Religionen, Sekten, spirituelle Gruppen, politische Parteien zu, die jeweils für bestimmte Interessen und Anschauungen eintreten. Und es gilt auch für die Verschwörungstheorien aller Zeiten.
8.4 Verschwörungsvermutungen und Verschwörungstheorien4 Seit den ältesten Mythen, Erzählungen und Geschichten spielen die Annahmen von Verschwörungen in den Weltbildern der Menschen eine Rolle. Verschwörungen gehören wohl von Anfang an zur Geschichte der Menschheit. Selbst von höher entwickelten Tieren wissen wir, dass sie ihre Artgenossen oder 4 Aus diesen drei Büchern habe ich Anregungen für das Kapitel bezogen: Raab u. a. 2017; Butter 2018; Bauer/Deinzer 2021.
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ihre Fressfeinde bewusst täuschen können. Entsprechend gab es wohl immer auch Menschen und Gruppen, die andere hintergingen, die im Geheimen Pläne schmiedeten, um ihre Interessen durchzusetzen, um einen Vorteil im Konkurrenzkampf um lebenswichtige Dinge zu erzielen. Und es gab Vermutungen darüber, wie verborgene Mächte Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen würden, von den Naturkräften bis zu den Göttern. Viele alte Mythen sind durchzogen von den Schilderungen der Kämpfe der Götter gegeneinander, von Intrigen, Hinterlist und Verrat, aus Gründen der Macht, der Rache, des verletzten Stolzes oder des politischen Kalküls. Diese Mythen sind die ältesten inhaltlichen Überlieferungen darüber, wie die Weltbilder vor einigen Tausend Jahren konzipiert waren. Sie boten den Menschen verdichtete und sinnbildliche Erzählungen über die Entstehung der Welt, über das Wirken der Naturkräfte, über das Gute und Böse, an denen sich die Menschen in ihrem Leben orientieren konnten. Orientierungswissen ist essenziell. Jeder Mensch braucht ein solches Orientierungswissen, um am gesellschaftlichen Leben, am Berufsleben, am Familienleben teilhaben zu können. Wir brauchen Informationen darüber, wie die Dinge um uns herum funktionieren, welche Regeln gelten und wofür die verschiedenen Institutionen zuständig sind. Informationen bilden die Bausteine der Weltorientierung. Doch woher beziehen wir diese Informationen, das Wissen zur Lebensführung? Einen Teil dieses Wissens erwerben wir im Nahbereich der Familie und Freunde, dann der Schule und im Beruf. Doch da rüber hinaus gibt es auch die Informationen, die viel umfassender sind und Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur überhaupt betreffen. Wir erhalten sie heute zu großen Teilen aus den Massenmedien Fernsehen, Radio, Internet, die die Informationen anbieten, filtern und ihre Verbreitung lenken. Vor allem moderne, kulturell und medial vielschichtige Gesellschaften sind dabei dadurch gekennzeichnet, dass unüberschaubar viele Informationselemente kursieren und sich zahllose konkurrierende Sichtweisen entwickeln, ohne dass sich dabei ein verbindliches Weltbild herauskristallisiert. So finden sich heute nebeneinander die Nachrichten der öffentlich-rechtlichen und privaten Sender, Informationsportale, Messenger dienste, Plattformen unter schiedlichster Gruppierungen, Podcasts von sogenannten Influencern bis hin zu solchen Portalen, in denen Menschen versuchen, ihre Kommunikation der staatlichen oder privatwirtschaftlichen Kontrolle zu entziehen. Dabei wird die ganze Spannweite von verantwortungsvoller Berichterstattung auf der einen Seite bis zur bewussten Verbreitung falscher Informationen auf der anderen Seite bedient. Die Endverbraucher können all dies meist nicht überprüfen, da sie nicht jedes Detail der Informationsmenge nachzuverfolgen und zu beurteilen in der Lage sind. Informationen können aus politischen Gründen der Bevölkerung vorenthalten werden. Informationen können durch die Art ihrer Kommunikation modifiziert und gefärbt sein. Es ist möglich, Informationen aufz u bauschen, auszuschmücken, abzuwerten oder zu verdrehen und zu verfälschen. Für die Menschen ist es deshalb schwierig, die Informationsflut zu überblicken
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und zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzusetzen. Und wenn man nicht durchschauen kann, wie die Institutionen, Großunternehmen, medialen Strukturen funktionieren, was politisch oder gesellschaftlich vor sich geht, wer die entscheidenden Akteure sind, kann man keine wohldurchdachten und begründeten Entscheidungen fällen, läuft das ganze Leben wie auf Glatteis. Wenn bei den Menschen der Eindruck entsteht, dass das eigene Wissen nicht ausreicht, um politische, gesellschaftliche und ökonomische Zusammenhänge zu verstehen, fühlen sie sich ohnmächtig und orientierungslos. Es verstärken sich die Orientierungsängste. Solche Ängste haben stets etwas mit unsicherem Wissen und fehlendem Deutungshorizont zu tun. Wenn zu diesem diffusen Gefühl der Orientierungslosigkeit noch die Vermutung kommt, von anderen bewusst getäuscht und belogen zu werden, damit diese ihre Interessen durchsetzen können, auch wenn sie anderen damit schaden, verstärken sich die Ängste. Es wächst das Misstrauen anderen gegenüber, vor allem bezogen auf „die da oben“, was alle meinen kann, die an der Meinungsbildung und Machtausübung Anteil haben: die Politiker, Manager, Lobbyisten, Wissenschaftler, Journalisten. Wenn nun vielen Menschen nicht mehr klar ist, wem man eigentlich noch glauben kann, kommt durchaus auch der Verdacht auf, dass die entscheidenden Weichenstellungen für Politik, Ökonomie, Gesellschaft im Geheimen stattfinden. Schwindet das Vertrauen in die Ehrlichkeit, Objektivität und Neutralität der Medienanstalten und Journalistinnen und Journalisten, sehen die Skeptiker nur noch „Lügenpresse“. Deshalb haben die Medienplattformen eine nicht zu unterschätzende Verantwortung dafür, welche Inhalte kursieren und wie sie präsentiert werden. Denn Menschen sind abhängig von den Informationen, die ihnen in den öffentlich zugänglichen Medien angeboten werden. Doch die Medien liefern nicht einfach nur Informationen, sie wählen aus, ordnen, geben Deutungsrahmen und Interpretationen. Sie tragen so in erheblichem Umfang bei zur inhaltlichen Ausformung von Wissen, aber auch von Emotionalität, von Ängsten und Befürchtungen, von Hoffnungen und Zielsetzungen, von Wertvorstellungen und den Maßstäben ihre Beurteilung. Sich individuell eine Weltsicht zusammenzusetzen, ist anstrengend, zeitraubend und mit großem kognitivem Aufwand verbunden. Viele Menschen sind davon überfordert, sie wählen die einfache Variante und schließen sich „fertigen“ Welterklärungen an, die auf dem Ideologie- und Meinungsmarkt angeboten werden. Wie schon am Beispiel der Religionen und Ideologien angesprochen, bieten diese weltanschaulichen, religiösen und ideologischen Deu tungen nicht nur Orientierungssicherheit, sondern sie stiften auch Gemeinschaftssinn und schaffen eine Art von Identität. Sie haben dabei eine große Abwehrkraft. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Theorien, die offen sind für Prüfung, Kritik und Änderung, besteht ihr Funktionsprinzip darin, dass sie gerade nicht widerlegt werden können und sollen. Sie stützen ihr jeweiliges Weltbild auf Ausgangsprämissen und argumentative Strategien, die nur geglaubt oder abgelehnt werden können. Wer sie annimmt und glaubt, gehört zur Gemeinschaft. Dies gilt auch für die Verschwörungstheorien.
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Der Terminus Verschwörungs-Theorie ist dabei zunächst nicht ganz eindeutig, denn unter Theorien verstehen wir meist gut begründete, systematische Wissenszusammenhänge. Wenn von Verschwörungstheorie gesprochen wird, ist dabei aber oft keine methodisch-systematische Aufarbeitung von wirklichen Verschwörungen oder eine wissenschaftliche Argumentation, die eine Verschwörung begründet, gemeint, sondern der Versuch, aufgrund bestimmter Indizien auf Verschwörungen zu schließen. Es sind also immer erst einmal Vermutungen, die sich in den seltensten Fällen tatsächlich als wahr herausstellen. Deshalb wird alternativ auch von Verschwörungserzählungen oder Verschwörungsmythen gesprochen. Ich werde im Folgenden meist den Terminus Verschwörungstheorie verwenden, da er sich größtenteils in der Diskussion etabliert hat. Ich verstehe unter „Theorie“ hierbei den Versuch, aus einer Reihe von Informationselementen eine zusammenhängende, dabei mehr oder weniger gut begründete Argumentation zu entwickeln. Ziel ist es, die Verschwörung zu beweisen und deren Bedrohung für die Menschen aufzuzeigen. Fehlt eine solche Argumentation, kann bestenfalls von einer Verschwörungsvermutung oder Verschwörungsbehauptung, die in die Welt gesetzt wird, die Rede sein. Doch auch solche Formen finden ihre Anhänger, wenn sie in deren Vorstellungswelt passt. Entsprechend den eigenen weltanschaulichen Präferenzen wählen wir aus dem verfügbaren Angebot diejenigen Mosaiksteine aus, die am besten mit den eigenen Wertmustern, politischen Überzeugungen oder sonstigen Lebensvorstellungen zusammenpassen. Dabei ist es mit Blick auf die verschiedenen Verschwörungsnarrative nicht immer notwendig, dass sie durchstrukturiert und widerspruchsfrei sind. Für die Anhänger ist die Passfähigkeit zu den eigenen Grundüberzeugungen wichtiger als die konsistente Argumentation. Wenn aber einzelne Verschwörungstheorien eine breitere Überzeugungskraft entfalten wollen, müssen sie auch eine Art Überzeugungsarbeit leisten und argumentieren, beweisen und begründen. Sie bekunden damit ihre Seriosität und den Anspruch als „Theorie“. Wie funktionieren Verschwörungstheorien? Welches sind Merkmale, an denen sie zu erkennen sind? Jede Verschwörungstheorie spannt sich auf zwischen drei Akteursbereichen: den (vermeintlichen) Verschwörern, den Leidtragenden und den Enthüllern. Als Verschwörer gelten diejenigen, die sich im Geheimen zusammengeschlossen haben, um ihre privaten, egoistischen Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen. Gerade weil ihre Aktivitäten im Dunklen bleiben, können die Menschen die Verschwörung nicht erkennen und durchschauen. Nun gab es immer schon und gibt es auch heute noch Gruppierungen, die im Geheimen agieren, Geheimbünde, esoterische Zirkel und Sekten. Sie sind nicht allen zugänglich, ihre Wahrheiten werden nur den Eingeweihten bekannt. Sie sind jedoch nicht immer Verschwörungen. Von einer Verschwörung wird dann gesprochen, wenn davon ausgegangen wird, dass die Verschwörer eigennützige Ziele verfolgen, die zum Schaden der Mitmenschen sind, und dass sie über eine solch enorme Macht verfügen, dass sie dazu in der Lage sind, das Geschehen in einer Gesellschaft oder gar auf der ganzen Welt für die Umsetzung ihrer geheimen
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Pläne zu lenken. Gerade weil angenommen wird, dass die Verschwörer im Geheimen wirken und meist nur eine Gruppe von wenigen Eingeweihten bilden, wird auf die Gefährlichkeit der Verschwörung geschlossen. Zum Teil wird auch angenommen, dass sich die Verschwörer eine politische Elite als Marionetten für die Durchführung ihres geheimen Plans dienstbar gemacht haben. Als die Leidtragenden der Verschwörung gilt dann die große Mehrheit der Menschen, die belogen und betrogen werden, auf deren Kosten die Verschwörer ihre Pläne durchsetzen wollen. Da sie nichts von der Verschwörung bemerken, werden sie oft als „Schafe“ oder als „schlafend“ angesehen. Zu jeder Verschwörungstheorie gehören diejenigen, die meinen, dass sie die Verschwörung durchschaut haben, die herausfinden konnten, wie sie funktioniert, was ihr Anliegen ist und vielleicht sogar, wer die Verschwörer sind. Sie sind Einzelne oder kleine Gruppen, die in ihren Verschwörungstheorien die Puzzleteile zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen und so die Verschwörung, von der sie selbst überzeugt sind, zu beweisen trachten. Sie leisten dabei zum Teil wichtige Aufdeckungs- und Aufklärungsarbeit, wenn es um tatsächliche Verschwörungen oder auch politische Intrigen und Lügen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft geht. Immer wieder werden geheimen Absprachen und Vorgänge enthüllt, wird letztlich aufgedeckt, dass die Verantwortlichen schlichtweg gelogen haben, vom Watergate-Skandal, der Lewinsky-Affäre, der Lüge über die vermeintlichen Massenvernichtungswaffen im Iran bis zum VW-Dieselskandal und den Panama-Papers. Solche Verfehlungen aufzudecken, gelingt oft auch deshalb, weil Menschen solche Machenschaften nicht mehr mittragen wollen oder weil Beweismaterial auftaucht, das dann vielleicht durch Journalisten weiterverfolgt wird. Durch eine solide Vorgehensweise, die gut begründet, auf Faktenmaterial basierend und für andere rational nachvollziehbar ist, können tatsächliche Verschwörungen aufgedeckt werden. Woher kann man aber bemessen, ob eine Verschwörungstheorie glaubhaft ist? Vielleicht kann man als Richtschnur formulieren, dass die Annahme einer Verschwörung umso überzeugender ist, je mehr sie den eigenen Erfahrungen und dem verfügbaren allgemein anerkannten wissenschaftlichen Wissen entspricht. Sie ist umgekehrt umso unglaubhafter, je weiter sie sich vom gesunden Menschenverstand und den Lebenserfahrungen der Menschen entfernt, je abstruser sie sich anhört, je unglaublicher und übermenschlicher die Fähigkeiten sind, die den Verschwörern zugesprochen werden. Dies bedeutet nicht, dass nicht trotzdem viele Menschen bereit sind, einer solchen Verschwörungsbehauptung Glauben zu schenken. Wenn sich Verschwörungstheorien in diesem Spektrum von „sehr wahrscheinlich“ bis „total unwahrscheinlich“ einordnen lassen, wird auch deutlich, dass sie ganz verschiedene Ansprüche an Rationalität, argumentative Folgerichtigkeit und Überprüfbarkeit stellen. So gibt es Verschwörungstheorien, die einen sehr hohen theoretisch-methodischen Anspruch stellen, sehr viel Material beibringen und um Erläuterung bemüht sind. Und es gibt die andere Seite des Spektrums, wo diese Forderungen nach „Theorie“ nicht mehr entscheidend sind, sondern die inhaltliche, ideologische
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Ausrichtung bestimmte Annahmen ihrer Anhänger bestätigt. Deshalb sind auch diejenigen, die bestimmte Verschwörungen annehmen, auf diesem Spektrum verteilt: Es gibt diejenigen, die ernsthaft etwas erforschen und aufdecken wollen und andererseits diejenigen, die bewusst lügen. Verschwörungstheorien können inhaltlich ganz unterschiedlich ausgerichtet sein und eigentlich alle Bereiche des Lebens betreffen. Und sie lassen sich in den Dienst sehr verschiedener Absichten und Zwecke stellen. Oft geht es zunächst um die Erklärung von etwas, das die Menschen eigenartig oder unverständlich finden oder das ihr normales Leben stört, beispielsweise das Auftauchen einer Seuche, der Ausbruch eines Krieges, terroristische Anschläge, ökonomische Krisen oder bestimmte politische Vorgänge. Oder die Verschwörungsvermutungen werden benutzt, eigene Annahmen zu bestimmten Vorgängen oder Machenschaften zu bestätigen, sei es in der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder in gesellschaftlichen Gruppierungen. Dabei spielt auch die Absicherung der eigenen Auffassung eine Rolle, indem dem Gegner eine Verschwörung vorgeworfen wird. Umgekehrt können Verschwörungstheorien eingesetzt werden, um von den Defiziten der eigenen Position, Partei, Ideologie abzulenken. Sie dienen in diesen Einsatzbereichen vor allem der Machtfestigung. Verschwörungstheorien haben manchmal populistischen Charakter und zielen auf die Herabsetzung der sogenannten „Eliten“ einer Gesellschaft. So lassen sich Massen mobilisieren, um die eigene politische Macht zu stärken. Sie können dabei auch dazu instrumentalisiert werden, eine Gemeinschaft auf Feindbilder einzuschwören und so ihre Kampfbereitschaft zu erhöhen, seien diese Feinde nun bestimmte soziale Kräfte in der Gesellschaft, die Verbündeten des Teufels, die Kapitalisten oder Kommunisten, die Pharma- oder Rüstungsindustrie, die jüdische Weltverschwörung oder die Außerirdischen, die sich die Erde unterwerfen wollen. Die Mehrzahl der kursierenden Verschwörungstheorien beruht auf Vermutungen, die letztlich nicht bewiesen, aber eben auch nicht widerlegt werden können. Sie funktionieren so, dass sie bestimmte Grundannahmen über den Gang der Dinge, über die Pläne der Verschwörer und ihre verborgenen Aktivitäten auf eine Weise in einen Zusammenhang stellen, dass sie für die Anhänger einer solchen Theorie eine stimmige Geschichte ergeben und zwar, weil sie sie glauben wollen, weil sie ihren eigenen Auffassungen entsprechen. Selbst wenn diese Geschichte solch absonderliche Elemente enthalten sollte, dass sie für sich genommen niemand ernst nehmen würde, werden sie von den Anhängern akzeptiert, weil sie zu ihren sonstigen Grundüberzeugungen passen. Wie stark dabei tatsächlich auf Fakten und Beweise gesetzt wird, nur an die Gefühle der Menschen appelliert wird oder bewusst Lügen eingesetzt werden, bestimmt dann die Qualität der Verschwörungstheorien. Entscheidend für die Publikumswirksamkeit sind dabei einerseits der Grundtenor und die Botschaft einer solchen Verschwörungstheorie, andererseits eine konkrete gesellschaftliche Stimmungslage, die die Empfänglichkeit für Verschwörungsvermutungen bei den Menschen erhöht. Wenn es Krisen gibt, wünschen sich viele Menschen die Identifizierung von Schuldigen. Wer fest
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von Verschwörungen überzeugt ist, sieht sich durch alles das, was zur vermuteten Verschwörung passt, bestätigt. Solche Verschwörungsmythen reichen von der festen Überzeugung, dass die Welt bevölkert sei von Hexen und Dämonen als den Werkzeugen des Teufels, über diejenigen von der Unterwanderung aller Regierungen durch amerikanische, russische oder chinesische Geheimdienste bis hin zu denjenigen, die glauben, dass die Erde von außerirdischen Reptilien beherrscht wird. Die Covid-19-Pandemie wird von manchen Verschwörungsverfechtern darauf zurückgeführt, dass sie als eine Geheimwaffe eingesetzt würde, um politische oder ökonomische Ziele durchzusetzen, oder dass sie von der Pharmaindustrie ausgelöst wurde, um ihre Impfstoffe ver kaufen zu können. Obwohl die angenommenen Verschwörungen verunsichern, gibt dabei jedoch die Auffassung, sie durchschaut zu haben und zu wissen, wie die Dinge „in Wahrheit“ sind, ein Gefühl der Überlegenheit. Denn wer die „wahren“ Zusammenhänge kennt, kann sich selbst besser schützen, beispielsweise, indem man sich nicht impfen lässt. Die gesamte Palette der Verschwörungstheorien reicht nun aber auch bis zu dem Extrem, dass Verschwörungen behauptet werden, die vollkommen frei er funden sind. Dies geschieht meist aus rein manipulativen Gründen, um Menschen zu täuschen, politische Stimmungen zu verändern und eigene Machtziele durchzusetzen, um die eigene Anhängerschaft mit einem Feindbild auszustatten und von bestimmten politischen Zielen überzeugen zu können. Hierzu zählen auch solche demagogischen Strategien, dass bestimmte historisch belegte Wahrheiten oder wissenschaftlich bestätigte Erkenntnisse einfach geleugnet werden. Dies kann sich auf alle historischen Ereignisse oder Wissensbereiche beziehen. Erst einmal bestreiten lässt sich alles und jedes: dass es jemals einen Sokrates gab, dass die Nazis Millionen Juden in KZs ermordet haben, dass es ein Corona-Virus gibt, dass die Erde kugelförmig ist, dass die Mondlandung von Apollo 11 nie stattgefunden hat. Doch die Leugner jeder Couleur bleiben ihrerseits die Gegenbeweise schuldig. Sie glauben einfach nur, dass es nicht so gewesen sein kann, weil es nicht in ihr eigenes Weltbild passt. Sie benutzen ihre Leugnungs-Strategie, um bestimmte ideologische oder politische Inhalte zu postulieren. Sie verbreiten bewusst falsche Informationen, also Fake News. Und manche dieser Verschwörungsgurus verdienen einfach nur ihr Geld damit, dass sie Menschen Interpretationsangebote machen, die ihnen in Notlagen plausibel erscheinen oder die einfach deren Überzeugungssysteme bedienen. So verkaufen Leute als Wundermittel gegen Covid-19, Masern oder Autismus chlorhaltige Chemikalien, die Eltern dann ihren Kindern einflößen. Verschwörungstheorien sind nicht einfach eine gedankliche Spielerei. Sie leisten für ihre Anhänger letztlich eine Ausrichtung und Stabilisierung ihres Weltbildes. Sie bieten meist eine vereinfachte Sicht auf die Dinge. Die Komplexität der Zusammenhänge in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wird auf wenige Hauptaspekte reduziert, die so weit verallgemeinert werden, dass sie das gesamte Modell tragen. Dies funktioniert vor allem dann gut, wenn es Situationen gibt, für deren Erklärung Wissen fehlt, beispielsweise hinsichtlich
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der Langzeitfolgen der Corona-Impfungen. Erfahrungswerte vergleichbarer Impfungen werden nicht akzeptiert. Die Verschwörungsvermutungen dienen auch dazu, sich das Entstehen von Krisen zu erklären, in denen man als Individuum oft von den negativen Folgen betroffen ist, denkt man an tiefgreifende Finanzkrisen. Hier kann die Verschwörungstheorie dann dazu dienen, Sündenböcke für die Misere zu benennen und so den eigenen Frust abzuleiten. So sprechen Verschwörungstheorien oft diejenigen an, die sich in ihrer Gesellschaft als abgehängt und chancenlos ansehen, die Minderwertigkeitsgefühle haben oder viele Ängste mit sich herumtragen. Der unerschütterliche Glaube an eine Verschwörung resultiert immer aus tiefgreifenden, manchmal bis ins Paranoide gesteigerten Ängsten ihrer Anhänger, dass in der Welt etwas im Verborgenen geschieht, was zu ihrem eigenen Schaden ist und was die meisten Menschen in ihrer Verblendung nicht wahrhaben wollen. So würden die dunklen Kräfte ihre Macht ausüben, zum Beispiel die Superreichen, die alle Regierungen bestochen hätten, oder Außerirdische, die den ganzen Funk abhören würden, die Pharmalobby, die durch ihre Produkte das Bevölkerungswachstum steuere, und viele mehr. Gerade die Komponente, dass da etwas im Geheimen geschieht, dass man selbst Opfer fremder Machenschaften ist, gibt den Ängsten Nahrung. Insbesondere wenn solchen Verschwörungen eine so große Macht zugesprochen wird, dass die Aktivitäten der Verschwörer sehr viele Menschen betreffen und gravierende Veränderungen im Leben herbeiführen könnten und man sich selbst dem hilflos ausgesetzt wähnt, entfachen sich an diesem Ohnmachtsgefühl die Ängste. Denn gerade das Geheime und Unkalkulierbare der vermuteten Verschwörung verstärkt den Eindruck, nicht genau zu wissen, was eigentlich gespielt wird, und dementsprechend auch nicht angemessen reagieren zu können. Verschwörungsannahmen haben ihren Nährboden nicht nur in einer kognitiven Überforderung, weil die moderne Welt mit ihren endlos vielen und widersprüchlichen Aspekten, Informationen, Geschehnissen schwer überschaut werden kann. Zu beachten ist auch, dass viele Menschen den Politikern nicht vertrauen, sich von ihnen belogen und betrogen fühlen, weil sie viele politische Verfahren und Entscheidungen nicht nachvollziehen können und sie ihnen deshalb nur als Interessenklüngel einer Machtelite erscheinen. Zudem sehen sie auch im gesamten Bereich der öffentlich-rechtlichen Massenmedien lediglich Werkzeuge der Machthaber, denn die Berichterstattung wird wahrgenommen als politisch kontrolliert. Das Unbehagen spitzt sich dann noch zu, wenn man davon ausgeht, durch Fernsehen, Radio und Zeitung bewusst belogen zu werden. Hat sich einmal eine derartige Politik- und Medienskepsis im eigenen Weltbild verfestigt und trifft sie dann noch auf eine Verschwörungstheorie, die diese Auffassungen zu bestätigen scheint, und kommt dann auch noch dazu, dass man im Umfeld der Verschwörungsgläubigen nur von Gleichgesinnten umgeben ist, verdichten sich alle diese Aspekte zu einer großen Blase, die geistigen und psychischen Schutz bietet. Dementsprechend lassen sich die Anhänger von Verschwörungstheorien kaum gerne auf Diskussionen mit Menschen ein, die andere Sichtweisen haben, sondern verstärken ihre
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eigene Position dadurch, dass sie nur ähnlich Denkende um sich haben und ausschließlich mit diesen kommunizieren. In der so erfolgenden Abschottung kann dann der Eindruck entstehen, dass man selbst auf der Seite der Mehrheit steht, gerade weil man nur mit Gleichgesinnten kommuniziert und die abweichenden Auffassungen einfach ausblendet. Mit der einmal festgelegten Sichtweise entledigt man sich dabei zugleich der permanenten Herausforderung, die mit der modernen, dynamischen Lebensweise verbunden ist, offen zu sein für Veränderungen, für neue Informationen, für Kritik und Korrektur eigener Meinungen, aber auch für die Anstrengung einer eigenen Urteilsfähigkeit. Eine Kultur der offenen Diskussion wird bewusst abgeblockt. Der selbst gewählte Tunnelblick hat etwas Beruhigendes, Geradliniges und Einfaches. Er entlastet. Die Tunnelröhre scheint weniger anfällig für die Gefahren des Lebens. Und sie hat keine Abzweigungen. Die Corona-Pandemie, die in der Anfangszeit viele Menschen enorm ängstigte, auch weil die öffentliche Berichterstattung Tag für Tag von Infektionszahlen, Inzidenzen, Toten wimmelte, ist ein gutes Beispiel für das Wuchern von Verschwörungsvermutungen und Pseudoerklärungen. So wurde verbreitet, Bill Gates würde Impfstoffe herstellen lassen, die einen Mikrochip enthielten, mit dem alle Geimpften überwacht werden könnten. Oder es wurde angenommen, die 5G-Funknetze würde die Ausbreitung des Covid-19-Virus befördern. Andere befürchteten eine Übernahme der Gesundheitssysteme durch Großkonzerne der Pharmaindustrie. Diese Beispiele machen deutlich, dass hier Versatzstücke aus unterschiedlichen Lebensbereichen miteinander in Verbindung gebracht und so Erklärungen mit den gewünschten Stoßrichtungen gebastelt werden. Dabei wird immer davon ausgegangen, dass die öffentlich zugänglichen Informationen nur einen Teil der Zusammenhänge abbilden und die eigentlich wichtigen Dinge im Verborgenen geschehen, dass die öffentlichen Medien zum Teil selbst daran mitwirken würden, die Wahrheit zu vertuschen. Es gibt kein Zeitalter und kein individuelles Leben ohne Ängste. Sie können mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommen, aber sie sind als Resultat des Wissens um die Gefährdungen, denen jeder Mensch ausgesetzt ist, eine Begleiterscheinung menschlicher Existenz. So finden sich in jedem Zeitalter, in jeder Kultur und in jedem Lebensbereich Bedingungen und Konstellationen, die die Ängste besonders gut befördern. Diese Ängste zu instrumentalisieren, geschieht oft im Interesse politischer und religiöser Machtausübung. Aber auch die individuellen Orientierungsbemühungen sind durchsetzt von Ängsten: Die Spanne reicht von persönlicher Beunruhigung bis zum Berechnen des Zeitpunktes des Weltuntergangs. Nicht nur die eigene Sterblichkeit, sondern die Auslöschung der Menschheit überhaupt gehören zu den großen Narrativen der Ängste-Produktion und Ängste-Lenkung. Dabei ist es manchen Ideologen oder Verschwörungstheoretikern durchaus willkommen, verschiedene Ängste- Themen zusammenzuführen, um die so potenzierten Ängste zu benutzen, um politische, ökonomische oder ideologische Ziele zu erreichen. Und gerade dieses Zusammenführen, das Verbinden unterschiedlichster gedanklicher Fäden
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wird heute durch die Möglichkeiten des Internet enorm gesteigert. Die virtuellen Weltauffassungen, die so entstehen, müssen nicht zur Realität passen, sie können gänzlich abdriften. Aber solange sie für Menschen an irgendeiner Stelle als Modell der Welterklärung attraktiv erscheinen, werden sich Anhängergruppen bilden. Das Internet bietet Plattformen, um sich nach Interessenorientierungen zusammenzuschließen und gegenseitig entweder zu beruhigen oder weiter aufzuwühlen. So können öffentliche Nachrichten, aber auch einfach Gerüchte, die sich von Mund zu Mund oder über soziale Medien verbreiten, zu Exzessen, zu Massenpaniken, aber auch zu politischen Aufständen führen. Wenn im Internet Hass verbreitet und zu Gewalt aufgerufen wird, hat dies Auswirkungen auf die individuelle und gesellschaftliche Ängste-Bereitschaft und Ängste-Abwehr. Die Art, wie Menschen ihre Welt sehen und bewerten, speist sich aus den Stimmungen ihrer Lebenswelt, aus der sozialen Atmo sphäre, die sie umgibt. Doch nicht allen, die sich bestimmten Verschwörungsmythen anschließen, sind diese durchgehend plausibel. Manche wenden sich einer Verschwörungsbewegung zu, bis diese dann doch mit anderen Aspekten der eigenen Weltsicht in Widerspruch gerät und eine Entscheidung getroffen werden muss, welche Inhalte man letztendlich für wahr halten möchte. Dabei spielt das soziale Umfeld eine wichtige Rolle. Denn wenn viele Freunde und Bekannte, die man eigentlich schätzt, anderer Meinung sind als man selbst, ist dies vielleicht Anlass dafür, die eigenen Auffassungen zu hinterfragen und kritisch zu prüfen. Dies erfordert letztlich Offenheit für Korrektur. Wer jedoch verbissen an einem einmal festgezurrten Erklärungsmodell festhält und kein Interesse daran hat, die eigenen Denkannahmen doch auch einmal infrage zu stellen, wird sich von einer Religion, einer Ideologie oder einem Verschwörungsglauben nicht lösen können. Solche Menschen wollen glauben, dass die Welt genau so funktioniert, wie sie es sich aus ihren Mosaiksteinen zusammensetzen. Wird diese Weltsicht in der sozialen und medialen Blase, in der man sich bewegt, nur verstärkt und niemals in Frage gestellt, gibt es kaum Anlass, sie zu verändern. Gerade die Verschwörungstheorien machen deutlich, wie groß die Orientierungswünsche der Menschen sind und wie leicht sich viele Menschen von irrationalen, argumentativ nicht stichhaltigen Annahmen über die Geschehnisse in der Welt beeindrucken lassen. Ihre Ängste sind auch Orientierungsängste, also bestimmt von der Sorge, sich in der Welt nicht mehr zurechtzufinden, oder noch schlimmer, einfach von anderen hintergangen, betrogen und ausgenutzt zu werden. Dies spiegelt auch ein Gefühl der eigenen Machtlosigkeit, der Unzufriedenheit mit den konkreten politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Wenn man keinen festen Platz im Leben hat, für die eigenen Sinn- und Identitätsfragen keine Antworten findet, zieht man sich entweder ganz zurück, oder man öffnet sich den Ideologien, esoterischen Angeboten oder kursierenden Verschwörungstheorien. Sie alle bieten den Menschen, heute wie schon in archaischen Zeiten, Geschichten darüber an, wie die Welt funktioniert, wie man sich selbst und die anderen sehen soll, welches die lobenswerten und sinnvollen Zwecke des Handelns sind, was wichtig
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und was unwichtig ist, wer Freund und wer Feind ist und welche Zukunftsszenarien möglich sind. In sie eingewebt sind die Ängste der Menschen, die das Interpretieren, Hinterfragen und Zweifeln in Gang setzen und dabei ein sinnvolles kritisches Potenzial entwickeln oder ins Destruktive abgleiten können. Nun könnte man an dieser Stelle ganz entspannt sagen, in liberalen Gesellschaften könne eben jeder Mensch denken und glauben, was er oder sie eben wolle. Dies ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn wenn aus den eigenen Überzeugungen dann auch Taten resultieren, sind andere davon betroffen. Und wie die Menschheitsgeschichte gezeigt hat, kann die Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein, sei es in der Form einer Religion, einer Ideologie oder einer Verschwörungstheorie, zu Fanatismus, Exzess und Krieg führen. Doch gegenüber einer solchen hermetischen Geschlossenheit lassen sich Alternativen aufzeigen, eine Lebensauffassung des Maßvollen, der Offenheit und Toleranz, des Friedens und der Humanität.
KAPITEL 9
Schlussüberlegungen: Der Mensch als Angstwesen und die Macht des menschlichen Geistes
Ein langer Weg liegt hinter uns, von den Anfängen der Menschheit bis zur Gegenwart und quer durch verschiedene Lebensbereiche und Forschungs felder. Mein Anliegen war es, beim Gang auf diesem Weg das Gesamtphänomen der Angst mit der vorgeschlagenen Unterteilung in die drei Haupt komponenten, affektive Furcht, gefühlte Ängste, geistige Angst, genauer zu fassen. Die Differenzierung in diese drei Ängstigungsformen hat sich für mich als Resultat der Beschäftigung mit Theorien der Philosophie, Biologie, Psycho logie und Geistesgeschichte sowie im Ausloten verschiedener Aspekte und An wendungsbereiche herauskristallisiert. Wie die einzelnen Angstkomponenten beurteilt werden, hängt zum einen von ihren Ausprägungen bei jeder einzel nen Person ab, aber auch von den kulturellen, wissenschaftlichen und individu ellen Interpretationsansätzen. Dies wiederum hat dann auch unmittelbare Aus wirkungen darauf, welche Formen von Ängsten als Erkrankung eingeordnet und welche Therapien als Hilfsmöglichkeiten entwickelt und angewendet wer den. Dabei möchte ich hier noch einmal betonen, dass es mir nicht um eine diagnostische oder therapeutische Beschäftigung mit Angststörungen und pathologischen Ängsten ging, sondern um eine allgemeinere Einordnung des Gesamtphänomens der Angstfähigkeit und Angstfunktionen. Dieses abschließende Kapitel soll dazu dienen, den Ertrag der angestellten Überlegungen noch einmal zu überschauen. Angst in den Dimensionen von affektiver Furcht, Angstgefühlen und geistiger Angst mit all ihren Zwischen formen von den Paniken und Phobien bis zu den allgemeinsten Sorgen und Befürchtungen ist ein grundlegendes, den Menschen prägendes Phänomen. Sie ist eine wesentliche Befindlichkeit menschlicher Existenz, eine konstitutive Funktion, die auf spezifische Weise anzeigt, wie Menschen sich selbst und die Welt sehen und wie sie sich mit Gefahren und Bedrohungen auseinander setzen. Ohne diese Funktionen von Furcht bis Angst wäre der Mensch weder überlebensfähig noch in der Lage, sich auf konkrete Gegebenheiten einzu stellen, zukünftige Risiken abzuschätzen und planvoll zu handeln. Ent © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Frischmann, Angstwesen Mensch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67876-3_9
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scheidend für die Beurteilung des Angstphänomens ist es, einerseits die positi ven Leistungen der Ängstigungsformen für den Menschen zu sehen, anderer seits dabei im Blick zu haben, dass es auch die negativen, leidvollen und lähmenden Seiten der Ängste gibt, und deshalb zu erkunden, wie wir Einfluss auf sie nehmen können. Im Sinne eines Ausblicks soll deshalb zumindest an gedeutet werden, welche Macht wir geistig dahingehend haben, auf negative Gefühle wie übersteigerte Ängste einzuwirken, die Angstinhalte zu prägen und zu verändern sowie die psychischen und körperlichen Reaktionen besser steu ern zu können. Einiges wissen wir aus eigener Erfahrung. Doch auch viele Kul turen haben seit Jahrhunderten verschiedenste Techniken und Methoden der Selbstkontrolle entwickelt. Und inzwischen erforschen ebenfalls unterschied liche wissenschaftliche Disziplinen, wie es möglich ist und wie weitreichend es sein kann, dass wir geistig, durch die eigenen Gedanken, durch die eigene Lebenseinstellung und die bewusste Selbstbestimmung auf Körper und Psyche Einfluss nehmen. Dies leisten zu können, ist nicht nur eine individuelle, son dern auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Denn es geht nicht nur um privates Lebensglück, sondern auch um ein gutes Leben in einer Gemeinschaft mit an deren und den Wunsch nach einem sinnerfüllten, zufriedenen Leben insgesamt.
9.1 Der Mensch als biologisches, kulturelles und soziales Wesen Der menschliche Organismus mit seinem komplexen Gehirn und der Fähigkeit zu einem rationalen Bewusstsein, zu geistigen Gehalten, Begriffssprache und zu Reflexivität stellt die höchste uns bekannte Entwicklungsstufe im Geschehen der biologischen Evolution dar. In den evolutionären Prozessen bildeten sich über viele Jahrmillionen Stück für Stück komplexere Organismen mit immer höherstufigen Leistungen heraus. Die später entstandenen Funktionen be ruhen auf den jeweils früheren. Dies lässt sich nicht umkehren. Es gibt Organis men ohne Bewusstsein, aber kein Bewusstsein ohne die Ausprägung der ent sprechenden Strukturen im Organismus. Die für das Denken zuständigen Hirnareale setzen die lebenssichernden Funktionen der tiefer liegenden, älte ren Areale voraus. Analog zu dieser Annahme einer evolutionären Weiter entwicklung der Kapazitäten des Organismus lässt sich die Unterscheidung von Furcht, gefühlten Ängsten und geistiger Angst begründen. Sie sind Schutz funktionen des Organismus und bauen in ihren jeweiligen Leistungen auf einander auf. So sind als Reaktionen auf die Umwelt zuerst einfache Reflexe, dann Affekte wie die Furcht, dann bewusste Ängste als differenziertere Gefühle und schließlich die rein geistige Angst entstanden. In dieser Unterteilung kann man den verschiedenen Entwicklungsstufen jeweils unterschiedliche organisch-körperliche Prozesse und entsprechende Bewusstseinsfunktionen zuordnen. Die verschiedenen Ängstigungsformen beruhen jeweils auf bestimmten Aktivitäten in verschiedenen Arealen des Gehirns. Furcht entsteht dadurch,
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dass biologisch-stammesgeschichtlich alte und tief verankerte Areale aktiviert sind, die überlebenswichtige Reaktionen bei Gefahr steuern. Die für den Men schen typischen Möglichkeiten des rationalen, abstrakten Denkens hingegen haben ihre organische Basis in den jüngeren Hirnarealen, vor allem in der Großhirnrinde mit dem Neocortex. Je größer die Reichweite des Denkens und Handelns wird, umso stärker spielen Vorstellungen und Gedanken eine Rolle, die sich mit möglichen Bedrohungen und Gefahren bis weit in die Zukunft be schäftigen. Menschen denken über das hinaus, was unmittelbar durch die di rekte Wahrnehmung gegeben ist. Sie können sich vorstellen, dass es Gefahren oder vielleicht auch etwas Wünschenswertes geben könnte hinter dem hohen Berg dort in der Ferne, den bisher noch niemand bestiegen oder gar überquert hat. Diese Fähigkeit, gedankliche Gebilde unabhängig von der wahrnehm baren Welt zu erschaffen, ermöglicht es, imaginäre Gefahren zu ersinnen. Die über den konkreten Horizont des Sichtbaren, Hörbaren, konkret Erlebten hinausreichende Vorstellungsfähigkeit ist das entscheidende Element dafür, dass sich Ängste und schließlich die geistige Angst entwickeln konnten. Die geistige Angst wird rein gedanklich geformt. Sie setzt einen hoch ent wickelten Neocortex voraus. Ängste als Gefühle sind Mischformen unter schiedlicher neuronaler Funktionen, wobei jeweils verschiedene Stränge aus unterschiedlichen Hirnregionen zusammenlaufen. Gefühle haben gedankliche, zum Teil auch bildliche und sinnliche Inhalte, aber diese Inhalte werden nicht rein gedanklich verarbeitet, sondern sprechen die emotionsverarbeitenden Re gionen des Gehirns an, die dann körperliche Reaktionen wie bei der Furcht ak tivieren. In den Gefühlen sind die eigenen Vorstellungen, Wünsche, Be fürchtungen, Normierungen verinnerlicht zu relativ stabilen Interpretations mustern, die dann in bestimmten Situationen physiologische Reaktionsweisen auslösen. Gefühle geben eine unmittelbare Bewertung der jeweiligen Situation und tragen so zur Weltorientierung bei. Wegen des geistigen Anteils sind Ge fühle dafür empfänglich, dass wir sie geistig-gedanklich umformen, umlenken, umstrukturieren, aufbauschen oder abbauen können. Da Ängste aber als Ge fühle physiologisch verhakt sind mit den Gefühlszentren des Gehirns, sind zu gleich Anteile der Furchtreaktion erhalten, die nur sehr langsam umgeformt werden können. Wenn es gelingt, die eigenen Gedanken so auszurichten, dass nicht mehr die psychosomatischen Reaktionen ausgelöst werden, bleiben die gefühlten Ängste aus oder werden nicht mehr als Gefühle, sondern nur als Ge dankeninhalte erfahren. Wie jedes Lebewesen steht auch der Mensch vor der Herausforderung, durch solche Mechanismen und Verhaltensweisen auf die Umwelt zu reagie ren, dass das Überleben gesichert werden kann. Diese Aufgabe wird im Zuge der Menschheitsentwicklung mehr und mehr durch die menschliche Kultur übernommen, durch bewusstes, zielgerichtetes Handeln und soziale Ko operation. Als Folge dieser Entwicklung hat sich die Instinktausstattung ge lockert, sodass der Mensch in seinem Verhalten immer weniger durch an geborene Mechanismen, durch genetisch verankerte Programme gesteuert wird, sondern dass gerade mit fortschreitender Kultur diese Instinkte mehr
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und mehr abgebaut oder überformt werden. Sie verlieren ihren biologischen Nutzen, da die kulturellen und sozialen Strukturen und Institutionen nun das Verhalten und Handeln anleiten. Damit entsteht aber das prinzipielle Problem, dass die individuellen Verhaltensweisen, die Reaktionen auf die Umwelt, nicht mehr so verlässlich gesteuert werden wie beim angeborenen biologischen Automatismus, sondern große Spielräume aufweisen. Gerade deswegen kön nen die verschiedenen Funktionen und Komponenten rasch einmal aus dem Gleichgewicht geraten, was dann zu Fehlverhalten, Desorientierung und Krankheiten führen kann. Der Mensch kann sich nicht mehr auf seine bio logische Verhaltenssteuerung verlassen, sondern muss ständig durch eigene Aktivität zwischen inneren Befindlichkeiten und äußeren Gegebenheiten einen Ausgleich herstellen und auch im Bewusstsein permanent Erkenntnisse, Be wertungen und Verhaltensweisen immer wieder aneinander anpassen. Auf grund der Vielschichtigkeit und ständigen Veränderung der inneren Prozesse lässt sich hierbei letztendlich kein ideales Optimum erreichen, sondern besten falls ein ständiges Pendeln um eine Art Mittellinie. Wenn die auftretenden Schwankungen punktuell oder auch dauerhaft sehr weit von der Mittellinie ab weichen, kann dies als „Krankheit“ angesehen werden. Und weil der Mensch ein so hochkomplexes biologisches Wesen ist, gibt es viele Möglichkeiten der Störanfälligkeit. Darüber hinaus sind auch die menschlichen Gemeinschaften mit ihren Regeln, kulturellen Vorgaben und institutionellen Strukturen, die das Zusammenleben anleiten und organisieren, ebenfalls nicht stabil. Sie kön nen besser oder schlechter funktionieren, ihre Grenzen enger oder weiter ge steckt sein, selbst Grund von Ängsten sein, prosperieren oder untergehen, wie die Menschheitsgeschichte zeigt. Wenn man auch die Entstehung höherer Bewusstseinsleistungen wie Abstraktionsfähigkeit, Fantasie, rationales Denken und Reflexivität in den Gesamtzusammenhang der Evolution stellt, lässt sich die durchgehende Funk tion aller Angstaspekte darin sehen, dass sie direkt oder indirekt auf die Selbst erhaltung gerichtet sind. Furcht, Ängste und geistige Angst haben jeweils alar mierende und damit schützende Funktion. Sie signalisieren Gefahr, Risiko, Ungewissheit: . bezogen auf den direkten Schutz von Leib und Leben (Furcht), 1 2. bezogen auf die vielen vorgestellten Möglichkeiten von Gefahren (Ängste) im alltäglichen Leben, 3. bezogen auf die eigene Existenz unter dem Aspekt der Herausforderung, die Welt zu verstehen, die eigene Freiheit zu tragen und den Platz in der Welt zu bestimmen (geistige Angst). Demnach ist es plausibel, im Laufe der Menschheitsentwicklung eine sukzes sive Ausdifferenzierung der individuellen Gefahrenbewältigung von der grund legenden Furcht über die Ausprägung einzelner Ängste bis hin zur rein geisti gen Angst anzunehmen. Insofern sind alle Ängstigungsformen sinnvoll und funktional. Deshalb ist es wichtig, sie nicht als unliebsamen, sondern als not
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wendigen Teil des eigenen Lebens zu würdigen. So hat sich im Laufe der Ent wicklung der Horizont der Menschen immer weiter in die Ferne ausgedehnt. Das Leben fand zunächst in Kleingruppen statt, später in Siedlungen, aus denen die ersten Städte hervorgingen. Als politische Gemeinwesen ent wickelten sich größere Staatengebilde. Und manche dieser Staaten wurden so mächtig, dass sie Großreiche schufen, die sich über Kontinente hinweg er streckten. Und schließlich ist im Zuge der Globalisierung die gesamte Erde zum vernetzten Handlungsraum geworden. Ja, mehr noch, Menschen streben mit ihren Träumen, Vorstellungen und Aktivitäten über die Erde hinaus und beginnen, den Weltraum zu erforschen und selbst in diesen Raum jenseits der Erde vorzudringen, einen Raum, der so unendlich groß ist, dass er sich aller Vorstellungsfähigkeit entzieht. Im Zuge dieser Horizonterweiterungen sind die Inhalte der eigenen Gedanken und Vorstellungen nicht mehr nur auf den Nahbereich des eigenen Lebensumfelds bezogen, sondern erhalten immer wei ter ausgreifende Dimensionen. Dies bedeutet aber auch, dass sich die Größen ordnung der Gefahrenwahrnehmung verändert. Menschen entwickeln in die sem langen kulturgeschichtlichen Prozess die Fähigkeit, sich von ihrer eigenen Lebensumwelt zu lösen und immer abstrakter zu denken. So werden parallel zur Weitung der Perspektiven und Handlungsräume ebenfalls groß dimensionierte Welterklärungen durch Religionen, Weltanschauungen oder wissenschaftlich orientierte Theoriekomplexe zur Verfügung gestellt, die sich der Reichweite der menschlichen Perspektiven anpassen und so eine gewisse Orientierung anbieten. Doch diese weit ausgreifenden Modelle bergen auch Schwierigkeiten. Denn je umfassender sie angelegt sind, umso weiter entfernen sie sich von den konkreten Lebenskontexten der Menschen. Gerade die globale Dimension heutiger Weltsicht ist für die Menschen eine Herausforderung. Es wird als Problem offenkundig, dass sich die Diskrepanz zwischen der Reich weite der individuellen Fähigkeiten des einzelnen Menschen und den Möglich keiten der Menschheit insgesamt vergrößert und als beängstigend und un beherrschbar wahrgenommen wird. Überforderungsängste und Orientierungs ängste nehmen zu. Dies zeigt sich vor allem in der Entwicklung des modernen Weltbildes und moderner Lebensformen, die auch das Selbstverständnis der Menschen maß geblich veränderten. Moderne Staaten, die einen demokratischen Weg ein geschlagen haben, gewährleisten die individuellen Freiheiten durch ihre politi sche Verfassung und ihr Rechtssystem, in dem die Freiheitsrechte einen heraus ragenden Platz einnehmen. Und sie unterstützen die Menschen durch sozialstaatliche Sicherungssysteme. Das moderne Menschenbild beinhaltet Vorstellungen von Würde, gleichen Rechten und autonomer Lebensgestaltung. Das Denken der Aufklärung hatte eine Richtung eingeschlagen, die hinsicht lich der Sinngebung und Lebensorientierung eine Umwendung vom Außen halt durch Gott zum Innenhalt durch die eigene Vernunft vollzog. Zwar ist klar, dass Menschen nur in Gemeinschaften existieren können, aber die moder nen Lebensweisen ermöglichen in diesen Gemeinschaften größere Freiheits räume und mehr Individualität. Mit der Tendenz zur Individualisierung ist ver
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bunden, dass sich der Blick der Menschen stärker auf sich selbst richtet und dass die Maßstäbe für ein glückliches und zufriedenes Leben auch stärker von den persönlichen Präferenzen bestimmt sind. Die Bedeutung verbindlicher ge sellschaftlicher Normierungen für die Lebensgestaltung der Einzelnen nimmt ab. Das heißt dann aber auch, dass mit der Fokussierung auf sich selbst alle Be gebenheiten und Ereignisse des Lebens aus der Subjektperspektive dieses „Ich“ interpretiert werden und vom Individuum verlangt wird, für sich selbst und die eigenen Handlungen in vollem Umfang einzustehen. Doch angesichts der viel schichtigen Aufgaben wird dies aus Sicht der einzelnen Menschen auch als eine große Herausforderung oder sogar Überforderung erlebt. Die Abschwächung der Orientierungskraft traditioneller kultureller Weg weiser hat verschiedene Gründe. Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass viele der überkommenen Gewohnheiten und Wertmuster den heutigen Lebens anforderungen nicht mehr entsprechen, sie erscheinen als zu eng, passen auf viele Bereiche nicht mehr, weil sich die kulturellen Möglichkeiten und indi viduellen Lebensvorstellungen vervielfacht und dynamisiert haben. Im christlichen Weltbild ist die Homo-Ehe nicht vorgesehen, die modernen Gesellschaften öffnen sich jedoch für solche Lebensformen, die nun auch politisch-rechtlich legitimiert werden. Die auf Lebenszeit geschlossene Ehe stellt nicht mehr das alleinige Ideal des Familienlebens dar. Lebensgemein schaften ohne Trauschein sind gängiges Lebensmodell. Unehelich geborene Kinder sind nicht mehr stigmatisiert, und über Müttern oder Vätern, die ihre Kinder alleine großziehen, hängt nicht das ständige Damoklesschwert, dass ihnen von staatlicher Seite die Kinder weggenommen werden könnten. Für das kulturelle und soziale Leben gibt es keine Deutungshoheiten durch eine Aristokratie oder Kulturelite mehr. Einen bestimmten sozialen Status muss man nicht mehr damit repräsentieren, dass man eine Perücke trägt. Selbst innerhalb eines Lebenszyklus sind die Veränderungen oft so ein schneidend, dass man gut beraten ist, seine eigenen Lebensvorstellungen immer wieder neu zu justieren. Wenn man diese Entwicklungen überschaut, besteht hinsichtlich der Angstproblematik das wohl wichtigste Element am modernen Lebensgefühl darin, dass sich die Mehrheit der Menschen nicht auf eine endgültige Weltsicht oder letzte, unbezweifelbare Werte, nicht auf gemeinsame politische Vorstellungen oder eine einzige Religion ver pflichten wollen. Je schneller sich Lebensbedingungen ändern, umso rascher veralten institu tionelle Strukturen und gewohnte Selbstverständlichkeiten, die in der Ver gangenheit vielleicht gut funktioniert haben. Doch um entscheiden und han deln zu können, müssen Zukunftsvorstellungen entwickelt werden. Bleiben die sozialen Verhältnisse über längere Zeiträume relativ konstant, werden sie ge danklich in die Zukunft verlängert und leiten so das Handeln. Verändern sich die gesellschaftlichen Bedingungen und die Lebensaufgaben hingegen ziem lich schnell, lässt sich schwer abschätzen, was die Zukunft bringen könnte. Der Anteil dieser Ungewissheiten nimmt gerade in sehr dynamischen oder krisen haften Zeiten deutlich zu. Damit wird die Zukunft umso weniger kalkulierbar,
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als die Welt unüberschaubarer wird, sich mit zunehmender Geschwindigkeit wandelt und keine Instanz als verlässlicher Ratgeber für alle Menschen an gesehen werden kann. Diese Schnelllebigkeit wirkt sich auch aus auf die individuellen Lebens kontexte. Hinsichtlich der Wertsetzungen für das eigene Leben, der Vor stellungen davon, was richtig und falsch ist, der eigenen Lebensplanungen müssen Menschen lernen, sie ständig neu anzupassen und so ihre eigenen Per spektiven immer wieder zu korrigieren. So prägen sich zum Teil Gefühle der Überforderung und des Verlorenseins aus, die auch mit tiefgreifenden Ängsten verbunden sein können. Denn es muss in Betracht gezogen werden, dass nicht alle Menschen mit der Moderne Freiheiten und Chancen verbinden, sondern in ihnen das Bedrohliche und Unübersichtliche, ja sogar Gefahr und Verfall sehen. Wer hier dann Sinnorientierung, sozialen Zusammenhalt und geistige Heimat verspricht, kann Menschen an sich binden. Heute sind dies nicht nur politische Parteien, esoterische Zirkel oder nach wie vor die Religionen, son dern auch Verschwörungstheorien oder die Idole der medialen Welt, die man „Influencer“ nennt. Jede Zeit und jede Kultur haben ihre Vorstellungen vom Menschsein, von den zu bewältigenden Herausforderungen und den hemmenden Widrigkeiten. Dabei wurde immer auch in Rechnung gestellt, dass es das Unberechenbare und Unbeherrschbare, das Fehlgehen und Entgleiten gibt. Diese be unruhigenden Seiten des Lebens wurden aber unterschiedlich erklärt und be wertet und durch verschiedenste Strategien zu begrenzen und zu kontrollieren versucht. Gesellschaften und Kulturen entwickeln dabei jeweils die grund legenden Sichtweisen, nach denen die Menschen sich selbst und ihre Welt ein ordnen. Sie schaffen Institutionen, Strukturen, umfassende Deutungsmodelle und Welterklärungen. Von ihnen hängt maßgeblich ab, wie viel Leidensfähig keit, Gläubigkeit, Rationalität, Risikobereitschaft und Ängstigungspotenzial den Menschen zugesprochen oder von ihnen erwartet wird. Aber auch die in dividuellen Dispositionen spielen eine Rolle. So muss in Rechnung gestellt werden, dass Menschen als je ganz spezifische Individuen durchaus unter schiedliche Veranlagungen, Erfahrungen, Interessen und Ziele mitbringen und dementsprechend im Einzelfall auch sehr eigenwillig mit den jeweiligen Lebensanforderungen umgehen können. Die bisher skizzierte Sicht auf die heutige Lebenssituation hat vor allem hervorgehoben, dass die Veränderungsdynamik und die Erosion fester sozialer Bindungen von denjenigen verstörend erlebt werden, die sich in stabilen Lebensweisen einrichten möchten. Menschen, die sich Konstanz im Leben wünschen, werden immer an dem Veränderungsdruck leiden, der die Moderne charakterisiert, und alles als Gefahr abwehren, was ihnen fremd, unverständlich und ungewohnt erscheint. So lässt es sich vielleicht erklären, dass auch im Kon text moderner Gesellschaften dennoch autokratische Systeme oder sogar Dik taturen entstehen können. Dann haben für eine Zeit lang die Kräfte sich durch gesetzt, die den Gang der Geschichte anhalten und einen festen Rahmen eta blieren möchten. Damit ist auch verständlich, warum Menschen sich
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Überzeugungssysteme zurechtzimmern, die für sie den Status unbezweifel barer Gültigkeit haben, oder warum manche Menschen voller blindwütigem Hass alle diejenigen verurteilen, die anderer Meinung sind als sie selbst, statt Toleranz und Großzügigkeit an den Tag zu legen. Ja, sie sind sogar bereit, für ihre eigenen Ideen und Vorstellungen zu morden und Kriege zu führen. Andererseits gibt es Mentalitäten, die unter den modernen Konstellationen gedeihen und aufblühen, weil manche Menschen ein großes Bedürfnis nach Individualität, freien Gestaltungsmöglichkeiten und Flexibilität haben. Sie er leben moderne Lebensformen als progressiv und wohltuend und entsprechen dem durch ein Selbstbild, in dem ein beweglicher Charakter, Vielschichtigkeit und Offenheit, Neugier und Lernbereitschaft betont werden. Solche Men schen sind bereit, sich dem Veränderungsrhythmus anzupassen, sich mental darauf einzustellen. Ihnen fällt es leichter, verschiedene Sichtweisen zu akzep tieren, tolerant zu sein, ihre eigenen Lebensziele immer wieder umzustellen und Ambivalenzen auszuhalten. Sie sehen Vielfalt und Veränderung nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung. Sie halten die liberalen Gesellschaften für die menschenwürdigeren. Die Moderne wird also von Menschen sehr unterschiedlich wahrgenommen, einerseits als Entwurzelung, andererseits als Befreiung, mit vielen Nuancen da zwischen. Und dabei kommen unterschiedliche persönliche Dispositionen und verschiedene normative Grundorientierungen zum Tragen. Dies wirkt sich auch aus auf die Entstehung von Ängsten. Wer die modernen Gesellschaften als offen, vielschichtig, lebendig, innovativ erlebt, entwickelt wahrscheinlich weni ger Ängste als diejenigen Menschen, für die sich das moderne Leben als chao tisch, beliebig, ziellos, oberflächlich, überdreht, krisenanfällig und belastend darstellt, die eben genau deshalb tiefe Ängste entwickeln, weil sie sich in dieser Welt nicht beheimatet und geborgen fühlen, weil sie keinen festen Standort finden können. Ihre Suche nach Halt läuft so auf eine gewisse Weise ins Leere. So verlagern sich vor allem die Inhalte der sozialen Ängste. In traditionellen Gesellschaften richteten sie sich für die meisten Menschen darauf, nicht gegen die vorgegebenen Strukturen und Regeln zu verstoßen, nicht anzuecken, nicht aufzubegehren, sondern zu dienen und zu gehorchen. In modernen Gesell schaften hingegen sind die sozialen Ängste zwar weiterhin auch darauf ge richtet, dass Menschen in sozialen Beziehungen zu anderen Menschen stehen, die immer auch Bedrohungen mit sich bringen können. Aber die sozialen Ängste sind nun auch damit befasst, dass der Halt in der Gemeinschaft verloren geht, dass Bindungen sich auflösen, Traditionen verblassen und der individu elle Platz nicht mehr klar bestimmbar ist. Die natürlichen Veranlagungen der Menschen sind immer breit gestreut. Die einen sind zurückhaltender, die anderen risikofreudiger, die einen passiver, die anderen aktiver, die einen anpassungsbereit, die anderen eigenbrötlerisch. Die einen fühlen sich in offenen, flexiblen Gesellschaften verloren, heimatlos und bedroht; sie wünschen sich feste und überschaubare Strukturen, die ihnen nicht permanent Nachdenken und Entscheidungen abverlangen. Bei den an deren ist es umgekehrt, sie sehen sich durch feste Strukturen eingeengt und
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blühen auf in Kontexten mit größeren Freiräumen. Und auch historisch ge sehen finden wir ständige Wechsel zwischen prosperierenden und schlechten Zeiten, Zeiten der Stabilität und Zeiten tiefer Krisen und Verwerfungen. Wie in jeder Zeit so muss auch heute eine Art Austarieren unterschiedlicher Bedürf niskomponenten stattfinden: Freiheit und Stabilität, Unbestimmtheit und Sicherheit, Veränderung und Konstanz, Innovation und Bewahrung. Nur schlägt in der modernen Welt das Pendel eher Richtung Dynamik, schneller Veränderung und Unübersichtlichkeit aus, während traditionsorientierte Ge sellschaften auf Konstanz, Dauer, beharrende Lebensformen hin ausgerichtet sind. So lässt sich heute die deutliche Tendenz beobachten, dass sich die Er wartungen an die Zukunft verschieben: So gibt es nicht nur Zuversicht und Hoffnung, sondern es treten auch angstbesetzte Szenarien in den Vorder grund, denken wir nur an die möglichen Folgen des Klimawandels. Vor allem die Existenzphilosophie bringt die Konstellationen der Moderne mit der Thematik der Angst in einen deutlichen Zusammenhang. Angst wird von Kierkegaard definiert als „das Sich-Zeigen der Freiheit vor sich selbst in der Möglichkeit“.1 Es geht in der Angst um die Verunsicherung des Menschen, um ein Gefühl der Haltlosigkeit, die sich gerade da zeigt, wo Menschen wählen und entscheiden müssen und sie mit ihrer Freiheit konfrontiert sind. Das Bewusstsein der Freiheit ist das Bewusstsein von Möglichkeit. Möglichkeit ist dabei aber nicht abstrakt gedacht, sondern sie ist meine Möglichkeit, denn ich muss wählen, ich habe mein Leben zu leben. Doch meist sind die eigenen Mo tive vielschichtig und können die Handlungen nicht eindeutig anleiten, und mein Wissen reicht niemals aus, die Folgen meines Tuns tatsächlich vorher sehen zu können. Das Bewusstsein von dieser Situation der Freiheit und Un gewissheit ist für Kierkegaard der Kern und der Motor der Angst. Und auch Sartre schreibt mit Bezug auf die Herausforderung des Selbstseins: „nichts kann mich gegen mich selbst sichern“, die eigenen Entscheidungen muss man selbst fällen, „ich entscheide darüber, allein, unlegitimierbar und ohne Ent schuldigung“.2 Die gesamte Last der Verantwortung für das, was ich sein will und was ich tun will, fällt immer auf mich selbst zurück. Doch dieses „Ich“ ist niemals fertig da, es ist immer neu auszurichten, immer noch zu formen, ent wickelt sich immer anders als gedacht. Es erreicht nie ein festes Wesen, weil es bestimmt ist durch die Struktur der Möglichkeit, der Freiheit. Das, was als die eigene „Identität“ angesehen wird, hat damit niemals so etwas wie einen Wesenskern, sondern ist ein Konstrukt, das dazu dient, die Vielfalt unserer in neren Zustände, unserer Gedanken, Erlebnisse, Erinnerungen zu einem Gan zen zusammenzubinden, also eine Art Lebensgeschichte zu erzählen. Hierzu gehört auch, die Ängste ins eigene Leben zu integrieren. Dabei beziehen wir uns nicht nur auf uns selbst, sondern immer auch auf äußere Rahmungen wie Familie, kulturelle Prägung, Interessen, Berufsleben, politische Orientierun gen. Es gibt das Ich-Bild nicht ohne diese äußere natürliche und soziale Welt Kierkegaard 1992 [1844], S. 130. Sartre 1993 [1943], S. 108.
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mit ihren Regeln und Strukturen, mit ihren Informationen, mit ihren Wert mustern und ihrem kulturellen Boden. Wir sind zwar frei in der Entscheidung, diese oder jene Möglichkeit zu wählen. Das Angebot der Möglichkeiten aber ergibt sich aus dem Bedingungsgefüge, in dem jeder Mensch steht. Auf die Erforschung dieser anderen Seite des Menschseins, auf das Bedingt sein der individuellen Persönlichkeit durch Gesellschaft, Kultur, Erziehung und konkrete Lebenskontexte, richten die Sozialwissenschaften ihre Aufmerk samkeit. Die Grundstrukturen einer Gesellschaft, die natürlichen Lebens bedingungen, die Globalwirtschaft oder das Klima, ob Krieg oder Frieden herrscht, welches politische System in einem Land etabliert ist, wie sicher der eigene Arbeitsplatz ist, all dies unterliegt nicht der Macht der Einzelnen. Den noch konstituieren diese gesellschaftlichen und natürlichen Bedingungen den Rahmen, aus dem sich dann die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten und indi viduellen Spielräume ergeben. Sie bilden damit auch den Hintergrund für die Ängste-Kultur von Gemeinschaften und damit verbunden auch für die indivi duelle Ausformung von Bedrohungsvorstellungen und gefühlten Ver unsicherungen, also den individuellen Ängsten. Diese Ängste sind Gegenstand sozialwissenschaftlich ausgerichteter Forschungen, die zeigen, dass Ängste nicht nur individuell erklärt werden können, sondern abhängig sind von der Welt, in der man jeweils lebt. Gesellschaften werden maßgeblich geprägt durch Grundbedingungen von Politik, Wirtschaft, Religion, Medien, Wissenschaft, Kunst. Akteure in diesen Bereichen können insofern auch daran mitwirken, sowohl Gefahrenlagen zu bewältigen als auch Risiken im öffentlichen Diskurs entsprechend zu bewerten und damit das Angstklima in einer Gesellschaft oder in bestimmten Gruppen zu beeinflussen, zu verstärken oder abzuschwächen. Religiöse Führer, die den Krieg gegen Andersgläubige predigen, tragen zum Schüren von Ängsten bei. Religionen hingegen, die Nächstenliebe, ein maßvolles Leben, die Minderung von Leid auf der Welt und Frieden befördern, können damit auch Ängste be schwichtigen. Ideologien, die von Verschwörungen ausgehen, geben Men schen das Gefühl der Verunsicherung und Bedrohung und befördern ent sprechende Ängste. Esoterische Zirkel, die sich dem Erreichen einer körperlich- seelisch-geistigen Gesamtharmonie widmen, tragen eventuell dazu bei, Ängste zu kanalisieren und in das Selbstbild auf positive Weise zu integrieren. Erzie hungs- und Bildungsinstitutionen nehmen Einfluss darauf, wie Menschen ihre Weltsicht formen und ob sie in ihrem Selbstvertrauen bestärkt oder geschwächt werden. Aber auch die Gegebenheiten der eigenen Lebenswelt im engeren Sinn wie Familie, Freundeskreis, Arbeitskontext, Freizeitgestaltung bereiten den Boden, auf dem eigene Emotionen, Gedanken, Sinnvorstellungen und eben auch individuelle Ängste und der gesamte Angsthorizont erwachsen und Gestalt annehmen. Die Welt hält viele Gefahren, Bedrohungen und Risiken bereit, jeder Mensch ist gut beraten, dafür sensibel zu sein und seine Aktivitäten entsprechend da rauf einzustellen. Die Grundlagen des menschlichen Lebens bestehen aus den objektiven, natürlichen, sozialen, kulturellen, politischen Gegebenheiten, aus
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dem jeweiligen Gesamtzustand der Welt, in der man lebt. Um sich daran anzu passen, verfügen Menschen über eine große Varianz von Handlungs- und Re aktionsmöglichkeiten, zu denen auch die verschiedenen Ängstigungsformen gehören, die nun noch einmal überschaut werden sollen.
9.2 Die Grundfunktionen: affektive Furcht, gefühlte Ängste, geistige Angst Furcht, Ängste und geistige Angst sind Teil unserer menschlichen Grundaus stattung. Sie haben jeweils lebenswichtige Funktionen für die Möglichkeiten des Menschen, auf Geschehnisse in der Welt zu reagieren und das eigene Leben darauf einzustellen. Sie schulen den Menschen darin, mit Gefahren umzu gehen und mögliche Risiken zu bedenken, also vorausschauend, abwägend und mit Vorsicht ihr Leben zu führen. Sie betreffen dabei unterschiedliche Ebenen des Gesamtorganismus mit seinem Bewusstsein: körperlich-affektive Reaktionen in der Furcht, psychisch-gefühlsmäßige Bedrohungsverarbeitung in den Ängsten und allgemeine Gefahrenkalkulation in der rein geistigen Angst. Doch gerade die gefühlten Ängste tendieren manchmal zu Über reaktionen, die für die Betroffenen leidvoll sein können. Damit steht die Frage im Raum, inwiefern bestimmte Ängstigungsformen angemessen sind. Um da rauf antworten zu können, ist es notwendig, sich mit ihren Funktionsweisen auseinanderzusetzen, ihre Bedeutung zu verstehen und zugleich auszuloten, inwiefern sie gelenkt und sinnvoll ins Leben integriert werden können. In der Bewältigung der jeweiligen Ausformungen des Angstgeschehens sind jeweils unterschiedliche Vermögen tangiert und verschiedene Einwirkungs möglichkeiten gegeben. Furcht, gefühlte Ängste und geistige Angst sind nicht gleichermaßen durch die eigene Willenskraft, die geistige Selbstkontrolle oder durch Einflussnahme von außen zu erreichen. Je direkter und unmittelbarer die jeweilige Gefahr verortet ist, also vor allem bei der Furcht und konkreten Paniken und Phobien, desto eher besteht die Bewältigung in der Vermeidung der auslösenden Situation oder zumindest dem konditionierenden Einüben von kontrollierten Reaktionen. Je größer hingegen der gedanklich-geistige An teil ist, umso mehr ist die innere, gezielte Umsteuerung möglich. Im Folgenden sollen Furcht, gefühlte Ängste und geistige Angst noch ein mal im Überblick charakterisiert werden. Wie im Einzelnen mit diesen Formen umgegangen werden kann, hängt vor allem von ihrer Bewertung und Ein ordnung dahingehend ab, welche Funktionen und welche Bedeutungen ihnen für das eigene Leben und auch für die Gesellschaft zugesprochen werden. Wie sie individuell wahrgenommen und empfunden werden, beruht auf vielen Fak toren, dem Charakter eines Menschen, der Lebenssituation, der eigenen Welt sicht, der sozialen Stimmungslage und den kulturellen, politischen und sozia len Erwartungen und Rahmenvorgaben durch die Gemeinschaft. Wie Gesell schaften Ängste prägen und bewerten, hat wiederum damit zu tun, wie sie politisch verfasst sind, welche Interessen dominieren und welche Ziele sie verfolgen.
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9.2.1 Furcht Die Furcht stellt eine affektive, kurzzeitige Reaktion auf eine unmittelbare Be drohungssituation dar. Sie ermöglicht Lebewesen, die über die Fähigkeiten einer differenzierten Informationsverarbeitung verfügen, mit direkten Ge fahren umzugehen, indem ihr Körper schnelle Schutzmechanismen aktiviert. Die körperlichen Reaktionen werden bewusst erlebt als Furcht, als ein heftiges, unangenehmes körperlich-emotionales Geschehen. Doch gerade dadurch, dass sie beim Individuum diese unmittelbare Schutzreaktion hervorruft, ist sie bio logisch überlebenswichtig. Furcht erlischt schnell wieder, wenn die Situation überstanden ist. Weil nun aber die körperlichen Reaktionen als negativ wahrgenommen wer den, das heftige Herzklopfen, das Schwitzen, die Unruhe, versucht das Indivi duum, solche Situationen zu meiden, die überhaupt Anlass zur Furcht geben. Auch höher entwickelte Tiere, die über einen gewissen Grad an Intelligenz ver fügen, lernen durch Versuch und Irrtum, wie sie Furchtkonstellationen um gehen können. Sie sind so in der Lage, furchtauslösende Situationen durch eigenes Verhalten zu verringern. Kühe lernen, dass ihre Weidewiese durch den stromführenden Drahtzaun begrenzt ist, und meiden den Kontakt mit ihm. Je intelligenter Lebewesen sind, umso größer ist ihr Potenzial, aus Furcht erfahrungen zu lernen. Auf äußere Gefahren können wir uns einstellen, indem wir uns an sie anpassen oder ihnen ausweichen und damit der Furcht ein Stück weit ihren Boden entziehen. Wenn ich mich in meinem Keller fürchte, weil dort einige Bereiche im Dunklen liegen, kann ich durch mehr Lampen Abhilfe schaffen. Und die Kuh vermeidet es, dem Elektrozaun zu nahe zu kommen. Was sich aber schwerer umstrukturieren lässt, ist das biologische Programm zum Ablaufen der Furchtreaktion. Denn die evolutionär ausgeformten Auto matismen sind wegen ihrer Funktion der Überlebenssicherung so tief ver ankert, dass sie kaum willentlich ausgeschaltet und auch nur in geringem Maße rational kontrolliert werden können. Es lassen sich nur im Einzelnen bestimmte Reaktionsweisen durch Konditionierung und Gewöhnung abmildern. So kann der Umgang mit der Gefahrenquelle trainiert werden, sodass sich durch Ge wöhnung die Reiz-Reaktions-Kette neuronal umprägt. Eine häufig eingesetzte Strategie der Furchttherapie besteht darin, Menschen gezielt den ent sprechenden Situationen auszusetzen (Exposition), sie mit dem Furchtkontext zu konfrontieren. Wenn sich jemand vor Spinnen fürchtet, kann dadurch, dass Spinnen immer und immer wieder auf die Hand genommen werden, man sich mit ihrer Lebensweise beschäftigt, ein Wissen von ihrem Jagdverhalten und ihrer Giftigkeit oder Harmlosigkeit erworben wird, die Spinnenphobie viel leicht überwunden werden. Wenn einem beim ersten Fallschirmsprung das Herz heftig schlägt und der Atem stockt, mag dies beim hundertsten Sprung nicht mehr der Fall sein. Das Springen aus dem Flugzeug ist nun vertraut und die auslösenden Mechanismen für die Furcht sind überlistet. Inwieweit dies ge lingt, hängt unter anderem von der Ausprägung der Furchtsamkeit bei den unterschiedlichen Individuen ab, die sowohl ererbte Anteile enthält als auch
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aufgrund von sozialen Einflüssen und eigenen Bewertungen weiter verstärkt werden kann. Die Veränderung des Furchtniveaus erfordert also, dass man die Erfahrung machen kann, dass das, wovor man sich fürchtet, gar nicht so schlimm ist. Insgesamt gehört für den Menschen das Einüben des Umgangs mit der eigenen Furcht zu einem wichtigen Faktor des Lebens. Schon von Kindheit an wird dies spielerisch praktiziert. Kinder lieben es, andere zu er schrecken oder selbst erschreckt zu werden. Wir lesen Gruselgeschichten, spä ter schauen wir Thriller und Horrorfilme. Die Bedrohung ist nicht real, wird aber trotzdem auch psychosomatisch erlebt. Dies kann durchaus den positiven Effekt haben, dass eine gezielte psychische Stärkung erfolgt. Doch da Men schen eben nicht mehr strikt disponierte Lebewesen sind, kann auch das Gegenteil eintreten und der Gruselfilm sensible Menschen noch stärker ver unsichern. Da Menschen solche biologisch-psychischen Mechanismen ein Stück weit durchschauen können, ist es möglich, Strategien der Furcht reduzierung gezielt anzuwenden. Doch dies ist stets nur in gewissem Umfang möglich. Denn der Furchtmechanismus selbst ist als ein tief organisch ver ankertes, biologisches Überlebenselement nie ganz überwindbar, aber ein Stück weit trainierbar. Die Schutzfunktion von Furcht ist einleuchtend. Wird sie jedoch in Situa tionen abgespult, die gar nicht mehr lebensbedrohlich sind, hat sich ihr bio logischer Zweck verfälscht. Dann wird sie zu einer übersteigerten Furcht bei kleinsten Anlässen. Dass dies möglich ist, hängt damit zusammen, dass Men schen hochkomplexe Lebewesen sind, deren Reaktionen nicht mehr klar durch Instinkte reguliert werden, sondern auf vielfältige Weise beeinflussbar sind. 9.2.2 Gefühlte Ängste Im Unterschied zur Furcht als unmittelbarer körperlicher Reaktion in einer Gefahrensituation stellen Ängste eine emotional-gefühlsmäßige Reaktion auf die gedanklichen Vorstellungen von möglichen Gefahren dar. Damit zeigen Ängste keine jetzige, sondern eine gedachte zukünftige Bedrohung an. Sie können sich auf alles beziehen, was jemanden gedanklich beschäftigt und was menschliches Leben und Zusammenleben betrifft. Dennoch, und dies ist der Unterschied zur geistigen Angst, laufen psychosomatische Prozesse wie bei der Furchtreaktion ab. Dies lässt sich daraus erklären, dass die gedanklichen In halte der Ängste, die mit Bildern, Szenerien und Erinnerungen ausgestattet sind, dieselben Zentren des Gehirns ansprechen und dort vergleichbare Re aktionen auslösen wie bei der Furcht. Das Gefühlszentrum des Gehirns erhält über diese Vorstellungsbilder (auch wenn sie nur gedacht sind) ähnliche Reize wie aus der konkreten Wahrnehmung in der Furchtsituation. Diese Vor stellungsbilder werden als konkrete Gefahr interpretiert und direkt durch die körperlichen Furchtreaktionen beantwortet, obwohl keine unmittelbare Ge fahr besteht. Dies ist besonders offensichtlich bei Panikattacken, die scheinbar aus dem Nichts einsetzen. Um das Gefühlszentrum aktivieren zu können, müs sen aber die Auslöser (Gedanken, Dinge, Begebenheiten) so konkret sein, wie
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dies im Furchtgeschehen auch der Fall ist. Je abstrakter die Inhalte der Ängste werden, umso weniger wird das Furchtpotenzial angesprochen. Bleibt die körperlich-emotionale Reaktion aus, wird die Ängstigung schließlich nur noch rein geistig ausgetragen. In den Ängsten werden also die konkreten möglichen Risiken und Be drohungen durchgespielt, die uns in allen möglichen alltäglichen Lebens bereichen begegnen können. Sie stellen eine Art gedankliche Reaktionsbereit schaft dar, um auf Bedrohungen angemessen reagieren zu können. Dies sichert das Leben ab, weil so mögliche Gefahren kalkuliert und ihnen auf diese Weise vorbeugend etwas entgegensetzt werden kann. Wir warten nicht ab, bis das Unheil geschieht, sondern treffen vorher Vorkehrungen dahingehend, dass es möglichst nicht eintritt. Die gefühlten Ängste haben dabei ein viel größeres inhaltliches Spektrum als die Furcht, sie sind individuell unerschöpflich viel fältig. Sie verarbeiten auch solche Arten von Gefährdungen, die aus der sozia len und kulturellen Welt resultieren, so die Ängste vor Einsamkeit, vor man gelnder Anerkennung, vor Krankheit oder der Sünde. Für solche Gedanken hat die Furcht kein Programm. Da Ängste Gefahrensituationen nur vorstellen und gedanklich ausmalen, also keine unmittelbare Bedrohung vorliegen muss, ist es gerade bei den Ängs ten möglich, dass sie ihre eigentliche Funktion als Risikoabschätzung und Ge fahrenabwägung übertreiben, dass sie sich als plötzliche Attacken bemerkbar machen oder sich in immer wiederholenden Schleifen verstärken und dann län ger anhaltende Belastungen darstellen oder als Angststörungen pathologisch werden. Das Störende der gefühlten Ängste und auch der Furcht besteht darin, dass die begleitenden körperlichen Symptome als unangenehm, beein trächtigend, leidvoll und sogar peinigend erlebt werden. Aber gerade auf diese negative Weise realisieren sie ihre Warnfunktion, da wir dazu neigen, das Un angenehme zu meiden. Würden sie als wohltuend und lustvoll wahrgenommen, könnten sie nicht vor Gefahr schützen. Doch werden die Ängste zu stark aus geprägt, bringen sie Menschen aus dem Gleichgewicht und beeinträchtigen das Leben. Ängste sind Grundgefühle menschlichen Daseins, die im Normalfall nicht jeden Augenblick in den Vordergrund drängen, sondern erst beim Nachdenken über die nächsten Lebensschritte, die möglichen Risiken, das Unvorhersehbare der Zukunft, das mögliche Scheitern angesprochen werden. Ängste entstehen, weil wir als Menschen über das Bewusstsein verfügen, dass unser Leben nicht durchgehend abzusichern ist, dass wir verletzbar und sterblich sind, dass im Zusammenleben mit anderen, in Gesellschaft, Wirtschaft, Familienleben, Um welt viele Ereignisse und Geschehnisse möglich sind, die uns bedrohen, ge fährden oder überfordern. Und wir wissen, dass wir als seelisch-geistige Wesen Gefühle entwickeln, Lebensentwürfe konzipieren, Sinnfragen stellen, die durch verschiedenste Begebenheiten erschütterbar sind und so unser eigenes Ich im Tiefsten zu verunsichern und zu ängstigen vermögen. Dabei geht es auch darum, dass wir uns sogar über uns selbst nicht sicher sein können, dass wir nicht wissen, wie wir in bestimmten Situationen reagieren könnten, mit welchen
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bisher verdeckten Facetten unserer Persönlichkeit wir rechnen müssen. Es ist die Ungewissheit, die ängstigt. Wie werde ich einen Verlust verkraften, welche Lebensenergie werde ich aufbringen, welche Kraft kann ich mobilisieren, wel che neuen Lebenspläne werde ich mir schmieden, welcher Mensch werde ich selbst in ein paar Jahren sein? Ich suche nach besseren Gewinnmöglichkeiten, ich will meinen politischen Einfluss erweitern, ich sorge für meine Gesundheit, meine Familie, meine Freunde. Meine Aufmerksamkeit, meine Zeit, meine Ge danken, meine sozialen Aktivitäten kreisen um diese Zentren meines Lebens. Doch dann kann es geschehen, dass mir genau das verlustig geht, um das ich mich doch so bemüht und gesorgt habe: ein Börsencrash, ein politischer Machtwechsel, ein Verkehrsunfall. Wie groß ist aber nun die Enttäuschung, die Frustration, das Entsetzen, der Zusammenbruch für mich? Zerstören sie mich oder wachse ich daran? Wie wird mein Leben danach aussehen? Das sind die Fragen, die hinter den Ängsten stehen und das Leben kontinuierlich begleiten. Wer, warum, welche Ängste entwickelt, ist dabei niemals genau zu identi fizieren. Ängste sind als Teil eines personalen Bewusstseins immer individuell, sie können konkreter oder abstrakter, klarer oder verschwommener, flexibel und formbar oder auch stark verfestigt sein. Wenn sich bestimmte Ängste aus geprägt und wiederholt haben, kann es geschehen, dass die eigene Vorstellungs kraft das Lebensumfeld mit denjenigen Auslösern besetzt, auf die die Ängste anspringen. Eine Kakerlaken-Phobie kann dahingehend intensiver werden, dass überall um einen herum dann auch Kakerlaken vermutet werden: im Küchenschrank, im Kochtopf, unter dem Bett, im Bett, in den Schuhen, unter dem Sofa, am Duschvorhang, hinter dem Eimer. Man ist gefangen in der eige nen Kakerlakenwelt. Dies ist ein schrecklicher Zustand, da er zu einem ver engten Blick in die Welt führt und das eigene Leben stark einschränkt. Das Gesamtgeflecht an Gedanken, Gefühlen, Befindlichkeiten, Abhängigkeiten lässt sich kaum entwirren. Auch das scheinbar Banale kann pathologisch wer den, zum Beispiel der Wahn, sich beim Berühren des Mülleimers mit tod bringenden Krankheiten anzustecken. Wie die individuelle Psyche tickt, lässt sich letztlich nicht genau enträtseln. Dennoch ist es wichtig, bei starken Ängs ten zu versuchen, die eigenen Gedankenmuster zu erkennen, und wenn dies individuell nicht gelingt, dafür fachkundige Hilfe zu suchen. Angesichts der Mannigfaltigkeit der Ängste und der individuellen Spezifik der Menschen kann das jeweils persönliche Umgehen mit den Risiken des Le bens sehr unterschiedlich aussehen. Wer sich in einer akuten Gefährdungs situation wähnt, geht vielleicht in die Offensive und stellt sich der Konfronta tion bis hin zu heroischem Kampfeswillen. Andere jammern, ziehen sich zu rück oder verstecken sich. Manchmal veranlassen Ängste dazu, dass potenzielle Sündenböcke oder konstruierte Feindbilder geschaffen werden. Auch eine Verzweiflungs-Strategie ist möglich: Sie geht aus von der Aussichtslosigkeit der eigenen Lage und führt oft zu Reaktionen, die der Situation nicht angemessen sind. Man kann aber speziell die Angstgefühle auch dadurch dämpfen oder ver drängen, dass man sich freiwillig in Strukturen integriert, in denen einem die eigenen Entscheidungen abgenommen werden, oder dass man einer weltan
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schaulichen Orientierung folgt, die die Stabilität von Werten und sozialen Ge gebenheiten verspricht und vom Verantwortungsdruck entlastet. Wichtig für das Verstehen der Ängste ist, dass sie durch die Menschen je weils selbst in ihrem Denken geformt werden. Ängste hat man nicht einfach, so wie man eine Schürfwunde am Knie hat. Die jeweiligen Ängste werden in ihren gedanklichen Anteilen erzeugt und können deshalb auch verstärkt, um gelenkt, abgeschwächt oder bei konkreten Ängsten auch ganz überwunden werden. Ängste sind beeinflussbar und Menschen hinsichtlich ihrer Ängste manipulierbar. So kann das Androhen von Strafen bewusst eingesetzt werden, um Menschen zu den Handlungen zu „erziehen“, die erwünscht sind, in der Familie oder in der Gesellschaft bis hin zum terroristischen Staat. Warum funk tioniert allein schon das Androhen von Strafe? Weil Menschen sich die Strafe vorstellen als schmerzhaft, freiheitseinschränkend oder entwürdigend, darauf bezogen Ängste aufbauen und dementsprechend ihre Verhaltensweisen so aus richten, dass das Schlimme möglichst nicht eintritt. Entsprechend lassen sich Ängste auch für bestimmte Ziele und Interessen demagogisch befördern, Ängste vor politischen Gegnern, um die eigene Anhängerschaft zu mobilisie ren, die Ängste vor der Sünde, um die Menschen an die kirchliche Macht zu binden, oder Ängste im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien, die die jenigen zusammenschweißen, die ihnen Glauben schenken. Selbst Ängste vor Alltagsgefahren lassen sich nutzen, um eine Versicherungspolice oder eine ein bruchshemmende Wohnungstür zu verkaufen. Umgekehrt ist es durch ein Umfeld der Ermutigung und Anerkennung möglich, Ängste aufzufangen und eine seelische Stärkung zu erreichen. Ängste werden zwar immer individuell zusammengesetzt und geprägt. Je doch ihre Gehalte beziehen die Menschen größtenteils aus ihren jeweiligen Lebenskontexten. Deshalb ist auch die Bearbeitung der Ängste nur möglich, indem auf die kulturell verfügbaren Inhalte zurückgegriffen wird. In einer archaischen Dorfgemeinschaft, die sich die Naturereignisse durch das Tun von Göttern erklärt, können Ängste vor Blitzeinschlag, Überflutung oder Dürre auch nur dadurch beeinflusst werden, dass Formen gefunden werden, sich mit den Göttern gutzustellen, beispielsweise durch Opferungen und Be schwörungen. Die im christlich geprägten Mittelalter tief verankerten Ängste vor der eigenen Sündigkeit und dem Verlust des ewigen Selenheils bedurften religiöser Formen wie der Beichte und des Gebets, um abgemildert zu werden. Auf die heutigen sozialen Ängste, die sich auf konkrete Krisen, Pflegenotstand, Wohnungsknappheit oder Inflation beziehen, kann nur durch zeitgemäße Interpretationssysteme reagiert werden, wie sie Politik, Ökonomie, Wissen schaft und zum Teil auch alternative Deutungsangebote liefern. Es ist nahe liegend, dass in Krisenzeiten Ängste zunehmen, weil sie der Indikator sind für das Abweichen von der „Normalität“. Doch Krisen können als Desaster oder Chance interpretiert werden. Dementsprechend vermögen es Ängste, zu pro blemösender Aktivität zu mobilisieren oder alle Kräfte zu lähmen. Von entscheidender Bedeutung für die Bewertung der Ängste und die Möglichkeit des Umgangs mit ihnen ist es, die positiven und negativen As
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pekte der Ängste zugleich im Blick zu haben und Kriterien für ihre Unter scheidung zu entwickeln. Die positive Seite der Ängste besteht darin, dass sie in der Form von Befürchtungen und Sorgen für Risiken sensibilisieren und uns dadurch helfen, das für uns Wichtige zu schützen. Sie gehören zum grund legenden Repertoire der Gefühlsausstattung jedes Menschen. Das Verstehen der eigenen Ängste und ihre Einordnung ins eigene Leben sind die Voraus setzung dafür, mit ihnen sinnvoll umgehen zu können, auch wenn die be gleitenden körperlichen Symptome wie Unruhe und Anspannung oft erst ein mal als störend und unangenehm erlebt werden. Ängste helfen uns, das eigene Risikoverhalten besser auszutarieren. Alle Eltern kennen Situationen, in denen das eigene Kind, mit dem man unterwegs ist, plötzlich nicht mehr zu sehen ist. Sofort schlägt das Herz schneller, man beginnt das Kind zu suchen, und je län ger das Kind verschwunden ist, umso wildere Fantasien, was möglicherweise Schlimmes geschehen sein könnte, jagen durch den Kopf und erhöhen den Ängste-Pegel. Doch das Kind taucht wenig später wieder auf. Beim nächsten Ausflug wird man einfach besser auf das Kind aufpassen. Die Ängste haben be wusst gemacht, wie stark die emotionale Bindung an das Kind ist, wie sehr man sich um sein Wohlergehen sorgt und wie unvorstellbar schrecklich der Verlust wäre. Diese produktiven Ängste geben in der Form von Gefühlen Orientie rung für unser Handeln. Sie unterstützen uns dabei, Gefahren zu identifizieren und das Handeln entsprechend auszurichten. Auch in einem weiteren Sinne si chern sich Menschen und auch Gesellschaften gegen Gefahren ab durch ver schiedene Institutionen und Sicherungssysteme, denken wir nur an das Rechts system, an das Versicherungswesen, an Feuerwehren und Polizei. Und Men schen bemühen sich auch um stabile Strukturen im Nahfeld, z. B. Familie, Freunde, Beruf, Immobilie. Damit fühlt man sich beruhigt, weil besser gegen Risiken des Lebens gewappnet. Der zweite Aspekt des Umgangs mit den eigenen Ängsten, die negative Seite, erweist sich darin, dass sie die Psyche aus dem Gleichgewicht bringen können und dann reguliert werden müssen. Werden Ängste zu stark aus geprägt, dann werden sie dysfunktional, belastend und können psychisch krank machen. Dann verlieren sie auch ihren Nutzen als Gefahrendetektor. Bei solch überstarken Ängsten brauchen die Betroffenen meist Hilfe, das Ausmaß der Ängste muss korrigiert werden. Hier werden Therapien angeboten, die je nach Schweregrad der Ängste, je nach Veranlagungen, bisherigen Erlebnissen und erworbenen Verarbeitungsstrategien sehr unterschiedlich vorgehen. Dabei hängt das Gelingen nicht nur von den Betroffenen selbst ab, sondern auch von den Bewertungsmaßstäben der Therapeutinnen und Psychiater, von ihren Kategorisierungen und Therapieansätzen. Da Ängste individuell geformte Ge bilde sind mit konkreten biografischen und gesellschaftlichen Hintergründen, können sie auch nur individuell spezifisch behandelt werden. Dabei gibt es viele verschiedene Techniken und Methoden, Beruhigung, Ablenkung, Um lenkung, inneren Harmonisierung, sportliche Betätigung, Meditation, Ge spräche und vieles mehr. Nicht zuletzt kann auch durch Psychopharmaka Ein fluss genommen werden auf den Organismus und seine Selbststeuerung. Ge
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rade die Forschungen zu den biochemischen Vorgängen im Organismus, die bei der Ausbildung von Furcht, Ängsten oder Stress und deren Verarbeitung eine Rolle spielen, bilden eine wichtige Grundlage, um geeignete Medika mente gegen Ängste entwickeln zu können, die den stark ängstlichen Men schen dabei helfen, Ängste und Stress abzubauen, ihr Gleichgewicht wiederzu finden, innere Spannungen zu lösen und sich so insgesamt auch weniger zu ängstigen. Es muss dabei in Rechnung gestellt werden, dass die geistige Umprägung der Ängste umso schwieriger ist, je festere Strukturen im Gehirn gebildet wur den, indem im bisherigen Leben bestimmte Erfahrungen immer wieder be stätigt wurden oder traumatische Erlebnisse besonders tiefe Spuren hinter lassen haben. Und inzwischen konnte in der biologischen Disziplin der Epi genetik sogar nachgewiesen werden, dass tiefgreifende Erlebnisse so gravierend auf den gesamten Organismus wirken, dass bestimmte Reaktionsweisen auf Umweltgegebenheiten an die Nachkommen weitergegeben werden können. Doch auch fest etablierte Muster, wie jemand auf seine Umwelt reagiert, sind im Laufe des Lebens weiterhin formbar. Wir können immer ein Stück weit da rauf Einfluss nehmen, wer wir sind, wie der Organismus ausgerichtet wird und wie die eigenen Reaktionsvarianten auf Gegebenheiten der Umwelt aussehen. Ernährung, Bewegung, familiäre Situation, ideologische Einstellungen haben Einfluss darauf, wie unser Gehirn, unser Stoffwechsel, die hormonelle Regulie rung funktionieren und damit Körper, Psyche und Geist, Emotionen und Ge danken mitbestimmt werden. Menschen entwickeln Strategien, um äußere Bedrohungen zu reduzieren. Sie schätzen Gefahren ab und richten ihr eigenes Verhalten danach aus. Sie überlegen, wie groß eine Bedrohung ist, welche konkreten Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Verlauf eines Geschehens es gibt, ob Aussicht auf Hilfe durch andere Personen besteht oder Fluchtmöglichkeiten gegeben sind. So löst nicht jede Konfrontation mit Gefahr gleichermaßen bei jedem Menschen auch dieselbe Furcht oder vergleichbare Ängste aus, denn die Verarbeitung der Informationen sind vom jeweiligen körperlich-psychischen Gesamtzustand ab hängig: Ist jemand krank, alkoholisiert, traumatisiert oder frisch verliebt, be einflusst dies die Weltwahrnehmung und die Verhaltensweisen. Weiterhin spie len aber auch die allgemeine Lebenseinstellung und Weltsicht, die Lebens erfahrung im Umgang mit Gefahren, eingeübte Strategien der Bewältigung schwieriger Situationen, Selbstvertrauen oder auch die Beeinflussbarkeit von außen eine wichtige Rolle. Manche Menschen gehen rationaler, andere emo tionaler mit bestimmten Situationen um. Die einen neigen eher zum trotzigen Dagegenhalten, die anderen passen sich in ihren Haltungen stark an ihr Um feld an. Es gibt Menschen, die in der Konfrontation mit verschiedenen Heraus forderungen eine große innere Stärke und Kraft beweisen. Dies wird unter dem Stichwort der „Resilienz“ gefasst, d. h. der inneren Widerstandskraft und Fähigkeit, das eigene Gleichgewicht zu erhalten. Warum Menschen so unter schiedlich reagieren, lässt sich wahrscheinlich niemals ganz aufklären. Die un endlich vielen Fäden, die in einem Organismus und seinem Bewusstsein zu
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sammengewoben werden, lassen sich nicht im Einzelnen entwirren. Ent sprechend ist für die unterschiedlichen Persönlichkeitstypen jeweils nicht jede Bewältigungsstrategie geeignet. Die Bedeutung von Ängsten lässt ich im weiteren Sinn auch für ganze Ge sellschaften beobachten. Auch für Gesellschaften gibt es so etwas wie ein aus gewogenes Verhältnis der Kräfte, Möglichkeiten und Bedürfnisse. Wird das ge sunde Maß überschritten, werden die Lebensbedingungen zu schwierig, wer den dazu die tragenden Normen und Orientierungen in Frage gestellt, können sich starke Ängste ausbreiten und zu gesellschaftlichen Überreaktionen führen, zu Gruppenhysterien, in denen das klare Denken und angemessene Problem lösen außer Kraft gesetzt werden. Oder es entstehen gewaltsame Konflikte und Kriege. Dann werden die gesellschaftlichen Prozesse unbeherrschbar, sie ge winnen Eigendynamiken, die ein normales Leben nicht mehr möglich machen. So kann man im Umkehrschluss davon ausgehen, dass maßvolle, ausbalancierte Verhältnisse ein angenehmes Leben ermöglichen und der allgemeine Ängste- Pegel gut austariert werden kann. Die gefühlten Ängste sind komplex und können in ihren verschiedenen Ausrichtungen und hinsichtlich der psychischen Situation der Menschen posi tiv oder negativ wirken. In ihnen wird verarbeitet, dass wir wissen, dass das Un berechenbare zum Leben gehört, dass uns Unheil geschehen kann und dass das Leben selbst irgendwann zu Ende sein wird. Ängste zeigen den Menschen, was ihnen wichtig ist, was sie schützen möchten, worin sie Gefahren und Risi ken ihres Lebens sehen. Doch wenn das Verhältnis zwischen vorgestellten Ge fährdungen und dem Zutrauen, diese Situationen in den gegebenen Struktu ren bzw. aus eigener Kraft bewältigen zu können, in eine Schieflage gerät, ent steht das Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins, und es sinken Selbstvertrauen, Widerstandsfähigkeit und Lebensmut. Wenn Menschen sich in dieser psychischen Lage als nicht mehr voll handlungsfähig erleben, wenn sie unter unbeherrschbaren Ängsten leiden und ihre Lebensqualität deshalb sinkt, zeigt sich das negative Potenzial der Ängste, das von zeitweisen Attacken bis zur Handlungsunfähigkeit reichen kann. Dies ist der Bereich der Ängste, in dem Strategien notwendig werden, das innere Gleichgewicht wieder zurückzu erlangen. Können Menschen diese Strategien nicht aus sich selbst mobilisieren, benötigen sie Unterstützung von außen, zum Beispiel durch geeignete The rapien. Je allgemeiner die Ängste sind, je weiter sie über das Alltagsleben hinaus weisen, umso näher rücken sie der geistigen Angst. Damit verändert sich ihre Wirkungsweise, was aber auch bedeutet, dass der Umgang mit diesen abstrak ten Ängsten, die sich Richtung geistiger Angst entwickeln, nicht mehr im Sinne klassischer Therapien erfolgen kann. Was soll man einer apokalyptischen Angst vor dem Weltuntergang entgegensetzen, wenn sie eine zutiefst verinnerlichte Überzeugung ist? Wie kann man noch ein ruhiges, gutes Leben führen, wenn das Damoklesschwert des Klimawandels über der ganzen Menschheit schwebt? Hier geht es nicht um kleine individuelle Ängstlichkeiten oder pathologische Störungen, sondern um grundlegende und weit ausgreifende Probleme. Wer
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den diese abstrakten Gedanken in konkrete Vorstellungen davon übersetzt, was solche Großprobleme für mich ganz konkret bedeuten würden, können sich daran die gefühlten Ängste aufbauen. Es darf nicht vergessen werden, dass Ängste durch unsere eigenen Gedanken erzeugt werden und dass wir genau deshalb (im Unterschied zu den physiologischen Mechanismen der Furcht) auf diese Ängste Einfluss nehmen können. Wir haben die Macht, sie aufzubauen und abzubauen, zu lenken und umzuformen. 9.2.3 Geistige Angst Ängste beginnen da, wo Menschen sich Bedrohungen vorstellen, wo sie sich gedanklich mit möglichen Gefahren und Risiken für sich selbst oder für andere Menschen beschäftigen. Ausgehend von diesen Gedanken gedeihen die ge fühlten Ängste. Die ängstigenden Gedanken können aber auch eine Ent wicklungsrichtung nehmen, die nur die höherstufigen kortikalen Regionen be treffen und keine Verschaltung zu den Bereichen aufweisen, die die Gefühle formen. Dies ist wohl dann der Fall, wenn die Angstgedanken abstrakter sind, also keine konkreten Bilder, Stimmungen, Erinnerungen im Spiel sind, son dern im allgemeineren Sinn die Befürchtungen und Sorgen um die Lebens möglichkeiten überhaupt im Zentrum stehen, wenn über das Zusammen brechen der Weltwirtschaft, den nächsten Weltkrieg oder die Gefahr aus dem All nachgedacht wird. Geistige Angst unterscheidet sich damit von den gefühlten Ängsten wesent lich. Sie ist reflektierter, allgemeiner, umfassender als die gefühlten Einzel ängste. Die geistige Angst hat keinen konkreten Bezugspunkt, keinen un mittelbaren Anlass, keine Auslöser. Ihre Inhalte sprechen nicht das Gefühls zentrum des Gehirns an, sodass die körperlichen Abwehr- und Fluchtreaktionen ausbleiben. Sie ist deshalb kein konkretes psychisches Erleiden im Sinne eines Gefühls. Geistige Angst besteht in der rein gedanklichen Antizipation der Möglichkeiten des eigenen Lebens und Tuns und den mitzudenkenden Risi ken, Gefahren, dem Unkalkulierbaren. Sie ist eine allgemeine Perspektive, die im Sinn einer grundlegenden Sorge die prinzipiellen Gefährdungsmöglich keiten als Mensch auslotet. Diese allgemeinen Inhalte geistiger Angst sind in ihrer gedanklichen Kapazität aber durchaus auch daran beteiligt, was dann für das eigene Leben konkretisiert in einzelnen Ängsten ausgemalt wird. Dass die geistige Angst erst in der Moderne explizites Thema wird, hat geis tes- und kulturgeschichtliche Gründe. Denn erst in der Moderne hat sich eine Perspektive herausgebildet, die den Menschen in einen offenen Horizont stellt, keinen Sinn oder Endzweck des Daseins mehr verspricht und damit auch kei nen absoluten „Halt“ mehr bieten kann. Und zugleich nehmen die Be drohungen durch moderne technische und technologische Möglichkeiten zu, denken wir nur an die Atomkraft, die möglichen Eingriffe ins Erbgut oder die noch vollkommen unabsehbaren Fähigkeiten künstlich geschaffener „Intelli
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genz“. So sind sowohl das moderne Selbstbild als auch das Weltbild geprägt von Unbestimmtheit und Unsicherheit. Damit wird es angesichts der Be schleunigung der Veränderungen und der zunehmenden Unübersichtlichkeit der Informationsfluten schwieriger, den eigenen Platz in der Welt zu bestimmen. Diese beiden Blickrichtungen nach innen und nach außen prägen die beiden entscheidenden Komponenten der geistigen Angst: die Selbst-Angst und die Welt-Angst, die sich wechselseitig tragen und verstärken. Die Selbst-Angst spie gelt den Umfang menschlicher Freiheit, die Herausforderung, immer zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen zu müssen, Entscheidungen zu treffen und dafür verantwortlich zu sein. Menschen sind keine Automaten, die einem Programm folgen. Sie haben keine stabilen Instinkte, die durchs Leben helfen. Sie sind auch nicht durch die soziale Welt oder ihre Kultur unausweichlich ge prägt. Vielmehr spielen die eigenen freien Entscheidungen und Lebensent würfe, die eigenen Wertsetzungen und Handlungen eine entscheidende Rolle für das, was ein Mensch ist, wie er sich selbst sieht und was er aus sich selbst macht, und zwar ohne Gelingensgarantie. Und da diese Selbsterschaffung und Identitätsbildung das ganze Leben lang stattfindet, ist das, was ich bin, niemals in einem Endzustand, niemals fertig. Es besteht immer die Möglichkeit, die eigenen Pläne zu ändern, sich anders zu definieren, die Lebensentscheidungen wieder umzustürzen. Die Einsicht, auf kein stabiles Wesen des Ich zurück greifen zu können, prägt die Seite der Selbst-Angst. Sie basiert auf dem Wissen, entscheiden zu müssen und verantwortlich zu sein und dieser individuellen Verantwortung niemals voll gerecht werden zu können. Sie bezieht sich auf die Ungewissheiten im menschlichen Leben und Handeln insgesamt und ist auch davon abhängig, wie sich die Lebenskontexte entwickeln und verändern. Die Unklarheit, wie die zukünftigen Lebensbedingungen aussehen werden, wohin die Menschheit driftet, wie es mit Klimawandel, Vernichtungswaffen, Techno logien weitergehen wird, bildet den Kern der Welt-Angst als der anderen Seite der geistigen Angst. Beide Komponenten, Selbst-Angst und Welt-Angst, ge hören zusammen wie ein Vexierbild, das mal die eine, mal die andere Sache zeigt. Geistige Angst ist kein Gefühl, sondern eine grundlegende Auffassung und Perspektive. Sie weist deshalb auch nicht die psychische Leidensqualität der ge fühlten Ängste auf, entwickelt keine pathologische Störung und ist in dem Sinne auch nicht therapiebedürftig. Dennoch kann sie unterschiedlich große Räume im eigenen Denken besetzen. So kann sich die Angst vor den Folgen des Klimawandels zu einer regelrechten Weltuntergangsangst ausweiten. Wird diese allgemeine Angst dann in konkreten Szenarien vor Augen geführt oder färbt sie die gesamte Weltsicht in düsteren Farben, können hier dann einzelne Ängste oder auch psychische Depressionen ansetzen oder sich verstärken. Die entscheidenden Fragen mit Blick auf das Angstphänomen drehen sich darum, wie die einzelnen Komponenten bewertet werden, wie mit den eigenen Angstgedanken und Angstgefühlen gezielt umgegangen werden kann und wie sie ins eigene Leben eingeordnet werden können. Wie viel Macht über uns
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selbst dürfen wir dabei dem menschlichen Geist zusprechen und zutrauen? In wieweit ist es möglich, geistig Einfluss nehmen zu können auf sich selbst, auf die eigenen Lebenseinstellungen, Gefühle, Befindlichkeiten, vor allem aber auf die verschiedenen Ängstigungsformen? Und was hat das alles damit zu tun, ob und wie wir in unserem Leben Glück, Sinn und Befriedigung finden?
9.3 Akzeptanz der Angst und die Macht des menschlichen Geistes Der Gang der Evolution kann als eine Höherentwicklung der Lebensformen interpretiert werden, wobei sich immer leistungsstärkere neuronale Apparate entwickelten, die für das Verhalten der Organismen genauere und flexiblere Steuerungsfunktionen übernehmen konnten und so die Anpassungs- und Überlebenschancen erhöhten. Im Zuge der biologischen Evolution mit ihren weit verzweigten Pfaden ist schließlich auch die Spezies Mensch entstanden, ausgestattet mit den geistigen Fähigkeiten, Kultur zu schaffen und Gesell schaften zu organisieren. Aufgrund ihres geistigen Vermögens können Men schen sich gedanklich aus der konkreten Situation lösen, vom Einzelfall auf all gemeine Zusammenhänge schließen, haben sie eine komplexe Begriffssprache, setzen sie sich bewusst Ziele und sinnen sie über die besten Möglichkeiten nach, diese Ziele zu erreichen. Menschen verstehen die Bedeutung von Normen, Institutionen und sozialen Strukturen. Und sie entwickeln ein Ich-Bewusstsein und Vorstellungen davon, wie sie leben möchten. Das Den ken, die Rationalität, die geistigen Fähigkeiten, die getragen sind von ent sprechenden Strukturen des neuronalen Systems, bieten Möglichkeiten, das Verhalten zu lenken und planvoll die Welt im eigenen Interesse zu verändern. Diese geistigen Kapazitäten sind zugleich der Grund dafür, warum Menschen über die animalische Furcht hinaus auch Angstgefühle und Angstgedanken entwickeln, denn in ihnen werden die Ungewissheit der Zukunft, die Bedroht heit des eigenen Daseins, das Wissen um die Verantwortung für das eigene Tun ausgetragen. Zugleich ermöglicht es die Denk- und Reflexionsfähigkeit dem Menschen, Furcht, Ängste, Angst in ihrer Funktion zu verstehen, sie in ihren konkreten Ausformungen zu bewerten und Reaktionsoptionen zu erörtern. Schon in der Antike wurde darauf aufmerksam gemacht, dass Ängste wich tig sind für die Weltorientierung, die Gefahrenbewältigung und auch die so ziale Selbstdisziplinierung. Die Religionen kennen die Gottesfurcht als ent scheidenden Aspekt, um das eigene Handeln nach göttlichen Geboten auszu richten. Und verschiedene Philosophien haben vor allem die geistige Kraft zur inneren Kontrolle der eigenen Affekte und Stimmungen, zur gezielten, willent lichen Selbstlenkung und zur Einflussnahme auf die eigene seelische Befindlich keit betont. Diese Fähigkeit der Selbstkontrolle und Selbststeuerung möchte ich die „Macht des Geistes“ nennen. Wir reflektieren, wie es uns geht, was uns wichtig ist, was wir im Leben erreichen wollen. Unsere Befindlichkeiten, Ge fühle, Gedanken, Stimmungen sind uns bewusst, wir können uns mit ihnen
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auseinandersetzen, sie annehmen oder kritisch hinterfragen. Wir sind in der Lage, durch unsere Gedanken, durch unsere geistige Kraft auf uns selbst ein zuwirken, unseren Körper zu bewegen, unser Handeln anzuleiten, unser Den ken zu strukturieren und unsere Gefühle zu formen. So können wir, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, auf Furcht, Ängste und geistige Angst Einfluss nehmen. Dabei sind es vor allem die Ängste, auf die sich die Aufmerk samkeit richtet, denn sie bilden den umfangreichsten Anteil am gesamten Angstgeschehen und stellen in ihren als negativ empfundenen Ausprägungen große Belastungen dar. So soll im Folgenden erörtert werden, wie es möglich ist, auf sie einzuwirken, auf ihr Entstehen, auf ihre Einordnung ins eigene Leben, auf ihre inhaltliche Ausrichtung und auf ihre Abmilderung, wenn sie zu stark ausgeprägt werden. Wir selbst müssen entscheiden, ob wir unsere Ängste willkommen heißen oder uns vor ihnen fürchten, ob wir sie als Teil des Lebens akzeptieren oder als „Krankheit“ bewerten. Dabei hängt es von verschiedenen Faktoren ab, wie der Umgang mit den Ängsten gestaltet werden kann: von der eigenen Lebenseinstellung, den individuellen Dispositionen, der eigenen Willensstärke, dem sozialen Umfeld. Was sich nicht abschalten lässt, ist die Grundbedingung, dass der Mensch konstitutiv Angstwesen ist, genauso wie er ein sterbliches Wesen ist und bleibt. Worum es also gehen sollte, ist die reflek tierte Einordnung der Ängste ins eigene Leben und, falls sie doch einmal aus dem Ruder laufen sollten, ihre Mäßigung. Dies erfordert geistige Selbstarbeit, verbunden mit dem Vertrauen darauf, Macht über sich selbst zu besitzen. Jeder kennt Alltagssituationen, in denen man sich über etwas ärgert, sich dann selbst wieder mäßigt und zu sich selbst sagt: „Regʼ dich nicht auf!“ Oder man ist gestresst und hält einen Moment inne, um ein paar Mal tief durchzu atmen. Das bewusste, regelmäßige Atmen wirkt sich entspannend auf den Gesamtorganismus aus. Dies sind einfache Formen der geistigen Selbst kontrolle, über die jeder Mensch verfügt. Die Fähigkeit zur Disziplinierung der eigenen Triebe, Leidenschaften und Emotionen ist die Bedingung dafür, dass Menschen in Gemeinschaften miteinander leben können. Von Anfang an werden wir dazu erzogen, Selbstbeherrschung zu lernen. Unser ganzes Leben über sind wir angehalten, unsere Affekte, Leidenschaften und Begierden unter Kontrolle zu halten, unser Handeln bewusst zu steuern. Dabei ist interessant, dass bei entsprechender Übung der geistigen Selbststeuerung sogar die basalen Lebensfunktionen wie Hirnaktivität, Atmung, Herzschlag, Stoffwechsel ein Stück weit erreichbar sind. So ist es möglich, die eigene Stimmung aufzuhellen und Stress besser zu regulieren. Wir können uns durch schöne Gedanken glücklich stimmen, durch negative Gedanken unglücklich. Bezogen auf die Angstproblematik kann das gezielte Einnehmen bestimmter Sichtweisen hel fen, Panikattacken und verschiedene Ängste besser zu kontrollieren oder ganz zu überwinden. Wie weitreichend die „Macht des Geistes“ ist, auf den Organismus zu wir ken, belegen inzwischen auch viele wissenschaftliche Forschungen. Placebo- Studien zeigen, dass Placebos deshalb bei vielen (nicht bei allen) Menschen wirken, weil sie glauben, dass sie ein wirksames Medikament einnehmen. Ver
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schiedene Untersuchungen konnten belegen, dass positive oder negative Ge danken jeweils die Ausschüttung bestimmter biochemischer Botenstoffe im Organismus verursachen, die sich dann förderlich oder störend auf den Organismus auswirken. Eine kürzlich veröffentlichte Studie zur Ausprägung von Long-Covid-Erkrankungen wies nach, dass psychische Faktoren eine wich tige Rolle für die Erkrankung spielten. Wer von vornherein große Ängste und Sorgen hatte, überhaupt an Corona zu erkranken, beförderte mit dieser nega tiven Erwartungshaltung den schwierigen und langwierigen Verlauf der Er krankung deutlich.3 Erinnern wir uns noch einmal an einige biologische und psychologische Theorien, die sich mit der möglichen Einflussnahme auf die Ausprägung von Ängsten und deren gezielter Umformung beschäftigt haben. Der Neurobio loge Joseph LeDoux (vgl. Abschn. 3.1.1), Psychologen wie Richard S. Lazarus und Albert Ellis (vgl. Abschn. 3.2.1), um nur einige Beispiele zu nennen, haben in ihren Forschungen gezeigt, dass und wie Menschen in der Lage sind, geistig die eigenen Ängste auszugestalten und zu beeinflussen. Die ent scheidende Einwirkungsmöglichkeit besteht darin, die Ängste dort zu er reichen, wo sie entstehen, wo die eigenen gedanklichen Welterklärungen und ein Selbstbild als Person in dieser Welt konzipiert werden, nämlich im eigenen Denken. Wir selbst erschaffen die eigene Welt- und Selbstsicht, das heißt, es sind die selbst gewählten Interpretationen und Bewertungen, die das eigene Leben positiv oder negativ, optimistisch oder pessimistisch erscheinen lassen. So können insbesondere beständig genährte negative Gedanken, Zweifel, Be fürchtungen, Neid oder gar Hass zu tiefer Unzufriedenheit, zu Aggressivität oder Depression führen. Verändern wir die eigenen Perspektiven und Be wertungsmuster, verändern sich damit auch die Ängste und andere Gefühle. Die entscheidende Instanz sind die Menschen dabei jeweils selbst. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, die zum Teil über längere Zeiträume aus geprägten Sichtweisen und Vorstellungen von sich selbst oder von den Mit menschen zu durchschauen, um sie umzustellen oder ganz aufgeben zu kön nen. Die Inhalte, die die Persönlichkeit konstituieren, sind selbst wieder struk turelle Komponenten, die mit allen anderen psychischen Komponenten verbunden sind. Hier einzugreifen, ist ein oftmals langwieriger Prozess. Doch zugleich ist wichtig zu sehen, dass der Mensch in der Lage ist, geistig auf sich selbst, auf sein Bewusstsein, seine Gefühle und seinen Körper Einfluss zu neh men. Ist die eigene Psyche in eine Schieflagen geraten, kann dies durch menta les Training wieder korrigiert werden. Es ist möglich, durch eigene reflexive Anstrengung eine Art inneres Gleichgewicht zu erreichen und zu bewahren. Doch ist dies keine naturgegebene Fähigkeit, sondern muss erlernt und geübt werden. Wie aber ist es überhaupt möglich, dass „der Geist“ auf den Körper Einfluss nehmen kann? Auf eine gewisse Weise verleitet diese Formulierung dazu, „den Geist“ für eine magische, übersinnliche Macht zu halten, die in uns wohnt und 3
Depression, 2022.
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dort eigenständig schaltet und waltet. Doch „Geist“ ist nichts anderes als ein Begriff für bestimmte Fähigkeiten des Menschen, genauso wie wir von Ver nunft, Wille oder Fantasie sprechen. Naturwissenschaftlich gesehen sind die geistigen Fähigkeiten ein Zusammenwirken verschiedener körperlicher Funk tionen, das Resultat der komplexen Verschaltungen verschiedenster Hirn regionen, die wiederum verbunden sind mit dem gesamten Organismus. Aufs Ganze gesehen ist der Organismus in der Lage, seine verschiedenen Funktio nen zu regulieren und immer wieder aufeinander abzustimmen. Dies betrifft auch die miteinander interagierenden Bereiche des Gehirns. Die Art, wie die geistige Kapazität des Gehirns, also vor allem des Neocortex, ausgerichtet und beansprucht wird, wirkt sich auch aus auf andere Hirnareale, zum Beispiel die Amygdala, deren gefühlssteuernde Aktivität dadurch verstärkt oder ab geschwächt werden kann. So konnte nachgewiesen werden, dass gezielte Me ditation dazu beiträgt, das Schmerzbewusstsein zu beeinflussen oder Stress besser auszuhalten. Durch geistige Übungen ist es möglich, direkt auf die Strukturen des Gehirns einzuwirken, und zwar nicht nur auf die Art der Ver schaltungen und Informationsverarbeitung, sondern auch anatomisch. Der Neurobiologe Richard Davidson belegte in seinen Forschungen, dass sich mit langjähriger Meditationserfahrung bei buddhistischen Mönchen die Gehirn substanz verändert, dass sich neuronale Strukturen umbauen, die Nervenzellen selbst neue Fortsätze bilden oder sogar die Bildung neuer Nervenzellen an geregt wird. Diese Fähigkeit zum Anlegen neuer Strukturen und Verbindungen im Gehirn liegt allem Lernen zugrunde, wozu Menschen bis ins hohe Alter fähig sind. Und dies ist zugleich die Voraussetzung dafür, das eigene Bewusst sein umzuformen, Lebensauffassungen zu verändern, Gedanken und Gefühle neu auszurichten. Das Gehirn wird heute also nicht mehr einfach als ein fest gefügtes materiel les Organ angesehen, sondern als eine höchst vielschichtige, multifunktionale Struktur, die informationsverarbeitende und verhaltensregulierende Prozesse ermöglicht. Dabei werden im Gehirn Informationen auf verschiedenen Ebe nen abgeglichen, verbunden und bewertet. Es ist biologisch gesehen un abdingbar, dass die primär lebenserhaltenden Funktionen am stabilsten und deshalb möglichst wenig störanfällig sind für Einflussnahme aus anderen Hirn regionen. Es wäre nicht sehr zielführend, ja nicht einmal wünschenswert, dass wir nach Lust und Laune unseren Herzschlag anhalten und wieder in Gang set zen könnten. Auch ist es ziemlich schwierig, nur aus Willenskraft die Luft so lange anzuhalten, bis man erstickt ist. Deshalb führen die wichtigsten, weil lebenssichernden Funktionsstränge von den tieferen zu den jüngeren Schich ten des Gehirns. Doch die jüngeren Hirnzentren sind sowohl untereinander als auch mit den tieferliegenden Regionen ebenfalls auf vielschichtige Weise ver bunden, sodass hier auch umgekehrt von oben nach unten, von den Arealen der geistigen Aktivitäten zu den tieferen Schichten, die Emotionen hervor bringen und zum Teil Körperfunktionen regulieren, ein Einwirken möglich ist. Wenn man, wie es der Neurobiologe Antonio Damasio vorschlägt, die „Äqui valenz von Geist und Gehirn“ annimmt, „stellt die abwärts gerichtete Kausali
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tät eigentlich kaum noch ein Problem dar“.4 Dies bedeutet, dass die Hirn forschung heute ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass es möglich ist, durch die Macht des Geistes bewusst auf andere Prozesse des Organismus ein zuwirken. Diese Fähigkeit selbst ist ein Resultat der Evolution des Bewusst seins, das mit seiner Weiterentwicklung immer höherstufigere Leistungen zu vollbringen hat, in komplexen Gehirnen die verschiedenen Funktionen ko ordinieren und zusammenhalten muss und deshalb auch die Macht besitzt, re gulierend in die neuronalen Prozesse einzugreifen. Damasio zufolge bietet diese zentralisierende Regulierungsfunktion des Ge hirns auch einen Erklärungsansatz dafür, wieso in der biologisch-kulturellen Evolution so etwas wie die Vorstellung von einem personalen „Ich“ oder „Selbst“ entstanden ist. Das „Ich“ ist ein geistiger Funktionskomplex, basie rend auf Strukturen des Gehirns, der es erlaubt, die Bewusstseinsaktivitäten als eine Einheit zu vollziehen. Damit ist es möglich, sich als ein homogenes Sub jekt zu verhalten und für die anderen als ein konsistent verfasster Akteur zu gel ten, der in der Welt auf eine nachvollziehbare Weise agiert. Mit der Zen tralisierung der Funktionen in dem Konstrukt „Ich“ ist eine hohe Selbst steuerungsfähigkeit gegeben, die sich evolutionär auch in Zukunft immer weiterentwickeln könnte. So schreibt Damasio: „Der Weg des Geistes ist mit der Entstehung der modernsten Ebenen des Selbst noch nicht zu Ende. In der Evolution der Säugetiere und insbesondere der Primaten wird der Geist immer komplexer, Gedächtnis und Vernunft weiten sich beträchtlich aus, und die Selbst-Prozesse erweitern ihre Spannbreite. […] Wir erwerben die Fähigkeit, mit einem Teil unserer Geistestätigkeit die Tätigkeit anderer Teile zu über wachen.“5 Demnach besteht die Aufgabe der für die geistigen Kapazitäten zu ständigen Hirnfunktionen darin, eine innere Selbstkontrolle und entsprechende Korrektur bei Abweichungen zu gewährleisten. In allen diesen Entwicklungen sieht Damasio ein Grundprinzip am Werk, das er Homöostase nennt. Er versteht darunter die Fähigkeit eines Organismus zur Schaffung optimaler innerer Bedingungen der Selbsterhaltung und zur ak tiven Steuerung der Lebensfunktionen, indem zwischen den verschiedenen Aktivitäten eine Art Harmonie hergestellt wird. Selbsterhaltung ist nur da durch möglich, dass die verschiedenen Strukturen, Teile, Funktionen des Organismus wechselseitig aufeinander reagieren und Fehlleistungen korrigiert werden. Unter dem Gesichtspunkt der Homöostase sind dann auch die Heraus bildung von Gefühlen und die Entstehung des bewussten „Ich“ nichts anderes als ein evolutionäres Produkt, das die Selbsterhaltung des menschlichen Organismus unter den Bedingungen von Sozialität und einer kulturellen Lebenswelt bestmöglich unterstützt. Wenn Menschen die Vorstellung von einem „Ich“ hervorbringen, steht dahinter die Fähigkeit, sich bewusst mit sich selbst und seiner Umwelt auseinanderzusetzen, Mittel und Methoden der Be einflussung des eigenen Lebens ausdenken und anwenden zu können und 4 5
Damasio 2011, S. 330. Damasio 2011, S. 38.
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damit direkten Einfluss auf die Lebensgestaltung zu nehmen. Aber auch die Errungenschaften der menschlichen Kultur dienen letztlich dazu, immer wie der Koordinierung, Anpassung und Ausgleich in den Lebensvollzügen und Lebensbedingungen vorzunehmen und so wiederum den Menschen jeweils Möglichkeiten der homöostatischen Regulierung zu bieten. Große Aufmerksamkeit widmet Damasio der Bedeutung von Gefühlen. Er sieht ihre Funktion darin, dass sie den jeweiligen Zustand der Homöostase im Organismus auf positive oder negative Weise anzeigen. Gefühle besitzen immer eine „Wertigkeit“,6 indem sie Auskunft geben, was für einen Organismus gut oder schlecht ist. „Gefühle dienen der Regulation des Lebens; sie liefern Infor mationen über die Grundlagen der Homöostase oder sozialen Bedingungen unseres Lebens. Gefühle unterrichten uns über Risiken, Gefahren und aktuelle Krisen, die es abzuwenden gilt. Auf der angenehmen Seite der Medaille steht, dass sie uns auch über gute Gelegenheiten informieren können.“7 Wir fühlen jeweils, wie es um unseren Gesamtzustand bestellt ist, und dies ist eine wichtige Voraussetzung dafür, aus diesem Gefühl dann Wissen für das Handeln zu be ziehen. Denn der Geist ermöglicht es, die Gefühle einzuordnen und aus ihnen Schlussfolgerungen zu ziehen. Vor allem solche basalen Gefühle wie die Ängste der Menschen signalisieren, folgt man Damasio, Risiken und Krisen, die sich auf die homöostatische Situa tion des Gesamtorganismus auswirken. Dieser organismische Zustand ist es, der gefühlt wird. Im Organismus geschieht also etwas, das als unangenehm wahrgenommen wird und die Aufmerksamkeit des bewussten, geistigen Ich verlangt. Wie gut nun das jeweilige Individuum vermag, die innere Balance zu halten oder wieder zurückzugewinnen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Das Gesamtfeld des Angstgeschehens hat viele Facetten, die alle jeweils stärker oder schwächer wirksam sein können, sich wechselseitig verstärken oder zu Spannungen führen. Art und Inhalt der Ängstigungsformen resultieren zum einen aus individuellen, biologischen Veranlagungen. So kann auch der Um gang mit den eigenen Ängsten sehr unterschiedlich erfolgen, je nach Aus prägung von individueller oder auch gesellschaftlicher Ängstlichkeit, Selbstver trauen und persönlicher Widerstandsfähigkeit gegenüber stark negativen Ängs ten. Dazu spielen die eigenen Sichtweisen und Präferenzen und vor allem die Fähigkeit, bewusst auf sich selbst Einfluss zu nehmen, eine bedeutende Rolle. Die jeweiligen individuellen Sichtweisen hängen aber zum anderen auch vom sozialen Umfeld ab, von politischen Weichenstellungen, öffentlichen Debat ten, wissenschaftlichen Publikationen, religiösen Orientierungen, von der Aus prägung von Wertungen, vom Wissensstand, von den relevanten Institutionen, auch von therapeutischen Moden, von allen Bereichen, die an einer Gesamt kultur mitwirken. Wir wissen aus historischer und persönlicher Erfahrung, wie stark Menschen von außen beeinflussbar sind, wie auch Ängste politisch, religiös, ideologisch 6 7
Damasio 2017, S. 144. Damasio 2017, S. 160.
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befördert oder eben auch abgebaut werden können, um Menschen zu be stimmten Handlungen zu veranlassen, um Feindbilder aufzubauen, um religiö sen oder politischen Gehorsam durchzusetzen oder um zum Widerstand gegen bestimmte Entwicklungen zu mobilisieren. Wenn in Medien, Fachpublikationen und Ratgebern davon ausgegangen wird, dass Ängste generell etwas Un gesundes sind und immer mehr Angststörungen diagnostiziert und als therapie bedürftig eingestuft werden, prägt dies gesellschaftliche Diskurse und Stim mungen und wirkt sich auch aus auf das Selbstbild der Menschen. Solche Ein ordnungen können dazu beitragen, dass sich die individuelle Sichtweise dahin ausrichtet, die eigenen Ängste argwöhnisch zu beobachten und sich selbst schließlich als psychisch krank und hilfsbedürftig anzusehen. Damit gerät aber die positive Funktion der Ängste ganz aus dem Blick. So sehen einige Angst forscher, die sich vor allem mit sozialen Ängsten in modernen Gesellschaften beschäftigen, die Gefahr, dass mit derlei Sichtweisen eine ideologische Patho logisierung der Bevölkerung stattfindet, dass Menschen immer stärker als ver letzlich, traumatisierbar, verwundbar angesehen werden, statt umgekehrt als stark, widerstandsfähig und selbstbestimmt. Eine solche kulturelle Atmosphäre wirkt sich aus auf die individuelle Selbstwahrnehmung, es wird eine Abhängig keit von der Gemeinschaft suggeriert, die auch in politische Bevormundung umschlagen kann. Und es werden politische Weichenstellungen vorgenommen, vielleicht mit guten Absichten, die die Menschen entlasten und schützen sol len, aber zugleich dazu tendieren, sie zu entmündigen. Dies geschieht zum Beispiel dann, wenn Gesellschaften überreguliert sind oder durch starke ideo logisch-weltanschauliche Vorgaben indoktriniert werden. Die umgekehrte Herangehensweise, wie sie sich in vielen Philosophien und Weisheitslehren schon seit der Antike findet, zielt auf eine Ermutigung dazu, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen, die eigene Vernunft bzw. die eigene geistige Kraft als Wegweiser im Leben einzusetzen und die Kapazi tät für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung zu entwickeln. Geistige Gehalte haben lenkende Funktion nicht nur für unser Denken und Wollen, sondern nehmen auch Einfluss auf Gefühle, Emotionen und körperliche Abläufe. Denn gerade Gefühle sind keine angeborenen Automatismen, keine stabilen Äußerungsformen von Befindlichkeiten, sondern werden im Zusammenwirken von Erinnerungen, Erfahrungen, Bewertungen, Grundorientierungen vom Menschen jeweils individuell geformt. Dabei wirken auf neuronaler Ebene im Gehirn verschiedene Areale zusammen, vor allem diejenigen, die für das Den ken und für die Gefühlserlebnisse zuständig sind. Aufgrund dieses Zusammen wirkens sind Gefühle immer auch durch geistige Aktivitäten erreichbar. Die geistige Kraft der Selbstbeeinflussung ist die entscheidende Stell schraube, über die wir jeweils individuell selbst, und zwar aus eigener Freiheit, verfügen, um Furcht, Ängste und Angst, um Gefühle, Wünsche, Lebensein stellungen überhaupt in eine gewünschte Richtung zu lenken. Hierfür ist es er forderlich, die eigenen Gefühle und Gedanken zu bewerten, sie in ihrem Ein fluss auf uns selbst einzuschätzen und sie dann bei Bedarf gezielt umzu orientieren. Dazu gehört auch, zwischen den negativen, pathologischen und
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den positiven, schützenden Funktionen vor allem der gefühlten Ängste zu unterscheiden. Die Anerkennung der für den Menschen nützlichen und sogar notwendigen Funktion der verschiedenen Aspekte von Furcht bis Angst kann dann zu einer Haltung beitragen, die die eigenen Ängste nicht generell über winden will, sondern so etwas wie den Mut zu einer hilfreichen und produkti ven Angst zu entwickeln vermag. Doch auch an dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf verweisen, dass ich die normale Ausprägung der Ängste mit ihren Gefühls- und Denkinhalten vor Augen habe. Ängste, die aus Ausnahme situationen resultieren, aus traumatischen Erlebnissen, tiefen Erschütterungen, heftigen Schicksalsschlägen, die schwer zu ertragen sind, die vielleicht patho logisch werden, bedürfen dann auch anderer Bewältigungsmöglichkeiten. Menschen, die selbst hilflos sind, wenn es um den eigenen, inneren Ängstigungs raum geht, benötigen Hilfestellung, um überhaupt erst Selbstvertrauen auf bauen zu können und um ihre eigene geistige Kraft erst auszuprägen. Doch letztlich muss immer das eigene Ich erreicht werden, ob von außen oder innen, ist es immer die im eigenen Ich zu vollziehende Einflussnahme auf sich selbst, die die Grundlage bildet, um psychische Störungen in den Griff zu bekommen. Im Kap. 4 dieses Buches wurden verschiedene Herangehensweisen an die Angstthematik in der Theoriegeschichte vorgestellt. Ob Platon oder Aristote les, Epikur oder Seneca, Kant oder Hegel, sie alle betonen die Fähigkeit des Menschen, durch die eigene Vernunft, durch die Kraft des vernunftgeleiteten Geistes, die eigenen Begierden, Leidenschaften und Gefühle im Zaum zu hal ten und dem eigenen Leben eine maßvolle Richtung zu geben. Vor allem aber solche philosophischen Lehren wie der Stoizismus und Buddhismus, die schon vor mehr als zweitausend Jahren entstanden, empfehlen eine Lebensweise, die darauf gerichtet ist, Gleichmut, Unerschütterlichkeit und eigene Seelenruhe zu erreichen. Die Stoiker und auch die Buddhisten gehen davon aus, dass das menschliche Leben viel Anlass zu Sorge und Leid bereithält, eben deshalb, weil die Menschen über ihre äußeren Lebensbedingungen, über die Geschehnisse in der Welt, die Wechselspiele des Schicksals nicht verfügen und dazu noch hin und her geworfen werden von ihren Leidenschaften, Bedürfnissen und Wün schen und niemals zu einem Zustand innerer Ruhe, Harmonie und Zufrieden heit gelangen können, wenn sie sich willenlos treiben lassen. Um die eigene Psyche in Ruhe und Gleichklang zu bringen, ist es notwendig, sich von den Be gehrlichkeiten, vom Getriebensein, von der Bindung an Äußeres zu lösen. Um die richtige Gesinnung zu erwerben, muss ein Leben lang eingeübt werden, die Quellen allen Leidens zu erkennen und eine immer stärkere Kontrolle über das eigene Denken, Sprechen und Tun zu erreichen. Hierfür dienen vor allem im Buddhismus auch Übungen der Meditation, die auf die Harmonisierung der Gedanken und eine innere Ruhe zielen. Die feste Überzeugung sowohl der Stoiker als auch der Buddhisten besteht darin, dass Menschen bei richtiger Lebenseinstellung und Lebensweise eine hohe Lenkungskraft für Körper und Psyche erreichen können. Im Zentrum steht die Würdigung der geistigen Kraft jedes Menschen zur bewussten Lebensführung und zur Beherrschung der eigenen Ängste. Es ist möglich, sich von den Verirrungen des Geistes in seiner
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Abhängigkeit von Äußerem und von übersteigerten Emotionen zu befreien, um zu größtmöglicher Gelassenheit zu gelangen. Höchstes Ziel ist es, durch geistige Selbstkontrolle innere Ausgeglichenheit und Lebenszufriedenheit zu erreichen. Diese Weisheitslehren haben ihren besonderen Charme darin, auf die Kraft des Geistes zur Selbstregulation zu vertrauen, auf Beruhigung, Konzentration und Entspannung zu orientieren, nach denen sich viele Menschen in unseren heutigen hektischen Zeiten sehnen. Doch sie tendieren oft dahin, Glück darin zu sehen, sich aus der Welt zurückzuziehen und einen statischen Zustand an zustreben. Die Moderne jedoch ist eine Zeit der Dynamik und Veränderung. So geht es heute weniger um Seelenruhe als um die Fähigkeit, sich selbst stän dig neu auszurichten, mit der Geschwindigkeit mitzuhalten und dabei zu er tragen, nie an ein endgültiges Ziel zu gelangen. Positiv formuliert bieten mo derne Lebenskontexte aber auch große individuelle Freiheiten, vielfältige Ar beits- und Gestaltungsmöglichkeiten und durchlässige soziale Strukturen. Doch diese innere und äußere Offenheit wird häufig erlebt als eine existenzielle Ungesichertheit, die ausgetragen wird auch in der geistigen Angst. Diese Erfahrung der Unbestimmtheit des menschlichen Daseins wird zu einer zentralen Frage der Existenzphilosophie (vgl. Kap. 5). Ihre Vertreter sehen die besondere Bedeutung des Angstbewusstseins darin, dass es wesent lich dazu verhilft, sich der eigenen Freiheit bewusst zu werden und die Selbst bestimmung des eigenen Lebens angesichts der konstitutiven Haltlosigkeit als die größte Herausforderung des Menschseins zu begreifen. So gewinnt das Phänomen der Angst eine besondere Dimension. Angst gilt nun als Ausdruck der Struktur des menschlichen Bewusstseins, nicht durch Wesensbestimmungen festgelegt, sondern offen zu sein für Möglichkeiten. Der Mensch ist ständig der eigenen Selbstbestimmung ausgesetzt, deren Endpunkt eben nicht fest steht. Dieses innere Freisein erfährt der Mensch durch die Angst. Die Angst führt dem Menschen vor Augen, dass das Festhalten an vermeintlich stabilen Gegebenheiten ein Selbstbetrug ist, weil die Freiheit sich aus all diesen Bin dungen lösen kann. Gerade weil die Angst auf die Freiheit bezogen ist, hat sie damit auch eine loslösende Kraft. Deshalb verweisen Sören Kierkegaard und Martin Heidegger darauf, dass sie Menschen dabei hilft, sich aus starren sozia len Bindungen zu befreien und einen eigenen Lebensweg zu wählen. Doch zu gleich bleibt in der Angst immer auch das Bewusstsein davon erhalten, dass es eine letzte Stabilität nicht gibt. Angst ist die Konfrontation damit, ständig mit Möglichkeiten konfrontiert zu sein, die aber nie in einer endgültigen Wirklich keit zum Stillstand kommen. Die Angst sorgt dafür, dass wir dieser Freiheit nicht entfliehen können, sie hält das Freiheitsbewusstsein wach. Auch Jean- Paul Sartre hebt diese Leistung der Angst hervor. Freiheit ist Charakteristikum des Menschen, wir können sie nicht abwählen oder ablehnen, sondern sind „dazu verurteilt, frei zu sein“.8 Damit sind wir aber zugleicht auch zur Angst verurteilt. Sowenig wie der Freiheit kann man der Angst entkommen, „denn 8
Sartre 2000b [1945], S. 155.
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wir sind Angst“,9 so Sartre. Das Wissen um die eigene Freiheit bedeutet immer auch ein niederdrückendes, ja quälendes Wissen darum, für sich selbst, für das eigene Handeln und für dessen Folgen die alleinige Verantwortung zu tragen. Dass die Verantwortung zur Last wird, die wiederum Angst hervorruft, lässt die enge Beziehung zwischen Freiheit, Verantwortung und Angst sichtbar wer den. Angst ist Sartre zufolge sogar die Bedingung dafür, dass wir überhaupt die Dimension dieser Verantwortung für die eigenen Lebensentwürfe und für die jenigen, die davon betroffen sind, verstehen. Dementsprechend haben dann Autoren wie Günther Anders und Hans Jonas (vgl. Abschn. 5.4) hervor gehoben, dass es notwendig ist, im Rahmen einer bewussten Haltung geistiger Angst sich mit den Gefahren der Zeit auseinanderzusetzen, um darauf auf bauend eine realistische Risikoabwägung vornehmen zu können und immer im Bewusstsein zu agieren, verantwortlich zu sein, auch für zukünftige Gene rationen. Während die Existenzphilosophie die individuelle Perspektive ins Zentrum ihrer Analysen stellt, beschäftigen sich soziologische Theorien mit Fragen da nach, inwiefern Menschen durch die Gesellschaften, in denen sie leben, ge prägt werden und wie soziale Bedingungen sich auf Angstkontexte auswirken. (Vgl. Abschn. 6.3) Doch bei allen sozialen Prägungen, denen Menschen aus gesetzt sind, die sie formen und leiten, geht es immer auch um die Heraus forderungen für die Individuen, sich zu den gesellschaftlichen Einflüssen zu verhalten und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ulrich Beck fordert ange sichts der Ängste, die mit den Unsicherheiten der Industriegesellschaft ent standen sind, dass es notwendig sei zu lernen, diese Ängste zu lenken und da durch auf die Risiken und Verunsicherungen angemessen zu reagieren. Er for dert dazu auch ein Umdenken in der Politik und in den Bildungs- und Erziehungsinstitutionen. Die Bearbeitung der eigenen Ängste soll nicht den Individuen allein zugemutet werden, sondern Beck zufolge werden „der Um gang mit Angst und Unsicherheit biographisch und politisch zu einer zivilisatorischen Schlüsselqualifikation und die Ausbildung der damit angesprochenen Fähigkeiten zu einem wesentlichen Auftrag der pädagogischen Institutio nen“.10 Die Angstfähigkeit muss gelernt werden, und dies stellt „neue An forderungen an die gesellschaftlichen Institutionen in Ausbildung, Beratung, Therapie und Politik“11 insgesamt. Und auch Frank Furedi hat in verschiedenen Texten und Vorträgen immer wieder darauf hingewiesen, dass die soziale Be wertung von Ängsten maßgeblich dazu beiträgt, wie Menschen mit ihren eige nen Ängsten umgehen. Werden sie nur als lähmend und störend angesehen, ist dies kontraproduktiv und führt dazu, dass Menschen Risiken scheuen und sich nichts zutrauen. Dementsprechend wäre es hilfreicher, Ängste und Angst als eine menschliche Grundbefindlichkeit zu akzeptieren und zu lernen, sie ins Leben zu integrieren und ihre aktivierenden Potenziale zu nutzen. Sartre 1993 [1943], S. 115. Beck 1986, S. 101–102. 11 Beck 1986, S. 251–252. 9
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Die hier noch einmal erwähnten Autoren stimmen alle darin überein, dass Angst in ihren verschiedenen Formen wichtig und prägend für das Menschsein ist. Und hier lässt sich nun resümierend fragen: Wie kann eine gute und maß volle Angstkultur aussehen, die Menschen selbst gestalten können und die andererseits von Seiten der Gesellschaft die individuelle Lebensbewältigung unterstützt? Die Antwort setzt sich aus vier Aspekten zusammen: 1. Zunächst einmal ist ein Begriff von Angst erforderlich, der die verschie denen Ebenen und Funktionen ausdifferenziert. Die Ängstigungsweisen müssen so gewichtet werden, dass ihre produktiven, wichtigen und hilf reichen Aspekte von den negativen Ausformungen unterschieden wer den können. 2. Zum Zweiten braucht es die individuelle Einsicht, dass wir es jeweils selbst sind, die die Ängste/Angst hervorbringen, und dass wir deshalb auch geistig auf uns selbst einwirken können. Es liegt hauptsächlich an uns selbst, worauf wir unsere Gedanken richten, wovon wir uns beein drucken lassen, was wir im Leben wichtig oder unwichtig finden. Aufgabe ist es, eine Lebenseinstellung zu entwickeln, die die positiven, fruchtbaren, anregenden Seiten der Ängste/Angst wertschätzt, ohne die Möglichkeit des dysfunktionalen Wucherns negativ ausgerichteter Ängste/Angst zu unterschätzen. Es kommt darauf an, sich zuzutrauen, dass die Ängste und die Angstinhalte ein Leben lang immer wieder modi fiziert werden können, dass man in der Lage ist, den Widrigkeiten des Lebens standzuhalten und über die Kraft und die Fähigkeit verfügt, die innere Balance stets wiederzufinden. Zu einer solchen Haltung kann durch die Gesellschaft ermutigt werden. 3. So sind zum Dritten die Menschen mit ihrer individuellen Angstbe reitschaft und Ängste-Bewältigung immer eingebettet in kon krete Gemeinschaften. Deshalb sind im weiteren Sinn für eine angst bereite und angstfähige Gesellschaft alle verantwortlich, die Familien, die Wirtschaft mit ihren Aktivitäten, Werbungen, Produktangeboten und Unternehmenskulturen, die Art der Politik und politischen Kommunikation, die modernen Informationsmedien, die Wissenschaften, Künste und Religionen. Alle diese Bereiche und Strukturen sind daran beteiligt, wie Menschen leben und welche Weltsicht sie entwickeln, wie und worüber öffentlich debattiert wird, welche Arten von Ängsten und geistiger Angst sich inhaltlich ausprägen, wie diese gelenkt, aufgebauscht oder unterdrückt werden. Einen wichtigen Beitrag könnten sicherlich Bildungs- und Beratungseinrichtungen leisten mit Angeboten, sich mit der Angstproblematik überhaupt erst einmal vertiefend zu beschäftigen. Weiterführend müssten Möglichkeiten zur gezielten Ängste/AngstErziehung oder Angstkultivierung bis hin zum Einüben von Sichtweisen und Techniken der Angstkontrolle für die Gemeinschaft zur Verfügung gestellt werden.
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4. Zum Vierten, und hier laufen die individuelle und gesellschaftliche Perspektive zusammen, wäre die Frage danach zu stellen, welches Ziel eigentlich mit der eigenen Angstbeherrschung erreicht werden soll, wel ches die Gesamtperspektive ist, nach der man sein eigenes Leben aus richtet. Ängste/Angst sind dabei ein subjektiver Spiegel der eigenen Befindlichkeiten und der Bewertung der Lebenssituation. Es geht darum, wie wir selbst unser Leben sehen wollen, welchen eigenen Lebensentwurf wir für möglich halten, welchen Sinn und Wert wir unserem Leben zu sprechen möchten. So wünschen sich wohl die meisten Menschen Zufriedenheit, Wohlergehen und Lebensglück. Doch dies kann sich nie nur auf das Privatleben beziehen, denn wir sind auch Teil einer sozialen, politischen, kulturellen Gemeinschaft, in der wir leben und die uns über haupt erst die Existenzbedingungen bietet und sichert. So stehen die in dividuellen Ziele immer im Zusammenhang mit den Möglichkeiten eines guten Zusammenlebens nach vernünftigen Regeln, wie sie idealerweise durch Moral, Recht und Politik mit Inhalt gefüllt werden. Und flankiert wird dies durch die Frage nach der eigenen Verantwortung auch für an dere, für die Familie, die Freunde, den Kollegenkreis und, wenn man es ganz weit spannen will, für die Menschheit überhaupt. In die Vorstellungen von einem guten, sinnerfüllten und glücklichen Leben gehen nicht nur die Wünsche, Träume und Hoffnungen ein, sondern auch die Reflexion möglicher Gefährdungen und Risiken. Sie werden in den Ängsten und der geistigen Angst gespiegelt und damit auf ihre spezi fische Weise zur Geltung gebracht. Schauen wir noch einmal auf die drei Ängstigungsformen. Furcht, Ängste und Angst sind jeweils funktionale und notwendige Kapazitäten des Menschen. Sie haben sich biologisch und kulturell entwickelt als Ausprägungen von Ge fahrenbewusstsein und Gefahrenbewertung angesichts der Freiheit des Men schen, seinem Denken und Handeln eine selbstbestimmte Richtung zu geben. Die Überlebensförderung durch die Reaktion auf faktische oder vorgestellte Bedrohungen zeigt in der evolutionären Entwicklung von der Furcht über die Gefühlsebene der Ängste bis zur geistigen Angst immer weiter ausdifferenzierte Möglichkeiten, die Bewältigung von Bedrohungen und Risiken geistig an zuleiten. Furchtreaktionen sind in ihren biologischen Abläufen in nur geringem Maße kognitiv steuerbar, aber die Reaktionsmuster sind durchaus mit der Zeit trainierbar. Dies lässt sich an Versuchen bei Tieren sehr gut belegen. Die ge fühlten Ängste hingegen mit ihren Vorstellungen von möglichen Bedrohungen beruhen auf gedanklichen Szenarien. Sie haben ihre Wurzel im eigenen Den ken. Dennoch ist an den Ängsten als Gefühlen auch ein biologisch vorgeformter Anteil beteiligt, der wie bei der Furcht physiologische Reaktionen abruft und die eigentliche Qualität als Gefühl bestimmt. Ängste sind geistig geformt und modifizierbar. Wenn Ängste jedoch schon über längere Zeit verfestigt sind, las sen sie sich ebenfalls schwer umpolen. Und oft benötigen Menschen mit tiefen
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Ängsten der psychotherapeutischen oder medikamentösen Unterstützung. Von den gefühlten Ängsten ist die geistige Angst noch einmal abzugrenzen, denn sie wird nicht in Gefühlen erlebt, sondern stellt die rein gedankliche Aus einandersetzung mit Risiken und Gefahren, mit den Ungewissheiten des Le bens, mit der Verletzlichkeit und Sterblichkeit dar. So wie die Furcht u nmittelbar Gefahr signalisiert, zeigen Ängste und geistige Angst mittelbar, vermittelt über die eigenen Vorstellungen und Gedanken, die Gefährdungen, Risiken und Be drohungen an, die sich aus dem Leben insgesamt, dem eigenen Verhältnis zur Welt, zu anderen Menschen, zur Gemeinschaft ergeben können oder die sogar die Menschheit insgesamt betreffen. Ängste und Angst sensibilisieren für die Gefahren des sozialen Lebens, der Politik, des religiösen Glaubens. Und diese Gefahren verändern sich, mit der technologischen Macht des Menschen, mit der Verfügung über atomare, biologische und chemische Waffen, die die ganze Menschheit vernichten können. Deshalb sind die Ängste und auch die rein geistige Angst, die diese Gefahren antizipieren, sinnvoll, ja überlebenswichtig, denn sie haben eine unverzichtbare Schutzfunktion für die Menschen. Angst sorgt dafür, vorsichtig zu sein. Vor-sicht ist der Blick in Richtung Zukunft, sie ist das Abwägen von Möglichkeiten. Gerade darin zeigt sich aber auch das kreative Potenzial der Angst. Denn sie braucht imaginative Fähigkeiten, um sich mögliche Gefahren vorzustellen, die Dimensionen des Handelns auszu loten und vor allem die eigene Freiheit zu verstehen. Sie ist damit immer wich tiger Teil des Selbstverständnisses und des Zukunftsdenkens des Menschen. Die geistige Kapazität ist der Evolutionsvorteil des Menschen, der ihn bis her so erfolgreich gemacht hat. Wenn wir unser Leben als selbstbestimmt an sehen, dann sollte es auch darum gehen, geeignete Mittel und Möglichkeiten zu erlernen und anzuwenden, diese Selbstbestimmung aktiv auszuüben. Doch birgt die Komplexität des menschlichen Bewusstseins auch negative Seiten. Denn zum einen hat die Ausdifferenzierung vielschichtiger biologischer Funk tionen beim Menschen dazu geführt, dass es viel schwieriger geworden ist, alle Komponenten in allen Situationen immer im Gleichgewicht zu halten. Und zum Zweiten greift die Spezies Mensch so stark in die Welt ein, dass sie damit das Überleben der Menschheit insgesamt gefährden kann. Hierauf bezieht sich vor allem die geistige Angst. Sie reflektiert die Größenordnung der Gefahren lagen, denen sich die Menschheit nur gewachsen zeigen kann, wenn sie bereit ist, durch Einsicht und vernünftiges Handeln den Problemen weitsichtig und verantwortungsvoll Rechnung zu tragen. Von den natürlichen Lebensbedingungen sind wir als Naturwesen abhängig, von den gesellschaftlichen Kontexten als soziale Wesen. Doch Menschen sind auch reflexive, bewusste, denkende Wesen, die sich bei aller Rückbindung an diese Rahmenbedingungen als freie Individuen verstehen. Die Inhalte unserer Gedanken und Gefühle sind nicht naturgegeben, sondern wir bringen sie selbst hervor. Wir verfügen über die geistigen Mittel, also vor allem Denkfähigkeit, Urteilskraft und Fantasie, um einen eigenen Lebensweg und Lebenssinn zu kreieren. Wir haben die geistigen Fähigkeiten, Perspektiven zu wählen, Werte
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zu setzen, ein Selbstbild zu formen, über die Gestaltung unseres Daseins zu entscheiden und unsere Persönlichkeit aus eigener Kraft zu verändern. Wir schreiben uns selbst die Urheberschaft für die eigenen Lebensvorstellungen, das eigene Selbstbild und das eigene Handeln zu. Wir haben es in der Hand, wer wir selbst sind und welche Rolle in unserem eigenen Leben Ängste und Angst spielen dürfen. Denn die letzte Instanz für das zutiefst Eigene, das man nicht an andere delegieren kann, für die eigenen Gedanken, für Glück und Zufriedenheit, für innere Harmonie und Stabilität, für die Sinnentwürfe und Lebensentscheidungen bleibt jeder Mensch selbst.
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