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German Pages 549 [556] Year 1982
NIETZSCHE-STUDIEN
NIETZSCHE-STUDIEN Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung
Herausgegeben von
Ernst Behler • Mazzino Montinari Wolfgang Müller-Lauter • Heinz Wenzel
Band 12 • 1983
W G DE
1983
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature G N - 3 2 University of Washington Seattle, Washington 98195, U . S . A . Prof. Dr. Mazzino Montinari via Gabriele d'Annunzio 237, 1-50135 Florenz Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstr. 27, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D-1000 Berlin 33
Redaktion Marie-Luise Haase, Ithweg 5, D-1000 Berlin 37
ISSN 0342-1422 I S B N 3 11 009507 6
© Copyright 1982 by Walter de Gruyter & C o . , vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp. — Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin
INHALT
Aufsätze W.
SCHULZ,
W.
TRILLHAAS,
K.
Funktion und Ort der Kunst in Nietzsches Philosophie . . Nietzsches „Priester"
Nietzsches Philosophie in ihrer Bedeutung für die Gestaltung der Weltgesellschaft. Der Ausbruch aus der Universitätsphilosophie II, hrsg. von W. Stegmaier
1 32
ULMER,
M. HAAR, La critique nietzschéenne de la subjectivité V.
GERHARDT,
G.
UNGEHEUER,
51 80
Das „Princip des Gleichgewichts". Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche 111 Nietzsche über Sprache und Sprechen, über Wahrheit
und Traum W.
134
III, The Wilamowitz-Nietzsche Struggle: New Documents and a Reappraisal 214
M . CALDER
H . NIEHUES-PRÖBSTING,
Anekdote als philosophiegeschichtliches Me-
dium
255
Nietzschéisme et humanisme nietzschéen. Une lecture de Nietzsche à la lumière de Goethe 287
L . LEIBRICH,
E.
BEHLER,
Die Auffassung des Dionysischen durch die Brüder Schlegel und Friedrich Nietzsche 335
R.
GRIMM,
The Hidden Heritage: Repercussions of Nietzsche in Modern Theater and its Theory 355
A. DEL CARO, Anti-Romantic Irony in the Poetry of Nietzsche . . . . CH.
372
S. TAYLOR, Some Thoughts on Nietzsche, Kazantzakis and the Meaning of Art 379
H . BRANDL,
Skandinavische Aspekte der Nietzsche-Rezeption
387
VI
Inhaltsverzeichnis
Miszellen E.
PFEIFFER,
Das Kapitel Lou in der Nietzschebiographie von C.
D. S.
THATCHER,
K.-U.
FISCHER,
P.
Janz 419
Nietzsche's "Rhinoxera"
Vom Grundsatz der Pflicht. Ein Zitat
424 426
Tagungen Political Uses and Abuses of Nietzsche. A Special Session at the Convention of the Modern Language Association of America in December, 1980, in Houston/Texas R.
E . KUENZLI,
W.
H . SOKEL,
The Nazi Appropriation of Nietzsche
428
Political Uses and Abuses of Nietzsche in Walter Kaufmann's Image of Nietzsche 436
Meeting of the North American Nietzsche Society on December 29, 1980, in Boston, Massachusetts E . HELLER,
Nietzsche — Philosopher of Art
J . STAMBAUGH, M . CLARK,
Comment
443 454
Nietzsche's Doctrines of the Will to Power
458
J . T . WILCOX,
Comment .
A.
Immanent and Transcendent Perspectivism in Nietzsche . 473
NEHAMAS,
T. B . STRONG,
469
Comment
491
Rezensionen G. Colli, Nach Nietzsche (F. Masini)
495
Nietzsche harmonisch: F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimental philosophie (R. Maurer)
497
D. Henke, Gott und Grammatik. Nietzsches Kritik der Religion (F. Rau) 506 E. Blondel, Nietzsche: Le cinquième Evangile? (Georges Goedert) . . 5 1 0
Inhaltsverzeichnis
VII
Zerstörer und Künder. Drei Sammelbände mit Nietzsche-Interpretationen (F. Rau) 513 SIGLEN
519
REGISTER
521
Hinweise für den Benutzer
521
Literatur-Register 1. Nietzsche 2. Zu und über Nietzsche
522 522 527
Personen-Register
533
VERZEICHNIS DER MITARBEITER DIESES BANDES
Prof. Dr. Ernst BEHLER, Department of Comparative Literature, University of Washington, Seattle, WA 98195, USA Dr. Horst BRANDL, Schaumainkai 5 a, D-6000 Frankfurt am Main Prof. Dr. William M. USA
CALDER
III, 2810 Juilliard Street, Boulder, Colorado 80303,
Prof. Maudemarie CLARK, Department of Philosophy, Columbia University, New York, N.Y. 10027, USA Prof. Adrian DEL CARO, Classical, Germanic & Slavic Languages, Louisiana State University, Baton Rouge, Louisiana 70803, USA Dr. Klaus-Uwe FISCHER, Mühlenstr. 5, D-2000 Oststeinbek Dr. Volker GERHARDT, Westfälische Wilhelms-Universität, Philosophisches Seminar, Domplatz 23, D-4400 Münster Prof. Dr. Georges GOEDERT, 40, rue Schrobilgen, L-2526 Luxemburg Prof. Dr. Reinhold Prof. Dr. Michel
GRIMM, 3983
HAAR, 16,
Plymouth Circle, Madison, Wisconsin
rue Pièrre-Nicole,
F-75005
53705, U S A
Paris
Prof. Dr. Erich HELLER, Department of German, Northwestern University, Evanston, Illinois 60201, USA Prof. Dr. Rudolf E. KUENZLI, Comparative Literature, University of Iowa, Iowa City, IA 52242, USA Louis LEIBRICH, Costo Caudo, Cucuron, F-84160 Cadenet Prof. Dr. Ferruccio MASINI, via Affrico-Antella 7, Bagno a Ripoli (Firenze) Prof. Dr. Reinhart MAURER, Ithweg 1, D-1000 Berlin 37 Prof. Alexander NEHAMAS, Department of Philosophy, University of Pittsburgh, Pittsburgh, Pennsylvania 15260, USA Dr. Heinrich NIEHUES-PRÖBSTING, Westfälische Wilhelms-Universität, Philosophisches Seminar, Domplatz 23, D-4400 Münster Dr. h.c. Ernst PFEIFFER, Am Feuerschanzengraben 3, D-3400 Göttingen Dr. Fritz RAU, Hardenbergstr. 68, D-5090 Leverkusen 1 Prof. Dr. Walter SCHULZ, Iglerslohstaffel 5, D-7400 Tübingen Prof. Dr. Walter SOKEL, Department of Germanic Languages and Literature, CockeHall, University of Virginia, Charlottesville, VA 22903, USA Prof. Dr. Joan STAMBAUGH, 415 East 85th Street, New York, N . Y . 10028, USA
X
Verzeichnis der Mitarbeiter
Prof. Tracy B. STRONG, Political Science Department, University of California, San Diego, La Jolla, California 92093, USA Prof. Charles S. TAYLOR, Department of Philosophy, Wright State University, Dayton, Ohio 45435, USA Prof. Dr. David S. THATCHER, Department of English, University of Victoria, P . O . B o x 1700, Victoria, B . C . , Canada V8W 2Y2 Prof. D. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Wolfgang TRILLHAAS, Tuckermannweg 19, D-3400 Göttingen Dr. Werner STEGMAIER, Kächeleweg 15, D-7000 Stuttgart 75 Prof. Dr. Karl
ULMER F
Prof. Dr. Gerold
UNGEHEUER F
Prof. John T. WILCOX, Department of Philosophy, State University of New York at Binghamton, Binghamton, N . Y . 13901, USA
WALTER
SCHULZ
F U N K T I O N U N D ORT DER KUNST IN NIETZSCHES PHILOSOPHIE
I. Die klassische neuzeitliche Metaphysik hat das System als Grundform der Philosophie herausgestellt. Ihre vollendete Darstellung findet diese Form in Hegels Denken. Hegel erklärt in der „Phänomenologie des Geistes": „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, — dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein, — ist es, was ich mir vorgesetzt". 1 Es ist allgemein bekannt, daß Nietzsche die Voraussetzung, die diese Konzeption der Philosophie bestimmt, radikal verneint. Daß die Wirklichkeit an ihr selbst durch Vernunft bestimmt sei, und daß diese Vernünftigkeit sich eindeutig erschließen lasse, hält Nietzsche für den Grundirrtum der Tradition. Er hebt dementsprechend die die Tradition leitenden Grundbegriffe auf und ersetzt sie durch gegensätzliche Bestimmungen. Nicht Vernunft und Geist, sondern Leben als dunkler und doch machtvoll sich auswirkender Wille ist das Wesensmerkmal der Wirklichkeit. Diese Umkehrung der maßgebenden Seinsbestimmung hat zur Folge, daß der Charakter der Verfahrensweisen und der Zugänge zur Wirklichkeit, die diese adäquat aufdecken sollen, grundlegend verändert wird. An die Stelle der Philosophie als Denken im Medium der Begriffe tritt die Kunst. Nietzsche deklariert die Kunst als ausgezeichnete metaphysische Tätigkeit; tiefer und ursprünglicher als der Wille zur Wahrheit vermag sie als Wille zum Werden und Gestalten, das heißt als Wille zum Schaffen, der Struktur der Welt zu entsprechen und das Leben zu rechtfertigen. Es ist klar: diese Umkehrung der leitenden Grundbegriffe und die Auswechselung der Zugangs- und Erfahrungsweisen zur Wirklichkeit negiert den traditionellen Charakter des Systems von Grund aus. Eine Deduktion im logisch-ontologischen Sinn ist unmöglich, wenn deren Grundvoraussetzung, die 1
G . W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. von J . Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 12.
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Walter Schulz
Identität von Idee und Ding, und damit die Garantie der begrifflichen Wahrheit als einer adäquaten Erkenntnis nicht anerkannt wird. Nietzsche hat in unüberhörbarer Stärke den Willen zum System, der von dieser Voraussetzung ausgeht, als Zeichen von Borniertheit, Dummheit und Schwäche ausgegeben und seine Philosophie als Experiment, das heißt als Versuch auf Hypothesen hin, oder „dichterischer" als Ausfahrt auf offene Meere ausgegeben. Gleichwohl: Nietzsche gibt den systematischen Anspruch nicht auf. 2 Philosophieren heißt, so erklärt er, einer Grundschematik folgen. „ D a ß die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu einander emporwachsen, daß sie, so plötzlich und willkürlich sie auch in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch eben so gut einem Systeme angehören als die sämmtlichen Glieder der Fauna eines Erdtheils: das verräth sich zuletzt noch darin, wie sicher die verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von m ö g l i c h e n Philosophien immer wieder ausfüllen. Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie immer wieder von Neuem noch einmal die selbe Kreisbahn: sie mögen sich noch so unabhängig von einander mit ihrem kritischen oder systematischen Willen fühlen: irgend Etwas in ihnen führt sie, irgend Etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hinter einander her, eben jene eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der That viel weniger ein Entdecken, als ein Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen und uralten Gesammt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind: — Philosophiren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten R a n g e s . " 3 Die zeugenden Grundgedanken einer Philosophie, so erläutert Nietzsche, sind der Samenzelle, die alles in sich trägt, vergleichbar, aus ihnen erwächst das System analog dem Werden des Organismus. Diese Worte sind sicher nicht als die einzig gültige Aussage in bezug auf das Problem, ob man bei Nietzsche von einem System reden könne, anzusehen; sie ließen sich zwar ergänzen, es ständen ihnen aber auch gegensätzliche Äußerungen entgegen. Gleichwohl: Nietzsches philosophisches Bemühen ist im ganzen — dies ist unsere These — dadurch ausgezeichnet, daß Nietzsche es unternimmt, trotz oder gerade auf Grund seiner strikten Gegenstellung zur klassischen Metaphysik nun seinerseits das Gesamt des Seienden einheitlich zu begreifen, das heißt, es von einem Prinzip her auszulegen, auf das der Auslegende alles Seiende zu beziehen hat, und von dem her er sich selbst, das heißt sein Denken und Handeln, ausrichten kann. In dieser doppelten Intention,
2
3
Vgl. K . Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956, S. 15 ff. J G B 20; K G W VI 2, 28.
Funktion und O r t der Kunst
3
der Interpretation des Seienden im Ganzen und der Ortung des Menschen in diesem Ganzen, bezeugt sich Nietzsches philosophischer Rang, der ihn von den eklektischen Denkern des 19. Jahrhunderts unterscheidet, und der einen Vergleich mit den Systemen der großen Idealisten, insbesondere mit dem System Hegels nicht nur erlaubt, sondern erfordert. Nietzsches Gegenzug zum Idealismus wird in einer sein Denken erhellenden Weise sichtbar in seiner Schätzung der Kunst, genauer: in der Bestimmung des Ortes und der Funktion der Kunst im Ganzen seines Denkens. Daß an der Deutung des Phänomens der Kunst sich Nähe und Ferne zur Philosophie Hegels exemplarisch zeigt, ist in der Sache selbst begründet, denn nach Nietzsche nimmt — wie schon angedeutet — die Kunst den metaphysisch höchsten Rang ein. Hegel dagegen billigt diesen höchsten Rang nur der Philosophie zu. Diese Ortung der Kunst im Gegenzug zur Philosophie in Hegels System sei kurz in Erinnerung gebracht. Hegel ordnet die Kunst dem absoluten Geist zu. Der absolute Geist ist nicht eine für sich gesetzte göttliche Person, sondern bezeichnet ein Gebiet, wie der objektive Geist. Dieser umfaßt zwischenmenschliche Ordnungen, wie Sittlichkeit und Recht, diese sind der Geschichte unterworfen. Der absolute Geist eröffnet die Dimension der wahren Wesenheiten, die der Zeit enthoben sind. Sicher: auch Kunst, Religion und Philosophie unterliegen dem geschichtlichen Wandel; Hegel ist es ja gerade gewesen, der diesen Wandel untersucht hat, indem er seine Sinnhaftigkeit aufzuzeigen sucht. Gleichwohl: Kunst, Religion und Philosophie intendieren die übergeschichtliche Dimension des beisichseienden Geistes, der über geschichtliche Zufälle hinaus ist. Die Abtrennung von Kunst, Religion und Philosophie von anderen Kulturgebieten, die bereits Dilthey als nicht glücklich kritisiert, besagt aber nicht, daß Kunst, Religion und Philosophie auf einen besonderen überempirischen Bereich eingeschränkt seien. Dies ist durchaus nicht der Fall. Im Beispiel der Religion: die Religion durchdringt alles Seiende, indem sie es auf eine göttliche Person zurückführt, die sich ebenso in der Geschichte wie in der Natur am Werke zeigt. Auch die Kunst hat es nicht nur mit überweltlichen Inhalten zu tun, sondern vermittelt eine Gesamtschau des Seienden und zwar unter dem Aspekt der Schönheit. Schönheit ist die absolute Idee in ihrer sich selbst gemäßen Erscheinung, das heißt, die Erscheinung bringt in der Weise der Äußerlichkeit das wahre Wesen zu dem ihm entsprechenden Ausdruck. Der Mangel der Kunst und der Religion der Philosophie gegenüber ist eben ihre Gebundenheit an die Welt der Vorstellung. Anders gesagt: Kunst und Religion stehen unter der Philosophie, weil sie an der Getrenntheit (Dualität) zweier Welten, der wahren Welt und der Welt der Erscheinung, festhalten. Dieser Gegensatz wird in der Philosophie aufgehoben, das heißt, er wird nicht einfach undialektisch negiert, sondern seine Fixiertheit und Statik wird durch das phi-
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Walter Schulz
losophische Denken, zu dessen Natur es gehört Gegensätze zu vermitteln, verflüssigt. Nietzsche vollzieht — so kann der Unterschied zu Hegel schematisierend ausgesagt werden — eine Neuordnung dieser drei absoluten Größen. Die Religion wird als Ideologie deklariert. Vom Aspekt der Steigerung des Lebensbewußtseins her gesehen ist ihr Beitrag relativ gering. Die Religion muß aus dem Dreigestirn ausscheiden, denn geschichtlich gesehen hat sie nach dem „Tod Gottes" ihre führende Rolle im Gesamtbewußtsein, die sie in der Vergangenheit hatte, verloren. Es bleiben als absolute Sphären Philosophie und Kunst. Aber sie tauschen eben den Rang. Insofern die Kunst an die erste Stelle rückt, das heißt den Ort der Philosophie beansprucht, übernimmt sie damit aber auch die doppelte Aufgabe, die der Philosophie zukam, Erklärung des Ganzen und Erhebung zum wahren Grunde zu sein. Diese Übernahme schließt aber auch ein, daß die Idee der Zweiteilung und ihre dialektische Aufhebung, wie sie Hegel am Abschluß der platonischen Tradition entwickelt hatte, von Nietzsche wiederholt wird. Allerdings unterliegt diese Wiederholung einer modifizierenden Radikalisierung. Nietzsche denkt wesentlich in der Schematik: wahre Welt — scheinhafte Welt. Aber er sucht die traditionelle Anordnung beider Welten umzukehren und als solche überhaupt aufzuheben. Unsere von der Tradition als Erscheinungswelt abgewertete Welt ist die wahre Welt, das heißt die. einzige Welt, sie hat keine höhere Welt mehr über sich. Diese Umwertung aber ist nur möglich und ertragbar mit Hilfe und durch Vermittlung der Kunst, die den Schein als Wahrheit und die Wahrheit als Schein erweist und solchermaßen ästhetisch die Welt rechtfertigt. Im folgenden soll das soeben Angedeutete in zwei Schritten konkreter entwickelt werden. In einem ersten Abschnitt bringen wir für Nietzsches Deutung der Kunst wesentliche Texte in Erinnerung. In einem zweiten Abschnitt suchen wir diese Aussagen Nietzsches auf ihre Tragweite zu überprüfen, das heißt die Frage zu stellen, ob Nietzsches systematischer Anspruch, insbesondere sein Versuch, die Kunst an die Stelle der Wahrheit zu setzen, geglückt oder gescheitert ist. Von dieser Frage her ergäbe sich das weitere Problem, ob und wie sich Kunst philosophisch fundieren läßt, wenn sie nicht mehr im Sinn der traditionellen Metaphysik als Erscheinung der wahren Welt gedeutet wird. Doch diese Frage führt über eine Analyse von Nietzsches Ansatz hinaus; sie könnte als Frage adäquat nur aufgenommen werden, wenn man dem Problem nachgeht, welche Strukturen für einen nicht mehr metaphysisch bestimmten Weltbezug maßgebend sind und sein können.
Funktion und Ort der Kunst
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II. Nietzsches Werk hat sich gewandelt. Nietzsche selbst hat diese Wandlung immer erneut thematisiert: er sei vom Bejahend-Verehrenden zum freien Geist fortgeschritten, der alles in Frage stellend umgekehrte Schätzungen vollzog; aber diese Wandlung vom „Du sollst" zum „Ich will" sei nur die Vorstufe zum einfachen „Ich bin" gewesen. In dem Kapitel „Die drei Verwandlungen", das am Anfang der Reden Zarathustras steht, vergleicht Nietzsche diese letzte Stufe des insichruhenden Seins mit dem Sein eines Kindes und ordnet das Kind über das Kamel, den tragsamen Geist vorgegebener Werte, und den Löwen, der sich zur Freiheit eines neuen Schaffens entschließt. Gleichwohl zeigt sich trotz der Wandlung im Werk Nietzsches eine gleichbleibende Grundeinstellung. Es ist die Abwertung der traditionellen Vernunftmetaphysik zugunsten einer Metaphysik des Lebens, wobei dies Leben als die den Menschen eigentlich tragende und bestimmende Macht erscheint. In der zweiten Periode von Nietzsches Schaffen wird diese Abwertung der traditionellen Metaphysik zum entscheidenden Grundthema. Das leitende Ideal ist „der freie Geist", der jedem Ja ein Nein hinzufügt. Als Wissenschaftler verfolgt der freie Geist eine bestimmte Methode: er will hinter den Vordergründen und Vorurteilen die wahren Gründe finden. Diese Methode ist auf den verschiedensten Gebieten anzuwenden. Die Entlarvung der Vorurteile auf einem bestimmten Gebiet treibt sich notwendig weiter vor, entweder auf die Nachbargebiete — so verweist die Kritik der Religion auf die Kritik der Moral — oder in die Tiefe, das heißt in die Dimension der Grundbegriffe, die für alle Gebiete konstitutiv ist. Die maßgebende Realität ist die Dimension der Triebe. Der Mensch ist ein „Gesellschaftsbau von Trieben". Der Kampf der Triebe bleibt undurchsichtig. Muß man nicht zugeben, so fragt Nietzsche, „daß all unser sogenanntes Bewußtsein ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewußten, vielleicht unwißbaren, aber gefühlten Text ist?" 4 Grundsätzlich formuliert: die traditionelle Ansicht, daß hinter allem ein freier Wille stände, ist irrig. Die Vorstellung einer bewußt von einem Ichzentrum ausgehenden und von ihm her gesteuerten Aktivität und Spontaneität ist reine Illusion. An die Stelle des „Ich tue" muß daher das „Ich werde getan" treten. „Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Activum und das Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer." 5 Hinter allen Äußerungen steht der unerschöpfliche zeugende Lebenswille. Und dieser Lebenswille ist der Wille zur Macht. Der Wille ist nicht das Streben der Ohnmacht zur Macht 4 5
M 119; K G W V 1, 111. M 120; K G W V 1, 113.
6
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hin, sondern er ist bereits in sich selbst Macht. Er bestimmt alles Lebendige — „wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht" —, im Menschen gewinnt er aber eine besondere Gestalt. Der Mensch ist und soll der sich selbst Uberwindende sein. Selbstüberwindung ist nicht als moralische Selbstkasteiung zu verstehen, sondern als das Schaffen, das über seine eigene Schöpfung immer hinausgeht im Sinne der Steigerung. Es gilt, diesen Willen zur Macht in allen seinen Ausformungen aufzuweisen und zu rechtfertigen und zwar im Gegenzug zur traditionellen Metaphysik und ihren philosophischen und religiösen Fundierungen. Nietzsche setzt die naturwissenschaftlich-biologische Anthropologie als Grundlage an — das abzustreiten oder abzuschwächen, wie es bedeutende Interpreten, so vor allem M. Heidegger, tun, ist verfehlt. 6 Nietzsche radikalisiert jedoch den positivistischen Ansatz. Er erhebt ihn nicht nur zum allgemeinen Auslegungsprinzip des faktischen Verhaltens, sondern er sucht von ihm her maßgebende Orientierungs- und Handlungsdirektiven zu entwickeln. Er geht dabei faktisch davon aus, daß wir mit Hilfe unseres durchaus zweideutigen Intellektes in der Lage sind, über unsere Seinssituation in vielfacher Hinsicht zu reflektieren. Wir suchen das Leben als solches zu durchschauen und zu bewerten, d. h. wir nehmen im Leben zum Leben Stellung. Es handelt sich hierbei im Grunde immer — dies erkennt Nietzsche durchaus — um moralische Akte, eine mögliche Negation von Moral ist formal gesehen von moralischer Relevanz, insofern sie mein Tun ausrichten soll. Der reflektierende Rückgang auf das Leben ist vom Leben selbst her gefordert. Er macht deutlich, daß das Leben, jedenfalls das Leben des Menschen, kein eindeutiger Tatbestand ist. Leben vollzieht sich perspektivisch, das heißt, es folgt jeweilig festgesetzten Auslegungstendenzen, die sich im Geschehensablauf überholen. Es gibt, so legt Nietzsche bereits in der Frühschrift „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" dar, keine ewige Natur des Menschen als einen festen Text. „Wir pflanzen eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinct, eine zweite Natur an, so daß die erste Natur abdorrt". Für diejenigen, die diesen Sachverhalt bedenklich finden, gibt es nach Nietzsche einen merkwürdigen Trost, „nämlich zu wissen, daß auch jene erste Natur irgend wann einmal eine zweite Natur war und daß jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird". 7 Auch die Kunst wird von Nietzsche in bezug zum Leben gesetzt und in doppelter Weise reflektiert, in bezug auf ihre Herkunft: Kunst ist im Leben entsprungen, und in bezug auf die Gewinnchancen der durch die Kunst eröffneten Lebensperspektiven. Schematisierend ist festzustellen: Kunst vermittelt 6 7
M . Heidegger, Nietzsche, Band 1, Pfullingen 1961, S. 46ff. H L 3; K G W III 1, 266.
Funktion und Ort der Kunst
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Entlastung, aber nicht in der Weise einer resignativen Entfremdung vom Leben, wie Schopenhauer sie intendiert, sondern im Sinn einer radikalen Lebenssteigerung. Das besagt — wie oben angedeutet — ein Zwiefaches: es soll gezeigt werden, daß Kunst im Leben gründet, und es soll dargetan werden, daß Kunst ihrerseits das Leben begründet, das heißt das Lebensverständnis im ganzen im positiven Sinne ausrichtet. Kunst soll eine neue Gesamtschau des Lebens in theoretischer und praktischer Hinsicht — für den Erkennenden und den Handelnden, wie Nietzsche sagt — geben. In der Erfüllung dieser Aufgabe erweist sich ihr hoher und einzigartiger Rang. Sucht man diese Bestimmung der Kunst genauer zu durchdenken, so zeigen sich nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Sie betreffen einmal und vor allem das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft. Der Bezug zur Wissenschaft ist für das Gesamtverständnis von Nietzsches System, wie schon angedeutet, entscheidend. Er ist jedoch — dies bezeugt sich gerade in bezug zur Kunst — vieldeutig. Einerseits gilt: die Wissenschaft ist verfehlt, weil sie an zeitlos ewige Wahrheiten glaubt. Es ist ihre Wahnvorstellung, „daß das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und daß das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei". 8 Andererseits ist Wissenschaft positiv zu werten. Nietzsche ist durchaus wissenschaftsgläubig. Er fordert ständig auf, wissenschaftlich, genauer: naturwissenschaftlich zu denken. So proklamiert er eine Chemie der Empfindungen und preist die Physik. Im Aphorismus „Hoch die Physik!" in „Fröhliche Wissenschaft" deklariert er: wir, die neuen Gesetzgeber, müßten „die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden". 9 Und schließlich und vor allem: nur die Wissenschaft des freien Geistes macht es ja möglich, ideologiekritisch den wahren Charakter der Wirklichkeit aufzudecken und nachzuweisen, daß dieses vom Willen zur Macht beherrschte Triebgeschehen keinen Sinn in sich trägt. Vergleicht man diese wissenschaftliche Sicht mit der Kunst, so ist festzustellen, im Gegensatz zu der wissenschaftlichen Wahrheit, daß die Wirklichkeit trostlos ist, erzeugt die Kunst Scheingebilde. Sie lügt die Wirklichkeit um, um sie erträglich zu machen. Hier wird das Dilemma sichtbar. Einerseits gilt:-Kunst ist eine Welt des Scheins, im Gegensatz zur wissenschaftlichen Wahrheit. Aber zugleich gilt: erst und allein die Kunst eröffnet als metaphysische Tätigkeit die Sicht in die Wirklichkeit, auf Grund deren das Leben zu rechtfertigen ist. Will man diesen Widerspruch in seiner Strukturgenese verstehen, so muß man auf Nietzsches Frühschrift „Die Geburt der Tragödie" zurückblicken. 8 9
GT 15; KGW III 1, 95. FW 335; KGW V 2, 243.
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Diese Schrift gibt den Grundriß von Nietzsches Kunstphilosophie, mag dieser — wie zu behandeln sein wird — in dem späteren Werk auch modifiziert werden. Nietzsche unterscheidet die apollinische und die dionysische Kunst. Er geht auf die beiden Kunstgottheiten der Griechen, Apoll und Dionysos, zurück, und setzt diese ganz unbefangen mit zwei gegensätzlichen Trieben und den diesen entsprechenden physiologischen Erscheinungen in unmittelbaren Bezug. Die apollinische Kunst ist die Kunst des Bildens. Sie erzeugt die schönen Gestalten der Traumwelt, der Bezug auf diese ist von „durchscheinender Empfindung ihres Scheines" begleitet. Schopenhauer hat bei dieser Konzeption Pate gestanden, aber Nietzsche setzt unbefangen in eins, was Schopenhauer gerade trennen wollte, die Welt der Vorstellung als vom Satz des Grundes beherrschte Erscheinungswelt und die Welt der Ideen als durch die Kunst erschlossene Wesenswelt. Wenn Nietzsche Schopenhauer also als Zeugen für die Charakterisierung der apollinischen Welt als Traumwelt anführt, dann unterschlägt er, daß Schopenhauer nie die objektive Welt der Ideen, sondern nur die Erscheinungswelt als Scheinwelt ausgibt, und dies auch nur dann, wenn er diese Vorstellungswelt mit der vom Willen bestimmten Wirklichkeit konfrontiert. Daß Nietzsche auf Schopenhauer zurückgreift, ist jedoch insofern begründet, als Nietzsche auf die Ideation als solche abhebt, um zu zeigen, daß die apollinische Welt als die Gestaltenwelt der bildenden Kunst durch diese Ideation bestimmt ist. Die apollinische Welt ist die ideale Raumwelt, in der die Schönheit unbewegt in sich ruht. Schönheit ist manifest gewordene Idealität. Die dionysische Kunstwelt ist die Welt des Rausches, die sich in der Musik offenbart. Unter Berufung auf Schopenhauer wird gesagt, daß hier der Satz vom Grund nicht gilt. Die Schilderung dieser Welt steht jedoch im Gegensatz zu Schopenhauers Kunstdeutung, die Kunst als Quietiv versteht. Die dionysische Welt ist eine Welt des Grauens und des Entzückens zugleich. Nietzsche legt ausführlich im Rückgriff auf physiologische Erscheinungen dar, daß Wollust, Grausamkeit und Schmerz keine Gegensätze sind; Schmerzen können Lust erwecken. Beide Künste werden formal gesehen gleich gewertet, trotz aller Gegensätzlichkeit. Daß es den Griechen gelang, sie in der Tragödie zu vereinen, ist ja das Grundthema des Buches. Nietzsche preist die Griechen; sie schufen die Welt der Olympier. Das ist eine hohe Leistung. „Das Dasein unter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerthe empfunden". Es ist, so erklärt Nietzsche, derselbe Trieb, „der die Kunst in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins", und der die olympische Welt entstehen läßt, in der sich der hellenische Wille einen verklärenden Spiegel vorhielt. „So rechtfertigen die Götter
Funktion und Ort der Kunst
9
das Menschenleben, indem sie es selbst leben — die allein genügende Theodicee!" 10 Die apollinische Kunst entlastet und zwar in ihrer Funktion der verführerischen Ergänzung und Verklärung. Der Satz: „Denn nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t f e r t i g t " 1 1 gilt jedoch für die apollinische u n d die dionysische Kunst, bei dieser aber nicht in der Form der Verschönerung, sondern der grundsätzlichen Uminterpretation. In der Schilderung der dionysischen Kunst, wie sie Nietzsche in „Die Geburt der Tragödie" gibt, wird das Phänomen der Zweideutigkeit der Kunst in seinem wahren Ausmaß sichtbar. Die Kunst offenbart, wenn auch durch den Rausch vermittelt, die wahre Natur, und als Kunst soll sie eben ästhetisch den schauerlichen Grundcharakter des Seins verdecken. Nietzsche erklärt, daß der leiderfahrene Grieche, der „in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat", in der Gefahr stand, „sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich — das Leben". 1 2 Wenn die Verzückung des dionysischen Zustandes im Rausch verfliegt, bleibt das Gefühl des Ekels zurück. „Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder ins Bewußtsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden; eine asketische, willensverneinende Stimmung ist die Frucht jener Zustände. In diesem hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erk a n n t , und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmachvoll, daß ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten." Nietzsche fährt fort: „Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zaubererin, die K u n s t ; sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt". 1 3 Es ist offensichtlich, daß die dionysische Kunst der Wirklichkeit weit adäquater ist als die apollinische. Wahre Erkenntnis und dionysische Kunst haben, so kann man sagen, den selben Inhalt vor sich: das sinnlose Weltgeschehen. N u r ist in der Kunst eben die Absurdität des Daseins in Vorstellungen umgebogen, die es erträglich machen. Beide Künste stehen gegen die Welt der Wissenschaft, die von Sokrates in Szene gesetzt ist und von dem doppelten Irrtum lebt, daß die Welt kausal 10
G T 3; K G W III 1, 32. Zur Auslegung der Geburt der Tragödie im ganzen vgl. D. Jähnig, Die Befreiung der Kunsterkenntnis von der Metaphysik in Nietzsches ,Geburt der Tragödie', in: D . Jähnig, Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte, Köln 1975, S. 222ff. 12 » G T 5; K G W III 1, 43. G T 7; K G W III 1, 52. 13 G T 7; K G W III 1, 52f.; 53.
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erklärbar sei, und daß das Denken imstande sei, das Sein nicht nur zu erkennen, sondern zu korrigieren. Sokrates, der Optimist von besonnener Gemütsart, ist antiapollinisch und antidionysisch zugleich. In einem späteren Vorwort erklärt Nietzsche dementsprechend in bezug auf „Die Geburt der Tragödie", die Aufgabe dieses verwegenen Buches sei es gewesen, „ d i e W i s s e n s c h a f t u n t e r der O p t i k des K ü n s t l e r s zu s e h n , die K u n s t a b e r u n t e r der des L e b e n s . . . " 1 4 Durchforscht man die späteren Werke Nietzsches, sowohl die Werke der zweiten und dritten Periode als auch insbesondere die nachgelassenen Fragmente, vor allem aus den Jahren 1885 bis 1889, unter dem Aspekt, wie Nietzsche in ihnen das Phänomen der Kunst analysiert, so zeigt sich: die Grundansätze, wie sie in der „Geburt der Tragödie" enthalten sind, haben sich inhaltlich in ihren wesentlichen Gehalten nicht entscheidend gewandelt, zugleich aber ist festzustellen, daß Nietzsche versucht, jeweilig einen der Aspekte, unter denen er die Kunst thematisiert, zur Grundkategorie zu erheben, und von ihm her die anderen auszulegen. Vereinfacht gesagt: in der zweiten Epoche tritt die Tendenz heraus, die Kunst zu „versachlichen", das heißt, sie wissenschaftlich vom Leben her zu erklären. In der dritten Epoche dagegen wird die Idee, die Kunst als große Ermöglicherin des Lebens zu deklarieren und zu preisen, zentral, und zugleich sucht Nietzsche die Kunst ontologisch zu fundieren in der Struktur des Seins. Durchdenkt man die einzelnen Äußerungen auf ihre Hintergründe hin, so zeigt sich aber, daß die später hervortretenden Aspekte schon im Frühwerk, zumindest latent, vorhanden sind. Als Beleg, daß in der zweiten Periode der frühere Ansatz beibehalten ist, aber einer erneuten Reflexion unterworfen wird, die, mögliche Resignation abdrängend, sich nüchtern gibt, sei der letzte Aphorismus des zweiten Buches von „Die fröhliche Wissenschaft" angeführt. Unter der Uberschrift „Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst" heißt es: „Hätten wir nicht die Künste gut geheißen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird — die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins —, gar nicht auszuhalten. Die R e d l i c h k e i t würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Consequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den g u t e n Willen zum Scheine. Wir verwehren es unserm Auge nicht immer, auszurunden, zu Ende zu dichten: und dann ist es nicht mehr die ewige Unvollkommenheit, die wir über den Fluß des Werdens tragen — dann meinen wir, eine G ö t t i n zu tragen, und sind stolz und kindlich in dieser Dienstleistung. Als ästhetisches Phä14
G T , Versuch einer Selbstkritik 2; K G W III 1, 8.
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nomen ist uns das Dasein immer noch e r t r ä g l i c h , und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu k ö n n e n " . Um über der Moral zu stehen, braucht man die Schelmenkappe des Narren. „Wir sollen auch ü b e r der Moral stehen k ö n n e n : und nicht nur stehen, mit der ängstlichen Steifigkeit eines Solchen, der jeden Augenblick auszugleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über ihr schweben und spielen! Wie könnten wir dazu der Kunst, wie des Narren entbehren? — Und so lange ihr euch noch irgendwie vor euch selber s c h ä m t , gehört ihr noch nicht zu uns!" 1 5 Die Unterscheidung des Apollinischen vom Dionysischen bleibt bestehen, das Apollinische wird aber, insofern es Schaffen ist, dem Dionysischen angenähert. Beide Kunstmöglichkeiten werden als Naturgewalten gekennzeichnet. Von hier aus wird das Phänomen der Inspiration gedeutet. Der Inspiration wird ein entscheidendes Gewicht eingeräumt. Es wird aber sogleich erklärt, daß die Künstler ein Interesse daran hätten, ihr Schaffen auf Inspiration zurückzuführen. Inspiration als solche ist aber biologisch zu erklären. „Wenn sich die Productionskraft eine Zeit lang angestaut hat und am Ausfließen durch ein Hemmnis gehindert worden ist, dann giebt es endlich einen so plötzlichen Erguß, als ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten, also ein Wunder sich vollziehe. Dieß macht die bekannte Täuschung aus, an deren Fortbestehen, wie gesagt, das Interesse aller Künstler ein wenig zu sehr hängt. Das Capital hat sich eben nur a n g e h ä u f t , es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen. Es giebt übrigens auch anderwärts solche scheinbare Inspiration, zum Beispiel im Bereich der Güte, der Tugend, des Lasters." 16 Der Künstler täuscht sich also in der Auslegung seines Tuns. Kunst ist jedoch notwendig. Die Kunst lügt um, aber sie muß umlügen, weil wir sonst nicht leben könnten. Diese Grundkonzeption verstärkt sich im Spätwerk, das, weithin sich als eine Reflexion auf „Die Geburt der Tragödie" vollziehend, trotz des aphoristischen Zufallscharakters der einzelnen Äußerungen, ein Résumé dessen zu geben vermag, was nach Nietzsche Kunst ist und was sie zu leisten vermag. Der Grundansatz ist die Aufhebung der metaphysischen Zweiweltentheorie: „es giebt nur Eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn . . . Eine so beschaffene Welt ist die wahre W e l t . . . W i r h a b e n L ü g e n ö t h i g , um über diese Realität, diese Wahrheit zum Sieg zu kommen das heißt, um zu l e b e n . . . Daß die Lüge nöthig ist, um zu
" FW 107; KGW V 2, 140f. MA I, 156; KGW IV 2, 149.
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leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins . . , " 1 7 Nietzsche legt — das Gesamt der geistigen Tätigkeiten durchmusternd — dar, daß Metaphysik, Moral, Religion und Wissenschaft nur verschiedene Formen der Lüge sind: „ D a s Leben s o l l Vertrauen einflößen", um diese Aufgabe zu lösen, „ m u ß der Mensch von Natur schon ein Lügner sein, er muß mehr als alles Andere noch K ü n s t l e r sein . . . " 1 8 Es ist der Wille zur Macht, der überall in seinen „Ausgeburten", auch im Künstler herrscht und triumphiert. „Welches Gefühl von Macht! Wie viel Künstler-Triumph im Gefühl der Macht! . . . Der Mensch ward wieder einmal Herr über den , S t o f f ' — Herr über die Wahrheit! . . . U n d wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der Gleiche in seiner Freude, er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht, er genießt die Lüge als seine Macht "19
Die Kunst kann und muß, weil sie den höchsten Rang einnimmt, das Selbstverständnis des Menschen von Grund aus neu ausrichten: „ D i e Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. Die Kunst als die E r l ö s u n g d e s E r k e n n e n d e n , — dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehn will, des Tragisch-Erkennenden. Die Kunst als die E r l ö s u n g d e s H a n d e l n d e n , — dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden. Die Kunst als die E r l ö s u n g d e s L e i d e n d e n , — als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung i s t . " 2 0 Durch die Kunst wird „ein höchster Zustand von Bejahung des Daseins concipirt, aus dem auch der höchste Schmerz nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Z u s t a n d " . 2 1 Nietzsche erklärt dementsprechend im Rückblick auf „ D i e Geburt der Tragödie", daß dies Buch nicht pessimistisch, sondern antipessimistisch sei, der Verfasser wisse, „daß die Kunst m e h r w e r t h ist als die Wahrheit". 2 2 Nietzsche bemüht sich, diese grundsätzliche Deutung der Kunst im einzelnen — frühere Ansätze aufnehmend — zu fundieren. Wir können hier nur Nachlaß is Nachlaß 1 9 Nachlaß 2« Nachlaß 2 1 Nachlaß " Nachlaß 17
November November Mai-Juni Mai-Juni Mai-Juni Mai-Juni
1887-März 1887-März 1888; K G W 1888; K G W 1888; K G W 1888; K G W
1888; K G W VIII 2, 435. 1888; K G W VIII 2, 435. VIII 3, 319. VIII 3, 319f. VIII 3, 320. VIII 3, 320.
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auf einige Perspektiven hinweisen. Zunächst zur biologischen Deutung der Kunst: Kunst und Kunstschaffen muß als Uberschuß blühender Leiblichkeit verstanden werden. Kunst ist das Zeichen eines Mehr von Kraft. Die Fülle entlädt sich im Rausch. Rausch und Geschlechtlichkeit hängen zusammen. Von diesen Phänomenen her ist das „ V o l l k o m m e n - m a c h e n " und „ V o l l k o m m e n - s e h e n " der Kunst, „welches dem mit geschlechtlichen Kräften überladenen cerebralen System zu eigen i s t " , 2 3 zu deuten. Von diesem Vollkommen-machen her aber ist wiederum der große Stil zu verstehen. Er beruht auf dem Sinn für Logik, Vornehmheit und Schönheit. Das Schöne als das Vollkommene verrät den tiefsten Instinkt und die Aufwärtsbewegung des Typus, „ n a c h w e l c h e m Status er eigentlich s t r e b t . Die Vollkommenheit: das ist die außerordentliche Erweiterung seines Machtgefühls, der Reichthum, das nothwendige Uberschäumen über alle Ränder . . , " 2 4 Das Uberschäumen über alle Ränder vermag auch das Häßliche zu bejahen. Auch das Häßliche erhöht das Lebensgefühl und ist ein Stimulans, es gibt eine Lust am Häßlichen. Nur wenn und insofern das Häßliche Ausdruck einer Depression ist, das heißt Kraft mindert und verarmen läßt, ist es als „Gegensatz zur Leichtfüßigkeit des Tanzenden" verderblich. Ebenso wie das Häßliche ist für den Künstler das Böse nicht einfach negativ abzuwerten. Der Künstler muß vielmehr das Böse als solches zu rechtfertigen versuchen. „Die T i e f e des t r a g i s c h e n K ü n s t l e r s liegt darin, daß sein aesthetischer Instinkt die ferneren Folgen übersieht, daß er nicht kurzfristig beim Nächsten stehen bleibt, daß er die Ö k o n o m i e im G r o ß e n bejaht, welche das F u r c h t b a r e , B ö s e , F r a g w ü r d i g e rechtfertigt und nicht nur . . .rechtfertigt." 2 5 Grundsätzlich gesagt: der Künstler erbringt eine Daseinsvollendung, indem er das Leben segnet und vergöttlicht, sein Schaffen ist Ausdruck der Dankbarkeit. Die Künstler „sprechen ihre innerste Erfahrung in der Symbolik jedes Kunstwerkes aus, — ihr Schaffen ist Dankbarkeit für ihr S e i n " . 2 6 Die Bezüge: schön und häßlich, gut und böse werden des öfteren mit dem Bezug: gesund und krank gekoppelt. Auch dieser Bezug zeigt sich unter gegensätzlichem Aspekt. Wenn Krankheit als Zeichen von Schwäche und Degeneration erscheint, dann ist sie der Kunst abträglich. Der Krankheit kommt aber andererseits, anders als der Gesundheit und der Schönheit — Schönheit ist borniert —, eine Schlüsselfunktion zu. Dies ist einerseits psychologisch zu begründen: der Kranke begreift besser das Verborgene und Umwegige, er hat Sinn für die Nuancen, die nicht generell sind; und andererseits soll im GegenNachlaß Nachlaß 25 Nachlaß 2 6 Nachlaß 23
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Sommer 1887; K G W VIII 1, 335. Herbst 1887; K G W VIII 2, 58. Herbst 1887; K G W VIII 2, 223. Herbst 1887; K G W VIII 2, 223.
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zug zu der alten Metaphysik nicht nur das Positive herausgestellt werden, sondern auch das Negative: die Welt ist ja im ganzen durch die Kunst zu rechtfertigen. In diesem Bemühen, alle Phänomene auf das Ganze des Seins als das Grundgebende zurückzuführen und sie solchermaßen zu fundieren, zeigt sich nun der eigentlich entscheidende Ansatz der metaphysischen Ontologie des späten Nietzsche. Dieser Aspekt ist auch für die Kunst wesentlich. Die Kunst kann ja das Leben und das Dasein nur rechtfertigen, wenn sie selbst als metaphysische Tätigkeit in der Struktur des Seins gegründet ist. Um diese Ortung der Kunst adäquat zu verstehen, ist es notwendig, an des späten Nietzsches „Werdensphilosophie" zu erinnern. Nietzsche kritisiert im Gegenzug zum Piatonismus jeder Art die Konzeption eines in sich ruhenden Seins, das als feststehendes adäquat und objektiv erfaßbar wäre. Dies Sein gibt es nach Nietzsche nicht, es gibt nur ein ewiges Werden und Wechseln, die „ d i o n y s i s c h e Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selbstZerstörens". 2 7 Gleichwohl: diese Herausstellung einer dynamischen Ontologie des Werdens ist nur die eine Seite. Man muß sich zugleich klarmachen: Der Mensch ist genötigt, um leben zu können, eine Erdichtung und Zurechtmachung der Welt durchzuführen, um ihr Faßbarkeit und Sinn zu verleihen. In dieser Überwältigung zeigt sich der Wille zur Macht. Nietzsche erklärt: „Dem Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n — das ist der höchste W i l l e z u r M a c h t " . Er fährt erläuternd fort: „ Z w i e f a c h e F ä l s c h u n g , von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleich werthigen u s w . " 2 8 Nietzsche stellt also sowohl die physiologischen Verhaltensmöglichkeiten des Menschen als auch die geistigen Tätigkeiten unter diesen Aspekt des Seins. Er redet vom Zurechtmachen und Vereinfachen, vom Hineinlegen eines Sinnes und vom Wegdenken aller schädigenden und feindlichen Faktoren. Diese verfestigenden Tätigkeiten sind nun aber — dies ist wesentlich — im Gebiet des Geistigen nicht nur sehr vielfältig, sondern sie sind auch sehr different zu bewerten. Verschiedenartigkeit der Ausformung und Unterschiedlichkeit der Wertung werden nach Nietzsche erklärbar, wenn man diese Tätigkeiten am Grundbestand, das heißt dem Leben, das es ja eigentlich nur in perspektivischer Sicht gibt, mißt. Religion und Moral in traditioneller Gestalt verfallen der schärfsten Ideologiekritik. Sie sind schlechthin lebensfeindlich, denn sie beruhen auf einer ideologischen Ausklammerung aller Dynamik des Lebens und einer starren Hypostasierung. Insbesondere die spekulativen Sammelbegriffe, wie Ich, Wille, Vernunft, sind als verfehlt anzusehen. Den Denkenden " Nachlaß J u n i - J u l i 1885; K G W VII 3, 339. 2 8 Nachlaß Ende 1 8 8 6 - F r ü h j a h r 1887; K G W VIII 1, 320.
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als ein substantielles Ich im Sinne von Descartes anzusetzen, ist unerlaubt, denn feststellbar ist nur der Vorgang: „es wird gedacht". Anders steht es mit den Fest-Stellungen der Wissenschaft, deren Einschätzung ist und kann nicht eindeutig sein. Die Wissenschaft ist es ja — wir stellten dies heraus —, die die alte Metaphysik entlarvt, und andere Grundbegriffe als maßgebend ansetzt. Das Zurechtmachen, das die Wissenschaft vollzieht, ist aber nicht nur pragmatisch notwendig, sondern in unseren Trieben und Bedürfnissen begründet: die biologische Wissenschaft, wie Nietzsche sie versteht, soll ja als Grundlage der Anthropologie fungieren. Andererseits ist auch, grundsätzlich gesehen, das Tun und Treiben der Wissenschaft nur eine Erdichtung, und das wollen die Wissenschaftler nicht wahrhaben, sie halten am abwegigen Ideal fest: Wissenschaft soll Täuschung durchschauen, Irrtum vermeiden und Wahrheiten in der Form zeitloser Gewißheiten vermitteln. Dieser Ansatz der Wissenschaft ist kaum zu ändern. Man kann ihn allenfalls in einer höheren philosophischen Reflexion als notwendiges Vorurteil durchschauen. Anders steht es mit der Kunst, in dieser ist die Uberzeugung lebendig, daß ihre Schöpfungen gar nicht objektive Wirklichkeit darstellen. Die Kunst will nicht täuschungsfreie Wahrheit im Sinn ewiger Gültigkeit, sie ist als Kunst ja vom „guten Willen zum Schein" durchwaltet. Die Kunst ist deswegen lebensnah, denn das Leben ist ja selbst von Grund aus vom Schein bestimmt. Die „Unwahrheit" der Kunst, ihr „Unernst" und ihre „Verspieltheit", diese Zeichen der Ästhetisierung, die so oft in der Tradition als Beweis des minderen Ranges der Kunst angeführt werden, sind Auszeichnungen, weil sie auf ein fundamentum in re zurückweisen: die Lebenswirklichkeit selbst. Sicher: auch die Kunst ist Verdichtung und Zurechtmachung, Aufheben des Werdens als „Verewigung". Aber dieses Verewigen muß gerade den zweideutigen Charakter des Lebens herausbringen. Das heißt, die Kunst soll das Leben als Werden und Wechseln, Illusion, Täuschung und Schein verewigen, denn der Schein ist das wahre Sein. Wenn der Künstler sich und sein Schaffen in diesem „Wahren An-sich" begründet, das heißt den Schein will und in eins damit Täuschung und Ungewißheit bejaht, bewährt er den Satz, daß die Kunst vom Leben her betrachtet mehr wert ist als die Wahrheit. Nietzsche denkt platonisch, insofern er die Dimension des An-sich als Wahrheit und deren Darstellung als Schein und Erscheinung gegenüberstellt. Aber er will zugleich diese Unterscheidung aufheben: er kehrt die beiden Dimensionen um und sucht die Differenz überhaupt einzuebnen: das wahre Ansich ist Werden und Vergehen, das heißt sich aufhebendes Sein und als solches ewiger Wechsel. Die gegensätzlichen Dimensionen fallen zusammen, sie dekken sich und sind eins. Dies beweist die Lehre von der ewigen Wiederkehr. Nach dem oben zitierten Satz, daß der Wille zur Macht eine zweifache Fälschung, von den Sinnen her und von dem Geist her, vollziehe, heißt es: „Daß
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A l l e s w i e d e r k e h r t , ist die extremste A n n ä h e r u n g e i n e r W e l t des W e r d e n s an d i e des S e i n s : G i p f e l d e r B e t r a c h t u n g " . 2 9 Nietzsche hat die Lehre von der ewigen Wiederkehr — wiederum zeigt sich seine Wissenschaftsgläubigkeit — naturwissenschaftlich abzustützen gesucht durch den Rückgriff auf den Satz der Erhaltung der Energie. Die Kraftmenge des Geschehens ist bestimmt und bleibt in der kausalen Verknüpfung der Ereignisse immer dieselbe. „Wenn die Welt als bestimmte Größe von Kraft und bestimmte Zahl von Kraftcentren gedacht werden d a r f , — und jede andere Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich u n b r a u c h b a r — so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl von Combinationen, im großen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen hat. In einer unendlichen Zeit würde jede Combination irgendwann einmal erreicht sein; mehr noch, sie würde unendliche Male erreicht sein. Und da zwischen jeder ,Combination' und ihrer nächsten ,Wiederkehr' alle überhaupt noch möglichen Combinationen abgelaufen sein müßten und jede dieser Combinationen die ganze Folge der Combinationen in derselben Reihe bedingt, so wäre damit ein Kreislauf von absolut identischen Reihen bewiesen: die Welt als Kreislauf der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel in infinitum spielt." 30 Der Mensch ist dem Geschehen eindeutig unterworfen. Aber diese Tatsache seiner Bedingtheit kann er reflektierend beurteilen. Dieses reflektierende Stellungnehmen ist — wie schon eingangs dargelegt — für Nietzsche in der nicht mehr biologisch deutbaren Zweideutigkeit des Intellekts begründet. Diese Zweideutigkeit ermöglicht und erfordert den Versuch, Selbstverständnis und Leben als durchaus nicht deckungsgleiche Größen miteinander zu vermitteln. Man soll sich in das, worin man schon eingeordnet ist, seinerseits einordnen. „Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn —: meine Formel dafür ist amor fati . . ." 3 1 Dionysisch zum Dasein stehen, heißt wissen, daß man schon in den Knoten verschlungen ist, daß die ewige Gleichgültigkeit schon über einen weggegangen ist, und das heißt, daß man schon vermittelt ist: amor fati. Und das heißt zugleich zu diesem Gebundensein ja-sagen, sich selbst aufhebend damit vermitteln: amor fati. Der amor fati, in welchem Begriff Nietzsche die „Freigeisterei", die den Ich-Begriff als Zeichen sinnvollen Menschseins destruiert, bestätigt, ist die gewollte Durchstreichung jedes sinnhaften Tuns, weil im Ansatz bereits jeder Sinn durchstrichen ist. Das intentionale, zweckhafte Handeln ist ausgeschaltet — kein Subjekt, sondern ein Tun —. Solches Ausschalten, wir wiesen bereits darauf hin, geschieht im Ubergang vom „Ich will" zum „Ich bin", im Ubergang vom Lö» Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887; K G W VIII 1, 320. 3» Nachlaß Frühjahr 1888; K G W VIII 3, 168. " Nachlaß Frühjahr-Sommer 1888; K G W VIII 3, 288.
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wen zum Kinde. „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen." 3 2 Erst im Kindsein wäre die wahre Unmittelbarkeit erreicht, denn das Kind spielt und geht im Spiel ganz auf. Und eben diesem Spiel des Kindes, so meint Nietzsche, entspricht das Weltenspiel. Die Selbigkeit von beidem wird nur erfahren, wenn man bereits fraglos im Geschehen mitspielt. Diese Fraglosigkeit bedeutet, daß das In-der-Welt-sein nicht mehr als ein Problem empfunden wird, über das man sich wundert oder gar entrüstet. An die Stelle des Warum ist — mit Heidegger gesprochen — das Weil getreten im Sinne des Verweilens. „Das Spiel ist ohne ,Warum'. Es spielt, dieweil es spielt. Es bleibt nur Spiel: das Höchste und Tiefste". 3 3 Nietzsche sagt, das Spiel sei das Unnützliche, die Kindlichkeit eines Gottes, er verweist auf Heraklit und die Vedanta-Philosophie: „Darin, daß die Welt ein göttliches Spiel sei und jenseits von Gut und Böse — habe ich die Vedantaphilos(ophie) und Heraclit zum Vorgänger." 3 4 Daß die Welt ein Spiel und als solches ein „sich selbst gebärendes Kunstwerk" 3 5 ist, das besagt, daß sie ohne Ziel in sich kreist, und daß wir in dieses Weltspiel hineingemischt sind, wie es in dem Gedicht „ A n Goethe" in den Liedern des Prinzen Vogelfrei heißt: 36 Das Unvergängliche Ist nur dein Gleichniss! Gott der Verfängliche Ist Dichter-Erschleichniss . . . Welt-Rad, das rollende, Streift Ziel auf Ziel: Noth — nennt's der Grollende, Der Narr nennt's — Spiel . . . Welt-Spiel, das herrische, Mischt Sein und Schein: — Das Ewig-Närrische Mischt uns — hinein! . . . Dieses kosmische Spiel in seiner Sinnlosigkeit wiederholt sich in dem Spiel, als welches die Kunst ist. Aber die Kunst ist Menschenwerk, und das heißt, sie beruht auf keiner kosmischen Notwendigkeit. Die Vermutung ist nicht abzuweisen, daß der Mensch mit all seinem Denken und Tun sich noch 32 Za I; K G W VI 1, 27. 3 3 M. Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, S. 188. 3 4 Nachlaß S o m m e r - H e r b s t 1884; K G W VII 2, 199. 3 5 Nachlaß Herbst 1 8 8 5 - H e r b s t 1886; K G W VIII 1, 117. 3 6 F W , Lieder des Prinzen Vogelfrei; K G W V 2, 323.
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einmal selbst in einer extremen Ubersteigerung des amor fati durchstreichen müsse: wenn man auf den Gesamthaushalt der Erde sieht, dann erscheint der Mensch nur als ein Augenblick und ein Zwischenfall. „Der Mensch, eine kleine überspannte Thierart, die — glücklicher Weise — ihre Zeit hat; das Leben auf der Erde überhaupt ein Augenblick, ein Zwischenfall, eine Ausnahme ohne Folge, Etwas, das für den Gesamt-Charakter der Erde belanglos bleibt; die Erde selbst, wie jedes Gestirn, ein Hiatus zwischen zwei Nichtsen, ein Ereignis ohne Plan, Vernunft, Wille, Selbstbewußtsein, die schlimmste Art des Nothwendigen, die dumme Nothwendigkeit . . . Gegen diese Betrachtung empört sich etwas in uns; die Schlange Eitelkeit redet uns zu ,das Alles muß falsch sein: denn es empört. . . Könnte das nicht Alles nur Schein sein? Und der Mensch, trotzalledem, mit Kant zu reden, "37
III Hegel und Nietzsche suchen beide die Kunst im Ganzen einer Gesamtauslegung des Seins zu orten und solchermaßen ihre mögliche Bedeutung für den Menschen darzulegen. Hegel ist bei der Lösung dieser Aufgabe sowohl unter inhaltlichem als auch unter formalem Aspekt offensichtlich „im Vorteil". Sein Grundsatz, daß die Welt vernünftig ist, ist eine Hypothese, die verifiziert werden soll. Die Strukturen des Seienden sind im ganzen und im einzelnen als sinnvoll nachzuweisen gemäß der Aussage: Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht auch sie vernünftig an. Die Verifikation beruht darauf, daß der Inhalt — die Vernünftigkeit des Seins — und die Form — die Methode der vernünftigen Weltauslegung — identisch sind. Mit diesem Ansatz bleibt Hegel zwar im Raum der traditionellen Metaphysik, aber er sucht deren dualistische Ausformungen, das heißt die Auffassung, daß die wahre Welt ein Jenseits unserer Welt sei, aufzuheben. Philosophisches Verstehen ist darauf aus, den Nachweis zu erbringen, daß die Welt ein einheitlich sinnvolles Ganzes ist. Religion und Kunst können beide der Philosophie bruchlos zugeordnet werden, in der Form der Vorbereitung, weil sie von der gleichen Intention getragen werden. Die Kunst vermag in bestimmter Hinsicht dieser Aufgabe, eben der Aufhebung der Dualität, besser als die Religion zu entsprechen, weil sie ja nicht wie diese sich einseitig auf eine höhere Welt bezieht, sondern die Schönheit als sichtbar gewordene Wahrheit in dieser unserer Welt aufweist. Diese Geschlossenheit der Weltdeutung wirkt sich dahin aus, daß Hegel in der Lage ist, in seiner Philosophie der Kunst wirklich konkrete Interpretationen zu erbringen, nicht nur in bezug auf religiöse Kunst oder vergeistigte Kunst37
Nachlaß Frühjahr-Sommer 1888; K G W VIII 3, 284f.
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werke, in denen sich die dichtende Subjektivität ausspricht, sondern auch in bezug auf Architektur und Malerei. Was Hegel, um nur ein relativ beliebiges Beispiel zu geben, über die niederländische Malerei sagt, ist bedeutsam. Diese Malerei bringt uns alles und jedes vors Auge: ein schnell verschwindendes Lächeln, einen plötzlichen schalkhaften Zug um den Mund ebenso wie Samt, Metallglanz, das Blinken des Weins im durchsichtigen Glase und Kerle in schmutzigen Jacken mit alten Kartenspielen. Diese Kunst überwindet Natur, aber so, als ob das alles, was sie gemacht hat, selbst natürlich sei. 3 8 Hegels Darlegungen zeigen, daß für ihn in bezug auf die Kunst zwischen konkreter Beschreibung und abstrakter Erklärung kein unaufhebbarer Gegensatz besteht. Das ist aber nur möglich auf Grund der Voraussetzung der Einheit und Geschlossenheit einer Welt, in der die Dualität aufgehoben wird in positivem Sinn: Erscheinung und Wesen sind dialektisch vermittelt. Wenn diese Voraussetzung einer einheitlichen Welt der Vernunft negiert wird, dann wird damit auch die Möglichkeit einer sinnvollen Ortung der Kunst im Sinne einer metaphysischen Ontologie von Grund aus fraglich. Diese Fraglichkeit kennzeichnet die nachidealistische Periode; sie ist ein objektives Faktum, das alle, die dem Geist der Zeit entsprechen, in mehr oder weniger ausdrücklicher Weise bestimmt. Zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes sei ein kurzer Blick auf Schopenhauers Kunsttheorie geworfen. 3 9 Schopenhauer greift auf die vorhergehende Tradition zurück, er setzt die Dimension der Ideen an, denen er einen hohen Rang zuspricht. Diese Ideen sind aber nicht durch das Denken, sondern durch die Kunst erschließbar. Philosophisches Denken, das durch die Erscheinung, den Schleier der Maja, durchdringt, erschließt die wirkliche Welt als eine widersprüchliche Welt von Negativität, in der die Unvernunft regiert und regieren muß, weil das Weltprinzip, der Wille als Ding an sich, selbst reine Negativität ist. Der Wille ist als Wille in sich selbst entzweit und muß sich als unersättlich ständig weitertreiben: er ist die Quelle allen Leidens. Von diesem Leiden erlöst die Kunst. Kunst fungiert als Entlastung; Schopenhauer reflektiert die Kunst also vom Lebensvollzug her, als Möglichkeit des „ Q u i e t i v s " , wie er sagt. Aber diese Entlastung funktioniert nur für Augenblicke, und vor allem: sie ist ontologisch ungedeckt, denn die Ideen im Sinne Schopenhauers sind in keiner Wesenswelt beheimatet, sie sind als solche allererst durch die Kunst zustandegekommen — die Kunst, etwa die Malerei, zeigt nicht den einzelnen Löwen, sondern die Leonitas.
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Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Theorie-Werkausgabe, Frankfurt M . , Band 13, S. 214 ff. Vgl. W. Schulz, Die problematische Stellung der Kunst in Schopenhauers Philosophie, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, Tübingen 1981, S. 403 ff.
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Kunst schafft eine dem Werden entnommene stillgestellte Welt, die, allein im ruhigen Anschauen zugänglich, den Wirklichkeitsdruck vergessen läßt. Wie problematisch diese Deutung der Kunst ist, wird deutlich, wenn man sich ausspricht, daß sie nicht für die höchste Kunst gilt: die Musik. Diese bezieht sich nicht auf die Ideen, sondern den Willen selbst als das Ding an sich, und das heißt, sie beruhigt gerade nicht, sondern erregt. Nietzsche nimmt die negative Weltdeutung Schopenhauers auf und radikalisiert sie, auch wenn er in der Bewertung der Negativität Schopenhauer nicht nachfolgt und dementsprechend die Funktion und den Ort der Kunst in einem zu Schopenhauer gegensätzlichen Sinne bestimmt. Aber daß die Welt sich von sich aus als widersprüchlich und als sinnlos darstellt, und daß diese Negativität sich durch wissenschaftliche Analyse verifizieren und beweisen läßt, dies ist nach Nietzsche eine Grundvoraussetzung, von der jeder vernünftig Denkende, der den faktischen Tatbestand illusionslos zu begreifen sucht, auszugehen hat. Uns als Menschen des nachidealistischen Zeitalters, das der Metaphysik der Vernunft entfremdet ist, ist eine solche These sicher nicht unverständlich. Es gibt geschichtliche Vor-Urteile, die zwar in Frage gestellt werden können und müssen, die aber als Voraussetzungen weithin wirksam bleiben. In diesem Sinn steht uns Nietzsche näher als Hegel. Es wäre jedoch verfehlt, Nietzsche gegen Hegel auszuspielen. Dies wäre ebenso unfruchtbar, wie der gegensätzliche Versuch. Bevor man solche Wertungen und Abwertungen durchführt, ist es notwendig, die jeweiligen Voraussetzungen und Bedingungen herauszustellen, unter denen Hegel und Nietzsche stehen, und nun zu fragen, wie von diesen her sich ihr Philosophieren gestaltet und ausformt. Konkret: wenn Nietzsche im Gegensatz zu Hegel von der Voraussetzung der Unvernünftigkeit der Welt ausgeht, und wenn er zugleich, wie unsere These vermeint, sein Denken in einem System zusammenzuschließen sucht, in dem das Gesamt des Seienden auf ein Grundprinzip verweist, von dem her der Mensch sein Denken und Handeln ausrichten kann, dann ist zu fragen, ob ein solcher Versuch geglückt oder gescheitert ist, ob er überhaupt glücken konnte oder zum Scheitern verurteilt war. Die Kunst — dies suchten wir darzulegen — eröffnet die metaphysische Dimension, sie erhebt und entlastet, aber in der Weise des Scheins, im Gegensatz zu der wirklichen Welt, die, von der Wissenschaft aufgedeckt, sich als Stätte des Sinnlosen zeigt. Nietzsche erkennt nun aber: die Kunst kann nur entlasten, wenn sie ontologisch gerechtfertigt wird, das heißt auf die Weltstruktur zurückgeführt und von dieser her begründet wird. Der Kunst fällt eine Doppelaufgabe zu. Sie muß die von der Wissenschaft aufgedeckte Negativität wahrhaben, und sie muß diese zugleich umwerten, das heißt positiv beleuchten, wenn anders sie ihre Aufgabe, zu entlasten und zu erheben, erfüllen will.
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Die Wege, die Nietzsche einschlägt, um diese Probleme zu lösen, erinnern — auf ihre Hintergründe betrachtet — an traditionelle Lösungen. Daß die negativen Seiten als zugehörig zum Ganzen in dieses eingeordnet und als solche anerkannt und gebilligt werden müssen: dieser Ansatz ist in der klassischen Metaphysik, insbesondere in bezug auf die Theodizee, sehr differenziert entwickelt worden. Er ist in der nachidealistischen Zeit in „säkularisierter Modifikation" aufgenommen worden, auch von Künstlern der Gegenwart, so — um ein Beispiel zu nennen — von Thomas Mann. Thomas Mann will nicht nur der Vergeistigung, sondern auch der Verleiblichung, die das Recht der ungezähmten Natur herausstellt, eine Chance einräumen, wobei er der „nach beiden Seiten gerichteten Ironie" das Wort redet. Diese Ironie, welche „verschlagen und unverbindlich, wenn auch nicht ohne Herzlichkeit, zwischen den Gegensätzen spielt und es mit Parteinahme und Entscheidung nicht sonderlich eilig hat," hat für die Kunst eine nicht zu überschätzende Bedeutung. 40 Die Ansätze, die auch die negativen Seiten des Daseins in der Kunst zu Wort kommen lassen wollen, sind mit der ebenfalls in der Tradition ausgebildeten Vorstellung verbunden, daß die Kunst entlastet, insofern sie eine unwirkliche Darstellung ist. Sie gibt nicht die eigentliche, das heißt faktische Wirklichkeit, sondern nur deren Abbild wieder. Sie affiziert den Menschen nicht direkt und unmittelbar wie die harte Realität, sie kann daher beruhigen: die Identifikation mit dem Geschehen — eine Identifikation liegt durchaus vor — bleibt im Raum der Ästhetik, das heißt des darstellenden Spiels. Vorgebildet ist diese Auslegung durch Aristoteles in seiner berühmten Lehre von der reinigenden Wirkung der Tragödie, deren Deutung allerdings schwierig ist. 4 1 Nietzsche nimmt diese Ansätze auf, aber er verändert sie entscheidend. Der Grund ist offensichtlich: die traditionelle Ästhetik, die auch das Schreckliche anerkennt, beruht auf Entwirklichung, und als solche entfernt sie vom Leben. Sie kann nicht das Leben steigern im Sinne einer erlösenden Stimulierung, und ebenso wenig vermag sie eine wirkliche Gründung der Kunst in der Seinsstruktur zu vollziehen. Um die Aufgabe einer adäquaten Ortung der Kunst zu lösen, geht Nietzsche „Umwege". Diese Umwege kennzeichnen, über das Problem der Kunst hinausgehend, Nietzsches Philosophie als solche und im ganzen. Anders und grundsätzlich gesagt: Nietzsche ist wie jeder große Philosoph von Prinzipien geleitet, die hintergründig und nicht ohne weiteres als Tatbestände beschreibbar sind. Diese Prinzipien aber — das ist die andere Seite — sucht Nietzsche zugleich von der Wissenschaft her zu verifizieren. Dieser widersprüchliche Ansatz muß genauer dargelegt werden durch eine kurze Charakterisierung des 40 41
Th. Mann, Adel des Geistes, Berlin 1956, S. 2 7 0 f . Vgl. K. H . Volkmann-Schluck, Die Lehre von der Katharsis in der Poetik des Aristoteles, in: Varia Variorum. Festschrift für Karl Reinhardt, Weimar 1952, S. 104 ff.
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Willens zur Macht, der mit Recht als die maßgebende Bestimmung von Nietzsches Philosophie gilt. 42 Der Wille zur Macht ist nicht im Sinne der alten Metaphysik ein für sich seiendes Subjekt, sondern fungiert als maßgebendes Interpretationsprinzip. Dies Prinzip ist nun aber eigentümlich zweideutig. Der Wille zur Macht steht nicht hinter den Erscheinungen als Ding an sich, er ist jedoch mehr als eine bloße Hypothese. Als philosophische Grundbestimmung soll er die Wirklichkeit adäquat erschließen. Geht man der Frage nach, wie er sich zu den einzelnen Subjekten verhält, so wird seine Funktion deutlich: der Wille zur Macht ist Entlarvungsprinzip. Er trifft nicht das konkrete Selbstverständnis; selbst wenn dieses vom Willen her bestimmt wird, so ist dieser Wille nicht bloßer Wille zur Macht, sondern Wille, der etwas will, er ist intentional. Der Mensch erlebt sich nicht als reines Triebgeschehen, dessen Ursachen er nicht kennt, das heißt als reine Passivität. Der Mensch lebt als ein auf die Zukunft bezogenes handelndes Ich. Er kann nicht im Bewußtsein existieren, nichts anderes als eine Marionette zu sein. Gleichwohl ist das „Passiv" nicht als unwahr auszuschließen. Der Tatbestand, den es zu thematisieren gilt, ist das Selbstverständnis, und dieses ist reflektierbar. Von der sich beobachtenden Selbsterfahrung her gesehen zeigt es sich als eine nicht entwirrbare Mischung von Aktivität und Passivität. Hier tut sich eine sehr beachtenswerte Dialektik auf. Je mehr der Mensch sein Tun und Denken zu durchschauen trachtet, je mehr er Erkennender wird, desto problematischer wird er sich. Er sieht nicht nur, „was eigentlich dahinter steckt", das heißt, wie er sich über sich getäuscht hat, sondern er sieht auch, wie merkwürdig, das heißt unabsichtlich und „wie von selbst", Gedanken und Taten überhaupt Zustandekommen. Der Mensch entdeckt sich in der Weise der Selstentlarvung. Solche Selbstentlarvung, eigens ergriffen, bedeutet natürlich gesteigerte Aktivität. Sie erfordert Mut zum Abenteurertum und Lust am Aufspüren unbekannter Hintergründe. Nietzsche ist — durchforscht man sein Werk, insbesondere die nachgelassenen Fragmente — ein Meisterdenker in der Entlarvung der Subjektivität. So schildert er, um nur ein Beispiel zu geben, glänzend, wie einem ein Gedanke kommt und man sich als Zuschauer fühlt: „ w e r das Alles thut, — ich weiß es nicht und bin sicherlich mehr Zuschauer dabei als Urheber dieses Vorgangs. Man sitzt dann über ihn zu Gericht, man fragt: ,was bedeutet er? was darf er bedeuten? hat er Recht oder Unrecht?' — man ruft andere Gedanken zu Hülfe, man vergleicht ihn. Denken erweist sich dergestalt beinahe als eine Art Übung und Akt der Gerechtigkeit, bei dem es einen Richter, eine Gegen-Partei, auch sogar ein Zeugenverhör giebt, dem ich 42
Vgl. W. Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien, Band 3 (1974), S. 1 - 6 0 .
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ein wenig zuhören darf — freilich nur ein wenig: das Meiste, so scheint es, entgeht mir". 4 3 Nietzsche — dies ist nun entscheidend — reflektiert sich aber nicht als den reflektierenden Ausleger der Subjektivität. Die Möglichkeit der Selbstreflexion, ihre Struktur, bleibt völlig unthematisiert. Als positivistischen Wissenschaftler interessiert Nietzsche nur das sogenannte Objektive, und dies ist seiner Meinung nach das sinnlose Triebgeschehen, das „dahinter steht". Dieser Tatbestand wird aber zugleich — jedoch unter Ausklammerung des Phänomens der Selbstreflexion und des Selbstbezuges — metaphysisch ausgelegt durch Aufstellung ebenfalls objektiv gelten sollender absoluter Aussagen über das Wesen der Wirklichkeit und das Sein im Ganzen. Sie besagen: „die Welt ist aus den Fugen". Der Zirkel wird gleichsam zur Spirale. Je mehr die Deutung die „natürliche Selbstinterpretation", die Aktivität und Passivität kennt und anerkennt, übersteigt, desto grundsätzlicher wird die Negativität ins Prinzipielle erhoben. Je mehr der Mensch entmächtigt wird, und je sinnloser er erscheint in seinem Tun und Lassen, desto besser gelingt die Deckung mit dem Weltgrund. Das Fazit ist: die Welt, zu der wir gehören, ist ein Ungeheuer von widersprechenden Kräften. Ihr Name und ihre Lösung ist: der Wille zur Macht. 4 4 Diese unvernünftige Welt wird, um es noch einmal zu sagen, durch die Philosophie, genauer: durch die dahinterblickende metaphysische Gesamtschau auf das Seiende im Ganzen erschlossen. Diese Weltansicht kommt zustande durch eine destruktive Konstruktion: sie ist Vereinfachen, Zurechtmachen und Festlegen unseres Selbstverständnisses zum Ganzen einer Einheit. Nietzsche als Metaphysiker hebt, in dieser Hinsicht Hegel vergleichbar, solchermaßen die Dualität zweier Welten auf zugunsten einer Welt, die an ihr selbst doch außerordentlich zweideutig ist: wahr und scheinhaft und, ontologisch gesehen, Sein und Werden zugleich. Verewigen und Zerstören sind eins, es gibt kein die Welt hervorbringendes Subjekt, sondern nur ein Tun, Setzen, Schaffen jenseits der Schematik von Ursache und Wirkung. Die Welt ist ein sich selbst gebärendes Kunstwerk. Mit dieser Deutung hat Nietzsche sich einen Weg eröffnet, die Kunst ontologisch zu fundieren. Kunst — „gleichsam im Kleinen die Tendenz des Ganzen wiederholend" — ist Spiel, und als Spiel sinnlos. Vorrangig und maßgebend ist und bleibt aber der objektive Weltcharakter der Sinnlosigkeit. Nietzsche überträgt das Sinnlosigkeitsprädikat von der Welt auf die Kunst, aber er sucht zugleich diese Übertragung zu ergänzen, genauer: dialektisch umzuwerten. Die Kunst soll ja nicht nur ontologisch fundiert werden, « 44
Nachlaß J u n i - J u l i 1885; K G W VII 3, 323. Nachlaß J u n i - J u l i 1885; K G W VII 3, 339.
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sondern sie soll als solchermaßen begründet die Welt ihrerseits rechtfertigen und das Leben lebenswert erscheinen lassen. U m den Charakter von Welt und Leben positiv herauszustellen und ihn nicht in Gegensatz zur ontologischen Fundierung der Kunst in der objektiven Seinsstruktur der Sinnlosigkeit zu bringen, geht Nietzsche wiederum von traditionellen Lösungen aus, aber er biegt auch diese sogleich um. Ganz im Sinne der nachidealistischen Aufklärung werden Metaphysik, Moral, Religion, Wissenschaft und Kunst als ideologische Möglichkeiten angesetzt und zunächst gleichgeordnet. Sie dienen dazu, die Furchtbarkeit der Welt und des Lebens erträglich zu machen. Diese Möglichkeiten sind objektiv betrachtet „Verschönerungen" und als solche Lüge, aber — hier beginnt die Abkehr von der nachidealistischen Ideologiekritik — die Lüge ist lebensdienlich, genauer: sie ist lebensnotwendig. Der Gedanke der Lebensnotwendigkeit im Sinn einer radikalen Pragmatik spielt — daran ist kein Zweifel möglich — in Nietzsches Denken eine wesentliche Rolle 4 5 , wobei zu beachten ist, daß Nietzsche im Ansatz und in der Durchführung dieser Pragmatik weitgehend physiologisch und psychologisch argumentiert. Diese physiologisch-psychologische Anthropologie aber wird ihrerseits wiederum fundiert in dem oben bereits dargelegten Sachverhalt, den Nietzsche durch eine Reflexion auf das Leben gewinnt: Leben ist perspektivisch wertend. Auch dieser Sachverhalt ist dem alltäglichen Bewußtsein nicht unmittelbar vertraut, denn dies Bewußtsein hält seine Wertungen und seine Sichten zunächst und zumeist durchaus für fraglos gültig, selbst wenn es hinterher erkennt, daß es sich geirrt hat. Die grundsätzliche Erkenntnis der Unaufhebbarkeit der Perspektivität ist auf das Entlarvungsprinzip zurückzuführen; sie ist Sache der philosophischen Reflexion, nicht anders als die Erkenntnis der Negativität der Welt. Beide Einsätze gehören ja zusammen. Sie erwachsen aber — das ist zugleich zu beachten — aus der eigentümlichen Zweideutigkeit, die faktisch bereits das natürliche Bewußtsein bestimmt: der Mensch kann sein Leben nie eindeutig führen. Er ist das sich in seinem Denken und Tun reflektierende Wesen, das heißt, er existiert nur als immer schon im Leben zum Leben Stellung nehmend. Er ist das nicht festgestellte Tier, dessen endgültige Feststellung weder von außen noch von innen gelingt. Will man diesen Sachverhalt adäquat herausstellen, dann muß man aber daran festhalten, daß der Mensch als urteilend und wertend vom Sein her gesehen ein Abenteurer ist, das heißt, daß die Verbindung zum Sein und zu dessen Struktur gelockert ist. Nur auf Grund dieser Lockerung kann er ja seine Vorhaben gegensätzlich 45
Vgl. H . Vaihinger, Die Philosophie des Als O b , 10. Auflage, Leipzig 1927, S. 771 ff., und ders., Nietzsche als Philosoph, Berlin 1902.
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vollziehen und ausrichten im Sinn der platonisch-christlichen Metaphysik oder im Sinn einer strikten Gegenposition; und nur auf Grund dieser Lockerheit kann er sodann diese Ausrichtung vom Lebensvollzug her pragmatisch beurteilen und werten. Nur wenn man sich diese dialektische Stellung des Menschen klarmacht, versteht man den Charakter der Rechtfertigung in seiner legitimen Zweideutigkeit. Der Mensch wird ausgegeben als der Könner der Lüge. Metaphysik, Moral, Religion und Wissenschaft sind verschiedene Formen der Lüge und als solche Ausgeburten des Willens zur Macht. Dank der Lüge vergewaltigt der Mensch die Realität. Aber dieses Künstlervermögen ist selbst ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit und Natur. Das Künstlervermögen hat der Mensch „noch mit Allem, was ist, gemein. Er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur". 4 6 Der Mensch kann lügen, weil das Sein selbst zweideutig ist. Er muß lügen, um Vertrauen zu schaffen. Die Lüge ist schöpferisch, sie setzt eine neue Sicht, und das bedeutet, die bewußte Lüge, die Lüge, die sich selbst reflektiert, ist Verzicht darauf, im Sein unmittelbar Halt finden zu wollen. Dieser Versuch wäre auch verfehlt, er gelänge ja nur, wenn das Sein selbst fest und eindeutig und solchermaßen verbindlich wäre. Wenn das Sein aber selbst Wechsel, Illusion und Täuschung ist, so entspricht dieser Seinsstruktur eben die Lüge. Sie ist im Sein fundiert, aber nicht determiniert. Ihre Vollzugsformen sind vielfältig. Eine dieser Formen ist es, Wahrheit im platonischen Sinn von Festigkeit zu setzen. Dies ist — wie im zweiten Abschnitt dargelegt — für alle „geistigen Tätigkeiten"-notwendig, auch für die Kunst. Aber das Verewigen muß negiert werden. „Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, »metaphysischer' als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein". 4 7 Hier wird, ebenso an den Parallelstellen, Wahrheit, Wirklichkeit und Sein in naivem Sinne gleichgesetzt! Der Sinn der Lüge ist strukturell betrachtet die Aufhebung einer Illusion zugunsten einer neuen Illusion, die wiederum genichtet wird. Das Glück des Vernichtens ist geeint mit der „Tortur des Schaffenmüssens als dynamischem Trieb". Vom Schaffen her könnte die Lüge, wenn nicht begründet, so doch verstehbar gemacht werden. Freilich: das Phänomen des Schaffens und des Schöpferischen ist vieldeutig. Schaffen kann mit dem Ausleben des Machttriebes gleichgesetzt werden, es ist physiologisch bedingt als Kraftentladung. Es kann auch bewußtes Umdenken und Umwandeln eines Vorgegebenen sein, wobei der Künstler sich als Macht, das heißt als „Herr über den Stoff" ge46
47
Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888; KGW VIII 2, 435; und: Nachlaß Mai-Juni 1888; K G W VIII 3, 318. Nachlaß Frühjahr 1888; K G W VIII 3, 18.
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nießt. Wesentlich ist: wer ästhetisch und schöpferisch lebt, der glaubt nicht an die Festigkeit, sondern an den Wechsel von Aufbauen und Zerstören, von Lust und Schmerz als den aufeinander verweisenden Extremen einer Einheit. Der im zweiten Abschnitt zitierte Hymnus auf die Kunst als Erlösung des Erkennenden, des Handelnden und des Leidenden, stellt diese Dialektik, das heißt die Bejahung des Negativen als Steigerung des Lebensgefühls, deutlich heraus. Der Einklang mit dem Sein ist als der höchste Zustand der Bejahung der tragisch-dionysische Zustand. Dieser Zustand ist durch den Rausch bestimmt. Auch der Rausch ist wie das Schaffen ein vieldeutiges Phänomen. Er äußert sich in der Wollust und Geschlechtlichkeit. Rausch, Geschlechtlichkeit und Grausamkeit gehören zusammen. Sie verweisen auf die ältesten Festfreuden der Menschheit. Wesentlich am Rausch ist die Kraftsteigerung. Sie wirkt sich auf das Rauschgefühl aus. Dieses ist „thatsächlich einem Mehr von Kraft entsprechend". Im zweiten Abschnitt haben wir entsprechende Zitate angeführt. Unter dem Aspekt der Entlastung gesehen, entspricht der Rückgriff auf den Rausch dem Entlarvungsprinzip. Wesentlich ist dabei nicht der sicher richtige physiologische Aspekt, daß die Entlarvung auf die unteren Schichten als die maßgebenden abhebt, das heißt auf Schichten, deren Aktualisierung zumeist nicht rational, sondern eben rauschhaft geschieht — wie im Fall der Sexualität —, entscheidend ist, daß Nietzsche in beiden Fällen, um die These von der Unvernünftigkeit des Seins und die These von der Kunst als dem allein legitimen Bezug zu diesem Sein aufrechtzuerhalten und abzustützen, die „Mittellage" des Menschen, das heißt das reale Selbstverständnis, das den alltäglichen Umgang des Menschen mit Welt und Mitmensch ebenso bestimmt, wie es von diesem bestimmt wird, und das strukturell eine Mischung von Intentionalität und Gesteuertwerden darstellt, überspringt. Im Falle der Entlarvung geschieht dieses Uberspringen in eine Dimension, die gleichsam unterhalb des intentionalen Lebens abläuft, und im Falle des Rausches in eine Dimension, die ekstatisch den Menschen über sich erhebt, wobei, wie angedeutet, physiologisch gesehen das Unten und das Oben durchaus zusammenfallen können. Nietzsche setzt diese beiden Möglichkeiten als für die Struktur des Menschen maßgebend an. Unter beiden Aspekten aber wird der Mensch dargestellt als ein subjektloses Wesen. Nietzsche greift also auf seine wissenschaftliche Grundthese zurück, daß der Glaube an das Subjekt ein Irrglaube sei, und daß Worte wie Ich, bewußter Wille, Vernunft leere Fiktionen seien. Es gibt ebensowenig einen Täter wie einen Denkenden, sondern nur ein Tun ohne Täter und den Vorgang: es wird gedacht. Die Theorie der Entlarvung und die Preisung des Rausches sind Auswege, um dem Leben Positivität zuzusprechen, obwohl es eigentlich nicht erträglich
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ist. Im Herbst 1883 schreibt Nietzsche: „Und wenn du das Leben einst nicht aushalten kannst, mußt du suchen, es lieb zu gewinnen — solches nämlich war immer der Kunstgriff der Weisesten." 48 Vom Rausch her sucht Nietzsche nun einen konkreteren Zugang zur Kunst zu gewinnen, der, betrachtet man ihn unvoreingenommen, wiederum traditionelle Deutungen aufnimmt: seit Plato werden Kunst und Manie zusammengebracht. Insofern der Rausch das Lebensgefühl steigert und zugleich vom Wirklichkeitsdruck entlastet, hängt er moralisches und urteilendes Verhalten aus. Er ermöglicht das ästhetische Verhalten und das Schaffen, deren Kennzeichen Freiheit in bezug auf die Realität ist: es wird ein „neuer Zugang zur Welt" eröffnet. Auf zwei Aphorismen aus der Spätzeit sei verwiesen, um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen. Nietzsche argumentiert an der ersten Stelle 49 weitgehend physiologisch. Er legt dar, daß der Rausch das Raum- und Zeitgefühl verändert: „ungeheure Fernen werden überschaut und gleichsam erst w a h r n e h m b a r " ; der Blick wird ausgedehnt „über größere Mengen und Weiten"; die Organe werden verfeinert „für die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten"; dem Rausch ist zu eigen „die D i v i n a t i o n , die Kraft des Verstehens auf die leiseste Hülfe hin, auf jede Suggestion hin, die intelligente* S i n n l i c h k e i t . . ." An der zweiten Stelle 50 will Nietzsche zeigen, daß und warum Kunst als Gegenbewegung gegen Resignation wirkt: „der Künstler liebt allmählich die Mittel um ihrer selbst willen, in denen sich der Rauschzustand zu erkennen giebt: die extreme Feinheit und Pracht der Farbe, die Deutlichkeit der Linie, die nuance des T o n s : das D i s t i n k t e , wo sonst, im Normalen, alle Distinktion fehlt". Grundsätzlich formuliert: weil die Wirkung des Kunstwerks „die E r r e g u n g des k u n s t s c h a f f e n d e n Z u s t a n d e s , des Rausches" ist, ist festzustellen: „das Wesentliche an der Kunst bleibt ihre Daseins-Vollend u n g , ihr Hervorbringen der Vollkommenheit und Fülle". Vom Rausch her ist die Möglichkeit einer Darstellung des Furchtbaren und Häßlichen zu deuten. „Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen, ist selbst schon ein Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht . . .". Nietzsche erläutert dies: die Dinge s i n d häßlich, die diese Künstler zeigen: „aber d a ß sie dieselben zeigen, ist aus L u s t an d i e s e m H ä ß l i c h e n . . .". Die Künstler allerdings suchen diese Lust zu bestreiten, aber sie betrügen sich in dieser Hinsicht. Diese Stellen gehören zu den relativ wenigen Aussagen des späten Nietzsche über konkrete Probleme des ästhetischen und künstlerischen Verhaltens. 46 49
Nachlaß Herbst 1883; K G W VII 1, 561. Nachlaß Frühjahr 1888; K G W VIII 3, 86. Nachlaß Frühjahr 1888; K G W VIII 3, 33.
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Es finden sich im Spätwerk zwar des öfteren kritische Anmerkungen zur traditionellen Kunstauffassung; es werden oft Namen von Künstlern in polemischer Absicht angeführt — insbesondere wird Wagner angegriffen —, aber so konkrete Ausführungen zur Ästhetik, wie Nietzsche sie in „Die Geburt der Tragödie" gibt, sind im Spätwerk kaum zu entdecken. Nietzsche verbleibt auf das Ganze des Spätwerks gesehen vorwiegend und primär im Raum grundsätzlicher Erörterung über die Kunst, diese Erörterungen werden aber nur selten mit konkreten Fragestellungen vermittelt. Mit Hegels Analysen zur Kunst, die abstrakte Erklärung und konkretes Beschreiben verbinden, Vergleichbares ist beim späten Nietzsche kaum zu finden — darüber können auch seine emphatischen Anhänger, die die Kunst als Schaffensrausch preisen, sich nicht hinwegtäuschen. Selbstverständlich ist dieser Sachverhalt Nietzsche nicht als Versagen vorzuwerfen. Für ihn muß — im Gegensatz zu Hegel — der grundsätzliche Aspekt der Kunst so vordringlich werden, weil ihm Kunst in einer sinnlosen Welt die e i n z i g e Chance einer metaphysischen Tätigkeit zu gewähren scheint, abgelöst nicht nur von Philosophie und Religion, sondern in striktem Gegensatz zu diesen. Reflektiert man die Belastungen, die Nietzsches Denken durch die Deklaration einer sinnlosen Welt auf sich zu nehmen hat, und sucht man nun unter ihrem Aspekt auf die Frage zurückzukommen, ob Nietzsche ein System gelungen sei, das eine Gesamtdeutung des Seienden darstellt und das den Menschen in seinem Tun auszurichten vermag, so muß die Antwort, soweit sie sich aus dem Vorgelegten ergeben hat, zwiespältig sein. Unter dem Gesichtspunkt formaler Stringenz und Konsequenz des Gedankenbaus ist Nietzsches Philosophie durchaus nicht der systematische Rang abzusprechen. Es ist im Gegenteil festzustellen, daß Nietzsche in höchstem Maße die Forderung der Einigkeit und Geschlossenheit eines Systems erfüllt: mit Hilfe der Kunst. Indem Nietzsche der Kunst einen Ort und eine Funktion anweist, das heißt, indem er sie in sein System einbaut, gelingt es ihm, den oben dargelegten Forderungen des Systems zu entsprechen. Die Geschlossenheit von Nietzsches Philosophie beruht nicht auf einer metaphysischen Grundstellung, in die Nietzsche eingewiesen wurde, das abendländische Geschick vollendend. 51 Sie ist das Ergebnis des Versuches — mit Nietzsche geredet: des Experimentes —, in einer bestimmten geschichtlichen Situation, deren Voraussetzungen bis zum Ende hin auf eine mögliche haltgebende Einheit zu durchdenken. Dieser Versuch glückt aber nur, weil und insofern er auf einer Überinterpretation der Kunst und einer Unterinterpretation des realen Selbstverständnisses des Menschen basiert. Die Frage ist 51
Vgl. W. Müller-Lauter, a . a . O . , S. 12ff.
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nicht abzuweisen, ob die Kunst nicht mit der Aufgabe einer absoluten Rechtfertigung des Daseins überbelastet ist, das heißt, ob ihr nicht etwas zugemutet wird, was sie eben nur dann leisten kann, wenn sie sich in Gegenzug zum realen Selbstverständnis und dessen Wirklichkeitserfahrung und Wirklichkeitsdeutung setzt. Es wäre vermessen, auf diese Frage hier befriedigende Antworten geben zu wollen. Es sei nur noch einmal auf die Dialektik, das heißt die Vermittlung und die Differenz von wahrer Welt und Erscheinungswelt, hingewiesen, um die Schwierigkeiten einer metaphysischen Ortung der Kunst aufzuzeigen, die sich dann einstellen, wenn die Hinterwelt radikal negiert werden soll. Wird Kunst im Sinn der Tradition in einer Hinterwelt als der wahren Welt geortet, dann läßt sich das Verhältnis der oberen zur unteren Welt durchaus legitim und einsichtig als ambivalent bestimmen. Einerseits wird der faktische Tatbestand, daß unsere Welt nicht in Ordnung ist, anerkannt. Zugleich aber wird die Misere aufgehoben durch die Kunst als Erhebung zu der wahren Welt, die doch in der Erscheinungswelt anwesend ist — etwa im Naturschönen. Wird dagegen die Hinterwelt geleugnet, dann bedeutet dies nicht nur, daß die dialektische Spannung, die in der Tradition zwischen wahrer Welt und Erscheinungswelt besteht, nun gänzlich in unsere Welt verlegt wird, sondern auch, daß nun in unserer Welt und mit deren Mitteln zu der Spannung von Wahrheit und Schein „Stellung genommen" werden muß. Das alltägliche Lebensbewußtsein nimmt zunächst und zumeist diese Spannung als Wechsel zwischen Negativität und Positivität und diesen Wechsel als Faktum hin und sucht die positiven Seiten hervorzukehren. Der Philosoph — wir wiesen darauf hin — zieht eine Bilanz: er schaut dahinter. Aber er darf — das ist eben das Entscheidende — diese Spannung nicht als einfach vorgegebenes Weltphänomen betrachten, dem er sich in ästhetischer Einstellung anzugleichen hätte. Tut er dies, so verbleibt er, auch wenn er die obere Welt zugunsten der unteren Welt aufhebt, in den Bahnen der traditionellen Metaphysik. Diese Metaphysik — von Plato inszeniert, wie Nietzsche mit Recht darlegt — ist durch ihre Weltgebundenheit gekennzeichnet. Das heißt, sie geht davon aus, daß sich der Mensch an der Welt als dem Vorgegebenen zu orientieren und auszurichten habe. Der Philosoph, der nicht mehr von der traditionellen Metaphysik geprägt ist, hat nun gerade die Chance und die Aufgabe, sich als das urteilende Selbst im Bezug auf seine Weltstellung in einer unvoreingenommenen Form ausdrücklich zu reflektieren, das heißt, er muß nicht nur die Einheit, sondern auch die Differenz von Selbst und Welt bedenken und solchermaßen die Möglichkeit einer unaufhebbaren Differenz zwischen beiden ins Auge fassen. Zu dieser Reflexion ist er aus dem einfachen Grunde genötigt, weil er nicht eindeutig weltgebunden ist. Er ist in positivem
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und negativem Sinn das nicht festgestellte Tier, oder traditionell geredet: er ist nicht nur Leib, wie Nietzsche in „Also sprach Zarathustra" behauptet, sondern Leib und Geist zugleich und solchermaßen mit sich uneinig. Als Geist aber ist der Mensch das problematische Wesen, das nicht mehr zur Unschuld und zum Vergessen des spielenden Kindes zurückkehren kann. Nietzsche weiß um die Zwiespältigkeit des Menschen; er weiß von der Belastung, die der Geist für den Menschen darstellt. Geist ist, so heißt es in „Also sprach Zarathustra", in dem Kapitel „Von den berühmten Weisen", Leben, aber das Leben, „das selber in's Leben schneidet" 52 . Nietzsche sucht jedoch immer wieder diese Zweideutigkeit mit Hilfe der Wissenschaft aufzuheben. Die dichterisch unmittelbare Verklärung der Unmittelbarkeit unter der Chiffre des Kindes soll unter theoretischem Aspekt verifiziert werden durch Reduktion des Menschen mit Hilfe der Biologie auf den Leib und die Triebschicht. Das Passiv, das Gelebtwerden als Getriebenwerden, erscheint als Wahrheit, die ihrerseits im Weltphänomen der ewigen Wiederkehr mit Hilfe physikalischer Theorien fundiert werden soll. Radikaler noch wäre, wie wir andeuteten, die Annihilation des Menschen überhaupt, die sich ihrerseits auf die wissenschaftliche Erkenntnis stützt, daß der Mensch als Abenteuer des Seins nur ein Zwiespalt und ein Augenblick ist. Auch die Kunst soll von der Wissenschaft her biologisch begründet werden; die meisten Aphorismen über die Kunst aus der Spätzeit heben auf die biologische Fundierung der Kunst als zentrales Thema ab. Zugleich soll aber die Kunst eine Uminterpretation des Daseins im ganzen leisten. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Uminterpretation sich als Errichtung einer Scheinwelt vollzieht, die nur einem Wesen gelingt, das Geist hat. Mag das künstlerische Schaffen rauschhaft „inszeniert" sein, es geht eine Verbindung mit dem Geist ein, dessen Leistung es ist, die Negativität der Welt noch einmal zu negieren, aber nur ästhetisch in der Setzung einer Scheinwelt. Als Geistwesen wird der Mensch immer wieder versuchen, den Schein aufzuheben oder als Schein zu fundieren, indem er reflektierend den Gegensatz von wahrer und scheinhafter Welt setzt und diesen Gegensatz zugleich zu vermitteln sucht, sei es, daß er die eine Welt auf die andere zurückführt, oder beide Welten zu vereinen trachtet. Daß beides, das Setzen des Unterschiedes und seine Aufhebung, zum Menschen gehört, beweist exemplarisch das Faktum der Kunst. Denn dieser ist es möglich, ihre eigene Welt als Scheinwelt aufzubauen und diese zugleich als wahre Welt erscheinen zu lassen. Daß die Kunst sich dadurch konstituiert, daß sie Schein und Wahrheit vielfältig mischt, zeigt, daß ihr eine Sonderstellung zukommt. In einer Epoche, die nicht mehr wesenhaft von der Metaphy«
Za II; K G W VI 1, 130.
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sik, genauer: von der Setzung einer wahren Uberwelt bestimmt ist, wird wohl die Kunst für lange Zeit die Funktion der Metaphysik, den Menschen über sich zu erheben, übernehmen, auch wenn oder gerade weil diese Erhebung nicht mehr in eine wahre Welt führt, in der der Schein genichtet ist. Wenn aber die Kunst weder in einer metaphysischen noch in einer wissenschaftlichen Welt fundiert werden kann, dann bleibt sie legitim ortlos, und ihre Werke sind „Schein ohne Deckung". Gottfried Benn greift in seinen Auslegungen wiederholt auf Nietzsche zurück, weithin mit durchaus fragwürdigen Argumentationen. Aber denkt er nicht doch in Nietzsches Bahnen, wenn er Geist und Leben als Gegensätze setzt und die Kunst als Stil und Form dem Geist zuordnet? In einem Brief an F. W . Oelze vom 28. II. 1938 erklärt Benn, daß Leben und Geist „zwei sehr fern verknüpfte Äußerungsformen" seien, und daß der Geist nicht dem Leben diene. Benn fährt — die biologische Betrachtung voraussetzend und sie überschreitend — fort: „an einer einzigen Stelle ist tatsächlich der spätere Kreis, der Geist, in den Lebenskreis eingebrochen, im Menschen, in einzelnen Menschen, meistens lebens-entarteten Menschen: die Gestaltungssphäre, die Kunst. In ihr werden eigentlich erst überhaupt gelegentlich die Gründe u. Hintergründe seiner, des Menschen, Erschaffung klar, aus ihr seine Tierreihenstellung deutlich. Fläche in Tiefe überführen, Worte durch Beziehung und anordnendes Verwenden zu einer von innen belebten besonderen Welt zu binden, Laute aneinanderzuketten, bis sie sich halten und Unzerstörbares besingen, das ist ihre Tat. Die vom ,Leben' aus gesehn, gänzlich unbegreifliche und auch gänzlich unerkennbare Tat!" 5 3
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Gottfried Benn, Briefe an F. W. Oelze, Band 1, Wiesbaden 1974, S. 183f.
WOLFGANG TRILLHAAS NIETZSCHES „PRIESTER"
1. „Hier sind Priester" so sagt Zarathustra zu seinen Jüngern, nachdem er ihnen ein Zeichen gegeben hat. Damit beginnt die berühmte Rede „Von den Priestern" im II. Teil des Zarathustra (4,117ff.) 1 . Was bekommen die Jünger Zarathustras zu sehen? Ehe sie recht hinblicken, sind sie vorüber gegangen. Offenbar handelt es sich um christliche Priester; denn sie glauben an einen Erlöser und beten ihn an. Sie haben ihm „Hütten gebaut", wohl nach Matth. 17,4, was dort allerdings sich als Ausdruck des Unverständnisses der Jünger erweist und nicht realisiert wird. Sie denken lückenhaft und benützen „Gott" als Lückenbüßer, eine Formel übrigens, welche auch in der theologischen Auseinandersetzung mit der eigenen Disziplin der Apologetik eine gängige Formel war und bis heute ist. Sie betätigen sich — und wir folgen dabei eben der Beschreibung Zarathustras — als „Hirten", die ihre Schafe über einen einzigen Steg, als ob es nicht viele Stege gäbe, zur Zukunft hintreiben. Hirten, die selber noch zu den Schafen gehören. Sollten diese „Hirten" eine ferne Erinnerung an die „Pastoren" sein, die sich so deutlich im Stammbaum Nietzsches finden? Und in der Tat: Durch den Mund Zarathustras verrät sich Nietzsche selbst für einen Augenblick: „Aber mein Blut ist mit dem ihren verwandt; und ich will mein Blut auch noch in dem ihren geehrt wissen." Und mehr als dieser Satz vermag, verrät das, was nun folgt: Zarathustra wird vom Schmerz überfallen, es jammert ihn dieser Priester, „ich leide und litt mit ihnen", daß sie ihm wider den Geschmack gehen, ist ihm, seit er unter Menschen ist, das Geringste, aber „der, welchen sie Erlöser nennen, schlug sie in Banden: — in Banden falscher Werthe und Wahn-Worte! Ach daß Einer sie noch von ihrem Erlöser erlöste!" Hat Zarathustra-Nietzsche daran gar ein Interesse? Auch Nietzsches Vater gehörte ja zu diesen „Hirten". Und er hat sich dieses Vaters nie geschämt, er hat das Andenken des schon so früh, im Alter 1
Die Stellennachweise nach der K S A (Band, Seitenzahl) gebe ich der Übersichtlichkeit halber im Text, wobei Orthographie, Sperrungen und insbesondere die sehr willkürliche Interpunktion der Vorlage entspricht.
Nietzsches „Priester"
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von knapp fünf Jahren Verlorenen in geradezu kindlicher Pietät gehütet. In dem nachgelassenen Fragment aus dem Sommer 1875 (8,194) gibt er sich dem nostalgischen Träumen hin: „ A l s der Großvater mir Hölty's „Wunderseliger M a n n " erklärte. . . . Dann in der Neugasse (in Bonn), wo ich immer die mahnende Stimme des Vaters hörte." In den „Memorabilia" aus der Mitte des Jahres 1878 bekennt er sich „als Verwandter von Pfarrern früher Einblick in geistige und seelische Beschränktheit Tüchtigkeit Hochmuth D e c o r u m " (8,505 = 28 [7]), wobei der Vater selbst nicht erwähnt wird. Man könnte wohl vermuten, daß hier Nietzsche eben die „Verwandtschaft" meint, gewissermaßen als etwas, ohne das das bürgerlich-protestantische Pfarrhausmilieu nicht gedacht werden kann, und das für Nietzsche auch nach dem Tode seines Vaters in Mutter, Schwester und Onkeln immer peinliche Gegenwart blieb. Was aber den Vater betrifft, so ist der Wechsel im Ton sofort spürbar: „ D ä m o n i o n — warnende Stimme des Vaters" (ebda = 28 [9]). Diese scheue, ehrfurchtsvolle Hochachtung vor dem Andenken des Vaters hält Nietzsche bis zuletzt durch. In dem ersten Abschnitt von „ E c c e h o m o " , „Warum ich so weise bin", wird des Vaters viermal gedacht. Im 1. Abschnitt (6,264) vergleicht er die Lebensdaten und deutet sie aus. Im 3. Abschnitt (6,267) gedenkt er des „Predigers" und des hohen geistlichen Ansehens, das dieser bei den „Bauern, vor denen er predigte — denn er war, nachdem er einige Jahre am Altenburger Hof gelebt hatte, die letzten Jahre Prediger" —, genossen hat: sie „sagten, so müsse wohl ein Engel aussehen". Und dann wird im folgenden 4. Absatz noch einmal des „unvergleichlichen Vaters" gedacht. Ja, er steigert sich geradezu in eine Identifikation mit diesem, wenn er zum Anfang des 5. Absatzes schreibt: „ A u c h noch in einem anderen Punkte bin ich bloß mein Vater noch einmal und gleichsam sein Fortleben nach einem allzufrühen T o d e " (6,271). Offenbar ist also dieser Vater nicht ohne weiteres in diesem Bilde des Priesters mit begriffen. U m so auffälliger ist die Rede von den „Priestern". Denn in seiner Jugend sind Nietzsche ja gar keine „Priester" im eigentlichen Sinne begegnet, sondern — wie eng verflochten auch das Leben, der Beruf seiner Vorfahren mit dem Dienste der Kirche gewesen ist — sie haben sich jedenfalls anders bezeichnet und anders verstanden: als „Prediger", als Pastoren, als Pfarrer, so daß man allenfalls die im Zarathustra mehrfach erwähnten „ H i r t e n " einbeziehen könnte, aber — wenn Worte einen Sinn haben sollen — bis zum Begriff des Priesters ist es noch ein langer Weg. Man möchte, sofern es sich überhaupt um christliche Priester handeln soll, eben an die Welt des katholischen Christentums denken. „ H i e r , wo die Seele zu ihrer Höhe hinauf — nicht fliegen darf! Sondern also gebietet ihr Glaube: „auf den Knien die Treppe hinan, ihr S ü n d e r ! " " (4,118). Wie die „süßduftenden Höhlen", welche sie Kirchen heißen, unverkennbar an den im Kultus
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angezündeten Weihrauch erinnern, so ist kein Zweifel möglich, daß die Beobachtung des Treibens an der Scala Santa in Rom, von der Nietzsche am 22. Mai 1883 an Overbeck berichtet hat, sich in den zitierten Sätzen der Zarathustra-Rede spiegelt 2 . Aber auch hier drängen sich kritische Fragen auf. Hat denn Nietzsche einen unmittelbaren, d. h. in persönlichem Umgang gewonnenen Eindruck von römisch-katholischen Priestern gehabt? Weihrauchgeruch in den Kirchen und Gebräuche der Volksfrömmigkeit sagen ja noch nichts über die Priester selbst aus. Tatsächlich ist uns aus keiner einzigen Phase seines Lebens etwas über eine derartige persönliche Beziehung bekannt. Aus der durch die fehlende unmittelbare Kenntnis erzwungenen Distanz ist Nietzsche ganz auf seine Vorstellungen angewiesen. Das muß nicht nachteilig sein und kann auch die heimliche Sympathie begünstigen. So in der Rede, die „Außer Dienst" überschrieben ist (4,321 ff.) und ganz offenkundig, wenn auch nirgends ausdrücklich, Leo XIII. im Blick hat, der in seiner sensiblen Gestalt und milden Klugheit so viele seiner Zeitgenossen fasziniert hat, wofür ja auch das ihm gewidmete Gedicht im Bande „Der Siebente Ring" von Stefan George Zeugnis ablegt (1907). Nietzsche huldigt der Gestalt, dem Greis mit den „scharfen Augen" und der „schönen und langen Hand! Das ist die Hand eines solchen, der immer Segen ausgeteilt hat." Diesen alten Papst nimmt nun Nietzsche malgré soi als Einverständigen und Bundesgenossen in Anspruch. Immerhin im Einverständnis auch darüber, daß dieser alte Papst Gott „noch" gekannt hat. „Meine Liebe diente ihm lange Jahre, mein Wille gieng allem seinem Willen nach. Ein guter Diener aber weiss Alles, und Mancherlei auch, was sein Herr sich selber verbirgt. Es war ein verborgener Gott, voller Heimlichkeit. Wahrlich, zu einem Sohne sogar kam er nicht anders als auf Schleichwegen. An der Thür seines Glaubens steht der Ehebruch. Wer ihn als einen Gott der Liebe preist, denkt nicht hoch genug von der Liebe selber. Wollte dieser Gott nicht auch Richter sein? Aber der Liebende liebt jenseits von Lohn und Vergeltung." Der Papst spricht dann vom Altern und vom Sterben dieses Gottes: „weltmüde, willensmüde, und erstickte eines Tags an seinem allzugrossen Mitleiden." Diese Schilderung bestätigt Zarathustra, freilich mit Einschränkungen. „Es könnte wohl so abgegangen sein: so, und auch anders. Wenn Götter sterben, sterben sie immer viele Arten Todes. . . . Ich liebe Alles, was hell blickt und redlich redet. Aber er — du weißt es ja, du alter Priester, es war Etwas von deiner Art an ihm, von Priester-Art — er war vieldeutig." Und nun hadert Zarathustra, dem „alten Priester" ins Angesicht, mit diesem Gott, der offenbar auch für ihn, Zarathustra, lebendig war, bevor er starb. „Zu Vieles mißriet ihm, diesem Töpfer (nach Jes 64,7; Jer 18,6; Rom 9,21 ; Off 2,27 u. ö.), der nicht ausgelernt hatte! Daß er aber Rache an seinen Töpfen und Geschöpfen nahm, dafür daß sie ihm schlecht gerieten, — das war eine Sünde wider den guten Geschmack. Es gibt auch in der Frömmigkeit einen guten Geschmack: der sprach endlich: „Fort mit einem solchen Gotte! Lieber keinen Gott, lieber auf eigene Faust Schicksal machen, lieber Narr sein, lieber selber Gott sein!" Und nun bestätigt der alte Papst die Frömmigkeit Zarathustras. „du bist frömmer als du glaubst, mit einem solchen Unglauben! Irgend ein Gott in dir bekehrte dich zu deiner Gottlosigkeit. Ist es nicht deine Frömmigkeit selber, die dich nicht mehr an 2
Vgl. den Kommentar 14,298 z. St.
Nietzsches „ P r i e s t e r "
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einen Gott glauben läßt? Und deine übergroße Redlichkeit wird dich auch noch jenseits von Gut und Böse wegführen! Siehe doch, was blieb dir aufgespart? Du hast Augen und Hand und Mund, die sind zum Segnen vorher bestimmt seit Ewigkeit. Man segnet nicht mit der Hand allein. In deiner Nähe, ob du schon der Gottloseste sein willst, wittere ich einen heimlichen Weih- und Wohlgeruch von langen Segnungen: mir wird wohl und wehe dabei. Lass mich deinen Gast sein, oh Zarathustra, für eine einzige Nacht! Nirgends auf Erden wird es mir jetzt wohler als bei dir!" — „Amen! So soll es sein! sprach Zarathustra mit grosser Verwunderung, dort hinauf führt der Weg, da liegt die Höhle Zarathustras."
Es ist, als ob Zarathustra nun selber die Priesterweihe empfangen hätte. Das Geheimwissen des Priesters und die Weisheit Zarathustras erkennen sich gegenseitig und erkennen sich an. U m so mehr stellt sich erneut die Frage, was es mit diesen „Priestern" auf sich hat, und es erscheint angebracht, die Unscharfe des Bildes vom „Priester" sich bewußt zu machen.
2. Man ist gewohnt, den Priester von seiner Funktion her zu begreifen: Der Priester ist dann in jedem Falle Mittler zwischen Gott und Mensch. Das ist gewissermaßen ein religionsgeschichtliches Gesetz, das sich aber an der dogmatischen Beschreibung des sakramentalen Priestertums der römisch-katholischen Kirche vollauf bestätigt. Der katholische Priesterbegriff bringt den allgemeinen religionsgeschichtlichen Priesterbegriff zur Konkretion, eben dadurch, daß die sakramentalen Funktionen der Kirche durch seine Hand, durch die Hand des Priesters gehen. Der priesterliche Mittlerdienst vollzieht sich immer in zwei Richtungen. Einmal wird durch diesen Dienst, durch die „ H a n d " des Priesters der Gottheit das Opfer der Menschen, bzw. der Gläubigen, des „Volkes" (der „Laien") dargebracht. Dieses Opfer ist ebenso ein materielles Offertorium wie es als Gebet (1 Petr 2 , 5 ; aber auch O f f 8,4) ganz geistig verstanden werden kann. Der Spielraum dessen, was solchermaßen zum Opfer werden kann, ist unendlich breit und schließt auch die „ L e i b e r " , sei es des Apostels, sei es der Gläubigen (Phil 2 , 1 7 ; R o m 12,1) ein. Die Allgemeinheit dieses Opferbegriffes, die dann, gewiß in vielen Spielarten von harter Amtlichkeit bis zur spirituellen Auffassung den Priesterbegriff bedingt, — sie erklärt auch, daß dann der christliche Opferbegriff den heidnischen verdrängen muß und umgekehrt, aber immer unter den nämlichen Strukturgesetzen. Die priesterliche Mittlerfunktion gilt aber auch in umgekehrter Richtung: Durch die „ H a n d " bzw. durch den Dienst des Priesters wird den Menschen, bzw. den Gläubigen, dem „ V o l k " Gottes Gabe vermittelt: Gottes Weisung und Wort, aber auch Speise zum ewigen Leben oder auch die Versiegelung zu
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einem neuen Sein, wie das der Sinn jeder „ T a u f e " ist. „Segen", als Inbegriff dessen, was die Hände des Priesters spenden, ist demgegenüber nur ein allgemeines, nicht für das Priestertum spezifisches Wort. Geht man so bei der Beschreibung des „Priesters" von den ihm zukommenden Funktionen aus, so ergeben sich weitere Merkmale, welche festzuhalten sind. Einmal: Eben als „Mittler" ist jeder Priester per definitionem Stellvertreter, sei es der Menschen vor Gott, oder Gottes vor den Menschen. Und dann: durch diese Funktionen ist der Priester aus der Menge der Gläubigen, des Volkes herausgehoben, es kommt ihm eine Sonderstellung zu. E r genießt nicht nur ein besonderes Ansehen, Würde und gesellschaftliche Macht, sondern er muß auch bestimmte Fähigkeiten besitzen, welche ihn von den anderen Menschen unterscheiden: Kenntnisse des Rechtes, der heiligen Riten, er muß die heiligen Schriften und Traditionen auslegen und kompetent vermitteln. Er muß insofern immer „mehr wissen", so daß — was bei Nietzsche ja immer wieder durchscheint — ihm eine Nähe, eine an Identität grenzende Nachbarschaft zur Wissenschaft und insbesondere zur Philosophie zukommt. Aber dieses Monopol hat auch seinen Preis; denn der Priester muß sich im Blick auf seinen Dienst gewissen Regeln und Verzichten unterwerfen, Lebensverneinungen, er lebt immer im Schatten asketischer Ideale, was Nietzsches besonderes Interesse erregt hat und wovon später noch die Rede sein wird. Vergleicht man nun dieses etwas schulmäßig entworfene Bild des Priesters mit dem, was wir bei Nietzsche — zunächst hier im Zarathustra — über die Priester finden, so muß das Problem in die Augen springen. Denn diese ihm begegnenden Priester, auf die Zarathustra seine Jünger hinweist, sind ja gar keine echten Mittler mehr, sie haben, da „ G o t t tot ist", nichts mehr zu vermitteln, sie erheben also nur noch den Anspruch, Priester zu sein und werden in dem für sie günstigen Falle dafür angesehen, aber das ist nur noch eine Illusion. Was hat also der Priestertitel eigentlich noch für einen Sinn? Es kommt ein zweites, kleineres Problem hinzu. Wenn nämlich Zarathustra/Nietzsche sagt (4,117): „Aber mein Blut ist mit dem ihren verwandt", so stimmt das nicht. Denn Nietzsches Vorfahren und insonderheit sein Vater waren ja evangelische Pfarrer, Prediger, „Pastoren", aber eben darum keine Priester 3 . Die Reformation hat für jeden ihrer Traditionsstränge das Ende des eigentlichen, vom „ L a i e n " unterschiedenen Priestertums bedeutet; von Stund an war die Funktion des Priesters, wie sie eben beschrieben wurde, keine vom gewöhnlichen Christen unterschiedene exzeptionelle Position, keine durch ein
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Aus dem „homöopathischen Christentum" des protestantischen Landpfarrers (12,484 = 10 [54]) — und das war ja der Fall von Nietzsches Vater — war der „Priester" im strengen Begriff völlig verschwunden.
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besonderes Sakrament begründete Qualität, kein „character indelebilis" mehr. Trotzdem hat es den Anschein, als ob Nietzsche auch die in seiner Familientradition aufscheinenden Predigergestalten zu diesen Priestern habe rechnen wollen. U m ihretwillen fordert er Ehrerbietung für sie. Man könnte übrigens noch hinzufügen, daß Nietzsche selber nie in einem unmittelbaren persönlichen Umgang mit solchen „Priestern" gestanden ist. Auch nicht mit evangelischen, bzw. „protestantischen" Predigern. Und so kann Nietzsche vom Christentum, von der Religion reden, ohne diese „Priester" zu erwähnen oder sich auf Erfahrungen zu berufen, die er mit ihnen gemacht hat. Diese Priester sind offenkundig kein integrierender Bestandteil seines Religionsbegriffes (vgl. 5,264). Und um hier gleich mit einer Umkehrung der Beobachtung fortzufahren: Er kann auch die Priester erwähnen, über sie nachdenken, an ihnen Beobachtungen anstellen, ohne das Christentum zu erwähnen. Die Autorität des Brahmanen (13,363), die ihm im Zusammenhang mit seiner Lektüre von L. Jacolliot, Les législateurs religieux . . . (1876) wichtig ist und der er sein Interesse zuwendet, hat mit dem Christentum auch nicht das Geringste zu tun. Und vollends ist das lange Exzerpt — oder ist es Nietzsches eigene Reflexion? — über den Priester (13,382 = 14 [199]) fernab von allem Hinblick auf das Christentum. Was bleibt also nach all diesen Subtraktionen „theologischer" Bedingungen für das Zustandekommen des Priesterbegriffes im strengen Sinne, bzw. was hat Nietzsche dann eigentlich noch im Blick, wenn er nicht mehr im Ernst mit einem „Mittler" zwischen Gott und Mensch rechnen kann und wenn ihm an einem Unterschied zwischen dem sakramentalen, „katholischen" Priesterbegriff und dem protestantischen Prediger offenbar gar nichts mehr gelegen ist? In welchem Sinne spricht er also vom „Priester"?
3. Offenkundig verrät sich doch in der beiläufig festgehaltenen Lesefrucht aus Baudelaire (13,82) eine einverständige Überraschung. D a lesen wir: „ E s gibt nur 3 respektable Wesen: Priester, Krieger, Poet. Savoir tuer et créer. Die anderen Menschen sind taillables ou corvéables, faits pour l'écurie, cést-à-dire pour exercer ce qu'on appelle des professions." Hier spricht aus Baudelaire der Moralist, und Nietzsche nimmt diese Äußerung auf als Moralist, d. h. es ist die Wahrnehmung des „Priesters" als eines moralischen Typus. Daß dabei „ M o r a l " in einem ganz anderen Sinne zu verstehen ist als in dem in er „Genealogie der M o r a l " abgehandelten, liegt auf der Hand. Sie ist der Inbegriff jener unausgesprochenen Wertvorstellungen und Handlungsantrie-
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be, durch welche der Mensch sich selbst einen Sinn gibt und sich unter den anderen Menschen seinen Platz anweist, sich seiner Stelle in der Rangordnung bemächtigt. Inmitten der Lesenotizen aus L. Jacolliot findet sich unter der Uberschrift „Herkunft der Moral" dann die lange Passage über den Priester 4 : „Der Priester will durchsetzen, daß er als höchster Typus des Menschen gilt daß er herrscht, — auch noch über die, welche die Macht in den Händen haben daß er unverletzlich ist, unangreifbar. . . . daß er die stärkste Macht in der Gemeinde ist, absolut nicht zu ersetzen und zu unterschätzen Mittel . Er allein ist der Wissende. Er allein ist der Tugendhafte. Er allein hat die höchste Herrschaft über sich Er allein ist in einem gewissen Sinn Gott und geht zurück in die Gottheit Er allein ist die Zwischenperson zwischen Gott und den Anderen Die Gottheit straft jeden Nachtheil, jeden Gedanken wider einen Priester gerichtet Mittel Die Wahrheit existiert Es gibt nur eine Form, sie zu erlangen: Priester werden Alles, was gut ist, in der Ordnung, in der Natur, in dem Herkommen, geht auf die Weisheit der Priester zurück. Das heilige Buch ist ihr Werk. Die ganze Natur ist nur eine Ausführung der Satzungen darin Es gibt keinen anderen Quell des Guten als den Priester Alle andere Art von Vortrefflichkeit ist rangverschieden von der des Priesters z. B. die des Kriegers Consequenz: wenn der Priester der höchste Typus sein soll: so muß die Gradation zu seinen Tugenden die Werthgradation der Menschen ausmachen. Das Studium, die Entsinnlichung, das Nicht-Aktive, das Impassible, Affektlose, das Feierliche. — G e g e n s a t z (die tiefste Gattung Mensch: — Das Furchteinflößen die Gebärden, die hieratischen Manieren der Exceß der Verachtung des Leibes und der Sinne — die Widernatur als Anzeichen der Übernatur Der Priester hat Eine Art Moral gelehrt: um selber als höchster Typus empfunden zu werden Er concipirt einen Gegensatz-Typus: den Tschandala. Diesen mit allen Mitteln verächtlich zu machen giebt die Folie ab für die Kasten-Ordnung 4
E s handelt sich offenbar nicht um ein Zitat oder eine Zitatenreihe, sondern um von Jacolliot angeregte und zustimmende Notizen. Die ganze, verhältnismäßige lange Passage 13, 382—384 = 11 [199] läßt Nietzsches eigenen Stil erkennen. Die willkürliche Interpunktion nach der Vorlage.
Nietzsches „ P r i e s t e r "
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seine extreme Angst vor der Sinnlichkeit ist zugleich bedingt durch die Einsicht, daß hier die Kasten-Ordnung (d.h. die Ordnung überhaupt) am schlimmsten bedroht ist . . . Jede „freiere Tendenz" in puncto puncti wirft die Ehegesetzgebung
über den Haufen —" Diese Reflexion im Nachlaß aus dem Frühjahr 1888 verrät nun inmitten lauter Lesefrüchten aus Jacolliot die eigene Handschrift Nietzsches. Interessant ist dabei, daß die Typologie des Priesters schon in der Uberschrift ganz mit dem Moralthema gekoppelt wird. Es ist eine vergleichsweise neutrale Darstellung, sie bezieht dieses Bild des Priesters nirgend ausdrücklich oder gar ausschließlich auf das „christliche" Moralbild, und im Gegensatz zu einer vermutbaren antichristlichen Tendenz werden an diesem „Priester" — man ist versucht, zu sagen: an diesem „Priester überhaupt" — die vor allem für Nietzsches Wertauffassung positiven Züge hervorgehoben: die elitären Züge seiner alles regierenden Weisheit, seine Macht sowohl über die ihm untergebenen Menschen wie über sich selbst und die eigenen vitalen Bedürfnisse. Er ist in vielfältigem Betracht ein „höchster Typus". Er setzt Ordnung und repräsentiert Ordnung, er ist durch seine Tugenden Ursache dafür, daß „die Gradation zu seinen Tugenden die Werthgradation der Menschen ausmachen". An dieser Phänomenologie des Priesters ist nun zweierlei auffällig. Einmal ist sie ohne alle historische Konkretion; es findet sich kein Hinweis darauf, wo man „so etwas" finden kann. Aber das ist nun auch wieder sachlich begründet; denn in der Tat will Nietzsche offenbar einen höchsten moralischen Typus beschreiben, was dann ebenso seine religionsgeschichtliche Bestätigung finden könnte wie es sich in einer Psychologie dieser Moral fortsetzen kann. Auch in anderer Hinsicht ist dieses Bild des Priesters offen. Es ist — wie ich schon hervorhob — zunächst „neutral". Aber es kann diese Neutralität sofort einbüßen. Es ist nur ein kleiner Schritt bis dahin, daß dieser „Priester" eine ganz und gar verwerfliche Gestalt ist, aber ebenso ist es auch möglich, ihn als ehrfurchtgebietend und als unberührbar in seiner „übernatürlichen" Würde aufzufassen. So steigert sich Nietzsche zugunsten der „auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen, welche das Leben schwer und bedeutungstief machen", geradezu zu einer apologetischen Leidenschaft, unter betonter Auszeichnung der Jesuiten: „Ja man darf fragen, ob wir Aufgeklärten bei ganz gleicher Taktik und Organisation eben so gute Werkzeuge, ebenso bewunderungswürdig durch Selbstbesiegung, Unermüdlichkeit, Hingebung sein würden" (2,74). Um der priesterlichen Gestalten willen wird sogar das Christentum bewundert. Es „hat den gesamten Geist zahlloser Unterwerfungslustiger . . . in sich geschlungen, es ist damit . . . . eine sehr geistreiche Religion geworden".
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In diesem Geiste und im Bunde mit der Macht und sehr oft mit der tiefsten Überzeugung und Ehrlichkeit der Hingebung hat es vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen Gesellschaft ausgemeisselt, die es bisher gegeben hat: die Gestalten der höheren und höchsten katholischen Geistlichkeit, namentlich wenn diese einem vornehmen Geschlechte entsprossen waren und von vornherein angeborene Anmuth der Gebärden, herrschende Augen und schöne Hände und Füsse hinzubrachten . . .; hier hält eine Thätigkeit, die im Segnen, Sündenvergeben und Repräsentiren der Gottheit besteht, fortwährend das Gefühl einer übermenschlichen Mission in der Seele, ja auch im Leibe wach; (3,607f.) In der fröhlichen Wissenschaft ( 3 , 5 8 6 f . ) findet sich die Fürsprache „ Z u Ehren der priesterlichen N a t u r e n " . Die darin zu W o r t kommende Hochachtung vor den Priestern nimmt sozusagen ihren Umweg über die Hochachtung des Volkes. Sie gilt „diesen Männern, die zu ihm gehören und aus ihm kommen, aber wie Geweihte, Auserlesene, seinem Wohl Geopferte
— sie
selber glauben sich Gott geopfert — vor denen es ungestraft sein H e r z ausschütten, an die es seine Heimlichkeiten, seine Sorgen und Schlimmeres loswerden
kann (— denn der Mensch, der „sich mittheilt", wird sich selber
los; und wer „bekannt" hat, vergisst)." Hier wird weniger, als an anderen zugunsten der Priester sprechenden Stellen der Gedanke ihrer Macht, ihrer Selbstüberwindung, ihrer schon ins „Ubermenschliche" weisenden Funktion, als vielmehr eine gewisse Biederkeit, die Volkstümlichkeit des „Landpfarrers" geltend gemacht und gegen den Typus des Philosophen ausgespielt, dessen vermeintliche Überlegenheit über den vom Volk angenommenen und anerkannten Weisen sehr skeptisch betrachtet wird. Freilich bleibt es dabei, daß die Kirche ursprünglich ein Herrschaftsgebilde ist — der „letzte Römerbau" — von dem Nietzsche ( 3 , 6 0 2 f f . ) mit der Leidenschaft eines katholischen Apologeten in Abwehr der Lutherischen Reformation, ihres Unverständnisses der Kirche sprechen kann. U n d was hat nicht Luther dem Priester angetan! E r hat ihn seiner Ausnahmeposition beraubt, indem er ihn aus der Zölibatspflicht entlassen und ihm die Ohrenbeichte genommen hat. „Aber damit war im Grunde der christliche Priester selbst abgeschafft, dessen tiefste Nützlichkeit immer die gewesen ist, ein heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein Grab für Geheimnisse zu sein. „Jedermann sein eigener Priester" — hinter solchen Formeln und ihrer bäurischen Verschlagenheit versteckt sich bei Luther der abgründliche Hass auf den „höheren Menschen" und die Herrschaft des „höheren Menschen", wie ihn die Kirche concipirt hatte: — er zerschlug ein Ideal, das er nicht zu erreichen wusste, während er die Entartung dieses Ideals zu bekämpfen und zu verabscheuen schien. Thatsächlich stiess er, der unmögliche Mönch, die Herrschaft der homines religiosi von sich; er machte also gerade Das selber innerhalb der kirchlichen Gesellschafts-Ordnung, was er in Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte, — einen „Bauernaufstand"." (3,604)
Nietzsches „Priester"
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Nietzsche hat sich also hier der katholischen Kritik (J. Janssens?) an der Reformation unbedenklich angeschlossen und die Proklamation des „allgemeinen Priestertums aller Gläubigen" schlichtweg im Sinne seiner — positiven — Einschätzung des Priesters als Symptom der „Verflachung des europäischen Geistes" gedeutet. Er hat sich nicht weiter dabei aufgehalten, daß diese reformatorische Idee nur die Wiederbelebung eines neutestamentlichen Gedankens darstellt, demzufolge — nicht etwa jedermann, sondern — die Getauften ein von der Welt unterschiedenes „auserwähltes Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums" darstellen sollen. Der elitäre Charakter des Priestertums ist also in diesem neutestamentlichen Konzept durchaus erhalten. Von der anderen neutestamentlichen Umformung des Priesterbegriffes, nämlich in ein christologisches Prädikat, ist hier nicht zu reden. 5 Wichtiger und in gewissem Sinne verwirrender für das Verständnis Nietzsches ist dann der eigentümliche Umschlag in der Bewertung des Priesters, wie er sich in der ersten Abhandlung der „Genealogie der M o r a l " mit deren 6. und 7. Absatz anspinnt (5,264ff.). Hier erscheint die priesterliche Aristokratie als eine Nebenform der ursprünglichen Herrschaft der Starken; das Gefährliche dieser anderen höchsten Kaste, die zugleich die priesterliche Kaste ist, liegt zunächst einfach darin, daß sich die Wertungs-Gegensätze auf eine gefährliche Weise verinnerlichen und vergeistigen. Es werden dadurch neue, unerwartete Klüfte zwischen Mensch und Mensch aufgerissen. „ E s ist von Anfang an etwas Ungesundes in solchen priesterlichen Aristokratien und in den daselbst herrschenden, dem Handeln abgewendeten, theils brütenden, theils gefühls-explosiven Gewohnheiten, als deren Folge jene den Priestern aller Zeiten fast unvermeidlich anhaftende intestinale Krankhaftigkeit und Neurasthenie erscheint; was aber von ihnen selbst gegen diese ihre Krankhaftigkeit als Heilmittel erfunden worden ist, — muss man nicht sagen, dass es sich zuletzt in seinen Nachwirkungen noch hundert Mal gefährlicher erwiesen hat als die Krankheit, von der es erlösen sollte? Die Menschheit selbst krankt noch an den Nachwirkungen dieser priesterlichen Kur-Naivetäten!" Der nun folgende Uberblick über die asketische Praxis der Priester, in deren Reihe dann auch Fakir und Brahmanen erscheinen, erfolgt zur Veranschaulichung der Gefährlichkeit aller dieser Mittel und Künste. Aber es bleibt nicht bei diesem moralischen Verdikt. Denn unvermittelt wird diesem negativen Erscheinungsbild eine positive Kehrseite abgewonnen: „dass erst auf dem Boden dieser wesentlich gefährlichen Daseinsform des Menschen, der priesterlichen, der Mensch überhaupt ein interessantes Thier geworden ist, dass erst hier die menschliche Seele in einem
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Zum Priestertum aller Gläubigen vgl. 2 Petr 2 , 5 u. 9 ; Off 1 , 6 ; 5 , 1 0 ; 2 0 , 6 . Zum Priesterbegriff als einem christologischen Prädikat Hebr 5 u. 7.
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höheren Sinne Tiefe bekommen hat und böse geworden ist — und das sind ja die beiden Grundformen der bisherigen Überlegenheit des Menschen über sonstiges Gethier! . . " (5,266). Dieses Schwanken in der Bewertung des Priesters, freilich mit der unverkennbaren Tendenz zur endgültigen Abwertung, setzt sich auch in den folgenden Schriften fort. In der Götzendämmerung (6,147) ist im 45. Abschnitt die Rede von dem „Tschandala-Gefühl, dass man nicht als gleich gilt, sondern als ausgestossen, unwürdig, verunreinigend. Alle solche Naturen haben die Farbe des Unterirdischen auf Gedanken und Handlungen; an ihnen wird Jegliches bleicher als an Solchen, auf deren Dasein das Tageslicht ruht. Aber fast alle Existenzformen, die wir heute auszeichnen, haben ehemals unter dieser halben Grabesluft gelebt: der wissenschaftliche Charakter, der Artist, das Genie, der freie Geist, der Schauspieler, der Kaufmann, der große Entdecker . . . So lange der Priester als oberster Typus galt, war jede werthvolle Art Mensch entwerthet. . . Die Zeit kommt — ich verspreche das — wo er als der niedrigste gelten wird, als unser Tschandala, als die verlogenste, als die unanständigste Art Mensch . . und in demselben Sinne fortfahrend: „So lange der Priester noch als eine höhere Art Mensch gilt, dieser Verneiner, Verleumder, Vergifter des Lebens von Beruf, giebt es keine Antwort auf die Frage: was ist Wahrheit?" (6,175). Daß der Priester für Nietzsche ein moralischer Typus ist, das zeigt sich darin, daß sein religionsgeschichtlicher Ort gleichgültig wird. Er steht ganz und gar im Dienste der „Moral", und dies in einem — expressis verbis — abstrakten Sinne: „Die Moral, nicht mehr der Ausdruck der Lebens- und Wachsthums-Bedingungen eines Volks, nicht mehr sein unterster Instinkt des Lebens, sondern abstrakt geworden, Gegensatz zum Leben geworden, — Moral als grundsätzliche Verschlechterung der Phantasie, als „böser Blick" für alle Dinge. Was ist jüdische, was ist christliche Moral?" (6,194). Und so kann es eigentlich nicht überraschen, daß sich Nietzsche in unmittelbarer Fortsetzung dieser Stelle aus dem „Antichrist" gegen die jüdische Priesterschaft wendet. Sie haben jenes Wunderwerk von Fälschung zustandegebracht, indem sie „ihre eigene Volks-Vergangenheit mit einem Hohn ohnegleichen gegen jede Uberlieferung, gegen jede historische Realität ins Religiöse übersetzt, das heisst, aus ihr einen stupiden Heils-Mechanismus von Schuld gegen Javeh und Strafe, von Frömmigkeit gegen Javeh und Lohn gemacht (haben)" (6,195). Das ist nun eine überaus interessante Passage. Nietzsche, der hier offenkundig ganz unter dem Eindruck der Lektüre von J . Wellhausens „Prolegomena zur G e schichte Israels" ( 1 8 8 3 ) steht, nimmt unversehens die Priester als Schriftsteller, und man darf wohl annehmen, daß die „Priesterschrift" des Pentateuchs schon durch ihren Titel hier insgeheim das Interpretationsschema Nietzsche abgibt: Die Priester überset-
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zen die Überlieferung ins „Religiöse", und das kann für Nietzsche nur heißen: sie bringen den ganzen Stoff unter moralische Kategorien. D a das aber seither der Stil der kirchlichen Geschichts-Interpretation gewesen ist, sind wir stumpf geworden für die Forderungen der Rechtsschaffenheit in historicis. U n d nicht genug damit, daß „die Lüge der sittlichen W e l t o r d n u n g " und der alles durchziehende Glaube an die H e r r schaft des „Willens G o t t e s " das Geschichtsbild, ja das ganze Leben bestimmt — „ D i e Realität an Stelle dieser erbarmungswürdigen Lüge heisst: eine parasitische A r t Mensch, die nur auf Kosten aller gesunden Bildungen des Lebens gedeiht, der Priester, missbraucht den N a m e n Gottes. . . . "
Und damit wären wir wieder bei den Priestern; wohlgemerkt: bei den Priestern überhaupt, gleichviel, ob es sich um die jüdischen oder welche auch immer handelt. Dieser Priester zieht sozusagen die Fäden, er manipuliert den Willen Gottes und was als Gehorsam oder Ungehorsam gegen ihn zu gelten hat. Und er setzt nicht nur die Steuern fest, die man ihm für seine Dienste zu zahlen hat, er „formulirt, was er haben will", „was der Wille Gottes ist". . . . D a ß Nietzsche durch seine Einblicke in das alttestamentliche Priesterrecht dann für einen Augenblick aus dem Auge verliert, daß ja eigentlich das Christentum das T h e m a war, geht unter in den maßlosen Angriffen auf den Priester überhaupt. D a ß dieser „ein Beefsteak-Fresser" ist, das wird man dann wohl hinnehmen müssen, wenn es auch mit den asketischen Grundsätzen des Priesters und seiner Verneinung der N a t u r nicht auf den ersten Blick vereinbar sein mag. E r ist und bleibt „die gefährlichste A r t Parasit, als die eigentliche Giftspinne des L e b e n s " ( 6 , 2 1 0 , 2 5 f . )
Und doch ereignet sich inmitten dieser Invektiven, dieses Stromes von Beschimpfungen eine plötzliche Windstille. Es vollzieht sich „der Fall . . . ersten Ranges" (6.197,25), nämlich eine unerwartete Suspension aller Motive, welche gegen den Priester sprechen. „Das „heilige Volk", das für alle Dinge nur Priester-Werthe, nur Priester-Worte übrig behalten hatte, und mit einer Schluss-Folgerichtigkeit, die Furcht einflössen kann, alles, was sonst noch an Macht auf Erden bestand, als „unheilig", als „Welt", als „Sünde" von sich abgetrennt hatte — dies Volk brachte für seinen Instinkt eine letzte Formel hervor, die logisch war bis zur Selbstvernichtung: es verneinte, als Christentum, noch die letzte Form der Realität, das „heilige Volk", das „Volk der Ausgewählten", die jüdische Realität selbst. Der Fall ist ersten Ranges: die kleine aufständische Bewegung, die auf den Namen des Jesus von Nazareth getauft wird, ist der jüdische Instinkt noch einmal, anders gesagt, der PriesterInstinkt, der den Priester als Realität nicht mehr verträgt Das Christenthum verneint die Kirche . . . " (6,197) Wir sind hier inmitten der Reflexionen Nietzsches zum zweiten Mal mit dem Ende, mit der Verneinung des Priesters im Christentum bzw. durch das Christentum konfrontiert. Das erste Mal war es im Zuge der Reformation Luthers geschehen. Damals — wir erinnern uns wohl — hatte es die positive Bewertung der priesterlichen Aristokratie zur Voraussetzung und diente als
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Nachweis der Pöbelhaftigkeit der Reformation. Nun gerät diese Endschaft des Priestertums im Christentum zu einem Lichtblick. Freilich nicht ohne Weiteres und von Anfang an; denn zunächst ist ja offenbar nur eine gegen sich selbst gerichtete Ubersteigerung des jüdischen Instinktes am Werk. Aber Nietzsche kommen dann Zweifel, ob er mit dieser Auslegung dem „Problem der Psychologie des Erlösers" (6,198ff.) gerecht wird. Denn es ist durchaus damit zu rechnen, daß sein Typus gar nicht mehr vorstellbar, daß er gar nicht überliefert ist, weil er sich jeder Möglichkeit einer Uberlieferung entzieht. Die beiden Begriffe, mit denen Renan, „dieser Hanswurst in psychologicis" Jesus zu begreifen versucht, nämlich als „Genie" und „Held („héros")", sind natürlich Unsinn, aber sie machen Nietzsche auf die Einzigartigkeit Jesu aufmerksam. Lesen wir im Nachlaß aus dem Frühjahr 1888 (13,396.21) noch den Satz: „Das Christentum strich den Priester aus", so meint das ganz offenkundig ein „Christentum" im uranfänglichen Sinne, es meint Jesus selber, wie er „historisch" eigentlich gar nicht faßbar ist. Aber eben für diese kaum historisch noch faßbare Gestalt des Erlösers spielt ja der Priester gar keine Rolle. Sein „Evangelium" seine Religion der Liebe — ohne alles Ressentiment, ohne Rache — war ohne den theologischen Apparat, es war reine Praktik. „ E r redet bloss vom Innersten, . . . alles Übrige, die ganze Realität, die ganze Natur, die Sprache selbst, hat für ihn bloss den Werth eines Zeichens, eines Gleichnisses. . . . Eine solche Symbolik par excellence steht ausserhalb aller Religion, aller Cult-Begriffe, aller Historie, aller Naturwissenschaft, aller Welt-Erfahrung, aller Kenntnisse, aller Politik, aller Psychologie, aller Bücher, aller Kunst — sein „Wissen" ist eben die reine Thorheit darüber, dass es Etwas dergleichen giebt. Die Cultur ist ihm nicht einmal vom Hörensagen bekannt, er hat keinen Kampf gegen sie nöthig, — er verneint sie nicht . . . " (6,204). Insofern stimmt der Satz nicht, daß das Christentum die Priester ausgestrichen habe; denn — sofern es sich eben um diese Urgestalt des Evangeliums, um den vor aller historischen Faßbarkeit liegenden Jesus handelt, so lag ja gar kein Priestertum im Blick, es war sozusagen „gar nicht da". Aber Nietzsche hält dieses Bild nicht durch, es oszilliert in seinen Augen dadurch, daß er unversehens zu einem Element des Aufstandes wird. Nietzsche rechnet selbst damit, daß, von allen zwischen eingekommenen Mißverständnissen der Anhänger einmal abgesehen, „der Typus könnte, als décadence-Typus, thatsächlich von einer eigenthümlichen Vielheit und Widersprüchlichkeit gewesen sein: eine solche Möglichkeit ist nicht völlig auszuschließen. Trotzdem räth alles ab von ihr: gerade die Überlieferung würde für diesen Fall eine merkwürdig treue und objektive sein müssen: wovon wir Gründe haben das Gegentheil anzunehmen. Einstweilen klafft ein Widerspruch zwischen dem Berg- See- und Wiesen-Prediger, dessen Erscheinung wie ein Buddha auf einem sehr wenig indischen Boden anmuthet, und jenem Fanatiker des
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Angriffs, dem Theologen- und Priester-Todfeind, den Renan's Bosheit als „le grand mäitre en ironie" verherrlicht hat. Ich selber zweifle nicht daran, dass das reichliche Maass Galle (und selbst von esprit) erst aus dem erregten Zustand der christlichen Propaganda auf den Typus des Meisters übergeflossen ist . . . " (6,202). Man sieht jedenfalls, daß das „Christentum" begrifflich nicht eindeutig ist. „Das Leben des Erlösers war nichts andres als diese Praktik, — sein Tod war nichts andres. . . . Er hatte keine Formeln, keinen Ritus für den Verkehr mit Gott mehr nöthig — nicht einmal das Gebet. . . . die evangelische Praktik allein führt zu Gott, sie eben ist „ G o t t " — Was mit dem Evangelium abgethan war, das war das Judenthum der Begriffe „Sünde", „Vergebung der Sünde", „Glaube", „Erlösung durch den Glauben" — die ganze jüdische Kirchen-Lehre war in der „frohen Botschaft" verneint (6,205.25 ff.).
4. Schließlich ist dann doch in einem größeren Textzusammenhang von den „Priestern" die Rede, nämlich in der „Dritten Abhandlung" der „Genealogie der Moral": „Was bedeuten asketische Ideale?". Nach dem Durchgang der Betrachtung durch einige andere Varianten dieser Ideale sind es vom § 11 ab nur noch die „asketischen Priester", welche die Aufmerksamkeit Nietzsches faszinieren — zu faszinieren scheinen, wie wir sehen werden. In ihnen sammelt sich alles, was in den vorausgehenden Texten des Buches über die Entstehung der Moral aus dem Ressentiment der Schlechtweggekommenen zu lesen ist. Aber eben die Gestalt des „Priesters" bringt eine neue Note in das Bild. Denn dieser Priester übt Macht aus. Er ist sozusagen selber mehr als nur ein landläufiges Produkt der Genealogie der Moral, wie sie uns Nietzsche bis dahin beschrieben hat. Und diese Macht besteht nicht nur darin — was an sich zur giftigen Wirkung der aus dem Ressentiment geborenen Moral gehört — daß sie auf die Starken wirkt und sie zugunsten der Schwachen und Kranken verunsichert, sondern der Priester übt diese Macht auf seinesgleichen aus. Er sucht die Kranken bis zu einem gewissen Grade unschädlich zu machen, indem er sie z. B. in eine Organisation zusammendrängt, in einer „Kirche" sammelt und diszipliniert. Er ist nicht eigentlich ein Arzt, er bekämpft zwar das Leiden in dem Sinne, daß er die Unlust bekämpft, welche durch das Leiden erregt wird, aber er bekämpft nicht die Ursache desselben. Dieser Kampf mit dem Unlustgefühl sieht nun so aus, daß der Priester das Lebensgefühl ganz allgemein auf den niedrigsten Punkt herabsetzt, das Lebensgefühl — nach den Vorbildern im Tierreich — sozusagen in einen Winterschlaf (oder
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auch Sommerschlaf) versetzt, welcher dem Lebewesen ein Minimum an Stoffverbrauch ermöglicht. Es gibt unschuldige Mittel gegen die Unlust des Leidens, wohl aber auch „schuldige", die eben durch die Ausschweifungen des Schuldgefühls gekennzeichnet sind: alles wird mit Moral zugedeckt und geschönt. Die Einbuße an Vitalität und ursprünglicher Lebenslust geht mit dem Zugewinn an neuen und andersartigen Lustelementen H a n d in H a n d ; die Verzückung des Mystikers ist eine drastische Veranschaulichung einer weitabgewandten Lust. Es kommt in dem Drama der Moral durch den „asketischen Priester" zu der paradoxen U m k e h r : Der asketische Priester hilft leben! Er erregt stärkste lebensbejahende Triebe, wenn auch eigener Art und in vorsichtiger Dosierung. So organisiert er z. B. den Herdentrieb; denn während die Starken ihrer Natur nach auseinanderstreben, um einzeln auf sich selbst zu stehen, streben die Schwachen zueinander und folgen ihrem Herdentrieb. Sie bilden Gemeinden und erleben darin ein neues und eigenes Machtgefühl. Es klingt schlimm: Der asketische Priester übt Macht über eine Herde der Mißratenen, der er als Hirte vorangeht. Mag dieser Herde auch ein Nein zum Leben zugrunde liegen, so tritt doch eine Fülle zarterer Ja's zum Leben durch das Walten des Priesters ans Licht (5,367). Wir haben es in ihm mit einem Gegentypus des Lebens zu tun. Dieses unser Leben ist für ihn nur die Brücke für ein anderes, besseres Dasein. Daher der Kampf der Kranken gegen die Gesunden (5,370), daher ist die Herrschaft über die Leidenden das Reich des asketischen Priesters. Aber darauf gründen auch die Vorzüge, ja, darauf gründet sich geradezu die Notwendigkeit des Priesters und sein Recht zum Dasein. Er erweist sich als schaffender Psychologe (5,329f.), er weiß Wege aus dem — von ihm sorgsam gepflegten — Schuldgefühl zu einem guten Gewissen. Der asketische Priester ist der Meister der religiösen Interpretation, das wenn auch von der Sünde getrübte Leben wurde durch ihn wieder sehr interessant. Der asketische Priester ist der alte große Zauberer im Kampf mit der Unlust der verdorbenen Gesundheit. U n d so hat der Priester, unterschieden von den anderen Kranken, seine verborgenen Vorzüge: er ist unversehrt in seinem Willen zur Macht (5,372), auch er m u ß Kriege führen, wenn auch anderer Art, er ist ein Richtungsveränderer des Ressentiment (5,373), er „ist die erste Form des delikateren Thiers, das leichter noch verachtet als hasst" (5,372). Man sieht, daß der Gegentypus des Lebens, der im asketischen Priester verkörpert ist, sehr weit reicht. Die „drei großen Prunkworte des asketischen Ideals sind Armuth, Demuth, Keuschheit: und nun sehe man sich einmal das Leben aller großen fruchtbaren erfinderischen Geister aus der Nähe an, — man wird darin alle drei bis zu einem gewissen Grade immer wiederfinden." (5,352). Aber Nietzsche will nun nicht wahrhaben, daß das „etwa deren Tugenden wären — was hat diese Art
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Mensch mit Tugenden zu schaffen! — sondern als die eigentlichsten und natürlichsten Bedingungen ihres besten Daseins, ihrer schönsten Fruchtbarkeit" (5,352). Demgegenüber dann die Nachäffung der Tugenden durch die Schwachen und Heillos-Krankhaften, welche die Tugend jetzt ganz und gar in Pacht genommen haben (5,369). Gegenbildlich ist der priesterliche Machtinstinkt, gegenbildlich der verborgene Wille zum Leben, der sich unter dem Wohlgefallen an der Selbstgeißelung durchsetzt. Im Sinne dieser Gegenbildlichkeit sorgt der asketische Priester dafür, daß es in seinem Reiche nicht langweilig wird, er ist auf Gefühlsausschweifung bedacht (5,388). Er erweist sich als Meister der Psychologie und gestaltet mit den Mitteln der „religiösen Interpretation" von Schuld und Sünde ein ganzes Drama innerer Gefühle. Und diese Ausschweifung der Gefühle macht sich bezahlt: nicht durch die Heilung der Depressionen, wohl aber durch die Bekämpfung der mit ihnen verbundenen Unlust. „Das Leben wurde wieder sehr interessant", man lechzt nach Schmerz, nach mehr Schmerz, die Krankhaftigkeit ist jedesmal in die Tiefe und Breite geraten. Der Mensch ist in diesem Sinne — in Nietzsches Sinne — kränker geworden, d. h. aber auch „gebessert", nämlich gezähmt, geschwächt, entmutigt, raffiniert, verzärtlicht, entmannt. Es klingt wie eine Genealogie der Zivilisation, aber der kritische Leser kann das zweifelhafte Bedenken nicht unterdrücken, ob hier Nietzsche wirklich nur „das eigentliche Verhängnis in der Gesundheitsgeschichte des europäischen Menschen" (5,392) beschreibt, oder nicht auch zugleich jene Bedingungen, unter denen er, Nietzsche selbst, eben zu der Psychologie gelangt ist, deren Hintergründigkeit er sich immer wieder rühmt. Auf der einen Seite steht natürlich für Nietzsche die Lebensfeindlichkeit des übermächtigen asketischen Ideals außer Zweifel, aber auf der anderen Seite konzediert er dann doch, daß der asketische Priester, indem er z. B. die „Nächstenliebe" verordnet, im Grunde eine Erregung des stärksten, lebenbejahenden Triebes, wenn auch in der vorsichtigsten Dosierung verordnet, des Willens zur Macht (5,383). Wieweit ist Nietzsche dann eigentlich selber in dem durch das asketische Ideal ausgelösten Drama befangen? Denn auch die Wissenschaft ist dem asketischen Ideal nicht antagonistisch entgegengestellt — da glaubt man noch an die Wahrheit (5,399) — sie redet dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich selbst aus, sie rückt ihn unerbittlich aus dem Mittelpunkt der Welt. Aber diese Abrechnung mit dem Wahrheitswillen ist bei Nietzsche recht zwiespältig. Gewiß, was sich da in der heutigen Wissenschaft herumtreibt, „diese Verneinenden und Abseitigen von Heute, . . . alle diese blassen Atheisten, Antichristen, Immoralisten, Nihilisten, diese Skeptiker, Ephektiker, Hektiker des Geistes . . . Das sind noch lange keine freien Geister: denn sie glauben noch an die Wahrheit . . ." (5,398f.). Aber andererseits gilt dann
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doch: Der Wille zur Wahrheit ist der Rest des asketischen Ideals — im Grunde sogar sein Kern (5,409); er verbietet sich die Lüge des Glaubens an Gott und führt dadurch angesichts der Kontinuität der abendländichen Geschichte des Umgangs mit der Wahrheit eine Katastrophe ohnegleichen herauf. Die immer strengere Moralität hat einen immer unerbittlicheren Begriff der Wahrhaftigkeit im Gefolge. Dergestalt ging das Christentum als Dogma zugrunde und dann — wenn diese Kurzformel erlaubt ist — als Moral an der Moral. Nietzsche zitiert sich selbst (5,409f.): „Die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; . . . das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich . . " und dann weiter: „Dergestalt gieng das Christenthum als Dogma zu Grunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muss nun auch das Christenthum als Moral noch zu Grunde gehn." Es ist in der Tat, wie Nietzsche sagt, ein großes Schauspiel: Ohne das asketische Ideal „hatte der Mensch, „das Thier Mensch bisher keinen Sinn" (5,411), und das asketische Ideal bot ihm einen Sinn. Man kann die abschließenden Sätze zu diesem Gedankengang am Ende der „Genealogie der Moral" freilich nun auch umdrehen: Es bleibt, auch wenn bei Nietzsche die Schatten des Nihilismus sich über das asketische Ideal breiten, doch auch bei der unmittelbar zuvor aufscheinenden Einsicht: Der Mensch war durch das asketische Ideal gerettet.
5. Es kann auffallen, daß gegen Ende der Dritten Abhandlung der „Genealogie" vom „asketischen Priester" immer weniger und zuletzt gar nicht mehr die Rede ist. Und so wiederholt sich denn die Frage nach dem Realitätsgehalt dieser Figur: Gibt es diesen Priester überhaupt und wodurch wirkt er eigentlich? Ist er ein Modell, ein Vorbild, ist er Lehrer oder Prediger und welcher Art ist seine Autorität? Zweifellos repräsentiert er eine Wertordnung, die Macht eines Moralsystems. Solange der Priester noch greifbar vor Augen steht, ist er für Nietzsche — wenn auch in tiefe Ironie getaucht — mit dem Flair einer gewissen Ubermenschlichkeit ausgestattet. „Der Priester als Repräsentant eines übermenschlichen Machtgefühls, selbst als guter Schauspieler eines Gottes, den darzustellen sein Beruf ist, wird instinktiv nach solchen Mitteln greifen, wodurch er eine gewisse Furchtbarkeit in der Gewalt über sich erlangt. Der Priester als Repräsentant von übermenschlichen Mächten, in Hinsicht auf Erkenntnis, Vorherwissen Fähigkeit zu schaden und zu nützen,
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auch in Hinsicht auf übermenschliche Entzückungen und Arten des Glücks . . ." (12,272 = 7 [5]). Aber das ist ja nur „Schauspielerei", die nichts hinter sich hat. Vielleicht ist auch in der Figur dieses asketischen Priesters jene „Vernunft" in der Sprache wirksam, welche Nietzsche in der „Götzen-Dämmerung" ihrer Mitwirkung zum Glauben an Gott beschuldigt: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben" (6,78); d. h. in unserem Falle, daß die Grammatik Nietzsche verführte, sich zu einem durch die List einer hintergründigen Psychologie wirksamen Wertungs-System ein Subjekt hinzudenken, nämlich eben diesen „asketischen Priester". An seiner Stelle ist jedenfalls gegen Ende der „Genealogie" nur noch vom asketischen Ideal die Rede. 6 Der asketische Priester wird nun bestenfalls zu einer verdämmernden Lichtgestalt, er verliert als organisierende Mitte des auch in den Unterdrückten und Sklaven wirksamen Willens zur Macht (12,412 = 9 [145]) seine Glaubhaftigkeit. Der alten, bisherigen Moral wird wohl noch ein gewisser Interimswert zugestanden, und hinsichtlich ihrer Fortgeltung und ihres Nutzens finden sich bei Nietzsche zuweilen hintersinnige und zwielichtige Bilanzen, z. B. 12,277 und 13,286 = 14 [108]. Eine besonders unvorteilhafte Rolle ist übrigens von Nietzsche dem säkularisierten Nachfolger, der „Weiterentwicklung des priesterlichen Typus" (13,376 = 14 [189] zugedacht, dem „Halbpriester", dem Philosophen (13,452 = 15 [71]). Aber auch über die scheinbar alles beherrschende Krise der Moral bleibt diese Moral beherrschendes Thema: Die Religion wird, vollends „nach dem Tode Gottes" zum ausschließlichen Moralproblem, Wille zum Leben und Wille zur Macht werden in ihren Konsequenzen Probleme der „Moral". Freilich nun nicht mehr der alten, bisherigen Moral, sondern der ihrer Wertmaßstäbe sicher gewordenen Moral. Und von ihr gilt: sie hat Vorrang in der Herrschaft über die ästhetischen Werte (12,431 = 9 [161]), ja alle Wertmaße, die religiösen, ästhetischen, wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen sind von den moralischen abhängig (12,292 = 7 [8]). Und so zeichnet sich hier noch einmal mehr der von Nietzsche so oft beschworene Gedanke der Rangordnung der Werte ab, der sich dann in der späteren Ethik bei Max Scheler und Nicolai Hartmann als fortgesetzt fruchtbar erwiesen hat. Es kann keine Rede davon sein, daß der Moralbegriff auf die alte, die bisherige oder gar die „christliche" Moral beschränkt bleibt. Eine neue Moral, die Moral der Zukunft, liegt im Blick: „Unsere Tugenden — Fingerzeige zu einer Moral der Zukunft" (12,78 = 2[31]), und in dem dann folgenden Projekt werden diese Tugenden genannt: Stärke der Seele, Redlichkeit, Heiterkeit, 6
Vgl. zu diesem grammatikalen Zwang jetzt auch D. Henke: Gott und Grammatik. Nietzsches Kritik der Religion, Pfullingen 1981.
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Wolfgang Trillhaas
Wille zur Einsamkeit, Vornehmheit. Es ist eine Zukunft, welche sicherlich schon in einigen auserwählten Gestalten aufscheint. Aber man wird auch gewiß sein dürfen: die Zukunft des „Übermenschen" liegt auch noch jenseits dieser Zukunft, in der sich diese „neue Moral" verwirklicht, in unerreichbarer, in eschatologischer Ferne.
KARL
ULMER|
NIETZSCHES PHILOSOPHIE IN IHRER B E D E U T U N G FÜR DIE GESTALTUNG DER WELTGESELLSCHAFT
DER AUSBRUCH
AUS DER UNIVERSITÄTSPHILOSOPHIE
II*
Herausgegeben von Werner Stegmaier Mein Thema verknüpft die Philosophie Nietzsches mit einer Fragestellung, die eindeutig eine Aufgabe unserer Gegenwart ist: Welche Gestalt nimmt die sich bildende Weltgesellschaft an, und was wird darin und dadurch aus dem Menschen? Das ist eine Frage und Aufgabe, die jeden von uns betrifft. So wenig der einzelne dazu beitragen kann, sie zu beantworten und zu entscheiden, so wenig kann er sie nur den Politikern überlassen, weil es darin nicht nur um das Uberleben in einer Völkergemeinschaft geht, sondern auch darum, was darin und dadurch aus dem Wesen des Menschen wird. Deswegen ist es heute von höchster Wichtigkeit, zu sehen und zu zeigen, daß der Philosophie bei dieser Aufgabe eine entscheidende Bedeutung zukommt. *
Den vorliegenden Aufsatz trug Karl Ulmer, der am 13. April 1981 in Wien verstarb, in einer ersten, vorläufigen Form 1979 auf einer Nietzsche-Tagung in St. Moritz vor, die stark erweiterte und vertiefte Fassung war für die Nietzsche-Tagung auf der Reisensburg 1980 vorgesehen, an der Ulmer jedoch nicht mehr teilnehmen konnte. Unter den Titel „ D e r Ausbruch aus der Universitätsphilosophie" hatte er auch seine „Erinnerung an die Grundintention des Gesamtwerkes von Wilhelm Dilthey" (in: Perspektiven der Philosophie 4, 1978, 379—416) gestellt; er sollte schließlich auch über einem geplanten Aufriß seines eigenen philosophischen Ansatzes stehen und so eine Trias der „Begründung der Philosophie aus der Erfahrung des gegenwärtigen Zeitalters" zusammenfassen. Ulmer konnte bei der Fertigstellung des Aufsatzes die Fügung der Gedanken noch vollständig ausbilden und verdichten, ihn aber nicht mehr in die endgültige sprachliche Form bringen. So war es am Herausgeber, die Endredaktion ohne das ständige Gespräch mit ihm vorzunehmen und, so zurückhaltend wie möglich und ohne in den Gedankengang einzugreifen, Satzbau und Stil die gewohnte unprätentiöse Klarheit zu geben. Handschriftliche Ergänzungen des Typoskripts wurden ausformuliert und in den Text aufgenommen, soweit sie sich nahtlos einfügen ließen. An einer Stelle wurde nach einem Hinweis Ulmers ein Satz aus einem seiner anderen Nietzsche-Manuskripte ergänzt (S. 71 „Die Geschichte . . . fallenden Lebensgestaltung."). Die Zitate wurden überprüft und der K G W angepaßt, Ulmers Nachweise nach dem „Willen zur Macht" (WM) dabei aber festgehalten. Briefe Nietzsches aus der Zeit nach dem Jahr 1879, bis zu dem die K G B inzwischen fortgeschritten ist, wurden nach dem Kröner-Band „Nietzsche in seinen Briefen und Berichten der Zeitgenossen. Die Lebensgeschichte in Dokumenten" (hrsg. v. A. Baeumler, Stuttgart 1932) zitiert.
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Das ist meine erste These, die im Thema bereits angesprochen ist: Die Lösung dieser Aufgabe kann ohne Philosophie nicht gelingen. Ihr Beweggrund ist nicht, zu versuchen, die Philosophie durch die Verbindung mit dieser Aufgabe aufzuwerten und ihr wieder eine aktuelle Bedeutung zu geben, sondern es geht umgekehrt darum, zu sehen, daß diese Aufgabe selbst eine philosophische Dimension enthält und darum ohne die Philosophie nicht gelöst werden kann. Mag diese These schon bedenklich erscheinen, so sicherlich noch mehr unsere Absicht, mit dieser aktuellen Fragestellung an die Philosophie Nietzsches heranzutreten und sie damit zu verbinden. Gegenüber einem solchen Bedenken ist aber grundsätzlich zu fragen: Welchen Sinn soll unsere Beschäftigung mit der Philosophie überhaupt und mit der überlieferten Philosophie insbesondere haben, wenn wir nicht der Uberzeugung sind, daß wir durch sie Einsichten gewinnen, die auch für uns heute fruchtbar und notwendig sind und die uns helfen können, unsere gegenwärtigen Aufgaben zu bewältigen? Das Befremden, daß wir dabei auch bei der überlieferten Philosophie anfragen, und die Gefahr, daß wir damit unsere gegenwärtigen Probleme und Aufgaben in die Vergangenheit hineinprojizieren, wird wohl geringer, wenn wir bedenken, daß die Grundsituation des Menschen sich kaum so schnell wandeln wird, daß nicht auch schon die Jahrhunderte vor uns auf die mit ihr verbundenen grundsätzlichen Fragen und Aufgaben gestoßen sind und darum ihre Erfahrungen und Versuche zu einer Antwort für uns hilfreich sein können und nicht verloren gehen dürfen. So ist in unserem Thema schon die zweite These enthalten, daß die Philosophie seit Beginn der Neuzeit eine Bedeutung als Grundlage der Gestaltung des menschlichen Lebens und der menschlichen Gesellschaft gehabt hat. Bis zu Nietzsche hin hat sich das Bewußtsein dieser Bedeutung und ihre praktische Auswirkung so weit entwickelt, daß er die zentrale Funktion der Philosophie für die neue Situation der beginnenden Weltgemeinschaft sieht. Dabei geht es mir nicht darum, zu zeigen, daß Nietzsche als erster die uns heute bewegende Aufgabe erkannt hätte — das wäre wiederum nur von historischem Interesse —, sondern darum, daß er Einsichten in ihre Dimension und Struktur gewonnen hat, die die Philosophie seitdem nicht wieder erreicht hat, die heute vielmehr verloren zu gehen drohen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint mir die Erinnerung an Nietzsches Beitrag zu diesem Problem wesentlich. Obwohl die Aufgabe selbst seit Nietzsche so viel deutlicher und allen allgemein bekannter geworden ist, war er der letzte, der ihre ganze philosophische Dimension erkannt und Versuche zu ihrer Lösung unternommen hat. Deshalb geben freilich die Einsichten Nietzsches noch keine ausreichende Basis für die gegenwärtige Aufgabe ab und können nicht einfach von uns heute übernommen werden. Vielmehr ist es die Absicht meiner Darstellung, zu-
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gleich zu zeigen, was wir als die für uns unverlierbaren Einsichten Nietzsches festhalten müssen und in welcher Hinsicht wir über seine Versuche, die gestellte Aufgabe zu lösen, hinausgehen müssen, — nicht weil wir klüger wären als er, sondern weil sich die Aufgabe selbst und die Gesamtsituation des Menschen weiterentwickelt haben und wir dadurch die Lösungsmöglichkeiten auch tiefer und weiter sehen, als er sie schon sehen konnte. Dafür aber, daß wir bei einer solchen Aktualisierung von Nietzsches Philosophie der Gefahr entgehen, voreilig eigene Probleme und Ideen in sie hineinzuprojizieren, bleibt die historisch-philologische Forschung die unerläßliche Voraussetzung. D e m Anspruch, die Einsichten und Ansichten Nietzsches historisch-philologisch zu belegen, scheint freilich die Tatsache entgegenzustehen, daß sein Werk nur in einer fragmentarischen und diffusen Gestalt vorliegt. Seine Ausführungen sind ständig im Fluß, bleiben vieldeutig und widersprüchlich und im ganzen eindeutig unvollständig. Man hat aus diesem Faktum eine Wesensentscheidung Nietzsches über die Philosophie ableiten wollen, daß er absichtlich die bisherige Methode der Philosophie durchbreche wie überhaupt den bisherigen Charakter der Philosophie auflöse. Aber näherliegend ist es, daran zu erinnern, daß er schon im Alter von 44 Jahren zusammengebrochen ist. Was läge vom Werk anderer Philosophen wie z . B . Kants und Hegels vor, wenn sie im Alter von 44 Jahren ihre philosophische Arbeit beendet hätten? Durch die unausgeführte Gestalt von Nietzsches Grundgedanken entsteht freilich ein gefährlich weiter Spielraum in der Interpretation seines Werkes, ja sogar die Gefahr völliger Willkür: wenn man jeder bestimmten Festlegung Nietzsches entgegengesetzte zur Seite stellen kann, ist damit auch der Kritik an ihm jede Möglichkeit eröffnet. Dieser Gefahr können wir nur entgehen, wenn wir uns bewußt bleiben, daß jede Philosophie, wenn sie wirklich lebendig ist, eine innere Einheit ihrer Gedanken hat. Dadurch, daß wir bei unserer Interpretation auf eine solche innere Einheit stoßen und sie entfalten können, haben wir eine gewisse Bestätigung dafür, die Intention des Philosophen berührt und getroffen zu haben und auf seiner Spur zu sein. Bei der Voraussetzung einer inneren Einheit seiner Gedanken und damit seines Gesamtwerks können wir uns auf Belege in Nietzsches Werk selbst berufen. Er spricht eindeutig aus, daß sein Werk nicht eine Fülle von Gedanken und Einfällen zu einer Vielfalt von Themen sei, sondern von Anbeginn im Dienst einer einzigen Aufgabe stehe. Im Hinblick auf diese Aufgabe hätten alle seine Gedanken einen inneren Zusammenhang und erforderten deswegen die Darstellung in einem Hauptwerk. An ihm hat er von 1884 bis zu seinem Zusammenbruch gearbeitet; die Tatsache, daß er in den letzten Wochen und Tagen die Entwürfe zu einem solchen Gesamtaufbau seiner Philosophie aufgegeben hat, beweist für die Sache und auch für seine Grundintention, die aus der Sache heraus gefordert ist, gar nichts.
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Die Belege finden sich in den Briefen Nietzsches, und wir wollen daraus einige Stellen vom Anfang der 80er Jahre bis zu seinem Zusammenbruch zitieren. Zunächst die Hinweise darauf, daß seine gesamte philosophische Arbeit im Dienste einer einzigen Aufgabe stand. „. . .Du weißt es, daß meine Leiden mich nicht der Schmerzen wegen ungeduldig machen, sondern nur weil ich immer befürchte, daß ich mit der ungeheuren Aufgabe, die sich von Jahr zu Jahr mir immer deutlicher zeigt, nicht fertig werde." (An die Schwester, Genua, 29. November 1881, S. 256) ,,. . . Es hängt von Zuständen ab, die nicht bei mir stehen, sondern beim ,Wesen der Dinge', ob es mir gelingt meine große Aufgabe zu lösen." (I.e.) ,,. . . Alles liegt neu vor mir, und es wird nicht lange dauern, daß ich auch das furchtbare Angesicht meiner ferneren Lebensaufgabe zu sehen bekomme." (An Franz Overbeck, Leipzig, September 1882, S. 274) ,,. . . I m übrigen liegt die Aufgabe, um derentwillen ich lebe, klar vor mir — als ein factum von unbeschreiblicher Traurigkeit, aber verklärt durch das Bewußtsein, das Größe darin ist, wenn je der Aufgabe eines Sterblichen Größe eingewohnt hat." (An Franz Overbeck, Sils-Maria, 5. August 1886, S. 387) Nietzsche sagt hier nicht, welches diese Aufgabe ist, er spricht nur davon, daß es dazu eines „langen Willens" bedarf, „für den zehn Jahre nicht viel bedeuten, und wenn es selber zehn Jahre des Schweigens sein sollten.", und daß er einen solchen Willen als seinen „Steuermann" in sich trägt (An Franz Overbeck, Genua, 11. November 1883, S. 324). Aber in seinen Berichten über die Verwirklichung seines Willens und die Ausführung seiner Aufgabe finden sich dann auch die eindeutigen Aussagen darüber, daß hierzu ein zusammenhängender Bau seiner Gedanken notwendig wird. „Die Zeit des Schweigens ist vorbei: mein .Zarathustra', der Dir in diesen Wochen übersandt sein wird, möge Dir verraten, wie hoch mein Wille seinen Flug genommen hat. Laß Dich durch die legendenhafte Art dieses Büchleins nicht täuschen: hinter all den schlichten und seltsamen Worten steht mein tiefster Ernst und meine ganze Philosophie. Es ist ein Anfang, mich zu erkennen zu geben — nicht mehr!" (An Carl von Gersdorff, Sils-Maria, 28. Juni 1883, S. 302) „Ah, man soll nur seine Aufgabe hübsch durchführen, man fährt dabei am besten. Nun habe ich zum ersten Male meinen Hauptgedanken in eine Form gebracht — und siehe da, wahrscheinlich habe ich mich selber dabei erst ,in eine Form gebracht'". (An Franz Overbeck, Nizza, erhalten 14. Februar 1884, S. 331) ,,. . . jetzt, nachdem ich mir diese Vorhalle meiner Philosophie gebaut habe (sc. der ,Zarathustra*, vgl. an Overbeck, Nizza, 10. März 1884, S. 334; K.U.), muß ich die Hand wieder anlegen und nicht müde werden, bis auch der Hauptbau fertig vor mir steht. (. . .) Also das Gerüste zu meinem
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Hauptbau soll in diesem Sommer aufgerichtet werden; oder anders ausgedrückt: ich will das Schema zu meiner Philosophie und den Plan für die nächsten sechs Jahre in diesen nächsten Monaten aufzeichnen. Möchte meine Gesundheit dazu ausreichen." (An die Schwester, Venedig, Mitte Juni 1884, S. 345/46). „Ich bin überdies mit der Hauptaufgabe dieses Sommers, wie ich sie mir gestellt hatte, im ganzen fertig geworden, — die nächsten 6 Jahre gehören der Ausarbeitung eines Schemas an, mit welchem ich meine ,Philosophie' umrissen habe. Es steht gut und hoffnungsvoll damit. Zarathustra hat einstweilen nur den ganz persönlichen Sinn, daß es mein ,Erbauungs- und Ermutigungsbuch' ist — im übrigen dunkel und verborgen und lächerlich für jedermann." (An Peter Gast, Sils-Maria, 2. Sept. 1884, S. 351) „Ach, es ist alles so unsicher und wacklig in meinem Leben; und dabei diese abscheuliche Gesundheit! Die Nötigung andererseits liegt auf mir mit dem Gewicht von hundert Zentnern, einen zusammenhängenden Bau von Gedanken in den nächsten Jahren aufzubauen — und dazu brauche ich fünf sechs Bedingungen, die mir alle noch fehlen und selbst unerreichbar scheinen!" (An Franz Overbeck, Nizza, 24. März 1887, S. 407)
Eindeutiger läßt sich unsere Voraussetzung und These einer inneren Einheit von Nietzsches Gesamtwerk schwerlich belegen. Doch damit ist noch nichts über die Beziehung seiner Aufgabe zu unserer aktuellen Fragestellung ausgesagt. Um der These von diesem Zusammenhang das Willkürliche zu nehmen, wollen wir zunächst überhaupt nur von Nietzsche selbst ausgehen und fragen: Welches ist diese Aufgabe, vor die er sich gestellt sah, welche Bedeutung hat sie für uns, und welche Bedeutung haben seine Versuche für uns, sie zu lösen?
I.
Die Aufgabe einer Philosophie ist wesentlich immer umfassend und zugleich in sich differenziert und komplex und kann daher von verschiedenen Seiten her und in verschiedenen Formen angesprochen werden. Fragt man, wie Nietzsche selbst seine Aufgabe gesehen hat, so drängt sich seine zentrale Formulierung „Umwertung aller Werte" auf. Sie wird vorbereitet in einem Gedanken schon zu Beginn des Werkes „Menschliches, Allzumenschliches" (Vorrede 3, K G W IV 2, 11) und findet sich zuerst als Untertitel in den Entwürfen zu dem geplanten Hauptwerk ab 1884, später als dessen Haupttitel (KGW VIII 1, 107 u. VIII 3, 347). In dieser Zeit spricht Nietzsche dann auch davon, daß „die ungeheure Aufgabe der U m w e r t h u n g " aller Werte für ihn „ein Schicksal" sei (EH, KGW VI 3, 353; G D , Vorwort, KGW VI 3, 51). Wenn er in dieser Formel seine eigentliche philosophische Aufgabe ausspricht, dann müßten von ihr her alle Gedanken, die er in seiner Philosophie entwik-
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kelt hat, ihren Zusammenhang haben und in ihrem Sinn präzisierbar sein. Dazu müssen wir freilich zuvor den Sinn dieser Formel selbst näher bestimmen. Die Aufgabenstellung einer Wissenschaft ist immer nur aus den Fragestellungen zu verstehen, die zu ihrer Formulierung geführt haben, und deren Sinn wiederum nur aus der Problemsituation, aus der sie entstanden sind. Auch bei der Philosophie sollten wir daran denken, daß der volle Sinn ihrer Aufgabenstellung immer nur verstanden werden kann, wenn man auf deren Ursprung zurückgeht. Alle einzelnen Fragestellungen und Bestimmungen einer Philosophie gehen auf eine solche Basis zurück und müssen darin festgemacht werden, weil sie sonst ohne Führung und ihre Bestimmung ohne Halt bleiben. „ D i e Umwertung aller W e r t e " ist schließlich eine ungeheuerliche Sache, und Nietzsche hat sich diese Aufgabe nicht gestellt, weil sie ihm plötzlich eingefallen wäre oder er den Ehrgeiz gehabt hätte, alles neu zu machen, sondern sie ist ihm zugefallen, und er hat sich ihr nicht entziehen können. Wie sehr er unter ihrem Auftrag litt, läßt sich seinen Briefen deutlich entnehmen. Welche Erfahrung also ist es gewesen, die Nietzsche dazu geführt hat, seine philosophische Aufgabe in der Formel „Umwertung aller W e r t e " auszudrücken, und wie ist die Aufgabe darin vorgezeichnet und präzisiert? Für die entscheidende Grunderfahrung, die zur Formulierung „ U m w e r tung aller W e r t e " führt und sie überhaupt als solche hervortreibt, liegt unmittelbar ein weiteres großes Wort von Nietzsches Philosophie nahe, das Wort „Nihilismus". Er gebraucht es für den zu seiner Zeit erfahrenen Vorgang, daß die obersten Werte sich entwerten ( K G W V I I I 2, 237 [WM 3]). So steht es in unmittelbarem Zusammenhang mit der gestellten Aufgabe, wenn auch der Zusammenhang der Entwertung der obersten Werte und der Notwendigkeit, alle Werte umzuwerten, zunächst noch offen bleibt. Wir müssen aber festhalten, daß das Wort „Nihilismus" bei seiner ersten Verwendung einen einmaligen historischen Vorgang bezeichnet, der zwar in der philosophischen Dimension liegt, aber doch ein empirisch feststellbares Faktum ist. Es bekommt später bei Nietzsche eine tiefere und differenziertere Bedeutung und wird zentral für seine ganze Philosophie. Bevor wir aber dem Zusammenhang zwischen dem Nihilismus und der Umwertung aller Werte weiter nachgehen und seine Entwicklung verfolgen, möchte ich aufzeigen, daß es noch ein früheres Stadium in Nietzsches Bewußtsein von dem Grund seiner Aufgabe gibt. Dort wird die Aufgabe und ihr Ursprung zwar noch nicht in den angeführten Formeln ausgesprochen, aber in einer größeren Konkretisierung und Komplexität entwickelt und ist darum besser zu verstehen. Diese ersten Bestimmungen gehen in den Sinn der späteren Formel mit ein, werden darin aber nicht mehr ausdrücklich ausgesprochen.
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Schon unter den ersten Aphorismen in „Menschliches, Allzumenschliches" (1878) findet sich eine breite empirische Kennzeichnung jenes Vorgangs des Nihilismus und der Versuch seiner Erklärung, ohne daß das Wort „Nihilismus" schon fiele. Und ebenso wird dort auch die Dimension der Aufgabe bestimmt, ohne daß sie schon ihre präzise Formulierung fände. Es handelt sich um die drei Aphorismen N r . 23: „Zeitalter der Vergleichung", N r . 24: „Möglichkeit des Fortschritts" und N r . 25: „Privat- und Welt-Moral" ( K G W I V 2, 40—42). Nietzsche hebt darin bestimmte Zustände und Tendenzen seiner Zeit heraus und zieht daraus bestimmte Folgerungen für die Zukunft. Der Aphorismus „Zeitalter der Vergleichung" beginnt mit der Feststellung einer völligen Auflösung der Tradition in Nietzsches Zeit, d . h . der Bindung an ein bestimmtes Herkommen. „Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes?" Nietzsche führt diesen ungewöhnlichen Zustand darauf zurück, daß in Europa „die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten und Culturen" zusammengeströmt sind, nebeneinander bestehen und nebeneinander durchlebt werden können. Dadurch wird es nun aber möglich und notwendig — und das ist die zweite Feststellung —, daß die Menschen diese verschiedenen Sitten und Kulturen miteinander vergleichen, weil sie sich in dieser Vielfalt der möglichen Lebensformen entscheiden müssen. In den Vergleichen der verschiedenen Lebensformen vollzieht sich also nach der Meinung Nietzsches gleichsam von selbst ein Auswählen und eine Entscheidung über sie. Als Drittes stellt Nietzsche dann die These auf, daß dieses Vergleichen und das Auswählen unter den Formen und Gewohnheiten wesentlich unter dem Gesichtspunkt einer höheren Sittlichkeit vollzogen wird und daß alle niedrigeren Lebensformen dadurch ausgeschieden werden. Und gegen Ende des Aphorismus heißt es: „Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz — aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen."
Der Mensch sieht sich hier also in einem ganz neuen Spielraum von Möglichkeiten und kann darin das Höhere aussuchen, sich dafür entscheiden und es anstreben. Damit befaßt sich der folgende Aphorismus „Möglichkeit des Fortschritts". Nietzsche spricht — schon damals — von einer Gruppe von Menschen, die es bestreiten, daß es einen Fortschritt des Menschen in seiner Geschichte geben kann — wenn auch aus anderen Gründen, als das heute gesagt wird. Das liegt nach ihm nur daran, daß die Menschen „sich früher unbewusst und zufällig entwickelten" und darum den Raum der Tradition nicht verlassen konnten. Dagegen setzt er jetzt die These, daß die Menschen „mit B e w u s s t s e i n beschliessen [können], sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln (. . .): sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der
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Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen." Der Fortschritt ist also möglich, wenn die Menschen ihn nur bewußt wollen und seine Gestaltung in die Hand nehmen. Das ist die zweite Seite der neuen Situation von Nietzsches Gegenwart. Dem entspricht in Nr. 25, daß „der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite und, trotz aller anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit, sie doch herrlich hinausführe", daß also überhaupt der Glaube an die Gesetzlichkeit der Weltgeschichte verloren gegangen ist, sei es der Glaube an eine Lenkung durch einen Weltgeist, sei es der Glaube, daß sich aus dem freien Spiel der Kräfte grundsätzlich das Beste ergeben sollte. Der Mensch hat vielmehr die Einsicht gewonnen, daß die Geschichte keineswegs von selbst einem besten Zustand zuläuft, sondern daß er hier eingreifen kann und muß und sie selbst mitgestalten muß. Diese neue Situation hat aber noch eine dritte Seite, die nun unter dem Titel „Privat- und Welt-Moral" (Nr. 25) ausgeführt wird. Denn in demselben Augenblick, in dem der Mensch sieht, daß er für seine eigene Geschichte selbst verantwortlich ist, ist er auch mit der Tatsache konfrontiert, daß die Menschheit als Ganzes dabei zur Entscheidung steht, weil sich eine Verschränkung aller Völker miteinander ausgebildet hat, die sich ja schon in der Vermischung aller Kulturen miteinander zeigte. Dadurch wird es jetzt notwendig, daß die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen müssen, daß die Erde als Ganzes ökumenisch verwaltet wird und überhaupt die Kräfte der Menschen gegeneinander abgewogen und eingesetzt werden müssen. In diesem Sinne spricht Nietzsche von einer „Welt-Moral". Wer aber soll diese Ziele stellen, und wie sollen sie gesichert werden? Wir hatten oben gehört, daß sie durch ein Vergleichen und Auswählen gewonnen werden sollen. Dies aber ist nach Nietzsche nur dadurch gesichert, daß es von den Wissenschaften ausgeführt wird. So schließt der Aphorismus mit dem Satz: „Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesamtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende K e n n t n i s s der B e d i n g u n g e n der C u l t u r , als Wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts." Nietzsche ist sich also durchaus der großen Gefahr und Verantwortung bewußt, die mit einer solchen Aufgabe verbunden ist, und glaubt, durch die Abstützung auf die Wissenschaft dabei Willkür und Fehlgriffe abwenden zu können. So heißt es WM 898 ( K G W VIII 2, 88): „Was theils die Noth, theils der Zufall hier und da erreicht hat, die Bedingungen zur Hervorbringung einer s t ä r k e ren Art: das können wir jetzt begreifen und wissentlich w o l l e n : wir können die Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist."
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und WM 973 (KGW VII 3, 163): „Große Frage: wo bisher die Pflanze „Mensch" am prachtvollsten gewachsen ist. Dazu ist das vergleichende Studium der Historie nöthig." Wo Nietzsche das vergleichende Studium der Lebensformen konkreter darstellt, bemerkt er nun aber auch, daß das theoretische Wissen, auch wenn es wissenschaftlich begründet und gesichert ist, allein noch nicht genügt, um eine bessere und höhere Entwicklung des Menschen zu sichern. „ G e s e t z t , alle diese Arbeiten seien gethan, so träte die heikeligste aller Fragen in den Vordergrund, o b die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des H a n delns zu g e b e n , nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten kann, — und dann würde ein Experimentiren am Platze sein, an dem jede Art von H e r o i s m u s sich befriedigen könnte, ein Jahrhunderte langes Experimentiren, welches alle grossen Arbeiten und A u f o p f e r u n g e n der bisherigen Geschichte in den Schatten stellen k ö n n t e . " ( F W 7; K G W V 2, 53f.)
Die theoretische Sicherung durch die Wissenschaft allein genügt also offensichtlich noch nicht, die Wahrheit über das Wohl des Menschen zu entscheiden. Aber Nietzsche sucht doch auf einem empirisch-wissenschaftlichen Wege die Lösung der Aufgabe, indem er mit ihr den ebenfalls wissenschaftlichen Gedanken des Experiments verbindet. „ J e n e N a t u r p r o z e s s e der Z ü c h t u n g d e s M e n s c h e n z . B . , welche bis jetzt grenzenlos langsam und ungeschickt geübt wurden, könnten von den Menschen in die H a n d genommen werden: und die alte Tölpelhaftigkeit der Rassen, Rassenkämpfe, Nationalfieber und Personeneifersuchten könnte, mindestens in Experimenten, auf kleine Zeiten zusammengedrängt werden. — E s könnten g a n z e T h e i l e der Erde sich dem b e w u ß t e n E x p e r i m e n t i r e n w e i h e n ! ( K G W V 2, 4 4 5 f . ) . "
Solche Experimente sind der Weg, einen neuen Typus des Menschen herauszubilden, einen Typ, der aus der Beschränktheit der Rassen und Völker herausgetreten ist und dadurch den Bestand einer Weltgemeinschaft des Menschen garantiert. Dabei ist dieses Experimentieren kein leichtfertiges und willkürliches Versuchen, sondern geführt von wissenschaftlich gesicherten Theorien über die Bedingungen einer höheren Kultur. Fassen wir zusammen: Nietzsche hat schon vor dem Gebrauch des Wortes „Nihilismus" die zentrale Einsicht von der Auflösung der Gültigkeit aller bisherigen Werte gehabt und auch die dadurch bedingte ganz neue Stellung des Menschen in seiner Geschichte und zu seiner Geschichte erkannt. Er gibt auch konkreter an, worin dieser Zustand eigentlich besteht: in dem Zusammenströmen aller Kulturen und Lebensformen. Nietzsche sagt in diesem Zusammenhang aber nicht, wie und warum der Mensch der Gegenwart in diese eigentümliche Lage gekommen ist, daß alle Kulturen und Völker aus allen Zeiten auf ihn einströmen und dadurch die
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Traditionen ihre überlieferte Verbindlichkeit verlieren. Doch davon hat er schon in einem anderen, noch früheren Zusammenhang gesprochen, nämlich in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung „ V o m Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben". Dort kennzeichnet er sein Zeitalter als jenes der „historischen Bildung". Deren Auswirkung auf den geistigen Zustand des Menschen beschreibt er so: „ d i e Masse des Einströmenden ist so gross, das Befremdende, Barbarische und Gewaltsame dringt so übermächtig, „ z u scheusslichen Klumpen geballt", auf die jugendliche Seele ein, dass sie sich nur mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten weiß. Wo ein feineres und stärkeres Bewußtsein zu Grunde lag, stellt sich wohl auch eine andere Empfindung ein: Ekel. Der junge Mensch ist so heimatlos geworden und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt weiss er es: in allen Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist." ( K G W III 1, 296f.) „alle Grenzpfähle sind umgerissen und alles was einmal war, stürzt auf den Menschen zu (. . .). Machen wir uns jetzt ein Bild von dem geistigen Vorgange, der hierdurch in der Seele des modernen Menschen herbeigeführt wird. Das historische Wissen strömt aus unversieglichen Quellen immer von Neuem hinzu und hinein, das Fremde und Zusammenhangslose drängt sich, das Gedächtnis öffnet alle seine Thore und ist doch nicht weit genug geöffnet, die Natur bemüht sich auf's Höchste, diese fremden Gäste zu empfangen, zu ordnen und zu ehren, diese selbst aber sind im Kampfe mit einander, und es scheint nöthig, sie alle zu bezwingen und zu bewältigen, um nicht selbst an ihrem Kampfe zu Grunde zu gehen. Die Gewöhnung an ein solches unordentliches, stürmisches und kämpfendes Hauswesen wird allmählich zu einer zweiten Natur, ob es gleich ausser Frage steht, dass diese zweite Natur viel schwächer, viel ruheloser und durch und durch ungesünder ist als die erste." (I.e. 268)
Nietzsche gibt hier aber nicht nur eine ausführlichere Beschreibung des herbeigeführten Zustandes, sondern nennt auch die letzte Ursache, wie es dazu gekommen ist. Er führt ihn auf die Forderung zurück, daß die Historie zur Wissenschaft geworden ist, also auf die Verwissenschaftlichung der Geschichte. In diesem Zusammenhang sieht er auch schon die Notwendigkeit, daß der Mensch wieder einen einheitlichen Zustand, eine einheitliche geistige Verfassung gewinnen müsse. Dazu soll aber gerade die durch die Wissenschaft heraufgeführte Erweiterung des Einblicks in die Gesamtgeschichte, in den Gesamtzustand des Menschen wieder eingeschränkt und abgeblendet werden. Sechs Jahre später erkennt Nietzsche jedoch, daß dieser Zustand nicht nur eine negative Seite hat, sondern auch eine neue positive Möglichkeit des Menschen bedeutet und daß er weder abgeblendet werden kann noch soll. In der von der historischen Bildung heraufgeführten Situation kommt es gerade darauf an, einen möglichst umfassenden Einblick in alle möglichen und dagewesenen Lebensformen zu gewinnen und zu bewahren, damit man die Gewähr hat, die beste Lösung im Vergleich zu finden. Auf diese Weise wird eine neue
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geistige Verfassung und eine höhere Phase des Menschentums heraufgeführt und herausgebildet. U n d wenn auch in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung schon so angesetzt wird, daß der Mensch seine Geschichte selbst gestalten und verantworten kann, so sieht Nietzsche jetzt doch tiefer, daß diese Aufgabe der Selbstgestaltung zu einem höheren Menschentum eine unausweichliche Notwendigkeit wird. Die Auflösung der bisherigen Werte kennzeichnet die Situation also nur von der einen Seite. Auf der anderen ist sie durch die unaufhaltsame Entwicklung aller Völker zu einer gemeinsamen Gesellschaft bestimmt und insofern einmalig und neu in der ganzen bisherigen Geschichte des Menschen; eben deswegen erfordert sie auch neue, die ganze Menschheit umfassende Zielsetzungen. U n d damit zeigt sich schon unmittelbar ihr Zusammenhang mit dem späteren Begriff der „Umwertung aller Werte". Auch ohne daß diese Formel hier schon gebraucht würde, ergibt sich doch deutlich aus dieser Situation die Aufgabe einer grundsätzlich neuen Wertsetzung im Zusammenhang mit allen bisherigen Werten. Dieser neuen Einsicht entspricht eine ganz neue positive Bewertung der Wissenschaft. Sie soll jetzt auch der Weg und das Mittel sein, um den Menschen wieder in eine neue, höhere geistige Verfassung zu bringen. Damit haben wir nun zugleich den Zusammenhang von Nietzsches eigenem Grundansatz mit unserer gegenwärtigen weltgeschichtlichen Situation hergestellt. Die Ausweitung und Vertiefung des „historischen Bewußtseins", wie Dilthey es nannte, und die damit verbundene Auflösung der Verbindlichkeit aller bisherigen Lebensformen ist eine Erfahrung, die in Europa seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer mehr an Verbreitung gewinnt und heute schon als eine Selbstverständlichkeit hingenommen wird. Ebenso vertraut ist der Vorgang der wachsenden Interdependenz aller Völker der Erde in allen Lebenshinsichten, so daß jede politische Entscheidung in jedem Land zwangsläufig schon ökumenische Bedeutung bekommt. Und schließlich wächst auch in zunehmendem Maße die Einsicht, daß dieser Vorgang der ökumenischen Entwicklung keineswegs nur eigengesetzlich ist, sondern daß der Mensch in seine Gestaltung eingreifen und sie mitverantworten muß. So kann man diese neue Situation das weltgeschichtliche Dasein des Menschen nennen. Sie birgt offensichtlich die Gefahr, daß der Mensch sich selbst zugrunde richtet, wenn er nicht hinreichend die Grundlagen seines politischen Handelns und Gestaltens überdenkt und plant. Auch heute herrscht noch die Ansicht vor, daß es vorrangig oder allein die Wissenschaften sind, die der Menschheit helfen können, ihre neue Situation zu meistern. So sind Wissenschaftler im Auftrag des Club of Rome mit einer Gesamtanalyse der gegenwärtigen menschlichen Weltgesellschaft hervorgetreten und haben darauf hingewiesen, daß eine ökumenische Planung des weiteren Verlaufs der Entwicklung der Weltgesellschaft unumgänglich ist. U n d un-
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ter dem Titel der Futurologie haben wiederum die Wissenschaften zusammengefunden, um begründete Aussagen über die mögliche zukünftige Entwicklung zu machen und damit der politischen Planung eine fundierte Grundlage zu geben. Aber diese Zusammenhänge von Geschichte, Auflösung der Werte, Wissenschaften und Zukunft sind heute sehr viel unklarer und diffuser, als sie schon Nietzsche herausgehoben und in ihrer Wirkung wie auch in ihren Folgerungen grundsätzlich analysiert hatte. Eben darum hat unsere Erinnerung an ihn von der gegenwärtigen Situation des Menschen her und für sie eine wesentliche Bedeutung.
II. Die Darstellung der frühen Phase in der Erfassung der Aufgabe läßt uns die späteren Formen, in denen Nietzsche sie umschreibt, besser verstehen, die Grunderfahrung des weltgeschichtlichen Daseins des Menschen macht sowohl den Begriff des Nihilismus wie vor allem auch die spätere Bestimmung der Aufgabe als Umwertung aller Werte in ihrem Sinn konkreter deutlich. 1885 heißt es: „ E s naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden? U n d w o z u soll „der Mensch" als Ganzes — und nicht mehr ein Volk, eine Rasse - gezogen und gezüchtet werden?" ( K G W VII 3, 306 [WM 957]).
Wenn wir uns nicht an den Ausdrücken „Ziehen" und „ Z ü c h t e n " festhaken, müssen wir sagen, daß die Frage: „Wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden?" und: Was soll dabei aus dem Menschen werden? unmittelbar auch uns heute trifft, daß sie die zentrale Frage unserer Existenz ist. Wenn wir diese Formulierung mit der früheren Beschreibung der menschlichen Situation vergleichen, so fällt die Hervorhebung ihres bedrohlichen und furchterregenden Charakters auf. Nietzsche will dadurch seine Aufgabe und damit seine eigene Existenz nicht dramatisieren. Die Formulierung entspricht vielmehr einer vertieften Einsicht in die Dimension der Aufgabe, deren Lösung eine viel höhere Anforderung an den Menschen stellt, als Nietzsche bisher angenommen hatte. Die neue Dimension der Aufgabe klärte sich ihm nur allmählich, je mehr er in sie hineinging, und erst ab 1882 mit dem Gedanken der „ewigen Wiederkehr des Gleichen" wird sie ihm ganz deutlich. Zweierlei hat sich ihm gezeigt: einmal, daß sein Zeitalter keineswegs von selbst dabei ist, die durch die neue Situation des Menschen gestellte Aufgabe ernsthaft in Angriff zu nehmen, zum andern, daß das bloße Vergleichen keineswegs die Gewähr gibt, die höheren Lebensformen zu finden, die für die zukünftige Gestaltung der Weltge-
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sellschaft notwendig sind. Es zeigte sich also, daß die Ziele sich keineswegs von selbst aus der Gesamtsituation herausbilden und daß das Zeitalter gar nicht über die Mittel und Methoden verfügt, um eine Zielsetzung aufzustellen, herauszufinden und zu begründen. Nietzsche sieht, daß die Wissenschaften nicht in die Dimension reichen, die für eine solche Entscheidung notwendig ist. Bei der Lösung der Aufgabe ist es nicht mit einem bloßen Auswählen unter den bisherigen Lebensmöglichkeiten und Lebensformen des Menschen getan, sondern das weltgeschichtliche Dasein fordert ganz neue Werte und neue Richtpunkte des menschlichen Verhaltens, die also ausdrücklich gesetzt werden müssen und die eine neue Grundlegung der Wertsetzung überhaupt notwendig machen. Die Dimension, die die Wissenschaften wesentlich nicht erreichen und die andererseits von der Aufgabe her doch gefordert ist, ist aber die der Philosophie. Es ist die Entdeckung der philosophischen Dimension der Aufgabe, die Entdeckung, daß sie nur durch die Philosophie gelöst werden kann, was ihr diese Bedrohlichkeit und Ungeheuerlichkeit gibt. So kann Nietzsche jetzt sagen: „Die Zeit kommt, wo der Kampf um die Erdherrschaft geführt wird, — er wird im Namen p h i l o s o p h i s c h e r G r u n d l e h r e n geführt werden." (KGW V 2 , 444). Er führt die Auflösung der Verbindlichkeit aller bisherigen Werte nun nicht mehr auf ihre vielfältige Verschiedenheit, sondern darauf zurück, daß die obersten Werte sich entwerten. Diesen Vorgang aber nennt er „Nihilismus" (KGW VIII 2,14f. [WM 2]). Gerade dieser Begriff macht deutlich, daß Nietzsche jetzt die philosophische Dimension der neuen Situation begriffen hat und sie als den zentralen Punkt ihrer Bewältigung ansieht. Die obersten Werte nämlich sind offensichtlich jene, von denen die Gültigkeit aller anderen Werte abhängt. Aber nicht deshalb, weil sie daraus deduziert sind — oberste Werte bedeuten nicht die höchste Abstraktionsstufe der Werte —, sondern weil es jene Werte sind, in denen der Wertcharakter der Werte selbst festgelegt wird, und wenn dieser sich auflöst, werden dadurch alle anderen Werte betroffen. Man kann die obersten Werte auch die Prinzipien aller Werte und der Wertsetzung nennen; deren Bestimmung aber ist von jeher die Aufgabe der Philosophie gewesen. Die neue Bestimmung der obersten Werte ist jetzt also die erste Bedingung für die Lösung der Aufgabe der Umwertung aller Werte. Die Schwere und Ungeheuerlichkeit, die sie von dorther bekommt, drückt Nietzsche einmal dadurch aus, daß er die Umwertung aller Werte als eine neue Gewichtsbestimmung aller Dinge bezeichnet: „ W o r a n g l a u b s t d u ? — Daran: dass die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen." (FW 269; KGW V 2, 197). „Diese guten friedfertigen fröhlichen Menschen haben keine Vorstellung von der Schwere derer, welche v o n N e u e m die Dinge wägen wollen und zur Wage heranwälzen müssen." (KGW VII2, 175)
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Die Bedrohlichkeit der Situation wird aber besonders darin sichtbar, daß unter den Wissenschaften, die zu ihrer Bewältigung nicht ausreichen, aber auch ihre philosophische Dimension verkennen, die Einstellung vorherrscht, daß die Bewältigung weder möglich noch notwendig ist. „ M a n möchte h e r u m k o m m e n um den Willen, um das W o l l e n eines Zieles, um das Risico, sich selbst ein Ziel zu geben; man möchte die V e r a n t w o r tung abwälzen (— man würde den F a t a l i s m acceptiren). [. . .] Man sagt sich: 1) ein bestimmtes Ziel ist gar nicht n ö t h i g 2 ) i s t gar nicht möglich v o r herzusehen Gerade jetzt, w o der W i l l e in der h ö c h s t e n K r a f t n ö t h i g wäre, ist er am s c h w ä c h s t e n und k l e i n m ü t h i g s t e n . A b s o l u t e s M i ß t r a u e n gegen die o r g a n i s a t o r i s c h e K r a f t des Willens f ü r s G a n z e " ( K G W VIII 2, 1 9 f . [ W M 20]).
Dieses Versagen vor der Aufgabe nimmt Nietzsche nun in den Begriff des Nihilismus mit hinein, so daß dieser nicht nur den oben bezeichneten Vorgang der Entwertung aller Werte bedeutet, sondern auch den Zustand des Zweifels und der Verzweiflung an jeder Wertsetzung überhaupt: „die Undurchführbarkeit einer Weltauslegung, der ungeheure Kraft gewidmet worden ist — erweckt das Mißtrauen, ob nicht a l l e Weltauslegungen falsch sind —" (KGW VIII1, 124 [WM 1]). So wird das Pathos verständlich, mit dem Nietzsche seine Aufgabe ausspricht, und die Leidenschaft, mit der er sie in Angriff nimmt, und auch die große Bedeutung, die er ihr gibt. Denn in der Tat, angesichts der geschichtlichen Situation des Menschen geht es bei der Lösung dieser Aufgabe um die Zukunft des Menschen als solchen. Von dorther ist der Satz zu verstehen, den er einmal in einem Brief an Malwida von Meysenbug (Venedig, Mai 1884) schreibt. „Und gewiß ist dies: ich will die Menschheit zu Entschlüssen drängen, welche über die ganze menschliche Zukunft entscheiden."
III. Vom Jahr 1882 an bis zum Ende seines Schaffens 1888 liegt das Schwergewicht von Nietzsches Gedankenarbeit auf der Ausarbeitung der philosophischen Dimension seiner Aufgabe. Sie ist aber nur in den Grundzügen, und das auch nur skizzenhaft, zur Ausführung gekommen. Es ergeben sich fünf Gruppen von Grundbegriffen, mit und in denen Nietzsche immer wieder aufs neue die verschiedenen Seiten seiner Aufgabe anspricht und denen er in seinem geplanten und nur in Fragmenten vorliegenden Hauptwerk eine zunehmend größere Bestimmtheit und Zusammenhang zu geben versucht. Es sind die Grundbegriffe 1.) Nihilismus, Tod Gottes, 2.) Umwertung aller Werte, 3.)
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Ewige Wiederkehr des Gleichen, Wille zur Macht, 4.) Ubermensch, 5.) Gerechtigkeit, Jenseits von Gut und Böse. Wenn es zutrifft, daß Nietzsches Philosophie nur aus jener Situation heraus entsprungen und zu verstehen ist, die wir als weltgeschichtliches Dasein des Menschen bezeichnet haben, und daß Nietzsches Philosophie ein erster Schritt und Versuch ist, die sich von daher notwendig stellende Aufgabe zu lösen, daß die Menschheit selbst ihre Zukunft gestaltet, dann müßten von dorther die angegebenen acht Grundbegriffe ihre volle Bedeutung und vor allem ihre Notwendigkeit und ihren Zusammenhang bekommen, und umgekehrt müßte sich von ihnen her die Aufgabe selbst noch einmal präzisieren und die Bedeutung und Tragfähigkeit jener für sie sich erweisen lassen. Für die Formel „Umwertung aller Werte" haben wir bereits gezeigt, daß sie die Bezeichnung für die Aufgabe ist und daß sie von ihr her erst verständlich wird und ihren Sinn bekommt. Auch der Zusammenhang des Begriffs des Nihilismus damit als Bezeichnung des geistigen Zustands, aus dem die Aufgabe erst entspringt, ist bereits deutlich. Das ist aber nur eine erste Bestätigung des von uns angesetzten Zusammenhangs; wir wollen ihn nun erweitern und vertiefen, indem wir auch die übrigen Begriffe in ihm entwickeln. Zur besseren Übersicht zeichnen wir den Grundriß vor: die dritte Gruppe der Grundbegriffe (Ewige Wiederkehr des Gleichen, Wille zur Macht) bestimmt die neue Grundlage der Wertsetzung; das geforderte neue Menschentum ist durch den Begriff Ubermensch (4) umrissen, und die fünfte Begriffsgruppe (Gerechtigkeit, Jenseits von Gut und Böse) präzisiert dann die geistige Verfassung, in der der neue Mensch sein muß, um die zukünftige Weltgesellschaft zu bestehen. Indem wir die Bedeutung und den inneren Zusammenhang dieser philosophischen Grundbegriffe aus der erfahrenen weltgeschichtlichen Situation des Menschen und der daraus entspringenden Aufgabe herleiten, machen wir den zweiten Schritt zur Bestätigung unserer Grund- und Leitthese über das Werk Nietzsches. Dabei können unsere Ausführungen zu den Grundbegriffen nur kurz sein, sollen aber doch so weit geführt werden, daß das Wesentliche und Entscheidende darin hervortritt und belegt wird. Die Beibringung weiterer Textstücke von Nietzsche würde an ihrer Grundkonzeption und Grundbedeutung wie auch an ihrem Zusammenhang nichts mehr ändern. Da Nietzsche selbst schon die philosophische Dimension seiner Aufgabe nur unvollendet ausgeführt und noch weniger die Folgerungen für die nähere Bestimmung gezogen hat, bleibt eine gewisse Vieldeutigkeit und Inkongruenz bestehen. Doch ist dies keine Folge der Grundkonzeption; es ist ihm lediglich nicht mehr gelungen, eine endgültige Festlegung des inneren Zusammenhangs seiner Grundgedanken zu erreichen und seine Versuche, ihn von verschiedenen Richtungen her und auf verschiedenen Ebenen anzugehen, auf eine Einheit zurückzubringen. .
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(1) Gehen wir, wenn wir nun Nietzsches Ausarbeitung und Vertiefung der philosophischen Dimension seiner Aufgabe aufzeigen, noch einmal von der ersten Begriffsgruppe aus. Nietzsche wird von folgenden Fragen geführt: (a) Was ist der Grund der gegenwärtigen Auflösung der bisherigen Wertsetzung? (b) Was ist der Grund von Wertsetzung überhaupt beim Menschen? (c) Welche Möglichkeit und Notwendigkeit einer neuen Wertsetzung ergibt sich aus dieser Grundlage? (a) Die Auflösung der bisherigen Werte in ihrer Verbindlichkeit hatte Nietzsche zunächst auf die historische Bildung zurückgeführt, dann aber ihren Grund tiefer in der Auflösung der bisherigen obersten Werte und damit der bisherigen Werthaftigkeit angesetzt. Er sieht, daß die bisherige Wertsetzung ihren Ursprung in der griechischen Philosophie als Metaphysik hat, die im Laufe der Geschichte mit dem Christentum verschmolzen wird. Als Metaphysik setzt sie den höchsten Wert in eine jenseitige Welt und entwertet damit die diesseitige. Diese Wertsetzung oder -akzentuierung trägt den Keim ihrer Auflösung in sich selbst, weil der Mensch im Verlauf seiner Geschichte in zunehmendem Maße die Erfahrung macht, daß sie seiner eigenen Lebenserfahrung widerspricht und daß das Gewicht der jenseitigen Wertsetzung gegenüber dem Gewicht der diesseitigen Welt nicht standhalten kann. Nietzsche sieht in seiner Gegenwart das endgültige Hervortreten dieses Widerspruchs und die Orientierungslosigkeit, die daraus entsteht, daß der Mensch nun an der bisherigen Wertsetzung überhaupt zweifelt, zugleich aber nicht weiß, wie er eine neue Wertsetzung und Verbindlichkeit erreichen soll. Diese Erklärung stellt Nietzsche vor die Frage, wieso es überhaupt zu einer solchen die diesseitige Welt abwertenden Wertsetzung kommen konnte, und er sucht den Grund dafür zunächst noch psychologisch-soziologisch. Er faßt die ganze bisherige Wertsetzung auch unter dem Begriff der Moral zusammen, der vor allem von dorther zu verstehen ist: Der „Tod Gottes" bringt nichts anderes zum Ausdruck als das Wort „Nihilismus", daß nämlich die obersten Werte sich entwerten. Denn Gott ist hier philosophisch verstanden als höchstes Prinzip alles menschlichen Handelns, d. h. als moralischer Gott, und zugleich als höchstes zusammenfassendes Prinzip alles Seins, d. h. als Weltgrund. So heißt es WM 55 (KGW V I I I 1 , 217): „Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden" oder WM 403 ( K G W VIII 1, 212): „es [giebt] kein solches C e n t r a i w e s e n der V e r a n t w o r t l i c h k e i t " (vgl. K G W VIII 3, 216—220 [WM 765]). Entsprechend ist auch nicht die Einheit und der Grund alles Seins von einem „Gesammtbewußtsein" oder einem „Gesammtsensorium" her zu verstehen ( K G W VIII 2, 1 9 9 - 2 0 1 , 2 7 6 - 2 7 8 [WM 707, 708]). (b) Damit hat Nietzsche zwar schon die philosophische Dimension des gegenwärtigen Zustands des Nihilismus aufgedeckt, aber durch seine histo-
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risch-psychologisch-soziologische Erklärung noch nicht seine philosophische Wurzel erfaßt. Dazu muß die Frage beantwortet werden, worin der Ursprung der menschlichen Wertsetzung überhaupt besteht, die Frage nach dem Wesen des Menschen als wertsetzenden. Diese philosophische Bestimmung der Natur des Menschen muß über die bisherige hinausgehen, weil aus ihr nicht nur erklärt werden soll, wie die bisherige Wertsetzung möglich war und wie sie zum Wesen des Menschen gehört, sondern auch aus der neu verstandenen Natur des Menschen eine ganz neue Wertsetzung möglich ist. Diese neue Wesensbestimmung denkt Nietzsche im Begriff des Willens zur Macht. Er legt nicht nur die Art der Wertsetzung des Menschen fest, sondern auch ihre Geschichte. Wie die Grundbewegung der menschlichen Geschichte von ihm her verstanden wird, werden wir noch genauer angeben. Entscheidend ist zunächst, daß der Begriff des Willens zur Macht es Nietzsche ermöglicht, sowohl die bisherige metaphysische Wertsetzung wie auch ihre Auflösung (Nihilismus) aus dem Wesen des Menschen und nicht mehr nur faktisch historisch zu verstehen und zu deuten. Der Vorgang der Entwertung gehört selbst in die Bewegtheit des Willens zur Macht. (c) Das ist aber noch nicht die letzte Bedeutung, die Nietzsche dem Wort „Nihilismus" gibt. Im höchsten Sinne gebraucht er es für den Zustand des Menschen, der den Einblick in die Wurzel der ganzen bisherigen und zukünftigen Wertsetzung gewonnen hat und daraus die Möglichkeit und Kraft schöpft, neue und höhere Werte zu setzen. (2) Soweit zunächst die philosophische Dimension der ersten Begriffsgruppe. Durch ihre Bestimmung sind wir nun in den Stand gesetzt, auch die „Umwertung aller Werte" als Formel für die Aufgabe tiefer zu verstehen. Sie legt das Mißverständnis nahe, daß alle bisherigen Werte des Menschen unzureichend und verkehrt waren, so daß jetzt alle Werte des Lebens neu gesetzt werden müßten. Aber nach der späteren Einsicht Nietzsches entspringen auch die bisherigen Werte der Natur des Menschen und gehören damit auch zu ihr, und das, was sich entwertet, sind eigentlich nicht diese Werte selbst, sondern die obersten Werte, d. h. ihre Werthaftigkeit. Deswegen müssen bei der neuen Wertsetzung nicht alle bisherigen Werte durch neue ersetzt, sondern vor allem die Werthaftigkeit der Werte neu bestimmt werden. Es kommt gerade darauf an, von ihr her die bisherigen Werte aufzunehmen und neu zu bestimmen und gleichzeitig innerhalb ihrer Gesamtheit eine neue Rangordnung zu erstellen und damit auch neue Werte einzufügen. Diese Grundhaltung Nietzsches kommt deutlich in dem Wort zum Ausdruck: „die vorhandene Welt, an der alles Irdisch-Lebendige gebaut hat, daß sie so scheint (dauerhaft und l a n g s a m bewegt), wollen wir weiter bauen, — nicht aber als falsch wegkritisiren!" (KGW VII 2, 124f. [WM 1046]). Er betont hier den bewahrenden Charakter
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in der Umwertung aller Werte, und andere Formulierungen zeigen, daß die Umwertung im Dienst der Neugestaltung der gesamten Menschheit auf die Erinnerung an die Basis all dessen, was der Mensch bisher an Lebensformen erreicht und ausgebildet hat, gegründet werden muß: „ U n g e h e u r e Selbstbesinnung: nicht als Individuum, sondern als Menschheit sich bewußt werden. B e s i n n e n w i r u n s , d e n k e n w i r z u r ü c k : g e h e n w i r d i e k l e i n e n u n d d i e g r o ß e n W e g e " ( K G W VIII 2 , 28 [ W M 585]). „ U m w e r t u n g a l l e r W e r t h e : das ist meine Formel für einen A k t höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden i s t . " ( E H , W a r u m ich ein Schicksal bin, 1, K G W VI 3, 363).
Diese Gesamtbesinnung aber ist Sache der Philosophie: „Was e r r e i c h t worden ist in der Erkenntniß, ist Sache des Philosophen festzustellen; und nicht nur darin, sondern überhaupt!" ( K G W V I I 2, 171) D e m entspricht das W o r t : „Zarathustra will keine Vergangenheit der Menschheit v e r l i e r e n , alles in den Guß werfen." ( K G W V I I 1, 504) So müssen wir die ganze Dimension der Aufgabe der Umwertung aller Werte vor Augen haben. Zu ihr gehört der Blick auf die gegenwärtige Lage des Zeitalters, der Ausblick auf die neue Zukunft der Menschheit und der Rückblick auf die ganze bisherige Vergangenheit. Im Hinblick auf die neue Zukunft aber müssen die bisherigen Werte neu bewertet werden: „ D i e V e r g a n g e n h e i t in u n s zu überwinden: die Triebe neu combiniren und alle zusammen richten auf Ein Ziel" ( K G W VII 1, 545). (3) Bei der Neusetzung und Neuordnung der Werte geht es also primär um die neue Bestimmung der höchsten Werte bzw. der Werthaftigkeit der Werte. Diese leitet sich zum einen aus ihrem Ursprung, zum andern aus der Art ihrer Verbindlichkeit ab. Diese beiden Seiten spricht Nietzsche in seinen philosophischen Grundbegriffen „Wille zur M a c h t " und „Ewige Wiederkehr des Gleichen" an. Versuchen wir, uns ihre zentrale Bedeutung klarzumachen. Der Begriff des Willens zur Macht ist unbestritten Nietzsches neue Bestimmung für das Wesen des Menschen und dessen Geschichte sowie darüber hinaus für das Sein der ganzen Welt, seine onpologische Grundbestimmung. Aber worin das Neue gegenüber der Uberlieferung besteht, ist nie ganz deutlich geworden. Das hat seinen Grund darin, daß Nietzsche mit dieser Bestimmung zugleich in der ganzen überlieferten Geschichte der Philosophie steht und an diese anknüpft. Ihr produktiver Fortgang, den sie wie jede Wissenschaft hat, wurde nur noch nie richtig gedeutet. Erhalten bleibt darin, daß alles, was ist, und damit auch der Mensch und seine Geschichte den Grund seiner Bewegung in sich und aus sich selbst hat. Diese Grundbestimmung alles Seins reicht vom aristotelischen Begriff der Physis bis zu Hegels Begriff des Geistes. Ebenso bleibt erhalten, daß der Mensch in dieser Bewegtheit aus sich selbst als Wille bestimmt ist, der den Charakter der Freiheit hat, und daß er in
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und aus dieser Freiheit die Regeln und Bedingungen sowohl der Erhaltung als auch der Steigerung seines Daseins, seiner Entwicklung und seines Fortschritts setzt. Man vergleiche hierzu Kants Beispiele zu seiner Unterscheidung der vollkommenen und unvollkommenen (verdienstlichen) Pflichten in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" ( W Cassirer 4, 279f., 287f.), in denen er auf die Bedingungen des Bestehens und der Steigerung der Natur des Menschen abhebt, wie auch die entsprechenden Ausführungen in der Schrift „Metaphysik der Sitten" (WW Cassirer 7, 195 ff.). Entsprechend ist für Nietzsche — das braucht nicht weiter belegt zu werden — das Grundverhältnis des Menschen zur Welt durch den Willen bestimmt; aus dem Willen zur Macht entspringen alle seine Antriebe und Bestimmungen der Welt. Aber auch die Zweiseitigkeit dieser Grundhaltung ist zu belegen: „In den W e r t h s c h ä t z u n g e n drücken sich E r h a l t u n g s - und W a c h s t h u m s - B e d i n g u n g e n aus" (KGW VIII 2, 16 [WM 507], vgl. VIII 1, 112 [WM 616]). Was aber ist nun das Neue in Nietzsches Grundbestimmung des Wesens des Menschen und des Seins überhaupt? Zum Bestehen des Menschen wie jedes Seienden überhaupt gehört sowohl das Feststellen und Festhalten, die Beständigkeit, wie auch der Wandel und das Wachstum, also Ruhe und Bewegung. Für Nietzsche wird nun statt der Beständigkeit die Steigerung das Primäre. Das bedeutet zum einen, daß die Bewegung des Menschen und jedes Seienden aus sich selbst nicht auf ein bestimmtes endgültiges Ziel ausgerichtet ist, sondern daß jedes Ziel, d. h. jede Beständigkeit immer wieder aufgelöst werden kann und zwangsläufig, aus dem Wesen des Seins heraus, auch aufgelöst wird. Das ist die Auflösung der Teleologie, ontologisch gesprochen: es gibt keinen Endzweck der Bewegung mehr. Die andere ontologische Konsequenz der neuen Grundbestimmung aber ist die, daß der Ursprung der Bewegung kein einheitliches Prinzip mehr ist und darum jede Beständigkeit, jede zusammenfassende Einheit des Menschen in der Vielfalt seiner Verhältnisse oder eines Seienden überhaupt im Bestehen seiner Welt sich aus der Vielheit ihrer Elemente herstellt. Aber wird dann die Wertsetzung nicht zu einer reinen Willkür der Macht, sowohl das Festhalten an einer bestimmten Wertsetzung wie auch ihre Auflösung und die Setzung eines höheren Werts? Damit wäre der philosophische Grundgedanke zu oberflächlich interpretiert. Nietzsche sagt eindeutig, daß die Entscheidung zu einer bestimmten einheitlichen Verfassung, und das heißt ja auch Wertsetzung, immer aus der jeweiligen inneren und äußeren Gesamtkonstellation des Menschen fällt. Aus dieser Situation heraus muß erfahren werden, was jeweils das Stärkste und Zusammenfassendste ist, und so wird auch die Entscheidung gefällt. Das gilt nicht nur für das Individuum QGB 19), sondern auch für die gesamte Wertsetzung, die die Gestaltung der Weltgesellschaft betrifft:
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Karl Ulmer „ D i e Herrschaft über die Erde, als Mittel zur Erzeugung eines höheren T y pus [. . .]. D e r neue Muth — keine a priorischen Wahrheiten f. . .], sondern f r e i e Unterordnung unter einen herrschenden Gedanken, der seine Zeit h a t " ( K G W VII 2 , 65 [ W M 862]). „Jede Lehre ist überflüssig, für die nicht Alles schon bereit liegt an aufgehäuften Kräften, an Explosiv-Stoffen. Eine U m w e r t h u n g von Werthen wird nur erreicht, wenn eine Spannung von neuen Bedürfnissen, von N e u Bedürftigen da ist, welche an der alten Werthung leiden, ohne zum Bewußtsein zu k o m m e n " ( K G W VIII 2, 39f. [ W M 1008], vgl. auch VIII 2 , 34 [1007]). „ A u c h die Triebe der zukünftigen Menschheit sind schon da und verlangen ihre Befriedigung — ob wir sie gleich noch nicht bewußt k e n n e n " ( K G W VII 1, 545).
Die neue Verbindlichkeit ist also nicht a priori bestimmt, sondern liegt in der jeweiligen Gesamtkonstellation des Menschen und der Welt. An diese Stelle gehört nun der Gedanke der Ewigen Wiederkehr des Gleichen. Er ist zunächst das höchste Prinzip der Verbindlichkeit von Werten für den Willen und insofern das höchste ethische Prinzip. Daran kann im Hinblick auf die Art, wie ihn Nietzsche am Ende des IV. Buches der „Fröhlichen Wissenschaft" (Nr. 341; K G W V 2, 250) unter dem Titel „Das größte Schwergewicht" einführt, nicht gezweifelt werden: „Die Frage bei Allem und Jedem: „willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?" würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen!" Auch hier ist Nietzsche nicht so weit von der Überlieferung entfernt, wie man meinen möchte. Schon Kant setzt, wenn auch auf einem gewissen Umweg, die ontologische Verknüpfung der menschlichen moralischen Entscheidung mit dem Weltganzen an. Bei Fichte findet sich in seiner Schrift „Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten" von 1794 (SW J . H. Fichte 6, 297) dort, wo er versucht, den Grundsatz seiner Sittenlehre zu erläutern, der Satz: „Handele so, dass du die Maxime deines Willens als ewiges Gesetz für dich denken könntest". Nietzsche dehnt in der Folge den Gedanken der Ewigen Wiederkehr, als Bedingung des möglichen Zusammenstimmens der Entscheidung des Menschen mit den ihn umgebenden und bedingenden Weltverhältnissen, auf alles Geschehen aus. Das Neue, das durch diesen Gedanken in die Art der Verbindlichkeit hineinkommt, besteht dann darin, daß es kein absolutes letztes Prinzip gibt, an das der menschliche Wille gebunden ist, sondern daß sich das jeweils herrschende und bestimmende Prinzip einer Entscheidung aus dem Umlauf der Zeit ergibt. Die Ewige Wiederkehr ersetzt genau jene drei obersten Werte, die bisher die Werthaftigkeit der Werte festgelegt haben, nämlich den Begriff des Endzwekkes, den Begriff der absoluten Einheit und den Begriff der absoluten Wahrheit (KGW VIII 2, 2 8 8 - 2 9 0 [WM 12]). Gerade sie hatten sich nach Nietzsche aufgelöst, und so bestätigt sich, daß sein Gedanke der Ewigen Wiederkehr die
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Werthaftigkeit der Werte neu bestimmt. An die Stelle des Endzwecks tritt der jeweilige Machtgrad, an die Stelle der von einem Prinzip bestimmten Einheit die jeweils sich herstellende Machtkonstellation und an die Stelle der Wahrheit die Verbindlichkeit, die durch den Gesichtspunkt der Ewigen Wiederkehr des Gleichen gesetzt wird. Durch diese neue philosophische Bestimmung der höchsten Werte ist jetzt auch die Möglichkeit und Notwendigkeit einer neuen philosophischen Bestimmung des Begriffs des Nihilismus begründet, und erklärt es sich, wieso er die oben angeführten weiteren Bestimmungen erfährt. Wenn die Grundbewegung des Lebens als Wille zur Macht die Setzung von Erhaltungs- und Steigerungsbedingungen ist und die Steigerung ihr Schwergewicht in dieser Bewegung hat, dann gehört zu dieser wesentlich die Auflösung von Werten. Eben diese Seite in der Bewegtheit des Willens zur Macht, die zum Wesen des menschlichen Lebens und damit auch zu seiner Geschichte gehört, nennt Nietzsche jetzt Nihilismus, der damit, wie er WM 585 B (KGW VIII 2, 31) sagt, zu einem „normalen Phänomen" wird. Innerhalb des Vorgangs der Auflösung von Werten trifft er jetzt im Hinblick auf den Begriff des Willens zur Macht noch einmal eine Unterscheidung. Die Auflösung kann ihren Grund entweder in einer Schwäche des Menschen haben — der Grund der bisherigen Wertsetzung schwächt sich ab: dann ist es ein Nihilismus der Schwäche — oder aber in einer wachsenden Stärke des Menschen: so reichen die bisherigen Werte zu seiner Erhaltung nicht mehr aus und müssen darum aufgelöst werden. So gibt es einen passiven und einen aktiven Nihilismus (KGW VIII 2, 1 4 - 1 6 [WM 22], vgl. WM 846/FW 370). Daraus ergibt sich auch unmittelbar die dritte und höchste Bedeutung von Nihilismus bei Nietzsche. Denn wenn der Nihilismus als Vorgang der Entwertung einerseits, mit der Folge der Setzung neuer Werte andererseits, bisher von den Menschen immer nur erfahren wurde und ihnen widerfuhr, so hat Nietzsche jetzt den Standort erreicht, wo er ihn als für den Menschen und seine Geschichte wesentlich begreift. „Nihilismus" bedeutet dann diesen Zustand, den Nietzsche in der Geschichte der Menschheit zu erreichen glaubt, daß der Mensch die Einsicht in die ursprüngliche Notwendigkeit jenes Vorgangs gewinnt, also das Selbstbewußtsein der Wesensnotwendigkeit des Nihilismus als eines immer wieder eintretenden Durchgangsstadiums der Geschichte. Die Geschichte vollzieht sich als die Wiederholung einer immer wieder neuen Wertsetzung, wobei der Verfall einer Wertsetzung und ihrer zugehörigen Lebensgestalt immer zugleich eine neue Wertsetzung und Lebensgestalt hervortreibt. Darum gibt sie der Menschheit das Bild einer vielfältig steigenden und fallenden Lebensgestaltung, und das Bewußtsein davon ist dann die höchste Form des Nihilismus, eine „göttliche Denkweise" (KGW VIII 2, 18 [WM 15], vgl. VIII 1, 215-221 [WM 55]).
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(4) So hat jetzt die Handlung der Neusetzung von Werten ihre Begründung, und ihr leitender Gesichtspunkt ist philosophisch bestimmt. Dies bedeutet aber gleichzeitig, daß der Mensch in seinem Wesen neu bestimmt ist, was in dem Wort „Ubermensch" zum Ausdruck kommt. Die zugehörige neue Wertsetzung wird als „Jenseits von Gut und B ö s e " bezeichnet. Diese beiden Grundworte sind die mißverständlichsten, weil vieldeutigsten bei Nietzsche. Es ist ihm nicht mehr gelungen, aus der Eindeutigkeit seiner Aufgabe, die er in den anderen Begriffen erreicht hat, auch diesen eine eindeutige Bestimmung zu geben. „Ubermensch" ist für Nietzsche das, was in seiner Anfangsperiode der „große Mensch" und das „ G e n i e " bedeutet; sie stehen für ihn zunächst nicht im Dienst der Entwicklung der Menschheit, sondern sind bereits der eigentliche Sinn der menschlichen Geschichte. Hier steht er eindeutig unter der Herrschaft des Geniebegriffs von Schopenhauer und dessen gesamter Deutung des Menschen; bei Nietzsche spielt noch von seinem Stadium der klassischen Philologie her der griechische Begriff des großen Menschen als des ruhmeswürdigen hinein und schließlich seine Vorstellung des Renaissancemenschen als dem skrupellosen individuellen Machtmenschen. Aber ebenso sicher läßt sich belegen, daß von der gegenwärtigen weltgeschichtlichen Situation her das Wort „Ubermensch" auch einen eindeutig philosophischen Sinn hat, in dem diese bisherigen Bestimmungen aufgehoben sind. Zunächst muß man sehen, daß der Mensch durch das weltgeschichtliche Dasein ja schon in seiner Realität ein neues Wesen und eine neue Natur erreicht hat — bzw. dabei ist, sie zu erreichen — und zum Bestehen dieses weltgeschichtlichen Daseins auch erreichen muß. Denn seine bisherige Bestimmung als Vernunftwesen entsprach ja auch dem bisherigen Selbstverständnis seiner Geschichte, nämlich daß sie von einem Gesetz getragen ist und zu einem letzten Endziel führt. Wenn durch die neue Entwicklung im weltgeschichtlichen Dasein gerade diese Grundvorstellungen sich aufgelöst haben, dann bedeutet das, daß der Mensch ein neues Wesen erreicht. Dies zeigt sich darin, daß er weiter und tiefer sowohl in den Vorgang der Geschichte wie der Welt überhaupt hineinsieht, und diese größere Weite und Tiefe kommt eben in dem Gedanken des Willens zur Macht, des Nihilismus als notwendigen Vorgangs und der Ewigen Wiederkehr als höchstem Punkt der Einsicht in diese Grundstruktur alles Seins zum Ausdruck. Der Mensch, der diese Einsicht gewinnt und entsprechend eine neue Grundhaltung zur Welt, zur Geschichte des Menschen und seiner Zukunft einnimmt, steht über allen bisherigen Menschen. Diese allgemeine und grundsätzliche Bedeutung des Wortes „ U b e r mensch" möchte ich als die erste festhalten, weil sie zwangsläufig aus der Gesamtsituation folgt, in der Nietzsche den Menschen sieht und bestimmt. Erst auf dieser allgemeinen Basis hat „Ubermensch" dann in der höheren zweiten Bedeutung den Sinn jenes Menschentypus, der in der neuen Situation,
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in der die gesamte Menschheit sich befindet, jeweils die neuen Werte setzt. Von der Aufgabe und Realität des weltgeschichtlichen Daseins her gehören beide Bedeutungen unmittelbar zusammen. Den Typus des Ubermenschen in diesem letzten Sinne, der von der Situation her gefordert ist, kann es aber nicht geben, wenn nicht allmählich auch die übrige Menschheit, jedenfalls in ihrer Grundauffassung der Welt und der Geschichte, in denselben Zustand kommt. Diese innere Verbindung hat Nietzsche freilich nicht mehr gesehen. Zur Bestimmung des Philosophen als „Übermenschen" gibt es viele Zwischen- und Vorbereitungsstufen. Daß der Philosoph als der höchste Typus des Menschen bestimmt wird, nicht nur im moralischen und ontologischen Sinne, sondern gerade im Sinne auch der Führungsaufgabe, stammt nicht von Nietzsche, sondern entspricht der gesamten Überlieferung der Philosophie. Schon deswegen muß man das Wort „Ubermensch" so deuten, daß das Mißverständnis beseitigt wird, es bedeute irgendein Fabelwesen oder auch ein Ungeheuer; rein sachlich ergibt sich dieser Typus Mensch vielmehr zwangsläufig aus der neuen weltgeschichtlichen Situation: „ D e r Philosoph [. . .] als der Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die Gesamt-Entwicklung des Menschen hat" ( J G B 61, vgl. A C 3 u. WM 866 [ K G W VIII 2, 128f.]). Nietzsche meint mit dem Wort „Ubermensch" also einen neuen Typus und ein neues Wesen des Menschen überhaupt, das eben durch die von ihm entwickelte philosophische Perspektive und den Einblick in den Grund und das Wesen alles Seins bestimmt ist. Er steht daher weit über dem, was bisher als großes Menschentum bezeichnet wurde. (5) Ebenso mißverständlich ist nun die Formel „Jenseits von Gut und B ö s e " als Bestimmung der Art, wie die neue Wertsetzung erfolgen soll. Denn sie kann ja nicht bedeuten, daß überhaupt alle Wertunterschiede aufgehoben werden, daß alles beliebig und alles erlaubt ist; sie bedeutet vielmehr, daß eine neue Bestimmung dessen, was gut ist, zugrundegelegt und angestrebt wird, die die bisherigen Bestimmungen von Gut und Böse übersteigt, genauso wie im Wort „ U b e r m e n s c h " das „ U b e r " im Sinne des „Jenseits" zu verstehen ist. Wenn Nietzsche sagt, gut sei, was den Willen zur Macht erhöhe ( A C 2) oder: „ N i c h t das Gute, sondern d e r Höhere!" ( K G W VII 2, 242), dann wird damit das Wesen seiner neuen Bestimmung des Guten noch nicht deutlich. Denn das Gute im philosophischen Sinne war ja immer zugleich auch auf das höchste Gut bezogen, und von dieser höchsten Rangordnung her bestimmte sich alles, was sonst gut war. N u n aber zeigt sich wieder die innere Kontinuität, die in Nietzsches Gedankenführung liegt. Das Neue seiner Bestimmung ist es, daß es kein absolut Gutes gibt, und deswegen muß nicht jede Negation als solche, die ja wesentlich das Absolute als solches verneint, schon das Böse sein. Wenn
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das absolute Sein fällt, ist Negatives und Böses nicht mehr identisch. Schon vom Begriff des Nihilismus her gesehen bedeutet ja Zerstörung, Mißachtung oder Fallenlassen von Werten nicht unbedingt etwas Negatives im Sinne des Lebenszerstörenden, sondern kann durchaus auch einen positiven Sinn haben, sofern es nämlich Platz schafft für neue höhere Werte. „Jenseits von Gut und B ö s e " bedeutet also nicht, daß der Unterschied von Gut und Böse fiele und daß nun alle Wertsetzung bloß relativ und damit willkürlich wäre, sondern es bedeutet primär, daß das negative Verhalten, das sich gegen Werte wendet, nicht zwangsläufig das Böse ist; statt dessen hat der Unterschied von Gut und Böse allein im Rahmen einer jeweiligen Gesamtwertsetzung seine Bestimmung. Entsprechend hat Nietzsche auch einen neuen umfassenden Begriff der Moral. Unter „ M o r a l " versteht er „ein System von Wertschätzungen, welches mit den Lebensbedingungen eines Wesens sich berührt" (WM 256), und in diesem Sinne ist auch die neue Wertsetzung moralisch. Und für diese neue geistige Verfassung, in der und aus der die neue Wertsetzung erfolgt, hat er ein neues, ganz positives Wort, nämlich den Begriff der Gerechtigkeit. „Gerechtigkeit, als Funktion einer weitumherschauenden Macht, welche über die kleinen Perspektiven von gut und böse hinaus sieht, also einen weiteren Horizont des V o r t h eil s hat — die Absicht, etwas zu erhalten, was mehr ist als diese und jene Person" ( K G W VII 2, 186). Das läßt sich nur verstehen aus der neuen Situation und der neuen Anforderung, in die der Mensch mit der U m wertung aller bisherigen Werte gestellt ist. Denn er muß Werte und Wertsysteme für die ganze Menschheit setzen; keine einheitliche für alle gültige Wertsetzung, sondern eine, die die Differenzierung der Menschheit berücksichtigt. Die Vielfalt der menschlichen Antriebe, nicht nur des Individuums, sondern der Gesamtheit der Menschheit in ihrer Differenzierung, gilt es in eine neue Ordnung zu bringen, und daher muß man auch einander widersprechende Werte aufnehmen. So kann Nietzsche sagen: „dies widerspruchsvolle Geschöpf hat aber an seinem Wesen eine große Methode der E r k e n n t n i ß : er fühlt viele Für und Wider, er erhebt sich z u r G e r e c h t i g k e i t — zum Begreifen j e n s e i t s d e s G u t - u n d B ö s e s c h ä t z e n s " ( K G W VII 2, 180 [WM 259]). Denn dem neuen Wertsetzen liegt ja — wie wir oben gesehen haben — die Gesamtbesinnung auf alle bisherigen Wertsetzungen zugrunde, und wenn nichts verloren gehen darf, dann kommt es darauf an, hier eine Synthesis zu finden, die nicht auf ein Prinzip begründet ist, sondern gerade das Widersprüchliche in sich aufnimmt und erhält. Deswegen nennt Nietzsche auch den neuen Menschen, sowohl den, der diese neue Wertsetzung ausführt, als auch den Typus, der darin gesetzt wird, den „synthetischen Menschen" ( K G W VIII 2, 186 [WM 881]):
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„ D e r Mensch hat, im Gegensatz z u m Thier, eine Fülle g e g e n s ä t z l i c h e r Triebe und Impulse in sich groß gezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde. [. . .] D e r höchste Mensch würde die größte Vielfalt der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt." ( K G W VII 2, 289 [WM 966]). „ D e r weiseste Mensch wäre d e r r e i c h s t e a n W i d e r s p r ü c h e n , der gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat: und zwischeninnen seine großen Augenblicke g r a n d i o s e n Z u s a m m e n k l a n g s — der hohe Z u f a l l auch in uns! - eine Art planetarischer Bewegung - " ( K G W VII 2, 180 [WM 259]).
So ist diese Grundhaltung des Jenseits von Gut und Böse und der Gerechtigkeit eindeutig auf die ganze Vielfalt der möglichen Gestaltung der Menschheit ausgerichtet und von dorther gefordert und bedingt. Das wird noch einmal bestätigt durch die Vorstellung, die Nietzsche nun von der zukünftigen Gestalt der Menschheit hat. „ A u s dem Geiste der Funktion heraus denken jetzt die Philosophen darüber nach, die Menschheit in E i n e n Organismus zu verwandeln — es ist der Gegensatz m e i n e r T e n d e n z [. . .] m ö g l i c h s t v i e l e w e c h s e l n d e v e r s c h i e d e n a r t i g e O r g a n i s m e n " ( K G W V 2, 425; vgl. VII 3, 201).
Damit haben wir den ganzen Umkreis der philosophischen Grundbegriffe Nietzsches umschritten. Wir haben sie sowohl in ihrer Bedeutung für sich gezeigt wie auch in ihrem wesentlichen inneren Zusammenhang. Bedeutung wie Zusammenhang ließen sich einzig und allein aus jener Grundsituation heraus entwickeln und verstehen, die wir das weltgeschichtliche Dasein des Menschen und dessen philosophische Dimension genannt haben. Nur daraus ergibt sich auch der Sinn der Formel „Umwertung aller Werte", in den sich der Ursprung und das zentrale Anliegen von Nietzsches Philosophie zeigte.
IV. So haben wir unsere erste These ausgeführt und begründet, daß der Philosophie bei der Aufgabe der Gestaltung der Weltgesellschaft eine entscheidende Bedeutung zukommt. Und nun können wir auch verdeutlichen, welcher Art die Bedeutung ist, die die Philosophie Nietzsches für unsere Gegenwart hat. Denn daß die Menschheitsgeschichte heute unmittelbar in dem großen und umfassenden Prozeß der Bildung einer Weltgemeinschaft steht, ist allgemein bekannt, ebenso die Erfahrung, daß dieser Prozeß nicht von selbst verläuft, sondern der Mensch wesentlich selbst die Verantwortung für ihn mitträgt und darum mitentscheiden und eingreifen muß, wenn diese Weltgemeinschaft bestehen soll, und schließlich, daß er dabei ganz neue Normen und
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Regeln für das menschliche Zusammenleben finden muß. Aber wenn das, was Nietzsche wohl als erster in diesem Umfang gesehen hat, heute allgemein klar und anerkannt ist, was kann uns dann die Erinnerung an seine Fragestellung und den Versuch seiner Antwort noch bedeuten? Das wird nur deutlich, wenn wir uns die Lage genauer ansehen. Denn wenn die angegebenen Sachverhalte heute allgemein bekannt und anerkannt sind, so ist doch die Zielsetzung nach Inhalt und Art tief umstritten. Im Osten haben wir die Philosophie des Marxismus — und er bleibt Philosophie, trotz aller Denaturierung, weil er letztlich auf Hegel zurückgeht und an seinen Grundgedanken festhält. In ihm ist ein ganz bestimmtes, fest umschriebenes Bild vom Menschen vorgezeichnet und als Ziel für die gesamte Menschheit festgelegt. Gleichzeitig ist auch die Vorstellung einer bestimmten Gesetzmäßigkeit entwickelt, die mit Sicherheit zur Verwirklichung dieses Ziels führen wird, auch wenn es für den Menschen notwendig ist, gelegentlich einzugreifen. Die Überzeugung vom Menschen als Vernunftwesen und der Philosophie und der modernen "Wissenschaft als dessen höchste Entfaltung und Grundlage für die Weltgesellschaft wird festgehalten. Im Westen aber hat man keine solche Antwort auf die gestellte Aufgabe. Sofern überhaupt eine einheitliche Vorstellung vom Menschen sich ausgebildet hat, die für die ganze Menschheit gültig sein soll, hat sie sich in den sogenannten Menschenrechten niedergeschlagen, die aber sowohl in ihrem Inhalt wie auch in der Ebene ihrer Bestimmung so verschiedenartig sind, daß sie keinerlei einheitliche Begründung finden; auch ihre Gültigkeit für andere Kulturen hat sich als fragwürdig erwiesen. Akzeptiert man sie als Ziel, so ist die Art seiner Verwirklichung umstritten; zum einen, ob es überhaupt notwendig ist, es planmäßig anzustreben; denn man ist der Uberzeugung, daß es sich aus der Pragmatik und dem pragmatischen Vergleich schon ergeben wird. Zum andern ist die Art der Sicherung der Zielsetzung umstritten: man hat Zweifel an der Wissenschaft — von der Philosophie wird ohnehin nicht mehr geredet —, ob sie überhaupt letzte Zielsetzungen geben kann — es gibt schon wieder Bestrebungen, die erneut nach dem Mythos rufen als Lösung für den zukünftigen Menschen —, man hat insofern also Zweifel, ob die Wissenschaft überhaupt einen positiven Charakter als Grundlage der Lebensgestaltung hat. D e mentsprechend umschreiben die Menschenrechte auch nur eine unterste Stufe des Menschen; von der Menschenart, die nun führend bei der Gestaltung der Weltgesellschaft eingreifen könnte, hat man keinerlei Vorstellung. Formelhaft gesprochen hält der Osten an der bisherigen Vernunftbestimmung des Menschen fest und will von dorther die ganz neue weltgeschichtliche Situation lösen, für den Westen aber hat sich jede Verbindung mit dem bisherigen Menschenwesen zunehmend aufgelöst, und er treibt im Grunde orientierungslos in die Zukunft. Zwischen dem Vernunftglauben des Ostens und der Resignation
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des Westens können nun Nietzsches philosophische Versuche gerade für uns heute eine positive, wegweisende Bedeutung haben. Entscheidend ist zunächst, daß Nietzsche die philosophische Dimension dieser Aufgabe sieht — ohne Mithilfe der Philosophie kann sie nicht gelöst werden — und auch an der positiven Bedeutung der Wissenschaft als Grundlage für die neue Wertsetzung festhält. Auf diese Weise bewahrt er den Zusammenhang mit der großen Uberlieferung, und das ist es, was die Erinnerung an ihn für den Westen unerläßlich macht. Zugleich aber sieht er, daß diese Bewahrung nicht darin bestehen kann, an dem bisherigen Vernunftwesen des Menschen festzuhalten, sondern daß es die Aufgabe der Philosophie wird, die Natur des Menschen neu zu bestimmen, und die neue Bestimmung bleibt nicht nur theoretisch, sondern zeichnet sich bereits in der faktisch sich vollziehenden Entwicklung der Weltgesellschaft ab. Bezüglich des Inhalts und der Art der Zielsetzung sieht Nietzsche aber, daß die zukünftige Weltgesellschaft kein uniformer Weltstaat werden soll und kann, sondern daß sie sich eine innere Differenzierung erhalten muß: es wird keine von einer einheitlichen Vernunft bestimmte Weltgemeinschaft geben. Entsprechend hält Nietzsche auch an einer grundsätzlichen Vielfalt des Lebens des Menschen und in diesem Sinne auch an einer möglichen Vielfalt der Moralen fest. Darin liegt grundsätzlich, daß das Gute und Böse nicht gleich ist mit dem Positiven und Negativen, und daß verschiedene Moralen jeweils entgegengesetzte Wertsetzungen enthalten können. Darum ist, wie wir gesehen haben, nicht alles erlaubt oder beliebig, sondern damit ist nur gesagt, daß die Grundentscheidung über die grundlegende Moral eine Entscheidung des Menschen darüber ist, welche Art Mensch er sein will; da er dabei aber einen wesentlichen Spielraum hat, wird es auch in der Weltgesellschaft eine Vielfalt von Kulturen geben. Drittens aber hat Nietzsche erkannt, daß jede Art von Zielsetzung und so auch diese niemals endgültig, darum aber doch nicht beliebig ist. Vielmehr ist die jeweils vorgegebene faktische Lage der Völker oder der einzelnen Menschen, die sich zugleich aus ihrer ganzen Geschichte ergibt, mitbestimmend für die Konstellation, zu der sie sich entscheiden; die Verbindlichkeit wird also einerseits durch diese Gesamtkonstellation der Zeit und andererseits durch die Entscheidung des Menschen dazu aufgerichtet. Die Zielsetzungen können und müssen daher auch immer wieder überprüft werden, und diese Bewegung gehört mit zum Wesen des Menschen. Schließlich hat Nietzsche erkannt, daß es für diese neue Grundsituation der Menschheit wesentlich darauf ankommt, daß Menschen ausgebildet werden, die der Aufgabe ihrer Bewältigung gewachsen sind und die Voraussetzungen mit sich bringen, um entsprechende Wertsetzungen durchzuführen und auch ihre Anerkennung herbeizuführen, und daß die letzte Instanz und Grundlage dafür die Philosophie ist, weil solche Entscheidungen in ihrer Dimension liegen. Darum muß man bei der Bestimmung des Men-
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schenwesens nicht nur die Vielfalt in seiner Differenzierung berücksichtigen, sondern auch die Möglichkeiten seiner höchsten Steigerung mit angeben, so wie es von jeher auch zur Tradition der Philosophie des Abendlandes gehört hat. Bedeutet das nun, daß wir auch die philosophische Grundkonzeption von Nietzsche aufnehmen und weiterbilden müssen, wenn wir die für uns und die Zukunft entscheidende Philosophie gewinnen wollen? Es kommt für die Philosophie heute alles darauf an, zu sehen, daß und inwiefern gerade Nietzsches Grundkonzeption der philosophischen Begriffe nicht ausreicht, um die gestellte Aufgabe zu lösen, sondern daß sie nur ein erster Vorstoß dazu gewesen ist. Insofern ist auch noch von diesen philosophischen Begriffen etwas zu lernen, aber wir müssen doch entscheidend über sie hinausgehen. Wir wollen den Schritt über sie hinaus noch kurz vorzeichnen. Wenn auch im Begriff des Willens zur Macht ein erster Schritt zur Loslösung vom bisherigen teleologischen Begriff der Vernunft gemacht worden ist, so bleibt doch bei Nietzsche im Willen zur Macht die Grundvorstellung erhalten, daß die Grundbewegtheit des Menschen und damit seiner Geschichte aus ihm selbst kommt und gleichzeitig davon getrieben ist, immer wieder über sich hinauszusteigen. Die Grundbewegung der abendländischen Geschichte läßt sich aber von dorther nicht hinreichend verstehen — Ausarbeitungen Nietzsches liegen dazu ja auch nur andeutungsweise vor — und darum auch nicht die gegenwärtige Situation der Auflösung aller bisherigen Werte. Der Gedanke des Willens zur Macht kann auch nicht die Grundlage für die zukünftige Wertsetzung sein, weil es keine belegbare Angabe gibt, inwiefern die Ubersteigung bisheriger Werte, d. h. die Neusetzung von Werten, immer unter dem Gesichtspunkt einer Steigerung stattfinden und daß diese Steigerung den Charakter der größeren Macht haben soll. So bleibt es fragwürdig, ob die Vielfalt der Moralen und die Einheit jeder Moral in sich allein aus dem Prinzip des Willens zur Macht erklärt werden kann, ob überhaupt diese ganze Auffassung zwangsläufig zu einer Auflösung des Gottesbegriffs führen muß, und ob die Wertsetzung sich auch selbst immer wieder nur als eine Täuschung verstehen soll, also der Nihilismus die tiefste Grundhaltung des Menschen sein kann. Fragwürdig bleibt, ob das der Wirklichkeit des Menschen entspricht, nicht nur faktisch, sondern auch seinem Wesen nach, fragwürdig bleibt auch die jeweilige Verbindlichkeit der Wertsetzung, wenn sie nur durch Vergessen ihres Ursprungs erreicht werden kann. So wesentlich Nietzsche es also auch mit dem Gedanken der Gerechtigkeit und der Bestimmung von Jenseits von Gut und Böse vorgezeichnet hat, so unzureichend bleibt doch das Fundament für eine zukünftige Gestaltung verschiedener Moralen. Was schließlich den Gedanken einer höchsten Verbindlichkeit betrifft, den Gedanken der Ewigen Wiederkehr des Gleichen, so zeigt
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sich gerade die bisherige Menschheitsgeschichte als in sich einmalig, und so ist fraglich, ob die Verbindlichkeit nur dadurch erreicht werden kann und muß, daß noch an den Gedanken der Ewigkeit der Wertsetzung angeknüpft wird, auch wenn diese Ewigkeit nur durch eine ewige Wiederkehr des Gleichen gewährleistet ist. An diesen Stellen liegen die großen Aufgaben der Philosophie, die sie aber nicht dadurch lösen wird, daß sie die ganze überlieferte Philosophie für eine vergebliche Bemühung hält, sondern daß sie sie als Fundament auch gerade der gegenwärtigen und zukünftigen Weltstellung festhält, zugleich aber sieht, daß und in welcher Richtung sie über diese bisherige Bestimmung des Menschen und seiner Geschichte hinausgehen muß, die ja immer mit der ganzen Weltbestimmung verknüpft ist. Die Richtung wird gerade durch Nietzsche in einem ersten Schritt gezeigt; auch die Präzisierung und Ausarbeitung einer Fragestellung hat schon eine positive Bedeutung und ist schon der halbe Weg zu ihrer Beantwortung. Schließen wir mit zwei Grundfragen Nietzsches, die am Beginn seiner produktiven eigenständigen Philosophie stehen: Wenn die Metaphysik als Grundlage der Werte und ihrer Verbindlichkeit sich aufgelöst hat, „mit welchem Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen?", und „wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluß einer solchen Gesinnung, gestalten?" (MA 21). Das sind die Grundfragen der Philosophie, die heute anstehen. Nietzsche hat die erste nur in Grundzügen und versuchsweise ausgearbeitet, zu der zweiten ist er schon gar nicht mehr gekommen. In meiner Abhandlung „Philosophie der modernen Lebenswelt" habe ich beide Fragen aufgenommen und versucht, eine tiefere Fragestellung und weiterführende Antwort vorzulegen.
MICHEL
HAAR
LA C R I T I Q U E N I E T Z S C H E E N N E D E LA SUBJECTIVITE « L a < c o n s c i e n c e d e s o i > est u n e f i c t i o n ! » 1 « L e < M o i > s u b j u g u e et t u e » 2 «Le
suprême
amour
envers
le m o i
. . .
s ' a c c o m p a g n e d u p l a i s i r p r i s à la p e r t e d e soi . . . » 3
Q u e le « moi » (entendons par là la conscience individuelle) ne forme pas le centre ou le noyau du sujet, ni le principe qui détermine la pensée, que le moi ne peut servir de fondement à un système de connaissance, qu'au contraire il se découvre toujours déjà inextricablement fondu aux choses, au monde et aux autres egos, enfin que le moi de la réflexion, qui prétend à l'universalité, à l'indépendance, à la maîtrise et à la certitude de soi, n'est qu'une fragile et illusoire construction métaphysique, voilà des thèmes qui, après Freud, Heidegger ou Merleau-Ponty, sont familiers et comme «évidents» à notre modernité. Nous ne croyons plus, après la psychanalyse, à l'autonomie du moi, «pauvre chose» écrasée entre les exigences contradictoires du ça et du surmoi. Heidegger nous a appris, entre autres, que le «propre» ne nous parvient d'abord que sous la figure abstraite d'une «mienneté» (Jemeinigkeit) impersonnelle, et n'est jamais acquis dans les premières paroles ou les premiers gestes, tout entiers prisonniers des manières du « O n » . Nous savons que par rapport à l'être-au-monde et au Souci — cette griffe de la temporalité — le moi n'est pas une structure fondamentale de l'êtrehomme. Le moi peut être compris, par exemple, comme un effet linguistique du Souci: «avec le le Souci s'exprime, d'abord et le plus souvent dans le dire-moi de la préoccupation» 4 . Nous savons aussi que 1
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V. P. I, p. 258. N. B. Table des sigles: Pour les textes les plus souvent cités nous donnons des initiales qui renvoient aux éditions suivantes: — V. P. I, ou II, la Volonté de puissance, traduction G . Bianquis, 26è édition, Gallimard, 1948. — U . W. I, ou II, dans Kröners Taschenausgabe les volumes I et II des fragments posthumes réunis sous le titre Unschuld des Werdens. V. P. II, p. 384. K G W VII 1, p. 25. Sein und Zeit, N e u n t e Unveränderte Auflage, Tübingen, 1960.
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Merleau-Ponty a réhabilité l'ouverture anonyme de la perception, cette contrée silencieuse où il n'y a encore aucun sujet, mais où chaque moi plonge ses racines pré-individuelles et noue avec tout autre une affinité plus profonde que toute «lutte des consciences», toujours postérieure. Or il a été à peine remarqué que dans ses analyses de la subjectivité, Nietzsche non seulement appartient pleinement à cette modernité mais la devance par bien des côtés. Fascinés, semble-t-il, par la portée plus ontologique que psychologique de la volonté de puissance, ou par la problématique de la mauvaise conscience ou du ressentiment, les commentateurs Heidegger en premier, se sont peu intéressés à la théorie nietzschéenne du sujet et à sa dimension critique. 5 Chez Heidegger en particulier, le dédain pour la psychologie de Nietzsche est aussi grand que son intérêt pour le «dernier métaphysicien», celui qui mène la métaphysique post-cartésienne de la subjectivité à son achèvement absolu. Nietzsche apporterait au sujet hégélien «encore inachevé» le complément nécessaire pour élever celui-ci à «la subjectivité enfin achevée» 6 , absolu d'animalité autant que de rationalité. Cette interprétation occulte toutes les objections comme toutes les mutations que Nietzsche introduit dans le concept classique du sujet. D'ailleurs les analyses de Nietzsche relèvent-elles de la psychologie et non pas plutôt de la pure philosophie? En se disant avant tout psychologue, Nietzsche a lui-même sans aucun doute brouillé les pistes. Car des aphorismes comme ceux-ci: «il n'y a pas de monades» 7 ; «l'homme, pluralité de < volontés de puissance > » 8 ; « nous sommes une multiplicité qui s'est construit une unité imaginaire»9, sont des propositions incontestablement métaphysiques qui soulèvent directement le problème de l'unité transcendantale du sujet, et celui du rapport de l'un et du multiple au sein de la subjectivité. Le point précis sur lequel Nietzsche attaque et tente de renverser la doctrine traditionnelle du sujet n'est autre que l'idée d'une essence logique du moi. Or cette idée se trouve à la base des thèses métaphysiques de Descartes et de Kant sur l'ego, thèses auxquelles Nietzsche s'en prend explicitement. Pour le rationalisme, qui s'inquiète par-dessus tout du fondement de la connaissance, le moi ne peut se définir comme nécessaire et universel que si on l'identifie avec le pouvoir logique du sujet. Chez Descartes, le moi est restreint à, et identifié avec l'entendement ou la raison: «je ne suis donc, précisément parlant, qu'une chose qui pense, c'est-à-dire un esprit, un enten5
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A l'exception toutefois de commentateurs plus récents, comme W. Müller-Lauter (cf. note 107). Nietzsche, II, traduction Klossowski, Gallimard, p. 241. Nachlaß 1887-1888. KGW VIII 2, 11 [73], V. P. I, p. 258. V. P. I, p. 255.
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dement, ou une raison» 10 . Chez Kant «le principe de l'unité synthétique de l'aperception», en termes moins scolaires le pouvoir unificateur de la conscience, «est le principe suprême de tout l'usage de l'entendement» 11 . C'est dire que l'unité du moi est la condition première du fonctionnement même de notre faculté logique. L'unité du moi rend possible l'unité du concept, l'opération même de la conceptualisation. Le moi est l'unité primordiale, archétypique: «par le moi, dit Kant, . . . il n'est donné aucun divers» 12 . Au contraire, «l'unité originairement synthétique de l'aperception», c'est-à-dire la conscience transcendantale, n'est pas seulement «le point le plus élevé» auquel il faut rattacher toute la logique, mais «ce pouvoir [d'unité] est l'entendement même» (ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst). Il ne faut donc pas dire que le moi pur conditionne l'entendement, mais qu'il est l'entendement. De cette identité du moi et de l'entendement, Kant ne fournit pas d'autre preuve que négative, ou par l'absurde: «sans cela, j'aurais un moi aussi divers et d'autant de couleurs qu'il y a de représentations dont j'ai conscience» 13 . L'essence du moi est d'être un, identique à soi, non contradictoire, c'est-à-dire logique. «Je» suis la logique même! Or la critique nietzschéenne du moi passe en premier lieu par une critique de la logique, sur laquelle reposent les doctrines rationalistes du moi. «La croyance dans le moi se soutient et s'effondre en même temps que la croyance à la logique» 14 . La croyance commune à ces deux croyances est la croyance dans l'existence d'identités stables, c'est-à-dire, pour Nietzsche, la croyance platonicienne en l'être, comme l'égal à soi. Pourquoi croyance? Parce que l'expérience ne fournit aucune donnée qui soit strictement identique, strictement une. Rien dans le monde, dans le réel, n'est un. Donc l'un est imaginaire, irréel, fictif. «La logique est liée à cette hypothèse: à supposer qu'il y ait des cas identiques»15. Que l'identité soit fictive ne signifie pas qu'elle soit vaine ou illégitime. La logique ne se règle pas sur les faits, mais leur impose le «schéma» d'une fiction régulative, qui permet de répondre à des nécessités pratiques (prévision, calcul, planification de l'action) et de dominer la réalité. La logique est imposée par une volonté qui a besoin que quelque chose comme l'identité et l'unité existe, pour sa propre sécurité. Le moi est une telle unité à la fois utile et fictive. L'importance de la croyance au moi est fondamentale pour la logique dans la mesure où les concepts de «substance», de «chose», de «cause» et d'«effet», et finalement ceux de «réalité» et 10 11 12 13 14 15
Descartes, Méditation seconde, Œuvres philosophiques, Critique de la Raison pure, 2è édition, § 17, B 136. Ibidem, § 16. Ibidem WM § 519. V. P. I, p. 73.
édition Alquié, T. II, p. 419.
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d'«être» sont déduits de notre concept du «sujet». Nous ne croyons en l'identité que parce que nous avons «en nous» le modèle de toute identité: le moi. Si bien que la critique de ce concept de «sujet» et de ses «facultés» devrait entraîner la ruine du système métaphysique des catégories, tout entier dérivé des propriétés attribuées au sujet. En d'autres termes, les croyances logiques, à savoir que la substance perdure comme le moi, que la cause produit son effet comme le moi produit ses actes, s'effondreront si l'on démontre que le moi ne perdure pas, qu'il n'est pas la cause unique de ses actes. Mais pourquoi détruire ces fictions logiques puisqu'elles sont utiles? Nietzsche veut ramener la logique à une simple fonction instrumentale, opératoire. La justification de sa critique est la confusion couramment entretenue entre les «identités» logiques et les principes de la réalité elle-même. L'illusion transcendentale de la logique consiste à projeter toujours à nouveau dans l'être ou dans l'en soi les unités logiques. Ainsi la critique de l'unité du moi, l'émiettement, la pluralisation du moi, auront pour finalité ultime avouée de retrouver la pluralité de l'être, «les degrés de l'être », comme le dit parmi bien d'autres le fragment ci-après: «Le concept de substance, conséquence du concept de sujet, et non l'inverse! Si nous renonçons à l'âme, au «sujet», la condition préalable d'une substance disparaît totalement. On a des degrés de l'être, on perd l'être»16. «Renoncer à l'âme, au «sujet», signifie d'abord renoncer à l'universalité abstraite de ces concepts et affirmer l'individualité du moi. Il n'y a de moi qu'individuel. Comme l'avoue implicitement Descartes (plus prudent en cela que Kant): «je suis un entendement, une raison; et non pas /'entendement en général, la raison». Mais dans un second temps, renoncer au sujet veut dire reconnaître que l'individu n'est pas un, que l'unité individuelle est fictive. C'est retrouver la pluralité intra-individuelle. Il s'agit non pas tant de repenser que de réapprendre à éprouver cette pluralité. Une fois brisée l'unité logique du sujet et son unité morale, la «personne» (autre masque à arracher), il faudra laisser agir les puissances multiples du moi, tous ses rôles, ses divers états de corps et d'âme. Ici l'idéal du philosophe- Versucher, expérimentateur et tentateur s'insinue insensiblement dans la description quasi phénoménologique du moi multiple. Le but est davantage d'expérimenter la plénitude de la subjectivité, et en l'expérimentant de la recréer, que de s'interroger sur son essence véritable. L'homme le plus homme sera capable de passer par plusieurs idéaux, de vivre différents caractères ou rôles, de «voir par cent yeux, à travers diverses personnes» 17 . 16
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V . P. I, p. 82. V. P. II, p. 82.
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La question qui se pose à partir de là, compte tenu de l'interprétation heideggérienne, est de savoir si Nietzsche atteint un «achèvement de la subjectivité». Il est trop tôt pour risquer une réponse. Tout ce que l'on peut dire c'est que la plénitude du sujet individuel visée par Nietzsche, plénitude transitoire, n'a rien à voir avec la totalisation (conservatrice des moments dépassés) qui caractérise le sujet universel chez Hegel. — L'« authenticité » nietzschéenne, si l'on ose utiliser ce terme, se situe à l'opposé de l'authenticité heideggérienne: alors que pour Heidegger, la diversité — des préoccupations quotidiennes, des interprétations établies par le O n —, est nécessairement «mauvaise», du moins aliénante, que l'être-là est menacé de déchoir dans la «curiosité» ou 1'«affairement», que l'homme pour être homme doit correspondre à la donation simple de l'être, pour Nietzsche le moi ne se trouve qu'en s'oubliant comme pseudo-unité, qu'en se plongeant dans la ronde des rôles et des perspectives. Le mouvement le plus authentique, c'est-à-dire en termes nietzschéens, le plus affirmatif et le plus risqué, commande la plus grande différenciation du moi, et non sa plus grande simplification. L'«esprit libre» est défini comme celui qui sait éviter le figement de ses croyances ou de ses certitudes «par de constantes variations » au point de ressembler à une « boule de neige pensante» 18 ! Pour réaliser l'idéal du «voyageur» dans Humain, trop humain, il faudrait progresser en «traversant la variété des partis en nobles traîtres de toutes choses . . ,» 1 9 «Nobles», tout est là: ne faut-il pas en effet beaucoup de noblesse, c'est-à-dire d'affirmation généreuse et vigoureuse pour traverser cette variété sans dissoudre le moi dans l'inconstance et la frivolité? L'expérimentation de la «variance du moi» 2 0 , comme dira Valéry, ne referme pas l'individualité sur elle-même, mais l'emporte et la transporte hors d'elle dans le monde. Le moi capable de saisir et de vivre la diversité des conditions et des philosophies, est le plus apte aussi à sentir le «lien cosmique», c'est-à-dire non seulement à s'éprouver inséparablement attaché à toute la lignée des vivants et à toute ascendance historique, mais à comprendre qu'il fait partie du fatum universel, qu'il est ce fatum. Ego fatum. «Tout individu collabore à l'ensemble de l'être cosmique — consciemment ou non, bon gré, mal gré» 21 . «L'individu n'est jamais sous quelque angle qu'on le considère, qu'un fragment de fatum» 2 2 . Le moi cosmique doit-il être compris, comme une étape préparatoire à 1 'amor fati, à l'affirmation de l'Eternel Retour? La subjectivité n'est-elle pas abolie dans cette forme extrême, et peut-être impen-
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MA I § 637. Ibidem. Cahiers I, p. 861. V. P. II, p. 384. G D Moral als Widernatur 6
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sable, de fatalisme? Toute la critique de la subjectivité n'a-t-elle pour motif ultime que ce saut dans une affirmation panique qui éclipse tout ego? Briser l'identité logique du sujet, retrouver la pluralité intra-individuelle, développer la dimension cosmique du moi: il est certain que ces tâches de la critique ne sont pas marquées par la préoccupation spéculative de la « connaissance de soi», mais par une préoccupation pratique, étonnamment ambitieuse, celle de changer l'essence même de la subjectivité.
I. Briser l'identité logique du sujet «La est une fiction» 23 . «Il n'y a ni , ni raison, ni pensée, ni conscience, ni âme, ni volonté, ni vérité: tout cela ce sont des fictions inutilisables»24. Que veut dire ici précisément fiction? Illusion certes, mais aussi «invention poétique», «tour de poète», car Nietzsche emploie souvent au lieu de Fiktion les termes de Erdichtetheit, Erdichtung, ou tout simplement Dichtung. Sans remettre en cause la position nietzschéenne qui fait des catégories logiques des unités illusoires projetées sur la multiplicité du réel, une objection se présente tout naturellement. Comment Nietzsche peut-il à la fois accorder un sens péjoratif à la fiction logique et accorder à l'illusion poétique, comme à l'art en général, la valeur la plus haute? Cette contradiction apparente se résout si l'on se réfère à ce qui est dit de la poésie, et en particulier dans le chapitre de Zarathoustra intitulé Des poètes. « Les poètes mentent trop». Nous soulignons; car tout tient à ce «trop». Le mensonge poétique ne vaut que s'il ne prétend pas à son tour être un substitut de vérité. Les poètes mentent trop, lorsqu'ils oublient qu'ils mentent, lorsqu'ils prétendent dire la vérité en soi, par révélation directe. Seule la fiction qui sait être telle est bienfaisante. Sinon elle est auto-mystification. «Le poète qui sait mentir en connaissance de cause, volontairement, celui-là seul peut dire la vérité» 25 . Il y a chez Nietzsche une apologie du mensonge franc, comme l'est pour lui celui de l'art. Les philosophes, les logiciens au contraire sont très éloignés de penser produire des fictions. Ils sont des menteurs mystifiants: leur mystification consiste à vouloir faire croire que leurs catégories, leurs «tours de poètes», expriment l'essence même des choses. Nietzsche gardant toujours comme point de départ la définition platonicienne de la vérité comme l'étant-««, l'identique et non contradictoire, ne peut, dans son renversement du platonisme, écrire sa propre définition 23 24 25
V. P. I, p. 258. W M § 480. Gedichte, KTA 77, p. 574.
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de la «vérité» (le mensonge non dissimulé, reconnu comme tel) qu'entre guillemets ! Le « vrai » étant pour lui du côté du multiple et de la contradiction, 1'«apparence» ou 1'«illusion» du côté de l'un et de l'identité, sa propre «vérité » n'est pas une vérité que l'homme puisse connaître, même inadéquatement, car connaître consiste à transposer le multiple dans l'un, et donc à nier le multiple. Ainsi ce n'est pas tant le caractère fictif du sujet que Nietzsche critique que l'oubli ou l'ignorance de ce caractère fictif. Croyant à sa propre unité, le sujet se fait de lui-même une image mutilée, rétrécie. «Le sujet est une multiplicité qui s'est construit une unité imaginaire » 26 . Le danger n'est pas dans cette unité comme telle, mais dans l'effet d'écran et d'obstacle à l'épanouissement de la multiplicité interne produit par elle. Il importe de montrer quels sont ces effets d'occultation et quels sont les rapports de dépendance entre l'unité logique, la conscience, et le sujet «total», ou en tout cas, non logique. Fidèle en cela à la tradition métaphysique, Nietzsche ne peut en effet reconnaître à la conscience le caratère de sujet, dans la mesure où le sub-jectum, ce qui se tient en dessous, doit pouvoir fournir une base, un fondement, ou doit pouvoir recevoir les attributs les plus nombreux. La conscience ne peut sous-tenir, supporter la subjectivité! «Nous en sommes à la phase où le conscient devient modeste » 27 . La conscience sera rappelée à la modestie par sa confrontation avec des «instances» plus complexes et plus puissantes: le corps, la pensée non conceptualisante, les sentiments, le monde extérieur, le langage et la communication sociale. Mais avant tout le corps. Pourquoi faut-il philosopher «en prenant le corps pour fil conducteur» 28 ? Parce que c'est lui qui mérite d'être appelé le sujet, ou qui mériterait de l'être si ce concept unifiant ne risquait pas de dissimuler la pluralité qui est la sienne: il est appelé une «collectivité inouïe d'êtres vivants» 29 , un concours de «nombreuses intelligences» 30 , «un édifice collectif de plusieurs âmes» 31 . L'unité d'intégration innée et vivante du corps humain est «le miracle des miracles» 32 . Par rapport à elle «la conscience n'est qu'un