Lessing’s Werke: Band 12 [Reprint 2020 ed.]
 9783112344903, 9783112344897

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Lessings Werke. Zwölfter Band.

Stuttgart. G. I. Göschen'sche Berlagshandlung.

Druck der Hoffmann'schen Buchdruckerei in Stuttgart.

Seite

Ernst und Falk.

Gespräche für Freimaurer.

1778—1780.

1

Widmung............................................................................................ 3 Vorrede eines Dritten 3 Erstes Gespräch 4 Zweites Gespräch........................................................................................ 10 Drittes Gespräch........................................................................................ 20 Fortsetzung. Vorrede eines Dritten......................................................27 Viertes Gespräch........................................................................................ 28 Fünftes Gespräch........................................................................................ 36 Nachricht......................................................................................................... 45 Die Erziehung des Menschengeschlechts.

1780.

.

.

47

Einleitung................................................................................................... 49 Vorbericht des Herausgebers................................................................. 51 §§ 1—100 . ...............................................................................................52

Auswahl aus den Briefen von Leffing...................... 77

Ernst und Falk.

Gespräche für Freimimrer.

Seiner Durchlaucht dem Herzoge Ferdinand. Durchlauchtigster Herzog,

Auch ich war an der Quelle der Wahrheit, und schöpfte. Wie tief ich geschöpft habe, kann nur der beurteilen, von beut

ich die Erlaubnis erwarte, noch tiefer zu schöpfen. — Das Volk lechzet schon lange und vergehet vor Durst. — Ew. Durchlaucht untertänigster Knecht

Borrede eines Dritten. Wenn nachstehende Blätter die wahre Ontologie der Freimäurerei nicht enthalten: so wäre ich begierig zu erfahreit,

in welcher von den unzähligen Schriften, die sie veranlaßt

hat, ein mehr bestimmter Begriff von ihrer Wesenheit ge­ geben werde.

Wenn aber die Freimäurer alle, von welchem Schlage sie auch immer sein mögen, gern einräumen werden, daß der

hier angezeigte Gesichtspunkt der einzige ist, aus welchem — sich nicht einem blöden Auge ein bloßes Phantom zeigt, —

sondern gesunde Augen eine wahre Gestalt erblicken: so dürfte nur noch die Frage entstehen: warum man nicht längst so deut­

lich mit der Sprache herausgegangen sei?

4

Ernst und Falk.

Auf diese Frage wäre vielerlei zu antworten.

Doch wird

man schwerlich eine andere Frage finden, die mit ihr mehr Ähnlichkeit habe, als die: warum in dem Christentume die

systematischen Lehrbücher so spät entstanden find? roarunt es so viele und gute Christen gegeben hat, die ihren Glauben aus

eine verständliche Art weder angeben komkten, noch wollten?

Auch wäre dieses im Christentume noch immer zu früh

geschehen, indem der Glaube selbst vielleicht wenig dabei ge­ wonnen: wenn sich Christen nur nicht hätten einfallen lassen, ihn auf eine ganz widersinnige Art allgeben zu wollen.

Man mache hiervon die Anwendung selbst.

Erstes Gespräch. Ernst. Woran denkst du. Freund?

Kalk. An nichts.

Ernst. Aber du bist so still. Kalk. Eben darum.

Wer deilkt, wenn er genießt? Und

ich genieße des erquickeilden Morgens.

Ernst. Du hast recht; und du hättest mir meine Frage nur zurückgeben dürfen. Kalk. Wenn ich an etwas dächte, würde ich darüber sprechen.

Nichts geht über das laut denken mit einem Freunde.

Ernst. Gewiß.

Kalk. Hast d u des schönen Morgens schon genug genossen;

fällt dir etwas ein; so sprich du.

Mir fällt nichts ein.

Ernst. Gut das! — Mir fällt ein, daß ich dich schon längst

um etwas fragen wollen. Kalk. So frage doch. Ernst. Ist es wahr. Freund, daß du ein Freimäurer bist?

Kalk. Die Frage ist eines der keiner ist.

5

Erstes Gespräch.

Ernst. Freilich! — Aber antworte mir gerader zu. — Bist du ein Freimaurer? Talk. Ich glaube es zu sein.

Ernst. T ie Antwort ist eines, der seiner Lache eben nicht gewiß ist. Talk. £ doch!

Ich bin meiner Lache so ziemlich gewiß.

Ernst. Denn du wirst ja wobt wissen, ob und wann und wo und von wem du ausgenommen morden.

Talk. Das weiß ich allerdings; aber das würde so viel nicht sagen wollen.

Ernst. Nicht? Kalk. Wer nimmt nicht auf, und wer wird nicht aus­

genommen !

Ernst. Erkläre dich. Kalk. Ich glaube ein Freimaurer zu fein; nicht sowohl,

weil ich von älteren Mauren« in einer gesetzlichen Loge aus­ genommen worden: sondeni weil ich einsehe und erkenne, was

und warum die Freimäurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie und wodurch sie besördert oder gehindert wird.

Ernst. Und drückst dich gleichwohl so zweifelhaft aus? —

Ich glaube einer zu sein! Kalk. Dieses Ausdrucks bin ich mm so gewohnt. Nicht zwar, als ob ich Mangel an eigner Überzeugung hätte: sondem

weil ich nicht gerne mich jemanden gerade in den Weg stellen mag. Ernst. Du antwortest mir als einem Fremden.

Kalk. Fremder oder Freund! Ernst. Dir bist ausgenommen, du weißt alles--------

Kalk. Andere sind auch ausgenommen, und glauben zu wissen. Ernst. Könntest

du

denn

ausgenommen sein,

ohne zu

wissen, was du weißt?

Kalk. Leider!

Ernst. Wie so? Kalk. Weil viele, welche aufnehmen, es selbst nicht wissen;

die wenigen aber, die es wissen, es nicht sagen können.

6

Emst und Falk.

Ernst. Und könntest du denn wissen, was du weißt, ohne

ausgenommen zu sein? Kalk. Warum nicht? — Die Freimaurerei ist nichts Will­

kürliches, nichts Entbehrliches: sondem etwas Notwendiges,

das in dem Wesen des Menschen und der biirgerlichen Gesell-

schast gegründet ist.

Folglich mutz man auch durch eignes

Nachdenken ebensowohl darauf verfallen können, als man durch Anleitung darauf gesühret wirb. «rüst. Tie Freimaurerei wäre nichts Willkürliches? —

Hat sie nicht Worte und Zeichen und Gebräuche,

welche alle

aitders sein könnten, und solglich willkürlich sind?

$olk. Das hat sie.

Aber diese Worte und diese Zeichen

und diese Gebräuche sind nicht die Freimäurerei.

Ernst. Die Freimäurerei wäre llichts Entbehrliches? — Wie machten es denn die Menschen,

als die Freimäurerei

noch nicht war?

Kalk. Die Freimäurerei war immer.

Ernst. Nun was ist sie denn, diese notwendige, diese un­ entbehrliche Freimäurerei?

Kalk. Wie ich dir schon zu verstehen gegeben: — etwas,

das selbst die, die es wissen, ilicht sagen können.

Ernst. Also ein Unding. Kalk. Übereile dich nicht. Ernst. Wovon ich einen Begriff habe, das kann ich auch

mit Worten ausdrücken. Kalk. 'Nicht immer; und oft wenigstens nicht so, daß andre

durch die Worte vollkommen eben denselben Begriff bekommen, den ich dabei habe.

Ernst. Wenn nicht vollkommen eben denselben, doch einen etwanigen.

Kalk. Der ctwanige Begriff wäre hier unnütz oder ge­

fährlich.

Unnütz, wenn er nicht genug; und gefährlich, wenn

er das Geringste zu viel enthielte. Ernst. Sonderbar! — Da

also

selbst die Freimäurer,

7

Erstes Gespräch.

welche das Geheimnis ihres Ordens wissen, es nicht wörtlich

mitteilen können, wie breiten sie denn gleichwohl ihren Orden aus ?

Kalk. Durch Thaten. — Sic lassen gute Männer und

Jünglinge,

die sie ihres

nähern Umgangs würdigen, ihre

Thaten vermuten, erraten, — sehen, soweit sie zu sehen sind;

diese finden Geschmack daran, und thun ähnliche Thaten. Ernst. Thaten? Thaten der Freimäurer?— Ich kenne

keine ändere, als ihre Reden und Lieder, die meistenteils schöner gedruckt, als gedacht und gesagt sind.

Kalk. Tas haben sie mit mehrern Reden und.Siebern

gemein. Ernst. Oder soll ich das für ihre Thaten nehmen, was sie in diesen Reden und Siebern von sich rühmen?

Kalk. Wenn sie es nicht bloß von sich rühmen.

Ernst. Und was rühmen sie denn von sich? — Sauter Dinge, die man von jedem guten Menschen, von jedem rechtschafjnen Bürger erwartet. — Sie sind so freundschaftlich, so

gutthätig, so gehorsam, so voller Vaterlandsliebe! Kalk. Ist denn das nichts?

Ernst. Nichts! — um sich dadurch von andern Menschen

auszusondem. — Wer soll das nicht sein? Kalk. Soll!

Ernst. Wer hat, dieses zu sein, nicht, auch , außer der

Freimäurerei, Antrieb und Gelegenheit genug? Kalk. Aber doch in ihr, und durch sie, eitlen Antrieb mehr. Ernst. Sage mir nichts von der Menge der Antriebe.

Lieber einem einzigen Alltriebe alle nlögliche intensive Kraft

gegebeil! — Die Menge solcher Alltriebe ist wie die Menge der Räder in einer Maschine.

Je mehr Räder: desto wandel­

barer. Kalk. Ich kann dir das nicht widersprechen.

Ernst. Und was für einen Antrieb mehr! — Der alle andre Antriebe verkleinert, verdächtig macht!

den stärksten und besten auSgiebt!

sich selbst für

8

Ernst und Falk. Kalk. Freund, sei billig! — Hyperbel, Quidproguo jener

schalen Reden und Lieder! Probewerk! Jüngerarbeit!

Ernst. Das will sagen: Bruder Redner ist ein Schwätzer. Kalk. Das will nur sagen: was Bruder Redner an den Freimaurern preiset, das sind nun sreilich ihre Thaten eben

nicht.

Denn Bruder Redner ist wenigstens kein Plauderer;

und Thatm sprechen von selbst. Ernst. Ja, nun merke ich worauf du zielest.

Wie konnten

sie mir nicht gleich einfallen diese Thaten, diese sprechenden Thatm.

Richt genug,

Fast möchte ich sie schreiende nennen.

daß sich die Freimäurer einer den andem unterstützen, auf das kräftigste unterstützen: denn das wäre nur die notwendige Eigenschaft

einer

jeden

Bande.

Was

thun

das gesamte Publikum eines jeden Staats,

sie nicht

für

dessen Glieder

sie sind! Kalk. Zum Exempel? — Damit ich doch höre, ob du auf

der rechten Spur bist.

Ernst. Z. E. die Freimäurer in Stockholm! — Haben sie nicht ein großes Findelhaus errichtet?

Kalk. Wmn die Freimäurer in Stockholm sich nur auch

bei einer andern Gelegenheit thätig erwiesen haben.

Ernst. Bei welcher andern? Kalk. Bei sonst andern; meine ich.

Ernst. Und die Freimäurer in Dresden! die arme junge Mädchen

mit Arbeit beschäftigen,

sie

klöppeln

und

sticken

lassen, damit das Findelhaus nur kleiner sein dürfe. Kalk. Ernst! Du weißt wohl, wem, ich dich deines Namens

erinnere.

Ernst. Ohne alle Glossen dann. — Und die Freimäurer in Braunschweig! die arme fähige Knaben im Zeichnen unter­

richten lassen. Kalk. Warum nicht?

Ernst. Und die Freinläurer in dowsche Philanthropin unterstützen.

Berlin! die das Base­

Erstes Gespräch.

9

Tolk. Was sagst du? — Tie Freimaurer? Das Philanthropin? unterstützen? — Wer hat dir das aufgebunden?

Ernst. Die Zeitung hat es auSposaunet. Tolk. Die Zeitung! — Da müßte ich Basedows eigen­ händige Quittung sehen.

Und müßte gewiß sein, daß die

Quittung nicht an Freimaurer in Berlin, sondern an die

Freimaurer gerichtet wäre.

Ernst. Was ist das? — Billigest du denn Basedows In­ stitut nicht?

Tolk. Ich nicht? Wer kann es mehr billigen? Ernst. So wirst du ihm ja diese Unterstützung nicht mißgönnen?

Tolk. Mißgönnen? — Wer kann ihm alles Gute mehr gönnen, als ich?

Ernst. Nun dann! — Du wirst mir unbegreiflich. Talk. Ich glaube wohl. Dazu habe ich unrecht. — Denn auch die Freimaurer können etwas thun, was sie nicht als

Freimaurer thun.

Ernst. Und soll das von allen auch ihren übrigen guten Thaten gelten?

Talk. Vielleicht! — Vielleicht, daß alle die guten Thaten, die du mir da genannt hast, um mich eines scholastischen Aus­ druckes, der Kürze wegen, zu bedienen, nur ihre Thaten ad extra sind.

Ernst. Wie meinst du das? Talk. Nur ihre Thaten, die dem Volke in die Augen sallen; — nur Thaten, die sie bloß deswegen thun, damit sie

dem Volk in die Augen fallen sollen.

Ernst. Um Achtung und Duldung zu genießen? Talk. Könnte wohl sein. Ernst. Aber ihre wahre Thaten denn? — Du schweigst? Talk. Wenn ich dir nicht schon geantwortet hätte? — Ihre wahre Thaten sind ihr Geheimnis.

Ernst. Ha! Ha! Also auch nicht erklärbar durch Worte?

10

Ernst und Falk.

Kalk. Nicht wohl! — Nur soviel kann und darf ich dir

sagen: die wahren Thaten der Freimaurer sind so gross, so

weit aussehend, daß ganze Jahrhunderte vergehen können, ehe man sagen kann: das haben sie gethan! Olleichwohl haben sie alles Gute gethan, was noch in der Welt ist, — merke wohl:

in der Welt! — Und fahren fort, an alle dem Guten zu arbeiten, was noch in der Welt werden wird, — merke wohl,

in der Welt. Ernst. O geh'! Du haft mich zum besten. Kalk. Wahrlich nicht. — Aber sieh! dort fliegt ein Schmetter­

ling, den ich haben muß.

Es ist der von der Wolfsmilch­

raupe. — Geschwind sage ich dir nur noch: die wahrett Thaten der Freimaurer zielen dahin, um größtenteils alles, was man

gemeiniglich gute Thaten zu nennen pflegt, entbehrlich zu machen. Ernst. Und sind doch auch gute Thaten.

Kalk. Es kann keine bessere geben. — Denke einen Augen­

blick darüber nach.

Ich bin gleich wieder bei dir.

Ernst. Gute Thaten, welche daraus zielen, gute Thaten

entbehrlich zu machen? — Das ist ein Rätsel.

Und über ein

Rätsel denke ich nicht nach. — Lieber lege ich mich indes unter

den Baum, und sehe Bett Ameisen zu.

Zweites Gespräch. Ernst. Nun? wo bleibst du denn? Und hast den Schmetter­

ling doch nicht? Kalk. Er lockte mich von Strauch zu Strauch, bis an

den Bach. — Auf einmal war er herüber.

Ernst. Ja, ja.

Es giebt solche Locker!

Kalk. Hast du nachgedacht? Ernst. Über was? Über dein Rätsel? — Ich werde ihn

auch nicht fangen, den schönen Schmetterling!

Darum soll er

11

Zweites Gespräch.

mir aber auch weiter keine Mühe machen. — Einmal von der Freimaurerei mit dir gesprochen, und nie wieder

Denn ich

sehe ja wohl; du bist, wie sie alle. Kalk. Wie sie alle? Das sagen diese alle nicht. Ernst. Nicht? 3o giebt eS ja wohl auch Ketzer unter den

Freimäurern? Und du wärest einer. — Doch alle Ketzer haben mit den Rechtgläubigen immer noch etwas gemein.

Und davon

sprach ich.

Talk. Wovon sprachst du? Ernst. Rechtgläubige oder ketzerische Freimäurer — sie alle

spielen mit Worten, und lassen sich fragen, und antworten

ohne zu antworte«. Kalk. Meinst du? — Nun wohl, so laß uns von etwas anderm reden.

Denn einmal hast du mich aus dem behäg«

licheu Zustande des stummen Staunens gerissen —

Ernst. Nichts ist leichter, als dich in diesen Zustand wieder zu versetzen — Laß dich nur hier bei mir nieder, und sieh!

Talk. Was denn? Ernst. Das Leben uitd Weben auf und in und um diesen

Ameisenhaufeit. nung!

Welche Geschäftigkeit, und doch welche Ord­

Alles trägt und fchleppt und schiebt; und keines ist

dem atrdern hinderlich.

Sieh nur! Sie helfen einander sogar.

Talk. Die Ameisen leben in Gesellschaft, wie die Bienen.

Ernst. Und in einer noch wunderbaren: Gesellschaft als die Bienen.

Denn sie haben niemand unter sich, der sie zu-

sanimenhält und regieret. Talk. Ordnung muß also doch auch ohne Regierung be­ stehen köniren. Ernst. Wenn jedes einzelne sich selbst zu regieren weiß:

warum nicht?

Talk. Ob es wohl auch einmal mit den Menschen dahin kommet» wird? Ernst. Wohl schwerlich!

Talk. Schade!

12

Ernst und Falk. Ernst. Jawohl! Kalk. Steh' auf, uud laß uns gehen.

Denn sie werden

dich bekriechen, die Ameisen; und eben fällt auch mir etwas bei, was. ich bei dieser Gelegenheit dich doch fragen muß. —

Ich kenne deine Gesinnungen darüber noch gar nicht.

Ernst. Worüber? Kalk. Über die bürgerliche Gesellschaft des Menschen über­ haupt. — Wofür hältst du sie?

Ernst. Für etwas sehr Gutes. Kalk. Unstreitig. — Aber hältst du sie für Zweck, oder für Mittel? Ernst. Ich verstehe dich nicht.

Kalk. Glaubst du, daß die Menschen für die Staaten er­ schaffen werden? Oder daß die Staaten fiir die Menschen sind? Ernst. Jenes scheinen einige behaupten zu wollen.

Dieses

aber mag wohl das Wahrere sein. Kalk. So denke ich auch. — Die Staateir vereinigen die

Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch feinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sichrer genießen könne. — Das Totale der einzeln Glückselig-

keiteir aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staats.

dieser giebt es gar keine.

Außer

Jede andere Glückseligkeit des Staats,

.bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden, und leiden

müssen, ist Bemäntelung der Tyrannei.

Anders nichts!

Ernst. Ich möchte das nicht so laut sagen. Kalk. Warum nicht?

Ernst. Eine Wahrheit, die jeder nach seiner eignen Lage beurteilet, kann leicht gemißbraucht werden.

Kalk. Weißt du. Freund, daß du schon ein halber Freimäurer bist?

Ernst. Ich? Kalk. Tu.

Denn du erkennst ja schon Wahrheiten, die

uian besser verschweigt. Ernst. Aber doch sagen könnte.

13

Zweites Gespräch.

Kalk. Der Weise kann nicht sagen, was er besser verschweigt.

Ernst. Nun, wie du willst! — Laß uns aus die Frei­ maurer nicht wieder zurückkommen.

Ich mag ja von ihnen

weiter nichts wissen. Kalk. Verzeih'!

Du siehst wenigstens meine Bereitwillig­

keit, dir mehr von ihnen zu sagen.

Ernst. Du spottest.--------- Gut! das bürgerliche Leben des Menschen, alle Staatsverfassungen sind nichts als Mittel zur menschlichen Glückseligkeit.

Was weiter?

Kalk. Nichts als Mttel! Und Mittel menschlicher Erfin­

dung; ob ich gleich nicht leugnen will, daß die Natur alles so eingerichtet, daß der Mensch sehr bald auf diese Erfindung

geraten müsse.

Ernst. Dieses hat denn auch wohl gemacht, daß einige die bürgerliche Gesellschaft für Zweck der Natur

gehalten.

Weil alles, unsere Leidenschaften und unsere Bedürfnisse, alles darauf führe, sei sie folglich das Letzte, worauf die Natur

gehe.

So schlossen sie.

Als ob die Natur nicht auch die

Mittel zweckmäßig hervorbringen müssen.

mehr die Glückseligkeit

eines

Als ob die Natur

abgezogenen Begriffs — wie

Staat, Vaterland und dergleichen sind — als die Glückselig­ keit jedes wirklichen einzeln Wesens zur. Absicht gehabt hätte! Kalk. Sehr gut! entgegen.

Du kömmst mir auf dem rechten Wege

Denn nun sage mir; wenn die Staatsverfassungen

Mittel, Mittel menschlicher Erfindungen sind: sollten sie allein

von dem Schicksale menschlicher Mittel ausgenommen sein? Ernst. Was nennst du Schicksale menschlicher Mittel?

Kalk. Das, was unzertrennlich mit menschlichen Mitteln verbunden ist;

was sie von göttlichen unfehlbaren Mitteln

unterscheidet. Ernst. Was ist das?

Kalk. Daß sie nicht unfehlbar sind.

Daß sie ihrer Absicht

nicht allein öfters nicht entsprechen, sondern auch wohl gerade

das Gegenteil davon bewirken.

14

Ernst und Falk.

Ernst. Ein Beispiel! wenn dir eines einfällt.

Falk. So sind Schiffahrt und Schiffe Mittel in entlegene

Länder zu kommen; und werden Ursache, daß viele Menschen nimmermehr dahin gelangen.

Ernst. Die nämlich Schiffbruch leiden und ersaufen.

Nun

glaube ich dich zu verstehen. — Aber man weiß ja wohl, wo­

her es kömmt, wenn so viel einzelne Menschen durch die Staats­ verfassung

an

ihrer

Glückseligkeit

Staatsverfassungen sind viele;

nichts

gewinnen.

eine ist also besser

Der als

die

andere; manche ist sehr fehlerhaft, mit ihrer Absicht offenbar streitend; und die beste soll vielleicht noch erfunden werden.

Falk. Das ungerechnet! Setze die beste Staatsversassung, die sich nur

denken

läßt,

schon erfunden;

setze,

daß

alle

Menschen in der ganzen Welt diese beste Staatsversaffung an­

genommen haben: meinst du nicht, daß auch dann noch, selbst aus dieser besten Staatsversaffung, Dinge entspringen muffen, welche der menschlichen Glückseligkeit

höchst nachteilig

sind,

und wovon der Mensch in dem Stande der Statur schlechter­

dings nichts gewußt hätte?

Ernst. Ich meine: wenn dergleichen Dinge aus der besten

Staatsversaffung entsprängen, daß es sodann die beste Staate*

Verfassung nicht wäre. Falk. Und eine bessere möglich wäre? — Nun, so nehme

ich diese bessere als die beste an: und frage das nämliche. Ernst. Du scheinest mir hier bloß von vomeherein aus

dem angenommenen Begriffe zu vernünfteln, daß jedes Mittel

menschlicher Erfindung, wofür du die Staatsverfassungen samt

und sonders erklärest, nicht anders als mangelhaft sein könne. Falk. Nicht bloß.

Ernst. Und es mürbe dir schwer werden, eines von jenen

nachteiligen Dingen zu nennen — Falk. Die auch aus der besten Staatsverfassung notwendig entspringen müssen? — O zehne für eines. Ernst. Nur eines erst.

15

Zweites Gespräch.

Talk. Wir nehmen also Die beste Staatsverfassung für erfunden an; wir nehmen an, Daß alle Menschen in der Welt

in dieser besten Staatsversassung leben: würden deswegen alle Menschen in der Welt nur einen Staat ausmachen? Ernst. Wohl schwerlich.

Ein so ungeheurer Staat würde

keiner Verwaltung fähig fein.

Er müßte sich also in mehrere

kleine Staaten verteilen, die alle nach den nämlichen Gesetzen verwaltet würden. Kalk. Tas ist:

die Menschen würden auch dann noch

Deutsche und Franzosen, Holländer und Spanier, Russen und Schweden fein; oder wie sie sonst heißen würden.

Ernst. Ganz gewiß! Kalk. Nun da haben wir ja schon Eines.

Denn nicht

wahr, jeder dieser kleinen Staaten hätte fein eignes Inter­ esse?

und jedes Glied derselben hätte das Interesse feines

Staats?

Ernst. Wie anders? Kalk. Diese verschiedene Interesse würden öfters in Kolli­ sion kommen, so wie itzt: und zwei Glieder aus zwei ver­

schiedenen Staaten würden einander ebensowenig mit unbe­ fangenem Gemüt begegnen können, als itzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer begegnet.

Ernst. Sehr wahrscheinlich! Kalk. Das ist: wenn itzt ein Deutscher einem Franzosen,

ein Franzose einem Engländer, oder umgekehrt, begegnet, so begegnet nicht mehr ein bloßer Mensch einem bloßen Menschen, die

vermöge

ihrer

gleichen Natur

gegeneinander angezogen

werden, sondern ein solcher Mensch begegnet einem solchen

Menschen, die ihrer verschiednen Tendenz sich bewußt sind, welches

sie

gegeneinander

kalt,

zurückhaltend,

mißtrauisch

macht, noch ehe sie für ihre einzelne Person das Geringste miteinander zu schaffen und zu teilen haben.

Ernst. Das ist leider wahr.

Kalk. -Nun so ist es beim auch wahr, daß das Mittel,

16

Ernst und Falk.

welches die Menschen vereiniget, um sie durch diese Bereinigung

ihres Glückes zu versichern, die Menschen zugleich trennet. Ernst. Wenir du es so verstehest. Kalk. Tritt einen Schritt weiter.

Viele von beit kleinern

Staaten würden ein ganz verschiedenes Klima, folglich ganz

verschiedene Bedürfnisse uud Befriedigungen, folglich ganz ver­

schiedene Gewohnheiten und Sitten, folglich ganz verschiedene

Sittenlehren, folglich ganz verschiedene Religionen haben. Meinst

du nicht? Ernst. Das ist ein gewaltiger Schritt! Kalk. Die Menschen würden auch dann noch Juden und

Christen und Türken und dergleichen sein. Ernst. Ich getraue mir nicht. Nein zu sagen.

Kalk. Würden sie das; so würden sie auch, sie möchten heißen, wie sie wollten, sich untereinander nicht anders verhalten,

als sich unsere Christen und Juden und Türken von jeher

untereinander verhalten haben.

Nicht als bloße Menschen

gegen bloße Menschen; sondern als solche Menschen gegen solche Menschen,

die sich

einen

gewissen

geistigen Vorzug

streitig machen, und daraus Rechte gründen, die dem natür­

lichen Menschen nimmermehr einsallen könnten. Ernst. Das ist sehr traurig; aber leider doch sehr ver­

mutlich.

Kalk. Nur vermutlich?

Ernst. Denn allenfalls dächte ich doch, so wie du ange­

nommen hast, daß alle Staaten einerlei Verfassung hätten,

daß sie auch wohl alle einerlei Religion haben könnten.

Ja

ich begreife nicht, wie einerlei Staatsverfassung ohne einerlei

Religion auch nur möglich ist.

Kalk. Ich ebensowenig. — Auch nahm ich jenes nur an, um deine Ausflucht abzuschneiden.

so unmöglich, als das andere.

Mehrere

Staaten:

mehrere

Eines ist zuverlässig eben­

Ein Staat: mehrere Staaten. Staatsverfassungen.

Staatsverfassungen: mehrere Religionen.

Mehrere

17

Zweites Gespräch. Ernst. Ja, ja: so scheinet es.

Kalk. So ist es. — Nun sieh da

das

zweite Unheil,

welches die bürgerliche Gesellschaft, ganz ihrer Absicht entgegen, Sie kann die Menschen nicht vereinigen, ohne sie

verursacht.

zu trennen; nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu be­ festigen, ohne Scheidemauern durch sie hin zu ziehen. Ernst. Und wie schrecklich diese Klüfte sind! wie unüber-

steiglich oft diese Scheidemauern! Kalk. Laß mich noch das dritte hinzufügen. — Nicht genug,

daß die biirgerliche Gesellschaft die Menschen in verschiedene Völker und Religionen teilet und trennet. — Diese Trennung

in wenige große ^Teile, deren jeder für sich ein Ganzes wäre, wäre doch immer noch besser, als gar kein Ganzes. — Nein; die bürgerliche Gesellschaft fetzt ihre Trennung auch in jedem dieser Teile gleichsam bis ins Unendliche fort. Ernst. Wie so?

Kalk. Oder meinest du, daß ein Staat sich ohne Ver­

schiedenheit von Ständen denken läßt? Er sei gut oder schlecht, der Vollkommenheit mehr oder weniger nahe: unmöglich können

alle Glieder

desselben

unter

sich

das

nämliche

Verhältnis

haben. — Weirn sie auch alle an der Gesetzgebung Anteil haben: so können sie doch nicht gleichen Anteil haben, wenigstens

nicht gleich unmittelbaren Anteil. und

geringere Glieder

Es wird also vornehmere

geben. — Wenn anfangs

auch

alle

Besitzungen des Staats unter sie gleich verteilet worden: so kann diese gleiche Verteilung doch keine zwei Menschenalter

bestehen.

Einer wird sein Eigentum besser zu nutzen wissen,

als der andere.

Einer wird sein schlechter genutztes Eigentum

gleichwohl unter mehrere Nachkommen zu verteilen haben, als der andere.

Es wird also reichere und ärmere Glieder geben.

Ernst. Das versteht sich. Kalk. Nun überlege, wie viel Übel es in der Welt wohl

giebt, das in dieser Verschiedenheit der Stände seinen Grund nicht hat. Lessing, Werke. XII,

18

Ernst und Falk. Ernst. Wenn ich dir doch widersprechen könnte! — Aber

was hatte ich für Ursache, dir überhaupt zu widersprechen? — Nun ja! die Menschen sind nur durch Trennung zu vereinigen! nur durch unaufhörliche Trennung in Vereinigung zu erhalten!

Das ist nun enrmal so.

Das kanir nun nicht anders sein.

Kalk. Das sage ich eben!

Ernst. Also, was willst du damit? Diir das bürgerliche Leben dadurch verleiden?

Blich wünschen machen, daß den

Menschen der .Gedanke, sich in Staaten

zu

vereinigen,

nie

möge gekommen sein?

Kalk. Verkennst du mich so weit? — Wenn die bürgerliche

Gesellschaft auch nur das Gute hätte, daß allein in ihr die

menschliche Verilunft angebauet werden kann: ich würde sie auch bei weit größern Übeln noch segnen. Ernst. Wer des Feuers genießen will, sagt das Sprich­

wort, muß sich den Rauch gefallen lassen. Kalk. Allerdings! — Aber weil der Rauch bei dem Feuer uiwermeidlich ist: durfte man darum teilten Rauchfang erfinden?

Und der den Rauchfang erfand, war der darum ein Feind

des Feuers? — Sieh, dahin wollte ich.

Ernst. Wohin? — Ich verstehe dich nicht. Kalk. Das Gleichnis war doch sehr passend.-------- Wenn

die

Menschen nicht

anders

in

Staaten

vereiniget

werden

konnten, als durch jene Trennungen: werden sie darum gut,

jene Trennungen? Ernst. Das wohl nicht. Kalk. Werden sie darum heilig, jene Trennungen?

Ernst. Wie heilig?

Kalk. Daß es verboten sein sollte, Hand an sie zu legen? Ernst. In Absicht? . . . Kalk. In Absicht,

sie nicht größer einreißen zu lassen,

als die Notwendigkeit erfordert.

In Absicht, ihre Folgen so

unschädlich zu machen, als möglich. Ernst. Wie könnte das verboten sein?

Kalk. Aber geboten kann es doch auch nicht fein; durch bürgerliche (besetze nicht geboten! — Denn bürgerliche Gesetze erstrecken sich nie über die Grenzen ihres Staats. Und dieses würde nun gerade außer den Grenzen aller und jeder Staaten liegen. — Folglich kann es nur ein Opus supererogatum sein: und es wäre bloß zu wünschen, daß sich die Weisesten und Besten eines jeden Staats diesem Operi supererogato freiwillig unterzögen. Ernst. Bloß zu wünschen; aber recht sehr zu wünschen. Kalk. Ich dächte! Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären, und genau wüßten, wo Patrio­ tismus, Tugend zu sein, aushöret. Ernst. Recht sehr zu wünschen! Kalk. Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die dem Vorurteile ihrer angebornen Religion nicht unterlägen; nicht glaubten, daß alles notwendig gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen. Ernst, Recht sehr zu wünschen! Kalk. Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, welche bürgerliche Hoheit nicht blendet, und bürgerliche Geringfügigkeit nicht ekelt; in deren Gesellschaft der Hohe sich gern herab läßt, und der Geringe sich dreist er­ hebet. Ernst. Recht sehr zu wünschen! Kalk. Und wem: er erfüllt wäre, dieser Wunsch? Ernst. Erfüllt? — Es wird freilich hier und da, dann und wann, einen solchen Mann geben. Kalk. Nicht bloß hier und da; nicht bloß dann uni) wann. Ernst. Zu gewissen Zeiten, in gewissen Ländern auch mehrere. Kalk. Wie, wenn es dergleichen Männer itzt überall gäbe? zu allen Zeiten nun ferner geben müßte? Ernst. Wollte Gott!

20

Ernst und Falk. Kalk. Und

diese

Männer nicht

in

einer

unwirksamen

Zerstreuung lebten? nicht immer in einer unsichtbaren Kirche?

Ernst. Schöner Traum! Kalk. Daß ich es kurz mache. — Und diese Männer die

Freimaurer wären? Ernst. Was sagst du? Kalk. Wie, wenn es die Freimäurer wären, die sich mit

zu ihrem Geschäfte gemacht hätten, jene Trennungen, wodurch die Menschen einander so fremd werden, so eng als ^möglich

wieder zusammenzuziehen? Ernst. Die Freimäurer?

Kalk. Ich sage: mit zu ihrem Geschäfte.

Ernst. Die Freimäurer? Kalk. Ah! verzeih'! — Ich hatt' es schon wieder vergessen,

daß du

von den Freimüurern weiter nichts hören willst —

Dort winkt man uns eben zum Frühstücke.

Komm'!

Ernst. Nicht doch! — Noch einen Augenblick! — Die Frei­

mäurer, sagst du — Kalk. Das Gespräch brachte mich wider Willen auf sie zurück.

Verzeih'! — Komm'!

Dort, in der größem Gesell­

schaft, werden wir bald Stoff zu einer tauglichem Unterredung

finden.

Komm'!

Drittes Gespräch. Ernst. Du bist mir den ganzen Tag im Gedränge der

Gesellschaft

ausgewichen.

Aber

ich

verfolge

dich

in dein

Schlafzimmer. Kalk. Hast du mir so etwas Wichtiges zu sagen? Der

bloßen Unterhaltung bin ich auf heute müde.

Ernst. Du spottest meiner Neugierde. Kalk. Deiner Neugierde?

21

Drittes Gespräch.

Ernst. Die du diesen Morgen so meisterhaft zu erregen wußtest. Kalk. Wovon sprachen wir diesen Morgen?

Ernst. Voll den Freimäurern. Kalk. Nun? — Ich habe dir im Rausche des Pprmonter

doch ilicht das Geheimnis verraten? Ernst. Das mail, wie du sagst, gar nicht verraten kann. Kalk. Nun freilich; das beruhigt mich wieder.

Ernst. Aber du hast mir doch über die Freimaurer etwas

gesagt, das mir unerwartet war;

das mir auffiel; das mich

denkeil machte. Kalk. Und was war das? Ernst. O quäle mich nicht! — Du erinnerst dich desseil gewiß.

Kalk. Ja ; es fällt mir ilach und llach wieder ein. — Und das war es, was dich den ganzeil langen Tag unter deinen Freuilden und Freundimleil so abweseild vlachte? Ernst. Das war es! — Und ich kann nicht einschlafen,

weilil du mir wenigstens nicht noch eine Frage beantwortest. Kalk. Nachdem die Frage sein wird.

Ernst. Woher sannst du mir aber beweisen, wenigstens nur wahrscheinlich machen, daß die Freimaurer wirklich jene

große und würdige Absichten haben?

Kalk. Habe ich dir von ihren Absichten gesprochen? Ich ivüßte nicht. — Sondern da du dir gar feinen Begriff von

den wahren Thateil der Freimaurer machen sonntest: habe ich dich bloß auf eitlen Punkt aufmerksam machen wollen, wo

noch so vieles geschehen kaml,. wovon sich unsere staatsklugen Köpfe gar nichts träumen lassen. — Vielleicht, daß die Frei­

maurer da herum arbeiten. — Vielleicht!

da herum! — Nur

um dir dein Vorurteil zu beilehmen, daß alle baubedürftige

Plätze schon ausgefunden und besetzt, alle nötige Arbeiteil schon unter die erforderlicheil Hände verteilet wären. Ernst. Wende dich itzt, wie du willst. — Genug, ich denke

22

Ernst und Falk.

mir nun aus deinen Reden die Freimaurer als Leute, die es freiwillig über sich genommen haben, den unvermeidlichen Übeln

des Staats entgegenzuarbeiten. Kalk. Dieser Begriff sann den Freimaurern wenigstens

keine Schaitde machen. — Bleib' dabei! — Nur fasse ihn recht. Menge nichts hinein, was nicht hinein gehöret. — Den un­ vermeidlichen Übeln des Staats! — Nicht dieses und jenes

Staats.

"Nicht deit unvermeidlichen Übeln, welche, eine ge-

wiffe Staatsverfassung einmal angenommen, aus dieser an-

geiiommeueil Staatsverfassung

nun

notwendig folgen.

Mit

diesen giebt sich der Freimaurer niemals ab; wenigstens nicht Die Linderung und Heilung dieser überläßt

als Freimüurer.

er dem Bürger, der sich nach seiner Einsicht, »ach feinem Mute, auf seine Gefahr damit befassen mag. Übel ganz andrer Art, ganz höherer Art, sind der Gegenstand seiner

Wirksamkeit. Ernst. Ich habe das sehr wohl begriffen. — Nicht Übel, welche den mißvergnügten Bürger machen, sondern Übel, ohne

welche auch der glücklichste Bürger nicht sein kann.

Kalk. Recht! Diesen entgegen — wie sagtest du? — ent­

gegenzuarbeiten ? Ernst. Ja!

Kalk. DaS Wort sagt ein wenig viel. — Entgegenarbeiten! — Um sie völlig zu heben? — Das kann nicht sein.

Denn

man würde den Staat selbst mit ihnen zugleich veruichteii. — Sie müssen nicht einmal denen mit eins merklich gemacht werden, die noch gar keine Empfindung davon habe». — Höch­

stens diese Empfindung in oem Menschen von weitem veran­

lassen, ihr Aufkeimen begünstigen, ihre Pflanzen versetze», begäten, beblatteit — sann hier entgegenarbeiten heißen. — Be­

greifst du nun, warum ich sagte, ob die Freimaurer schon immer

thätig

wären,

daß Jahrhunderte

dennoch

vergehen

könnten, ohne daß sich sagen lasse: das haben sie gethan.

Ernst. Und verstehe auch nun den zweiten Zug des Rätsels

23

Trittes Gespräch.

— Gute

Thaten,

welche

gute

Thaten

entbehrlich

machen

sollen. Talk. '2'3o 1)1! — Nun geh', und studiere jene Übel, und lerne sie alle kennen, und wäge alle ihre Einflüsse gegeneinan­

der ab, und

sei versichert, das; dir dieses Studium Tinge

ausschließen wird, die in Tagen der Schwermut die nieder­

schlagendsten, unauflöslichsten Einwürfe wider Vorsehung und Tugend zu sein scheinen. wird

Dieser Ausschluß, diese Erleuchtung

dich ruhig und glücklich machen; — auch ohne Frei­

maurer zu heißen.

Ernst. Tu legest aus dieses heißen so viel Nachdruck. Kalk. Weil man etwas sein kann, ohne es zu heißen.

Ernst. Gut das! ich versteh' — Aber auf meine Frage wieder zu kommen, die ich mir ein wenig anders, einkleiden muß. Da ich sie doch nun kenne, die Übel, gegen welche die Freimaurerei angehet--------

Kalk. Du kennest sie?

Ernst. Hast du mir sie nicht selbst genannt? Kalk. Ich habe dir einige zur Probe namhaft gemacht. 9iur einige von denen, die auch dem kurzsichtigsten Auge ein­ leuchten : nur einige von den unstreitigsten, weit uinfassendsten.

— Aber wie viele sind nicht noch übrig, die, ob sie schon nicht so einleuchten, nicht so unstreitig sind, nicht so viel uni-

fassen, dennoch nicht weniger gewiß, nicht weniger notwendig sind!

Ernst. So laß mich meine Frage denn bloß auf diejenigen Stücke einschränken, die du mir selbst namhaft gemacht hast. — Wie beweisest du mir auch nur von diesen Stücken, daß

die Freimäurer wirklich ihr Absehen darauf haben? — Du

schweigst? — Du sinnest nach? Kalk. Wahrlich nicht dem, was ich auf diese Frage zu antworten hätte! — Aber ich weiß nicht, was ich mir für Ur­

sachen denken soll, warum du mir diese Frage thust? Ernst. Und

du

willst

mir

meine Frage beantworten,

wenn ich dir die Ursachen derselben sage?

24

Emst und Falk.

Kalk. Das verspreche ich dir.

Ernst. Ich kenne und fürchte deinen Scharfsinn. Talk. Nieinen Scharfsinn?

Ernst. Ich

fürchte, du verkaufst mir deine Spekulation

für Thatsache. Talk. Sehr verbunden!

Ernst. Beleidiget dich das?

Talk. Vielmehr muß ich dir danken, daß du Scharfsürn

nennest, was du ganz anders hättest benennen können. Ernst. Gewiß nicht.

Sondern ich weiß, wie leicht der

Scharfsinnige sich selbst betrügt; wie leicht er andern Leuten

Plane und Absichten leihet uird unterlegt, an die sie nie ge­ dacht haben.

Kalk. Aber woraus schließt man auf der Leute Plane

und Absichteir? Aus ihren einzeln Handlungen doch wohl?

Ernst. Woraus sonst? — Und hier bin ich wieder bei meiner Frage. — Aus welchen einzeln, unstreitigen Handlungen

der Freimäurer ist abzunehmen, daß es auch nur mit ihr Zweck ist, jene von dir benannte Trennung, welche Staat und

Staaten unter den Menschen notwendig machen müssen, durch sich und in sich wieder zu vereinigen.

Kalk. Und zwar ohne Nachteil dieses Staats, und dieser Staaten.

Ernst. Desto

besser! — Es brauchen auch vielleicht nicht

Handlungen zu sein, woraus jenes abzunehmen.

Wenn es

nur gewisse Eigentümlichkeiten, Besonderheiten sind, die dahin leiten, oder daraus entspringen. — Von dergleichen müßtest du

sogar in deiner Spekulation ausgegangen sein;

gesetzt, daß

dein System nur Hypothese wäre. Kalk. Dein Mißtrauen äußert sich noch. — Aber ich hoffe, es soll sich verlieren, wenn ich dir ein Grundgesetz der Frei­

mäurer zu Gemüte führe.

Ernst. Und welches? Kalk. Aus welchem sie nie ein Geheimnis gemacht haben.

~5

Drittes Gespräch.

Nach welchem sie immer vor den Augen der ganzen Welt ge­ handelt haben. Ernst. Das ist ?

Talk. Das ist, jeden würdigen Mann von gehöriger An­

lage, ohite Unterschied des Vaterlandes, ohne Unterschied der Religion, ohite Unterschied seines bürgerlichen Standes, in ihreit Orden auszuitetnnen.

Ernst. Wahrhastig!

Talk.

Freilich

scheint

dieses

Grundgesetze

dergleichen

Männer, die über jene Trennungen hinweg sind, vielmehr

bereits vorauszusetzeit, als die Absicht zu haben, sie zu bilden. Allein das Nitrunt ntuß ja wohl iit der Luft sein, ehe es sich

als Salpeter an den Wäitdcn anlegt. Ernst. O ja!

Kalk. Und warum sollten die Freimaurer sich nicht hier

einer gewöhnlichen List haben bedienen dürfen? — Daß man einen Teil seiner geheimen Absichten ganz offenbar treibt, um

den Argwohn irre zu führen, der immer ganz etwas anders

vermutet, als er sieht. Ernst. Warum nicht?

Kalk. Warum sollte der Künstler, der Silber machen

kann,

nicht mit altem Bruchsilber handeln, damit man so

weniger argwohne, daß er es machen kann? Ernst. Warum nicht?

Kalk. Ernst! — Hörst du mich? — Du antwortest int Traunte, glaub' ich.

Ernst. Neiit, Freund! Aber ich habe genug; genug auf

diese Nacht.

Morgen, mit dem frühsten, kehre ich wieder nach

der Stadt. Kalk. Schon? Und warum so bald? Ernst. Du kennst mich, und fragst?

Wie lange dauert

deine Brutntenkur noch? Kalk. Ich habe sie vorgestern erst angefangen.

26

Ernst und Falk. ErnK. So sehe ich dich vor dem Ende derselbeil noch

wieder. — Lebe wohl! gute Nacht! Kalk. Gute Nacht! lebe wohl!

Zur Nachricht. Der Funke hatte gezündet: Ernst ging, und ward Frei­

maurer.

Was er vors erste da fand, ist der Stoff eines

vierten und fünften Gesprächs, mit welchem — sich der Weg scheidet.

Ernst und Falk.

Gespräche für Freimaurer. Fortsetzung.

Vorrede eines Dritten. -flß|er Verfasser der ersten drei Gespräche hatte diese Fortsetzung, wie man weiß, im Manuskripte zum Drucke fertig

liegen, als derselbe höheren CrtS eilten bittenden Wink be­ kam, dieselbe nicht bekannt zu machen.

Vorher aber hatte er dies vierte und fünfte Gespräch

einigen Freunden mitgeteilt, welche, verinutlich ohite seine Er­

laubnis, Abschriften davon genommen hatten.

Eine dieser

Abschriften war dem itzigeit Herausgeber durch einen sonder­

baren Zufall in die Hände gefallen.

Er bedauerte, daß so

viel herrliche Wahrheiten unterdrückt werden follteit, und be­

schloß, das Manuskript, ohne Winke zu

haben, drucken zu

lassen. Weit» die Begierde, Licht über so wichtige Gegenstände

allgemeiner verbreitet zu sehen, nicht diese Freiheit hinlänglich

entschuldiget; so läßt sich nichts weiter zur Verteidigung der­

selben sagen, als daß der Herausgeber kein aufgenommener

Maurer ist. Übrigens wird man doch finden, daß er, aus Vorsicht und Achtung gegen einen gewissen Zweig dieser Gesellschaft,

einige Namen,

welche ganz ausgeschrieben waren, bei der

Herausgabe nicht genannt bat.

28

Ernst und Falk.

Viertes Gespräch.

Kalk. Ernst! Willkommen! Endlich wieder einmal! Ich habe meine Brunilenkur längst beschlossen. Ernst. Und befindest dich wohl darauf? Ich freue mich.

Kalk. Was ist das?

Man hat nie ein:

„ich

freue

mich" ärgerlicher ausgesprochen. Ernst. Ich bin es auch, und es fehlt wenig, daß ich es

nicht über dich bin. Kalk. Über mich? Ernst. Du hast mich zu einem albernen Schritte verleitet — Sieh her! — Gieb mir deine Hand! — Was sagst du?

— Du zuckst die Achseln? Das hätte mir noch gefehlt-

Kalk. Dich verleitet?

Ernst. Es kann sein, ohne daß du es gewollt hast. Kalk. Und soll doch schuld haben.

Ernst. Der Mann Gottes spricht dem Volke voll einem Lande, da Milch und Honig innen fließt, und das Volk soll sich nicht danach sehnen?

Und soll über den Mann Gottes

nicht murre», wenn er sie, anstatt in dieses gelobte Land, in dürre Wüsteit führt?

Kalk. Nun,

nun!

Der Schade kann doch so groß nicht

sein — Dazu sehe ich ja, daß du schon bei den Gräbern

unserer Vorfahren gearbeitet hast. Ernst. Aber sie waren nicht mit Flammen, sondern init Rauch umgeben.

Kalk. So warte, bis der Rauch sich verzieht, und die

Flamme wird leuchten und wärmen. Ernst. Der Rauch wird mich ersticken, ehe mir die Flamme

leuchtet, und wärmen, sehe ich wohl, werbe» sich andere an ihr, die den Rauch besser vertragen könne». Kalk. Du sprichst doch nicht von Leuten, die sich vom Rauch gern beißen lassen, wenn es nur der Rauch einer fremden

fetten Küche ist?

29

Viertes Gespräch.

Ernst. Du kennst sie also doch?

Kalk. Ich habe von ihnen gehört. Ernst. Um so mehr, was kannte dich bewegen, mich aus

dies Eis zu führen?

Mir dazu Lachen vorzuspiegeln, deren

Ungrund du nur allzuwohl wußtest?

Kalk. Dein Verdruß macht dich sehr ungerecht — Ich sollte mit dir von der Freimaurerei gesprochen haben,

ohne

es aus mehr als eine Art zu verstehen zu geben, wie unnütz es sei, daß jeder ehrliche Man» ein Freimaurer werde — wie unnütze nur - — ja, wie schädlich. —

Ernst. Das mag wohl sein. Kalk. Ich sollte dir nicht gesagt haben, daß man die

höchsten Pflichten der Maurerei erfüllen könne, ohne ein Frei­ maurer zu heißen?

Ernst. Vielmehr erinnere ich niich dessen — Aber du weißt

ja wohl, wenn meine Phantasie einmal den Fittig ausbreitet, einen Schlag damit thut — kann ich sie halten? — Ich werfe

dir nichts vor, als daß du ihr eine solche Lockspeise zeigtest. — Kalk. Die du zu erreichen doch auch sehr bald müde ge­

worden — Und warum sagtest du mir nicht ein Wort von deinem Vorsatze? Ernst. Würdest du mich davon abgeraten haben?

Kalk. Ganz gewiß! — Wer wollte einem raschen

Knaben, weil er dann

und wann noch fällt, den

Gängelwagen wieder einschwätzen?

Ich mache dir

kein Kompliment; du warst schon zu weit, um von da wieder abzugehen.

machen.

Gleich wohl konnte man mit dir keine Ausnahme

Den Weg müssen alle betreten.

Ernst. Es sollte mich auch nicht reuen, ihn betreten zu

haben, wenn ich mir nur von denk noch übrigen Wege noch nrehr zu versprechen Hütte.

Aber Vertröstungen, und wieder

Vertröstungen, und nichts als Vertröstungen! Kalk. Wenn man dich doch schon vertröstet!

was vertröstet man dich denn?

Und auf

30

Ernst und Falk.

Ernst. Tu weißt ja wohl, auf die schottische Maurerei,

aus den schottischen Ritter. Falk. Run ja, ganz recht — Aber wessen hat sich denn

der schottische Ritter zu trösten?

Ernst. Wer das müßte! Falk. Und deinesgleichen, die andern Neulinge des Ordens, wissen denn die auch nichts?

Ernst. C die! die wissen so viel! — Der eine will Gold machen, der andere will Geister beschwören, der dritte will die *** wieder herstellen — Tu lächelst — Und lächelst nur? — Falk. Was kann ich anders?

Ernst. Unwillen bezeigen über solche Ouerköpse! Falk. Wenn mich nicht Eins mit ihnen wieder versöhnte.

Ernst. Und was? Falk. Taß ich in allen diesen Träumereien Streben nach

Wirklichkeit erkenne, daß sich aus allen diesen Irrwegen noch abnehmen läßt, wohin der wahre Weg geht.

Ernst. Auch aus der Goldmacherei? Falk. Auch aus der Goldmacherei. Ob sich wirklich Gold

machen läßt oder nicht machen läßt, gilt mir gleichviel. Aber

ich bin sehr versichert, daß vernünftige Menschen nur in Rück­

sicht auf Freimaurerei es machen zu können wünschen werden. Auch wird der erste der beste, dem der Stein der Weisen zu

teil wird, in dem nämlichen Augenblicke Freimaurer — Und es ist doch sonderbar, daß dieses alle Nachrichten bestätigen, mit welchen sich die Welt von wahren oder vermeinten Gold­

machern trägt. Ernst. Und die Geisterbeschwörer?

Falk. Von ihnen gilt ungefähr das Nämliche — Unmög­ lich können Geister auf die Stimme eines andern Menscheit

hören, als eines Freimaurers.

Ernst. Wie ernsthaft du solche Dinge sagen kannst! — Falk. Bei allem was heilig ist! nicht ernsthafter als sie

sind.

31

Viertes Gespräch.

Ernst. Wenn das wäre! — Aber endlich die neuen ***,

wenn Gott will?

Jalk. Vollends die! Ernst. Liehst du!

Von denen weißt du nichts zu sogen.

Denn *** waren doch einmal, Goldmacher aber und Geister­ beschwörer gab es vielleicht nie.

Und es

läßt sich sreilich

besser sagen, wie die Freimaurer sich zu solchen Wesen der Einbildung verhalten, als zu wirklichen. Falk. Allerdings kann ich mich hier nur in einem Dilemma

ausdrücken: Entweder, oder —

Ernst. Auch gut!

'Wenn man nur wenigstens weiß, daß

unter zwei Sätzen einer wahr ist: Nun! Entweder diese *** would be — Falk. Ernst! Ehe du »och eine Spötterei völlig aussagst!

Auf mein Gewissen! — Diese — eben diese sind entweder gewiß auf dem rechten Wege, oder so weit davon entfernt,

daß ihnen auch nicht einmal die Hoffnung mehr übrig ist,

jemals darauf zu gelangen. Ernst. Ich muß das so mit anhören.

Deim dich um eine

nähere Erklärung zu bitten — Falk. Warum nicht?

Alan hat lange genug aus Heim­

lichkeiten das Geheimnis gemacht. Ernst. Wie verstehst du das?

Falk. Das Geheimnis der Freimaurerei, wie ich dir schon gesagt habe, ist das, was der Freimaurer nicht über feine

Lippen bringen kann, wenn es auch möglich wäre, daß er es

wollte. Aber Heimlichkeiten sind Dinge, die sich wohl sagen lassen,

und

die man nur zu gewissen Zeiten,

in gewissen

Ländern, teils aus Neid verhehlte, teils aus Furcht verbiß,

teils aus Klugheit verschwieg. Emst. Zum Exempel? Falk. Zum Exempel! Gleich diese Verwandtschaft unter ***

und Freimaurern.

Es kann wohl sein, daß es einmal nötig

und gut war, sich davon nichts merken zu lassen — Aber jetzt —

32

Ernst und Falk.

jetzt kann es im Gegenteil höchst verderblich werden, wenn man aus dieser Verwandtschaft noch länger ein Geheimnis macht.

Alan mußte sie vielmehr laut bekennen, und nur den gehörigen Punkt bestimmen, in welchem die *** die Freimaurer ihrer

Zeit waren.

Ernst. Darf ich ihn wissen, diesen Puilkt? Kalk. Lies die Geschichte der * * * mit Bedacht! mußt ihn erraten.

Du

Auch wirst du ihn gewiß erraten, und eben

das war die Ursache, warum du kein Freimaurer hättest werden

nlüssen. Ernst. Daß ich nicht den Augenblick unter meinen Büchern

sitze! — Und wenn ich ihn errate, willst du mir gestehen, daß ich ihn erraten habe?

Kalk. Du wirst zugleich finden, daß du dieses Geständnis nicht brauchst — Aber auf mein Dilemma wieder zurückzu­ kommen! Eben dieser Punkt ist es allein, woraus die Ent­

scheidung desselben zn holen ist — Sehen und fühlen alle Frei­

maurer, welche jetzt mit den *** schwanger gehen, diesen rechten Punkt; wohl ihnen! Wohl der Welt! Segen zu allem, was sie thun! Segen zu allem, was sie unterlassen! — Erkennen und fühlen sie ihn aber nicht, jenen Punkt; hat sie ein bloßer-

Gleichlaut verführt; hat sie bloß der Freimaurer der im **

arbeitet, auf die *** gebracht; haben sie sich nur in das ---

auf dem ---- vergafft; möchten sie gern einträgliche ---- fette

Pfründen sich und ihren Freunden zuteilen können; — nun so schenke uns der Himmel recht viel Mitleid, damit wir uns des

Lachens enthalten könnten. Ernst. Sieh! Du kannst doch noch warm und bitter werden.

Kalk. Leider! — Ich danke dir für deine Bemerkung, und

bin kalt wieder, wie Eis. Ernst. Und was meinst du wohl, welcher von den beiden

Fällen der Fall dieser Herren ist? Kalk. Ich fürchte der letztere — Möcht' ich mich be­ trügen! — Denn wenn es der erste wäre; wie könnten sie

33

Viertes Gespräch.

einen so seltsamen Anschlag haben? — die *** wieder her­

zustellen ! — Jener große Punkt, in welchem die *** Frei­

maurer waren, hat nicht mehr statt.

Wenigstens ist Europa

längst darüber hinaus und bedarf darin weiter keines außer­

ordentlichen Vorschubs — Was wollen sie also?

Wollen sie

auch ein Schwamm werden, den die Großen einmal ausdrücken?

— Doch an wen diese Frage? Und wider wenn? Hast du mir denn gesagt — Hast du mir sagen können, daß mit diesen

Grillen von Goldmachern, Geisterbannern, ***, sich andre, als

die Neulinge des Ordens schleppen? — Aber Kinder werden Männer — Laß sie nur! — Genug, wie gesagt, daß ich schon

in dem Spielzeuge die Waffen erblicke,

welche einmal die

Männer mit sicherer Hand führen werden. Ernst. Im Grunde, mein Freund! sind es auch nicht diese

Kindereien, die mich unmutig machen.

Ohne zu vermuten, daß

etwas Ernsthafteres hinter ihnen sein könnte, sahe ich über sie

weg — Tonnen, dachte ich, den jungen Walfischen ausgeworfen!

— Aber was mich nagt, ist das: daß ich überall nichts sehe, überall nichts höre, als diese Kindereien, daß von dem, dessen Erwartung du in mir erregtest, keiner etwas wissen will. Ich mag diesen Ton angeben so oft ich will, gegen wen ich will; niemand will einstimmen, immer und aller Orten das tiefste

Stillschweigen. Kalk. Du meinst — Ernst. Jene Gleichheit, die du mir als Grundgesetz des

Ordens angegeben; jene Gleichheit, die meine ganze Seele mit so unerwarteter Hoffnung erfüllte: sie endlich in Gesellschaft

von Menschen atmen zu können, die über alle bürgerliche Modi-

fikations hinweg zu denken verstehen, ohne sich an einer zum

Nachteil eines Dritten zu versündigen — Kalk. Nun? Ernst. Sie wäre noch!

Wenn sie jemals gewesen! — Laß

einen aufgeklärten Juden kommen, und sich melden!

„Ja,"

heißt es „ein Jude? Christ wenigstens muß freilich der FreiLessing, Werke. XII.

g

34

Ernst und Falk.

maurer sein." Es ist nur gleichviel was für ein Christ. „Ohne Unterschied der Religion, heißt nur, ohne Unterschied

„der drei im heiligen römischen Reiche öffentlich geduldeten „Religionen," — Meinst du auch so?

Kalk. Ich nun wohl nicht. Ernst. Laß einen ehrlichen Schuster, der bei seinem Leisten

Muße genug hat, manchen guten Gedanken zu haben (wäre es auch ein Jakob Böhme und Hans Sachs), laß ihn kommen,

und sich melden!

„Ja," heißt es „ein Schuster!" freilich ein

Schuster — Laß einen treuen, erfahrnen, versuchten Dienstboten kommen und sich melden — „Ja," heißt es „dergleichen

„Leute freilich, die sich die Farbe zu ihrem Rocke nicht selbst „wählen — Wir sind unter uns so gute Gesellschaft" —

Kalk. Und wie gute Gesellschaft sind sie denn?

Ernst. Ei nun! Daran habe ich allerdings weiter nichts auszusetzen, als daß es nur gute Gesellschaft ist, die man in

der Welt so müde wird — Prinzen, Grafen, Herrn von, Offiziere, Räte von allerlei Beschlag, Kaufleute, Künstler — alle die schwärmen freilich ohne Unterschied des Standes in

der Loge untereinander durch — Aber in der That sind doch alle nur von Einem Stande, und der ist leider---Kalk. Das war nun wohl zu meiner Zeit nicht so —

Aber doch! — Ich weiß nicht, ich kann nur raten — Ich bin zu lange Zeit außer aller Verbindung mit Logen, von welcher Art sie auch sein mögen — In die Loge vor jetzt auf eine Zeit nicht können zugelassen werden, und von der Freimaurerei

ausgeschlossen sein, sind doch zwei verschiedene Dinge.

Ernst. Wie so? Kalk. Weil Loge sich zur Freimaurerei verhält, wie Kirche

zum Glauben.

Aus dem äußeren Wohlstände der Kirche ist

für den Glauben der Glieder nichts, gar nichts zu schließen.

Vielmehr giebt es einen gewissen äußerlichen Wohlstand der­

selben, von dem es ein Wunder märe, wenn er mit dem wahren Glauben bestehen könnte.

Auch haben sich beide noch

nie vertragen, sondern eins hat das andere, wie die Geschichte lehrt, immer zu Grunde gerichtet. Und so auch, fürchte ich, fürchte ich — Ernst. Was? Kalk. Kurz! Tas Logenweseu, so wie ich höre, daß es itzt getrieben wird, will mir gar nicht zu Kopse. Eine Kasse haben; Kapitale machen; diese Kapitale belegen; sie aus den besten Pseimig zu benutzen suchen; sich ankaufen wollen; von Königen und Fürsten sich Privilegien geben lassen; das Ansehn und die Gewalt derselben zu Unterdrückung der Brüder anwenden, die einer andern Observanz sind, als der, die man so gern zum Wesen der Sache machen möchte — Wenn das in die Länge gut geht! — Wie gern will ich falsch prophezeiet haben! Ernst. Je nun! Was kann denn werden? Der Staat fährt itzt nicht mehr fo zu. Und zudem sind ja wohl unter den Personen, die seine Gesetze machen, oder handhaben, selbst schon zu viel Freimaurer — Kalk. Gut! Wenn sie also auch von dem Staate nichts zu befürchten haben, was denkst du wird eine solche Verfassung für Einfluß auf sie selbst haben? Geraten sie dadurch nicht offenbar wieder dahin, wovon sie sich losreißen wollten? Werden sie nicht aufhören zu sein, was sie fein wollen? — Ich weiß nicht, ob du mich ganz verstehst — Ernst. Rede nur weiter! Kalk. Zwar! — ja wohl — nichts dauert ewig — Viel­ leicht soll dieses eben der Weg sein, den die Vorsicht ausersehen, dem ganzen jetzigen Schema der Freimaurerei ein Ende zu machen — Ernst. Schema der Freimaurerei? Was nennst du so? Schema? Kalk. Nun! Schema, Hülle, Einkleidung. Ernst. Ich weiß noch nicht — Kalk. Du wirst doch nicht glauben, daß die Freimaurer immer Freimaurerei gespielt?

36

Ernst und Falk.

Ernst. Was ist nun das? Die Freimaurer nicht immer

Freimaurerei gespielt? Kalk. Mit andern Worten!

Meinst du denn, daß das,

was die Freimaurerei ist, immer Freimaurerei geheißen? — Aber sieh! Schon Mittag vorbei! Da kommen ja bereits meine Gäste! Du bleibst doch?

Ernst. Ich wollte nicht, aber ich muß ja nuu wohl. Denn unch erwartet eine doppelte Sättigung.

Kalk. Nur bei Tische, bitte ich, kein Wort.

Fünftes Gespräch. Ernst. Eildlich sind sie fort! — O die Schwätzer! — Und merktest du denn nicht, oder wolltest du nicht merken, daß der eine mit der Warze an dem Kinn — heiße er wie er will! — ein Freimaurer ist? Er klopfte so oft an.

Kalk. Ich hörte ihn wohl. Ich merkte sogar in seinen Reden, was dir wohl nicht so ausgefallen — Er ist von denen,

die in Europa für die Amerikaner fechten — Ernst. Das wäre nicht das Schlimmste an ihm.

Kalk. Und hat die Grille, daß der Kongreß eine Loge ist; daß d a endlich die Freimaurer ihr Reich mit gewaffneter Hand

gründen.

Ernst. Giebt es auch solche Träumer? Kalk. Es nluß doch wohl. Ernst. Und woraus nimmst du diesen Wurm ihm ab?

Kalk. Aus einem Zuge, der dir auch schon einmal kennt­

licher werden wird.

Ernst. Bei Gott! wenn ich wüßte, daß ich mich in den Freimaurern gar so betrogen hätte! —

Kalk. Sei ohne Sorge. Der Freimaurer erwartet ruhig den Aufgang der Sonne, und läßt die Lichter brennen, so

Fünftes Gespräch.

37

lange sie wollen und können — Die Lichter auslöschen und, wenn sie ausgelöscht sind, erst wahrnehmen, daß man die Stümpfe doch wieder anzünden, oder wohl gar andre Lichter

wieder aufstecken muß; das ist der Freimaurer Sache nicht. Ernst. Das denke ich auch — Was Blut kostet, ist gewiß kein Blut wert. Kalk. Vortrefflich! — Nun frage, was du willst! Ich

iiluß dir antworten. Ernst. So wird meines Fragens kein Ende sein. Kalk. Nur kannst du den Anfairg nicht finden.

Ernst. Verstand ich dich, oder verstand ich dich nicht, als wir unterbrocheir wurden? Widersprachst du dir, oder wider­

sprachst du dir nicht? — Denn allerdings, als du mir einmal sagtest: Die Freimaurerei sei immer gewesen, verstand

ich es also, daß nicht allein ihr Wesen, sondern auch ihre

gegenwärtige Verfaffung sich von undenklichen Zeiten Herschreibe. Kalk. Wenn es mit beiden einerlei Bewandtnis hätte! — Ihrem Wesen nach ist die Freimaurerei ebenso alt, als die bürger­

liche Gesellschaft. Beide konnten nicht anders als miteinander

entstehen — Wenn nicht gar die bürgerliche Gesellschaft nur ein Sprößling der Freimaurerei ist.

Denn die Flamme im Brenn­

punkt ist auch Ausfluß der Sonne.

Ernst. Auch mir schimmert das so vor — Kalk. Es sei aber Mutter und Tochter, oder Schwester

und Schwester; ihr beiderseitiges Schicksal hat immer wechsel­ seitig ineinander gewirkt.

Wie sich die bürgerliche Gesellschaft

befand, befand sich aller Orten auch die Freimaurerei, und so

umgekehrt. Es war immer das sicherste Kennzeichen einer ge­ sunden, nervösen Staatsverfassung, wenn sich die Freimaurerei

neben ihr blicken ließ; so wie es noch jetzt das unfehlbare

Merkmal eines schwachen, furchtsamen Staats ist, wenn er das

nicht öffentlich dulden will, was er in geheim doch dulden muß, er mag wollen oder nicht.

Ernst. Zu verstehen: die Freimaurerei!

38

Ernst und Falk.

Talk. Sicherlich! — Denn die beruht im Grunde nicht auf äußerliche Verbindungen, die so leicht in bürger­

liche Anordnungen ausarten; sondern auf das Gefühl ge­ meinschaftlich sympathisierender Geister.

Ernst. Und wer unterfängt sich denen zu gebieten!

Falk. Indes hat freilich die Freimaurerei immer und aller

Orten sich nach der bürgerlichen Gesellschaft schmiegen und biegen müssen; denn diese war stets die stärkere. bürgerliche Gesellschaft gewesen,

So mancherlei die

so mancherlei Formen hat

auch die Freimaurerei anzunehmen sich nicht entbrechen können; nur hatte jede neue Form, wie natürlich, ihren neuen Namen. 2ßie kannst du glauben, daß der Name Freimaurerei älter

sein werde, als diejenige herrschende Denkungsart der Staaten, nach der sie genau abgewogeil worden?

Ernst. Und welches ist diese herrscheilde Denkungsart? Talk. Das bleibt deiner eigenen Nachforschung überlassen

— Genug, wenn ich dir sage, daß der Name Freimaurer, ein Glied unserer geheimen Verbrüderung anzuzeigen, vor dem An-

fange dieses laufenden Jahrhunderts nie gehört wordeil.

Er

kömmt zuverlässig vor dieser Zeit in keinem gedruckten Buche vor, und den will ich sehen, der mir ihn auch nur in einer

geschriebenen älteren Urkunde zeigen ivill. Ernst. Das heißt: den deutschen "Namen. Talk. Nein, nein! auch das ursprüngliche Free-Mason, sowie alle danach gemodelte Übersetzungen, in welcher Sprache

es auch sein mag. Ernst. Nicht doch! — Besinne dich — In keinem gedruckten

Buche vor dem Anfänge des laufenden Jahrhunderts?

In

keinem?

Talk. In keinem. Ernst. Gleichwohl habe ich selbst —

Talk. So? — Ist auch dir von dem Staube etwas in die Augen geflogen, den man um sich zu roerfen noch nicht

aufhört?

39

Fünftes Gespräch.

Ernst. Aber doch die Stelle im —

?(ilh. In der Londinopolis? Glicht wahr? — Staub!

Ernst. Und die Parlamentsakte unter Heinrich VI. Kalk. Staub!

Ernst. Und die großen Privilegia, die Karl XI., König von Schweden, der Loge von Gothenburg erteilte?

Kalk. Staub!

Ernst. Und Locke? Kalk. Was für ein Locke?

Ernst. Der Philosoph — Sein Schreiben an den Grafen von

Pembrock;

seine

Anmerkungen über

ein

Verhör,

von

Heinrich VI. eigener Hand geschrieben? Kalk. Das muß ja wohl ein ganz neuer Fund sein; den

kenne ich nicht — Aber wieder Heinrich VI. ? — Staub! und nichts als Staub! Ernst. Nimmermehr!

Kalk. Weißt du einen gelinderen -Namen für Wortver­ drehungen, für untergeschobene Urkunden?

Ernst. Und das hätten sie so lange vor den Augen der Welt ungerügt treiben dürfen?

Kalk. Warum nicht? der Klugen sind viel zu wenig, als

daß sie allen Geckereien sprechen könnten.

gleich

bei

ihrem Entstehen wider­

Genug, daß bei ihnen keine Verjährung

stattfindet — Freilich wäre es besser, wenn man

vor

dem

Publico ganz und gar keine Geckereien unternähme; denn gerade das Verächtlichste ist, daß sich niemand die Mühe nimmt, sich ihnen entgegenzustellen, wodurch sie mit dem Laufe der Zeit

das Ansehn einer sehr ernsthaften, heiligen Sache gewinnen. Da heißt es dann über tausend Jahren: „Würde man denn „so in die Welt haben schreiben dürfen, wenn es nicht wahr „gewesen wäre?

Man

hat diesen glaubwürdigen Männern

„damals nicht widersprochen, und ihr wollt ihnen jetzt wider„sprechen?"

40

Ernst und Falk.

Ernst. £ Geschichte! £ Geschichte!

Was bist du?

Kalk. Andersons kahle Rhapsodie, in welcher die Historie

der Baukunst für die Historie des Ordens untergeschoben wird, möchte noch hingehen! Fiir einmal, und für damals mochte das gut sein — Dazu war die Gaukelei so handgreiflich. —

Aber daß man noch jetzt auf diesem morastigen Grunde fort­ bauet, daß man noch immer gedruckt behaupten will, was

inan mündlich gegen einen emsthaften Mann vorzugeben sich schämt, daß man zu Fortsetzung eines Scherzes, den man längst

hätte sollen fallen lassen, sich eine forgery erlaubt, auf welche, meint sie ein nichtswürdiges bürgerliches Interesse betrifft, die

pillory steht — Ernst. Wenn es denn nun aber wahr wäre, daß hier

mehr als Wortspiel vorwaltete? Wenn es nun wahr iväre,

daß das Geheimnis des Ordens sich von alters her unter dem homonymen HLndwerke vornehmlich erhalten hätte? — Kalk. Wenn es wahr wäre? Ernst. Und muß es nicht wahr sein? — Denn wie käme

der Orden sonst dazu, die Symbole eben dieses Handiverks z>l

entlehnen? Eben dieses? Und warum keines andern? Kalk. Die Frage ist allerdings verfänglich.

Ernst.

Ein

solcher

Umstand

muß

doch

eine

Ursache

haben? Kalk. Und hat sie.

Ernst. Und hat sie? Und hat eine andere Ursache, als jene vermeinte?

Kalk. Eine ganz andre. Ernst. Soll ich raten, oder dars ich fragen? Kalk. Wenn du mir schon eher eine ganz andere Frage

gethan hättest, die ich längst erwarten mußte, so würde dir

das Raten nun nicht schwer fallen. Ernst. Eine andere Frage, die du längst hättest ernmrten müssen? —

Kalk.

Denn wenn ich dir sagte, daß das, was Frei-

41

Fünftes Gespräch.

maurerei ist, nicht immer Freimaurerei geheißen, was war

natürlicher und näher Ernst. Als zu fragen, wie es saust geheißen? — ja wohl!

— So frage ich es denn nun. Balk. Wie die Freimaurerei geheißen, ehe sie Freimaurerei hieß, fragst du? — Masonei — Ernst. 9Zwt ja freilich! Masonry auf englisch —

Kalk. Auf englisch nicht Masonry, sondern Masony. — Nicht von Mason, der Maurer, sondern von Mase, der Tisch,

die Tafel. Ernst. Mase, der Tisch? In welcher Sprache? Balk. In der Sprache der Angelsachsen, doch nicht in dieser allein, sondern auch in der Sprache der Goten

und

Franken, folglich ein ursprünglich deutsches Wort, von welchem

noch jetzt so mancherlei Abstammungen üblich sind, oder doch unlängst üblich waren, als Maskopie, Masleidig, Mas-

genosse.

Selbst Masonei

war zu Luthers Zeiten nock­

häufig im Gebrauche; nur daß es seine gute Bedeutung ein wenig verschlimniert hatte.

Ernst. Ich weiß weder von feiner guten, noch von seiner verschlimmerten Bedeutung.

BalK. Aber die Sitte unserer Vorfahren weißt du doch,

auch die wichttgsten Dinge am Tische zu überlegen? — Mase also der Tisch, und Masonei eine geschlossene Tischgesellschaft.

Und wie aus einer geschlossenen, vertrauten Tischgesellschaft ein Saufgelag worden, in welchem Verstände Agricola das Wort Masonei braucht, kannst du leicht abnehmen.

Ernst. Wäre es dem Namen Loge vor einiger Zeit bald besser gegangen?

BalK. Vorher aber, ehe die Masoneieu zum Teil so ausarteten, und in der guten Meinung des Publikums so herabkamen, standen sie in desto größerem Ansehn.

Es war kein

Hof in Deutschland, weder klein noch groß, der nicht seine Masonei hatte.

Die alten Lieder- und Geschichtsbücher sind

42

Ernst und Falk.

Eigene Gebäude, die mit den Schlössern und

davon Zeugen. Palästen der

regierenden Herrn

verbunden oder benachbart

lvaren, hatten von ihnen ihre Benennung, von der man neuerer Zeit

so

manche

ungegründete Auslegung hat — Und was

brauche ich dir zu ihrem Ruhme mehr zu sagen, als daß die

Gesellschaft der runden Tafel die erste und älteste Masonei

war, von der sie insgesamt abstammen? Ernst. Der runden Tafel? das steigt in ein sehr fabelhaftes Altertum hinauf — Talk. Die Geschichte des Königs Arthur sei so fabelhaft

als sie will, die runde Tafel ist so fabelhaft nicht.

Ernst. Arthur soll doch der Stifter derselben gewesen sein.

Talk. Mit nichten! Auch nicht einmal der Fabel nach — Arthur oder sein Vater hatteil sie von den Angelsachsen an-

genommen, wie schon der Name Masonei vermuteil läßt.

Und

>vas versteht sich mehr von selbst, als daß die Angelsachsen keine Sitte nach England herüber brachten, die sie in ihrem Vaterlande nicht zurückließen? Auch sieht man es an mehreren

deutschen Völkern

damaliger Zeit,

daß

der Hang,

in

und

neben der großen bürgerlichen Gesellschaft kleinere vertraute Gesellschaften zu machen, ihnen eigen war.

Ernst. Hiermit meinest du? Talk. Alles was ich dir jetzt nur flüchtig und vielleicht nicht mit der gehörigen Präcision sage, mache ich mich an­ heischig, das nüchstemal, daß ich mich mit dir in der Stadt

unter meinen Büchern befinde, schwarz auf weiß zu belegen —

Höre mich jetzt nur,

wie man das erste Gerücht irgend einer

großen Begebenheit hört.

ES reizt die Neugierde mehr, als

daß es sie befriedigt.

Ernst. Wo bliebst du? Talk. Die Masonei also war eine deutsche Sitte, welche die Sachsen nach England verpflanzten.

Die Gelehrten sind

uneinig, wer die Mase-ThonaS unter ihnen waren, allem

Ansehen nach die Edlen der Masonei, welche so tiefe Wurzeln

43

Fünftes besprach.

in diesem neuen Boden schlug, daß sie unter allen nachfolgen­

den Staatsveränderungen beiblieb, und sich von Zeit zu Zeit in der herrlichsten Blüte zeigte.

Besonders waren die Maso-

neien der *** im zwölfte» Jahrhundert und im dreizehnten

in sehr großem Rufe.

Und so eine *** Masonei war es,

die sich, bis zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts, trotz der

Aufhebung des Ordens, mitten in London erhalten hatte — Und hier fängt die Zeit an, wo die Fingerzeige der nieder­

geschriebenen Historie freilich ermangeln; aber eine sorgfältig

aufbewahrte Tradition, die so viel Merkmale der Wahrheit hat, ist bereit, diesen Mangel zu ersetzen. Ernst. Und waS hindert diese Tradition endlich einmal

durch

schriftliche

Vorzeigungen

sich

zur

Geschichte

zu

er­

heben? Kalk. Hindert? Nichts hindert! Alles rät vielmehr dazu

an — Wenigstens fühle ich, ich fühle mich berechtigt, ja ver­

pflichtet, dir und allen, welche sich mit dir in dem nämlichen Falle befinden, länger kein Geheimnis daraus zu machen. Ernst. Nun denn!

Ich bin in der äußersten Erwartung.

Killt. Jene *** Masonei also, die noch zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts in London bestand, aber in aller Stille

bestand, hatte ihr Versammlungshaus unfern der Sankt PaulsKirche, die damals neu erbauet ward.

Der Baumeister dieser

zweiten Kirche der ganzen Welt war —

Ernst. Christoph Wren — ?M. Und du hast den Schöpfer der ganzen heutigen

Freimaurerei genannt —

Ernst. Ihn? Talk. Kurz! Wre» der Baumeister der St. Pauls-Kirche,

in deren Nähe sich eine

uralte Masonei,

von

undenklichen

Jahren her, versammlete, war ein Bkitglied dieser Masonei, ivelche er die dreißig Jahre über, die der Bau dauerte, um

so öfterer besuchte.

Ernst. Ich fange an, ein Bkißverständnis zu wittern.

44

Ernst und Falk.

Kalk. Nichts anders! Die wahre Bedeutung des Worts

Masonei war bei dem englischen Volke vergessen, verloren —

Eine Masony, die in der Nähe eines so wichtigen Baues lag,

in der sich der Meister dieses Baues so fleißig finden ließ, was kann die anders feilt, als eine Masonry, als eine Gesell­ schaft von Bauverständigen, mit welchen Wren die vorfallen­ den Schwierigkeiten überlegt? — Ernst. Natürlich genug!

Kalk. Die Fortsetzung eines solchen Baues einer solchen Kirche interessierte ganz 'London. Um Nachrichten davon aus der ersten Hand zu haben, bewarb sich jeder, der einige Kennt­

nisse von Baukunst zu haben vermeinte, um Zutritt zu der vermeinten Masonry — und bewarb sich vergebens. Endlich

— du kennst Christoph Wren nicht bloß dem Namen nach, du weißt, welch ein erfindsamer, thätiger Kopf er war. Er hatte ehedem den Plan zu einer Societät der Wissenschaften

entwerfen helfen, welche spekulativische Wahrheiten ge­ meinnütziger und dem bürgerlichen Leben ersprieß­

licher machen sollte. Aus einmal fiel ihm das Gegenbild einer Gesellschaft bei, welche sich von der Praxis des bürgerlichen Lebens zur Spekulation erhöbe.

„Dort,

„dachte er, ivürde untersucht, was unter dem Wahren brauch-

„bar; und hier, was unter dem Brauchbaren wahr wäre. Wie, „wenn ich einige Grundsätze der Masonei eroterisch machte? „Wie, wenn ich das, was sich nicht eroterisch machen läßt, „unter die Hieroglyphen und Symbole desselben Handwerks „versteckte, und was man jetzt unter dem Worte Masonry „versteht, zu einer Free - Masonry erweiterte, an welcher „mehrere teilnehmcn könnten?" — So dachte Wren, und die Freimaurerei ward — Ernst! Wie ist dir?

Ernst. Wie einem Geblendeten. Kalk. Geht dir nun einiges Licht auf!

Ernst. Einiges? Zuviel aus einmal. Kalk. Begreifst du nun —

45

Fünftes Gespräch.

Ernst. Ich bitte dich Freund, nichts mehr! — Aber hast

du nicht bald Verrichtungen in der Stadt? Kalk. Wünschest du nlich da? Ernst. Wünsche? — nachdem du mir versprochen —

Kalk. So hab' ich der Verrichtungen daselbst genug — Roch einmal! ich werde mich über inanches aus dem Gedächt­

nisse zu schwankend, zu unbesriedigend ausgedruckt haben — Unter meinen Büchern sollst du sehen und greifen — Die Sonne geht unter, du mußt in die Stadt.

Ernst.

Eine andre ging mir aus.

Lebe wohl! —

Lebe wohl!

Nachricht. Ein sechstes Gespräch,

welches

vorfiel, ist nicht so nachzubilden.

unter

diesen Freunden

Aber das Wesentliche davon

ist zu kritischen Anmerkungen über das fünfte Gespräch be­ stimmt, die man zur Zeit noch znrückhält.

Die Erziehung des

Menschengeschlechts. Haec omnia inde esse in quibusdam cera, finde in quibusdam falsa sunt.

Augustinus.

Herausgegeben von

Gotthol- Ephraim Lesstllg.

Einleitung. essing nennt sich nur den Herausgeber der hundert Paragraphen über die Erziehung des Menschengeschlechts, die 1780 herauskamen, von denen aber die ersten dreiundfünfzig schon 1777 im vierten Beitrage zur Geschichte und Litteratur aus den Schätzen der Wolfenbüttler Bibliothek abgedruckt wurden. An den jüngeren Reimarus schrieb er am 6. April 1778 in Bezug auf diese dreiundfünfzig Paragraphen, sie seien von einem guten Freunde, der sich gern allerlei Hypothesen und Systeme mache, um das Vergnügen zu haben, sie wieder einzureißen. Diese Hypothese würde nun freilich das Ziel gewaltig verrücken, auf welches sein Ungenannter (der ältere Reimarus) int Anschläge gewesen. Aber was thue das? Jeder möge sagen, was ihm Wahrheit dünke, und die Wahrheit selbst möge Gott empfohlen sein. An seinen Bruder schrieb er am 25. Fe­ bruar 1780, er habe seinem Verleger die Erziehung des Menschengeschlechts -um Drucke geschickt, und könne das Ding (ein Ausdruck, mit deut er eigne ihm wichtige Arbeiten, wie die Emilia Golotti und andere zu be­ zeichnen pflegt) vollends in die Welt schicken, da er es nie für seine Arbeit erkennen werde, und mehrere nach dem ganzen Plane doch be­ gierig seien. Auf diese Daten hin sind die Angaben Thaers, als sei die Erziehung sein Werk und Lessing nur der Herausgeber, von Körte und Thaers Tochter geltend zu machen gesucht, von Guhrauer aber als unbegründet abgewiesen worden, da Lessing die Anerkennung nur ablehne, seine Ur­ heberschaft aber nicht leugne, und da auch der wesentliche Punkt der Sätze jedenfalls Lessing, nicht Thaer gehöre. Dieser wesentliche Punkt Lessing, Werke. XII.

4

50

Die Erziehung des Menschengeschlechts. Einleitung.

ist die Ansicht, daß in der zur Erziehung des Menschengeschlechts dienenden Reihe von Offenbarungen die christliche nicht die höchste und letzte Stufe, sondern eben nur eine Stufe mehr sei. Wie sehr aber diese Annahme Lessings eigenste Ansicht war, zeigt der Vergleich mit „Nathan dem Weisen", der auch in seinem eigentlichen Herne eine höhere Offenbarung als Erziehungsmoment des Menschen­ geschlechts voraussieht, als die christliche. Was Lessing im „Nathan" dichterisch der Phantasie und dem Gemüte nahe zu bringen suchte, das rückte er in der Reihe von Sätzen über die Erziehung des Menschen­ geschlechts durch Offenbarungsstufen, d. h. Erziehung aus sich selbst, der Vernunft näher. A. Gordrkr.

Vorbericht des Herausgebers. -^jd) habe die erste Hälfte trägen bekannt

dieses Aufsatzes in meinen Bei-

gemacht.

Itzt bin ich int stände, das

übrige itachfolgen zu lasten.

Ter Verfasser hat sich darin auf einen Hügel gestellt, von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebeneit Weg seines heutigeit Tages zu übersehen glaubt.

Aber er ruft keilten eilfertigen Wanderer, der nur das

'Nachtlager bald zu erreichen wünscht, von seinem Pfade.

Er

verlangt nicht, daß die Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse.

Und so, dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehett uitd

staunen lassen, wo er stehet und staunt!

Wenn er aus der unermeßlicheit Ferne, die ein sanftes Abendrot seinem Blicke tveder ganz verhüllt noch ganz entdeckt,

ituit gar einen Fingerzeig mitbrächte, um den ich oft verlegen gewesen! Ich meine diesen. — Warum wollen wir in allen positiven

Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken,

itach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein eittwickeln können, und noch ferner entwickeln soll;

als über eine derselben entweder lächelit oder zürnen? Diesen

unsern Hohit, diesen unsern Unwillen verdiente in der besten

Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen?

Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele: nur bei unsern Irrtümern nicht?

52

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

Die Erziehung des Menschengeschlechts. I-

Was die Erziehung bei dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte.

8- 2. Erziehung ist Offenbarung,

die deut einzeln Menschen

geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem ^Menschen­ geschlechte geschehen ist, und noch geschieht.

§■ 3. Ob die Erziehung aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten,

in der Pädagogik Nutzen haben kann, will ich hier nicht unter­ suchen.

Aber in der Theologie kann es gewiß sehr großen

Stutzen haben, und viele Schmierigkeiten heben, wenn man sich die Offenbarung als eine Erziehung des Menschengeschlechts

vorstellet. §• 4.

Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter.

giebt auch die Offenbarung

Also

dem Menschengeschlechte nichts,

woraus die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde:

sondern

sie gab

und giebt ihm die

wichtigsten dieser Dinge nur früher.

§• 5Und so wie es der Erziehung nicht gleichgültig ist, in

welcher Ordnung sie die Kräfte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen

nicht alles auf einmal beibringen kann:

ebenso hat auch Gott

bei seiner Offenbarung

Ordnung, ein gewisies Maß halten müssen.

eine

gewisse

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

53

§• 6.

Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgeteilte, und nicht erworbene Begriff unmöglich lange

in seiner Lauterkeit bestehen,

sobald ihn die sich selbst über­

lassene menschliche Vernunft zu bearbeiten anfing, zerlegte sie

den Einzige» Unermeßlichen in mehrere Ermeßlichere, und gab jedem dieser Teile ei» Merkzeichen. §• 7.

So entstand natürlicherweise Vielgötterei und Abgötterei.

Und wer weiß, wie viele Millionen Jahre sich die menschliche Vernunft noch in diesen Irrwegen ivürde hernmgetrieben haben; ungeachtet überall und zu allen Zeiten einzelne Menschen er­

kannten, daß es Irrwege waren: wenn es Gott nicht gefallen Hütte, ihr durch einen neuen Stoß eine bessere Richtung zu

geben.

§. 8. Da er aber einem jeden einzeln Menschen sich nicht mehr offenbaren konnte, noch wollte: so wählte er sich ein einzelnes Volk zu seiner besondern Erziehung; und eben

das ungeschliffenste, das verwildertste, um mit ihm ganz von vorne anfangen zu können.

§. 9. Dies war das israelitische Volk, von welchem man gar nicht einmal weiß, was es für einen Gottesdienst in Ägypten

hatte.

Denn an dem Gottesdienste der Ägyptier durften so

verachtete Sklaven nicht teilnehmen: und der Gott seiner Väter war ihul gänzlich unbekannt geworden.

§. 10. Vielleicht, daß ihm die Ägyptier allen Gott, alle Götter ausdrücklich untersagt

hatten;

es in den Glauben

gestürzt

hatten, es habe gar keinen Gott, gar keine Götter; Gott, Götter haben, sei mir ein Vorrecht der bessern Ägyptier: und

54 das,

Die Erziehung des Menschengeschlechts. um es mit so viel größerm Anscheine von Billigkeit

tyrannisieren zu dürfen. — Machen Christen es mit ihren

Sklaven noch itzt viel anders? —

§• 11. Diesem rohen Volke also ließ sich Gott ansangs bloß als den Gott seiner Väter ankündigen, um es nur erst mit

der Idee eines auch ihm znstehenden Gottes bekannt und ver­

traut zu machen. Durch die Wunder,

8. 12. mit welchen er es aus Ägypten

sührte, und in Kanaan einsetzte, bezeigte er sich ihm gleich daraus als einen Gott,

der mächtiger sei, als irgend ein

andrer Gott. §• 13.

Und indem er sortfuhr, sich ihm als den Mächtigsten

von allen zu bezeigen — welches doch nur einer sein kann, —

gewöhnte er es allmählich zu dem Begriffe des Einigen. 8- 14. Aber wie weit war dieser Begriff des Einigen noch unter

dem wahren transcendentalen Begriffe des Einigen, welchen die Vernunft so spät erst ails dem Begriffe des Unendlichen

mit Sicherheit schließen lernen! 8- 15. Zu dem wahren Begriffe des Einigen — wenn sich ihm

auch schon die Besseren des Volks mehr oder weniger näher­ ten — konnte sich doch das Volk lange nicht erheben: und dieses war die einzige wahre Ursache, warum es so oft seinen

Einigen Gott verließ, und den Einigen, d. i. Mächtigsten, in irgend einem andern Gotte eines andern Volks zu finden glaubte.

8- 16. Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen

Gedanken war, noch so völlig in seiner Kindheit war, was mar es

für einer moralischen Erziehung fähig?

Keiner

55

Die Erziehung des Menschengeschlechts. andern, als die dein Alter der Kindheit entspricht.

Der Er­

ziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen.

8- 17.

Auch hier also treffen Erziehung und Offenbarung zu­ sammen.

Noch konnte Gott seinem Bolte keine andere Reli­

gion, kein anders Gesetz geben, als eines, durch dessen Beob­ achtung oder Nichtbeobachtung es hier auf Erden glücklich oder unglücklich zu werden hoffte oder fürchtete.

Denn weiter als

auf dieses Nebelt gingen noch seine Blicke nicht.

Es wußte

von keiner Unsterblichkeit der Seele; es sehnte sich nach keinem künftigen Leben.

Ihm aber nun schon diese Dinge zu offen­

baren, welchen feine Vernunft noch so wenig gewachsen mar: was würde es bei Gott anders gewesen fein, als der Fehler des eitel« Pädagogen, der fein Kind lieber übereilen und mit

ihm prahlen, als gründlich unterrichten will.

§• 18. Allein wozu, wird man fragen, diese Erziehung eines so

rohen Volkes, eines Volkes, mit welchem Gott so ganz von vorne anfangen mußte?

Ich antworte: um in der Folge der

Zeit einzelne Glieder desselben so viel sichrer zu Erziehern aller übrigen Völker brauchen zu können.

Er erzog in ihm

die künftigen Erzieher des Menschengeschlechts.

Das wurden

Juden, das konnten nur Juden werden, nur Männer aus

einem so erzogenen Volke. §. 19. Denn weiter.

Als das Kind unter Schlägen und Lieb­

kosungen ausgewachsen und nun zu Jahren des Verstandes

gekommen war, stieß es der Vater auf einmal in die Fremde; und hier erkannte es auf einmal das Gute, das es in seines

Vaters Hause gehabt und nicht erkannt hatte. 8- 20.

Während daß Gott fein erwähltes Volk durch alle Staffeln einer kindischen Erziehung führte: waren die andern Völker

56

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

des Erdbodens bei dem Lichte der Vernunft ihren Weg fort­ gegangen.

Die meisten derselben waren weit hinter dem er-

wählten Volke zurückgeblieben: nur einige waren ihm zuvorgekommen.

Und auch das geschieht bei Kinder», die man für

sich aufwachsen läßt;

einige bilden

viele bleiben ganz roh;

sich zum Erstaunen selbst.

§. 21. Wie aber diese glücklichern Einige nichts gegen den Nutzen

und die Notwendigkeit der Erziehuitg beweisen: so beweisen die wenigen heidnischen Völker, die selbst in der Erkenntnis Gottes vor dem erwählteil Volke noch bis itzt einen Vorsprung

zu haben schienen, nichts gegen die Offenbarung.

Das Kind

der Erziehung fängt mit langsamen aber sichen, schritten an; cs holt nranches glücklicher organisierte Kiild der Natur spät

ein; aber es holt es doch ein, und ist alsdann nie wieder von ihm einzuholen.

§• 22. Auf gleiche Weise. Gottes beiseite

gesetzt,

Daß, — die Lehre von der Einheit welche

in

den Büchen,

des Alten

Testaments sich findet, und sich nicht findet — daß, sage ich,

wenigstens die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, und die damit verbundene Lehre von Strafe und Belohnung in

einem künftigen Leben darin völlig fremd sind: beweiset eben­

sowenig wider den göttlichen Ursprung dieser Bücher. demungeachtet

mit

allen

darin

enthaltenen

Prophezeiungen seine gute Richtigkeit haben.

Es kann

Wundern

und

Denn laßt uns

setzen, jene Lehren würden nicht allein darin vermißt, jene

Lehren wären auch sogar nicht einmal wahr; laßt uns setzen,

es wäre vielleicht für die Menschen in diesem Leben alles aus: wäre darum das Dasein Gottes »linder erwiesen? stünde es

darum Gotte minder frei, würde es darun, Gotte minder

ziemen, sich der zeitlichen Schicksale irgend eines Volkes aus diesen, vergänglichen Geschlechte unmittelbar anzunehmen?

Die

Wunder, die er für die Juden that, die Prophezeiungen, die

57

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

er durch sie aufzeichnen ließ, waren ja nicht bloß für die wenigen sterblichen Juden, zu deren Zeiten sie geschahen und ausgezeichnet wurden: er hatte seine Absichten damit aus das ganze jüdische Volk, aus das

ganze Menschengeschlecht, die

hier aus Erden vielleicht ewig dauern sollen, wenn schon jeder

einzelne Jude, jeder einzelne Mensch aus immer dahin stirbt.

8- 23. Noch einmal.

Ter Mangel jener Lehren in den Schriften

des Alten Testaments beweiset wider ihre (Göttlichkeit nichts. Moses war doch von Gott gesandt, obschon die Sanktion seines

Gesetzes sich nur auf dieses Leben erstreckte. weiter?

Tenn warum

Er war ja nur an das israelitische Volk,

an

das damalige israelitische Volk gesandt: und sein Auftrag war den Kenntnissen, den Fähigkeiten, den Neigungen dieses

damaligen israelitischen Volks, sowie der Bestimmung des künftigen, vollkommen angemessen.

Das ist genug.

8- 24.

So weit hätte Warburton auch nur gehen müssen, und nicht weiter.

Aber der gelehrte Mann überspannte den Bogen.

Nicht zufrieden, daß der Mangel jener Lehren der göttlichen

Sendung Mosis nichts schade: er sollte ihm die göttliche Sen­ dung Mosis sogar beweisen.

Und wenn er diesen Beweis

iloch aus der Schicklichkeit eines solchen Gesetzes für ein solches Volk zu führen gesucht hätte!

Aber er nahm seine Zuflucht

zu einem von Mose bis auf Christum ununterbrochen fort-

daurenden Wunder, nach welchem Gott einen jeden einzeln

Juden gerade so glücklich oder unglücklich gemacht habe, als es dessen Gehorsam oder Ungehorsam gegen das Gesetz ver­

diente.

Dieses Wunder habe den Mangel jener Lehren, ohne

ivelche kein Staat bestehen könne, ersetzt; und eine solche Er­

setzung eben beweise, was jener Mangel, aus den ersten An­

blick, zu verneinen scheine.

58

Die Erziehung des Menschengeschlechts. §• 25.

Wie gut war es, daß Warburton dieses anhaltende Wunder, in welches er das Wesentliche der israelitischen Theo­ kratie setzte, durch nichts erhärten, durch nichts wahrscheinlich

machen konnte.

Denn hätte er das gekonnt; wahrlich — als­

dann erst hätte er die Schwierigkeit unauflöslich gemacht. — Mir wenigstens. — Denn was die Göttlichkeit der Sendung

Mosis wieder Herstellen sollte,

würde an der Sache selbst

zweiselhaft gemacht haben, die Gott zwar damals nicht mit­ teilen, aber doch gewiß auch nicht erschweren wollte. §. 26. Ich erkläre mich an dem Gegenbilde der Offenbarung.

Ein Elementarbuch

für Kinder darf gar wohl dieses oder

jenes wichtige Stück der Wissenschaft oder Kunst, die es vor­ trägt, mit Stillschweigen übergehen, von deni der Pädagog

urteilte, daß es den Fähigkeiten der Kinder, für die er schrieb, noch nicht angemessen sei.

Aber es darf schlechterdings nichts

enthalten, was den Kindern den Weg zu den zurückbehaltnen wichtigen Stücken versperre oder verlege. ihnen

alle Zugänge

werden:

zu

denselben

Vielmehr müssen

sorgfältig offen gelassen

und sie nur von einem einzigen dieser Zugänge ab­

leiten, oder verursachen, daß sie denselben später betreten, würde allein die Unvollständigkeit des Elementarbuchs zu einem wesentlichen Fehler desselben machen.

8- 27.

Also auch konnten in den Schriften des Alten Testaments,

in diesen Elementarbüchern für das rohe und im Denken un­ geübte israelitische Volk, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und künftigen Vergeltung gar wohl mangeln: aber ent­ halten durften sie schlechterdings nichts, was das Volk, für

das sie geschrieben waren, auf dem Wege zu dieser großen

Wahrheit auch nur verspätet Hütte.

Und was Hütte es, wenig

zu sagen, mehr dahin verspätet, als wen» jene wunder-

59

Die Erziehung des Menschengeschlechts. bare Vergeltung

in

diesem Vebeit darin wäre versprochen,

und von dein wäre versprochen worden, der nichts verspricht,

was er nicht hält?

§. 28. Tenn, wenn schon aus der ungleichen Austeilung der

6>iih?r dieses Gebens, bei der aus Tugend und Laster so wenig Rücksicht genommen zu sein scheinet, eben nicht der strengste

Beweis für die Unsterblichkeit der 3ee(e und für ein anders Leben, in welchem jener Knoten sich auslöse, zu siihren: so

ist doch wohl gewiß, daß der menschliche Verstand ohne jenen

Knoten noch lange nicht — und vielleicht auch nie — auf

bessere und strengere Beweise gekommen märe.

Denn was

sollte ihn antreiben können, diese besser» Beweise zu suchen? Die bloße Neugierde?

8- 29.

Der und jener Jsraelite mochte freilich wohl die gött­

lichen Versprechungen und Androhungen, die sich auf den ge­ samten Staat bezogeit, auf jedes einzelne Glied desselben er­ strecken, und in dem festen Glauben stehen, daß wer fromm

fei, auch glücklich fein müsse, und wer unglücklich sei oder werde, die Strafe seiner Missethat trage, welche sich sofort

wieder in Segen verkehre, sobald er von feiner Missethat ab­ lasse. — Ein solcher scheinet den Hiob geschrieben zu haben;

denn der Plan desselben ist ganz in diesem Geiste. —

8- 30. Aber

unmöglich

durste

die

tägliche Erfahrung

diesen

Glauben bestärken: oder cs war auf immer bei dein Volke,

das diese Erfahrung hatte, auf immer um die Erkennung und Aufnahme der ihm noch ungeläufigen Wahrheit geschehen. Denn wenn der Fromme schlechterdings glücklich ivar, und es

zu seinem Glücke doch wohl auch mit gehörte, daß feine Zu­ friedenbeit keine schrecklichen Gedanken des Todes unterbrachen.

60

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

daß er alt und lebens satt starb:

wie konnte er sich nach

einem andern Leben sehnen? wie konnte er über etwas nach-

denken, moirach er sich nicht sehnte?

Wenn aber der Fromme

darüber nicht nachdachte: wer sollte es denn? Der Bösewicht?

der die Strafe seiner Missethat fühlte, und Leben

verwünschte,

so

wenn er dieses

gern auf jedes andere Leben Ver­

zicht that?

§• 31.

Weit weniger verschlug es, daß der und jener Jsraelite die Unsterblichkeit der Seele und künftige Vergeltung, weil

sich das Gesetz nicht darauf bezog, geradezu uud ausdrücklich

leugnete.

Das Leugnen eines Einzeln — wäre

es auch ein

Salomo gewesen, — hielt den Fortgang des gemeinen Ver­

standes nicht auf, und war an und für sich selbst schon ein Beweis, daß das Volk nun einen großen Schritt der Wahr­ heit näher gekommen war. Denn Einzelne leugnen nur, was Mehrere in Überlegung ziehen; und in Überlegung ziehen,

warum man sich vorher ganz und gar nicht bekümmerte, ist

der halbe Weg zur Erkenntnis. §• 32.

Laßt uns auch bekennen, daß es ein heroischer Gehorsam ist, die Gesetze Gottes beobachten, bloß weil es Gottes Ge­

setze sind, und nicht, weil er die Beobachter derselben hier und dort zu belohnen verheißen hat; sie beobachten, ob man schon an der künftigen Belohnung ganz verzweifelt, und der

zeitlichen auch nicht so ganz gewiß ist. §• 33.

Ein Volk, in diesem heroischen Gehorsame gegen Gott erzogen, sollte es nicht bestimmt, sollte es nicht vor allen andern fähig sein, ganz besondere göttliche Absichten auszu*-

ftthren? — Laßt den Soldaten, der seinem Führer blinden

Gehorsam leistet, nun auch vou der Klugheit seines Führers

61

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

überzeugt werden, und sagt, was dieser Führer mit ihm aus­ zuführen sich nicht unterstehen darf? —

§• 34. Noch hatte das jüdische Volk in seinem Jehovah mehr den

inächtigsten,

als

den

weisesten

aller

Götter

verehrt;

noch hatte es ihn als einen eifrigen Gott mehr gefürchtet,

als geliebt: auch dieses zum Beweise, daß die Begriffe, die

es von seinem höchsten einigen Gott hatte,

nicht eben die

rechten Begriffe waren, die wir von Gott habeir müssen.

Doch

liuii war die Zeit da, daß diese seine Begriffe erweitert, ver­

edelt, berichtiget werden sollten, wozu sich Gott eines ganz

natürlichen Diittels bediente; eines bessern richtigern Maßstabes, nach welchem es ihn zu schätzen Gelegenheit bekam. §• 35.

Anstatt

daß

es

ihn bisher nur gegen die armseligen

Götzen der kleinen benachbarten rohen Völkerschaften geschätzt hatte, mit welchen es in beständiger Eifersucht lebte: fing es

in der Gefangenschaft unter dem weisen Perser an, ihn gegen das Wesen aller Wesen zu messen, wie das eine geübtere Vernunft erkannte und verehrte. §• 36.

Tie Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einnial seine Offenbarung. §• 37.

Das war der erste wechselseitige Dienst, den beide einander

leisteten; und dem Urheber beider ist ein solcher gegenseitiger Einfluß so wenig unanständig, daß ohne ihn eines von beiden

überflüssig sein würde. §. 38. Das in die Fremde geschickte Kind sahe andere Kinder,

die mehr wußten, die anständiger lebten, und fragte sich be-

62

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

schämt:

warum weiß ich das nicht auch? waruiu

nicht auch so?

lebe ich

Hätte in meines Vaters Hause man mir das

nicht auch beibringen; dazu mich nicht auch anhalten sollen? Da sucht es seine Elementarbücher wieder vor, die ihm längst

zum Ekel geworden, um die Schuld auf die Elementarbücher zu schieben.

Aber siehe! es erkennet,

daß die Schuld nicht

an den Büchern liege, daß die Schuld ledig sein eigen sei,

warum es nicht längst eben das wisse, ebenso lebe.

8- 39. Da die Juden nunmehr, auf Veranlassung der reinern persischen Lehre, in ihrem Jehovah nicht bloß den größten

aller Nationalgötter, sondern Gott erkannten; da sie ihn als solchen in ihren wieder hervorgesuchten heiligeir Schriften um so eher finden und andern zeigen tonnten, als er wirklich

darin war; da sie vor allen sinnlichen Vorstellungen desselben einen ebenso großen Abscheu bezeigten, oder doch in diesen

Schriften zu haben angewiesen wurden, als die Perser nur

immer hatten: was Wunder, daß sie vor den Augen des Cyrus mit einem Gottesdienste Gnade fanden, den er zwar

noch weit unter dem reinen Sabeismus, aber doch auch weit über die groben Abgöttereien zu sein erkannte, die sich dafür

des verlassnen Landes der Juden bemächtiget hatten? §• 40.

So erleuchtet über ihre eignen unerkannten Schätze kamen sie zurück, und wurden ein ganz andres Volk, dessen erste

Sorge es war, machen.

Bald

diese Erleuchtung

war

nicht mehr zu denken.

an Abfall

unter sich dauerhaft zu

und Abgötterei unter ihm

Denn man kann einem Nationalgott

wohl untreu werden, aber nie Gott, sobald man ihn einmal erkannt hat. 8- 41. Die Gottesgelehrten haben diese gänzliche Veränderung

des jüdischen Volks verschiedentlich zu erklären gesucht; und

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

63

einer, bet die Unzulänglichkeit aller dieser verschiednen Er­ klärungen sehr wohl gezeigt hat, wollte endlich „die augen„scheinliche Erfüllung der über die babylonische Gefangen„schaft und die Wiederherstellung aus derselben ausgesprochnen „und ausgeschriebnen Weissagungen" für die wahre Ursache derselben angeben. Aber auch diese Ursache kann nur inso­ fern die wahre sein, als sie die nun erst veredelten Begriffe von Kott voraussetzt. Die Juden mußten nun erst erkannt haben, daß Wunderthun und das Künftige vorhersagen nur Wott zukomme; welches beides sie sonst auch den falschen Götzen beigeleget hatten, wodurch eben Wunder uitb Weis­ sagungen bisher nur einen so schwachen, vergänglichen Ein­ druck auf sie gemacht hatten. §• 42. Ohne Zweifel waren die Juden unter den Chaldäern und Persern auch mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bekannter geworden. Vertrauter mit ihr wurden sie in den Schulen der griechischen Philosophen in Ägypten.

§• 43. Doch da es mit dieser Lehre, in Ansehung ihrer heiligen Schriften, die Bewandtnis nicht hatte, die es mit der Lehre von der Einheit und den Eigenschaften Gottes gehabt hatte; da jene von dem sinnlichen Volke darin war gröblich über­ sehen worden, diese aber gesucht fein wollte; da auf diese noch Vorübungen nötig gewesen waren, und also nur An­ spielungen und Fingerzeige stattgehabt hatten: so konnte der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele natürlicher­ weise nie der Glaube des gesamten Volks werden. Er war und blieb nur der Glaube einer gewissen Sekte desselben. §• 44. Eine Vorübung auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele nenne ich z. E. die göttliche Androhung, die Misse-

64 that

Tie Erziehung des Menschengeschlechts. des Vaters tut seinen Kindern bis ins dritte und vierte

Glied zu strafen.

Dies gewöhnte die Väter in Gedanken mit

ihren spätesten Nachkommen zu leben, und das Unglück, welches

sie über diese Unschuldige gebracht hatten, voraus zu fühlen.

8- 45Eine Anspielung nenne ich, was bloß die Neugierde

reizen und eine Frage veranlassen sollte.

Als die oft vor­

kommende Redensart, zu seinen Vätern versammlet werden, für sterben.

§• 46. Eiiren Fingerzeig nenne ich,

was schon irgend einen

Keim enthält, aus ivelchent sich die lloch zurückgehaltne Wahr­ beit entwickeln läßt.

Benennung

Gott

Dergleichen war Christi Schluß aus der

Abrahams,

Isaaks

und Jakobs.

Dieser Fingerzeig scheint mir allerdings in einen strengen Be­

weis ausgebildet werden zu könneit.

§• 47. In solchen Vorübungen, Anspielungen, Fingerzeigen be­

steht die positive Vollkommenheit eines Elementarbuchs; so lvie die oben erwähnte Eigenschaft, daß es den Weg zu den

noch zurückgehalteiten Wahrheiten nicht erschwere, oder ver­

sperre, die negative Vollkommenheit desselben war.

§. 48. Setzt hierzu noch die Einkleidung und den Stil — 1) die Einkleidung der nicht wohl zu übergehenden abstrakteil Wahr­

heiten in Allegorien und lehrreiche einzelne Fälle, wirklich

geschehen

erzählet

werden.

Dergleichen

die als sind

die

Schöpfung, unter dem Bilde des werdenden Tages; die Quelle

des moralischen Bösen, Baume;

in

der Erzählung

vom verbotnen

der Ursprung der mancherlei Sprachen, in der Ge­

schichte vom Turmbaue zu Babel, u. s. w.

65

Die Erziehung des Menschengeschlechts. §• 49.

2) den Stil — bald plan und einfältig, bald poetisch,

durchaus voll Tautologien, aber solchen, die den Scharfsinn

üben, indem sie bald etwas anders zu sagen scheinen, und doch das Nämliche sagen, bald das 'Nämliche zu sagen scheinen, und im Grunde etwas anders bedeuten oder bedeuten können: —

§. 50.

Und ihr habt alle gute Eigenschaften eines Elementarbuchs sowohl für Kinder, als für ein kindisches Volk.

§. 51.

Aber jedes Elementarbuch ist nur für ein gewisses Alter. Das ihm entwachsene Kind länger, als die Meinung gewesen, dabei zu verweilen, ist schädlich.

Denn um dieses auf eine

nur einigermaßen nützliche Art thun zu können, muß man mehr hineinlegen, als darin liegt; mehr hineintragen, als es fassen kann.

Man muß der Anspielungen und Fingerzeige zu

viel suchen und machen, die Allegorien zu genau ausschütteln,

die Beispiele zu umständlich beute», die Worte zu stark pressen.

Das giebt dem Kinde einen kleinlichen, schiefen, spitzfindigen Verstand;

das macht es geheimnisreich, abergläubisch, voll

Verachtung gegen alles Faßliche und Leichte.

§. 52. Die nämliche Weise,

Bücher behandelten!

wie die Rabbinen ihre

heiligen

Der nämliche Charakter, den sie dem

Geiste ihres Volks dadurch erteilten!

§■ 53. Ein bessrer Pädagog muß kommen, und dem Kinde das

erschöpfte Elementarbuch aus den Händen reißen. — Christus kam. §. 54.

Der Teil des Menschengeschlechts, den Gott in Einen

Erziehungsplan hatte fassen wollen — er hatte aber nur denLessing, Werke. XII.

5

66

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

jenigen in Einen fassen wollen, der durch Sprache, durch Hand­ lung, durch Regierung, durch andere natürliche und politische

Verhältnisse in sich bereits verbunden war — war zu dem zweiten großen Schritte der Erziehung reif.

§. 55. Das ist: dieser Teil des Menschengeschlechts war in der

Ausübung seiner Vernunft so weit gekommen, daß er zu seinen moralischen Handlungen edlere, würdigere Bewegungsgründe

bedurfte und brauchen konnte, als zeitliche Belohnung und Strafe waren, die ihn bisher geleitet hatten.

Knabe.

Das Kind wird

Leckerei und Spielwerk weicht der aufkeimenden Be­

gierde, ebenso frei, ebenso geehrt, ebenso glücklich zu werden, als es sein älteres Geschwister sieht. §• 56.

Schon längst waren die Bessern von jenem Teile des Menschengeschlechts gewohnt, sich durch einen Schatten solcher edlern Bewegungsgründe regieren zu lassen.

Um nach diesem

Leben auch nur in dem Andenkeil feiner Mitbürger fortzuleben,

that der Grieche und Römer alles.

§• 57. Es war Zeit, daß ein andres wahres nach diesem Leben zu gewärtigendes Leben Einfluß auf seine Handlungen gewönne.

§. 58. Und so ward Christus der erste zuverlässige, prak­

tische Lehrer der Unsterblichkeit der Seele. §. 59. Der erste zuverlässige Lehrer. — Zuverlässig durch die Weissagungen, die in ihm erfüllt schienen; zuverlässig durch

die Wunder, die er verrichtete; zuverlässig durch seine eigene Wiederbelebung nach einem Tode, durch den er feine Lehre

versiegelt hatte.

Ob wir noch itzt diese Wiederbelebung, diese

67

Die Erziehung des Menschengeschlechts. Wunder beweisen können: das lasse ich dahingestellt sein.

wie ich es dahingestellt sein

Christus gewesen.

lasse,

So,

wer die Person dieses

Alles das kann damals zur Annehmung

seiner Lehre wichtig gewesen sein: itzt ist es zur Erkennung

der Wahrheit dieser Lehre so wichtig nicht mehr.

§. 60. Der erste praktische Lehrer. — Denn ein anders ist,

die Unsterblichkeit der Seele als eine philosophische Speku­ lation vermuten, wünschen, glauben: ein anders, seine innern

und äußern Handlungen danach einrichten.

§. 61. Und dieses wenigstens lehrte Christus zuerst.

Denn ob

es gleich bei manchen Völkern auch schon vor ihm eingeführter Glaube war, daß böse Handlungen noch in jenem Leben be­

straft mürben: so waren es doch nur solche, die der bürger­ lichen Gesellschaft Nachteil brachten, und daher auch schon in der bürgerlichen Gesellschaft ihre Strafe hatten.

Eine innere

Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein andres Leben zu empfehlen, war ihm allein vorbehalten.

§• 62. Seine Jünger haben diese Lehre getreulich fortgepflanzt.

Und wenn sie auch kein ander Verdienst hätten, als daß sie

einer Wahrheit, die Christus nur allein für die Judm be­ stimmt zu haben

schien,

einen allgemeinern Umlauf unter

mehrern Völkern verschafft hätten: so wären sie schon darum unter die Pfleger und Wohlthäter des Menschengeschlechts zu rechnen.

§. 63. Daß sie aber diese Eine große Lehre noch mit andern Lehren versetzten, deren Wahrheit weniger einleuchtend, deren Nutzen weniger erheblich war: wie konnte das anders sein?

Laßt uns sie darum nicht schelten, sondern vielmehr mit Ernst

68

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

untersuch«:: ob nicht selbst diese beigemischten Lehren ein neuer

Richtungsstoß für die Erschliche Vemunft geworden.

§. 64. Wenigstens ist es schon aus der Erfahrung klar, daß die

neutestamentlichen Schrift««, in welchen sich diese Lehren nach einiger Zeit aufbewahret fanden, das zweite bessre Elementar­ buch für das Menschengeschlecht abgegeben haben, und noch

abgeben.

§. 65. Sie haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlich««

Verstand mehr als alle miberc Bücher beschäftiget; mehr als alle andere Bücher erleuchtet, sollte es auch mir durch das

Licht sein, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug.

8- 66. Unmöglich hätte irgend ein ander Buch unter so verschiednen Völkern so allgemein bekannt werden können: und unstreitig hat das, daß so ganz ungleiche Denkungsarten sich mit diesem nämlichen Buche beschäftigten, den menschlichen

Verstand n«ehr fortgeholfen, als wenn jedes Volk für sich be­

sonders sein eignes Elementarbuch gehabt hätte.

§. 67. Auch war es höchst nötig, daß jedes Volk dieses Buch eine Zeitlang für das Non plus ultra seiner Erkenntnisse

halten musste.

Denn dafür muß auch der Knabe sein Ele­

mentarbuch vors erste ansehen; damit die Ungeduld, nur fertig

zu werden, ihn nicht zu Dingen fortreißt, zu welchen er noch keinen Grund gelegt hat.

§• 68. Und was noch itzt höchst «vichtig ist: — Hüte dich, du

fähigeres Individuum, der du an dem letzten Blatte dieses Elementarbuches stampfest und glühest, hüte dich, es deine

69

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

schwächere Mitschüler merken zu lassen, was du witterst, oder schon zu sehen beginnest. §. 69. Bis sie dir nach sind, diese schwächere Mitschüler; — kehre lieber noch einmal selbst in dieses Elementarbuch zurück,

und untersuche, ob das, was du nur für Wendungen der

Methode, für Lückenbüßer der Didaktik hältst, auch wohl nicht etwas Mehrers ist.

§. 70. Du hast in der Kindheit des Menschengeschlechts an der Lehre von der Einheit Gottes gesehen, daß Gott auch bloße

Vernunftswahrheiten unmittelbar

offenbaret;

oder verstattet

und einleitet, daß bloße Vernunftswahrheiten als unmittelbar geoffenbarte Wahrheiten eine Zeitlang gelehret werden: um sie

geschwinder zu verbreiten, und sie fester zu gründen.

§• 71. Du erfährst, in denl Knabenalter des Menschengeschlechts, an der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, das Nämliche.

Sie wird in dem zweiten bessern Elementarbuche als Offen­ barung geprediget, nicht als Resultat menschlicher Schlüffe

gelehret.

§. 72.

So wie wir zur Lehre von der Einheit Gottes nunmehr des Alte» Testaments entbehren können; so wie wir allmählich zur Lehre von der Unsterblichkeit der Seele auch des Neuen

Testaments entbehren zu können anfangen: könnten in diesem nicht noch mehr dergleichen Wahrheiten vorgespiegelt werden,

die wir als Offenbarungen so lange anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten her­ leiten und mit ihnen verbinden lernen?

§. 73. Z. E. die Lehre von der Dreieinigkeit. — Wie, wen»

diese Lehre den menschlichen Verstand, nach unendlichen Ver-

70

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

irrungen rechts unb links,

nur endlich aus den Weg bringen

sollte, zu erkennen, daß Kott in dem Verstände, in welchem endliche Dinge eins sind, unmöglich eins sein könne;

auch

seine Einheit eine transcendentale Einheit

daß

sein müsse,

welche eine Art von Mehrheit nicht ausschließt? — Muß Kott wenigstens nicht die vollständigste Vorstellung von sich selbst

haben? d. i. eine Vorstellung, in der sich alles befindet, was

in ihm selbst ist.

Würde sich aber alles in ihr finden, was

in ihm selbst ist, wenn auch von seiner notwendigen Wirk­

lichkeit, sowie von seinen übrigen Eigenschaften, sich bloß eitie Vorstellung, sich bloß eine Möglichkeit fände?

Diese Mög­

lichkeit erschöpft das Wesen seiner übrigen Eigenschaften: aber

auch

seiner notwendigen Wirklichkeit?

Mich dünkt nicht. —

Folglich kann entweder Gott gar keine vollständige Vorstellung von sich selbst haben:

oder diese vollständige Vorstellung ist

ebenso notwendig wirklich, als er es selbst ist rc. — Freilich

ist das Bild von mir im Spiegel nichts als eine leere Vor­ stellung von mir, weil es nur das von mir hat, wovon Licht­ strahlen auf seine Fläche fallen.

Aber wenn denn nun dieses

Bild alles, alles ohne Ausnahme hätte, was ich selbst habe: würde es sodann auch noch eine leere Vorstellung, oder nicht vielmehr eine wahre Verdopplung meines Selbst sein? — Wenn ich eine ähnliche Verdopplung in Gott zu erkennen glaube: so

irre ich mich vielleicht nicht so wohl, als daß die Sprache meinen Begriffen unterliegt; und so viel bleibt doch immer

unwidersprechlich,

daß

diejenigen,

welche

die Idee

davon

populär machen wollen, sich schwerlich faßlicher und schicklicher hätten ausdrücken können,

als

durch die Benennung eines

Sohnes, den Gott von Ewigkeit zeugt.

8- 74.

Und die Lehre von der Erbsünde. — Wie, wenn uns endlich alles überführte, daß der Mensch auf der ersten und niedrigsten Stufe seiner Menschheit schlechterdings so Herr

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

71

seiner Handlungen nicht sei, daß er moralischen Gesetzen fol­

gen könne?

§. 75. Und die Lehre von der Genugthuung des Sohnes. —

Wie, wenn uns endlich alles nötigte, anzunehmen: daß Gott, ungeachtet jener ursprünglichen Unvermögenheit des Menschen, ihm dennoch moralische Gesetze lieber geben, und ihm alle Übertretungen, in Riicksicht auf seinen Sohn, d. i. in Rück­ sicht auf den selbständigen Umfang aller seiner Vollkommen­ heiten, gegen den und

in

jede Unvollkommenheit

dem

des

Einzeln verschwindet, lieber verzeihen wollen; als daß er sie ihm nicht geben, und ihn von aller moralischen Glückseligkeit

ausschließen

wollen,

die

sich

moralische Gesetze nicht

ohne

denken läßt?

8- 76. Man wende nicht

ein,

daß

dergleichen Vernünfteleien

über die Geheimnisse der Religion untersagt sind. — Das

Wort Geheimnis bedeutete in den ersten Zeiten des Christen­

tums ganz etwas anders, als wir itzt darunter verstehen; und die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunstswahrheiten ist schlechterdings notwendig,

Geschlechte damit

geholfen

sein

soll.

wenn dem menschlichen Als

sie

geoffenbaret

wurden, waren sie freilich noch keine Vernunftswahrheiten;

aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden.

Sie waren

gleichsam das Facit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraussagt, bannt sie sich im Rechnen einigermaßen danach

richten können.

Wollten sich die Schüler an dem voraus­

gesagten Facit begnügen:

so würben sie nie rechnen lernen,

und die Absicht, in welcher der gute Meister ihnen bei ihrer

Arbeit einen Leitfaden gab, schlecht erfüllen.

§• 77. Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit bereit historischen Wahrheit, wenn man will, es so miß-

72

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

lich aussieht, gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unsrer Natur, von unsern Verhältnissen

zu Gott, geleitet werden könne«», auf welche die menschliche Verirunst von selbst nimmermehr gekommen wäre?

§. 78. Es ist nicht wahr, daß Spekulationen über diese Singe

jemals Unheil gestiftet, und der bürgerlichen Gesellschaft nach­

teilig geworden. — Nicht den Spekulationen: dem Unsinne,

der Tyrannei, diesen Spekulationen zu steuern; Menschen, die

ihre eigenen hatten, nicht ihre eigenen zu gönnen, ist dieser Vorwurf zu machen. 8- 79. Vielmehr sind dergleichen Spekulationen — mögen sie im

einzeln doch ausfallen, wie sie wollen — unstreitig die schick­ lichsten Übungei» des menschliche»» Verstandes überhaupt, so lange das menschliche Herz überhaupt höchstens nur vermögend ist, die Tugend wegen ihrer ewigen glückseligen Folgen zu

lieben.

§. 80. Dein» bei dieser Eigennützigkeit des menschlichen Herzens auch den Verstand nur allein an dein üben wollen, was unsere körperlichen Bedürfnisse betrifft, würde ihn mehr stumpfen, als

wetzen heißen.

Er will schlechterdings mt geistigen Gegen­

ständen geübt sein, wenn er zu seiner völligen Aufklärung ge­ langen, und diejenige Reinigkeit des Herzens hervorbringen

soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht.

§• 81. Oder soll das menschliche Geschlecht

auf diese

höchste

Stufei» der Aufklärung und Reinigkeit nie kommen? 'Nie?

§. 82. Nie? — Laß mich diese Lästerung nicht denken. Allgütiger! — Die Erziehung hat ihr Ziel: bei dem Geschlechte nicht

73

Die Erziehung des Menschengeschlechts. weniger als bei dem Einzeln.

Was erzogen ivird, wird zu

etwas erzogert.

8- 83. Die schmeichelnden Aussichten, die man dem Jünglinge

eröffnet; die Ehre, der Wohlstand, die man ihm vorspiegelt:

was sind sie mehr, als Mittel, ihn zum Manne zu erziehen,

der

auch

dann,

wenn

diese Aussichten

der Ehre

und

des

Wohlstandes wegfallen, seine Pflicht zu thun vermögend sei. §• 84.

Darauf zwecke die menschliche Erziehung ab:

und die

göttliche reiche dahin nicht? Was der Kunst mit dem Einzeln gelingt, sollte der Natur nicht auch mit dem Ganzen gelingen?

Lästerung! Lästerung!

8- 85. Neiir; sie wird kommen, sie ivird gewiß kommen, die Zeit

der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand

einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft

gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht nötig haben wird; da er das Gute thun wird, weil es

das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf ge­

setzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen.

§. 86. Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen

Evangeliums, die uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird.

§. 87. Vielleicht, daß selbst gewisse Schwärmer des dreizehnten

und

vierzehnten

Jahrhunderts

einen

Strahl

dieses

neuen

ewigen Evangeliums aufgefangen hatten; und nur darin irrten, daß sie den Ausbruch desselben so nahe verkündigten.

74

Die Erziehung des Menschengeschlechts. §• 88. Vielleicht war ihr dreifaches Alter der Welt keine so

leere Grille; und gewiß hatten sie keine schlimme Absichten, wenn sie lehrten, daß der Neue Bund ebensowohl antiquieret werden muffe, als es der Alte geworden. Es blieb auch bei ihnen immer die nämliche Ökonomie des nämlichen Gottes.

Immer — sie meine Sprache sprechen zu lassen — der nämliche Plan der allgemeinen Erziehung des Menschengeschlechts.

§. 89.

Nur daß sie ihn übereilten; nur daß sie ihre Zeitgenossen, die noch kaum der Kindheit entwachsen waren, ohne Aufklärung, ohne Vorbereitung, mit eins zu Männern machen zu können glaubten, die ihres dritten Zeitalters würdig wären.

§. 90.

Und eben das machte sie zu Schwärmern.

Der Schwärmer

thllt oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann

diese Zukunft nur nicht erwarten.

Er wünscht diese Zukunft

beschleuniget; und wünscht, daß sie durch ihn beschleuniget werbe. Wozu sich die Statur Jahrtausende Zeit nimmt, soll in deni

Augenblicke seines Daseins reifen.

Denn was hat er davon,

wenn das, was er für das Bessere erkennt, nicht noch bei

seinen Lebzeiten das Bessere wird? Kömmt er wieder? Glaubt

er wieder zu kommen? — Sonderbar, daß diese Schwärmerei allein unter beu Schwärmern nicht mehr Mode werden will!

§. 91. Geh' deinen «»merklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln.

— Laß

mich

an

dir nicht verzweifeln,

wenn

selbst

deine

Schritte mir scheinen sollten zurückzugehen! — Es ist nicht

wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist. §. 92.

Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! so viel Seitenschritte zu thun! — Und wie? wenn es nun gar

75

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

so gut als ausgemacht wäre, daß das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher

bringt,

nur durch kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde,

deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert? §. 93. Nicht anders! Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch

(der früher, der später) erst durchlaufen haben. — „In einem „und ebendemselben Leben durchlaufen haben? Kann er in

„ebendemselben Leben ein sinnlicher Jude und ein geistiger „Christ gewesen sein? Kann er in ebendemselben Leben beide „überholet haben?"

§. 94. Das wohl nun nicht! — Aber warum könnte jeder einzelne

Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein? §• 95.

Ist diese Hypothese darum so

lächerlich,

weil

sie

die

älteste ist? weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und

geschwächt

hatte,

sogleich

darauf

verfiel? 8- 96. Warum

könnte auch ich nicht hier bereits einmal alle

die Schritte zu meiner Vervollkommnung gethan haben, welche

bloß zeitliche Strafen und Belohnungen den Menschen bringen

können? §. 97. Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu thun uns die Aussichten in ewige Belohnungen so mächtig helfen?

§. 98. Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als

ich

neue Kenntniffe, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin?

f6

Die Erziehung des Menschengeschlechts.

Bringe ich auf einmal so viel weg, daß es der Mühe wieder zu kommen etwa nicht lohnet?

8- 99. Darum nicht? — Oder, weil ich es vergesse, daß ich schon da gewesen?

Wohl mir, daß ich das vergesse.

Die

Erinnerung meiner vorigen Zustände ivürde mir »ur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben.

Und was ich auf itzt vergeßen muß, habe ich denn das auf ewig vergessen? §• 100.

Oder,

weil so zu viel Zeit für mich verloren gehen

würde? — Verloren? — Und was habe ich denn zu versäumen?

Ist nicht die ganze Ewigkeit meiti?

Auswahl aus den

ßttrfen von Lessing.

Geliebte Schwester!

h habe zwar an Dich geschrieben, allein Du hast nicht geant­

J

wortet. Ich muß also denken, entweder Du kannst nicht schrei­

ben, oder Du willst nicht schreiben.

Und fast wollte ich das erste

Jedoch ich will auch das andre glauben; Du willst

behaupten.

Beides ist strafbar. Ich kann zwar nicht einsehn,

nicht schreiben.

wie dieses beisammen stehen kann: ein vernünftiger Mensch zu sein; vernünftig reden können, und gleichwohl nicht misten, wie man

einen Brief aufsetzen soll. Du schön.

Schreibe wie Du redest,

so schreibst

Jedoch; hätte auch das Gegenteil statt, man könnte

vernünftig reden, dennoch aber nicht vernünftig schreiben, so wäre

es für Dich eine noch größere Schande, daß Du nicht einmal so

viel gelernet.

Du bist zwar Deinem Lehrmeister sehr zeitig aus

der Schule gelaufen, und schon in Deinem zwölften Jahre hieltest Du es vor eine Schande etwas mehres zu lernen; allein wer weiß,

welches die größte Schande ist?

in seinem zwölften Jahre noch

etwas zu lernen, als in seinem achtzehnten oder neunzehnten noch keinen Brief schreiben können. Schreibe ja! und benimm mir diese

falsche Meinung von Dir. an das neue Jahr gedenken. Gutes.

Im Vorbeigehen muß ich doch auch

Fast jeder wünschet zu dieser Zeit

Was werde ich Dir aber wünschen? Ich muß wohl was

Besonders haben.

Ich wünsche Dir, daß Dir Dein ganzer Mam­

mon gestohlen würde.

Vielleicht würde es Dir mehr nützen, als

80

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

wenn jemand zum neuen Jahre Deinen Geldbeutel mit einigen Hundert Stück Dukaten vermehrte.

Lebe wohl! Ich bin Dein Meißen,

treuer Bruder

den 30. Dezember 1743.

G. E. Lessing.

Hochzuehrender Herr Vater,

Daß ich Ihnen sogleich auf den letzten Brief antworte, ge­

schiehet um des Herrn Rektors willen, welcher seinen Brief je eher

je lieber wollte bestellet wissen.

Das Lob, welches S i e mir, wegen

des verfertigten poetischen Sendschreibens an den Herrn Obrist­

lieutenant von Carlowiz, unverdient erteilet, soll mich, ob ich gleich wenig Lust habe diese Materie noch einmal vor die Hand zu neh­

men, anreizen nach Dero Verlangen ein kürzeres, und, wo es mir möglich, ein besseres zu machen.

Zwar, Ihnen es frei zu gestehen, wenn ich die Zeit, die ich damit schon zugebracht und noch zubringen muß, überlege, so muß ich mir selbst den Vorwurf machen, daß ich sie auf eine unnütze

Weise versplittert.

Der beste Trost dabei ist, daß es auf Dero

Befehl geschehen. Sie bedauern mit Recht das arme Meißen, welches jetzo mehr einer Totengrube als der vorigen Stadt ähnlich siehet.

Alles ist

voller Gestank und Unflat, und wer nicht hereinkommen muß, bleibt

gerne so weit von ihr entfernt, als er nur kann.

Es liegen in

denen meisten Häusern immer noch dreißig bis vierzig Verwundete, zu denen sich niemand sehre nahen darf, weil alle, welche nur etwas

gefährlich getroffen sind, das hitzige Fieber haben.

Es ist eine

weise Vorsicht Gottes, daß diese fatalen Umstände die Stadt gleich im Winter getroffen, weil, wenn es Sommer wäre, gewiß in ihr

die völlige Pest schon grassieren würde. Und wer weiß was noch

81

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

geschiehet!

Jedoch

wir wollen zu Gott das Beste hoffen.

Es

sieht aber wohl in der ganzen Stadt, in Betrachtung seiner vorigen

Umstände, kein Ort erbärmlicher aus als unsere Schule.

Sonst lebte

alles in ihr, jetzo scheint sie wie ausgestorben. Sonst war es was

Rares, wenn man nur einen gesunden Soldaten in ihr sahe; jetzo sieht man einen Haufen Verwundete hier, von welchen wir nicht

wenig Ungemach empfinden müssen.

Das Cönakul ist zu einer

Fleischbank gemacht worden, und wir sind gezwungen in dem kleinern Auditorio zu speisen.

Die Schüler, welche verreiset, haben wegen

der Gefahr in Krankheiten zu verfallen ebensowenig Lust zurück­ zukehren, als der Schulverwalter, die drei eingezognen Tische wie­

der herzustellen.

Was mich anbelanget, so ist es mir um so viel

verdrießlicher, hier zu sein, da Sie sogar entschlossen zu sein schei­ nen, mich auch den Sommer über, in welchem es vermutlich zehn-

rnal ärger sein wird, hier zu lassen. Ich glaube wohl, die Ursache,

welche Sie dazu bewogen, könnte leicht gehoben werden.

Doch

ich mag von einer Sache, um die ich schon so oft gebeten, und die

Sie doch kurzum nicht wollen, kein Wort mehr verlieren. Ich ver­

sichere mich unterdessen, daß Sie mein Wohl besser einsehen werden, als ich.

Und bei der Versicherung werde ich, wenn Sie auch bei

der abschläglichen Antwort beharren sollten, doch, wie ich schuldig

bin, noch allezeit Sie als meinen Bater zu ehren und zu lieben fortfahren.

Der Ohrzwang, mit welchem ich seit einiger Zeit bin

befallen gewesen, macht mich so wüste im Kopfe, daß ich nicht ver­

mögend bin mehr zu schreiben; ich schließe also mit nochmaliger Versicherung, daß ich lebenslang sein will Dero Meißen

den 1. Februar 1746.

gehorsamster Sohn

G. E. Lessing.

P. S. Was Monsieur Heydem. bei Herr M. Golzen gesagt, ist gänzlich falsch.

Lessing, Werke. XII.

6

82

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Hochzuehrende Frau Mutter, Ich würde nicht so lange angestanden haben, an Sie zu schrei­

ben, wenn ich Ihnen was Angenehmes zu schreiben gehabt hätte. Klagen aber und Bitten zu lesen, müssen Sie eben schon so satt sein, als ich bin sie vorzutragen.

Glauben Sie auch nur nicht, daß

Sie das Geringste davon in diesen Zeilen finden werden.

Ich

besorge nur, daß ich bei Ihnen in dem Verdachte einer allzuge­

ringen Liebe und Hochachtung, die ich Ihnen schuldig bin, stehe. Ich besorge nur,

daß Sie glauben werden, meine jetzige Auf­

führung komme aus lauter Ungehorsam und Bosheit. sorgnis macht mich unruhig.

Diese Be­

Und wenn sie gegründet sein sollte,

so würde mich es desto ärger schmerzen, je unschuldiger ich mich daß ich nur mit wenig

weiß.

Erlauben Sie mir derohalben,

Zügen

Ihnen meinen ganzen Lebenslauf auf

Universitäten ab­

malen darf; ich bin gewiß versichert, Sie werden alsdann mein jetziges

Verfahren gütiger beurteilen. Ich komme jung von Schulen, in der gewissen Überzeugung, daß mein ganzes Glück in den Büchern

Ich komme nach Leipzig,

an einen Ort, wo man die

ganze Welt im kleinen sehen kann.

Ich lebte die ersten Monate

bestehe.

so eingezogen, als ich in Meißen nicht gelebt hatte. Stets beiden

Büchern, nur mit mir selbst beschäftigt, dachte ich ebenso selten an die übrigen Menschen, als vielleicht an Gott.

Dieses Geständnis

kömmt mir etwas sauer an, und mein einziger Trost dabei ist,

Doch

daß mich nichts Schlimmers als der Fleiß so närrisch machte. es dauerte nicht lange,

so gingen mir die Augen auf:

soll ich

sagen, zu meinem Glücke oder zu meinem Unglücke? Die künftige Zeit wird es en'tscheiden. mich wohl gelehrt,

Ich lernte einsehen, die Bücher würden

aber nimmermehr zu einem Menschen machen.

Ich wagte mich von meiner Stube unter meinesgleichen.

Guter

Gott! was vor eine Ungleichheit wurde ich zwischen mir und an­ dern gewahr.

Eine bäuersche Schüchternheit, ein verwilderter und

ungebauter Körper, eine gänzliche Unwissenheit in Sitten und Um­ gänge, verhaßte Mienen, aus welchen jedermann seine Verachtung

zu lesen glaubte, das waren die guten Eigenschaften, meiner

eignen

Beurteilung

übrig

blieben.

Scham, die ich niemals empfunden hatte.

Ich

die mir bei

empfand

eine

Und die Wirkung der-

83

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

selben war der feste Entschluß, mich hierin zu bessern, es koste was

es wolle.

Sie wissen selbst wie ich es anfing.

fechten, voltigieren.

Ich lernte tanzen,

Ich will in diesem Briefe meine Fehler auf­

richtig bekennen, ich kann auch also das Gute von mir sagen. Ich kam in diesen Übungen so weit, daß mich diejenigen selbst, die

mir im voraus alle Geschicklichkeit darinnen absprechen einigermaßen bewunderten.

wollten,

Dieser gute Anfang ermunterte mich

Mein Körper war ein wenig geschickter geworden, und ich

heftig.

suchte Gesellschaft, um nun auch leben zu lernen.

Ich legte die

ernsthaften Bücher eine Zeitlang auf die Seite, um mich in den­

jenigen umzusehn, die weit angenehmer und vielleicht ebenso nütz­ lich sind.

Die Komödien kamen mir zur erst in die Hand.

Es

mag unglaublich vorkommen, wem es will, mir haben sie sehr große

Dienste

gethan.

eine grobe und

Ich

lernte daraus eine artige und gezwungne,

natürliche Ausführung unterscheiden.

Ich lernte

wahre und falsche Tugenden daraus kennen, und die Laster ebenso sehr wegen ihres Lächerlichen als wegen ihrer Schändlichkeit fliehen.

Habe ich aber alles dieses nur in eine schwache Ausübung gebracht, so hat es gewiß mehr an andern Umständen als an meinem Willen Doch bald hätte ich den vornehmsten Nutzen, den die Lust­

gefehlt.

spiele bei mir gehabt haben, vergessen. kennen,

Ich

lernte mich

selbst

und seit der Zeit habe ich gewiß über niemanden mehr

gelacht und gespottet, als über mich selbst.

Doch ich weiß nicht,

was mich damals vor eine Thorheit überfiel, daß ich auf den Ent­ schluß kam, selbst Komödien zu machen.

Ich wagte es, und

als

sie aufgeführt wurden, wollte man mich versichern, daß ich nicht unglücklich darin wäre.

Man darf mich

nur in

einer Sache

loben, wenn man haben will, daß ich sie mit mehrerm Ernste treiben soll.

Ich sann dahero Tag und Nacht, wie ich in einer Sache

eine Stärke zeigen möchte, in der, wie ich glaubte, sich noch kein

Deutscher allzusehr hervorgethan hatte.

Aber plötzlich ward ich in

meinen Bemühungen, durch Dero Befehl nach Hause zu kommen,

gestöret.

Was daselbst vorgegangen, können Sie selbst noch all-

zuwohl wissen, als daß ich Ihnen durch eine unnütze Wiederholung verdrießlich falle.

Man legte mir sonderlich die Bekanntschaft mit

gewissen Leuten, in die ich zufälligerweise gekommen war, zur Last.

Doch hatte ich es dabei Dero Gütigkeit zu danken, daß

84

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

mir andere Verdrießlichkeiten, an denen einige Schulden Ursache waren, nicht so heftig vorgerückt wurden.

Vierteljahr in Camenz,

Ich blieb ein ganzes

wo ich weder müßig noch fleißig war.

Gleich von Anfänge hätte ich meiner Unentschlüssigkeit, welches

Studium ich wohl erwählen wollte, erwähnen sollen. Man hatte

derselben nun über Jahr und Tag nachgesehn. Und Sie werden sich zu erinnern belieben,

gegen was ich mich auf Ihr

Ich wollte Medicinam studieren.

dringendes Anhalten erklärte.

Wie übel Sie aber damit zufrieden waren, will ich nicht wieder­ Bloß Ihnen zu Gefallen zu leben, erklärte ich mich noch

holen.

über dieses, daß ich mich nicht wenig auf Schulsachen legen wollte, und daß es mir gleich sein würde, ob ich einmal durch dieses oder

jenes fortkäme.

In diesem Vorsatze reiste ich wieder nach Leipzig.

Meine Schulden waren bezahlt, und ich hätte nichts weniger vermutet, als wieder darein

zu verfallen.

Doch meine weit-

läuftige Bekanntschaft, und die Lebensart, die meine Bekannte

an mir gewohnt waren, ließen mich an eben dieser Klippe noch­ mals

scheitern.

Ich sahe allzudeutlich,

wenn

ich

in Leipzig

bleibe, so werde ich nimmermehr mit dem, was mir bestimmt ist,

auskommen können. Der Verdruß, den ich hatte, Ihnen neue Un­ gelegenheit

zu

verursachen,

Leipzig wegzugehen. Zuflucht.

brachte mich auf den Entschluß von

Ich erwählte Berlin gleich anfangs zu meiner

Es nmßte sich wunderlich schicken, daß mich gleich zu

der Zeit Herr Lessing aus Wittenberg besuchte.

Ich reifete mit

ihm nach kurzer Zeit dahin ab, einige Tage mich daselbst aufzu­ halten und umzusehn, und alsdann noch zur Sonnenfinsternis in

Berlin zu sein. Aber ich ward krank. Ich bin mir niemals selbst zu einer unerträglichern Last gewesen als damals.

Doch ich hielt

es einigermaßen vor eine göttliche Schickung; wenn es nicht was Unanständiges ist, daß inan auch in solchen kleinen und geringen Sachen sich auf sie berufen will.

Nach meiner Genesung beschloß

ich mit des Herrn Vaters Einwilligung in Wittenberg den Winter

über zu verbleiben, und hoffte gewiß, dasjenige mieber zu ersparen, ums ich in Leipzig zugesetzt hatte. Doch ich wurde bald gewahr, daß

das, was in meiner Krankheit und durch andre Umstände, die

ich aber jetzo verschweigen will, aufgegangen war, mehr als

ein Quartal Stipendia ausmachte.

Der alte Vorsatz wachte also

85

Auswahl aus den Briefen von Lessing. bei mir wieder auf, nach Berlin m gehen.

Ich kam, und bin noch

da, in was vor Umständen, wissen Sie selbst am besten. Ich hätte längst unterkommen können, wenn ich mir, was die Klei­

dung anbelangt, ein bessers Ansehn hätte machen können. Es ist dieses in einer Stadt gar tu nötig, wo man meistens den

Augen in Beurteilung eines Menschen trauet. einem Jahre

Nun beinahe vor

hatten Sie mir eine neue Kleidung zu versprechen,

die Gütigkeit gehabt.

Sie mögen daraus schließen, ob meine letztre

Bitte allzu unbesonnen gewesen ist.

Sie schlagen mir es ab, unter

dem Vorwande, als ob ich, ich weiß nicht wem zu Gefallen

Ich will nicht zweifeln, daß meine Sti-

hier in Berlin wäre.

pendia wenigstens noch bis Ostern dauern sollten.

Ich glaube also,

daß meine Schulden genugsam damit können bezahlt werden.

ich sehe wohl,

daß die nachteilig

Aber

gefaßte Meinung von einem

Menschen, der, wenn er mir auch sonst nie Gefälligkeiten erzeigt

hätte, mir sie doch gewiß jetzo erzeigt, da sie mir just am nötig­

sten sind, daß, sage ich, diese nachteilig gefaßte Meinung die vor­ nehmste Ursache ist, warum Sie mir in meinen Unternehmungen so sehr zuwider sind.

Es scheint ja, als wenn Sie ihn vor einen

Abscheu aller Welt hielten.

Geht dieser Haß nicht zu weit? Mein

Trost ist, daß ich in Berlin eine Menge rechtschaffner

und vor­

nehmer Leute finde, die ebenso viel aus ihm machen als ich. Sie sollen sehn, daß ich nicht an ihn gebunden bin.

Doch

Sobald als

ich eine nochmalige Antwort von Ihnen erhalte, worin Sie mir eben das sagen, was ich aus dem letzten Briefe habe schließen müssen, will ich mich ungesäumt von Berlin weg begeben. Hause komme ich nicht.

Nach

Auf Universitäten gehe ich jetzo auch nicht

wieder, weil außerdem die Schulden mit meinen Stipendiis nicht

können bezahlt werden, und ich Ihnen diesen Aufwand nicht zumute« kann. Hannover.

Ich gehe ganz gewiß nach Wien, Hamburg oder

Doch können Sie versichert sein, daß ich, ich mag sein

wo ich will, allezeit schreiben und niemals die Wohlthaten ver­ gessen werbe, die ich von Ihnen so lange genossen. Ich finde an allen drei Örtern sehr gute Bekannte und Freunde von mir.

Wenn ich auf meiner Wanderschaft nichts lerne, so lerne ich mich

doch in die Welt schicken.

Nutzen genug! Ich werde doch wohl

noch an einen Ort kommen, wo sie so einen Flickstein brauchen.

86

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Darf ich noch was bitten, so ist es dieses, daß Sie

wie mich.

gewiß glauben mögen, daß ich meine Eltern allezeit so sehr wie mich

Ich werde an den Herrn Inspektor und Herrn Pastor

geliebt habe.

Lindnern gewiß schreiben, sobald als es nicht mehr scheinen wird, daß meine Briefe nichts als eine Aufmunterung zu neuen Wohl­

thaten sind.

Durch meine Entfernung von Berlin glaube ich Ihnen

kein geringes Merkmal meines Gehorsams zu geben, der ich auch zeitlebens verharren werde Dero Berlin,

gehorsamster Sohn

den 20. Jenner 1749.

Lessing.

Hochzuehrender Herr Vater,

Ich bin einige Tage in Frankfurt gewesen, und das ist die

Ursache, warum ich Dero Briefe, mit Einschluß von 9 Rthlr., etwas später erhalten habe, und jetzo erst imstande bin darauf zu

antworten. Sie verlangen durchaus, daß ich nach Hause kommen soll. Sie fürchten, ich möchte in der Absicht nach Wien gehen, daselbst

ein Komödienschreiber zu werden. ich

müsse

hier Herr

Sie wollen vor gewiß wissen,

zur

Mylius

Hunger und Kummer ausstehen.

Frone arbeiten,

und dabei

Sie schreiben mir sogar ganz

unverhohlen, es wären lauter Lügen, was ich Ihnen von unter-

schiednen

Gelegenheiten, hier

unterzukommen, geschrieben hätte.

Ich bitte Sie inständigst, setzen Sie sich einen Augenblick an meine

Stelle, und überlegen, wie einem solche ungegründete Vorwürfe

schmerzen müssen, deren Falschheit, wenn Sie mich nur ein wenig

kennen, Ihnen durchaus in die Augen fallen muß.

Doch muß ich

mich am meisten wundern, wie Sie den alten Vorwurf von den

Komödien wieder haben aufwärmen können.

Daß ich zeitlebens

keine mehr machen oder lesen wollte, habe ich Ihnen niemals ver­

sprochen, und Sie haben sich gegen midj viel zu vernünftig alle­

zeit erzeigt, daß Sie es je im Ernste verlangt hätten.

Wie können

Sie schreiben, daß ich in Wittenberg nichts als Komödien gekauft

87

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

hätte? da doch unter den daselbst befindlichen Büchern nicht mehr als aufs höchste zwei sich befinden können.

Der größte Teil der­

selben besteht aus statistischen Schriften, die Ihnen ganz natür­

licherweise hätten können schließen lassen, daß ich künftig gesonnen wäre, ebenso viel in der Welt, und in dem Umgänge der Menschen

zu studieren, als in Büchern. Meine Korrespondenz mit Komödianten

ist ganz anders, als Sie sich einbilden.

Nach Wien habe ich an

den Baron Seiller geschrieben, welches der Direktor von allen Theatern im Östreichschen ist, ein Mann dessen Bekanntschaft mir

keine Schande ist, und mir noch Zeit genug nützen kann.

Ich

habe nach Danzig und Hannover an gleiche, oder wenigstens sehr geschickte Leute geschrieben, und ich glaube, es kann mir kein Bor­

wurf sein, wenn man mich auch an mehreren Orten als in Camenz

kennt.

Werfen Sie mir nicht dagegen ein, es kennten mich nur

Komödianten.

Wenn mich die kennen, so müssen mich notwendig

auch alle kennen, die meine Arbeit von ihnen haben aufführen Ich könnte Ihnen aber auch Briefe,

sehn.

zum Exempel aus

Kopenhagen, weisen, die nicht von Komödianten geschrieben sind,

zum Zeugnisse, daß mein Briefwechsel nicht bloß die Schauspiele zum Grunde habe. Und ich mache mir ein Vergnügen daraus, ihn

alle Tage zu erweitern. Ich werde ehstens nach Paris, an den Herrn Crebillon schreiben, so bald als ich mit der Übersetzung seines Catilina zustande bin.

Sie sagen, daß Ihnen meine Ma­

nuskripte zeigten, daß ich viel angefangen, aber wenig fortgesetzt

hätte?

Ist das

so

ein groß Wunder?

bentis et otia quaerunt.

Musae

secessum scri-

Aber nondum Deus nobis haec otia

fecit. Und wenn ich gleichwohl alles nennen wollte, was hier und

da von mir zerstreuet ist (ich will meine Schauspiele

nicht dazu

rechnen, weil sich doch die meisten einbilden, das wären Sachen,

die ebenso wenig Mühe erforderten, als sie Ehre brächten), so

würde es bei alledem doch noch was austragen.

Ich werde mich

aber wohl hüten, Ihnen das geringste davon zu nennen, weil es Ihnen

möchte.

vielleicht noch

weniger als

meine

Schauspiele

anstehen

Ich wollte nur, daß ich beständig Komödien geschrieben

hätte, ich wollte jetzo in ganz andern Umständen sein.

Die von

mir nach Wien und Hannover gekommen sind, habe ich sehr wohl

88

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Doch haben Sie die Gütigkeit sich noch wenige

bezahlt erhalten.

Monate zu gedulden, so sollen Sie sehen, daß ich in Berlin nicht

müßig bin, oder nur vor andre arbeite.

Glauben Sie denn nicht,

daß ich alles weiß, von wem Sie solche Nachrichten bekommen haben?

daß ich

weiß, an wen, und wie oft Sie meinetwegen

nach Berlin an Personen geschrieben haben, die notwendig durch

Ihre Briefe einen sehr Übeln Koncept haben von mir bekommen

müssen ?

Doch ich will glauben, daß Sie es zu meinem Besten

gethan haben, und Ihnen den Schaden und Verdruß nicht schuld geben, der mir daraus entstanden ist.

Was die Stelle in dem

Seminario philologico in Göttingen anbelangt, so bitte ich Ihnen

inständigst sich alle ersinnliche Mühe deswegen zu geben.

Ich ver­

spreche es Ihnen, bei Gott, daß ich, sobald es gewiß ist, alsobald

nach Hause kommen, oder gleich von hier aus dahin gehn will. Wissen Sie aber gar nichts Gewisses vor mich, so ist es ja besser, daß ich hier bleibe, an einem Orte, wo ich mein Glück machen

kann, gesetzt, ich müßte auch warten.

Was soll ich zu Hause?

Ich habe also das Geld, das Sie mir zu schicken die Gütigkeit gehabt haben, nebst dem, was ich zum Teil vor meine Arbeit er­ halten habe, zu einer neuen Kleidung angewandt; und ich befinde

mich in dem Zustande, mich wieder bei allen sehn zu lassen, und diejenigen, deren Dienste ich suche, selbst anzugehn.

Dieses war

nötiger, als daß ich Ihnen mit meiner unnützen Gegenwart zu

Hause

beschweren

sollte.

Wäsche, und meine

Es fehlt mir jetzo nichts als

Bücher.

Ich

meine

habe Ihnen den Katalogen

schon davon überschrieben, und erwarte sie mit größtem Verlangen.

Sie können leicht erachten, wie schwerlich es sei, sich mit geborgten

Büchern zu behelfen. Gefälligkeit.

Ich bitte Ihnen also noch um diese einzige

Ich kann nicht zweifeln, daß Sie das Friesische Sti­

pendium nicht noch erhalten sollten, und die Fracht kann so viel

nicht austragen.

so viel als keine.

Eine gute Kleidung ohne genügsame Wäsche ist Ich bitte Sie, mir nur noch Zeit bis Johannis

zu lassen; ist es alsdann noch nichts mit meinem Unterkommen

geworden, so will ich alles thun, was Sie verlangen.

Erlauben

Sie mir, daß ich Ihnen die Rede eines Vaters bei dem Plauto mitteile, welcher gleichfalls mit seinem Sohne nicht durchaus zu­

frieden war.

89

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Non optuma haec sunt neque ego ut aequum censeo. Verum meliora sunt, quam quae deterrima. Sed hoc unum consolatur me atque animum meum Quia, qui nihil aliud, nisi quod sibi soll placet Consulit adversum filium, nugas agit: Miser ex animo fit: secius nihilo facit. Suae senectuti is acriorem hiemem parat etc. Die Gedanken sind so vernünftig, daß die Ihrigen notwendig damit

übereinstimmen müssen. Was hat die Frau Mutter Ursache sich so über mich zu betrüben?

Es muß ihr ja gleich viel sein, ob ich

hier oder da mein Glück finde, wenn sie mir es wirklich gönnet,

wie ich es gewiß

glaube.

Und wie

haben Sie sich

vorstellen

können, daß ich, wenn ich auch nach Wien gegangen wäre, daselbst Daraus kann ich schließen,

meine Religion würde verändert haben?

wie sehr Sie wider mich eingenommen sein müssen.

hoffe ich, soll mir Gelegenheit geben, sowohl

Doch Gott,

meine Liebe

gegen

meine Religion, als gegen meine Eltern deutlich genug an Tag zu legen.

Ich verbleibe

Dero Berlin, den 10. April 1749.

gehorsamster Sohn L.

Hochzuehrender Herr Vater, Ich erhalte jetzo den Augenblick Dero Schreiben vom 25. April,

welches ich um so viel lieber alsobald beantworte, je angenehmer mir es gewesen ist. meinem

letztern

Sie können gewiß versichert sein, daß ich in

Briefe

nichts Ungegründetes

geschrieben

Alles was ich darinnen versprochen, will ich genau erfüllen.

habe. Und

ich werde mit ebenso großem Vergnügen nach Göttingen reisen,

als ich nimmermehr nach Berlin gereiset bin.

Die Briefe an den

Geheimen Rat von Münckhausen, und an den Herrn Professor Geßner sollen unfehlbar über acht Tage in Eamenz sein.

Meinen Koffer

erwarte mit großen: Verlangen, und ich bitte nochmals inständig,

90

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

alle die Bücher hineinzulegen, die ich in einem meiner Briefe be­

nennt

habe.

Ich bitte mir auch das vornehmste

von meinen

Manuskripten mit aus, auch die einigen Bogen Wein und Liebe. Es sind freie Nachahmungen des Anakreons, wovon ich schon einige in Meißen gemacht habe.

Ich glaube nicht, daß mir sie

der strengste Sittenrichter zur Last legen kann. Vita verecunda est, Musa jocosa mihi.

So entschuldigte

sich Martial im gleichen Falle.

Und man muß

mich wenig kennen, wenn man glaubt, daß meine Empfindungen im geringsten damit harmonieren.

Sie verdienen auch nichts weniger

als den Titel, den Sie ihnen, als ein allzustrenger Theologe, geben. Sonst würden die Oden und Lieder des größten Dichters unsrer

Zeiten, des Henn von Hagedorns, noch eine viel ärgre Benenung wert sein.

In der That ist nichts als meine Neigung, mich in

allen Arten der Poesie zu versuchen, die Ursache ihres Daseins.

Wenn man nicht versucht, welche Sphäre uns eigentlich zukömmt,

so wagt man sich oftermals in eine falsche, wo man sich kaum über das Mittelmäßige erheben kann, da man sich in einer andern

hätte

schwingen

vielleicht

bis zu einer wundernswürdigen Höhe

können.

Sie werden aber auch vielleicht gefunden haben, daß ich

mitten in dieser Arbeit abgebrochen habe, und es müde geworden

bin, mich in solchen Kleinigkeiten zu üben.

Wenn man mir mit Recht den Titel eines deutschen Moliöre

beilegen könnte, so könnte ich gewiß eines ewigen Namens ver­ sichert sein.

Die Wahrheit zu gestehen, so habe ich zwar sehr

große Lust ihn zu verdienen, aber sein Umfang und meine Ohn­

macht sind zwei Stücke, die auch die größte Lust ersticken können. Seneca giebt den Rat: Omnem operam impende ut te aliqua

dote notabilem facias.

Aber es ist sehr schwer, sich in einer

Wissenschaft notabel zu machen, worin schon allzuviele excelliert haben.

Habe ich denn also sehr übel gethan, daß ich zu meinen

Jugendarbeiten

etwas

gewählt habe,

worin

meiner Landsleute ihre Kräfte versucht haben?

noch

sehr

wenige

Und wäre es nicht

thöricht, eher aufzuhören, als bis man Meisterstücke von mir ge­

lesen hat.

Den Beweis, warum ein Komödienschreiber kein guter

Christ sein könne, kann ich nicht ergründen.

Ein Komödienschreiber

91

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

ist ein Mensch, der die Laster auf ihrer lächerlichen Seite schildert. Darf denn ein Christ über die Laster nicht lachen? Laster so viel Hochachtung?

Verdienen die

Und wenn ich Ihnen nun gar ver­

spräche, eine Komödie zu machen, die nicht nur die Herrn Theologen

lesen, sondern auch loben sollen? Halten Sie mein Versprechen vor

unmöglich?

Wie wenn ich eine auf die Freigeister und auf die

Verächter Ihres Standes machte?

Ich weiß gewiß, Sie würden

vieles von Ihrer Schärfe fahren lassen. Schließlich muß ich Ihnen melden, daß ich seit acht Tagen das

Fieber und zwar das Quotidianfieber habe. Es ist aber doch noch so gnädig gewesen, daß ich mich nicht habe dürfen niederlegen,

und ich hoffe

es auch in kurzem

mit Gottes Hilfe los zu sein.

Machen Sie sich keine fernern Gedanken.

Ich verbleibe nebst er­

gebenstem Empfehl an die Frau Mutter

Dero gehorsamster Sohn

Berlin

den 28. April 1749.

Lessing.

Hochzuehrender Herr Vater, Ich habe den Koffer mit den specificierten, darinnen enthal­

Ich danke Ihnen vor diese große

tenen Sachen richtig erhalten.

Probe ihrer Gütigkeit, und ich würde in meinem Danke weitläu­

figer sein, wenn ich nicht, leider, aus allen Ihren Briefen gar zu

deutlich schließen müßte, daß Sie eine Zeitlang her gewohnt sind, das Allerniedrigste, Schimpflichste und Gottloseste von mir zu ge­

denken, sich zu überreden, und überreden zu lassen.

Notwendig

muß Ihnen also auch der Dank eines Menschen, von dem Sie so vorteilhafte Meinungen hegen, nicht anders als verdächtig sein.

Was soll ich aber dabei thun? schuldigen?

Soll

ich

Soll ich mich weitläuftig ent­

meine Verleumder beschimpfen,

Rache ihre Blöße aufdecken?

und zur

Soll ich mein Gewissen--------- soll

ich Gott zum Zeugen anrufen?

Ich müßte weniger Moral in

92

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

meinen Handlungen anzuwenden gewohnt sein, als ich es in der That bin, wenn ich mich so weit vergehen wollte.

Aber die Zeit

soll Richter sein. Die Zeit soll es lehren, ob ich Ehrfurcht gegen meine Eltern, Überzeugung in meiner Religion, und Sitten in

meinem Lebenswandel habe.

Die Zeit soll lehren, ob der ein

bessrer Christ ist, der die Grundsätze der christlichen Lehre im Ge­

dächtnisse, und oft ohne sie zu verstehen, im Munde hat, in die

Kirche geht, und alle

Gebräuche mitmacht, weil sie

gewöhnlich

sind; oder der, der einmal klüglich gezweiflet hat, und durch den Weg der Untersuchung zur Überzeugung gelangt ist, oder sich we­

nigstens noch dazu zu gelangen bestrebet. Die christliche Religion ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treue und Glaube

soll.

annehmen

Die meisten erben sie zwar von ihnen, ebenso

wie ihr Vermögen, aber sie zeigen durch ihre Aufführung auch, was vor rechtschaffne Christen sie sind.

So lange ich nicht sehe,

daß man eins der vornehmsten Gebote des Christentums, seinen Feind zu lieben, nicht besser beobachtet, so lange zweifle ich,

ob diejenigen Christen sind, die sich davor ausgeben. Monsieur Müller hätte etwas wahrhafter sein können in seinen

Nachrichten.

Hier haben Sie die ganze Geschichte Ihres Briefes

an den ältern Herrn Rüdiger, so wie ich sie nur vor wenig Wochen

erfahren habe.

Dieser Mann ist viel zu alt, als daß er sich mit

Briefschreiben noch abgeben könnte, er hat also seine ganze Korre­

spondenz seinem Schwiegersohn, dem Herrn Buchhändler Voß auf­ getragen.

fallen.

Diesem ist der Brief also notwendig in die Hände ge­

Dieser hat ihn erbrochen.

Mylius erbrochen haben?

Warum soll ihn denn Herr

Damit man vielleicht in Camenz das

Recht haben möchte, noch nachteiliger von ihm, mit einigem Scheine des Grundes, zu reden? Herrliche Ursache! Herr Mylius war mit Voßen sehr speciell bekannt; denn er ist sein Verleger. Weil sich also

im benannten Briefe auch vieles auf ihn bezogen hat, so hat er ihn demselben gewiesen.

Er wäre fähig genug gewesen, ihm bei

ohnedem

ein

höchst argwöhnischer

Mann ist, den größten Verdacht zuzuziehen.

Wem haben Sie es

dem

alten Rüdiger, welches

also zuzuschreiben, daß sie ihn unterdrückt haben?

Niemanden als

Sich selbst, da Sie eine Person mit ins Spiel gemischt, die doch mit meinen Angelegenheiten gar nichts zu thun hat.

Auf das

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

93

aber, was mich betroffen hat, hat Voß, ich weiß nicht, ob selbst, oder durch seinen Diener, oder durch jemanden anders, antworten lassen. Werde ich denn niemals des Vorwurfs los werden können, den Sie mir wegen Mylius machend Sed facile ex tuis querelis querelas matris agnosco, quae licet alias pia et Integra in hunc nimio flagrat odio. Nostra amicitia nihil unquam aliud fuit, adhuc est et in omne tempus erit quam communicatio studiorum. lllane culpari potest ? Rarus, imo nullus mihi cum ipso sermo intercedit, de parentibus meis, de officiis quae ipsis vel praestanda vel deneganda sint, de cultu Dei, de pietate, de fortuna hac vel illa via amplificanda, ut liabeas quem in illo seductorem et ad minus justa instigatorem meum timeas. Cave, ne de muliebri odio nimium participes. Sed virum te sapientem scio, jus tum aequumque: et satis mihi constat te illud, quod scripsisti, amori in uxorem amore tuo dignissimam dedisse. Veniam dabis me haec paucula latino sermone literis mandasse, sunt enim quae matrem ad suspicionem nimis proclivem offendere possint. Deum tarnen obtestor me illam maxumi facere, arnare et omni pietate colere. Ich versichre Ihnen nochmals, daß alles, was ich von der letztern Kondition geschrieben habe, alles seine Richtigkeit hat. Ich habe Ihnen schon in dem letzten Briefe ersucht, mir mit 10 oder 15 Thalern beizustehen, mich vollends in den gehörigen Stand dazu zu setzen, und ich ersuche Dieselben nochmals darum. Doch was Sie thun wollen, thuen Sie mit ehestem, sonst muß ich meine Zu­ flucht zu dem Herrn von Röder selbst nehmen, mir ein oder zwei Quartale vorzuschießen. Ich will mich nicht gern länger als noch acht Tage hier in Berlin verweilen. Ich verbleibe nebst er­ gebenstem Empfehl an die Frau Mutter, der ich über acht Tage antworten will, Dero Berlin gehorsamster Sohn den 30. Mai 1749. Lessing.

94

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Hochzuehrender Herr Vater,

Die Anwort auf Dero zwei letzten Briefe würde ich bis jetzo nicht schuldig geblieben sein, wenn ich so oft hätte schreiben können, als ich gerne gewollt habe.

Schon wieder entschuldige ich mich

mit dem Mangel der Zeit.

Und wer mich diese Entschuldigung

so vielmal brauchen hört, als Sie, der sollte beinahe auf die Ge­ danken kommen, daß ich wenigstens mehr als ein Amt, hier in Berlin, müsse zu versorgen haben.

So falsch dieses, Gott sei

Dank, ist, so wahr ist es doch, daß meine Entschuldigung so gar

ungegründet nicht ist, als Sie wohl glauben mögen. Der Baron von

der Goltz ist zwar vor vierzehn Tagen wieder aus seine Güter ge­

gangen, daß ich also einigermaßen freier gewesen bin; ich habe aber nach seiner Abreise das ganze vierte Stück der theatralischen Bei­ träge besorgen müssen, was eigentlich schon diese Messe hätte sollen fertig werden, und diese Arbeit hat knich bis an vergangenen

Sonnabend nicht über eine Stunde Herr sein lassen. Sie thuen mir unrecht, wenn Sie glauben, daß ich meine Meinung wegen Göttingen schon wieder geändert hätte.

sichre Ihnen nochmals, daß ich wenn es möglich wäre.

Ich ver-

morgen dahin abreisen wollte,

Nicht weil es mir jetzo eben schlecht in

Berlin gänge, sondern weil ich es Ihnen versprochen habe.

Denn

in der That, ich habe große Hoffnung, daß sich mein Glück bald hier ändern wird.

Bis hieher habe ich zwar vergebens darauf ge­

hofft, allein ich muß gestehen, daß vielleicht auch einige Fehler auf

meiner Seite dabei mit untergelaufen sind. man klug.

mir nicht wenig bringen.

Mit Schaden wird

Die Bekanntschaft des Herrn Baron von der Goltz hat

genutzt,

mich hier auf

einen sichrern Weg zu

Denn, außer daß ich etliche 30 Thaler dabei gewonnen

habe, so hat er mir bei unterschiednen von seinen Freunden Zu­ tritt verschafft, welche mir wenigstens ein Haufen Versprechungen

machen.

Auch diese sind nicht zu verwerfen, wenn sie nur nicht

immer Versprechungen bleiben.

Ich mache keine Rechnung drauf,

und habe meine Sachen so eingerichtet, daß ich auch ohne sie diesen Winter

gemächlich in Berlin leben kann.

Gemächlich

mir, was ein andrer vielleicht zur Not nennen würde.

heißt bei

Allein,

was thut mir das, ob ich in der Fülle lebe oder nicht, wenn ich

Auswahl aus den Briefen von Lessing. nur lebe.

95

Ich will unterdessen, da ich es noch in Berlin mit an­

sehe, meine Zeit so anzuwenden suchen, daß ich sie nicht für ver­

loren schätzen darf, wenn meine Hoffnung auch fehl schlägt; und

will mich vor allen Dingen bemühen das fertig zu machen, wo­ durch ich mich in Göttingen zu zeigen gedenke.

Nur noch vorige

Woche habe ich ein sehr beträchtliches Anerbieten des Herrn Baron von Dobreslaw ausgeschlagen, weil es mich an allen meinen übri­ gen Vorsätzen hindern würde.

Diesem Herrn ist von dem vorigen

Könige die Bibliothek des in Frankfurt sowohl wegen seiner Ge­

lehrsamkeit als wegen seiner Narrheit bekannten Professor Ebertus,

die er an den König von Spanien wollte vermacht haben, geschenkt worden. Unter den Manuscriptis dieser Bibliothek befindet sich eine lateinische Übersetzung der Bibliotheque orientale des Herbelot. Diese Übersetzung nun will der Besitzer jetzo drucken lassen, weil

sich das Original sehr rar gemacht hat und oft für 30 Thaler be­

zahlt wird.

Weil sie aber sehr unleserlich geschrieben, und auch

oft der Verstand des Französischen darin sehr falsch ausgedrücket ist, so hat der Baron von Dobreslaw seit einigen Wochen sehr in mich

gedrungen, diese Arbeit zu übernehmen, und das ganze Werk aufs neue umzuschmelzen.

Er versprach mir so lange als ich daran

arbeitete, freie Wohnung und Holz, und 200 Thaler.

Allein da

es eine Arbeit ist, die mich wenigstens drei Vierteljahre so be­ schäftigen würde,

daß ich gar nichts außer derselben verrichten

könnte, und also verschiedne angefangne Sachen müßte liegen lassen,

so habe ich es bedächtlich ausgeschlagen. Die Fortsetzung des Ihnen bekannten Journals und die Übersetzung der römischen Historie des Rollins besetzen meine Zeit so schon mehr als mir

lieb ist.

Da ich übrigens zu Ostern einen Band von meinen thea­

tralischen Werken, welcher in den Jenaischen gelehrten Zeitungen schon längst ist versprochen worden, zu liefern gedenke, desgleichen auch eine Übersetzung aus dem Spanischen der Novellas Exem­

plares des Cervantes, so werde ich gar nicht über lange Weile zu klagen haben.

Kann ich unterdessen auch mit einem Verleger wegen

des englischen Werks, wovon ich Ihnen schon zu unterschiednenmalen geschrieben habe, zu stände kommen, so werde ich es auch gerne sehen, denn auf meiner Seite habe ich gar nichts mehr daran zu thun.

Auf das Spanische habe ich eine Zeit her sehr viel

96

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Fleiß verwendet, und ich glaube meine Mühe nicht umsonst ange­

wendet zu haben.

Da es eine Sprache ist, die eben in Deutsch­

land so sehr nicht bekannt ist, so glaube ich, daß sie mir mit der Zeit nützliche Dienste leisten soll. Herr Mylius

zwar Auktionskommissar

ist

geworden,

doch

wer ihm die 1500 Thaler Besoldung angedichtet hat, der hat ihm

Wenn es so viel einbrächte, so wäre ich es

groß unrecht gethan.

selbst geworden, da mir es der jüngere Herr Rüdiger, welcher diese

Stelle wieder niederlegte, so zuerst ganz ernstlich antrug, weil er es nicht eher niederlegen konnte, als bis er einen andern an seinen Platz geschafft hatte. Auch

Wenn es viel ist, so trägt es 400 Thaler ein.

dieses ist genug

für ihn.

Doch

dieses

schreibe

ich allein

Ihnen, weil er vielleicht seine Ursachen mag gehabt haben, seinem

Bruder in Elstra solchen Wind vorzumachen.

nicht, der andern Leuten seine Projekte

Ich bin der Mensch

gerne zu schänden macht.

Der jüngre Mylius ist mit dem ältern Rüdiger zerfallen, und schreibt also die Zeitungen nicht mehr.

Ich bin mehr als einmal darum an­

gegangen worden, sie an seiner Statt zu schreiben, wenn ich mit solchen politischen Kleinigkeiten meine Zeit zu verderben Lust ge­

habt hätte. Ich habe ein besondres Vergnügen,

in Meißen so wohl zufrieden sind.

daß Sie mit Theophilo

Wenn ich Theophilus wäre,

so hätten Sie es mit mir auch sein sollen.

Da er so fleißig stu­

diert, so möchte ich gar zu gerne wissen, was er, und wie er stu­ diert.

Ich habe es in Meißen schon geglaubt, daß man vieles da­

selbst lernen muß, was man in der Welt gar nicht brauchen kann, und jetzo sehe ich es noch viel deutlicher ein.

Herr Wehsen wollte ich von Grund meiner Seelen noch eine Rull an seine Besoldung wünschen. sehr wunderbar zu sein.

Sein Amt aber scheint mir

Wenn die, die zu unserer Religion treten

wollen, erst müssen informiert werden, so haben sie offenbar andre Ursachen, als die Überzeugung der Wahrheit. Denn wenn diese

die Ursache der Veränderung ist, so brauchen sie die Information

nicht. ich.

Doch dieses muß das Oberkonsistorium besser verstehen als Wenn Sie Herr Wehsen sprechen sollten, so werden Sie so

gütig sein, ihn meiner fortdauernden Freundschaft, zu versichern. Ich sende Ihnen hierbei das dritte Stück der theatralischen

97

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Beiträge, worin Sie des Herrn Gregorius in Ehren gedacht finden. Die Recension ist von mir, und es dauert mich nur, daß ich sie

Hätte ich mich durch solch Zeug

nicht noch ärger gemacht habe.

bekannt machen wollen, als er thut, so wollte ich schon ganze

Folianten geschrieben haben.

Sollte er sich über die Ungerechtig­

keit meines Urteils beschweren, so will ich ihm das Recht geben, mit meinen Sachen auf gleiche Art zu verfahren.

Die Simonet-

tischen und politisch berlinschen Zeitungen kann ich Ihnen schicken, ohne daß sie mich etwas kosten.

Es ist also nur die Frage, ob

Sie das Postgeld daran wenden wollen. Wenn Betzold nach Berlin bald kömmt, so will ich Ihnen dieses Jahr von den gelehrten

Zeitungen bis jetzo komplett überschicken.

Ich würde es heute bei­

legen, wenn das Paket nicht zu groß werden möchte. Wer Ihnen geschrieben hat, daß es mir sehr schlecht ginge, ich

weil

bei Herrn Rüdiger nicht mehr den Tisch

und andre

Einnahme hätte, der hat Ihnen eine große Lügen geschrieben.

Ich

habe mit diesem alten Manne nie länger etwas wollen zu thun

haben, als bis ich mir seine große Bibliothek recht bekannt gemacht hätte.

Dieses ist geschehen, und wir waren also geschiedne Leute.

Der Tisch bekümmert mich in Berlin am allerwenigsten.

Ich kann

für 1 Gr. 6 Pf. eine starke Mahlzeit thun. De la Mettrie, von dem ich Ihnen einigemal geschrieben habe,

ist hier Leibmedikus des Königs. hat viel Aufsehen gemacht.

Seine Schrift l’homme machine

Edelmann ist ein Heiliger gegen ihn.

Ich habe eine Schrift von ihm gelesen, welche Antlseneque ou le souverain bien heißet, und die nicht mehr als zwölfmal ist gedruckt

worden.

Sie mögen aber von der Abscheulichkeit derselben daraus

urteilen, daß der König selbst zehn Exemplare davon ins Feuer geworfen hat.

Es ist Zeit, daß ich meinen Brief schließe, wenn er noch auf der Post soll angenommen werden. Über acht Tage werde ich ganz

gewiß ein mehreres schreiben, desgleichen an die Frau Mutter und an Theophilus.

Ich bin Dero

Berlin,

gehorsamster Sohn

den 2. November 1750.

L.

Lessing, Werke. XII.

7

98

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Hochzuehrender Herr Vater,

Die Antwort auf Dero letztes Schreiben, woran ich, durch die

vielen Umstände, welche man mir wegen der mitgeschickten Wäsche auf dem hiesigen Packhofe machte, vergangen verhindert wurde, würde ich bis jetzo nicht aufgeschoben haben, wenn ich nicht auf

Betzolden gewartet hätte, welcher mir damals sagte, daß er läng­ stens in vierzehn Tagen wieder in Berlin sein werde.

Ich habe

alles richtig erhalten und bin Ihnen und der Frau Mutter dieser

gütigen Vorsorge wegen höchstens verbunden. Die gelehrten Zeitungen, welche ich nebst andern gedruckten Sachen Betzolden mitgegeben habe, werden Sie ohne Zweifel be­ kommen haben. heraus sind.

Hier folgen die übrigen Stücke, so viel als davon

Ich würde Ihnen, ohne die geringsten Unkosten auf

feiten meiner, auch die hiesigen politischen Zeitungen mitschicken

können, wenn ich glaubte, daß Ihnen damit gedient wäre.

Sie

sind, wegen der scharfen Censur, größtenteils so unfruchtbar und

trocken, daß ein Neugieriger wenig Vergnügen darin finden kann. Es ist wahr, in Berlin sind Gelehrte die Menge, und unter

diesen erhalten allezeit die Franzosen den Vorzug.

Allein, ich

glaube, daß auch Göttingen daran keinen Mangel hat, und daß ein

Mensch, wie ich bin, auch da aus einem großen Haufen hervorzu­ dringen hat, wenn er will bekannt werden.

Ich glaube also, daß

es von mir eben nicht allzuklug gehandelt sein würde, wenn ich einen großen Ort mit einem andern vertauschte, wo ich als ein Unbekannter eine Menge Hindernisse von neuem übersteigen müßte, die ich hier zum Teil schon überstiegen habe.

Das wenige, was

ich in Göttingen zu hoffen hätte, kann in keine Betrachtung kommen, weil ich hier in Berlin, das Jahr über, wenigstens auf noch einmal

so viel gewisse Rechnung machen kann.

Meinen Sie aber, daß ich

diesen Verdienst auch in Göttingen beibehalten könnte, so irren Sie

unmaßgeblich.

Er hängt von verschiednen Personen ab, von welchen

ich hernach allzuweit entfernt sein würde, als daß ihnen an meiner Arbeit viel gelegen sein sollte.

Ehe ich in Göttingen dergleichen

Personen wieder auftriebe, würden alle die Verdrießlichkeiten mich nochmals überfallen, die mich hier oft bis zur Verzweiflung ge­

bracht haben.

Und sind denn die 50 Thaler und der freie Tisch

Auswahl aus den Briefen von Lessing.



schon ganz gewiß? Ich bin schon allzuoft angeführt worden, als

daß ich mich auf bloße Versprechungen verlassen sollte.

Sie haben

recht, Gottes Vorsorge muß bei meinem Glücke das beste thun;

allein diese kann hier ebensoviel als anderwärts für mich thun.

Ich habe überzeugende Beweise davon, für die ich dem Himmel insbesondre danken würde, wenn ich glaubte, daß man ihm nur

für das Gute danken müßte. Das Lob, welches Theophilus in Meißen hat, hat mich aus­ nehmend erfreut.

Ich wünsche, daß er den Beifall, den er in der

Schule hat, auch in der Welt haben möge.

Dem guten.Herrn

Konrektor hat es gefallen, seinen Groll gegen mich auch noch in

diesem Briefe ein wenig zu verraten.

Er kann aber nichtsdesto­

weniger versichert sein, daß ich alle Hochachtung gegen ihn habe,

ob es mich gleich gar nicht reuet, daß ich ihm nicht in allem ge­ folgt bin.

Ich weiß wohl, daß es seine geringste Sorge ist, aus

seinen Untergebnen vernünftige Leute zu machen, wenn er nur wackre Fürstenschüler aus ihnen machen kann, das ist, Leute, die ihren Lehrern blindlings glauben, ununtersucht ob sie nicht Pedanten

sind.

Wenn Gottlob nach Meißen kommen wird, so will ich eben

nicht wünschen, daß er in Theophili Fußstapfen treten möge, denn

vielleicht sind ihre Gemütsarten zu verschieden,

als daß dieses

möglich sein könnte; ich will bloß wünschen, daß er seinem inner­ lichen Berufe, (vorausgesetzt, daß er daraus geht, etwas Rechtschaffnes zu lernen) vernünftig folgen möge, und daß er so leben möge,

wie er sich, wenn er aus der Erfahrung lernen wird, was nötige und unnötige Studia sind, gelebt zu haben wünschen möchte.

Ich

kann Theophilo noch nicht antworten, so gerne, als ich es thäte, und so empfindlich ich auch gegen seine aufrichtige Liebe bin.

Den

Brief des Herrn Konrektors will ich nächstens zurücksenden, weil er

sich unter meinen Papieren versteckt hat, und ich ihn schon eine halbe Stunde vergebens gesucht habe.

Wenn Herr M. Gregorius glaubt, daß die Welt seinen Herrn Sohn verlästre, so thut er der Welt unrecht. Herr Konrektor mit

So lange der neue

einer unglaublichen Unwissenheit gleichwohl

einen so ausschweifenden Stolz verbinden wird, so lange verlästert

er sich selbst.

Der Artikel, den ich nur heute abermals in den

Hamburgischen Nachrichten von ihm gelesen habe, muß ihn bei allen

100

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Vernünftigen lächerlich machen.

Ich möchte doch wissen, was er

auf die Schuljungenschnitzer antworten könnte, die ich ihm in dem

dritten Stücke der theatralischen Beiträge gezeigt habe? Der Magi­ strat in Lauban ist derjenige eben nicht, dessen Wahl ich

zum

Währmanne meiner Verdienste haben wollte. Wider den Herrn Biedermann ist hier mehr als eine Kritik

zum Vorscheine kommen; sowohl in beiden Zeitungen hat man ihn

herumgenommen, als auch in besonders gedruckten Blättern.

Man

hat ihm zu viel gethan, und man hätte nicht vergessen sollen, daß er ein Mann sei, der sonst Verdienste hat.

Der Verfasser der

einen Recension, welche sich in den Haudeischen Zeitungen von

seinem Programmale befindet, ist ein Advokat Krause, von der Ich gebe Ihnen diese

andern ist es der Herr Konzertmeister Bach.

Nachricht unter der Hand, weil ich mir diese Leute nicht zu Feinden

machen will, die ich sonst sehr wohl kenne. Ich bin Zeitlebens

Dero Berlin, den 8. Februar 1751.

gehorsamster Sohn

G. E. Lessing.

Än Johann Adolf Schlegel. Hochwohlehrwürdiger, Hochgelahrter rc. insonders hochzuehrender Herr Diakonus,

Da ich die Ehre habe, Ew. Hochwohlehrwürden zufälligerweise auf einem Wege zu begegnen, so erfordern es die Regeln der Höf­

lichkeit, Ihnen mein Kompliment zu machen.

Sie werden mich sogleich verstehen. Schon seit anderthalb Jahren bin ich mit einer Übersetzung beschäftiget, mit welcher auch Sie jetzt beschäftiget sind; und schon seit einigen Monaten habe

ich dasjenige der Presse übergeben, was Sie ihr vielleicht erst in einigen Monaten überlassen werden.

Ich meine die Fabellehre des

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

101

Herrn Bannier. Werden Sie über diese Nachricht wohl so erstaunen,

wie ich über die Ihrige, die Sie beut Publico kürzlich mitgeteilt haben, erstaunt bin? Schwerlich.

Weg; mir ein Riese:

Ihnen kömmt ein Zwerg in den

Ihnen ein Mensch, der sich der Welt erst

zeigen will; mir ein Schriftsteller, der sich ihr schon zum öfteren mit Ruhm gezeigt hat: Ihnen ein bloßer Übersetzer, mir ein Über­ setzer mit Anmerkungen.

Was vermuten Sie wohl also von mir? Nicht wahr, Friedens­ vorschläge? Eine barmherzige Vorstellung, daß Sie meine Arbeit

mit der Ihrigen unterdrücken werden; eine daraus fließende Bitte,

Ihre Unternehmung fahren zu lassen; und vielleicht einen ver­ führerischen Vorschlag, das rückständige Werk des Bannier, seine Erklärungen der Verwandlungen des Ovids, zu über­

nehmen.

Und in der That, dieses würden die Waffen sein, die

ich gegen Ew. Hochwohlehrwürden gebrauchen könnte,

wenn ich

nicht besorgen müßte, daß Sie Ihren graden Weg fortgehen werden,

ohne zu thun, als ob Sie mich gemerkt hätten.

Damit ich aber meine Aufrichtigkeit zeige, so will ich Ihnen die Waffen melden, die mein Verleger, der Herr Voß hier in Berlin, gegen den Ihrigen, den Herrn Dyck in Leipzig, brauchen

wird.

Erstlich ist dieses ein großer Vorteil für ihn, daß er die

ersten zwei Teile schon künftige Ostern liefert, und beinahe seine

Ausgabe endiget, wenn die andere erst zum Vorscheine kömmt. Zweitens wird er die Käufer durch einen Preis verführen, welcher kaum die Hälfte des Preises ist, den Herr Dyck festgesetzt hat.

Drittens wird er ihm Privilegia Privilegien, und Freiheiten Frei­ heiten entgegensetzen können.

Ich sehe es im voraus, was dieses alles vor Wirkungen haben wird; und ich werde untröstlich sein, wenn eine wohlfeile schlechtere Übersetzung den Abgang einer teureren und bessern hindern wird.

Ja, wenn wir hurtig und geschwind noch vorher alle Käufer klug machen könnten. Ich würde sogleich meine Arbeit ins Feuer werfen,

um mich der Gefahr einer Parallele nicht auszusetzen, wenn die

Unkosten, die man schon auf den Druck verwendet hat, mich nicht nötigten, auszuhalten. Doch die Unkosten sind es nicht allein; der Verleger hat mit dieser Übersetzung ein Projekt verbunden, welches

ziemlich weitaussehend ist, und wovon er öffentlich nähere Nachricht

102

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

geben wird.

Einige hiesige und auswärtige Gelehrte nämlich iich

bin nicht darunter, muß ich Ihnen sagen) haben ihn dahin gebracht,

etwas zu unternehmen, wozu er sich ganz gewiß auch die Hilfe Ew. Hochwohlehrwürden ausbitten wird. Tollte er sich wohl also einen so gräßlichen Strich durch seine Rechnung machen lassen? Mein Zureden wird wenig helfen.

das Ihrige gegen den Herrn Dyck vielleicht desto mehr.

Allein

Nielleicht

kommen durch Dero Bermittlung diese beiden Merkure zusammen,

auf eine Art, welche weder Ew. Hochwohlehrwürden noch einem von beiden nachteilig ist.

Von mir will ich nicht reden; ich kann

nicht viel dabei verlieren, als die gefährliche Gelegenheit, mich ge­

druckt zu sehen. Glauben Sie, daß mein Brief eine Antwort verdienet, so

werde ich sie mit Vergnügen erwarten.

Ich bin mit der größten

Hochachtung

6iv. Hochwohlehrwürden ?c. Berlin den 23. Januar 1753.

gehorsamster Diener M. Gotthold Ephraim Lessing.

In Johann David Michaelis. Berlin, den 10. Februar 1754.

Ich habe nicht ohne angenehme Verwunderung vor einiger

Zeit meine Schriften in den Göttingischen Anzeigen auf eine Art bekannt gemacht gefunden, die viel zu vorteilhaft war, als daß

ich mir jemals hätte Hoffnung darauf machen können,

Nichts glich

damals meiner Begierde, dem Urheber dieses verbindlichen Urteils

meine Ergebenheit zu bezeigen; und nur aus Ungewißheit, an wen

ich mich deswegen wenden müsse, ist sie bis jetzt unwirksam ge­ blieben.

Endlich kömmt ein Freund meiner Mutmaßung zu Hilfe,

und versichert mich, daß ich mich nicht irren würde, wenn ich Ew. Hoch­ edelgeboren meinen Dank dafür abstatten wollte. Wenn es also wahr

ist, daß ich in Ihnen einen Gelehrten, den ich längst hochgeschätzt

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

103

habe, nunmehr auch lieben muß, so empfangen Sie hiermit von mir die

aufrichtigste Beteurung,

daß ich

künftig nichts eifriger

suchen werde, als mich Dero fernern Beifalls würdig zu machen. Ich bin dabei kühn genug, mit Dero Beifall allein nicht zufrieden zu sein, sondern mir noch über dieses einen Teil Ihrer Freund­

schaft zu erbitten, die ich mich mit der größten Sorgfalt zu erwidern bestreben werde. Wenn mir in gedachter Recension irgend etwas Vergnügen gemacht hat, so ist es vorzüglich Dero Beistimmung zu meinem Urteile über die elende Langische Übersetzung der Oden des Horaz.

Sie richtete mich gleich zu der Zeit wieder auf, da mich die pöbel­ hafte Antwort meines Gegners beinahe zu empfindlich gekränkt

hatte, als daß ich eines öffentlichen Trostes nicht benötigt gewesen wäre.

Vielleicht, daß Ew. rc. sein Schreiben an den Hamburgi­

schen Korrespondenten schon gesehen haben; meine Antwort aber

wird Ihnen schwerlich zu Gesichte gekommen sein.

Ich nehme mir

also die Freiheit, sie beizulegen, in Hoffnung, daß Sie derselben einige Augenblicke gönnen werden, um meine Verteidigung wegen

einer niederträchtigen Verschwärzung meines moralischen Charakters darin zu lesen.

Ich weiß nicht, wie sich der Herr Pastor gegen

mein Vademecum bezeigen wird; so viel aber habe ich vor einigen

Tagen gesehen, daß sich die Jenaischen gelehrten Zeitungen seiner angenommen haben, und ohne zu thun, als ob sie meine Ver­

teidigung kennten, die doch schon mehr als eine Woche vorher in ihren Buchläden gewesen ist, sich wundern, daß man andern Orts (worunter sie offenbar Göttingen verstehen) meinen Tadel für ge­

gründet habe halten können.

Es ist mir sehr gleichgültig gewesen,

daß sich der Jenenser der Schulschnitzer des Herrn Langens teil­

haft gemacht hat; nur das fyxt mich empfindlich verdrossen, daß er

unverschämt genug gewesen ist, eine nichtswürdige Verleumdung nachzuplaudern.

Ich hoffe, daß billige Richter mich nicht unver­

hörter Sache verdammen werden.

Mein Brief ist für den ersten, den ich an Ew. Hochedelgeboren zu schreiben die Ehre habe, schon viel zu lang.

Ich habe übrigens

das Vergnügen, einen Beischluß an Dieselben von dem Herrn von

Prömontval zu besorgen. Dieser liebenswürdige Philosoph würdiget

mich hier seiner Freundschaft, und es muß Ihnen notwendig an-

104

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

genehm sein, auch ihn unter diejenigen zählen zu können, die sich Dieselben durch die freundschaftlichsten Beurteilungen unendlich ver­

bunden gemacht haben.

Ich bin mit großer Hochachtung rc.

M. G. E. Lessing.

In Johann Navi- Michaelis. Berlin, den 16. Oktober 1754.

Sie haben fortgefahren, mich Ihnen unendlich zu verbinden. — — Wenn ich Ihnen eben nicht bei jeder Gelegenheit meine

Ergebenheit dafür bezeigt habe, so ist es mehr aus Hochachtung für Ihre Beschäftigungen, als aus Nachlässigkeit geschehen.

Es ist

zwar nicht fein, wenn man die Danksagungen zusammenkommen läßt; allein es ist doch besser, als daß man durch die allzusorg­

fältige Abstattung derselben überlästig wird. Wenn ich von der uneingeschränkten Billigkeit Ewr. rc. nicht vollkommen überzeugt wäre, so würde ich mich scheuen, Ihnen das erste Stück meiner Theatralischen Bibliothek zu übersenden.

Ich bin darin so frei gewesen, etwas auf diejenigen Erinnerungen zu erwidern, die Sie über meine Juden zu machen die Gütigkeit

gehabt haben.

Ich hoffe, daß die Art, mit welcher ich es gethan,

Ihnen nicht zuwider

sein wird.

Nur des eingerückten Briefes

wegen bin ich einigermaßen in Sorgen.

Wenn einige anstößige

Ausdrücke darin vorkommen sollten, die ich nicht billige, die ich

aber kein Recht gehabt habe zu ändern, so bitte ich Ew. rc., be­

ständig auf den Verfasser zurückzusehen.

Er ist wirklich ein Jude;

ein Mensch von etlichen und zwanzig Jahren, welcher, ohne alle

Anweisung, in Sprachen, in der Mathematik, in der Weltweisheit, in der Poesie, eine große Stärke erlangt hat.

Ich sehe ihn im

voraus als eine Ehre seiner Nation an, wenn ihn anders seine

eigne Glaubensgenossen zur Reife kommen lassen, die allezeit ein

unglücklicher Verfolgungsgeist wider Leute seinesgleichen getrieben hat.

Seine Redlichkeit und sein philosophischer Geist läßt mich ihn

im voraus als einen zweiten Spinoza betrachten, dem zur völligen Gleichheit mit dem erstem nichts, als seine Irrtümer fehlen werden.

105

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Ew. rc. bezeigten in Dero Briefe eine für mich sehr schmeichel­ hafte Begierde, nähere Umstände von mir zu wissen, genauer zu kennen.

und mich

Allein, kann man von einem Menschen ohne

Bedienung, ohne Freunde, ohne Glück viel Wichtigers sagen, als seinen Namen ? Noch kann ich mich durch wenig anders, als durch

diesen unterscheiden.

Ich bin ein Oberlausitzer von Geburt; mein

Vater ist oberster Prediger in Camenz.--------- Welche Lobsprüche würde ich ihm nicht beilegen, wenn er nicht mein Vater wäre! —

— Er ist einer von den ersten Übersetzern des Tillotsons.

Ich

habe in der Fürstenschule zu Meißen, und hernach zu Leipzig und

Wittenberg studiert.

Man setzt mich aber in eine große Verlegen­

heit, wenn man mich fragt, was?

An dem letzten Orte bin ich

bin also

etwas mehr als ein bloßer

Magister geworden.

Ich

Student, wie mich der Herr Pastor Lange nennt, und etwas we­ niger als ein Prediger, für welchen mich der Herr Professor Walch

gehalten hat.

Ich befinde mich seit 1748 in Berlin, und habe

mich während dieser Zeit nur ein halbes Jahr an einem andern Orte aufgehalten. Ich suche hier keine Beförderung; und ich lebe bloß hier, weil ich an keinem andern großen Orte leben kann.---------

Wenn ich noch mein Alter hinzusetze, welches sich auf fünfund­

zwanzig Jahr beläuft — so ist mein Lebenslauf fertig. noch kommen soll, habe ich der Vorsicht überlassen.

Was

Ich glaube

schwerlich, daß ein Mensch gegen das Zukünftige gleichgültiger sein kann, als ich.

Ich habe des Herrn Professor Walchs gedacht; und darf ich wohl Ew. rc. ersuchen,

ihm meinen Empfehl zu

machen?

Nur

meine Furchtsamkeit ist Ursache, daß ich ihm nicht selbst schreibe, und ihn versichere, wie sehr die Art, mit welcher er einen nichtigen Zweifel von mir ausgenommen hat, alle meine Hoffnung von seiner

Leutseligkeit und edeln Denkungsart übertroffen habe.

Seine Ant­

wort thut mir völlig Genüge, und das, was Sie bei Anführung

derselben hinzugethan haben, ist ein Superpondium, das schon an sich den Ausschlag geben könnte.

Ich bin mit der größten Hoch­

achtung rc. Lessing.

106

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

An Friedrich Nicolai. Im November 1756.

Liebster Freund!

Ihren Brief vom 3. November bekam ich vorgestern abends, und den vom 31. August habe ich erst vor einigen Stunden erhalten; denn der Weg von Berlin nach Leipzig über Wittenberg ist näher, als

der über Amsterdam.

Jetzt antworte ich auf beide, und weil ich

in Kleinigkeiten ein großer Liebhaber der Ordnung bin, so beant­ worte ich den ältesten zuerst.

Was steht in diesem?

Erstlich Hunzen Sie mich aus, eine ganze Seite lang! Ich

aber brauche nur ein paar Worte, mich zu verantworten.

Das

Geheimnis Ihrer Autorschaft habe ich nicht ausgeschwatzt, sondern es ist mir abgestohlen

worden.

Ich war nicht allein, als ich

Ihren Brief mit der Ankündigung erbrach.

Wer schreibt Ihnen

das? fragte man mich. Herr Nicolai — das durfte ich doch sagen?

Was gedruckt ist, darf man doch ansehen? fuhr der Neugierige fort. Ja. — Ei! und also wird Herr Nicolai mit an dem Journale ar­

beiten? -------- Warum nicht gar! er kommuniciert mir bloß die An­

kündigung. — Warum denn aber zwei Exemplare, wenn er keinen Teil daran hat? — Diun war ich drum!

Und wenn Verräterei

mit untergelaufen ist, wahrhaftig, so habe ich nicht das Geheimnis,

sondern das Geheimnis hat mich verraten.

Auf den polemischen Teil Ihres Briefes folgt der didaktische. Ich danke Ihnen aufrichtig für den kurzen Auszug aus Ihrer

Abhandlung über das Trauerspiel. Er ist mir auf mancherlei Weise sehr angenehm gewesen, und unter andern auch deswegen, weil er mir Gelegenheit giebt zu widersprechen. Überlegen Sie

ja alles wohl, was ich darauf sagen werde; denn es könnte leicht

sein, daß ich nicht alles wohl überlegt hätte — Ich will umwenden, um das freie Feld vor mir zu haben! Vorläufiges Kompliment! Da die Absicht, warum ich gelvisse

Wahrheiten abhandele, die Art, wie ich sie abhandeln soll, bestimmen muß, und da jene es nicht allezeit erfordert, auf die allerersten Begriffe zurück zu gehen; so würde ich gar nichts wider Ihren

Aufsatz zu erinnern haben, wenn ich Sie nicht für einen Kopf hielte, der mehr als eine Absicht dabei hätte verbinden können.

107

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Es kann sein, daß wir dem Grundsätze: Das Trauerspiel

manches elende aber gutgemeinte Stück schuldig

soll bessern,

sind; es kann sein, sage ich, denn diese Ihre Anmerkung klingt ein wenig zu sinnreich, als daß ich sie gleich für wahr halten sollte. Aber das erkenne ich für wahr, daß kein Grundsatz, wenn man

sich ihn recht geläufig gemacht hat, bessere Trauerspiele kann her­ vorbringen helfen, als der: Die Tragödie soll Leidenschaften erregen. Nehmen Sie einen Augenblick an, daß der erste Grundsatz

ebenso wahr als der andere sei, so kann man doch noch hinläng­ liche Ursachen

angeben, warum

jener bei der Ausübung mehr

schlimme, und dieser mehr gute Folgen haben müsse.

Jener hat

nicht deswegen schlimme Folge, weil er ein falscher Grundsatz

ist, sondern deswegen, weil er entfernter ist, als dieser, weil er bloß den Endzweck angiebt, und dieser die Mittel.

Wenn ich die

Mittel habe, so habe ich den Endzweck, aber nicht umgekehrt.

Sie

müssen also stärkere Gründe haben, warum Sie hier vom Aristoteles

abgehen, und ich wünschte, daß Sie mir einiges Licht davon ge­

geben hätten; denn dieser Verabsäumung schreiben Sie es nun­ mehr zu, daß Sie hier meine Gedanken lesen müssen, wie ich glaube,

daß man die Lehre des alten Philosophen verstehen solle, und wie

ich mir vorstelle, daß das Trauerspiel durch Erzeugung der Leiden­ schaften bessern kann.

Das meiste wird darauf ankommen: was das Trauerspiel für Leidenschaften erregt.

In seinen Personen kann es alle mög­

liche Leidenschaften wirken lassen, die sich zu der Würde des Stoffes schicken.

Aber iverben auch zugleich alle diese Leidenschaften in dem

Zuschauer rege?

Wird er freudig?

wird er verliebt? wird er

zornig? wird er rachsüchtig? Ich frage nicht, ob ihn der Poet so

weit bringt, daß er diese Leidenschaften in der spielenden Person billiget, sondern ob er ihn so weit bringt, daß er diese Leiden­

schaften selbst fühlt, und nicht bloß fühlt, ein andrer fühle sie?

Kurz, ich finde keine einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel

in dem Zuschauer rege macht, als das Mitleiden.

Sie werden

sagen: erweckt es nicht auch Schrecken? erweckt es nicht auch Be­ wunderung? Schrecken und Bewunderung sind keine Leidenschaften, nach meinem Berstande.

Was denn? Wenn Sie es in Ihrer Ab-

108

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

schilderung getroffen haben, was Schrecken ist, eris mihi magnus

Apollo, und wenn Sie es getroffen haben, was Bewunderung ist,

Phyllida solus habeto.

Setzen Sie sich hier auf Ihre Richterstühle, meine Herren Nicolai und Moses.

Ich will es sagen, was ich mir unter beiden

vorstelle. Das Schrecken in der Tragödie ist weiter nichts als die plötzliche Überraschung des Mitleides, ich mag den Gegenstand meines Mitleids kennen oder nicht.

Zum Exempel: Endlich bricht der

Priester damit heraus: Du Ldip bist der Mörder des Lajus!

Ich erschrecke, denn auf einmal sehe ich den rechtschaffnen Ldip un­ glücklich ; mein Mitleid wird auf einmal rege.

Ein ander Exempel:

Es erscheinet ein Geist; ich erschrecke: der Gedanke, daß er nicht erscheinen würde, wenn er nicht zu des einen oder zu des andern

Unglück erschiene, die dunkle Vorstellung dieses Unglücks, ob ich den gleich noch nicht kenne, den es treffen soll, überraschen mein

Mitleid, und dieses überraschte Mitleid heißt Schrecken.

Belehren

Sie mich eines Bessern, wenn ich unrecht habe.

Nun zur Bewunderung! Die Bewunderung! O in der Tra­ gödie, um mich ein wenig orakelmäßig auszudrücken, ist sie das

entbehrlich gewordene Mitleiden.

Der Held ist unglücklich,

aber er ist über sein Unglück so weit erhaben, er ist selbst so stolz

darauf, daß es auch in meinen Gedanken die schreckliche Seite zu

verlieren anfängt, daß ich ihn mehr beneiden, als bedauern möchte. Die Staffeln sind also diese: Schrecken, Mitleid, Bewunde­

rung.

Die Leiter aber heißt: Mitleid; und Schrecken und Be­

wunderung sind nichts als die ersten Sprossen, der Anfang und das

Ende des Mitleids.

Zum Exempel: Ich höre auf einmal, nun ist

Cato so gut als des Cäsars Mörder. Schrecken! Ich werde hernach mit der verehrungswürdigen Person des erstem, und auch nachher mit seinem Unglücke bekannt. Mitleid.

Das Schrecken zerteilet sich in

Nun aber hör' ich ihn sagen: „Die Welt, die Cäsarn

dient, ist meiner nicht mehr wert." dem Mitleiden Schranken.

Die Bewunderung setzt

Das Schrecken braucht der Dichter

zur Ankündigung des Mitleids, und Bewunderung gleichsam zum

Ruhepunkte desselben.

Der Weg zum Mitleid wird dem Zuhörer

zu lang, wenn ihn nicht gleich der erste Schreck aufmerksam macht,

109

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

und das Mitleiden nützt sich ab, wenn es sich nicht in der Be­ wunderung erholen kann.

Wenn es also wahr ist, daß die ganze

Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung und Dauer

des einzigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu

fühlen, erweitern.

Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen

oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns

so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeilen, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. Und nun berufe ich mich auf einen Satz, den Ihnen Herr Moses vorläufig demonstrieren mag, wenn Sie, Ihrem eignen Gefühl

zum Trotz, daran zweifeln wollen.

Der mitleidigste Mensch

ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu

allen Arten der Großmut der aufgelegteste.

Wer uns also mit­

leidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauer­

spiel, das jenes thut, thut auch dieses, oder — es thut jenes, um

dieses thun zu können.

Bitten Sie es dem Aristoteles ab, oder

widerlegen Sie mich.

Auf gleiche Weise verfahre ich mit der Komödie.

Sie soll

uns zur Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen

wahrzunehmen.

leicht

Wer diese Fertigkeit besitzt, wird in seinem Be­

tragen alle Arten des Lächerlichen zu vermeiden suchen, und eben dadurch der wohlgezogenste und gesittetste Mensch werden.

Und

so ist auch die Nützlichkeit der Komödie gerettet. Beider Nutzen, des Trauerspiels sowohl als des Lustspiels,

ist von dem Vergnügen unzertrennlich; denn die ganze Hälfte des Mitleids und des Lachens ist Vergnügen, und es ist großer Vor­ teil für den dramatischen Dichter, daß er weder nützlich, noch an­ genehm, eines ohne das andere sein kann.

Ich bin jetzt von diesen meinen Grillen so eingenommen, daß

ich, wenn ich eine dramatische Dichtkunst schreiben sollte, weitläuftige Abhandlungen vom Mitleid und Lachen voranschicken würde. Ich würde beides sogar miteinander vergleichen, ich würde zeigen,, daß das Weinen ebenso aus einer Vermischung der Traurigkeit

und Freude, als das Lachen aus einer Vermischung der Lust und Unlust entstehe; ich würde weisen, wie man das Lachen in Weinen

verwandeln kann, wo man auf der einen Seite Lust zur Freude,

110

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

und auf der andern Unlust zur Traurigkeit in beständiger Ver­ mischung anwachsen läßt; — ich würde — Sie glauben nicht,

was ich alles würde.

Ich will Ihnen nur noch einige Proben geben, wie leicht und glücklich aus meinem Grundsätze nicht nur die vornehmste bekannte Regeln, sondern auch eine Menge neuer Regeln fließe, an deren

Statt man sich mit dem bloßen Gefühle zu begnügen pflegt. Das Trauerspiel soll so viel Mitleid erwecken, als es nur immer kann; folglich müssen alle Personen, die man unglücklich werden läßt, gute Eigenschaften haben, folglich muß die beste Person

auch

die unglücklichste sein, und Verdienst und Unglück in be­

ständigem Verhältnisse bleiben.

Das ist, der Dichter muß keinen

von allem Guten entblößten Bösewicht aufführen.

Der Held oder

die beste Person muß nicht, gleich einem Gotte, seine Tugenden ruhig und ungekränkt übersehen.

Ein Fehler des Kanuts, zu dessen

Bemerkung Sie aus einem andern Wege gelanget sind.

Merken

Sie aber wohl, daß ich hier nicht von dem Ausgange rede, denn das stelle ich in des Dichters Gutbefinden, ob er lieber die Tugend

durch einen glücklichen Ausgang krönen, oder durch einen unglück­

lichen uns noch interessanter machen will.

Ich verlange nur, daß

die Personen, die mich am meisten für sich einnehmen, während der Dauer des Stücks die unglücklichsten sein sollen.

Zu dieser

Dauer aber gehöret nicht der Ausgang.

Das Schrecken, habe ich gesagt, ist das überraschte Mitleiden;

ich will hier noch ein Wort hinzusetzen: das überraschte und un­ entwickelte Mitleiden; folglich wozu die Überraschung, wenn es

nicht entwickelt wird? Ein Trauerspiel voller Schrecken, ohne Mit­ leid, ist ein Wetterleuchten ohne Donner.

So viel Blitze, so viel

Schläge, wenn uns der Blitz nicht so gleichgültig werden soll, daß

wir ihm mit einem kindischen Vergnügen entgegen gaffen.

Die

Bewunderung, habe ich mich ausgedrückt, ist das entbehrlich ge­

wordene Mitleid.

Da aber das Mitleid das Hauptwerk ist, so

muß es folglich so selten als

möglich

entbehrlich

werden;

der

Dichter muß seinen Held nicht zu sehr, nicht zu anhaltend der bloßen Bewunderung aussetzen, und Cato als ein Stoiker ist mir

ein schlechter tragischer Held. Der bewunderte Held ist der Vor­ wurf der Epopöe; der bedauerte des Trauerspiels. Können Sie

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

111

sich einer einzigen Stelle erinnern, wo der Held des Homers, des Virgils, des Tasso, des Klopstocks, Mitleiden erweckt? oder eines einzigen alten Trauerspiels, wo der Held mehr bewundert als be­

dauert wird?

Hieraus können Sie nun auch schließen, was ich

von Ihrer Einteilung der Trauerspiele halte.

Erlaubnis ganz weg.

Sie fällt mit Ihrer

Ich habe nicht Lust noch einen dritten Bogen

anzulegen, sonst wollte ich mich noch über einige andere Punkte erklären.

Ich verspare es bis auf einen nächsten Brief, welcher

zugleich die Beantwortung Ihres zweiten enthalten soll. Jetzt melde ich Ihnen nur noch, daß ich Ihr zweites Aver­

tissement besorgt habe; verlange, daß Sie mir Ihre aufrichtige Meinung über dieses Geschwätz je eher je lieber entdecken sollen,

und empfehle mich Ihrer fernern Freundschaft.

Leben Sie wohl!

Ich bin 2C. N. S.

Wenn Sie über meine Zweifel freundlich antworten

wollen, so schicken Sie mir diesen Brief wieder mit zurück; denn es könnte leicht kommen, daß ich über acht Tage nicht

mehr wüßte, was ich heute geschrieben habe.

An Moses Mendelssohn. Den 13. November 1756.

Liebster Freund! Ich habe heute an unsern Herrn Nicolai einen sehr langen und langweiligen Brief geschrieben, und ich vermute, daß Sie

einen desto kürzern bekommen werden.

Je kurzer je angenehmer!

Zu lesen oder zu schreiben? werden Sie fragen.

Dieser kurze Brief kann aber keine Antwort auf Ihre Ant­ wort meines letztern sein, den Ihnen Herr Joseph mitgebracht hat,

nam epistolae nullae sunt responsiones. Sondern er ist eine Ant­

wort auf Ihren Brief, den ich Ihnen von Amsterdam aus beant­

wortet hätte, wenn der König von Preußen nicht ein so großer Kriegsheld wäre.

Es ist mir recht sehr angenehm, daß mein Freund, der Meta­

physiker, sich in einen Belesprit ausdehnt, wenn sein Freund, der

112

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Belesprit, sich nur ein wenig in einen Metaphysiker konzentrieren

könnte oder wollte.

Was ist zu thun? Der Belesprit tröstet sich

unterdessen mit dem Einfalle — denn mit was kann

sich

ein

Belesprit anders trösten, als mit Einfällen? — daß, wenn Freunde

alles unter sich gemein haben sollen, Ihr Wissen auch das meinige

ist, und Sie kein Metaphysiker sein können, ohne daß ich nicht auch einer sei.

Zum Erempel: Ich bitte Sie, das, was ich an Herrn Nicolai ge­ schrieben habe, zu überdenken, zu prüfen, zu verbessern. Erfüllen Sie

nun meine Bitte, so ist es eben das, als ob ich es selbst nochmals

überdacht, geprüft und verbessert hätte. Ihre bessern Gedanken sind So bald Sie also,

weiter nichts als meine zweiten Gedanken.

unter andern, meinen Begriff vom Weinen falsch finden werden, so bald werde ich ihn auch verwerfen, und ihn für weiter nichts

halten, als für eine gewaltsame Ausdehnung meines Begriffs vom Lachen.

Jetzo halte ich ihn noch für wahr; denn ich denke so: alle

Betrübnis, welche von Thränen begleitet wird, ist eine Betrübnis über ein verlornes Gut; kein anderer Schmerz, keine andre unan­ genehme Empfindung wird von Thränen begleitet.

Nun findet sich

bei dem verlornen Gute nicht allein die Idee des Verlusts, sondern

auch die Idee des Guts, und beide, diese angenehme mit jener

unangenehmen, sind unzertrennlich verknüpft.

Wie, wenn diese

Verknüpfung überall statthätte, wo das Weinen vorkömmt?

den Thränen des Mitleids ist es offenbar.

Bei

Bei den Thränen der

Freude trifft es auch ein: denn man weint nur da vor Freude, wenn man vorhero elend gewesen, und sich nun auf einmal be­

glückt sieht; niemals aber, wenn man vorher nicht elend gewesen. Die einzigen

sogenannten Bußthränen machen mir zu

schaffen,

aber ich sorge sehr, die Erinnerung der Annehmlichkeit der Sünde,

die man jetzt erst für strafbar zu erkennen anfängt, hat ihren guten Teil daran; es müßte denn sein, daß die Bußthränen nichts anders

als eine Art von Freudenthränen wären, da man sein Elend, den Weg des Lasters gewandelt zu sein, und seine Glückseligkeit, den Weg der Tugend wieder anzutreten, zugleich empfände. Ich bitte Sie nur noch, auf die bewundernswürdige Harmonie

acht zu haben, die ich nach meiner Erklärung des Weinens, hier zwischen den respondierenden Veränderungen des Körpers und der

113

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Seele zu sehen glaube.

Man kann lachen, daß die Thränen in

die Augen treten; das körperliche Weinen ist also gleichsam der

höchste Grad des körperlichen Lachens.

Und was braucht es bei

dem Lachen in der Seele mehr, wenn es zum Weinen werden soll, als daß die Lust und Unlust, aus deren Vermischung das Lachen entsteht, beide zum höchsten Grade anwachsen, und ebenso

vermischt bleiben.

Zum Exempel: Ter Kops eines Kindes in einer­

großen Staatsperücke ist ein lächerlicher Gegenstand; und der große Staatsmann, der kindisch geworden ist, ein beweinenswürdiger.

Ich sehe, daß mein Brief doch lang geworden ist. Sie mir es ja nicht übel.

Nehmen

Leben Sie wohl, liebster Moses, und

fahren Sie fort mich zu lieben,

^»ch bin

ganz der Ihrige Lessing.

An Moses Mendelssohn. Leipzig, den 28. November 1756.

Liebster Freund!

Ich muß Ihnen auf Ihren letzten Brief den Augenblick ant­ worten; denn was bei mir nicht den Augenblick geschieht, das ge­ schieht entweder gar nicht, oder sehr schlecht.

weniger als Langeweile habe,

Da ich aber nichts

und den größten Teil des Tages

mit unsern Gästen zubringen muß — (denn das wissen Sie doch, daß nunmehr auch Leipzig nicht länger von preußischer Einquar­ tierung verschont ist?) so werde ich von der Faust weg schreiben,

und meine Gedanken unter der Feder reif werden lassen. Es kömmt mir sehr gelegen, ums Sie von der Bewunderung sagen; und in meinem Briefe an unsern Freund habe ich diesen

Affekt nicht sowohl überhaupt erklären, als anzeigen wollen, was für Wirkung er in dem Trauerspiele hervorbringe; eine Wirkung, die Sie selbst nicht ganz in Abrede sind.

Wir geraten in Bewunderung, sagen Sie, wenn wir an einem Menschen gute Eigenschaften gewahr werden, die unsre Meinung, die wir von ihm oder von der ganzen menschlichen Natur gehabt

haben, übertreffen.

In dieser Erklärung finde ich zweierlei Dinge,

Les fing, Werke. XII.

tz

114

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

die zweierlei Namen verdienen, und in unserer Sprache auch wirk­

lich haben.

Wenn ich an einem gute Eigenschaften gewahr werde,

die meine Meinung von ihm übertreffen; so heißt das nicht, ich

bewundere ihn, sondern ich verwundere mich über ihn.

Be­

wundern Sie den sterbenden Gusman? Ich nicht, ich verwundere mich bloß, daß aus einem christlichen Barbaren so geschwind ein

Mensch geworden ist, ja ich verwundere mich so sehr, daß ich mich nicht enthalten kann, den Dichter ein wenig zu tadeln.

Die Ver­

änderung ist zu jäh, und nach dem Charakter des Gusman durch

nichts wahrscheinlich

zu

Wirkung der Religion.

machen,

als durch

eine

übernatürliche

Voltaire muß es selbst gemerkt haben:

Sieh hier den Unterschied der Götter, die wir ehren. Die deinen konnten dich nur Wut und Rache lehren. Bis diesen Augenblick habe ich den Gusman gehaßt: ich freue mich fast, daß ihn der Wilde erstochen hat; er erstach ein Ungeheuer,

das eine Welt verwüstete; wo sollte das Mitleiden Herkommen? Nunmehr aber höre ich, er vergiebt; er thut die erste und letzte gute That, die ich nicht von ihm erwartet hätte; das Mitleid er­ scheint an der Hand der Verwunderung, das ist, es entsteht durch

die endlich und plötzlich entdeckte gute Eigenschaft.

Ich sage mit

Fleiß: plötzlich, um eine Erfahrung daraus zu erklären, die ich wirklich gehabt habe, ehe die Spekulation noch daran teilnehmen

konnte.

Ich bin, als ich diese Scene zum erstenmal las, über die

Vergebung

des

Gusman erschrocken.

Denn den Augenblick

fühlte ich mich in der Stelle des Zamor.

Ich fühlte seine Be­

schämung, seine schmerzliche Erniedrigung, ich fühlte es, ums es einem Geiste, wie dem feinigen, kosten müsse, zu sagen: ich schäme mich der Rache! Zum Tode, dem kleinern Übel, war er vor­

bereitet; zur Vergebung, dem größern, nicht.

Also, wenn ein Bösewicht oder jede andere Person eine gute

Eigenschaft zeigt, die ich in ihm nicht vermutet hätte, so entsteht keine Bewunderung, sondern eine Verwunderung, welche sowenig

etwas Angenehmes ist, daß sie vielmehr weiter nichts, als ein

Fehler des Dichters genannt zu werden verdient, weil in keinem

Charaktermehr sein muß, als man sich anfangs darin zu finden

verspricht.

Wenn der Geizige auf einmal freigebig, der Ruhm-

115

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

redige auf einmal bescheiden wird; so verwundert man sich, be­

wundern aber kann man ihn nicht. Wenn nun dieser Unterschied keine falsche Spitzfindigkeit ist,

so

wird die

Bewunderung

allein

da

stattfinden, wo

wir

so

glänzende Eigenschaften entdecken, daß wir sie der ganzen mensch­

lichen Natur nicht zugetrauet hätten.

Um dieses näher einzusehen,

glaube ich, werden folgende Punkte etwas beitragen können. Was sind dieses für glänzende Eigenschaften, die wir be­

wundern?

Sind es besondere Eigenschaften, oder sind es nur die

höchsten Grade guter Eigenschaften? Sind es die höchsten Grade aller guten Eigenschaften, oder nur einiger derselben?

Das Wort Bewunderung wird von dem größten Bewunderer, dem Pöbel, so oft gebraucht, daß ich es kaum wagen will, aus dem Sprachgebrauchs etwas zu entscheiden.

Seine, des Pöbels

Fähigkeiten sind so gering, seine Tugenden so mäßig, daß er beide nur in einem leidlichen Grade entdecken darf, wenn er bewundern

soll.

Was über seine enge Sphäre ist, glaubt er über die Sphäre

der ganzen menschlichen Natur zu sein. Lassen Sie uns also nur diejenigen Fälle untersuchen, wo

die bessern Menschen, Menschen von Empfindung und Einsicht, bewundern.

Untersuchen Sie Ihr eigen Herz, liebster Freund!

Bewundern Sie die Gütigkeit des Augustus, die Keuschheit des

Hippolyts, die kindliche Liebe der Chimene? Sind diese und andere solche Eigenschaften über den Begriff, den Sie von der mensch­

lichen Natur haben?

Oder zeigt nicht vielmehr die Nacheiferung

selbst, die sie in Ihnen erwecken, daß sie noch innerhalb diesem

Begriffe sind? Was für Eigenschaften bewundern Sie denn nun?

Sie be­

wundern einen Cato, einen Essex — mit einem Worte, nichts als

Beispiele einer unerschütterten Festigkeit, einer unerbittlichen Stand­

haftigkeit, eines nicht zu erschreckenden Muts, einer heroischen Ver­

achtung der Gefahr und des Todes; und alle diese Beispiele be­ wundern Sie um so viel mehr, je besser Sie sind, je fühlbarer

Ihr Herz, je zärtlicher Ihre Empfindung ist.

Sie haben einen zu

richtigen Begriff von der menschlichen Natur, als daß Sie nicht alle unempfindliche Helden für schöne Ungeheuer, für mehr als

Menschen, aber gar nicht für gute Menschen halten sollten.

Sie

116

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

bewundern sie also mit Recht; aber eben deswegen, weil Sie sie bewundern, werden Sie ihnen nicht nacheifern.

Mir wenigstens

ist es niemals in den Sinn gekommen, einem Cato oder Essex an Halsstarrigkeit gleich zu werden, so sehr ich sie auch wegen dieser

Halsstarrigkeit bewundere, die ich ganz und gar verachten und ver­

dammen würde, wenn es nicht eine Halsstarrigkeit der Tugend zu sein schiene. Ich werde also der Bewunderung nichts abbitten, sondern ich

verlange, daß Sie es der Tugend abbitten sollen, Sie zu einer Tochter der Bewunderung gemacht zu haben.

Es ist wahr, sie ist

sehr oft die Tochter der Nacheiferung, und die Nacheiferung ist die natürliche Eigenschaft.

Folge der

Erkenntnis

anschauenden

einer guten

Aber muß es eine bewundernswürdige Eigenschaft

sein? Nichts weniger.

Es muß eine gute Eigenschaft sein, deren

ich den Menschen überhaupt, und also auch mich fähig halte.

Und

diese Eigenschaften schließe ich so wenig aus dem Trauerspiele aus,

daß vielmehr, nach meiner Meinung, gar kein Trauerspiel ohne sie besteht, weil nmn ohne sie kein Mitleid erregen kann.

Ich

will nur diejenigen großen Eigenschaften ausgeschlossen haben, die wir unter

dem

allgemeinen Namen

des

Heroismus

begreifen

können, weil jede derselben mit Unempfindlichkeit verbunden ist, und Unempfindlichkeit in dem Gegenstände

des Mitleids

mein

Mitleiden schwächt. Lassen Sie uns

hier bei den Alten in die Schule gehen.

Was können wir nach der Natur für bessere Lehrer wählen?

Um

das Mitleid desto gewisser zu erwecken, ward Ödipus und Alceste

von allem Heroismus entkleidet.

Jener klagt weibisch, und diese

jammert mehr als weibisch; sie wollten sie lieber zu empfindlich,

als unempfindlich machen; sie ließen sie lieber zu viel Klagen aus­

schütten, zu viel Thränen vergießen, als gar keine. Sie sagen, das benähme der Bewunderung ihren Wert nicht, daß sie das Mitleiden schwäche oder gar aufhebe, weil sie dieses

mit dem Tode des Helden gemein habe.

Sie irren hier aus zu

großer Scharfsinnigkeit. Unter tausend Menschen wird nur ein Weltweiser sein, welcher den Tod nicht für das größte Übel, und das Totsein nicht für eine Fortdauer dieses Übels

hält!

Das

Mitleiden hört also mit dem Tode noch nicht auf; gesetzt aber, es

117

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

hörte auf, so würde dieser Umstand weiter nichts, als die Ursache

der Regel sein, warum sich mit dem Tode des Helden auch das Stück

schließen

müsse.

wunderung schließen?

Kann sich aber das Stück mit der Be­

Wenn ich aber gesagt habe, der tragische

Dichter müsse die Bewunderung so wenig

lassen,

daß er sie

vielmehr

nur

sein Hauptwerk

zu Ruhepunkten

sein

des Mitleids

machen müsse; so habe ich dieses damit sagen wollen, er solle sei­

nem Helden nur so viel Standhaftigkeit geben, daß er nicht auf eine unanständige Art unter seinem Unglück erliege.

Empfinden

muß er ihn sein Unglück lassen, er muß es ihn recht fühlen lassen, denn sonst können wir es nicht fühlen.

Und nur dann und wann

muß er ihn lassen einen etiort thun, der auf wenige Augenblicke eine dem Schicksal gewachsene Seele zu zeigen scheint, welche große

Seele den Augenblick darauf wieder ein Raub ihrer schmerzlichen

Empfindungen werden muß. Was Sie von dem Mithridat des Racine sagen, ist, glaub'

ich, eher für mich, als für Sie.

Eben die edelmütige Scene, wo

er seinen Söhnen den Anschlag, vor Rom zu gehen, entdeckt, ist

Ursache, daß wir mit ihm wegen seines gehabten mißlichen Schick­ sals in dem Kriege wider die Römer kein Mitleiden haben können.

Ich sehe ihn schon triumphierend in Rom einziehen, und vergesse darüber alle seine unglücklichen Schlachten.

diese Scene bei dem Racine

mehr,

als

Und was ist denn

eine schöne Flickscene?

Sie bewundern den Mithridat, diese Bewunderung ist ein ange­

nehmer Affekt;

sie kann bei einem Karl XII. Nacheiferung er­

wecken, aber wird es dadurch unwahr, daß sie sich besser in ein

Heldengedicht als in ein Trauerspiel schicke? Doch ich will aufhören zu schwatzen, und es endlich bedenken, daß ich an einen Wortsparer schreibe.

Ich will, was ich wider

die Bewunderung bisher, schlecht oder gut, gesagt habe, nicht ge­ sagt haben; ich will alles wahr sein sagen.

lassen, was Sie von ihr

Sie ist dennoch aus dem Trauerspiel zu verbannen.

Denn — doch ich will erst eine Erläuterung aus dem Ur­

sprünge des Trauerspiels voranschicken.

Die alten Trauerspiele

sind aus dem Homer, ihrem Inhalte nach, genommen, und diese

Gattung der Gedichte selbst ist aus der Absingung seiner Epopöen entsprungen.

Homer und nach ihm die Rhapsodisten wählten ge-

118

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

wisse Stücke daraus, die sie bei feierlichen Gelegenheiten, vielleicht auch vor den Thüren ums Brot, abzusingen pflegten.

Sie mußten

die Erfahrung gar bald machen, was für Stücke von dem Volke am liebsten gehört wurden.

mit sonderlichem Vergnügen;

Heldenthaten hört man nur einmal

Neuigkeit rührt

ihre

meisten.

am

Aber tragische Begebenheiten rühren, so oft man sie hört.

Diese

also wurden, vorzüglich vor andern Begebenheiten bei dem Homer, ausgesucht, und anfangs, so wie

sie

erzählungsweise

bei

dem

Dichter stehen, gesungen, bis man darauf fiel, sie dialogisch abzu­

teilen, und das daraus entstand, was wir jetzt Tragödie nennen. Hätten denn nun die Alten nicht

ebensowohl aus den Helden­

thaten ein dialogisches Ganze machen können?

Freilich, und sie

würden es gewiß gethan haben, wenn sie nicht die Bewunderung

für eine weit ungeschicktere Lehrerin des Volks als das Mitleiden

gehalten hätten. Und das ist ein Punkt, den Sie selbst am besten beweisen können.

Die Bewunderung

in dem

allgemeinen

Verstände, in

welchem sie nichts ist, als das sonderliche Wohlgefallen an einer seltnen Vollkommenheit, bessert vermittelst der Nacheiferung, und

die Nacheiferung setzt eine deutliche Erkenntnis der Vollkommen­ heit, welcher ich nacheifern will, voraus.

Wie viele haben diese

Erkenntnis?

Und wo diese nicht ist, bleibt die Bewunderung nicht

unfruchtbar?

Das Mitleiden hingegen bessert unmittelbar; bessert,

ohne daß wir selbst etwas

dazu beitragen dürfen;

bessert den

Mann von Verstände sowohl als den Dummkopf.

Hiermit schließ' ich.

Sie sind mein Freund; ich will meine

Gedanken von Ihnen geprüft, nicht gelobt haben.

Ich sehe Ihren

fernern Einwürfen mit dem Vergnügen entgegen, mit welchem inan der Belehrung entgegen sehen muß.

Jetzt habe ich mich, in An­

sehung des Briefschreibens, in s2ltem gesetzt; Sie wissen, was Sie zu thun

haben, wen« ich darin

bleiben

soll.

Leben Sie wohl/

und lassen Sie unsre Freundschaft ewig sein!

Lessing.

119

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

In Friedrich Nicolai. Leipzig, den 29. November 1756.

Liebster Freund,

Vorigesmal

bekamen Sie den

langen Brief;

jetzt hat ihn

Herr Moses bekommen, und Sie bekommen den kurzen. Gesegnet sei Ihr Entschluß, sich selbst zu leben! Verstand

auszubreiten,

muß

man

seine Begierden

Um seinen

einschränken.

Wenn Sie leben können, so ist es gleichviel, ob Sie von mäßigen oder von großen Einkünften leben.

Und endlich sind Plätze in

der Welt, die sich besser für Sie schicken, als die Handlung.

glücklich

Wie

wäre ich, wenn ich Ihre Einladung annehmen könnte!

Wie viel lieber wollte ich künftigen Sommer mit Ihnen und un­

serm Freunde zubringen, als in England!

Vielleicht lerne ich da

weiter nichts, als daß man eine Nation bewundern und hassen kann. Ich komme zur rückständigen Beantwortung Ihrer Briefe. Ich wollte lieber, daß Sie mein Stück, als die Aufführung meines Stücks, so weitläuftig beurteilt hätten.

Sie würden mir dadurch

das Gute, das Sie davon sagen, glaublicher gemacht haben.

Ich

kann mich aber doch nicht enthalten, über Ihr Lob eine Anmer­ kung zu machen.

Sie sagen, Sie hätten bis zum fünften Aufzuge

öfters Thränen vergossen;

am Ende aber hätten Sie vor starker

Rührung nicht weinen können:

eine Sache, die Ihnen noch nicht

begegnet sei, und gewissermaßen mit Ihrem System von der Rüh­

rung streite. — Es mag einmal in diesem Komplimente, was noch in

keinem Komplimente gewesen ist, jedes Wort wahr sein —

wissen Sie, was mein Gegenkompliment ist?

Ihnen

ein falsches System

haben!

Wer Geier heißt

Oder vielmehr:

wer Geier

heißt Ihrem Verstände sich ein System nach seiner Grille machen, ohne Ihre Empfindung zu Rate zu ziehen?

Diese hat,

Ihnen

unbewußt, das richtigste System, das man nur haben kann; denn

sie hat meines. Herrn Moses.

die

Ich

berufe mich auf meinen letzten Brief an

Das Mitleiden giebt keine Thränen mehr, wenn

schmerzhaften Empfindungen in ihm die Oberhand

gewinnen.

Ich unterscheide drei Grade des Mitleids, deren mittelster das

weinende Mitleid ist, und die vielleicht mit den drei Worten zu

120

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

unterscheiden

wären,

Rührung, Thränen,

Rührung ist, wenn ich

Beklemmung.

weder die Vollkommenheiten,

noch das

Unglück des Gegenstandes deutlich denke, sondern von beiden nur einen dunklen Begriff habe; so rührt mich zum Exempel der An­

blick jedes Bettlers.

Thränen erweckt er nur dann in mir, wenn

er mich mit seinen guten Eigenschaften

sowohl, als mit seinen

Unfällen bekannter macht, und zwar mit beiden zugleich, welches

das

wahre Kunststück ist,

mich erst mit seinen

Thränen

zu erregen.

guten Eigenschaften

Denn macht er

und hernach

mit seinen

Unfällen, oder erst mit diesen und hernach mit jenen bekannt, so

wird zwar die Rührung stärker, aber zu Thränen kömmt sie nicht. Ich

Zum Exempel.

frage den Bettler nach seinen Umständen,

und er antwortet: ich bin seit drei Jahren amtlos, ich habe Frau und Kinder; sie sind teils krank, teils noch zu klein, sich'selbst zu

versorgen; ich selbst bin nur vor einigen Tagen vom Krankenbette

aufgestanden. — Das ist sein Unglück! — Aber wer sind Sie denn? frage ich weiter. — Ich bin der und der, von dessen Ge­ schicklichkeit in diesen oder jenen Verrichtungen Sie vielleicht gehört

haben; ich bekleidete mein Amt mit möglichster Treue; ich könnte es

alle Tage wieder antreten, wenn ich lieber die Kreatur eines Mi­ nisters, als ein ehrlicher Mann sein wollte rc.

Vollkommenheiten!

mand weinen.

Bei einer

solchen Erzählung

Das sind seine aber kann nie­

Sondern wenn der Unglückliche meine Thränen

haben will, muß er beide Stücke verbinden; er muß sagen: ich bin vom Amte gesetzt, weil ich zu ehrlich war, und mich dadurch bei dem Minister verhaßt machte; ich hungere, und mit mir hungert eine kranke liebenswürdige Frau; und mit uns hungern sonst hoff­

nungsvolle, jetzt in der Armut vermodernde Kinder; und wir werden gewiß noch lange hungern müssen.

Doch ich will lieber hungern,

als niederträchtig sein; auch meine Frau und Kinder wollen lieber

hungern, und ihr Brot lieber unmittelbar von Gott, das ist, aus

der Hand eines barmherzigen Mannes, nehmen, als ihren Vater und Ehemann lasterhaft wissen rc. — (Ich weiß nicht,

mich verstehen.

ob Sie

Sie müssen meinem Vortrage mit Ihrem eignen

Nachdenken zu Hilfe kommen.)

Einer solchen Erzählung habe ich

immer Thränen in Bereitschaft.

Unglück und Verdienst sind hier

im Gleichgewicht.

Aber lassen Sie uns das Gewicht in der einen

121

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

oder andern Schale vermehren, und zusehen, was nunmehr entsteht.

Lassen Sie uns zuerst in die Schale der Vollkommenheit eine Zu­

lage werfen.

Der Unglückliche mag fortfahren: aber wenn ich und

meine kranke Frau uns nur erst wieder erholt haben, schon anders werden.

so soll es

Wir wollen von der Arbeit unsrer Hände Alle Arten, sein Brot zu verdienen,

leben; wir schämen uns keiner.

sind einem ehrlichen Manne gleich anständig;

Holz spalten, oder

Es kömmt seinem Gewissen nicht

am Ruder des Staates sitzen.

darauf an, wie viel er nützt, sondern wie viel er nützen wollte. —

Nun

hören

meine Thränen

auf;

die Bewundrung

erstickt sie.

Und kaum, daß ich es noch fühle, daß die Bewundrung aus dem

Mitleiden entsprungen. — Lassen Sie uns eben den Versuch mit der andern Wagschale anstellen.

Der ehrliche Bettler erfährt, daß

es wirklich einerlei Wunder, einerlei übernatürliche Seltenheit ist,

von der Barmherzigkeit der Menschen,

oder unmittelbar aus der

Er wird überall schimpflich ab­

Hand Gottes gespeist zu werden.

gewiesen; unterdessen nimmt sein Mangel zu, und mit ihm seine Verwirrung.

Endlich gerät er in Wut; er ermordet seine Frau,

seine Kinder und sich. — Weinen Sie noch? — Hier erstickt der

Schmerz die Thränen, aber nicht das Mitleid, wie es die Be­ wundrung thut.

Es ist —

Ich verzweifelter Schwätzer!

Nicht ein

Wort mehr.

Ihre Recension vom Devil to pay schon gedruckt?

Ist

Ich habe eine

sehr merkwürdige Entdeckung in Ansehung dieses Stücks gemacht; wovon in meinem nächsten. Leben Sie wohl, liebster Freund!

Nachschrift.

Was

macht

Lessing.

denn

Grüßen Sie ihn tausendmal von mir.

unser

lieber

Marpurg?

Ich lasse mich wegen des

berühmten Dichters in seinen Oden schöne bedanken.

In Moses Mendelssohn. Leipzig, den 18. Dezember 1756.

Liebster Freund! Sie haben recht; ich habe in meinem Briefe an Sie ziemlich

in den Tag

hineingeschwatzt.

Heben Sie

ihn nur immer auf;

122

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

aber nicht zu Ihrer, sondern zu meiner Demütigung.

Er bleibe

bei Ihnen ein dauerhafter Beweis, was für albernes Zeug ich

schreiben kann, wenn ich, wie ich mich auszudrücken beliebt habe, meine Gedanken unter der Feder reif werden lasse. Lassen Sie mich jetzt versuchen, ob sie durch Ihre Einwürfe und

Erinnerungen reifer geworden.

Ich lösche die ganze Tafel

aus,

und will mich über die Materie von der Bewunderung noch gar

nicht erklärt haben.

Bon Dome!

Ich hatte in dem ersten Briefe an Herrn Nicolai von dieser Mate­ rie geschrieben: die Bewunderung müsse in dem Trauer­ spiele nichts sein, als der Ruhepunkt des Mitleidens.

Haben Sie mich auch recht verstanden?

Herr Nicolai machte zu

seiner zweiten Gattung der Trauerspiele diejenige, wo man durch

Hilfe des Schreckens und des Mitleidens Bewunderung

wolle.

In dieser Gattung

also

erregen

wird die Bewunderung

zum

Hauptwerke, das ist, das Unglück, das den Helden trifft, soll uns

nicht sowohl rühren,

als dem Helden Gelegenheit

geben,

seine

außerordentlichen Vollkommenheiten zu zeigen, deren intuitive Er­ kenntnis

in uns den

angenehmen Affekt

erwecke,

welchen

Sie

Bewunderung nennen. Ein solches Trauerspiel nun, sage ich, würde ein dialogisches Heldengedicht sein, und kein Trauerspiel.

Der bewunderte Held,

habe ich mich gegen Herrn Nicolai ausgedrückt, ist der Stoff des

Heldengedichts.

Da Sie mir doch also wohl zutrauen werden,

daß ich ein Heldengedicht

(ein Gedicht voller Bewunderung) für

ein schönes Gedicht halte; so kann ich nicht einsehen, wie Sie mir

Schuld

geben können,

daß

ich der Bewunderung alles Schöne,

alles Angenehme rauben wolle.

Sie ist ein

angenehmer Affekt,

gut; aber kann ihr dieses die vornehmste Stelle in einem Trauer­ spiele verdienen?

Das Trauerspiel (sagt Aristoteles, Hauptstück 14)

soll uns nicht jede Art des Vergnügens ohne Unterschied gewähren, sondern nur allein das Vergnügen, welches ihn: eigentümlich zu-

kömmt. Warum wollen wir die Arten der Gedichte ohne Not ver­

wirren, imb die Grenzen der einen in die andern laufen lassen?

So wie in dem Heldengedichte die Bewunderung das Hauptwerk ist,

alle andere Affekten, das Mitleiden besonders, ihr untergeordnet

123

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

sind:

so sei auch in dem Trauerspiele das Mitleiden das Haupt­

werk,

und jeder andere Affekt, die Bewunderung

besonders,

sei

ihm nur untergeordnet, das ist, diene zu nichts, als das Mitleiden

erregen zu helfen.

lich

sein,

um

Der Heldendichter läßt seinen Helden unglück­

seine Vollkommenheiten ins Licht zu setzen.

Der

Tragödienschreiber setzt seines Helden Vollkommenheiten ins Licht, uni uns sein Unglück desto schmerzlicher zu machen. Ein großes Mitleiden kann nicht ohne große Vollkommenheiten

in dem Gegenstände des Mitleids sein,

und große Vollkommen­

heiten, sinnlich ausgedrückt, nicht ohne Bewunderung. großen Vollkommenheiten sollen

Aber diese

in dem Trauerspiele nie

ohne

große Unglücksfälle sein, sollen mit diesen allezeit genau verbunden

sein, und sollen also nicht Bewunderung allein, sondern Bewun­ derung und Schmerz, das ist. Mitleiden erwecken.

Und das ist

Die Bewunderung findet also in dem Trauer­

meine Meinung.

spiele nicht als ein besonderer Affekt statt, sondern bloß als die eine Hälfte des Mitleids. auch recht gehabt,

Und in dieser Betrachtung habe ich

sie nicht als einen besondern Affekt,

sondern

nur nach ihrem Verhältnisse gegen das Mitleiden zu erklären. Und in diesem Verhältnisse,

sage ich noch, soll

Ruhepunkt des Mitleidens sein, nämlich da, sich allein wirken soll.

sie der

wo sie für

Da sie aber zum zweitenmal

auf dem

Exempel des Mithridats bestehen, so muß ich glauben, Sie haben meine Worte so verstanden, als wollte ich mit diesem Ruhepunkte

sagen, sie soll das Mitleiden stillen helfen.

Aber das will ich da­

mit gar nicht sagen, sondern gleich das Gegenteil.

Hören Sie nur!

Wir können nicht lange in einem starken Affekte bleiben; also können wir auch ein starkes Mitleiden nicht lange aushalten;

schwächt sich selbst ab.

es

Auch mittelmäßige Dichter haben dieses

gemerkt, und das starke Mitleiden bis zuletzt verspürt.

Aber ich

hasse die französischen Trauerspiele, welche mir nicht eher, als am

Ende des fünften Aufzugs, einige Thränen auspressen.

Der wahre

Dichter verteilt das Mitleiden durch sein ganzes Trauerspiel;

bringt überall Stellen an,

er

wo er die Vollkommenheiten und Un­

glücksfälle seines Helden in einer rührenden Verbindung zeigt, das ist, Thränen erweckt. Zusammenhang

Weil aber das ganze Stück kein beständiger

solcher Stellen

sein kann,

so untermischt er sie

124

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

mit Stellen, die von den Vollkommenheiten seines Helden allein handeln,

und in diesen Stellen

hat die Bewunderung,

als Be­

wunderung, statt.

Was sind aber diese Stellen anders, als gleich­

sam Ruhepunkte,

wo sich der Zuschauer zu neuem Mitleiden er­

holen sott?

Gestillt soll das vorige Mitleiden nicht dadurch werden,

das ist mir niemals in die Gedanken gekommen, und würde meinem System schnurstracks zuwider sein. Da nun aber diese Stellen (ich will sie die leeren Scenen

nennen, ob sie gleich nicht immer ganze Scenen sein dürfen, weil die Bewunderung, oder die Ausmalung der außerordentlichen Voll­ kommenheiten des Helden, der einzige Kunstgriff ist, die leeren

Scenen, wo die Aktion stille steht, erträglich zu machend da, sage

ich, diese leeren Scenen nichts als Vorbereitungen zum künf­ tigen Mitleiden sein sollen, so müssen sie keine solchen Vollkommen­

heiten betreffen, die das Mitleiden zernichten.

Ich will ein Exempel

geben, dessen Lächerliches Sie mir aber verzeihen müssen.

Gesetzt,

ich sagte zu jemand: heute ist der Tag, da Titus seinen alten Vater,

auf

einem Seile, welches

von der

höchsten Spitze des

Turms bis über den Fluß ausgespannt ist, in einem Schubkarren von oben herab führen soll.

Wenn ich nun, dieser gefährlichen

Handlung wegen. Mitleiden für den Titus erwecken wollte, was

muß ich thun?

Ich müßte die guten Eigenschaften des Titus

und seines Vaters auseinandersetzen,

und sie beide zu Personen

machen, die es um so viel weniger verdienen, daß sie sich einer

solchen Gefahr unterziehen müssen, je würdiger sie sind.

Aber

nicht wahr, dem Mitleiden ist der Weg zu dem Herzen meines Zuhörers auf einmal abgeschnitten, sobald ich ihm sage, Titus ist

ein Seiltänzer, der diesen Versuch schon mehr als einmal gemacht hat?

Und gleichwohl habe ich doch weiter nichts als eine Voll­

kommenheit des Titus den Zuhörern bekannt gemacht.

Ja, aber

es war eine Vollkommenheit, welche die Gefahr unendlich verrin­

gerte, und dem Mitleiden also die Nahrung nahm.

Der Seil­

tänzer wird nunmehr bewundert, aber nicht bedauert.

Was macht aber derjenige Dichter aus seinem Helden anders, als einen Seiltänzer, der, wenn er ihn will sterben lassen, das ist,

wenn er uns am meisten durch seine Unfälle rühren will, ihn eine Menge der schönsten Gasconaden, von seiner Verachtung des Todes,

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

125

von seiner Gleichgültigkeit gegen das Leben Herschwatzen läßt? In eben dem Verhältnisse, in welchem die Bewunderung auf der einen

Seite zunimmt, nimmt das Mitleiden auf der andern ab.

Aus

diesem Grunde halte ich den Polyeukt des Corneille für tadelhaft; ob er gleich wegen ganz anderer Schönheiten niemals aufhören

wird zu gefallen.

Polyeukt strebt ein Märtyrer zu werden; er

sehnet sich nach Tod und Martern; er betrachtet sie als den ersten

Schritt in ein überschwänglich seliges Leben; ich bewundere den

frommen Enthusiasten, aber ich müßte befürchten, seinen Geist in

dem Schoße der ewigen Glückseligkeit zu erzürnen, wenn ich Mitleid

mit ihm haben wollte. Genug hiervon;

Sie können nlich hinlänglich verstehen, um

mich zu widerlegen, wenn ich es verdiene.

Aber die Feder läuft

einmal, und ich will mich nunmehr über die Verschiedenheit zwischen

den Wirkungen der Bewunderung und den Wirkungen des Mit­ leids erklären.

Aus der Bewunderung entspringt der Vorsatz der

Nacheiferung; aber, wie Sie selbst sagen, dieser Vorsatz ist nur

augenblicklich.

Wenn er zur Wirklichkeit kommen soll, muß

ihn entweder die darauf folgende deutliche Erkenntnis dazu bringen,

oder der Affekt der Bewunderung muß so stark fortdauern, daß der Vorsatz zur Thätigkeit kömmt, ehe die Vernunft das Steuer

wieder ergreifen kann.

Das ist doch Ihre Meinung? — Nun

sage ich: in dem ersten Falle ist die Wirkung nicht der Bewun­ derung, sondern der deutlichen Erkenntnis zuzuschreiben; und zu

dem andern Falle werden nichts Geringeres als Phantasten er­ fordert.

Denn Phantasten sind doch wohl nichts anders, als Leute,

bei welchen die untern Seelenkräfte über die obern triumphieren? Daran liegt nichts, werden Sie vielleicht sagen, dieser Phantasten

sind sehr viele in der Welt, und es ist gut, wenn auch Phantasten tugendhafte Thaten thun.

Wohl; so muß es beim eine von den

ersten Pflichten des Dichters sein, daß er nur für wirklich tugend­ hafte Handlungen Bewunderung erweckt.

Denn wäre es ihm er­

laubt, auch untugendhaften Handlungen den Firnis der Bewunderung zu geben, so hätte Plato recht, daß er sie aus seiner Republik

verbannt wissen wollen.

Herr Nicolai hätte also nicht schließen

sollen: weil der Wein nicht selten blutige Gezänke erzeugt, so ist es falsch, daß er des Menschen Herz erfreuen soll; oder weil die

126

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

Poesie oft schlechte Handlungen als nachahmungswürdig anpreiset,

so kann ihr Endzweck nicht sein, die Sitten zu bessern. Ich gehe noch weiter, und gebe Ihnen zu überlegen, ob die tugendhafte That, die ein Mensch aus bloßer Nacheiferung, ohne

deutliche Erkenntnis, thut, wirklich eine tugendhafte That ist, und ihm als eine solche zugerechnet werden kann?

Ferner dringe ich

darauf: die Bewunderung einer schönen Handlung kann nur zur Nacheiferung eben derselben Handlung, unter eben denselben Um­

ständen, und nicht zu allen schönen Handlungen

antreiben;

sie

bessert, wenn sie ja bessert, nur durch besondere Fälle, und also auch nur in besondern Fällen.

Man bewundert zum Exempel den

Gusman, der. seinem Mörder vergiebt.

Kann mich diese Be­

wunderung, ohne Zuziehung der deutlichen Erkenntnis, antreiben,

allen meinen Widersachern zu vergeben?

Oder treibt sie mich nur,

demjenigen Todfeinde zu vergeben, den ich mir selbst durch meine Mißhandlungen dazu gemacht habe?

Ich glaube, nur das letztere.

Wie unendlich besser und sicherer sind die Wirkungen meines Mitleidens!

Das Trauerspiel soll das Mitleiden nur überhaupt

üben, und nicht uns in diesem oder jenem Falle zum Mitleiden bestimmen.

Gesetzt auch, daß mich der Dichter gegen einen un­

würdigen Gegenstand mitleidig macht, nämlich vermittelst falscher

Vollkommenheiten,

durch

die er meine Einsicht verführt, um

mein Herz zu gewinnen.

Daran ist nichts gelegen, wenn nur

mein Mitleiden rege wird, und sich gleichsam gewöhnt, immer

leichter und leichter rege zu werden.

Ich lasse mich zum Mitleiden

im Trauerspiele bewegen, um eine Fertigkeit im Mitleiden zu be­ kommen; findet aber das bei der Bewunderung statt?

Kann man

sagen: ich will gern in der Tragödie bewundern, um eine Fertig­ keit im Bewundern zu bekommen? Geck,

Ich glaube, der ist der größte

der die größte Fertigkeit im Bewundern hat;

so wie ohne

Zweifel derjenige der beste Mensch ist, der die größte Fertigkeit

im Mitleiden hat. Doch bin ich nicht etwa wieder auf meine alten Sprünge ge­ kommen?

Schreie ich die Bewunderung durch das, was ich bis­

her gesagt habe, nicht für ganz und gar unnütz aus, ob ich ihr gleich das ganze Heldengedicht zu ihrem Tummelplätze einräume?

Fast sollte es so scheinen; ich will es also immer wagen, Ihnen

127

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

einen Einfall zu vertrauen, der zwar ziemlich seltsam klingt, weil

er aber niemand Geringers als mich und den Homer rettet, Ihrer Untersuchung vielleicht nicht unwürdig ist. Es giebt gewisse körperliche Fähigkeiten, gewisse Grade der körperlichen Kräfte, die wir nicht in unsrer willkürlichen Gewalt

haben, ob sie gleich wirklich in dem Körper vorhanden sind.

Ein

glasender, zum Exempel, ist ungleich stärker, als er bei gesundem

Verstände war; auch die Furcht, der Zorn, die Verzweiflung und

andre Affekten mehr,

erwecken in uns einen größern Grad der

Stärke, der uns nicht eher zu Gebote steht, als bis wir uns in

diesen oder jenen Affekt gesetzt haben. Meine zweite vorläufige Anmerkung ist diese.

Alle körperliche

Geschicklichkeiten werden durch Hilfe der Bewunderung

wenigstens das Feine

von allen

Nehmen Sie einen Luftspringer.

körperlichen

gelernt;

Geschicklichkeiten.

Von den wenigsten Sprüngen

kann er seinen Schülern den eigentlichen Mechanismus zeigen; er

kann oft weiter nichts sagen, als:

sieh nur, sieh nur, wie ich es

mache! das ist, bewundere mich nur recht, und versuch' es alsdann,

so wird es von selbst gehen; und je vollkommener der Meister den Sprung vormacht, je mehr er die Bewunderung seines Schülers

durch diese Vollkommenheit reizt,

desto leichter wird diesem die

Nachahmung werden.

Heraus also mit meinem Einfalle!

Wie, wenn Homer mit

Bedacht nur körperliche Vollkommenheiten bewundernswürdig ge­ schildert hätte?

Er kann leicht ein ebenso

wesen sein, als ich.

guter Philosoph

ge­

Er kann leicht, wie ich, geglaubt haben, daß

die Bewunderung unsre Körper wohl tapfer und gewandt, aber nicht unsre Seelen tugendhaft machen könne.

Achilles, sagen Sie,

ist bei dem Homer nichts als ein tapfrer Schläger; es mag sein.

Er ist aber doch ein bewundernswürdiger Schläger, der bei einem andern den Vorsatz der Nacheiferung erzeugen kann.

Und so oft

sich dieser andere in ähnlichen Umständen mit dem Achilles befindet, wird ihm auch das Exempel dieses Helden wieder beifallen, wird

sich auch seine gehabte Bewunderung erneuern, und diese Bewun­ derung wird ihn stärker und geschickter machen, als er ohne sie

gewesen wäre.

Gesetzt aber, Homer hätte den Achilles zu einem

bewundernswürdigen Muster der Großmut gemacht.

So oft sich

128

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

nun ein Mensch von feuriger Einbildungskraft in ähnlichen Um­

ständen mit ihm sähe, könnte er sich zwar gleichfalls seiner gehabten Bewunderung erinnern, und zufolge

großmütig handeln;

aber würde

dieser Bewunderung gleich

er deswegen

großmütig

sein?

Die Großmut muß eine beständige Eigenschaft der Seele sein, und

ihr nicht bloß ruckweise entfahren.

Ich bin es überzeugt, daß meine Worte oft meinem Sinne Schaden thun, daß ich mich nicht selten zu unbestimmt oder zu

nachlässig ausdrücke.

Versuchen Sie es also, liebster Freund, sich

durch Ihr eigen Nachdenken in den Geist meines Systems zu ver­

setzen.

Und vielleicht finden Sie es weit besser, als ich es vor­

stellen kann.

In Vergleichung

meiner,

sollen Sie doch noch immer ein

Wortsparer bleiben; denn ich habe mir fest vorgenommen, auch diesen zweiten Bogen noch voll zu schmieren. aus

dem

Folgenden

einen

besondern

Ich wollte anfangs

Brief an Herrn Nicolai

machen; aber ich will seine Schulden mit Fleiß nicht häufen.

Lesen Sie doch das dreizehnte Hauptstück der Aristotelischen Dichtkunst. Der Philosoph sagt daselbst: der Held eines Trauerspiels

müsse ein Mittelcharakter sein; er müsse nicht allzulasterhaft und auch nicht allzutugendhaft sein; wäre er allzulasterhaft, und ver­

diente sein Unglück durch seine Verbrechen, so könnten wir kein Mitleiden mit ihm haben; wäre er aber allzutugendhaft, und er würde dennoch

unglücklich,

so verwandle sich das Mitleiden in

Entsetzen und Abscheu.

Ich möchte wissen, wie Herr Nicolai diese Regel mit den

bewundernswürdigen Eigenschaften seines Helden zusammen reimen könne--------- Doch das ist es nicht, was ich jetzt schreiben will. Ich bin hier selbst wider Aristoteles, welcher mir überall eine falsche

scheint.

Erklärung des

Mitleids

zum Grunde

gelegt zu

haben

Und wenn ich die Wahrheit weniger verfehle, so habe ich

es allein Ihrem bessern Begriffe vom Mitleiden zu danken.

Ist

es wahr, daß das Unglück eines allzutugendhaften Menschen Ent­

setzen und Abscheu erweckt?

Wenn es wahr ist, so müssen Ent­

setzen und Abscheu der höchste Grad des Mitleids sein, welches sie

doch nicht sind.

Das Milleiden, das in eben dem Verhältnisse

wächst, in welchem Vollkommenheit und Unglück wachsen, hört auf,

129

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

mir angenehm zu sein, und wird desto unangenehmer, je größer auf der einen Seite die Vollkommenheit, und auf der andern das Unglück ist. Unterdessen ist es doch auch wahr, daß an dem Helden eine

gewisse apctQua, ein gewisser Fehler sein muß, durch welchen er sein Unglück über sich gebracht hat.

wie sie Aristoteles nennt?

Etwa,

Aber warum diese

weil er ohne sie vollkommen

sein würde, und das Unglück eines vollkommenen Menschen Ab­ scheu erweckt?

Gewiß nicht.

Ich glaube, die einzige richtige Ur­

sache gefunden zu haben; sie ist diese: weil ohne den Fehler, der

das Unglück über ihn zieht, sein Charakter und sein Unglück kein

Ganzes ausmachen würden, weil das eine nicht in dem andern gegründet wäre, und wir jedes von diesen zwei Stücken besonders

denken würden.

Kanut sei

Ein Exempel wird mich

verständlicher machen.

ein Muster der vollkommensten Güte.

Soll er nur

Mitleid erregen, so muß ich durch den Fehler, daß er seine Güte mcht durch die Klugheit regieren läßt, und den Ulfo, dem er nur

verzeihen sollte, mit gefährlichen Wohlthaten überhäuft, ein großes Unglück über ihn ziehn; Ulfo muß ihn gefangen nehmen und er­ morden.

Mitleiden im

höchsten Grade!

Aber gesetzt, ich ließe

den Kanut nicht durch seine gemißbrauchte Güte umkommen; ich

ließ' ihn plötzlich durch den Donner erschlagen, oder durch den ein­ stürzenden Palast zerschmettert werden? ohne Mitleid!

Warum?

Entsetzen und Abscheu

Weil nicht der geringste Zusammenhang

zwischen seiner Güte und dem Donner, oder dem einstürzenden Palast, zwischen seiner Vollkommenheit und seinem Unglücke ist.

Es sind beides zwei verschiedene Dinge, die nicht eine einzige ge­ meinschaftliche Wirkung, dergleichen das Mitleid ist, hervorbringen

können, sondern deren jedes für sich selbst wirkt. — Ein ander Exempel!

Gedenken Sie an den alten Vetter,

im Kaufmann

wenn ihn Barnwell ersticht,

entsetzen sich die

von London; Zuschauer,

ohne mitleidig zu sein, weil der

gute Charakter des

Alten gar nichts enthält, was den Grund zu diesem Unglück ab­

geben könnte.

Sobald

man ihn

aber für

seinen Mörder und

Vetter noch zu Gott beten hört, verwandelt sich das Entsetzen in

ein recht entzückendes Mitleiden, und zwar ganz natürlich, weil diese großmütige That aus Grund in demselben hat. Lessing, Werke. XII.

seinem Unglücke fließet

und ihren

9

130

Auswahl aus den Briefen von Lessing. Und nun bin ich es endlich müde, mehr zu schreiben, nachdem

Sie es ohne Zweifel schon längst müde gewesen sind, mehr zu Ihre Abhandlung von der Wahrscheinlichkeit habe ich mit

lesen.

recht großem Vergnügen

gelesen;

wenn ich sie noch ein paarmal

werde gelesen haben, hoffe ich, Sie so weit zu verstehen, daß ich

Sie um einige Erläuterungen fragen kann. solchen Dingen so gut schwatzen

ließe,

Wenn es sich von

wie von der Tragödie!

Ihre Gedanken von dem Streite der untern und obern Seelen­

kräfte laffen Sie ja mit das erste sein, was Sie mir schreiben. Ich empfehle Ihnen dazu meine Weitläuftigkeit, die sich wirklich ebenso gut zum Vortrage wahrer,

als zur Auskramung

vielleicht

falscher Sätze schickt. Bitten Sie doch den Herrn Nicolai in meinem Namen, mir

mit ehestem denjenigen Teil von Cibbers Lebensbeschreibung der

englischen Dichter zu schicken, in welchem Drydens Leben steht.

Ich brauche ihn. Leben Sie wohl, liebster Freund, und werden Sie nicht müde, mich zu bessern, so werden Sie auch nicht müde werden, mich zu

Lessing.

lieben. N. S.

Damit dieser Brief ja alle Eigenschaften eines un­

ausstehlichen Briefs habe, so will ich ihn auch noch mit einem

P. S. versehen.

Sie haben sich schon zweimal auf die

griechischen Bildhauer-

berufen, von welchen Sie glauben, daß sie ihre Kunst besser ver­ standen hätten, als die griechischen Dichter.

Lesen Sie den Schluß

des sechzehnten Hauptstücks der Aristotelischen Dichtkunst, und sagen

Sie mir alsdann, ob den Alten die Regel von der Verschönerung der Leidenschaften unbekannt gewesen sei.

Der Held ist in der Epopöe unglücklich, und ist auch in der Tragödie unglücklich.

Aber auf die Art, wie er es in der einen

ist, darf er es nie in der andern sein.

Ich kann mich nicht er­

innern, daß ich die Verschiedenheit dieser Arten irgendwo gehörig

bestimmt gefunden hätte.

Das Unglück des Helden in der Epopöe

muß keine Folge aus dem Charakter desselben sein, weil es sonst, nach meiner obigen Anmerkung, Mitleiden erregen würde; sondern

es

muß ein

Unglück des

Verhängnisses und Zufalls

sein,

an

131

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

welchem seine guten oder bösen Eigenschaften keinen Teil haben. Fato proiugus, sagt Virgil von seinem Äneas. Bei der Tra­ gödie ist es das Gegenteil, und aus dem £bip zum Exempel wird

nimmermehr

ein Heldengedicht

werden,

und

wer eins daraus

machen wollte, würde am Ende weiter nichts als ein Trauerspiel

in Büchern

gemacht

Tenn

haben.

beiden Tichtungsarten

es wäre

elend,

wenn diese

keinen wesentlichern Unterschied, als den

beständigen oder durch die Erzählung des Dichters unterbrochenen Dialog, oder als Aufzüge und Bücher haben sollten. Wenn Sie Ihre Gedanken von der Illusion mit dem Herrn

DHcotai aufs Reine bringen werden, so vergessen Sie ja nicht, daß

die ganze Lehre von der Illusion eigentlich den dramatischen Dichter nichts angeht, und die Vorstellung seines Stücks das Werk einer

andern Kunst, als der Dichtkunst, ist.

Das Trauerspiel muß auch

ohne Vorstellung und Akteurs seine völlige Stärke behalten, und diese bei dem Leser zu äußern, braucht sie nicht mehr Illusion als jede andre Geschichte.

Sehen Sie deswegen den Aristoteles noch

gegen das Ende des sechsten

und den Anfang des vierzehnten

Hauptstücks nach. Nun bin ich ganz fertig.

Leben Sie wohl!

An Moses Mendelssohn. Leipzig, den 2. Februar 1757.

Liebster Freund!

Ich

glaube es ebensowenig,

als Sie, daß wir bis jetzt in

unserm Streite viel weiter, als über die ersten Grenzen gekommen sind.

Haben Sie aber auch wirklich so viel Lust, als ich, sich

tiefer hinein zu wagen, und dieses unbekannte Land zu entdecken,

wenn wir uns auch hundertmal vorher verirren sollten?

warum zweifle ich daran?

Doch

Wenn Sie es auch nicht aus Neigung

thäten, so würden Sie es aus Gefälligkeit für mich thun.--------Ihre Gedanken von der Herrschaft über die Steigungen, von

der Gewohnheit, von der anschauenden Erkenntnis sind vortrefflich,

Sie haben mich so überzeugt, daß ich mir auch nicht einmal einen

132

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

logischen Fechter st reich dawider übrig gelassen finde.

Warum

kann ich von Ihren Gedanken über die Illusion nicht eben das sagen!

Hören Sie meine Zweifel dagegen; aber machen Sie sich

gefaßt, eine Menge gemeiner Dinge vorher zu lesen, ehe ich dar­ auf kommen kann. Über das Wort werde ich Ihnen keine

Schwierigkeiten machen. Darin sind wir doch wohl einig, liebster Freund, daß alle Leidenschaften

entweder

scheuungen sind?

heftige Begierden

Auch darin:

oder heftige

Verab­

daß wir uns bei jeder heftigen

Begierde oder Verabscheuung, eines größern Grads unsrer Realität

bewußt sind, und daß dieses Bewußtsein nicht anders als ange­ nehm sein kann?

Folglich sind alle Leidenschaften, auch die aller-

unangenehnlsten, als Leidenschaften angenehm.

Ihnen darf ich es

aber nicht erst sagen: daß die Lust, die mit der stärkern Bestim­

mung unsrer Kraft verbunden ist, von der Unlust, die wir über

die Gegenstände haben, worauf die Bestimmung unsrer Kraft geht, so unendlich kann überwogen werden, daß wir uns ihrer gar nicht

mehr bewußt sind.

Alles, was ich hieraus folgere, wird aus der Anwendung auf das Aristotelische Exempel von der gemalten Schlange am deutlich­

sten erhellen.

Wenn wir eine gemalte Schlange plötzlich

erblicken, so gefällt sie uns desto besser, je heftiger wir darüber erschrocken sind.

Dieses erkläre ich so: Ich erschrecke über die so wohlgetroffne Schlange, weil ich sie für eine wirkliche halte.

Der Grad dieses

Schreckens, als eine unangenehme Leidenschaft, oder vielmehr der

Grad der Unlust, die ich über diesen schrecklichen Gegenstand em­

pfinde, sei 10; so kann ich den Grad der Lust, die mit der Em­ pfindung der Leidenschaft verbunden ist, 1 nennen, oder 10, wenn

jener zu 100 wüchse.

Indem ich also 10 empfinde, kann ich nicht

1 empfinden, das ist, so lange als ich die Schlange für eine wirk­

liche halte, kann ich keine Lust darüber empfinden.

Nun werbe

ich aber auf einmal gewahr, daß es keine wirkliche Schlange, daß es ein bloßes Bild ist:

was

geschieht?

schrecklichen Gegenstand — 10 fällt übrig,

als die Lust,

weg,

Die Unlust über den und es bleibt nichts

die mit der Leidenschaft,

als einer bloßen

stärkern Bestimmung unsrer Kraft, verbunden ist; 1 bleibt übrig,

133

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

das ich nunmehr empfinde, und in dem Grade 8 oder 10 empfinden kann, wenn jener Grad, anstatt 10, 80 oder 100 gewesen ist.

Wozu brauchen wir nun hier die Illusion?

Lassen Sie mich

meine Erklärung auch an einen: entgegengesetzten Exempel ver­

suchen, um ihre Nichtigkeit desto ungezweifelter darzulegen.--------

Dort in der Entfernung werde ich das schönste, holdseligste Frauen­ zimmer gewahr, das mir mit der Hand auf eine geheimnisvolle

Ich gerate in Affekt, Verlangen, Liebe,

Art zu winken scheint.

Bewunderung, wie Sie ihn nennen wollen.

Hier kömmt also die

Lust über den Gegenstand — 10 mit der angenehmen Empfindung des Affekts = 1 zusammen, und die Wirkung von beiden ist = 11.

Nun gehe ich darauf los.

Himmel!

Es ist nichts als ein Ge­

Nach Ihrer Erklärung, liebster Freund,

mälde, eine Bildsäule!

sollte nunmehr das Vergnügen desto größer sein, weil mich der

Affekt von der Vollkommenheit der Nachahmung intuitiv überzeugt

Aber das ist wider alle Erfahrung; ich werde vielmehr ver­

hat.

drießlich; und warum werde ich verdrießlich?

Die Lust über den

vollkommnen Gegenstand fällt weg, und die angenehme Empfin­

dung des Affekts bleibt allein übrig. Folge

b).

Daher

gefallen

Affekte in der Nachahmung. zornig rc.

Ich komme auf Ihre zweite

uns

alle

unangenehmen

Der Musikus kann uns

Hierwider sage ich: Die unangenehmen Affekten in der

Nachahmung gefallen deswegen, weil sie in uns ähnliche Affekten

erwecken, die auf keinen gewissen Gegenstand gehen.

Der Musikus

macht mich betrübt; und diese Betrübnis ist mir angenehm, weil ich diese Betrübnis bloß als Affekt empfinde, und jeder Affekt an­

genehm ist.

Denn setzen Sie den Fall, daß ich während dieser

musikalischen Betrübnis

wirklich

an etwas Betrübtes

denke, so

fällt das Angenehme gewiß weg.

Ein Exempel aus der Körperwelt!

Es ist bekannt, daß wenn

man zwei Saiten eine gleiche Spannung giebt, und die eine durch die Berührung ertönen läßt, die andre mit ertönt, ohne berührt zu sein.

Lassen Sie uns den Saiten Empfindung geben, so können

wir annehmen,

daß ihnen zwar eine jede Bebung,

aber nicht

eine jede Berührung angenehm sein mag, sondern nur diejenige Berührung, die eine gewisse Bebung in ihnen hervorbringt.

Die

erste Saite also, die durch die Berührung erbebt, kann eine schmerz-

134

Auswahl aus den Briefen von Lessing.

liche Empfindung haben; da die andre, der ähnlichen Erhebung ungeachtet, eine angenehme Empfindung hat, weil sie nicht (we­ nigstens nicht so unmittelbar) berührt worden.

Also auch in dem

Die spielende Person gerät in einen unangenehmen

Trauerspiele.

Affekt, und ich mit ihr.

Aber warum ist dieser Affekt bei mir

Weil ich nicht die

spielende Person selbst bin, auf

welche die unangenehme Idee

unmittelbar wirkt, weil ich den

angenehm?

Affekt nur als Affekt empfinde, ohne einen gewissen unangenehmen Gegenstand dabei zu denken. Dergleichen zweite Affekten aber, die bei Erblickung solcher

Affekten an andern, in mir entstehen, verdienen kaum den Namen der Affekten; daher ich denn in einem von meinen ersten Briefen schon gesagt habe, daß die Tragödie eigentlich keinen Affekt bei

uns rege mache, als das Mitleiden.

pfinden

Denn diesen Affekt em­

nicht die spielenden Personen, und wir empfinden ihn

nicht bloß, weil sie ihn empfinden, sondern er entsteht in uns ur­ sprünglich aus der Wirkung der Gegenstände auf uns; es ist kein zweiter mitgeteilter Affekt rc. Ich hatte mir vorgenommen, diesem Brief eine ungewöhnliche

Länge zu geben, allein ich bin seit einigen Tagen so unpaß, daß es mir unmöglich fällt, meine Gedanken beisammen zu behalten.

Ich muß also hier abbrechen, und erst von Ihnen erfahren, ob Sie ungefähr sehen, wo ich hinaus will; oder ob ich nichts als verwirrtes Zeug in diesen Brief geschrieben meiner

außerordentlichen Beklemmung

habe, welches bei

der Brust

(so

muß ich

meine Krankheit unterdessen nennen, weil ich noch keinen Arzt um

den griechischen Namen gefragt habe) gar leicht möglich gewesen ist.

Ich schreibe nur noch ein paar Worte von der Bibliothek. Es ist mir wegen des Verlegers ein unvermuteter verdrießlicher begegnet.

Erschrecken Sie aber nur nicht, mein

lieber Nicolai, ich habe

dem Unglück schon wieder abgeholfen.

Streich

damit

Lankischens drucken sie nicht; beruhigen Sie aber nur Ihre Neu­

gierde bis auf den nächsten Posttag, da Sie den Kontrakt des neuen Verlegers zur Unterschrift bekommen, und gewiß damit zu­ frieden sein sollen.

Leben Sie beide wohl; sobald ich besser bin, werde ich Herrn Nicolai einen langen Brief über verschiedene Punkte in seiner Ab-

135

Auswahl aus den Briefen von Lessing. Handlung schreiben, die mir,

ohne auf meine eigentümlichen

Grillen zu sehen, außerordentlich gefallen hat.

Ihren Aufsatz von der Herrschaft über die Neigungen erhalten Ich habe ihn abschreiben lassen.

Sie hier nach Verlangen zurück.

Leben Sie nochmals wohl; ich bin Zeitlebens der Ihrige

Lessing.

Leipzig, den 2. April 1757. Mein lieber Nicolai,

Ich hatte mich vorigen Posttag mit beiliegendem Briefe zu lange verweilt; er blieb daher liegen, und Sie bekommen jetzt zwei für einen.

Auch bekommen Sie zwei Aushängebogen für einen,

und können folglich mit meiner Verzögerung gar wohl zufrieden sein.

Ich will auch jetzt anfangen, mein Versprechen zu halten,

und Ihnen einige fernere Anmerkungen über Ihre Abhandlung Ich werde alles schreiben, was

von dem Trauerspiele mitteilen.

mir in die

Gedanken kömmt,

gesetzt

auch,

daß vieles

falsch,

und alles sehr trocken wäre.

Zu S. 18. wo Sie die Aristotelische Erklärung des Trauerspiels anführen.

Furcht und Mitleiden. warum

Können Sie mir nicht

sowohl Dacier als Curtius

gleich bedeutende Worte nehmen?

sagen,

Schrecken und Furcht

für

Warum sie das Aristotelische

qroftoc, welches der Grieche durchgängig braucht, bald durch das

eine, bald

durch das andre übersetzen?

Es sind doch wohl zwei

verschiedne Dinge, Furcht und Schrecken?

Und wie, wenn sich

das ganze Schrecken, wovon man nach den falsch verstandenen Ari­ stotelischen Begriffen bisher so viel geschwatzt, auf weiter nichts, als auf diese schwankende Übersetzung gründete? Lesen Sie, bitte

ich, das zweite und achte Hauptstück des zweiten Buchs der Ari­ stotelischen Rhetorik: denn das muß ich Ihnen beiläufig sagen,

ich kann mir nicht einbilden, daß einer, der dieses zweite Buch und die ganze Aristotelische Sittenlehre an den Nikomachus nicht

Auswahl aus den Briefen von Lessing,

136

gelesen

hat, die Dichtkunst dieses Weltweisen verstehen

Aristoteles

könne.

welches Herr Curtius am

erklärt das Wort