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German Pages 321 [328] Year 1890
Lessings Werke. Zwölfter Band.
Stuttgart. G. I. Göschen'sche Berlagshandlung.
Druck der Hoffmann'schen Buchdruckerei in Stuttgart.
Seite
Ernst und Falk.
Gespräche für Freimaurer.
1778—1780.
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Widmung............................................................................................ 3 Vorrede eines Dritten 3 Erstes Gespräch 4 Zweites Gespräch........................................................................................ 10 Drittes Gespräch........................................................................................ 20 Fortsetzung. Vorrede eines Dritten......................................................27 Viertes Gespräch........................................................................................ 28 Fünftes Gespräch........................................................................................ 36 Nachricht......................................................................................................... 45 Die Erziehung des Menschengeschlechts.
1780.
.
.
47
Einleitung................................................................................................... 49 Vorbericht des Herausgebers................................................................. 51 §§ 1—100 . ...............................................................................................52
Auswahl aus den Briefen von Leffing...................... 77
Ernst und Falk.
Gespräche für Freimimrer.
Seiner Durchlaucht dem Herzoge Ferdinand. Durchlauchtigster Herzog,
Auch ich war an der Quelle der Wahrheit, und schöpfte. Wie tief ich geschöpft habe, kann nur der beurteilen, von beut
ich die Erlaubnis erwarte, noch tiefer zu schöpfen. — Das Volk lechzet schon lange und vergehet vor Durst. — Ew. Durchlaucht untertänigster Knecht
Borrede eines Dritten. Wenn nachstehende Blätter die wahre Ontologie der Freimäurerei nicht enthalten: so wäre ich begierig zu erfahreit,
in welcher von den unzähligen Schriften, die sie veranlaßt
hat, ein mehr bestimmter Begriff von ihrer Wesenheit ge geben werde.
Wenn aber die Freimäurer alle, von welchem Schlage sie auch immer sein mögen, gern einräumen werden, daß der
hier angezeigte Gesichtspunkt der einzige ist, aus welchem — sich nicht einem blöden Auge ein bloßes Phantom zeigt, —
sondern gesunde Augen eine wahre Gestalt erblicken: so dürfte nur noch die Frage entstehen: warum man nicht längst so deut
lich mit der Sprache herausgegangen sei?
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Ernst und Falk.
Auf diese Frage wäre vielerlei zu antworten.
Doch wird
man schwerlich eine andere Frage finden, die mit ihr mehr Ähnlichkeit habe, als die: warum in dem Christentume die
systematischen Lehrbücher so spät entstanden find? roarunt es so viele und gute Christen gegeben hat, die ihren Glauben aus
eine verständliche Art weder angeben komkten, noch wollten?
Auch wäre dieses im Christentume noch immer zu früh
geschehen, indem der Glaube selbst vielleicht wenig dabei ge wonnen: wenn sich Christen nur nicht hätten einfallen lassen, ihn auf eine ganz widersinnige Art allgeben zu wollen.
Man mache hiervon die Anwendung selbst.
Erstes Gespräch. Ernst. Woran denkst du. Freund?
Kalk. An nichts.
Ernst. Aber du bist so still. Kalk. Eben darum.
Wer deilkt, wenn er genießt? Und
ich genieße des erquickeilden Morgens.
Ernst. Du hast recht; und du hättest mir meine Frage nur zurückgeben dürfen. Kalk. Wenn ich an etwas dächte, würde ich darüber sprechen.
Nichts geht über das laut denken mit einem Freunde.
Ernst. Gewiß.
Kalk. Hast d u des schönen Morgens schon genug genossen;
fällt dir etwas ein; so sprich du.
Mir fällt nichts ein.
Ernst. Gut das! — Mir fällt ein, daß ich dich schon längst
um etwas fragen wollen. Kalk. So frage doch. Ernst. Ist es wahr. Freund, daß du ein Freimäurer bist?
Kalk. Die Frage ist eines der keiner ist.
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Erstes Gespräch.
Ernst. Freilich! — Aber antworte mir gerader zu. — Bist du ein Freimaurer? Talk. Ich glaube es zu sein.
Ernst. T ie Antwort ist eines, der seiner Lache eben nicht gewiß ist. Talk. £ doch!
Ich bin meiner Lache so ziemlich gewiß.
Ernst. Denn du wirst ja wobt wissen, ob und wann und wo und von wem du ausgenommen morden.
Talk. Das weiß ich allerdings; aber das würde so viel nicht sagen wollen.
Ernst. Nicht? Kalk. Wer nimmt nicht auf, und wer wird nicht aus
genommen !
Ernst. Erkläre dich. Kalk. Ich glaube ein Freimaurer zu fein; nicht sowohl,
weil ich von älteren Mauren« in einer gesetzlichen Loge aus genommen worden: sondeni weil ich einsehe und erkenne, was
und warum die Freimäurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie und wodurch sie besördert oder gehindert wird.
Ernst. Und drückst dich gleichwohl so zweifelhaft aus? —
Ich glaube einer zu sein! Kalk. Dieses Ausdrucks bin ich mm so gewohnt. Nicht zwar, als ob ich Mangel an eigner Überzeugung hätte: sondem
weil ich nicht gerne mich jemanden gerade in den Weg stellen mag. Ernst. Du antwortest mir als einem Fremden.
Kalk. Fremder oder Freund! Ernst. Dir bist ausgenommen, du weißt alles--------
Kalk. Andere sind auch ausgenommen, und glauben zu wissen. Ernst. Könntest
du
denn
ausgenommen sein,
ohne zu
wissen, was du weißt?
Kalk. Leider!
Ernst. Wie so? Kalk. Weil viele, welche aufnehmen, es selbst nicht wissen;
die wenigen aber, die es wissen, es nicht sagen können.
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Emst und Falk.
Ernst. Und könntest du denn wissen, was du weißt, ohne
ausgenommen zu sein? Kalk. Warum nicht? — Die Freimaurerei ist nichts Will
kürliches, nichts Entbehrliches: sondem etwas Notwendiges,
das in dem Wesen des Menschen und der biirgerlichen Gesell-
schast gegründet ist.
Folglich mutz man auch durch eignes
Nachdenken ebensowohl darauf verfallen können, als man durch Anleitung darauf gesühret wirb. «rüst. Tie Freimaurerei wäre nichts Willkürliches? —
Hat sie nicht Worte und Zeichen und Gebräuche,
welche alle
aitders sein könnten, und solglich willkürlich sind?
$olk. Das hat sie.
Aber diese Worte und diese Zeichen
und diese Gebräuche sind nicht die Freimäurerei.
Ernst. Die Freimäurerei wäre llichts Entbehrliches? — Wie machten es denn die Menschen,
als die Freimäurerei
noch nicht war?
Kalk. Die Freimäurerei war immer.
Ernst. Nun was ist sie denn, diese notwendige, diese un entbehrliche Freimäurerei?
Kalk. Wie ich dir schon zu verstehen gegeben: — etwas,
das selbst die, die es wissen, ilicht sagen können.
Ernst. Also ein Unding. Kalk. Übereile dich nicht. Ernst. Wovon ich einen Begriff habe, das kann ich auch
mit Worten ausdrücken. Kalk. 'Nicht immer; und oft wenigstens nicht so, daß andre
durch die Worte vollkommen eben denselben Begriff bekommen, den ich dabei habe.
Ernst. Wenn nicht vollkommen eben denselben, doch einen etwanigen.
Kalk. Der ctwanige Begriff wäre hier unnütz oder ge
fährlich.
Unnütz, wenn er nicht genug; und gefährlich, wenn
er das Geringste zu viel enthielte. Ernst. Sonderbar! — Da
also
selbst die Freimäurer,
7
Erstes Gespräch.
welche das Geheimnis ihres Ordens wissen, es nicht wörtlich
mitteilen können, wie breiten sie denn gleichwohl ihren Orden aus ?
Kalk. Durch Thaten. — Sic lassen gute Männer und
Jünglinge,
die sie ihres
nähern Umgangs würdigen, ihre
Thaten vermuten, erraten, — sehen, soweit sie zu sehen sind;
diese finden Geschmack daran, und thun ähnliche Thaten. Ernst. Thaten? Thaten der Freimäurer?— Ich kenne
keine ändere, als ihre Reden und Lieder, die meistenteils schöner gedruckt, als gedacht und gesagt sind.
Kalk. Tas haben sie mit mehrern Reden und.Siebern
gemein. Ernst. Oder soll ich das für ihre Thaten nehmen, was sie in diesen Reden und Siebern von sich rühmen?
Kalk. Wenn sie es nicht bloß von sich rühmen.
Ernst. Und was rühmen sie denn von sich? — Sauter Dinge, die man von jedem guten Menschen, von jedem rechtschafjnen Bürger erwartet. — Sie sind so freundschaftlich, so
gutthätig, so gehorsam, so voller Vaterlandsliebe! Kalk. Ist denn das nichts?
Ernst. Nichts! — um sich dadurch von andern Menschen
auszusondem. — Wer soll das nicht sein? Kalk. Soll!
Ernst. Wer hat, dieses zu sein, nicht, auch , außer der
Freimäurerei, Antrieb und Gelegenheit genug? Kalk. Aber doch in ihr, und durch sie, eitlen Antrieb mehr. Ernst. Sage mir nichts von der Menge der Antriebe.
Lieber einem einzigen Alltriebe alle nlögliche intensive Kraft
gegebeil! — Die Menge solcher Alltriebe ist wie die Menge der Räder in einer Maschine.
Je mehr Räder: desto wandel
barer. Kalk. Ich kann dir das nicht widersprechen.
Ernst. Und was für einen Antrieb mehr! — Der alle andre Antriebe verkleinert, verdächtig macht!
den stärksten und besten auSgiebt!
sich selbst für
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Ernst und Falk. Kalk. Freund, sei billig! — Hyperbel, Quidproguo jener
schalen Reden und Lieder! Probewerk! Jüngerarbeit!
Ernst. Das will sagen: Bruder Redner ist ein Schwätzer. Kalk. Das will nur sagen: was Bruder Redner an den Freimaurern preiset, das sind nun sreilich ihre Thaten eben
nicht.
Denn Bruder Redner ist wenigstens kein Plauderer;
und Thatm sprechen von selbst. Ernst. Ja, nun merke ich worauf du zielest.
Wie konnten
sie mir nicht gleich einfallen diese Thaten, diese sprechenden Thatm.
Richt genug,
Fast möchte ich sie schreiende nennen.
daß sich die Freimäurer einer den andem unterstützen, auf das kräftigste unterstützen: denn das wäre nur die notwendige Eigenschaft
einer
jeden
Bande.
Was
thun
das gesamte Publikum eines jeden Staats,
sie nicht
für
dessen Glieder
sie sind! Kalk. Zum Exempel? — Damit ich doch höre, ob du auf
der rechten Spur bist.
Ernst. Z. E. die Freimäurer in Stockholm! — Haben sie nicht ein großes Findelhaus errichtet?
Kalk. Wmn die Freimäurer in Stockholm sich nur auch
bei einer andern Gelegenheit thätig erwiesen haben.
Ernst. Bei welcher andern? Kalk. Bei sonst andern; meine ich.
Ernst. Und die Freimäurer in Dresden! die arme junge Mädchen
mit Arbeit beschäftigen,
sie
klöppeln
und
sticken
lassen, damit das Findelhaus nur kleiner sein dürfe. Kalk. Ernst! Du weißt wohl, wem, ich dich deines Namens
erinnere.
Ernst. Ohne alle Glossen dann. — Und die Freimäurer in Braunschweig! die arme fähige Knaben im Zeichnen unter
richten lassen. Kalk. Warum nicht?
Ernst. Und die Freinläurer in dowsche Philanthropin unterstützen.
Berlin! die das Base
Erstes Gespräch.
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Tolk. Was sagst du? — Tie Freimaurer? Das Philanthropin? unterstützen? — Wer hat dir das aufgebunden?
Ernst. Die Zeitung hat es auSposaunet. Tolk. Die Zeitung! — Da müßte ich Basedows eigen händige Quittung sehen.
Und müßte gewiß sein, daß die
Quittung nicht an Freimaurer in Berlin, sondern an die
Freimaurer gerichtet wäre.
Ernst. Was ist das? — Billigest du denn Basedows In stitut nicht?
Tolk. Ich nicht? Wer kann es mehr billigen? Ernst. So wirst du ihm ja diese Unterstützung nicht mißgönnen?
Tolk. Mißgönnen? — Wer kann ihm alles Gute mehr gönnen, als ich?
Ernst. Nun dann! — Du wirst mir unbegreiflich. Talk. Ich glaube wohl. Dazu habe ich unrecht. — Denn auch die Freimaurer können etwas thun, was sie nicht als
Freimaurer thun.
Ernst. Und soll das von allen auch ihren übrigen guten Thaten gelten?
Talk. Vielleicht! — Vielleicht, daß alle die guten Thaten, die du mir da genannt hast, um mich eines scholastischen Aus druckes, der Kürze wegen, zu bedienen, nur ihre Thaten ad extra sind.
Ernst. Wie meinst du das? Talk. Nur ihre Thaten, die dem Volke in die Augen sallen; — nur Thaten, die sie bloß deswegen thun, damit sie
dem Volk in die Augen fallen sollen.
Ernst. Um Achtung und Duldung zu genießen? Talk. Könnte wohl sein. Ernst. Aber ihre wahre Thaten denn? — Du schweigst? Talk. Wenn ich dir nicht schon geantwortet hätte? — Ihre wahre Thaten sind ihr Geheimnis.
Ernst. Ha! Ha! Also auch nicht erklärbar durch Worte?
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Ernst und Falk.
Kalk. Nicht wohl! — Nur soviel kann und darf ich dir
sagen: die wahren Thaten der Freimaurer sind so gross, so
weit aussehend, daß ganze Jahrhunderte vergehen können, ehe man sagen kann: das haben sie gethan! Olleichwohl haben sie alles Gute gethan, was noch in der Welt ist, — merke wohl:
in der Welt! — Und fahren fort, an alle dem Guten zu arbeiten, was noch in der Welt werden wird, — merke wohl,
in der Welt. Ernst. O geh'! Du haft mich zum besten. Kalk. Wahrlich nicht. — Aber sieh! dort fliegt ein Schmetter
ling, den ich haben muß.
Es ist der von der Wolfsmilch
raupe. — Geschwind sage ich dir nur noch: die wahrett Thaten der Freimaurer zielen dahin, um größtenteils alles, was man
gemeiniglich gute Thaten zu nennen pflegt, entbehrlich zu machen. Ernst. Und sind doch auch gute Thaten.
Kalk. Es kann keine bessere geben. — Denke einen Augen
blick darüber nach.
Ich bin gleich wieder bei dir.
Ernst. Gute Thaten, welche daraus zielen, gute Thaten
entbehrlich zu machen? — Das ist ein Rätsel.
Und über ein
Rätsel denke ich nicht nach. — Lieber lege ich mich indes unter
den Baum, und sehe Bett Ameisen zu.
Zweites Gespräch. Ernst. Nun? wo bleibst du denn? Und hast den Schmetter
ling doch nicht? Kalk. Er lockte mich von Strauch zu Strauch, bis an
den Bach. — Auf einmal war er herüber.
Ernst. Ja, ja.
Es giebt solche Locker!
Kalk. Hast du nachgedacht? Ernst. Über was? Über dein Rätsel? — Ich werde ihn
auch nicht fangen, den schönen Schmetterling!
Darum soll er
11
Zweites Gespräch.
mir aber auch weiter keine Mühe machen. — Einmal von der Freimaurerei mit dir gesprochen, und nie wieder
Denn ich
sehe ja wohl; du bist, wie sie alle. Kalk. Wie sie alle? Das sagen diese alle nicht. Ernst. Nicht? 3o giebt eS ja wohl auch Ketzer unter den
Freimäurern? Und du wärest einer. — Doch alle Ketzer haben mit den Rechtgläubigen immer noch etwas gemein.
Und davon
sprach ich.
Talk. Wovon sprachst du? Ernst. Rechtgläubige oder ketzerische Freimäurer — sie alle
spielen mit Worten, und lassen sich fragen, und antworten
ohne zu antworte«. Kalk. Meinst du? — Nun wohl, so laß uns von etwas anderm reden.
Denn einmal hast du mich aus dem behäg«
licheu Zustande des stummen Staunens gerissen —
Ernst. Nichts ist leichter, als dich in diesen Zustand wieder zu versetzen — Laß dich nur hier bei mir nieder, und sieh!
Talk. Was denn? Ernst. Das Leben uitd Weben auf und in und um diesen
Ameisenhaufeit. nung!
Welche Geschäftigkeit, und doch welche Ord
Alles trägt und fchleppt und schiebt; und keines ist
dem atrdern hinderlich.
Sieh nur! Sie helfen einander sogar.
Talk. Die Ameisen leben in Gesellschaft, wie die Bienen.
Ernst. Und in einer noch wunderbaren: Gesellschaft als die Bienen.
Denn sie haben niemand unter sich, der sie zu-
sanimenhält und regieret. Talk. Ordnung muß also doch auch ohne Regierung be stehen köniren. Ernst. Wenn jedes einzelne sich selbst zu regieren weiß:
warum nicht?
Talk. Ob es wohl auch einmal mit den Menschen dahin kommet» wird? Ernst. Wohl schwerlich!
Talk. Schade!
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Ernst und Falk. Ernst. Jawohl! Kalk. Steh' auf, uud laß uns gehen.
Denn sie werden
dich bekriechen, die Ameisen; und eben fällt auch mir etwas bei, was. ich bei dieser Gelegenheit dich doch fragen muß. —
Ich kenne deine Gesinnungen darüber noch gar nicht.
Ernst. Worüber? Kalk. Über die bürgerliche Gesellschaft des Menschen über haupt. — Wofür hältst du sie?
Ernst. Für etwas sehr Gutes. Kalk. Unstreitig. — Aber hältst du sie für Zweck, oder für Mittel? Ernst. Ich verstehe dich nicht.
Kalk. Glaubst du, daß die Menschen für die Staaten er schaffen werden? Oder daß die Staaten fiir die Menschen sind? Ernst. Jenes scheinen einige behaupten zu wollen.
Dieses
aber mag wohl das Wahrere sein. Kalk. So denke ich auch. — Die Staateir vereinigen die
Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch feinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sichrer genießen könne. — Das Totale der einzeln Glückselig-
keiteir aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staats.
dieser giebt es gar keine.
Außer
Jede andere Glückseligkeit des Staats,
.bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden, und leiden
müssen, ist Bemäntelung der Tyrannei.
Anders nichts!
Ernst. Ich möchte das nicht so laut sagen. Kalk. Warum nicht?
Ernst. Eine Wahrheit, die jeder nach seiner eignen Lage beurteilet, kann leicht gemißbraucht werden.
Kalk. Weißt du. Freund, daß du schon ein halber Freimäurer bist?
Ernst. Ich? Kalk. Tu.
Denn du erkennst ja schon Wahrheiten, die
uian besser verschweigt. Ernst. Aber doch sagen könnte.
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Zweites Gespräch.
Kalk. Der Weise kann nicht sagen, was er besser verschweigt.
Ernst. Nun, wie du willst! — Laß uns aus die Frei maurer nicht wieder zurückkommen.
Ich mag ja von ihnen
weiter nichts wissen. Kalk. Verzeih'!
Du siehst wenigstens meine Bereitwillig
keit, dir mehr von ihnen zu sagen.
Ernst. Du spottest.--------- Gut! das bürgerliche Leben des Menschen, alle Staatsverfassungen sind nichts als Mittel zur menschlichen Glückseligkeit.
Was weiter?
Kalk. Nichts als Mttel! Und Mittel menschlicher Erfin
dung; ob ich gleich nicht leugnen will, daß die Natur alles so eingerichtet, daß der Mensch sehr bald auf diese Erfindung
geraten müsse.
Ernst. Dieses hat denn auch wohl gemacht, daß einige die bürgerliche Gesellschaft für Zweck der Natur
gehalten.
Weil alles, unsere Leidenschaften und unsere Bedürfnisse, alles darauf führe, sei sie folglich das Letzte, worauf die Natur
gehe.
So schlossen sie.
Als ob die Natur nicht auch die
Mittel zweckmäßig hervorbringen müssen.
mehr die Glückseligkeit
eines
Als ob die Natur
abgezogenen Begriffs — wie
Staat, Vaterland und dergleichen sind — als die Glückselig keit jedes wirklichen einzeln Wesens zur. Absicht gehabt hätte! Kalk. Sehr gut! entgegen.
Du kömmst mir auf dem rechten Wege
Denn nun sage mir; wenn die Staatsverfassungen
Mittel, Mittel menschlicher Erfindungen sind: sollten sie allein
von dem Schicksale menschlicher Mittel ausgenommen sein? Ernst. Was nennst du Schicksale menschlicher Mittel?
Kalk. Das, was unzertrennlich mit menschlichen Mitteln verbunden ist;
was sie von göttlichen unfehlbaren Mitteln
unterscheidet. Ernst. Was ist das?
Kalk. Daß sie nicht unfehlbar sind.
Daß sie ihrer Absicht
nicht allein öfters nicht entsprechen, sondern auch wohl gerade
das Gegenteil davon bewirken.
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Ernst und Falk.
Ernst. Ein Beispiel! wenn dir eines einfällt.
Falk. So sind Schiffahrt und Schiffe Mittel in entlegene
Länder zu kommen; und werden Ursache, daß viele Menschen nimmermehr dahin gelangen.
Ernst. Die nämlich Schiffbruch leiden und ersaufen.
Nun
glaube ich dich zu verstehen. — Aber man weiß ja wohl, wo
her es kömmt, wenn so viel einzelne Menschen durch die Staats verfassung
an
ihrer
Glückseligkeit
Staatsverfassungen sind viele;
nichts
gewinnen.
eine ist also besser
Der als
die
andere; manche ist sehr fehlerhaft, mit ihrer Absicht offenbar streitend; und die beste soll vielleicht noch erfunden werden.
Falk. Das ungerechnet! Setze die beste Staatsversassung, die sich nur
denken
läßt,
schon erfunden;
setze,
daß
alle
Menschen in der ganzen Welt diese beste Staatsversaffung an
genommen haben: meinst du nicht, daß auch dann noch, selbst aus dieser besten Staatsversaffung, Dinge entspringen muffen, welche der menschlichen Glückseligkeit
höchst nachteilig
sind,
und wovon der Mensch in dem Stande der Statur schlechter
dings nichts gewußt hätte?
Ernst. Ich meine: wenn dergleichen Dinge aus der besten
Staatsversaffung entsprängen, daß es sodann die beste Staate*
Verfassung nicht wäre. Falk. Und eine bessere möglich wäre? — Nun, so nehme
ich diese bessere als die beste an: und frage das nämliche. Ernst. Du scheinest mir hier bloß von vomeherein aus
dem angenommenen Begriffe zu vernünfteln, daß jedes Mittel
menschlicher Erfindung, wofür du die Staatsverfassungen samt
und sonders erklärest, nicht anders als mangelhaft sein könne. Falk. Nicht bloß.
Ernst. Und es mürbe dir schwer werden, eines von jenen
nachteiligen Dingen zu nennen — Falk. Die auch aus der besten Staatsverfassung notwendig entspringen müssen? — O zehne für eines. Ernst. Nur eines erst.
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Zweites Gespräch.
Talk. Wir nehmen also Die beste Staatsverfassung für erfunden an; wir nehmen an, Daß alle Menschen in der Welt
in dieser besten Staatsversassung leben: würden deswegen alle Menschen in der Welt nur einen Staat ausmachen? Ernst. Wohl schwerlich.
Ein so ungeheurer Staat würde
keiner Verwaltung fähig fein.
Er müßte sich also in mehrere
kleine Staaten verteilen, die alle nach den nämlichen Gesetzen verwaltet würden. Kalk. Tas ist:
die Menschen würden auch dann noch
Deutsche und Franzosen, Holländer und Spanier, Russen und Schweden fein; oder wie sie sonst heißen würden.
Ernst. Ganz gewiß! Kalk. Nun da haben wir ja schon Eines.
Denn nicht
wahr, jeder dieser kleinen Staaten hätte fein eignes Inter esse?
und jedes Glied derselben hätte das Interesse feines
Staats?
Ernst. Wie anders? Kalk. Diese verschiedene Interesse würden öfters in Kolli sion kommen, so wie itzt: und zwei Glieder aus zwei ver
schiedenen Staaten würden einander ebensowenig mit unbe fangenem Gemüt begegnen können, als itzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer begegnet.
Ernst. Sehr wahrscheinlich! Kalk. Das ist: wenn itzt ein Deutscher einem Franzosen,
ein Franzose einem Engländer, oder umgekehrt, begegnet, so begegnet nicht mehr ein bloßer Mensch einem bloßen Menschen, die
vermöge
ihrer
gleichen Natur
gegeneinander angezogen
werden, sondern ein solcher Mensch begegnet einem solchen
Menschen, die ihrer verschiednen Tendenz sich bewußt sind, welches
sie
gegeneinander
kalt,
zurückhaltend,
mißtrauisch
macht, noch ehe sie für ihre einzelne Person das Geringste miteinander zu schaffen und zu teilen haben.
Ernst. Das ist leider wahr.
Kalk. -Nun so ist es beim auch wahr, daß das Mittel,
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Ernst und Falk.
welches die Menschen vereiniget, um sie durch diese Bereinigung
ihres Glückes zu versichern, die Menschen zugleich trennet. Ernst. Wenir du es so verstehest. Kalk. Tritt einen Schritt weiter.
Viele von beit kleinern
Staaten würden ein ganz verschiedenes Klima, folglich ganz
verschiedene Bedürfnisse uud Befriedigungen, folglich ganz ver
schiedene Gewohnheiten und Sitten, folglich ganz verschiedene
Sittenlehren, folglich ganz verschiedene Religionen haben. Meinst
du nicht? Ernst. Das ist ein gewaltiger Schritt! Kalk. Die Menschen würden auch dann noch Juden und
Christen und Türken und dergleichen sein. Ernst. Ich getraue mir nicht. Nein zu sagen.
Kalk. Würden sie das; so würden sie auch, sie möchten heißen, wie sie wollten, sich untereinander nicht anders verhalten,
als sich unsere Christen und Juden und Türken von jeher
untereinander verhalten haben.
Nicht als bloße Menschen
gegen bloße Menschen; sondern als solche Menschen gegen solche Menschen,
die sich
einen
gewissen
geistigen Vorzug
streitig machen, und daraus Rechte gründen, die dem natür
lichen Menschen nimmermehr einsallen könnten. Ernst. Das ist sehr traurig; aber leider doch sehr ver
mutlich.
Kalk. Nur vermutlich?
Ernst. Denn allenfalls dächte ich doch, so wie du ange
nommen hast, daß alle Staaten einerlei Verfassung hätten,
daß sie auch wohl alle einerlei Religion haben könnten.
Ja
ich begreife nicht, wie einerlei Staatsverfassung ohne einerlei
Religion auch nur möglich ist.
Kalk. Ich ebensowenig. — Auch nahm ich jenes nur an, um deine Ausflucht abzuschneiden.
so unmöglich, als das andere.
Mehrere
Staaten:
mehrere
Eines ist zuverlässig eben
Ein Staat: mehrere Staaten. Staatsverfassungen.
Staatsverfassungen: mehrere Religionen.
Mehrere
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Zweites Gespräch. Ernst. Ja, ja: so scheinet es.
Kalk. So ist es. — Nun sieh da
das
zweite Unheil,
welches die bürgerliche Gesellschaft, ganz ihrer Absicht entgegen, Sie kann die Menschen nicht vereinigen, ohne sie
verursacht.
zu trennen; nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu be festigen, ohne Scheidemauern durch sie hin zu ziehen. Ernst. Und wie schrecklich diese Klüfte sind! wie unüber-
steiglich oft diese Scheidemauern! Kalk. Laß mich noch das dritte hinzufügen. — Nicht genug,
daß die biirgerliche Gesellschaft die Menschen in verschiedene Völker und Religionen teilet und trennet. — Diese Trennung
in wenige große ^Teile, deren jeder für sich ein Ganzes wäre, wäre doch immer noch besser, als gar kein Ganzes. — Nein; die bürgerliche Gesellschaft fetzt ihre Trennung auch in jedem dieser Teile gleichsam bis ins Unendliche fort. Ernst. Wie so?
Kalk. Oder meinest du, daß ein Staat sich ohne Ver
schiedenheit von Ständen denken läßt? Er sei gut oder schlecht, der Vollkommenheit mehr oder weniger nahe: unmöglich können
alle Glieder
desselben
unter
sich
das
nämliche
Verhältnis
haben. — Weirn sie auch alle an der Gesetzgebung Anteil haben: so können sie doch nicht gleichen Anteil haben, wenigstens
nicht gleich unmittelbaren Anteil. und
geringere Glieder
Es wird also vornehmere
geben. — Wenn anfangs
auch
alle
Besitzungen des Staats unter sie gleich verteilet worden: so kann diese gleiche Verteilung doch keine zwei Menschenalter
bestehen.
Einer wird sein Eigentum besser zu nutzen wissen,
als der andere.
Einer wird sein schlechter genutztes Eigentum
gleichwohl unter mehrere Nachkommen zu verteilen haben, als der andere.
Es wird also reichere und ärmere Glieder geben.
Ernst. Das versteht sich. Kalk. Nun überlege, wie viel Übel es in der Welt wohl
giebt, das in dieser Verschiedenheit der Stände seinen Grund nicht hat. Lessing, Werke. XII,
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Ernst und Falk. Ernst. Wenn ich dir doch widersprechen könnte! — Aber
was hatte ich für Ursache, dir überhaupt zu widersprechen? — Nun ja! die Menschen sind nur durch Trennung zu vereinigen! nur durch unaufhörliche Trennung in Vereinigung zu erhalten!
Das ist nun enrmal so.
Das kanir nun nicht anders sein.
Kalk. Das sage ich eben!
Ernst. Also, was willst du damit? Diir das bürgerliche Leben dadurch verleiden?
Blich wünschen machen, daß den
Menschen der .Gedanke, sich in Staaten
zu
vereinigen,
nie
möge gekommen sein?
Kalk. Verkennst du mich so weit? — Wenn die bürgerliche
Gesellschaft auch nur das Gute hätte, daß allein in ihr die
menschliche Verilunft angebauet werden kann: ich würde sie auch bei weit größern Übeln noch segnen. Ernst. Wer des Feuers genießen will, sagt das Sprich
wort, muß sich den Rauch gefallen lassen. Kalk. Allerdings! — Aber weil der Rauch bei dem Feuer uiwermeidlich ist: durfte man darum teilten Rauchfang erfinden?
Und der den Rauchfang erfand, war der darum ein Feind
des Feuers? — Sieh, dahin wollte ich.
Ernst. Wohin? — Ich verstehe dich nicht. Kalk. Das Gleichnis war doch sehr passend.-------- Wenn
die
Menschen nicht
anders
in
Staaten
vereiniget
werden
konnten, als durch jene Trennungen: werden sie darum gut,
jene Trennungen? Ernst. Das wohl nicht. Kalk. Werden sie darum heilig, jene Trennungen?
Ernst. Wie heilig?
Kalk. Daß es verboten sein sollte, Hand an sie zu legen? Ernst. In Absicht? . . . Kalk. In Absicht,
sie nicht größer einreißen zu lassen,
als die Notwendigkeit erfordert.
In Absicht, ihre Folgen so
unschädlich zu machen, als möglich. Ernst. Wie könnte das verboten sein?
Kalk. Aber geboten kann es doch auch nicht fein; durch bürgerliche (besetze nicht geboten! — Denn bürgerliche Gesetze erstrecken sich nie über die Grenzen ihres Staats. Und dieses würde nun gerade außer den Grenzen aller und jeder Staaten liegen. — Folglich kann es nur ein Opus supererogatum sein: und es wäre bloß zu wünschen, daß sich die Weisesten und Besten eines jeden Staats diesem Operi supererogato freiwillig unterzögen. Ernst. Bloß zu wünschen; aber recht sehr zu wünschen. Kalk. Ich dächte! Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären, und genau wüßten, wo Patrio tismus, Tugend zu sein, aushöret. Ernst. Recht sehr zu wünschen! Kalk. Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die dem Vorurteile ihrer angebornen Religion nicht unterlägen; nicht glaubten, daß alles notwendig gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen. Ernst, Recht sehr zu wünschen! Kalk. Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, welche bürgerliche Hoheit nicht blendet, und bürgerliche Geringfügigkeit nicht ekelt; in deren Gesellschaft der Hohe sich gern herab läßt, und der Geringe sich dreist er hebet. Ernst. Recht sehr zu wünschen! Kalk. Und wem: er erfüllt wäre, dieser Wunsch? Ernst. Erfüllt? — Es wird freilich hier und da, dann und wann, einen solchen Mann geben. Kalk. Nicht bloß hier und da; nicht bloß dann uni) wann. Ernst. Zu gewissen Zeiten, in gewissen Ländern auch mehrere. Kalk. Wie, wenn es dergleichen Männer itzt überall gäbe? zu allen Zeiten nun ferner geben müßte? Ernst. Wollte Gott!
20
Ernst und Falk. Kalk. Und
diese
Männer nicht
in
einer
unwirksamen
Zerstreuung lebten? nicht immer in einer unsichtbaren Kirche?
Ernst. Schöner Traum! Kalk. Daß ich es kurz mache. — Und diese Männer die
Freimaurer wären? Ernst. Was sagst du? Kalk. Wie, wenn es die Freimäurer wären, die sich mit
zu ihrem Geschäfte gemacht hätten, jene Trennungen, wodurch die Menschen einander so fremd werden, so eng als ^möglich
wieder zusammenzuziehen? Ernst. Die Freimäurer?
Kalk. Ich sage: mit zu ihrem Geschäfte.
Ernst. Die Freimäurer? Kalk. Ah! verzeih'! — Ich hatt' es schon wieder vergessen,
daß du
von den Freimüurern weiter nichts hören willst —
Dort winkt man uns eben zum Frühstücke.
Komm'!
Ernst. Nicht doch! — Noch einen Augenblick! — Die Frei
mäurer, sagst du — Kalk. Das Gespräch brachte mich wider Willen auf sie zurück.
Verzeih'! — Komm'!
Dort, in der größem Gesell
schaft, werden wir bald Stoff zu einer tauglichem Unterredung
finden.
Komm'!
Drittes Gespräch. Ernst. Du bist mir den ganzen Tag im Gedränge der
Gesellschaft
ausgewichen.
Aber
ich
verfolge
dich
in dein
Schlafzimmer. Kalk. Hast du mir so etwas Wichtiges zu sagen? Der
bloßen Unterhaltung bin ich auf heute müde.
Ernst. Du spottest meiner Neugierde. Kalk. Deiner Neugierde?
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Drittes Gespräch.
Ernst. Die du diesen Morgen so meisterhaft zu erregen wußtest. Kalk. Wovon sprachen wir diesen Morgen?
Ernst. Voll den Freimäurern. Kalk. Nun? — Ich habe dir im Rausche des Pprmonter
doch ilicht das Geheimnis verraten? Ernst. Das mail, wie du sagst, gar nicht verraten kann. Kalk. Nun freilich; das beruhigt mich wieder.
Ernst. Aber du hast mir doch über die Freimaurer etwas
gesagt, das mir unerwartet war;
das mir auffiel; das mich
denkeil machte. Kalk. Und was war das? Ernst. O quäle mich nicht! — Du erinnerst dich desseil gewiß.
Kalk. Ja ; es fällt mir ilach und llach wieder ein. — Und das war es, was dich den ganzeil langen Tag unter deinen Freuilden und Freundimleil so abweseild vlachte? Ernst. Das war es! — Und ich kann nicht einschlafen,
weilil du mir wenigstens nicht noch eine Frage beantwortest. Kalk. Nachdem die Frage sein wird.
Ernst. Woher sannst du mir aber beweisen, wenigstens nur wahrscheinlich machen, daß die Freimaurer wirklich jene
große und würdige Absichten haben?
Kalk. Habe ich dir von ihren Absichten gesprochen? Ich ivüßte nicht. — Sondern da du dir gar feinen Begriff von
den wahren Thateil der Freimaurer machen sonntest: habe ich dich bloß auf eitlen Punkt aufmerksam machen wollen, wo
noch so vieles geschehen kaml,. wovon sich unsere staatsklugen Köpfe gar nichts träumen lassen. — Vielleicht, daß die Frei
maurer da herum arbeiten. — Vielleicht!
da herum! — Nur
um dir dein Vorurteil zu beilehmen, daß alle baubedürftige
Plätze schon ausgefunden und besetzt, alle nötige Arbeiteil schon unter die erforderlicheil Hände verteilet wären. Ernst. Wende dich itzt, wie du willst. — Genug, ich denke
22
Ernst und Falk.
mir nun aus deinen Reden die Freimaurer als Leute, die es freiwillig über sich genommen haben, den unvermeidlichen Übeln
des Staats entgegenzuarbeiten. Kalk. Dieser Begriff sann den Freimaurern wenigstens
keine Schaitde machen. — Bleib' dabei! — Nur fasse ihn recht. Menge nichts hinein, was nicht hinein gehöret. — Den un vermeidlichen Übeln des Staats! — Nicht dieses und jenes
Staats.
"Nicht deit unvermeidlichen Übeln, welche, eine ge-
wiffe Staatsverfassung einmal angenommen, aus dieser an-
geiiommeueil Staatsverfassung
nun
notwendig folgen.
Mit
diesen giebt sich der Freimaurer niemals ab; wenigstens nicht Die Linderung und Heilung dieser überläßt
als Freimüurer.
er dem Bürger, der sich nach seiner Einsicht, »ach feinem Mute, auf seine Gefahr damit befassen mag. Übel ganz andrer Art, ganz höherer Art, sind der Gegenstand seiner
Wirksamkeit. Ernst. Ich habe das sehr wohl begriffen. — Nicht Übel, welche den mißvergnügten Bürger machen, sondern Übel, ohne
welche auch der glücklichste Bürger nicht sein kann.
Kalk. Recht! Diesen entgegen — wie sagtest du? — ent
gegenzuarbeiten ? Ernst. Ja!
Kalk. DaS Wort sagt ein wenig viel. — Entgegenarbeiten! — Um sie völlig zu heben? — Das kann nicht sein.
Denn
man würde den Staat selbst mit ihnen zugleich veruichteii. — Sie müssen nicht einmal denen mit eins merklich gemacht werden, die noch gar keine Empfindung davon habe». — Höch
stens diese Empfindung in oem Menschen von weitem veran
lassen, ihr Aufkeimen begünstigen, ihre Pflanzen versetze», begäten, beblatteit — sann hier entgegenarbeiten heißen. — Be
greifst du nun, warum ich sagte, ob die Freimaurer schon immer
thätig
wären,
daß Jahrhunderte
dennoch
vergehen
könnten, ohne daß sich sagen lasse: das haben sie gethan.
Ernst. Und verstehe auch nun den zweiten Zug des Rätsels
23
Trittes Gespräch.
— Gute
Thaten,
welche
gute
Thaten
entbehrlich
machen
sollen. Talk. '2'3o 1)1! — Nun geh', und studiere jene Übel, und lerne sie alle kennen, und wäge alle ihre Einflüsse gegeneinan
der ab, und
sei versichert, das; dir dieses Studium Tinge
ausschließen wird, die in Tagen der Schwermut die nieder
schlagendsten, unauflöslichsten Einwürfe wider Vorsehung und Tugend zu sein scheinen. wird
Dieser Ausschluß, diese Erleuchtung
dich ruhig und glücklich machen; — auch ohne Frei
maurer zu heißen.
Ernst. Tu legest aus dieses heißen so viel Nachdruck. Kalk. Weil man etwas sein kann, ohne es zu heißen.
Ernst. Gut das! ich versteh' — Aber auf meine Frage wieder zu kommen, die ich mir ein wenig anders, einkleiden muß. Da ich sie doch nun kenne, die Übel, gegen welche die Freimaurerei angehet--------
Kalk. Du kennest sie?
Ernst. Hast du mir sie nicht selbst genannt? Kalk. Ich habe dir einige zur Probe namhaft gemacht. 9iur einige von denen, die auch dem kurzsichtigsten Auge ein leuchten : nur einige von den unstreitigsten, weit uinfassendsten.
— Aber wie viele sind nicht noch übrig, die, ob sie schon nicht so einleuchten, nicht so unstreitig sind, nicht so viel uni-
fassen, dennoch nicht weniger gewiß, nicht weniger notwendig sind!
Ernst. So laß mich meine Frage denn bloß auf diejenigen Stücke einschränken, die du mir selbst namhaft gemacht hast. — Wie beweisest du mir auch nur von diesen Stücken, daß
die Freimäurer wirklich ihr Absehen darauf haben? — Du
schweigst? — Du sinnest nach? Kalk. Wahrlich nicht dem, was ich auf diese Frage zu antworten hätte! — Aber ich weiß nicht, was ich mir für Ur
sachen denken soll, warum du mir diese Frage thust? Ernst. Und
du
willst
mir
meine Frage beantworten,
wenn ich dir die Ursachen derselben sage?
24
Emst und Falk.
Kalk. Das verspreche ich dir.
Ernst. Ich kenne und fürchte deinen Scharfsinn. Talk. Nieinen Scharfsinn?
Ernst. Ich
fürchte, du verkaufst mir deine Spekulation
für Thatsache. Talk. Sehr verbunden!
Ernst. Beleidiget dich das?
Talk. Vielmehr muß ich dir danken, daß du Scharfsürn
nennest, was du ganz anders hättest benennen können. Ernst. Gewiß nicht.
Sondern ich weiß, wie leicht der
Scharfsinnige sich selbst betrügt; wie leicht er andern Leuten
Plane und Absichten leihet uird unterlegt, an die sie nie ge dacht haben.
Kalk. Aber woraus schließt man auf der Leute Plane
und Absichteir? Aus ihren einzeln Handlungen doch wohl?
Ernst. Woraus sonst? — Und hier bin ich wieder bei meiner Frage. — Aus welchen einzeln, unstreitigen Handlungen
der Freimäurer ist abzunehmen, daß es auch nur mit ihr Zweck ist, jene von dir benannte Trennung, welche Staat und
Staaten unter den Menschen notwendig machen müssen, durch sich und in sich wieder zu vereinigen.
Kalk. Und zwar ohne Nachteil dieses Staats, und dieser Staaten.
Ernst. Desto
besser! — Es brauchen auch vielleicht nicht
Handlungen zu sein, woraus jenes abzunehmen.
Wenn es
nur gewisse Eigentümlichkeiten, Besonderheiten sind, die dahin leiten, oder daraus entspringen. — Von dergleichen müßtest du
sogar in deiner Spekulation ausgegangen sein;
gesetzt, daß
dein System nur Hypothese wäre. Kalk. Dein Mißtrauen äußert sich noch. — Aber ich hoffe, es soll sich verlieren, wenn ich dir ein Grundgesetz der Frei
mäurer zu Gemüte führe.
Ernst. Und welches? Kalk. Aus welchem sie nie ein Geheimnis gemacht haben.
~5
Drittes Gespräch.
Nach welchem sie immer vor den Augen der ganzen Welt ge handelt haben. Ernst. Das ist ?
Talk. Das ist, jeden würdigen Mann von gehöriger An
lage, ohite Unterschied des Vaterlandes, ohne Unterschied der Religion, ohite Unterschied seines bürgerlichen Standes, in ihreit Orden auszuitetnnen.
Ernst. Wahrhastig!
Talk.
Freilich
scheint
dieses
Grundgesetze
dergleichen
Männer, die über jene Trennungen hinweg sind, vielmehr
bereits vorauszusetzeit, als die Absicht zu haben, sie zu bilden. Allein das Nitrunt ntuß ja wohl iit der Luft sein, ehe es sich
als Salpeter an den Wäitdcn anlegt. Ernst. O ja!
Kalk. Und warum sollten die Freimaurer sich nicht hier
einer gewöhnlichen List haben bedienen dürfen? — Daß man einen Teil seiner geheimen Absichten ganz offenbar treibt, um
den Argwohn irre zu führen, der immer ganz etwas anders
vermutet, als er sieht. Ernst. Warum nicht?
Kalk. Warum sollte der Künstler, der Silber machen
kann,
nicht mit altem Bruchsilber handeln, damit man so
weniger argwohne, daß er es machen kann? Ernst. Warum nicht?
Kalk. Ernst! — Hörst du mich? — Du antwortest int Traunte, glaub' ich.
Ernst. Neiit, Freund! Aber ich habe genug; genug auf
diese Nacht.
Morgen, mit dem frühsten, kehre ich wieder nach
der Stadt. Kalk. Schon? Und warum so bald? Ernst. Du kennst mich, und fragst?
Wie lange dauert
deine Brutntenkur noch? Kalk. Ich habe sie vorgestern erst angefangen.
26
Ernst und Falk. ErnK. So sehe ich dich vor dem Ende derselbeil noch
wieder. — Lebe wohl! gute Nacht! Kalk. Gute Nacht! lebe wohl!
Zur Nachricht. Der Funke hatte gezündet: Ernst ging, und ward Frei
maurer.
Was er vors erste da fand, ist der Stoff eines
vierten und fünften Gesprächs, mit welchem — sich der Weg scheidet.
Ernst und Falk.
Gespräche für Freimaurer. Fortsetzung.
Vorrede eines Dritten. -flß|er Verfasser der ersten drei Gespräche hatte diese Fortsetzung, wie man weiß, im Manuskripte zum Drucke fertig
liegen, als derselbe höheren CrtS eilten bittenden Wink be kam, dieselbe nicht bekannt zu machen.
Vorher aber hatte er dies vierte und fünfte Gespräch
einigen Freunden mitgeteilt, welche, verinutlich ohite seine Er
laubnis, Abschriften davon genommen hatten.
Eine dieser
Abschriften war dem itzigeit Herausgeber durch einen sonder
baren Zufall in die Hände gefallen.
Er bedauerte, daß so
viel herrliche Wahrheiten unterdrückt werden follteit, und be
schloß, das Manuskript, ohne Winke zu
haben, drucken zu
lassen. Weit» die Begierde, Licht über so wichtige Gegenstände
allgemeiner verbreitet zu sehen, nicht diese Freiheit hinlänglich
entschuldiget; so läßt sich nichts weiter zur Verteidigung der
selben sagen, als daß der Herausgeber kein aufgenommener
Maurer ist. Übrigens wird man doch finden, daß er, aus Vorsicht und Achtung gegen einen gewissen Zweig dieser Gesellschaft,
einige Namen,
welche ganz ausgeschrieben waren, bei der
Herausgabe nicht genannt bat.
28
Ernst und Falk.
Viertes Gespräch.
Kalk. Ernst! Willkommen! Endlich wieder einmal! Ich habe meine Brunilenkur längst beschlossen. Ernst. Und befindest dich wohl darauf? Ich freue mich.
Kalk. Was ist das?
Man hat nie ein:
„ich
freue
mich" ärgerlicher ausgesprochen. Ernst. Ich bin es auch, und es fehlt wenig, daß ich es
nicht über dich bin. Kalk. Über mich? Ernst. Du hast mich zu einem albernen Schritte verleitet — Sieh her! — Gieb mir deine Hand! — Was sagst du?
— Du zuckst die Achseln? Das hätte mir noch gefehlt-
Kalk. Dich verleitet?
Ernst. Es kann sein, ohne daß du es gewollt hast. Kalk. Und soll doch schuld haben.
Ernst. Der Mann Gottes spricht dem Volke voll einem Lande, da Milch und Honig innen fließt, und das Volk soll sich nicht danach sehnen?
Und soll über den Mann Gottes
nicht murre», wenn er sie, anstatt in dieses gelobte Land, in dürre Wüsteit führt?
Kalk. Nun,
nun!
Der Schade kann doch so groß nicht
sein — Dazu sehe ich ja, daß du schon bei den Gräbern
unserer Vorfahren gearbeitet hast. Ernst. Aber sie waren nicht mit Flammen, sondern init Rauch umgeben.
Kalk. So warte, bis der Rauch sich verzieht, und die
Flamme wird leuchten und wärmen. Ernst. Der Rauch wird mich ersticken, ehe mir die Flamme
leuchtet, und wärmen, sehe ich wohl, werbe» sich andere an ihr, die den Rauch besser vertragen könne». Kalk. Du sprichst doch nicht von Leuten, die sich vom Rauch gern beißen lassen, wenn es nur der Rauch einer fremden
fetten Küche ist?
29
Viertes Gespräch.
Ernst. Du kennst sie also doch?
Kalk. Ich habe von ihnen gehört. Ernst. Um so mehr, was kannte dich bewegen, mich aus
dies Eis zu führen?
Mir dazu Lachen vorzuspiegeln, deren
Ungrund du nur allzuwohl wußtest?
Kalk. Dein Verdruß macht dich sehr ungerecht — Ich sollte mit dir von der Freimaurerei gesprochen haben,
ohne
es aus mehr als eine Art zu verstehen zu geben, wie unnütz es sei, daß jeder ehrliche Man» ein Freimaurer werde — wie unnütze nur - — ja, wie schädlich. —
Ernst. Das mag wohl sein. Kalk. Ich sollte dir nicht gesagt haben, daß man die
höchsten Pflichten der Maurerei erfüllen könne, ohne ein Frei maurer zu heißen?
Ernst. Vielmehr erinnere ich niich dessen — Aber du weißt
ja wohl, wenn meine Phantasie einmal den Fittig ausbreitet, einen Schlag damit thut — kann ich sie halten? — Ich werfe
dir nichts vor, als daß du ihr eine solche Lockspeise zeigtest. — Kalk. Die du zu erreichen doch auch sehr bald müde ge
worden — Und warum sagtest du mir nicht ein Wort von deinem Vorsatze? Ernst. Würdest du mich davon abgeraten haben?
Kalk. Ganz gewiß! — Wer wollte einem raschen
Knaben, weil er dann
und wann noch fällt, den
Gängelwagen wieder einschwätzen?
Ich mache dir
kein Kompliment; du warst schon zu weit, um von da wieder abzugehen.
machen.
Gleich wohl konnte man mit dir keine Ausnahme
Den Weg müssen alle betreten.
Ernst. Es sollte mich auch nicht reuen, ihn betreten zu
haben, wenn ich mir nur von denk noch übrigen Wege noch nrehr zu versprechen Hütte.
Aber Vertröstungen, und wieder
Vertröstungen, und nichts als Vertröstungen! Kalk. Wenn man dich doch schon vertröstet!
was vertröstet man dich denn?
Und auf
30
Ernst und Falk.
Ernst. Tu weißt ja wohl, auf die schottische Maurerei,
aus den schottischen Ritter. Falk. Run ja, ganz recht — Aber wessen hat sich denn
der schottische Ritter zu trösten?
Ernst. Wer das müßte! Falk. Und deinesgleichen, die andern Neulinge des Ordens, wissen denn die auch nichts?
Ernst. C die! die wissen so viel! — Der eine will Gold machen, der andere will Geister beschwören, der dritte will die *** wieder herstellen — Tu lächelst — Und lächelst nur? — Falk. Was kann ich anders?
Ernst. Unwillen bezeigen über solche Ouerköpse! Falk. Wenn mich nicht Eins mit ihnen wieder versöhnte.
Ernst. Und was? Falk. Taß ich in allen diesen Träumereien Streben nach
Wirklichkeit erkenne, daß sich aus allen diesen Irrwegen noch abnehmen läßt, wohin der wahre Weg geht.
Ernst. Auch aus der Goldmacherei? Falk. Auch aus der Goldmacherei. Ob sich wirklich Gold
machen läßt oder nicht machen läßt, gilt mir gleichviel. Aber
ich bin sehr versichert, daß vernünftige Menschen nur in Rück
sicht auf Freimaurerei es machen zu können wünschen werden. Auch wird der erste der beste, dem der Stein der Weisen zu
teil wird, in dem nämlichen Augenblicke Freimaurer — Und es ist doch sonderbar, daß dieses alle Nachrichten bestätigen, mit welchen sich die Welt von wahren oder vermeinten Gold
machern trägt. Ernst. Und die Geisterbeschwörer?
Falk. Von ihnen gilt ungefähr das Nämliche — Unmög lich können Geister auf die Stimme eines andern Menscheit
hören, als eines Freimaurers.
Ernst. Wie ernsthaft du solche Dinge sagen kannst! — Falk. Bei allem was heilig ist! nicht ernsthafter als sie
sind.
31
Viertes Gespräch.
Ernst. Wenn das wäre! — Aber endlich die neuen ***,
wenn Gott will?
Jalk. Vollends die! Ernst. Liehst du!
Von denen weißt du nichts zu sogen.
Denn *** waren doch einmal, Goldmacher aber und Geister beschwörer gab es vielleicht nie.
Und es
läßt sich sreilich
besser sagen, wie die Freimaurer sich zu solchen Wesen der Einbildung verhalten, als zu wirklichen. Falk. Allerdings kann ich mich hier nur in einem Dilemma
ausdrücken: Entweder, oder —
Ernst. Auch gut!
'Wenn man nur wenigstens weiß, daß
unter zwei Sätzen einer wahr ist: Nun! Entweder diese *** would be — Falk. Ernst! Ehe du »och eine Spötterei völlig aussagst!
Auf mein Gewissen! — Diese — eben diese sind entweder gewiß auf dem rechten Wege, oder so weit davon entfernt,
daß ihnen auch nicht einmal die Hoffnung mehr übrig ist,
jemals darauf zu gelangen. Ernst. Ich muß das so mit anhören.
Deim dich um eine
nähere Erklärung zu bitten — Falk. Warum nicht?
Alan hat lange genug aus Heim
lichkeiten das Geheimnis gemacht. Ernst. Wie verstehst du das?
Falk. Das Geheimnis der Freimaurerei, wie ich dir schon gesagt habe, ist das, was der Freimaurer nicht über feine
Lippen bringen kann, wenn es auch möglich wäre, daß er es
wollte. Aber Heimlichkeiten sind Dinge, die sich wohl sagen lassen,
und
die man nur zu gewissen Zeiten,
in gewissen
Ländern, teils aus Neid verhehlte, teils aus Furcht verbiß,
teils aus Klugheit verschwieg. Emst. Zum Exempel? Falk. Zum Exempel! Gleich diese Verwandtschaft unter ***
und Freimaurern.
Es kann wohl sein, daß es einmal nötig
und gut war, sich davon nichts merken zu lassen — Aber jetzt —
32
Ernst und Falk.
jetzt kann es im Gegenteil höchst verderblich werden, wenn man aus dieser Verwandtschaft noch länger ein Geheimnis macht.
Alan mußte sie vielmehr laut bekennen, und nur den gehörigen Punkt bestimmen, in welchem die *** die Freimaurer ihrer
Zeit waren.
Ernst. Darf ich ihn wissen, diesen Puilkt? Kalk. Lies die Geschichte der * * * mit Bedacht! mußt ihn erraten.
Du
Auch wirst du ihn gewiß erraten, und eben
das war die Ursache, warum du kein Freimaurer hättest werden
nlüssen. Ernst. Daß ich nicht den Augenblick unter meinen Büchern
sitze! — Und wenn ich ihn errate, willst du mir gestehen, daß ich ihn erraten habe?
Kalk. Du wirst zugleich finden, daß du dieses Geständnis nicht brauchst — Aber auf mein Dilemma wieder zurückzu kommen! Eben dieser Punkt ist es allein, woraus die Ent
scheidung desselben zn holen ist — Sehen und fühlen alle Frei
maurer, welche jetzt mit den *** schwanger gehen, diesen rechten Punkt; wohl ihnen! Wohl der Welt! Segen zu allem, was sie thun! Segen zu allem, was sie unterlassen! — Erkennen und fühlen sie ihn aber nicht, jenen Punkt; hat sie ein bloßer-
Gleichlaut verführt; hat sie bloß der Freimaurer der im **
arbeitet, auf die *** gebracht; haben sie sich nur in das ---
auf dem ---- vergafft; möchten sie gern einträgliche ---- fette
Pfründen sich und ihren Freunden zuteilen können; — nun so schenke uns der Himmel recht viel Mitleid, damit wir uns des
Lachens enthalten könnten. Ernst. Sieh! Du kannst doch noch warm und bitter werden.
Kalk. Leider! — Ich danke dir für deine Bemerkung, und
bin kalt wieder, wie Eis. Ernst. Und was meinst du wohl, welcher von den beiden
Fällen der Fall dieser Herren ist? Kalk. Ich fürchte der letztere — Möcht' ich mich be trügen! — Denn wenn es der erste wäre; wie könnten sie
33
Viertes Gespräch.
einen so seltsamen Anschlag haben? — die *** wieder her
zustellen ! — Jener große Punkt, in welchem die *** Frei
maurer waren, hat nicht mehr statt.
Wenigstens ist Europa
längst darüber hinaus und bedarf darin weiter keines außer
ordentlichen Vorschubs — Was wollen sie also?
Wollen sie
auch ein Schwamm werden, den die Großen einmal ausdrücken?
— Doch an wen diese Frage? Und wider wenn? Hast du mir denn gesagt — Hast du mir sagen können, daß mit diesen
Grillen von Goldmachern, Geisterbannern, ***, sich andre, als
die Neulinge des Ordens schleppen? — Aber Kinder werden Männer — Laß sie nur! — Genug, wie gesagt, daß ich schon
in dem Spielzeuge die Waffen erblicke,
welche einmal die
Männer mit sicherer Hand führen werden. Ernst. Im Grunde, mein Freund! sind es auch nicht diese
Kindereien, die mich unmutig machen.
Ohne zu vermuten, daß
etwas Ernsthafteres hinter ihnen sein könnte, sahe ich über sie
weg — Tonnen, dachte ich, den jungen Walfischen ausgeworfen!
— Aber was mich nagt, ist das: daß ich überall nichts sehe, überall nichts höre, als diese Kindereien, daß von dem, dessen Erwartung du in mir erregtest, keiner etwas wissen will. Ich mag diesen Ton angeben so oft ich will, gegen wen ich will; niemand will einstimmen, immer und aller Orten das tiefste
Stillschweigen. Kalk. Du meinst — Ernst. Jene Gleichheit, die du mir als Grundgesetz des
Ordens angegeben; jene Gleichheit, die meine ganze Seele mit so unerwarteter Hoffnung erfüllte: sie endlich in Gesellschaft
von Menschen atmen zu können, die über alle bürgerliche Modi-
fikations hinweg zu denken verstehen, ohne sich an einer zum
Nachteil eines Dritten zu versündigen — Kalk. Nun? Ernst. Sie wäre noch!
Wenn sie jemals gewesen! — Laß
einen aufgeklärten Juden kommen, und sich melden!
„Ja,"
heißt es „ein Jude? Christ wenigstens muß freilich der FreiLessing, Werke. XII.
g
34
Ernst und Falk.
maurer sein." Es ist nur gleichviel was für ein Christ. „Ohne Unterschied der Religion, heißt nur, ohne Unterschied
„der drei im heiligen römischen Reiche öffentlich geduldeten „Religionen," — Meinst du auch so?
Kalk. Ich nun wohl nicht. Ernst. Laß einen ehrlichen Schuster, der bei seinem Leisten
Muße genug hat, manchen guten Gedanken zu haben (wäre es auch ein Jakob Böhme und Hans Sachs), laß ihn kommen,
und sich melden!
„Ja," heißt es „ein Schuster!" freilich ein
Schuster — Laß einen treuen, erfahrnen, versuchten Dienstboten kommen und sich melden — „Ja," heißt es „dergleichen
„Leute freilich, die sich die Farbe zu ihrem Rocke nicht selbst „wählen — Wir sind unter uns so gute Gesellschaft" —
Kalk. Und wie gute Gesellschaft sind sie denn?
Ernst. Ei nun! Daran habe ich allerdings weiter nichts auszusetzen, als daß es nur gute Gesellschaft ist, die man in
der Welt so müde wird — Prinzen, Grafen, Herrn von, Offiziere, Räte von allerlei Beschlag, Kaufleute, Künstler — alle die schwärmen freilich ohne Unterschied des Standes in
der Loge untereinander durch — Aber in der That sind doch alle nur von Einem Stande, und der ist leider---Kalk. Das war nun wohl zu meiner Zeit nicht so —
Aber doch! — Ich weiß nicht, ich kann nur raten — Ich bin zu lange Zeit außer aller Verbindung mit Logen, von welcher Art sie auch sein mögen — In die Loge vor jetzt auf eine Zeit nicht können zugelassen werden, und von der Freimaurerei
ausgeschlossen sein, sind doch zwei verschiedene Dinge.
Ernst. Wie so? Kalk. Weil Loge sich zur Freimaurerei verhält, wie Kirche
zum Glauben.
Aus dem äußeren Wohlstände der Kirche ist
für den Glauben der Glieder nichts, gar nichts zu schließen.
Vielmehr giebt es einen gewissen äußerlichen Wohlstand der
selben, von dem es ein Wunder märe, wenn er mit dem wahren Glauben bestehen könnte.
Auch haben sich beide noch
nie vertragen, sondern eins hat das andere, wie die Geschichte lehrt, immer zu Grunde gerichtet. Und so auch, fürchte ich, fürchte ich — Ernst. Was? Kalk. Kurz! Tas Logenweseu, so wie ich höre, daß es itzt getrieben wird, will mir gar nicht zu Kopse. Eine Kasse haben; Kapitale machen; diese Kapitale belegen; sie aus den besten Pseimig zu benutzen suchen; sich ankaufen wollen; von Königen und Fürsten sich Privilegien geben lassen; das Ansehn und die Gewalt derselben zu Unterdrückung der Brüder anwenden, die einer andern Observanz sind, als der, die man so gern zum Wesen der Sache machen möchte — Wenn das in die Länge gut geht! — Wie gern will ich falsch prophezeiet haben! Ernst. Je nun! Was kann denn werden? Der Staat fährt itzt nicht mehr fo zu. Und zudem sind ja wohl unter den Personen, die seine Gesetze machen, oder handhaben, selbst schon zu viel Freimaurer — Kalk. Gut! Wenn sie also auch von dem Staate nichts zu befürchten haben, was denkst du wird eine solche Verfassung für Einfluß auf sie selbst haben? Geraten sie dadurch nicht offenbar wieder dahin, wovon sie sich losreißen wollten? Werden sie nicht aufhören zu sein, was sie fein wollen? — Ich weiß nicht, ob du mich ganz verstehst — Ernst. Rede nur weiter! Kalk. Zwar! — ja wohl — nichts dauert ewig — Viel leicht soll dieses eben der Weg sein, den die Vorsicht ausersehen, dem ganzen jetzigen Schema der Freimaurerei ein Ende zu machen — Ernst. Schema der Freimaurerei? Was nennst du so? Schema? Kalk. Nun! Schema, Hülle, Einkleidung. Ernst. Ich weiß noch nicht — Kalk. Du wirst doch nicht glauben, daß die Freimaurer immer Freimaurerei gespielt?
36
Ernst und Falk.
Ernst. Was ist nun das? Die Freimaurer nicht immer
Freimaurerei gespielt? Kalk. Mit andern Worten!
Meinst du denn, daß das,
was die Freimaurerei ist, immer Freimaurerei geheißen? — Aber sieh! Schon Mittag vorbei! Da kommen ja bereits meine Gäste! Du bleibst doch?
Ernst. Ich wollte nicht, aber ich muß ja nuu wohl. Denn unch erwartet eine doppelte Sättigung.
Kalk. Nur bei Tische, bitte ich, kein Wort.
Fünftes Gespräch. Ernst. Eildlich sind sie fort! — O die Schwätzer! — Und merktest du denn nicht, oder wolltest du nicht merken, daß der eine mit der Warze an dem Kinn — heiße er wie er will! — ein Freimaurer ist? Er klopfte so oft an.
Kalk. Ich hörte ihn wohl. Ich merkte sogar in seinen Reden, was dir wohl nicht so ausgefallen — Er ist von denen,
die in Europa für die Amerikaner fechten — Ernst. Das wäre nicht das Schlimmste an ihm.
Kalk. Und hat die Grille, daß der Kongreß eine Loge ist; daß d a endlich die Freimaurer ihr Reich mit gewaffneter Hand
gründen.
Ernst. Giebt es auch solche Träumer? Kalk. Es nluß doch wohl. Ernst. Und woraus nimmst du diesen Wurm ihm ab?
Kalk. Aus einem Zuge, der dir auch schon einmal kennt
licher werden wird.
Ernst. Bei Gott! wenn ich wüßte, daß ich mich in den Freimaurern gar so betrogen hätte! —
Kalk. Sei ohne Sorge. Der Freimaurer erwartet ruhig den Aufgang der Sonne, und läßt die Lichter brennen, so
Fünftes Gespräch.
37
lange sie wollen und können — Die Lichter auslöschen und, wenn sie ausgelöscht sind, erst wahrnehmen, daß man die Stümpfe doch wieder anzünden, oder wohl gar andre Lichter
wieder aufstecken muß; das ist der Freimaurer Sache nicht. Ernst. Das denke ich auch — Was Blut kostet, ist gewiß kein Blut wert. Kalk. Vortrefflich! — Nun frage, was du willst! Ich
iiluß dir antworten. Ernst. So wird meines Fragens kein Ende sein. Kalk. Nur kannst du den Anfairg nicht finden.
Ernst. Verstand ich dich, oder verstand ich dich nicht, als wir unterbrocheir wurden? Widersprachst du dir, oder wider
sprachst du dir nicht? — Denn allerdings, als du mir einmal sagtest: Die Freimaurerei sei immer gewesen, verstand
ich es also, daß nicht allein ihr Wesen, sondern auch ihre
gegenwärtige Verfaffung sich von undenklichen Zeiten Herschreibe. Kalk. Wenn es mit beiden einerlei Bewandtnis hätte! — Ihrem Wesen nach ist die Freimaurerei ebenso alt, als die bürger
liche Gesellschaft. Beide konnten nicht anders als miteinander
entstehen — Wenn nicht gar die bürgerliche Gesellschaft nur ein Sprößling der Freimaurerei ist.
Denn die Flamme im Brenn
punkt ist auch Ausfluß der Sonne.
Ernst. Auch mir schimmert das so vor — Kalk. Es sei aber Mutter und Tochter, oder Schwester
und Schwester; ihr beiderseitiges Schicksal hat immer wechsel seitig ineinander gewirkt.
Wie sich die bürgerliche Gesellschaft
befand, befand sich aller Orten auch die Freimaurerei, und so
umgekehrt. Es war immer das sicherste Kennzeichen einer ge sunden, nervösen Staatsverfassung, wenn sich die Freimaurerei
neben ihr blicken ließ; so wie es noch jetzt das unfehlbare
Merkmal eines schwachen, furchtsamen Staats ist, wenn er das
nicht öffentlich dulden will, was er in geheim doch dulden muß, er mag wollen oder nicht.
Ernst. Zu verstehen: die Freimaurerei!
38
Ernst und Falk.
Talk. Sicherlich! — Denn die beruht im Grunde nicht auf äußerliche Verbindungen, die so leicht in bürger
liche Anordnungen ausarten; sondern auf das Gefühl ge meinschaftlich sympathisierender Geister.
Ernst. Und wer unterfängt sich denen zu gebieten!
Falk. Indes hat freilich die Freimaurerei immer und aller
Orten sich nach der bürgerlichen Gesellschaft schmiegen und biegen müssen; denn diese war stets die stärkere. bürgerliche Gesellschaft gewesen,
So mancherlei die
so mancherlei Formen hat
auch die Freimaurerei anzunehmen sich nicht entbrechen können; nur hatte jede neue Form, wie natürlich, ihren neuen Namen. 2ßie kannst du glauben, daß der Name Freimaurerei älter
sein werde, als diejenige herrschende Denkungsart der Staaten, nach der sie genau abgewogeil worden?
Ernst. Und welches ist diese herrscheilde Denkungsart? Talk. Das bleibt deiner eigenen Nachforschung überlassen
— Genug, wenn ich dir sage, daß der Name Freimaurer, ein Glied unserer geheimen Verbrüderung anzuzeigen, vor dem An-
fange dieses laufenden Jahrhunderts nie gehört wordeil.
Er
kömmt zuverlässig vor dieser Zeit in keinem gedruckten Buche vor, und den will ich sehen, der mir ihn auch nur in einer
geschriebenen älteren Urkunde zeigen ivill. Ernst. Das heißt: den deutschen "Namen. Talk. Nein, nein! auch das ursprüngliche Free-Mason, sowie alle danach gemodelte Übersetzungen, in welcher Sprache
es auch sein mag. Ernst. Nicht doch! — Besinne dich — In keinem gedruckten
Buche vor dem Anfänge des laufenden Jahrhunderts?
In
keinem?
Talk. In keinem. Ernst. Gleichwohl habe ich selbst —
Talk. So? — Ist auch dir von dem Staube etwas in die Augen geflogen, den man um sich zu roerfen noch nicht
aufhört?
39
Fünftes Gespräch.
Ernst. Aber doch die Stelle im —
?(ilh. In der Londinopolis? Glicht wahr? — Staub!
Ernst. Und die Parlamentsakte unter Heinrich VI. Kalk. Staub!
Ernst. Und die großen Privilegia, die Karl XI., König von Schweden, der Loge von Gothenburg erteilte?
Kalk. Staub!
Ernst. Und Locke? Kalk. Was für ein Locke?
Ernst. Der Philosoph — Sein Schreiben an den Grafen von
Pembrock;
seine
Anmerkungen über
ein
Verhör,
von
Heinrich VI. eigener Hand geschrieben? Kalk. Das muß ja wohl ein ganz neuer Fund sein; den
kenne ich nicht — Aber wieder Heinrich VI. ? — Staub! und nichts als Staub! Ernst. Nimmermehr!
Kalk. Weißt du einen gelinderen -Namen für Wortver drehungen, für untergeschobene Urkunden?
Ernst. Und das hätten sie so lange vor den Augen der Welt ungerügt treiben dürfen?
Kalk. Warum nicht? der Klugen sind viel zu wenig, als
daß sie allen Geckereien sprechen könnten.
gleich
bei
ihrem Entstehen wider
Genug, daß bei ihnen keine Verjährung
stattfindet — Freilich wäre es besser, wenn man
vor
dem
Publico ganz und gar keine Geckereien unternähme; denn gerade das Verächtlichste ist, daß sich niemand die Mühe nimmt, sich ihnen entgegenzustellen, wodurch sie mit dem Laufe der Zeit
das Ansehn einer sehr ernsthaften, heiligen Sache gewinnen. Da heißt es dann über tausend Jahren: „Würde man denn „so in die Welt haben schreiben dürfen, wenn es nicht wahr „gewesen wäre?
Man
hat diesen glaubwürdigen Männern
„damals nicht widersprochen, und ihr wollt ihnen jetzt wider„sprechen?"
40
Ernst und Falk.
Ernst. £ Geschichte! £ Geschichte!
Was bist du?
Kalk. Andersons kahle Rhapsodie, in welcher die Historie
der Baukunst für die Historie des Ordens untergeschoben wird, möchte noch hingehen! Fiir einmal, und für damals mochte das gut sein — Dazu war die Gaukelei so handgreiflich. —
Aber daß man noch jetzt auf diesem morastigen Grunde fort bauet, daß man noch immer gedruckt behaupten will, was
inan mündlich gegen einen emsthaften Mann vorzugeben sich schämt, daß man zu Fortsetzung eines Scherzes, den man längst
hätte sollen fallen lassen, sich eine forgery erlaubt, auf welche, meint sie ein nichtswürdiges bürgerliches Interesse betrifft, die
pillory steht — Ernst. Wenn es denn nun aber wahr wäre, daß hier
mehr als Wortspiel vorwaltete? Wenn es nun wahr iväre,
daß das Geheimnis des Ordens sich von alters her unter dem homonymen HLndwerke vornehmlich erhalten hätte? — Kalk. Wenn es wahr wäre? Ernst. Und muß es nicht wahr sein? — Denn wie käme
der Orden sonst dazu, die Symbole eben dieses Handiverks z>l
entlehnen? Eben dieses? Und warum keines andern? Kalk. Die Frage ist allerdings verfänglich.
Ernst.
Ein
solcher
Umstand
muß
doch
eine
Ursache
haben? Kalk. Und hat sie.
Ernst. Und hat sie? Und hat eine andere Ursache, als jene vermeinte?
Kalk. Eine ganz andre. Ernst. Soll ich raten, oder dars ich fragen? Kalk. Wenn du mir schon eher eine ganz andere Frage
gethan hättest, die ich längst erwarten mußte, so würde dir
das Raten nun nicht schwer fallen. Ernst. Eine andere Frage, die du längst hättest ernmrten müssen? —
Kalk.
Denn wenn ich dir sagte, daß das, was Frei-
41
Fünftes Gespräch.
maurerei ist, nicht immer Freimaurerei geheißen, was war
natürlicher und näher Ernst. Als zu fragen, wie es saust geheißen? — ja wohl!
— So frage ich es denn nun. Balk. Wie die Freimaurerei geheißen, ehe sie Freimaurerei hieß, fragst du? — Masonei — Ernst. 9Zwt ja freilich! Masonry auf englisch —
Kalk. Auf englisch nicht Masonry, sondern Masony. — Nicht von Mason, der Maurer, sondern von Mase, der Tisch,
die Tafel. Ernst. Mase, der Tisch? In welcher Sprache? Balk. In der Sprache der Angelsachsen, doch nicht in dieser allein, sondern auch in der Sprache der Goten
und
Franken, folglich ein ursprünglich deutsches Wort, von welchem
noch jetzt so mancherlei Abstammungen üblich sind, oder doch unlängst üblich waren, als Maskopie, Masleidig, Mas-
genosse.
Selbst Masonei
war zu Luthers Zeiten nock
häufig im Gebrauche; nur daß es seine gute Bedeutung ein wenig verschlimniert hatte.
Ernst. Ich weiß weder von feiner guten, noch von seiner verschlimmerten Bedeutung.
BalK. Aber die Sitte unserer Vorfahren weißt du doch,
auch die wichttgsten Dinge am Tische zu überlegen? — Mase also der Tisch, und Masonei eine geschlossene Tischgesellschaft.
Und wie aus einer geschlossenen, vertrauten Tischgesellschaft ein Saufgelag worden, in welchem Verstände Agricola das Wort Masonei braucht, kannst du leicht abnehmen.
Ernst. Wäre es dem Namen Loge vor einiger Zeit bald besser gegangen?
BalK. Vorher aber, ehe die Masoneieu zum Teil so ausarteten, und in der guten Meinung des Publikums so herabkamen, standen sie in desto größerem Ansehn.
Es war kein
Hof in Deutschland, weder klein noch groß, der nicht seine Masonei hatte.
Die alten Lieder- und Geschichtsbücher sind
42
Ernst und Falk.
Eigene Gebäude, die mit den Schlössern und
davon Zeugen. Palästen der
regierenden Herrn
verbunden oder benachbart
lvaren, hatten von ihnen ihre Benennung, von der man neuerer Zeit
so
manche
ungegründete Auslegung hat — Und was
brauche ich dir zu ihrem Ruhme mehr zu sagen, als daß die
Gesellschaft der runden Tafel die erste und älteste Masonei
war, von der sie insgesamt abstammen? Ernst. Der runden Tafel? das steigt in ein sehr fabelhaftes Altertum hinauf — Talk. Die Geschichte des Königs Arthur sei so fabelhaft
als sie will, die runde Tafel ist so fabelhaft nicht.
Ernst. Arthur soll doch der Stifter derselben gewesen sein.
Talk. Mit nichten! Auch nicht einmal der Fabel nach — Arthur oder sein Vater hatteil sie von den Angelsachsen an-
genommen, wie schon der Name Masonei vermuteil läßt.
Und
>vas versteht sich mehr von selbst, als daß die Angelsachsen keine Sitte nach England herüber brachten, die sie in ihrem Vaterlande nicht zurückließen? Auch sieht man es an mehreren
deutschen Völkern
damaliger Zeit,
daß
der Hang,
in
und
neben der großen bürgerlichen Gesellschaft kleinere vertraute Gesellschaften zu machen, ihnen eigen war.
Ernst. Hiermit meinest du? Talk. Alles was ich dir jetzt nur flüchtig und vielleicht nicht mit der gehörigen Präcision sage, mache ich mich an heischig, das nüchstemal, daß ich mich mit dir in der Stadt
unter meinen Büchern befinde, schwarz auf weiß zu belegen —
Höre mich jetzt nur,
wie man das erste Gerücht irgend einer
großen Begebenheit hört.
ES reizt die Neugierde mehr, als
daß es sie befriedigt.
Ernst. Wo bliebst du? Talk. Die Masonei also war eine deutsche Sitte, welche die Sachsen nach England verpflanzten.
Die Gelehrten sind
uneinig, wer die Mase-ThonaS unter ihnen waren, allem
Ansehen nach die Edlen der Masonei, welche so tiefe Wurzeln
43
Fünftes besprach.
in diesem neuen Boden schlug, daß sie unter allen nachfolgen
den Staatsveränderungen beiblieb, und sich von Zeit zu Zeit in der herrlichsten Blüte zeigte.
Besonders waren die Maso-
neien der *** im zwölfte» Jahrhundert und im dreizehnten
in sehr großem Rufe.
Und so eine *** Masonei war es,
die sich, bis zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts, trotz der
Aufhebung des Ordens, mitten in London erhalten hatte — Und hier fängt die Zeit an, wo die Fingerzeige der nieder
geschriebenen Historie freilich ermangeln; aber eine sorgfältig
aufbewahrte Tradition, die so viel Merkmale der Wahrheit hat, ist bereit, diesen Mangel zu ersetzen. Ernst. Und waS hindert diese Tradition endlich einmal
durch
schriftliche
Vorzeigungen
sich
zur
Geschichte
zu
er
heben? Kalk. Hindert? Nichts hindert! Alles rät vielmehr dazu
an — Wenigstens fühle ich, ich fühle mich berechtigt, ja ver
pflichtet, dir und allen, welche sich mit dir in dem nämlichen Falle befinden, länger kein Geheimnis daraus zu machen. Ernst. Nun denn!
Ich bin in der äußersten Erwartung.
Killt. Jene *** Masonei also, die noch zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts in London bestand, aber in aller Stille
bestand, hatte ihr Versammlungshaus unfern der Sankt PaulsKirche, die damals neu erbauet ward.
Der Baumeister dieser
zweiten Kirche der ganzen Welt war —
Ernst. Christoph Wren — ?M. Und du hast den Schöpfer der ganzen heutigen
Freimaurerei genannt —
Ernst. Ihn? Talk. Kurz! Wre» der Baumeister der St. Pauls-Kirche,
in deren Nähe sich eine
uralte Masonei,
von
undenklichen
Jahren her, versammlete, war ein Bkitglied dieser Masonei, ivelche er die dreißig Jahre über, die der Bau dauerte, um
so öfterer besuchte.
Ernst. Ich fange an, ein Bkißverständnis zu wittern.
44
Ernst und Falk.
Kalk. Nichts anders! Die wahre Bedeutung des Worts
Masonei war bei dem englischen Volke vergessen, verloren —
Eine Masony, die in der Nähe eines so wichtigen Baues lag,
in der sich der Meister dieses Baues so fleißig finden ließ, was kann die anders feilt, als eine Masonry, als eine Gesell schaft von Bauverständigen, mit welchen Wren die vorfallen den Schwierigkeiten überlegt? — Ernst. Natürlich genug!
Kalk. Die Fortsetzung eines solchen Baues einer solchen Kirche interessierte ganz 'London. Um Nachrichten davon aus der ersten Hand zu haben, bewarb sich jeder, der einige Kennt
nisse von Baukunst zu haben vermeinte, um Zutritt zu der vermeinten Masonry — und bewarb sich vergebens. Endlich
— du kennst Christoph Wren nicht bloß dem Namen nach, du weißt, welch ein erfindsamer, thätiger Kopf er war. Er hatte ehedem den Plan zu einer Societät der Wissenschaften
entwerfen helfen, welche spekulativische Wahrheiten ge meinnütziger und dem bürgerlichen Leben ersprieß
licher machen sollte. Aus einmal fiel ihm das Gegenbild einer Gesellschaft bei, welche sich von der Praxis des bürgerlichen Lebens zur Spekulation erhöbe.
„Dort,
„dachte er, ivürde untersucht, was unter dem Wahren brauch-
„bar; und hier, was unter dem Brauchbaren wahr wäre. Wie, „wenn ich einige Grundsätze der Masonei eroterisch machte? „Wie, wenn ich das, was sich nicht eroterisch machen läßt, „unter die Hieroglyphen und Symbole desselben Handwerks „versteckte, und was man jetzt unter dem Worte Masonry „versteht, zu einer Free - Masonry erweiterte, an welcher „mehrere teilnehmcn könnten?" — So dachte Wren, und die Freimaurerei ward — Ernst! Wie ist dir?
Ernst. Wie einem Geblendeten. Kalk. Geht dir nun einiges Licht auf!
Ernst. Einiges? Zuviel aus einmal. Kalk. Begreifst du nun —
45
Fünftes Gespräch.
Ernst. Ich bitte dich Freund, nichts mehr! — Aber hast
du nicht bald Verrichtungen in der Stadt? Kalk. Wünschest du nlich da? Ernst. Wünsche? — nachdem du mir versprochen —
Kalk. So hab' ich der Verrichtungen daselbst genug — Roch einmal! ich werde mich über inanches aus dem Gedächt
nisse zu schwankend, zu unbesriedigend ausgedruckt haben — Unter meinen Büchern sollst du sehen und greifen — Die Sonne geht unter, du mußt in die Stadt.
Ernst.
Eine andre ging mir aus.
Lebe wohl! —
Lebe wohl!
Nachricht. Ein sechstes Gespräch,
welches
vorfiel, ist nicht so nachzubilden.
unter
diesen Freunden
Aber das Wesentliche davon
ist zu kritischen Anmerkungen über das fünfte Gespräch be stimmt, die man zur Zeit noch znrückhält.
Die Erziehung des
Menschengeschlechts. Haec omnia inde esse in quibusdam cera, finde in quibusdam falsa sunt.
Augustinus.
Herausgegeben von
Gotthol- Ephraim Lesstllg.
Einleitung. essing nennt sich nur den Herausgeber der hundert Paragraphen über die Erziehung des Menschengeschlechts, die 1780 herauskamen, von denen aber die ersten dreiundfünfzig schon 1777 im vierten Beitrage zur Geschichte und Litteratur aus den Schätzen der Wolfenbüttler Bibliothek abgedruckt wurden. An den jüngeren Reimarus schrieb er am 6. April 1778 in Bezug auf diese dreiundfünfzig Paragraphen, sie seien von einem guten Freunde, der sich gern allerlei Hypothesen und Systeme mache, um das Vergnügen zu haben, sie wieder einzureißen. Diese Hypothese würde nun freilich das Ziel gewaltig verrücken, auf welches sein Ungenannter (der ältere Reimarus) int Anschläge gewesen. Aber was thue das? Jeder möge sagen, was ihm Wahrheit dünke, und die Wahrheit selbst möge Gott empfohlen sein. An seinen Bruder schrieb er am 25. Fe bruar 1780, er habe seinem Verleger die Erziehung des Menschengeschlechts -um Drucke geschickt, und könne das Ding (ein Ausdruck, mit deut er eigne ihm wichtige Arbeiten, wie die Emilia Golotti und andere zu be zeichnen pflegt) vollends in die Welt schicken, da er es nie für seine Arbeit erkennen werde, und mehrere nach dem ganzen Plane doch be gierig seien. Auf diese Daten hin sind die Angaben Thaers, als sei die Erziehung sein Werk und Lessing nur der Herausgeber, von Körte und Thaers Tochter geltend zu machen gesucht, von Guhrauer aber als unbegründet abgewiesen worden, da Lessing die Anerkennung nur ablehne, seine Ur heberschaft aber nicht leugne, und da auch der wesentliche Punkt der Sätze jedenfalls Lessing, nicht Thaer gehöre. Dieser wesentliche Punkt Lessing, Werke. XII.
4
50
Die Erziehung des Menschengeschlechts. Einleitung.
ist die Ansicht, daß in der zur Erziehung des Menschengeschlechts dienenden Reihe von Offenbarungen die christliche nicht die höchste und letzte Stufe, sondern eben nur eine Stufe mehr sei. Wie sehr aber diese Annahme Lessings eigenste Ansicht war, zeigt der Vergleich mit „Nathan dem Weisen", der auch in seinem eigentlichen Herne eine höhere Offenbarung als Erziehungsmoment des Menschen geschlechts voraussieht, als die christliche. Was Lessing im „Nathan" dichterisch der Phantasie und dem Gemüte nahe zu bringen suchte, das rückte er in der Reihe von Sätzen über die Erziehung des Menschen geschlechts durch Offenbarungsstufen, d. h. Erziehung aus sich selbst, der Vernunft näher. A. Gordrkr.
Vorbericht des Herausgebers. -^jd) habe die erste Hälfte trägen bekannt
dieses Aufsatzes in meinen Bei-
gemacht.
Itzt bin ich int stände, das
übrige itachfolgen zu lasten.
Ter Verfasser hat sich darin auf einen Hügel gestellt, von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebeneit Weg seines heutigeit Tages zu übersehen glaubt.
Aber er ruft keilten eilfertigen Wanderer, der nur das
'Nachtlager bald zu erreichen wünscht, von seinem Pfade.
Er
verlangt nicht, daß die Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse.
Und so, dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehett uitd
staunen lassen, wo er stehet und staunt!
Wenn er aus der unermeßlicheit Ferne, die ein sanftes Abendrot seinem Blicke tveder ganz verhüllt noch ganz entdeckt,
ituit gar einen Fingerzeig mitbrächte, um den ich oft verlegen gewesen! Ich meine diesen. — Warum wollen wir in allen positiven
Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken,
itach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein eittwickeln können, und noch ferner entwickeln soll;
als über eine derselben entweder lächelit oder zürnen? Diesen
unsern Hohit, diesen unsern Unwillen verdiente in der besten
Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen?
Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele: nur bei unsern Irrtümern nicht?
52
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
Die Erziehung des Menschengeschlechts. I-
Was die Erziehung bei dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte.
8- 2. Erziehung ist Offenbarung,
die deut einzeln Menschen
geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem ^Menschen geschlechte geschehen ist, und noch geschieht.
§■ 3. Ob die Erziehung aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten,
in der Pädagogik Nutzen haben kann, will ich hier nicht unter suchen.
Aber in der Theologie kann es gewiß sehr großen
Stutzen haben, und viele Schmierigkeiten heben, wenn man sich die Offenbarung als eine Erziehung des Menschengeschlechts
vorstellet. §• 4.
Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter.
giebt auch die Offenbarung
Also
dem Menschengeschlechte nichts,
woraus die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde:
sondern
sie gab
und giebt ihm die
wichtigsten dieser Dinge nur früher.
§• 5Und so wie es der Erziehung nicht gleichgültig ist, in
welcher Ordnung sie die Kräfte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen
nicht alles auf einmal beibringen kann:
ebenso hat auch Gott
bei seiner Offenbarung
Ordnung, ein gewisies Maß halten müssen.
eine
gewisse
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
53
§• 6.
Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgeteilte, und nicht erworbene Begriff unmöglich lange
in seiner Lauterkeit bestehen,
sobald ihn die sich selbst über
lassene menschliche Vernunft zu bearbeiten anfing, zerlegte sie
den Einzige» Unermeßlichen in mehrere Ermeßlichere, und gab jedem dieser Teile ei» Merkzeichen. §• 7.
So entstand natürlicherweise Vielgötterei und Abgötterei.
Und wer weiß, wie viele Millionen Jahre sich die menschliche Vernunft noch in diesen Irrwegen ivürde hernmgetrieben haben; ungeachtet überall und zu allen Zeiten einzelne Menschen er
kannten, daß es Irrwege waren: wenn es Gott nicht gefallen Hütte, ihr durch einen neuen Stoß eine bessere Richtung zu
geben.
§. 8. Da er aber einem jeden einzeln Menschen sich nicht mehr offenbaren konnte, noch wollte: so wählte er sich ein einzelnes Volk zu seiner besondern Erziehung; und eben
das ungeschliffenste, das verwildertste, um mit ihm ganz von vorne anfangen zu können.
§. 9. Dies war das israelitische Volk, von welchem man gar nicht einmal weiß, was es für einen Gottesdienst in Ägypten
hatte.
Denn an dem Gottesdienste der Ägyptier durften so
verachtete Sklaven nicht teilnehmen: und der Gott seiner Väter war ihul gänzlich unbekannt geworden.
§. 10. Vielleicht, daß ihm die Ägyptier allen Gott, alle Götter ausdrücklich untersagt
hatten;
es in den Glauben
gestürzt
hatten, es habe gar keinen Gott, gar keine Götter; Gott, Götter haben, sei mir ein Vorrecht der bessern Ägyptier: und
54 das,
Die Erziehung des Menschengeschlechts. um es mit so viel größerm Anscheine von Billigkeit
tyrannisieren zu dürfen. — Machen Christen es mit ihren
Sklaven noch itzt viel anders? —
§• 11. Diesem rohen Volke also ließ sich Gott ansangs bloß als den Gott seiner Väter ankündigen, um es nur erst mit
der Idee eines auch ihm znstehenden Gottes bekannt und ver
traut zu machen. Durch die Wunder,
8. 12. mit welchen er es aus Ägypten
sührte, und in Kanaan einsetzte, bezeigte er sich ihm gleich daraus als einen Gott,
der mächtiger sei, als irgend ein
andrer Gott. §• 13.
Und indem er sortfuhr, sich ihm als den Mächtigsten
von allen zu bezeigen — welches doch nur einer sein kann, —
gewöhnte er es allmählich zu dem Begriffe des Einigen. 8- 14. Aber wie weit war dieser Begriff des Einigen noch unter
dem wahren transcendentalen Begriffe des Einigen, welchen die Vernunft so spät erst ails dem Begriffe des Unendlichen
mit Sicherheit schließen lernen! 8- 15. Zu dem wahren Begriffe des Einigen — wenn sich ihm
auch schon die Besseren des Volks mehr oder weniger näher ten — konnte sich doch das Volk lange nicht erheben: und dieses war die einzige wahre Ursache, warum es so oft seinen
Einigen Gott verließ, und den Einigen, d. i. Mächtigsten, in irgend einem andern Gotte eines andern Volks zu finden glaubte.
8- 16. Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen
Gedanken war, noch so völlig in seiner Kindheit war, was mar es
für einer moralischen Erziehung fähig?
Keiner
55
Die Erziehung des Menschengeschlechts. andern, als die dein Alter der Kindheit entspricht.
Der Er
ziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen.
8- 17.
Auch hier also treffen Erziehung und Offenbarung zu sammen.
Noch konnte Gott seinem Bolte keine andere Reli
gion, kein anders Gesetz geben, als eines, durch dessen Beob achtung oder Nichtbeobachtung es hier auf Erden glücklich oder unglücklich zu werden hoffte oder fürchtete.
Denn weiter als
auf dieses Nebelt gingen noch seine Blicke nicht.
Es wußte
von keiner Unsterblichkeit der Seele; es sehnte sich nach keinem künftigen Leben.
Ihm aber nun schon diese Dinge zu offen
baren, welchen feine Vernunft noch so wenig gewachsen mar: was würde es bei Gott anders gewesen fein, als der Fehler des eitel« Pädagogen, der fein Kind lieber übereilen und mit
ihm prahlen, als gründlich unterrichten will.
§• 18. Allein wozu, wird man fragen, diese Erziehung eines so
rohen Volkes, eines Volkes, mit welchem Gott so ganz von vorne anfangen mußte?
Ich antworte: um in der Folge der
Zeit einzelne Glieder desselben so viel sichrer zu Erziehern aller übrigen Völker brauchen zu können.
Er erzog in ihm
die künftigen Erzieher des Menschengeschlechts.
Das wurden
Juden, das konnten nur Juden werden, nur Männer aus
einem so erzogenen Volke. §. 19. Denn weiter.
Als das Kind unter Schlägen und Lieb
kosungen ausgewachsen und nun zu Jahren des Verstandes
gekommen war, stieß es der Vater auf einmal in die Fremde; und hier erkannte es auf einmal das Gute, das es in seines
Vaters Hause gehabt und nicht erkannt hatte. 8- 20.
Während daß Gott fein erwähltes Volk durch alle Staffeln einer kindischen Erziehung führte: waren die andern Völker
56
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
des Erdbodens bei dem Lichte der Vernunft ihren Weg fort gegangen.
Die meisten derselben waren weit hinter dem er-
wählten Volke zurückgeblieben: nur einige waren ihm zuvorgekommen.
Und auch das geschieht bei Kinder», die man für
sich aufwachsen läßt;
einige bilden
viele bleiben ganz roh;
sich zum Erstaunen selbst.
§. 21. Wie aber diese glücklichern Einige nichts gegen den Nutzen
und die Notwendigkeit der Erziehuitg beweisen: so beweisen die wenigen heidnischen Völker, die selbst in der Erkenntnis Gottes vor dem erwählteil Volke noch bis itzt einen Vorsprung
zu haben schienen, nichts gegen die Offenbarung.
Das Kind
der Erziehung fängt mit langsamen aber sichen, schritten an; cs holt nranches glücklicher organisierte Kiild der Natur spät
ein; aber es holt es doch ein, und ist alsdann nie wieder von ihm einzuholen.
§• 22. Auf gleiche Weise. Gottes beiseite
gesetzt,
Daß, — die Lehre von der Einheit welche
in
den Büchen,
des Alten
Testaments sich findet, und sich nicht findet — daß, sage ich,
wenigstens die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, und die damit verbundene Lehre von Strafe und Belohnung in
einem künftigen Leben darin völlig fremd sind: beweiset eben
sowenig wider den göttlichen Ursprung dieser Bücher. demungeachtet
mit
allen
darin
enthaltenen
Prophezeiungen seine gute Richtigkeit haben.
Es kann
Wundern
und
Denn laßt uns
setzen, jene Lehren würden nicht allein darin vermißt, jene
Lehren wären auch sogar nicht einmal wahr; laßt uns setzen,
es wäre vielleicht für die Menschen in diesem Leben alles aus: wäre darum das Dasein Gottes »linder erwiesen? stünde es
darum Gotte minder frei, würde es darun, Gotte minder
ziemen, sich der zeitlichen Schicksale irgend eines Volkes aus diesen, vergänglichen Geschlechte unmittelbar anzunehmen?
Die
Wunder, die er für die Juden that, die Prophezeiungen, die
57
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
er durch sie aufzeichnen ließ, waren ja nicht bloß für die wenigen sterblichen Juden, zu deren Zeiten sie geschahen und ausgezeichnet wurden: er hatte seine Absichten damit aus das ganze jüdische Volk, aus das
ganze Menschengeschlecht, die
hier aus Erden vielleicht ewig dauern sollen, wenn schon jeder
einzelne Jude, jeder einzelne Mensch aus immer dahin stirbt.
8- 23. Noch einmal.
Ter Mangel jener Lehren in den Schriften
des Alten Testaments beweiset wider ihre (Göttlichkeit nichts. Moses war doch von Gott gesandt, obschon die Sanktion seines
Gesetzes sich nur auf dieses Leben erstreckte. weiter?
Tenn warum
Er war ja nur an das israelitische Volk,
an
das damalige israelitische Volk gesandt: und sein Auftrag war den Kenntnissen, den Fähigkeiten, den Neigungen dieses
damaligen israelitischen Volks, sowie der Bestimmung des künftigen, vollkommen angemessen.
Das ist genug.
8- 24.
So weit hätte Warburton auch nur gehen müssen, und nicht weiter.
Aber der gelehrte Mann überspannte den Bogen.
Nicht zufrieden, daß der Mangel jener Lehren der göttlichen
Sendung Mosis nichts schade: er sollte ihm die göttliche Sen dung Mosis sogar beweisen.
Und wenn er diesen Beweis
iloch aus der Schicklichkeit eines solchen Gesetzes für ein solches Volk zu führen gesucht hätte!
Aber er nahm seine Zuflucht
zu einem von Mose bis auf Christum ununterbrochen fort-
daurenden Wunder, nach welchem Gott einen jeden einzeln
Juden gerade so glücklich oder unglücklich gemacht habe, als es dessen Gehorsam oder Ungehorsam gegen das Gesetz ver
diente.
Dieses Wunder habe den Mangel jener Lehren, ohne
ivelche kein Staat bestehen könne, ersetzt; und eine solche Er
setzung eben beweise, was jener Mangel, aus den ersten An
blick, zu verneinen scheine.
58
Die Erziehung des Menschengeschlechts. §• 25.
Wie gut war es, daß Warburton dieses anhaltende Wunder, in welches er das Wesentliche der israelitischen Theo kratie setzte, durch nichts erhärten, durch nichts wahrscheinlich
machen konnte.
Denn hätte er das gekonnt; wahrlich — als
dann erst hätte er die Schwierigkeit unauflöslich gemacht. — Mir wenigstens. — Denn was die Göttlichkeit der Sendung
Mosis wieder Herstellen sollte,
würde an der Sache selbst
zweiselhaft gemacht haben, die Gott zwar damals nicht mit teilen, aber doch gewiß auch nicht erschweren wollte. §. 26. Ich erkläre mich an dem Gegenbilde der Offenbarung.
Ein Elementarbuch
für Kinder darf gar wohl dieses oder
jenes wichtige Stück der Wissenschaft oder Kunst, die es vor trägt, mit Stillschweigen übergehen, von deni der Pädagog
urteilte, daß es den Fähigkeiten der Kinder, für die er schrieb, noch nicht angemessen sei.
Aber es darf schlechterdings nichts
enthalten, was den Kindern den Weg zu den zurückbehaltnen wichtigen Stücken versperre oder verlege. ihnen
alle Zugänge
werden:
zu
denselben
Vielmehr müssen
sorgfältig offen gelassen
und sie nur von einem einzigen dieser Zugänge ab
leiten, oder verursachen, daß sie denselben später betreten, würde allein die Unvollständigkeit des Elementarbuchs zu einem wesentlichen Fehler desselben machen.
8- 27.
Also auch konnten in den Schriften des Alten Testaments,
in diesen Elementarbüchern für das rohe und im Denken un geübte israelitische Volk, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und künftigen Vergeltung gar wohl mangeln: aber ent halten durften sie schlechterdings nichts, was das Volk, für
das sie geschrieben waren, auf dem Wege zu dieser großen
Wahrheit auch nur verspätet Hütte.
Und was Hütte es, wenig
zu sagen, mehr dahin verspätet, als wen» jene wunder-
59
Die Erziehung des Menschengeschlechts. bare Vergeltung
in
diesem Vebeit darin wäre versprochen,
und von dein wäre versprochen worden, der nichts verspricht,
was er nicht hält?
§. 28. Tenn, wenn schon aus der ungleichen Austeilung der
6>iih?r dieses Gebens, bei der aus Tugend und Laster so wenig Rücksicht genommen zu sein scheinet, eben nicht der strengste
Beweis für die Unsterblichkeit der 3ee(e und für ein anders Leben, in welchem jener Knoten sich auslöse, zu siihren: so
ist doch wohl gewiß, daß der menschliche Verstand ohne jenen
Knoten noch lange nicht — und vielleicht auch nie — auf
bessere und strengere Beweise gekommen märe.
Denn was
sollte ihn antreiben können, diese besser» Beweise zu suchen? Die bloße Neugierde?
8- 29.
Der und jener Jsraelite mochte freilich wohl die gött
lichen Versprechungen und Androhungen, die sich auf den ge samten Staat bezogeit, auf jedes einzelne Glied desselben er strecken, und in dem festen Glauben stehen, daß wer fromm
fei, auch glücklich fein müsse, und wer unglücklich sei oder werde, die Strafe seiner Missethat trage, welche sich sofort
wieder in Segen verkehre, sobald er von feiner Missethat ab lasse. — Ein solcher scheinet den Hiob geschrieben zu haben;
denn der Plan desselben ist ganz in diesem Geiste. —
8- 30. Aber
unmöglich
durste
die
tägliche Erfahrung
diesen
Glauben bestärken: oder cs war auf immer bei dein Volke,
das diese Erfahrung hatte, auf immer um die Erkennung und Aufnahme der ihm noch ungeläufigen Wahrheit geschehen. Denn wenn der Fromme schlechterdings glücklich ivar, und es
zu seinem Glücke doch wohl auch mit gehörte, daß feine Zu friedenbeit keine schrecklichen Gedanken des Todes unterbrachen.
60
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
daß er alt und lebens satt starb:
wie konnte er sich nach
einem andern Leben sehnen? wie konnte er über etwas nach-
denken, moirach er sich nicht sehnte?
Wenn aber der Fromme
darüber nicht nachdachte: wer sollte es denn? Der Bösewicht?
der die Strafe seiner Missethat fühlte, und Leben
verwünschte,
so
wenn er dieses
gern auf jedes andere Leben Ver
zicht that?
§• 31.
Weit weniger verschlug es, daß der und jener Jsraelite die Unsterblichkeit der Seele und künftige Vergeltung, weil
sich das Gesetz nicht darauf bezog, geradezu uud ausdrücklich
leugnete.
Das Leugnen eines Einzeln — wäre
es auch ein
Salomo gewesen, — hielt den Fortgang des gemeinen Ver
standes nicht auf, und war an und für sich selbst schon ein Beweis, daß das Volk nun einen großen Schritt der Wahr heit näher gekommen war. Denn Einzelne leugnen nur, was Mehrere in Überlegung ziehen; und in Überlegung ziehen,
warum man sich vorher ganz und gar nicht bekümmerte, ist
der halbe Weg zur Erkenntnis. §• 32.
Laßt uns auch bekennen, daß es ein heroischer Gehorsam ist, die Gesetze Gottes beobachten, bloß weil es Gottes Ge
setze sind, und nicht, weil er die Beobachter derselben hier und dort zu belohnen verheißen hat; sie beobachten, ob man schon an der künftigen Belohnung ganz verzweifelt, und der
zeitlichen auch nicht so ganz gewiß ist. §• 33.
Ein Volk, in diesem heroischen Gehorsame gegen Gott erzogen, sollte es nicht bestimmt, sollte es nicht vor allen andern fähig sein, ganz besondere göttliche Absichten auszu*-
ftthren? — Laßt den Soldaten, der seinem Führer blinden
Gehorsam leistet, nun auch vou der Klugheit seines Führers
61
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
überzeugt werden, und sagt, was dieser Führer mit ihm aus zuführen sich nicht unterstehen darf? —
§• 34. Noch hatte das jüdische Volk in seinem Jehovah mehr den
inächtigsten,
als
den
weisesten
aller
Götter
verehrt;
noch hatte es ihn als einen eifrigen Gott mehr gefürchtet,
als geliebt: auch dieses zum Beweise, daß die Begriffe, die
es von seinem höchsten einigen Gott hatte,
nicht eben die
rechten Begriffe waren, die wir von Gott habeir müssen.
Doch
liuii war die Zeit da, daß diese seine Begriffe erweitert, ver
edelt, berichtiget werden sollten, wozu sich Gott eines ganz
natürlichen Diittels bediente; eines bessern richtigern Maßstabes, nach welchem es ihn zu schätzen Gelegenheit bekam. §• 35.
Anstatt
daß
es
ihn bisher nur gegen die armseligen
Götzen der kleinen benachbarten rohen Völkerschaften geschätzt hatte, mit welchen es in beständiger Eifersucht lebte: fing es
in der Gefangenschaft unter dem weisen Perser an, ihn gegen das Wesen aller Wesen zu messen, wie das eine geübtere Vernunft erkannte und verehrte. §• 36.
Tie Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einnial seine Offenbarung. §• 37.
Das war der erste wechselseitige Dienst, den beide einander
leisteten; und dem Urheber beider ist ein solcher gegenseitiger Einfluß so wenig unanständig, daß ohne ihn eines von beiden
überflüssig sein würde. §. 38. Das in die Fremde geschickte Kind sahe andere Kinder,
die mehr wußten, die anständiger lebten, und fragte sich be-
62
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
schämt:
warum weiß ich das nicht auch? waruiu
nicht auch so?
lebe ich
Hätte in meines Vaters Hause man mir das
nicht auch beibringen; dazu mich nicht auch anhalten sollen? Da sucht es seine Elementarbücher wieder vor, die ihm längst
zum Ekel geworden, um die Schuld auf die Elementarbücher zu schieben.
Aber siehe! es erkennet,
daß die Schuld nicht
an den Büchern liege, daß die Schuld ledig sein eigen sei,
warum es nicht längst eben das wisse, ebenso lebe.
8- 39. Da die Juden nunmehr, auf Veranlassung der reinern persischen Lehre, in ihrem Jehovah nicht bloß den größten
aller Nationalgötter, sondern Gott erkannten; da sie ihn als solchen in ihren wieder hervorgesuchten heiligeir Schriften um so eher finden und andern zeigen tonnten, als er wirklich
darin war; da sie vor allen sinnlichen Vorstellungen desselben einen ebenso großen Abscheu bezeigten, oder doch in diesen
Schriften zu haben angewiesen wurden, als die Perser nur
immer hatten: was Wunder, daß sie vor den Augen des Cyrus mit einem Gottesdienste Gnade fanden, den er zwar
noch weit unter dem reinen Sabeismus, aber doch auch weit über die groben Abgöttereien zu sein erkannte, die sich dafür
des verlassnen Landes der Juden bemächtiget hatten? §• 40.
So erleuchtet über ihre eignen unerkannten Schätze kamen sie zurück, und wurden ein ganz andres Volk, dessen erste
Sorge es war, machen.
Bald
diese Erleuchtung
war
nicht mehr zu denken.
an Abfall
unter sich dauerhaft zu
und Abgötterei unter ihm
Denn man kann einem Nationalgott
wohl untreu werden, aber nie Gott, sobald man ihn einmal erkannt hat. 8- 41. Die Gottesgelehrten haben diese gänzliche Veränderung
des jüdischen Volks verschiedentlich zu erklären gesucht; und
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
63
einer, bet die Unzulänglichkeit aller dieser verschiednen Er klärungen sehr wohl gezeigt hat, wollte endlich „die augen„scheinliche Erfüllung der über die babylonische Gefangen„schaft und die Wiederherstellung aus derselben ausgesprochnen „und ausgeschriebnen Weissagungen" für die wahre Ursache derselben angeben. Aber auch diese Ursache kann nur inso fern die wahre sein, als sie die nun erst veredelten Begriffe von Kott voraussetzt. Die Juden mußten nun erst erkannt haben, daß Wunderthun und das Künftige vorhersagen nur Wott zukomme; welches beides sie sonst auch den falschen Götzen beigeleget hatten, wodurch eben Wunder uitb Weis sagungen bisher nur einen so schwachen, vergänglichen Ein druck auf sie gemacht hatten. §• 42. Ohne Zweifel waren die Juden unter den Chaldäern und Persern auch mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bekannter geworden. Vertrauter mit ihr wurden sie in den Schulen der griechischen Philosophen in Ägypten.
§• 43. Doch da es mit dieser Lehre, in Ansehung ihrer heiligen Schriften, die Bewandtnis nicht hatte, die es mit der Lehre von der Einheit und den Eigenschaften Gottes gehabt hatte; da jene von dem sinnlichen Volke darin war gröblich über sehen worden, diese aber gesucht fein wollte; da auf diese noch Vorübungen nötig gewesen waren, und also nur An spielungen und Fingerzeige stattgehabt hatten: so konnte der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele natürlicher weise nie der Glaube des gesamten Volks werden. Er war und blieb nur der Glaube einer gewissen Sekte desselben. §• 44. Eine Vorübung auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele nenne ich z. E. die göttliche Androhung, die Misse-
64 that
Tie Erziehung des Menschengeschlechts. des Vaters tut seinen Kindern bis ins dritte und vierte
Glied zu strafen.
Dies gewöhnte die Väter in Gedanken mit
ihren spätesten Nachkommen zu leben, und das Unglück, welches
sie über diese Unschuldige gebracht hatten, voraus zu fühlen.
8- 45Eine Anspielung nenne ich, was bloß die Neugierde
reizen und eine Frage veranlassen sollte.
Als die oft vor
kommende Redensart, zu seinen Vätern versammlet werden, für sterben.
§• 46. Eiiren Fingerzeig nenne ich,
was schon irgend einen
Keim enthält, aus ivelchent sich die lloch zurückgehaltne Wahr beit entwickeln läßt.
Benennung
Gott
Dergleichen war Christi Schluß aus der
Abrahams,
Isaaks
und Jakobs.
Dieser Fingerzeig scheint mir allerdings in einen strengen Be
weis ausgebildet werden zu könneit.
§• 47. In solchen Vorübungen, Anspielungen, Fingerzeigen be
steht die positive Vollkommenheit eines Elementarbuchs; so lvie die oben erwähnte Eigenschaft, daß es den Weg zu den
noch zurückgehalteiten Wahrheiten nicht erschwere, oder ver
sperre, die negative Vollkommenheit desselben war.
§. 48. Setzt hierzu noch die Einkleidung und den Stil — 1) die Einkleidung der nicht wohl zu übergehenden abstrakteil Wahr
heiten in Allegorien und lehrreiche einzelne Fälle, wirklich
geschehen
erzählet
werden.
Dergleichen
die als sind
die
Schöpfung, unter dem Bilde des werdenden Tages; die Quelle
des moralischen Bösen, Baume;
in
der Erzählung
vom verbotnen
der Ursprung der mancherlei Sprachen, in der Ge
schichte vom Turmbaue zu Babel, u. s. w.
65
Die Erziehung des Menschengeschlechts. §• 49.
2) den Stil — bald plan und einfältig, bald poetisch,
durchaus voll Tautologien, aber solchen, die den Scharfsinn
üben, indem sie bald etwas anders zu sagen scheinen, und doch das Nämliche sagen, bald das 'Nämliche zu sagen scheinen, und im Grunde etwas anders bedeuten oder bedeuten können: —
§. 50.
Und ihr habt alle gute Eigenschaften eines Elementarbuchs sowohl für Kinder, als für ein kindisches Volk.
§. 51.
Aber jedes Elementarbuch ist nur für ein gewisses Alter. Das ihm entwachsene Kind länger, als die Meinung gewesen, dabei zu verweilen, ist schädlich.
Denn um dieses auf eine
nur einigermaßen nützliche Art thun zu können, muß man mehr hineinlegen, als darin liegt; mehr hineintragen, als es fassen kann.
Man muß der Anspielungen und Fingerzeige zu
viel suchen und machen, die Allegorien zu genau ausschütteln,
die Beispiele zu umständlich beute», die Worte zu stark pressen.
Das giebt dem Kinde einen kleinlichen, schiefen, spitzfindigen Verstand;
das macht es geheimnisreich, abergläubisch, voll
Verachtung gegen alles Faßliche und Leichte.
§. 52. Die nämliche Weise,
Bücher behandelten!
wie die Rabbinen ihre
heiligen
Der nämliche Charakter, den sie dem
Geiste ihres Volks dadurch erteilten!
§■ 53. Ein bessrer Pädagog muß kommen, und dem Kinde das
erschöpfte Elementarbuch aus den Händen reißen. — Christus kam. §. 54.
Der Teil des Menschengeschlechts, den Gott in Einen
Erziehungsplan hatte fassen wollen — er hatte aber nur denLessing, Werke. XII.
5
66
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
jenigen in Einen fassen wollen, der durch Sprache, durch Hand lung, durch Regierung, durch andere natürliche und politische
Verhältnisse in sich bereits verbunden war — war zu dem zweiten großen Schritte der Erziehung reif.
§. 55. Das ist: dieser Teil des Menschengeschlechts war in der
Ausübung seiner Vernunft so weit gekommen, daß er zu seinen moralischen Handlungen edlere, würdigere Bewegungsgründe
bedurfte und brauchen konnte, als zeitliche Belohnung und Strafe waren, die ihn bisher geleitet hatten.
Knabe.
Das Kind wird
Leckerei und Spielwerk weicht der aufkeimenden Be
gierde, ebenso frei, ebenso geehrt, ebenso glücklich zu werden, als es sein älteres Geschwister sieht. §• 56.
Schon längst waren die Bessern von jenem Teile des Menschengeschlechts gewohnt, sich durch einen Schatten solcher edlern Bewegungsgründe regieren zu lassen.
Um nach diesem
Leben auch nur in dem Andenkeil feiner Mitbürger fortzuleben,
that der Grieche und Römer alles.
§• 57. Es war Zeit, daß ein andres wahres nach diesem Leben zu gewärtigendes Leben Einfluß auf seine Handlungen gewönne.
§. 58. Und so ward Christus der erste zuverlässige, prak
tische Lehrer der Unsterblichkeit der Seele. §. 59. Der erste zuverlässige Lehrer. — Zuverlässig durch die Weissagungen, die in ihm erfüllt schienen; zuverlässig durch
die Wunder, die er verrichtete; zuverlässig durch seine eigene Wiederbelebung nach einem Tode, durch den er feine Lehre
versiegelt hatte.
Ob wir noch itzt diese Wiederbelebung, diese
67
Die Erziehung des Menschengeschlechts. Wunder beweisen können: das lasse ich dahingestellt sein.
wie ich es dahingestellt sein
Christus gewesen.
lasse,
So,
wer die Person dieses
Alles das kann damals zur Annehmung
seiner Lehre wichtig gewesen sein: itzt ist es zur Erkennung
der Wahrheit dieser Lehre so wichtig nicht mehr.
§. 60. Der erste praktische Lehrer. — Denn ein anders ist,
die Unsterblichkeit der Seele als eine philosophische Speku lation vermuten, wünschen, glauben: ein anders, seine innern
und äußern Handlungen danach einrichten.
§. 61. Und dieses wenigstens lehrte Christus zuerst.
Denn ob
es gleich bei manchen Völkern auch schon vor ihm eingeführter Glaube war, daß böse Handlungen noch in jenem Leben be
straft mürben: so waren es doch nur solche, die der bürger lichen Gesellschaft Nachteil brachten, und daher auch schon in der bürgerlichen Gesellschaft ihre Strafe hatten.
Eine innere
Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein andres Leben zu empfehlen, war ihm allein vorbehalten.
§• 62. Seine Jünger haben diese Lehre getreulich fortgepflanzt.
Und wenn sie auch kein ander Verdienst hätten, als daß sie
einer Wahrheit, die Christus nur allein für die Judm be stimmt zu haben
schien,
einen allgemeinern Umlauf unter
mehrern Völkern verschafft hätten: so wären sie schon darum unter die Pfleger und Wohlthäter des Menschengeschlechts zu rechnen.
§. 63. Daß sie aber diese Eine große Lehre noch mit andern Lehren versetzten, deren Wahrheit weniger einleuchtend, deren Nutzen weniger erheblich war: wie konnte das anders sein?
Laßt uns sie darum nicht schelten, sondern vielmehr mit Ernst
68
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
untersuch«:: ob nicht selbst diese beigemischten Lehren ein neuer
Richtungsstoß für die Erschliche Vemunft geworden.
§. 64. Wenigstens ist es schon aus der Erfahrung klar, daß die
neutestamentlichen Schrift««, in welchen sich diese Lehren nach einiger Zeit aufbewahret fanden, das zweite bessre Elementar buch für das Menschengeschlecht abgegeben haben, und noch
abgeben.
§. 65. Sie haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlich««
Verstand mehr als alle miberc Bücher beschäftiget; mehr als alle andere Bücher erleuchtet, sollte es auch mir durch das
Licht sein, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug.
8- 66. Unmöglich hätte irgend ein ander Buch unter so verschiednen Völkern so allgemein bekannt werden können: und unstreitig hat das, daß so ganz ungleiche Denkungsarten sich mit diesem nämlichen Buche beschäftigten, den menschlichen
Verstand n«ehr fortgeholfen, als wenn jedes Volk für sich be
sonders sein eignes Elementarbuch gehabt hätte.
§. 67. Auch war es höchst nötig, daß jedes Volk dieses Buch eine Zeitlang für das Non plus ultra seiner Erkenntnisse
halten musste.
Denn dafür muß auch der Knabe sein Ele
mentarbuch vors erste ansehen; damit die Ungeduld, nur fertig
zu werden, ihn nicht zu Dingen fortreißt, zu welchen er noch keinen Grund gelegt hat.
§• 68. Und was noch itzt höchst «vichtig ist: — Hüte dich, du
fähigeres Individuum, der du an dem letzten Blatte dieses Elementarbuches stampfest und glühest, hüte dich, es deine
69
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
schwächere Mitschüler merken zu lassen, was du witterst, oder schon zu sehen beginnest. §. 69. Bis sie dir nach sind, diese schwächere Mitschüler; — kehre lieber noch einmal selbst in dieses Elementarbuch zurück,
und untersuche, ob das, was du nur für Wendungen der
Methode, für Lückenbüßer der Didaktik hältst, auch wohl nicht etwas Mehrers ist.
§. 70. Du hast in der Kindheit des Menschengeschlechts an der Lehre von der Einheit Gottes gesehen, daß Gott auch bloße
Vernunftswahrheiten unmittelbar
offenbaret;
oder verstattet
und einleitet, daß bloße Vernunftswahrheiten als unmittelbar geoffenbarte Wahrheiten eine Zeitlang gelehret werden: um sie
geschwinder zu verbreiten, und sie fester zu gründen.
§• 71. Du erfährst, in denl Knabenalter des Menschengeschlechts, an der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, das Nämliche.
Sie wird in dem zweiten bessern Elementarbuche als Offen barung geprediget, nicht als Resultat menschlicher Schlüffe
gelehret.
§. 72.
So wie wir zur Lehre von der Einheit Gottes nunmehr des Alte» Testaments entbehren können; so wie wir allmählich zur Lehre von der Unsterblichkeit der Seele auch des Neuen
Testaments entbehren zu können anfangen: könnten in diesem nicht noch mehr dergleichen Wahrheiten vorgespiegelt werden,
die wir als Offenbarungen so lange anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten her leiten und mit ihnen verbinden lernen?
§. 73. Z. E. die Lehre von der Dreieinigkeit. — Wie, wen»
diese Lehre den menschlichen Verstand, nach unendlichen Ver-
70
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
irrungen rechts unb links,
nur endlich aus den Weg bringen
sollte, zu erkennen, daß Kott in dem Verstände, in welchem endliche Dinge eins sind, unmöglich eins sein könne;
auch
seine Einheit eine transcendentale Einheit
daß
sein müsse,
welche eine Art von Mehrheit nicht ausschließt? — Muß Kott wenigstens nicht die vollständigste Vorstellung von sich selbst
haben? d. i. eine Vorstellung, in der sich alles befindet, was
in ihm selbst ist.
Würde sich aber alles in ihr finden, was
in ihm selbst ist, wenn auch von seiner notwendigen Wirk
lichkeit, sowie von seinen übrigen Eigenschaften, sich bloß eitie Vorstellung, sich bloß eine Möglichkeit fände?
Diese Mög
lichkeit erschöpft das Wesen seiner übrigen Eigenschaften: aber
auch
seiner notwendigen Wirklichkeit?
Mich dünkt nicht. —
Folglich kann entweder Gott gar keine vollständige Vorstellung von sich selbst haben:
oder diese vollständige Vorstellung ist
ebenso notwendig wirklich, als er es selbst ist rc. — Freilich
ist das Bild von mir im Spiegel nichts als eine leere Vor stellung von mir, weil es nur das von mir hat, wovon Licht strahlen auf seine Fläche fallen.
Aber wenn denn nun dieses
Bild alles, alles ohne Ausnahme hätte, was ich selbst habe: würde es sodann auch noch eine leere Vorstellung, oder nicht vielmehr eine wahre Verdopplung meines Selbst sein? — Wenn ich eine ähnliche Verdopplung in Gott zu erkennen glaube: so
irre ich mich vielleicht nicht so wohl, als daß die Sprache meinen Begriffen unterliegt; und so viel bleibt doch immer
unwidersprechlich,
daß
diejenigen,
welche
die Idee
davon
populär machen wollen, sich schwerlich faßlicher und schicklicher hätten ausdrücken können,
als
durch die Benennung eines
Sohnes, den Gott von Ewigkeit zeugt.
8- 74.
Und die Lehre von der Erbsünde. — Wie, wenn uns endlich alles überführte, daß der Mensch auf der ersten und niedrigsten Stufe seiner Menschheit schlechterdings so Herr
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
71
seiner Handlungen nicht sei, daß er moralischen Gesetzen fol
gen könne?
§. 75. Und die Lehre von der Genugthuung des Sohnes. —
Wie, wenn uns endlich alles nötigte, anzunehmen: daß Gott, ungeachtet jener ursprünglichen Unvermögenheit des Menschen, ihm dennoch moralische Gesetze lieber geben, und ihm alle Übertretungen, in Riicksicht auf seinen Sohn, d. i. in Rück sicht auf den selbständigen Umfang aller seiner Vollkommen heiten, gegen den und
in
jede Unvollkommenheit
dem
des
Einzeln verschwindet, lieber verzeihen wollen; als daß er sie ihm nicht geben, und ihn von aller moralischen Glückseligkeit
ausschließen
wollen,
die
sich
moralische Gesetze nicht
ohne
denken läßt?
8- 76. Man wende nicht
ein,
daß
dergleichen Vernünfteleien
über die Geheimnisse der Religion untersagt sind. — Das
Wort Geheimnis bedeutete in den ersten Zeiten des Christen
tums ganz etwas anders, als wir itzt darunter verstehen; und die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunstswahrheiten ist schlechterdings notwendig,
Geschlechte damit
geholfen
sein
soll.
wenn dem menschlichen Als
sie
geoffenbaret
wurden, waren sie freilich noch keine Vernunftswahrheiten;
aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden.
Sie waren
gleichsam das Facit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraussagt, bannt sie sich im Rechnen einigermaßen danach
richten können.
Wollten sich die Schüler an dem voraus
gesagten Facit begnügen:
so würben sie nie rechnen lernen,
und die Absicht, in welcher der gute Meister ihnen bei ihrer
Arbeit einen Leitfaden gab, schlecht erfüllen.
§• 77. Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit bereit historischen Wahrheit, wenn man will, es so miß-
72
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
lich aussieht, gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unsrer Natur, von unsern Verhältnissen
zu Gott, geleitet werden könne«», auf welche die menschliche Verirunst von selbst nimmermehr gekommen wäre?
§. 78. Es ist nicht wahr, daß Spekulationen über diese Singe
jemals Unheil gestiftet, und der bürgerlichen Gesellschaft nach
teilig geworden. — Nicht den Spekulationen: dem Unsinne,
der Tyrannei, diesen Spekulationen zu steuern; Menschen, die
ihre eigenen hatten, nicht ihre eigenen zu gönnen, ist dieser Vorwurf zu machen. 8- 79. Vielmehr sind dergleichen Spekulationen — mögen sie im
einzeln doch ausfallen, wie sie wollen — unstreitig die schick lichsten Übungei» des menschliche»» Verstandes überhaupt, so lange das menschliche Herz überhaupt höchstens nur vermögend ist, die Tugend wegen ihrer ewigen glückseligen Folgen zu
lieben.
§. 80. Dein» bei dieser Eigennützigkeit des menschlichen Herzens auch den Verstand nur allein an dein üben wollen, was unsere körperlichen Bedürfnisse betrifft, würde ihn mehr stumpfen, als
wetzen heißen.
Er will schlechterdings mt geistigen Gegen
ständen geübt sein, wenn er zu seiner völligen Aufklärung ge langen, und diejenige Reinigkeit des Herzens hervorbringen
soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht.
§• 81. Oder soll das menschliche Geschlecht
auf diese
höchste
Stufei» der Aufklärung und Reinigkeit nie kommen? 'Nie?
§. 82. Nie? — Laß mich diese Lästerung nicht denken. Allgütiger! — Die Erziehung hat ihr Ziel: bei dem Geschlechte nicht
73
Die Erziehung des Menschengeschlechts. weniger als bei dem Einzeln.
Was erzogen ivird, wird zu
etwas erzogert.
8- 83. Die schmeichelnden Aussichten, die man dem Jünglinge
eröffnet; die Ehre, der Wohlstand, die man ihm vorspiegelt:
was sind sie mehr, als Mittel, ihn zum Manne zu erziehen,
der
auch
dann,
wenn
diese Aussichten
der Ehre
und
des
Wohlstandes wegfallen, seine Pflicht zu thun vermögend sei. §• 84.
Darauf zwecke die menschliche Erziehung ab:
und die
göttliche reiche dahin nicht? Was der Kunst mit dem Einzeln gelingt, sollte der Natur nicht auch mit dem Ganzen gelingen?
Lästerung! Lästerung!
8- 85. Neiir; sie wird kommen, sie ivird gewiß kommen, die Zeit
der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand
einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft
gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht nötig haben wird; da er das Gute thun wird, weil es
das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf ge
setzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen.
§. 86. Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen
Evangeliums, die uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird.
§. 87. Vielleicht, daß selbst gewisse Schwärmer des dreizehnten
und
vierzehnten
Jahrhunderts
einen
Strahl
dieses
neuen
ewigen Evangeliums aufgefangen hatten; und nur darin irrten, daß sie den Ausbruch desselben so nahe verkündigten.
74
Die Erziehung des Menschengeschlechts. §• 88. Vielleicht war ihr dreifaches Alter der Welt keine so
leere Grille; und gewiß hatten sie keine schlimme Absichten, wenn sie lehrten, daß der Neue Bund ebensowohl antiquieret werden muffe, als es der Alte geworden. Es blieb auch bei ihnen immer die nämliche Ökonomie des nämlichen Gottes.
Immer — sie meine Sprache sprechen zu lassen — der nämliche Plan der allgemeinen Erziehung des Menschengeschlechts.
§. 89.
Nur daß sie ihn übereilten; nur daß sie ihre Zeitgenossen, die noch kaum der Kindheit entwachsen waren, ohne Aufklärung, ohne Vorbereitung, mit eins zu Männern machen zu können glaubten, die ihres dritten Zeitalters würdig wären.
§. 90.
Und eben das machte sie zu Schwärmern.
Der Schwärmer
thllt oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann
diese Zukunft nur nicht erwarten.
Er wünscht diese Zukunft
beschleuniget; und wünscht, daß sie durch ihn beschleuniget werbe. Wozu sich die Statur Jahrtausende Zeit nimmt, soll in deni
Augenblicke seines Daseins reifen.
Denn was hat er davon,
wenn das, was er für das Bessere erkennt, nicht noch bei
seinen Lebzeiten das Bessere wird? Kömmt er wieder? Glaubt
er wieder zu kommen? — Sonderbar, daß diese Schwärmerei allein unter beu Schwärmern nicht mehr Mode werden will!
§. 91. Geh' deinen «»merklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln.
— Laß
mich
an
dir nicht verzweifeln,
wenn
selbst
deine
Schritte mir scheinen sollten zurückzugehen! — Es ist nicht
wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist. §. 92.
Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! so viel Seitenschritte zu thun! — Und wie? wenn es nun gar
75
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
so gut als ausgemacht wäre, daß das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher
bringt,
nur durch kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde,
deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert? §. 93. Nicht anders! Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch
(der früher, der später) erst durchlaufen haben. — „In einem „und ebendemselben Leben durchlaufen haben? Kann er in
„ebendemselben Leben ein sinnlicher Jude und ein geistiger „Christ gewesen sein? Kann er in ebendemselben Leben beide „überholet haben?"
§. 94. Das wohl nun nicht! — Aber warum könnte jeder einzelne
Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein? §• 95.
Ist diese Hypothese darum so
lächerlich,
weil
sie
die
älteste ist? weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und
geschwächt
hatte,
sogleich
darauf
verfiel? 8- 96. Warum
könnte auch ich nicht hier bereits einmal alle
die Schritte zu meiner Vervollkommnung gethan haben, welche
bloß zeitliche Strafen und Belohnungen den Menschen bringen
können? §. 97. Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu thun uns die Aussichten in ewige Belohnungen so mächtig helfen?
§. 98. Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als
ich
neue Kenntniffe, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin?
f6
Die Erziehung des Menschengeschlechts.
Bringe ich auf einmal so viel weg, daß es der Mühe wieder zu kommen etwa nicht lohnet?
8- 99. Darum nicht? — Oder, weil ich es vergesse, daß ich schon da gewesen?
Wohl mir, daß ich das vergesse.
Die
Erinnerung meiner vorigen Zustände ivürde mir »ur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben.
Und was ich auf itzt vergeßen muß, habe ich denn das auf ewig vergessen? §• 100.
Oder,
weil so zu viel Zeit für mich verloren gehen
würde? — Verloren? — Und was habe ich denn zu versäumen?
Ist nicht die ganze Ewigkeit meiti?
Auswahl aus den
ßttrfen von Lessing.
Geliebte Schwester!
h habe zwar an Dich geschrieben, allein Du hast nicht geant
J
wortet. Ich muß also denken, entweder Du kannst nicht schrei
ben, oder Du willst nicht schreiben.
Und fast wollte ich das erste
Jedoch ich will auch das andre glauben; Du willst
behaupten.
Beides ist strafbar. Ich kann zwar nicht einsehn,
nicht schreiben.
wie dieses beisammen stehen kann: ein vernünftiger Mensch zu sein; vernünftig reden können, und gleichwohl nicht misten, wie man
einen Brief aufsetzen soll. Du schön.
Schreibe wie Du redest,
so schreibst
Jedoch; hätte auch das Gegenteil statt, man könnte
vernünftig reden, dennoch aber nicht vernünftig schreiben, so wäre
es für Dich eine noch größere Schande, daß Du nicht einmal so
viel gelernet.
Du bist zwar Deinem Lehrmeister sehr zeitig aus
der Schule gelaufen, und schon in Deinem zwölften Jahre hieltest Du es vor eine Schande etwas mehres zu lernen; allein wer weiß,
welches die größte Schande ist?
in seinem zwölften Jahre noch
etwas zu lernen, als in seinem achtzehnten oder neunzehnten noch keinen Brief schreiben können. Schreibe ja! und benimm mir diese
falsche Meinung von Dir. an das neue Jahr gedenken. Gutes.
Im Vorbeigehen muß ich doch auch
Fast jeder wünschet zu dieser Zeit
Was werde ich Dir aber wünschen? Ich muß wohl was
Besonders haben.
Ich wünsche Dir, daß Dir Dein ganzer Mam
mon gestohlen würde.
Vielleicht würde es Dir mehr nützen, als
80
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
wenn jemand zum neuen Jahre Deinen Geldbeutel mit einigen Hundert Stück Dukaten vermehrte.
Lebe wohl! Ich bin Dein Meißen,
treuer Bruder
den 30. Dezember 1743.
G. E. Lessing.
Hochzuehrender Herr Vater,
Daß ich Ihnen sogleich auf den letzten Brief antworte, ge
schiehet um des Herrn Rektors willen, welcher seinen Brief je eher
je lieber wollte bestellet wissen.
Das Lob, welches S i e mir, wegen
des verfertigten poetischen Sendschreibens an den Herrn Obrist
lieutenant von Carlowiz, unverdient erteilet, soll mich, ob ich gleich wenig Lust habe diese Materie noch einmal vor die Hand zu neh
men, anreizen nach Dero Verlangen ein kürzeres, und, wo es mir möglich, ein besseres zu machen.
Zwar, Ihnen es frei zu gestehen, wenn ich die Zeit, die ich damit schon zugebracht und noch zubringen muß, überlege, so muß ich mir selbst den Vorwurf machen, daß ich sie auf eine unnütze
Weise versplittert.
Der beste Trost dabei ist, daß es auf Dero
Befehl geschehen. Sie bedauern mit Recht das arme Meißen, welches jetzo mehr einer Totengrube als der vorigen Stadt ähnlich siehet.
Alles ist
voller Gestank und Unflat, und wer nicht hereinkommen muß, bleibt
gerne so weit von ihr entfernt, als er nur kann.
Es liegen in
denen meisten Häusern immer noch dreißig bis vierzig Verwundete, zu denen sich niemand sehre nahen darf, weil alle, welche nur etwas
gefährlich getroffen sind, das hitzige Fieber haben.
Es ist eine
weise Vorsicht Gottes, daß diese fatalen Umstände die Stadt gleich im Winter getroffen, weil, wenn es Sommer wäre, gewiß in ihr
die völlige Pest schon grassieren würde. Und wer weiß was noch
81
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
geschiehet!
Jedoch
wir wollen zu Gott das Beste hoffen.
Es
sieht aber wohl in der ganzen Stadt, in Betrachtung seiner vorigen
Umstände, kein Ort erbärmlicher aus als unsere Schule.
Sonst lebte
alles in ihr, jetzo scheint sie wie ausgestorben. Sonst war es was
Rares, wenn man nur einen gesunden Soldaten in ihr sahe; jetzo sieht man einen Haufen Verwundete hier, von welchen wir nicht
wenig Ungemach empfinden müssen.
Das Cönakul ist zu einer
Fleischbank gemacht worden, und wir sind gezwungen in dem kleinern Auditorio zu speisen.
Die Schüler, welche verreiset, haben wegen
der Gefahr in Krankheiten zu verfallen ebensowenig Lust zurück zukehren, als der Schulverwalter, die drei eingezognen Tische wie
der herzustellen.
Was mich anbelanget, so ist es mir um so viel
verdrießlicher, hier zu sein, da Sie sogar entschlossen zu sein schei nen, mich auch den Sommer über, in welchem es vermutlich zehn-
rnal ärger sein wird, hier zu lassen. Ich glaube wohl, die Ursache,
welche Sie dazu bewogen, könnte leicht gehoben werden.
Doch
ich mag von einer Sache, um die ich schon so oft gebeten, und die
Sie doch kurzum nicht wollen, kein Wort mehr verlieren. Ich ver
sichere mich unterdessen, daß Sie mein Wohl besser einsehen werden, als ich.
Und bei der Versicherung werde ich, wenn Sie auch bei
der abschläglichen Antwort beharren sollten, doch, wie ich schuldig
bin, noch allezeit Sie als meinen Bater zu ehren und zu lieben fortfahren.
Der Ohrzwang, mit welchem ich seit einiger Zeit bin
befallen gewesen, macht mich so wüste im Kopfe, daß ich nicht ver
mögend bin mehr zu schreiben; ich schließe also mit nochmaliger Versicherung, daß ich lebenslang sein will Dero Meißen
den 1. Februar 1746.
gehorsamster Sohn
G. E. Lessing.
P. S. Was Monsieur Heydem. bei Herr M. Golzen gesagt, ist gänzlich falsch.
Lessing, Werke. XII.
6
82
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Hochzuehrende Frau Mutter, Ich würde nicht so lange angestanden haben, an Sie zu schrei
ben, wenn ich Ihnen was Angenehmes zu schreiben gehabt hätte. Klagen aber und Bitten zu lesen, müssen Sie eben schon so satt sein, als ich bin sie vorzutragen.
Glauben Sie auch nur nicht, daß
Sie das Geringste davon in diesen Zeilen finden werden.
Ich
besorge nur, daß ich bei Ihnen in dem Verdachte einer allzuge
ringen Liebe und Hochachtung, die ich Ihnen schuldig bin, stehe. Ich besorge nur,
daß Sie glauben werden, meine jetzige Auf
führung komme aus lauter Ungehorsam und Bosheit. sorgnis macht mich unruhig.
Diese Be
Und wenn sie gegründet sein sollte,
so würde mich es desto ärger schmerzen, je unschuldiger ich mich daß ich nur mit wenig
weiß.
Erlauben Sie mir derohalben,
Zügen
Ihnen meinen ganzen Lebenslauf auf
Universitäten ab
malen darf; ich bin gewiß versichert, Sie werden alsdann mein jetziges
Verfahren gütiger beurteilen. Ich komme jung von Schulen, in der gewissen Überzeugung, daß mein ganzes Glück in den Büchern
Ich komme nach Leipzig,
an einen Ort, wo man die
ganze Welt im kleinen sehen kann.
Ich lebte die ersten Monate
bestehe.
so eingezogen, als ich in Meißen nicht gelebt hatte. Stets beiden
Büchern, nur mit mir selbst beschäftigt, dachte ich ebenso selten an die übrigen Menschen, als vielleicht an Gott.
Dieses Geständnis
kömmt mir etwas sauer an, und mein einziger Trost dabei ist,
Doch
daß mich nichts Schlimmers als der Fleiß so närrisch machte. es dauerte nicht lange,
so gingen mir die Augen auf:
soll ich
sagen, zu meinem Glücke oder zu meinem Unglücke? Die künftige Zeit wird es en'tscheiden. mich wohl gelehrt,
Ich lernte einsehen, die Bücher würden
aber nimmermehr zu einem Menschen machen.
Ich wagte mich von meiner Stube unter meinesgleichen.
Guter
Gott! was vor eine Ungleichheit wurde ich zwischen mir und an dern gewahr.
Eine bäuersche Schüchternheit, ein verwilderter und
ungebauter Körper, eine gänzliche Unwissenheit in Sitten und Um gänge, verhaßte Mienen, aus welchen jedermann seine Verachtung
zu lesen glaubte, das waren die guten Eigenschaften, meiner
eignen
Beurteilung
übrig
blieben.
Scham, die ich niemals empfunden hatte.
Ich
die mir bei
empfand
eine
Und die Wirkung der-
83
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
selben war der feste Entschluß, mich hierin zu bessern, es koste was
es wolle.
Sie wissen selbst wie ich es anfing.
fechten, voltigieren.
Ich lernte tanzen,
Ich will in diesem Briefe meine Fehler auf
richtig bekennen, ich kann auch also das Gute von mir sagen. Ich kam in diesen Übungen so weit, daß mich diejenigen selbst, die
mir im voraus alle Geschicklichkeit darinnen absprechen einigermaßen bewunderten.
wollten,
Dieser gute Anfang ermunterte mich
Mein Körper war ein wenig geschickter geworden, und ich
heftig.
suchte Gesellschaft, um nun auch leben zu lernen.
Ich legte die
ernsthaften Bücher eine Zeitlang auf die Seite, um mich in den
jenigen umzusehn, die weit angenehmer und vielleicht ebenso nütz lich sind.
Die Komödien kamen mir zur erst in die Hand.
Es
mag unglaublich vorkommen, wem es will, mir haben sie sehr große
Dienste
gethan.
eine grobe und
Ich
lernte daraus eine artige und gezwungne,
natürliche Ausführung unterscheiden.
Ich lernte
wahre und falsche Tugenden daraus kennen, und die Laster ebenso sehr wegen ihres Lächerlichen als wegen ihrer Schändlichkeit fliehen.
Habe ich aber alles dieses nur in eine schwache Ausübung gebracht, so hat es gewiß mehr an andern Umständen als an meinem Willen Doch bald hätte ich den vornehmsten Nutzen, den die Lust
gefehlt.
spiele bei mir gehabt haben, vergessen. kennen,
Ich
lernte mich
selbst
und seit der Zeit habe ich gewiß über niemanden mehr
gelacht und gespottet, als über mich selbst.
Doch ich weiß nicht,
was mich damals vor eine Thorheit überfiel, daß ich auf den Ent schluß kam, selbst Komödien zu machen.
Ich wagte es, und
als
sie aufgeführt wurden, wollte man mich versichern, daß ich nicht unglücklich darin wäre.
Man darf mich
nur in
einer Sache
loben, wenn man haben will, daß ich sie mit mehrerm Ernste treiben soll.
Ich sann dahero Tag und Nacht, wie ich in einer Sache
eine Stärke zeigen möchte, in der, wie ich glaubte, sich noch kein
Deutscher allzusehr hervorgethan hatte.
Aber plötzlich ward ich in
meinen Bemühungen, durch Dero Befehl nach Hause zu kommen,
gestöret.
Was daselbst vorgegangen, können Sie selbst noch all-
zuwohl wissen, als daß ich Ihnen durch eine unnütze Wiederholung verdrießlich falle.
Man legte mir sonderlich die Bekanntschaft mit
gewissen Leuten, in die ich zufälligerweise gekommen war, zur Last.
Doch hatte ich es dabei Dero Gütigkeit zu danken, daß
84
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
mir andere Verdrießlichkeiten, an denen einige Schulden Ursache waren, nicht so heftig vorgerückt wurden.
Vierteljahr in Camenz,
Ich blieb ein ganzes
wo ich weder müßig noch fleißig war.
Gleich von Anfänge hätte ich meiner Unentschlüssigkeit, welches
Studium ich wohl erwählen wollte, erwähnen sollen. Man hatte
derselben nun über Jahr und Tag nachgesehn. Und Sie werden sich zu erinnern belieben,
gegen was ich mich auf Ihr
Ich wollte Medicinam studieren.
dringendes Anhalten erklärte.
Wie übel Sie aber damit zufrieden waren, will ich nicht wieder Bloß Ihnen zu Gefallen zu leben, erklärte ich mich noch
holen.
über dieses, daß ich mich nicht wenig auf Schulsachen legen wollte, und daß es mir gleich sein würde, ob ich einmal durch dieses oder
jenes fortkäme.
In diesem Vorsatze reiste ich wieder nach Leipzig.
Meine Schulden waren bezahlt, und ich hätte nichts weniger vermutet, als wieder darein
zu verfallen.
Doch meine weit-
läuftige Bekanntschaft, und die Lebensart, die meine Bekannte
an mir gewohnt waren, ließen mich an eben dieser Klippe noch mals
scheitern.
Ich sahe allzudeutlich,
wenn
ich
in Leipzig
bleibe, so werde ich nimmermehr mit dem, was mir bestimmt ist,
auskommen können. Der Verdruß, den ich hatte, Ihnen neue Un gelegenheit
zu
verursachen,
Leipzig wegzugehen. Zuflucht.
brachte mich auf den Entschluß von
Ich erwählte Berlin gleich anfangs zu meiner
Es nmßte sich wunderlich schicken, daß mich gleich zu
der Zeit Herr Lessing aus Wittenberg besuchte.
Ich reifete mit
ihm nach kurzer Zeit dahin ab, einige Tage mich daselbst aufzu halten und umzusehn, und alsdann noch zur Sonnenfinsternis in
Berlin zu sein. Aber ich ward krank. Ich bin mir niemals selbst zu einer unerträglichern Last gewesen als damals.
Doch ich hielt
es einigermaßen vor eine göttliche Schickung; wenn es nicht was Unanständiges ist, daß inan auch in solchen kleinen und geringen Sachen sich auf sie berufen will.
Nach meiner Genesung beschloß
ich mit des Herrn Vaters Einwilligung in Wittenberg den Winter
über zu verbleiben, und hoffte gewiß, dasjenige mieber zu ersparen, ums ich in Leipzig zugesetzt hatte. Doch ich wurde bald gewahr, daß
das, was in meiner Krankheit und durch andre Umstände, die
ich aber jetzo verschweigen will, aufgegangen war, mehr als
ein Quartal Stipendia ausmachte.
Der alte Vorsatz wachte also
85
Auswahl aus den Briefen von Lessing. bei mir wieder auf, nach Berlin m gehen.
Ich kam, und bin noch
da, in was vor Umständen, wissen Sie selbst am besten. Ich hätte längst unterkommen können, wenn ich mir, was die Klei
dung anbelangt, ein bessers Ansehn hätte machen können. Es ist dieses in einer Stadt gar tu nötig, wo man meistens den
Augen in Beurteilung eines Menschen trauet. einem Jahre
Nun beinahe vor
hatten Sie mir eine neue Kleidung zu versprechen,
die Gütigkeit gehabt.
Sie mögen daraus schließen, ob meine letztre
Bitte allzu unbesonnen gewesen ist.
Sie schlagen mir es ab, unter
dem Vorwande, als ob ich, ich weiß nicht wem zu Gefallen
Ich will nicht zweifeln, daß meine Sti-
hier in Berlin wäre.
pendia wenigstens noch bis Ostern dauern sollten.
Ich glaube also,
daß meine Schulden genugsam damit können bezahlt werden.
ich sehe wohl,
daß die nachteilig
Aber
gefaßte Meinung von einem
Menschen, der, wenn er mir auch sonst nie Gefälligkeiten erzeigt
hätte, mir sie doch gewiß jetzo erzeigt, da sie mir just am nötig
sten sind, daß, sage ich, diese nachteilig gefaßte Meinung die vor nehmste Ursache ist, warum Sie mir in meinen Unternehmungen so sehr zuwider sind.
Es scheint ja, als wenn Sie ihn vor einen
Abscheu aller Welt hielten.
Geht dieser Haß nicht zu weit? Mein
Trost ist, daß ich in Berlin eine Menge rechtschaffner
und vor
nehmer Leute finde, die ebenso viel aus ihm machen als ich. Sie sollen sehn, daß ich nicht an ihn gebunden bin.
Doch
Sobald als
ich eine nochmalige Antwort von Ihnen erhalte, worin Sie mir eben das sagen, was ich aus dem letzten Briefe habe schließen müssen, will ich mich ungesäumt von Berlin weg begeben. Hause komme ich nicht.
Nach
Auf Universitäten gehe ich jetzo auch nicht
wieder, weil außerdem die Schulden mit meinen Stipendiis nicht
können bezahlt werden, und ich Ihnen diesen Aufwand nicht zumute« kann. Hannover.
Ich gehe ganz gewiß nach Wien, Hamburg oder
Doch können Sie versichert sein, daß ich, ich mag sein
wo ich will, allezeit schreiben und niemals die Wohlthaten ver gessen werbe, die ich von Ihnen so lange genossen. Ich finde an allen drei Örtern sehr gute Bekannte und Freunde von mir.
Wenn ich auf meiner Wanderschaft nichts lerne, so lerne ich mich
doch in die Welt schicken.
Nutzen genug! Ich werde doch wohl
noch an einen Ort kommen, wo sie so einen Flickstein brauchen.
86
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Darf ich noch was bitten, so ist es dieses, daß Sie
wie mich.
gewiß glauben mögen, daß ich meine Eltern allezeit so sehr wie mich
Ich werde an den Herrn Inspektor und Herrn Pastor
geliebt habe.
Lindnern gewiß schreiben, sobald als es nicht mehr scheinen wird, daß meine Briefe nichts als eine Aufmunterung zu neuen Wohl
thaten sind.
Durch meine Entfernung von Berlin glaube ich Ihnen
kein geringes Merkmal meines Gehorsams zu geben, der ich auch zeitlebens verharren werde Dero Berlin,
gehorsamster Sohn
den 20. Jenner 1749.
Lessing.
Hochzuehrender Herr Vater,
Ich bin einige Tage in Frankfurt gewesen, und das ist die
Ursache, warum ich Dero Briefe, mit Einschluß von 9 Rthlr., etwas später erhalten habe, und jetzo erst imstande bin darauf zu
antworten. Sie verlangen durchaus, daß ich nach Hause kommen soll. Sie fürchten, ich möchte in der Absicht nach Wien gehen, daselbst
ein Komödienschreiber zu werden. ich
müsse
hier Herr
Sie wollen vor gewiß wissen,
zur
Mylius
Hunger und Kummer ausstehen.
Frone arbeiten,
und dabei
Sie schreiben mir sogar ganz
unverhohlen, es wären lauter Lügen, was ich Ihnen von unter-
schiednen
Gelegenheiten, hier
unterzukommen, geschrieben hätte.
Ich bitte Sie inständigst, setzen Sie sich einen Augenblick an meine
Stelle, und überlegen, wie einem solche ungegründete Vorwürfe
schmerzen müssen, deren Falschheit, wenn Sie mich nur ein wenig
kennen, Ihnen durchaus in die Augen fallen muß.
Doch muß ich
mich am meisten wundern, wie Sie den alten Vorwurf von den
Komödien wieder haben aufwärmen können.
Daß ich zeitlebens
keine mehr machen oder lesen wollte, habe ich Ihnen niemals ver
sprochen, und Sie haben sich gegen midj viel zu vernünftig alle
zeit erzeigt, daß Sie es je im Ernste verlangt hätten.
Wie können
Sie schreiben, daß ich in Wittenberg nichts als Komödien gekauft
87
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
hätte? da doch unter den daselbst befindlichen Büchern nicht mehr als aufs höchste zwei sich befinden können.
Der größte Teil der
selben besteht aus statistischen Schriften, die Ihnen ganz natür
licherweise hätten können schließen lassen, daß ich künftig gesonnen wäre, ebenso viel in der Welt, und in dem Umgänge der Menschen
zu studieren, als in Büchern. Meine Korrespondenz mit Komödianten
ist ganz anders, als Sie sich einbilden.
Nach Wien habe ich an
den Baron Seiller geschrieben, welches der Direktor von allen Theatern im Östreichschen ist, ein Mann dessen Bekanntschaft mir
keine Schande ist, und mir noch Zeit genug nützen kann.
Ich
habe nach Danzig und Hannover an gleiche, oder wenigstens sehr geschickte Leute geschrieben, und ich glaube, es kann mir kein Bor
wurf sein, wenn man mich auch an mehreren Orten als in Camenz
kennt.
Werfen Sie mir nicht dagegen ein, es kennten mich nur
Komödianten.
Wenn mich die kennen, so müssen mich notwendig
auch alle kennen, die meine Arbeit von ihnen haben aufführen Ich könnte Ihnen aber auch Briefe,
sehn.
zum Exempel aus
Kopenhagen, weisen, die nicht von Komödianten geschrieben sind,
zum Zeugnisse, daß mein Briefwechsel nicht bloß die Schauspiele zum Grunde habe. Und ich mache mir ein Vergnügen daraus, ihn
alle Tage zu erweitern. Ich werde ehstens nach Paris, an den Herrn Crebillon schreiben, so bald als ich mit der Übersetzung seines Catilina zustande bin.
Sie sagen, daß Ihnen meine Ma
nuskripte zeigten, daß ich viel angefangen, aber wenig fortgesetzt
hätte?
Ist das
so
ein groß Wunder?
bentis et otia quaerunt.
Musae
secessum scri-
Aber nondum Deus nobis haec otia
fecit. Und wenn ich gleichwohl alles nennen wollte, was hier und
da von mir zerstreuet ist (ich will meine Schauspiele
nicht dazu
rechnen, weil sich doch die meisten einbilden, das wären Sachen,
die ebenso wenig Mühe erforderten, als sie Ehre brächten), so
würde es bei alledem doch noch was austragen.
Ich werde mich
aber wohl hüten, Ihnen das geringste davon zu nennen, weil es Ihnen
möchte.
vielleicht noch
weniger als
meine
Schauspiele
anstehen
Ich wollte nur, daß ich beständig Komödien geschrieben
hätte, ich wollte jetzo in ganz andern Umständen sein.
Die von
mir nach Wien und Hannover gekommen sind, habe ich sehr wohl
88
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Doch haben Sie die Gütigkeit sich noch wenige
bezahlt erhalten.
Monate zu gedulden, so sollen Sie sehen, daß ich in Berlin nicht
müßig bin, oder nur vor andre arbeite.
Glauben Sie denn nicht,
daß ich alles weiß, von wem Sie solche Nachrichten bekommen haben?
daß ich
weiß, an wen, und wie oft Sie meinetwegen
nach Berlin an Personen geschrieben haben, die notwendig durch
Ihre Briefe einen sehr Übeln Koncept haben von mir bekommen
müssen ?
Doch ich will glauben, daß Sie es zu meinem Besten
gethan haben, und Ihnen den Schaden und Verdruß nicht schuld geben, der mir daraus entstanden ist.
Was die Stelle in dem
Seminario philologico in Göttingen anbelangt, so bitte ich Ihnen
inständigst sich alle ersinnliche Mühe deswegen zu geben.
Ich ver
spreche es Ihnen, bei Gott, daß ich, sobald es gewiß ist, alsobald
nach Hause kommen, oder gleich von hier aus dahin gehn will. Wissen Sie aber gar nichts Gewisses vor mich, so ist es ja besser, daß ich hier bleibe, an einem Orte, wo ich mein Glück machen
kann, gesetzt, ich müßte auch warten.
Was soll ich zu Hause?
Ich habe also das Geld, das Sie mir zu schicken die Gütigkeit gehabt haben, nebst dem, was ich zum Teil vor meine Arbeit er halten habe, zu einer neuen Kleidung angewandt; und ich befinde
mich in dem Zustande, mich wieder bei allen sehn zu lassen, und diejenigen, deren Dienste ich suche, selbst anzugehn.
Dieses war
nötiger, als daß ich Ihnen mit meiner unnützen Gegenwart zu
Hause
beschweren
sollte.
Wäsche, und meine
Es fehlt mir jetzo nichts als
Bücher.
Ich
meine
habe Ihnen den Katalogen
schon davon überschrieben, und erwarte sie mit größtem Verlangen.
Sie können leicht erachten, wie schwerlich es sei, sich mit geborgten
Büchern zu behelfen. Gefälligkeit.
Ich bitte Ihnen also noch um diese einzige
Ich kann nicht zweifeln, daß Sie das Friesische Sti
pendium nicht noch erhalten sollten, und die Fracht kann so viel
nicht austragen.
so viel als keine.
Eine gute Kleidung ohne genügsame Wäsche ist Ich bitte Sie, mir nur noch Zeit bis Johannis
zu lassen; ist es alsdann noch nichts mit meinem Unterkommen
geworden, so will ich alles thun, was Sie verlangen.
Erlauben
Sie mir, daß ich Ihnen die Rede eines Vaters bei dem Plauto mitteile, welcher gleichfalls mit seinem Sohne nicht durchaus zu
frieden war.
89
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Non optuma haec sunt neque ego ut aequum censeo. Verum meliora sunt, quam quae deterrima. Sed hoc unum consolatur me atque animum meum Quia, qui nihil aliud, nisi quod sibi soll placet Consulit adversum filium, nugas agit: Miser ex animo fit: secius nihilo facit. Suae senectuti is acriorem hiemem parat etc. Die Gedanken sind so vernünftig, daß die Ihrigen notwendig damit
übereinstimmen müssen. Was hat die Frau Mutter Ursache sich so über mich zu betrüben?
Es muß ihr ja gleich viel sein, ob ich
hier oder da mein Glück finde, wenn sie mir es wirklich gönnet,
wie ich es gewiß
glaube.
Und wie
haben Sie sich
vorstellen
können, daß ich, wenn ich auch nach Wien gegangen wäre, daselbst Daraus kann ich schließen,
meine Religion würde verändert haben?
wie sehr Sie wider mich eingenommen sein müssen.
hoffe ich, soll mir Gelegenheit geben, sowohl
Doch Gott,
meine Liebe
gegen
meine Religion, als gegen meine Eltern deutlich genug an Tag zu legen.
Ich verbleibe
Dero Berlin, den 10. April 1749.
gehorsamster Sohn L.
Hochzuehrender Herr Vater, Ich erhalte jetzo den Augenblick Dero Schreiben vom 25. April,
welches ich um so viel lieber alsobald beantworte, je angenehmer mir es gewesen ist. meinem
letztern
Sie können gewiß versichert sein, daß ich in
Briefe
nichts Ungegründetes
geschrieben
Alles was ich darinnen versprochen, will ich genau erfüllen.
habe. Und
ich werde mit ebenso großem Vergnügen nach Göttingen reisen,
als ich nimmermehr nach Berlin gereiset bin.
Die Briefe an den
Geheimen Rat von Münckhausen, und an den Herrn Professor Geßner sollen unfehlbar über acht Tage in Eamenz sein.
Meinen Koffer
erwarte mit großen: Verlangen, und ich bitte nochmals inständig,
90
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
alle die Bücher hineinzulegen, die ich in einem meiner Briefe be
nennt
habe.
Ich bitte mir auch das vornehmste
von meinen
Manuskripten mit aus, auch die einigen Bogen Wein und Liebe. Es sind freie Nachahmungen des Anakreons, wovon ich schon einige in Meißen gemacht habe.
Ich glaube nicht, daß mir sie
der strengste Sittenrichter zur Last legen kann. Vita verecunda est, Musa jocosa mihi.
So entschuldigte
sich Martial im gleichen Falle.
Und man muß
mich wenig kennen, wenn man glaubt, daß meine Empfindungen im geringsten damit harmonieren.
Sie verdienen auch nichts weniger
als den Titel, den Sie ihnen, als ein allzustrenger Theologe, geben. Sonst würden die Oden und Lieder des größten Dichters unsrer
Zeiten, des Henn von Hagedorns, noch eine viel ärgre Benenung wert sein.
In der That ist nichts als meine Neigung, mich in
allen Arten der Poesie zu versuchen, die Ursache ihres Daseins.
Wenn man nicht versucht, welche Sphäre uns eigentlich zukömmt,
so wagt man sich oftermals in eine falsche, wo man sich kaum über das Mittelmäßige erheben kann, da man sich in einer andern
hätte
schwingen
vielleicht
bis zu einer wundernswürdigen Höhe
können.
Sie werden aber auch vielleicht gefunden haben, daß ich
mitten in dieser Arbeit abgebrochen habe, und es müde geworden
bin, mich in solchen Kleinigkeiten zu üben.
Wenn man mir mit Recht den Titel eines deutschen Moliöre
beilegen könnte, so könnte ich gewiß eines ewigen Namens ver sichert sein.
Die Wahrheit zu gestehen, so habe ich zwar sehr
große Lust ihn zu verdienen, aber sein Umfang und meine Ohn
macht sind zwei Stücke, die auch die größte Lust ersticken können. Seneca giebt den Rat: Omnem operam impende ut te aliqua
dote notabilem facias.
Aber es ist sehr schwer, sich in einer
Wissenschaft notabel zu machen, worin schon allzuviele excelliert haben.
Habe ich denn also sehr übel gethan, daß ich zu meinen
Jugendarbeiten
etwas
gewählt habe,
worin
meiner Landsleute ihre Kräfte versucht haben?
noch
sehr
wenige
Und wäre es nicht
thöricht, eher aufzuhören, als bis man Meisterstücke von mir ge
lesen hat.
Den Beweis, warum ein Komödienschreiber kein guter
Christ sein könne, kann ich nicht ergründen.
Ein Komödienschreiber
91
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
ist ein Mensch, der die Laster auf ihrer lächerlichen Seite schildert. Darf denn ein Christ über die Laster nicht lachen? Laster so viel Hochachtung?
Verdienen die
Und wenn ich Ihnen nun gar ver
spräche, eine Komödie zu machen, die nicht nur die Herrn Theologen
lesen, sondern auch loben sollen? Halten Sie mein Versprechen vor
unmöglich?
Wie wenn ich eine auf die Freigeister und auf die
Verächter Ihres Standes machte?
Ich weiß gewiß, Sie würden
vieles von Ihrer Schärfe fahren lassen. Schließlich muß ich Ihnen melden, daß ich seit acht Tagen das
Fieber und zwar das Quotidianfieber habe. Es ist aber doch noch so gnädig gewesen, daß ich mich nicht habe dürfen niederlegen,
und ich hoffe
es auch in kurzem
mit Gottes Hilfe los zu sein.
Machen Sie sich keine fernern Gedanken.
Ich verbleibe nebst er
gebenstem Empfehl an die Frau Mutter
Dero gehorsamster Sohn
Berlin
den 28. April 1749.
Lessing.
Hochzuehrender Herr Vater, Ich habe den Koffer mit den specificierten, darinnen enthal
Ich danke Ihnen vor diese große
tenen Sachen richtig erhalten.
Probe ihrer Gütigkeit, und ich würde in meinem Danke weitläu
figer sein, wenn ich nicht, leider, aus allen Ihren Briefen gar zu
deutlich schließen müßte, daß Sie eine Zeitlang her gewohnt sind, das Allerniedrigste, Schimpflichste und Gottloseste von mir zu ge
denken, sich zu überreden, und überreden zu lassen.
Notwendig
muß Ihnen also auch der Dank eines Menschen, von dem Sie so vorteilhafte Meinungen hegen, nicht anders als verdächtig sein.
Was soll ich aber dabei thun? schuldigen?
Soll
ich
Soll ich mich weitläuftig ent
meine Verleumder beschimpfen,
Rache ihre Blöße aufdecken?
und zur
Soll ich mein Gewissen--------- soll
ich Gott zum Zeugen anrufen?
Ich müßte weniger Moral in
92
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
meinen Handlungen anzuwenden gewohnt sein, als ich es in der That bin, wenn ich mich so weit vergehen wollte.
Aber die Zeit
soll Richter sein. Die Zeit soll es lehren, ob ich Ehrfurcht gegen meine Eltern, Überzeugung in meiner Religion, und Sitten in
meinem Lebenswandel habe.
Die Zeit soll lehren, ob der ein
bessrer Christ ist, der die Grundsätze der christlichen Lehre im Ge
dächtnisse, und oft ohne sie zu verstehen, im Munde hat, in die
Kirche geht, und alle
Gebräuche mitmacht, weil sie
gewöhnlich
sind; oder der, der einmal klüglich gezweiflet hat, und durch den Weg der Untersuchung zur Überzeugung gelangt ist, oder sich we
nigstens noch dazu zu gelangen bestrebet. Die christliche Religion ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treue und Glaube
soll.
annehmen
Die meisten erben sie zwar von ihnen, ebenso
wie ihr Vermögen, aber sie zeigen durch ihre Aufführung auch, was vor rechtschaffne Christen sie sind.
So lange ich nicht sehe,
daß man eins der vornehmsten Gebote des Christentums, seinen Feind zu lieben, nicht besser beobachtet, so lange zweifle ich,
ob diejenigen Christen sind, die sich davor ausgeben. Monsieur Müller hätte etwas wahrhafter sein können in seinen
Nachrichten.
Hier haben Sie die ganze Geschichte Ihres Briefes
an den ältern Herrn Rüdiger, so wie ich sie nur vor wenig Wochen
erfahren habe.
Dieser Mann ist viel zu alt, als daß er sich mit
Briefschreiben noch abgeben könnte, er hat also seine ganze Korre
spondenz seinem Schwiegersohn, dem Herrn Buchhändler Voß auf getragen.
fallen.
Diesem ist der Brief also notwendig in die Hände ge
Dieser hat ihn erbrochen.
Mylius erbrochen haben?
Warum soll ihn denn Herr
Damit man vielleicht in Camenz das
Recht haben möchte, noch nachteiliger von ihm, mit einigem Scheine des Grundes, zu reden? Herrliche Ursache! Herr Mylius war mit Voßen sehr speciell bekannt; denn er ist sein Verleger. Weil sich also
im benannten Briefe auch vieles auf ihn bezogen hat, so hat er ihn demselben gewiesen.
Er wäre fähig genug gewesen, ihm bei
ohnedem
ein
höchst argwöhnischer
Mann ist, den größten Verdacht zuzuziehen.
Wem haben Sie es
dem
alten Rüdiger, welches
also zuzuschreiben, daß sie ihn unterdrückt haben?
Niemanden als
Sich selbst, da Sie eine Person mit ins Spiel gemischt, die doch mit meinen Angelegenheiten gar nichts zu thun hat.
Auf das
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
93
aber, was mich betroffen hat, hat Voß, ich weiß nicht, ob selbst, oder durch seinen Diener, oder durch jemanden anders, antworten lassen. Werde ich denn niemals des Vorwurfs los werden können, den Sie mir wegen Mylius machend Sed facile ex tuis querelis querelas matris agnosco, quae licet alias pia et Integra in hunc nimio flagrat odio. Nostra amicitia nihil unquam aliud fuit, adhuc est et in omne tempus erit quam communicatio studiorum. lllane culpari potest ? Rarus, imo nullus mihi cum ipso sermo intercedit, de parentibus meis, de officiis quae ipsis vel praestanda vel deneganda sint, de cultu Dei, de pietate, de fortuna hac vel illa via amplificanda, ut liabeas quem in illo seductorem et ad minus justa instigatorem meum timeas. Cave, ne de muliebri odio nimium participes. Sed virum te sapientem scio, jus tum aequumque: et satis mihi constat te illud, quod scripsisti, amori in uxorem amore tuo dignissimam dedisse. Veniam dabis me haec paucula latino sermone literis mandasse, sunt enim quae matrem ad suspicionem nimis proclivem offendere possint. Deum tarnen obtestor me illam maxumi facere, arnare et omni pietate colere. Ich versichre Ihnen nochmals, daß alles, was ich von der letztern Kondition geschrieben habe, alles seine Richtigkeit hat. Ich habe Ihnen schon in dem letzten Briefe ersucht, mir mit 10 oder 15 Thalern beizustehen, mich vollends in den gehörigen Stand dazu zu setzen, und ich ersuche Dieselben nochmals darum. Doch was Sie thun wollen, thuen Sie mit ehestem, sonst muß ich meine Zu flucht zu dem Herrn von Röder selbst nehmen, mir ein oder zwei Quartale vorzuschießen. Ich will mich nicht gern länger als noch acht Tage hier in Berlin verweilen. Ich verbleibe nebst er gebenstem Empfehl an die Frau Mutter, der ich über acht Tage antworten will, Dero Berlin gehorsamster Sohn den 30. Mai 1749. Lessing.
94
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Hochzuehrender Herr Vater,
Die Anwort auf Dero zwei letzten Briefe würde ich bis jetzo nicht schuldig geblieben sein, wenn ich so oft hätte schreiben können, als ich gerne gewollt habe.
Schon wieder entschuldige ich mich
mit dem Mangel der Zeit.
Und wer mich diese Entschuldigung
so vielmal brauchen hört, als Sie, der sollte beinahe auf die Ge danken kommen, daß ich wenigstens mehr als ein Amt, hier in Berlin, müsse zu versorgen haben.
So falsch dieses, Gott sei
Dank, ist, so wahr ist es doch, daß meine Entschuldigung so gar
ungegründet nicht ist, als Sie wohl glauben mögen. Der Baron von
der Goltz ist zwar vor vierzehn Tagen wieder aus seine Güter ge
gangen, daß ich also einigermaßen freier gewesen bin; ich habe aber nach seiner Abreise das ganze vierte Stück der theatralischen Bei träge besorgen müssen, was eigentlich schon diese Messe hätte sollen fertig werden, und diese Arbeit hat knich bis an vergangenen
Sonnabend nicht über eine Stunde Herr sein lassen. Sie thuen mir unrecht, wenn Sie glauben, daß ich meine Meinung wegen Göttingen schon wieder geändert hätte.
sichre Ihnen nochmals, daß ich wenn es möglich wäre.
Ich ver-
morgen dahin abreisen wollte,
Nicht weil es mir jetzo eben schlecht in
Berlin gänge, sondern weil ich es Ihnen versprochen habe.
Denn
in der That, ich habe große Hoffnung, daß sich mein Glück bald hier ändern wird.
Bis hieher habe ich zwar vergebens darauf ge
hofft, allein ich muß gestehen, daß vielleicht auch einige Fehler auf
meiner Seite dabei mit untergelaufen sind. man klug.
mir nicht wenig bringen.
Mit Schaden wird
Die Bekanntschaft des Herrn Baron von der Goltz hat
genutzt,
mich hier auf
einen sichrern Weg zu
Denn, außer daß ich etliche 30 Thaler dabei gewonnen
habe, so hat er mir bei unterschiednen von seinen Freunden Zu tritt verschafft, welche mir wenigstens ein Haufen Versprechungen
machen.
Auch diese sind nicht zu verwerfen, wenn sie nur nicht
immer Versprechungen bleiben.
Ich mache keine Rechnung drauf,
und habe meine Sachen so eingerichtet, daß ich auch ohne sie diesen Winter
gemächlich in Berlin leben kann.
Gemächlich
mir, was ein andrer vielleicht zur Not nennen würde.
heißt bei
Allein,
was thut mir das, ob ich in der Fülle lebe oder nicht, wenn ich
Auswahl aus den Briefen von Lessing. nur lebe.
95
Ich will unterdessen, da ich es noch in Berlin mit an
sehe, meine Zeit so anzuwenden suchen, daß ich sie nicht für ver
loren schätzen darf, wenn meine Hoffnung auch fehl schlägt; und
will mich vor allen Dingen bemühen das fertig zu machen, wo durch ich mich in Göttingen zu zeigen gedenke.
Nur noch vorige
Woche habe ich ein sehr beträchtliches Anerbieten des Herrn Baron von Dobreslaw ausgeschlagen, weil es mich an allen meinen übri gen Vorsätzen hindern würde.
Diesem Herrn ist von dem vorigen
Könige die Bibliothek des in Frankfurt sowohl wegen seiner Ge
lehrsamkeit als wegen seiner Narrheit bekannten Professor Ebertus,
die er an den König von Spanien wollte vermacht haben, geschenkt worden. Unter den Manuscriptis dieser Bibliothek befindet sich eine lateinische Übersetzung der Bibliotheque orientale des Herbelot. Diese Übersetzung nun will der Besitzer jetzo drucken lassen, weil
sich das Original sehr rar gemacht hat und oft für 30 Thaler be
zahlt wird.
Weil sie aber sehr unleserlich geschrieben, und auch
oft der Verstand des Französischen darin sehr falsch ausgedrücket ist, so hat der Baron von Dobreslaw seit einigen Wochen sehr in mich
gedrungen, diese Arbeit zu übernehmen, und das ganze Werk aufs neue umzuschmelzen.
Er versprach mir so lange als ich daran
arbeitete, freie Wohnung und Holz, und 200 Thaler.
Allein da
es eine Arbeit ist, die mich wenigstens drei Vierteljahre so be schäftigen würde,
daß ich gar nichts außer derselben verrichten
könnte, und also verschiedne angefangne Sachen müßte liegen lassen,
so habe ich es bedächtlich ausgeschlagen. Die Fortsetzung des Ihnen bekannten Journals und die Übersetzung der römischen Historie des Rollins besetzen meine Zeit so schon mehr als mir
lieb ist.
Da ich übrigens zu Ostern einen Band von meinen thea
tralischen Werken, welcher in den Jenaischen gelehrten Zeitungen schon längst ist versprochen worden, zu liefern gedenke, desgleichen auch eine Übersetzung aus dem Spanischen der Novellas Exem
plares des Cervantes, so werde ich gar nicht über lange Weile zu klagen haben.
Kann ich unterdessen auch mit einem Verleger wegen
des englischen Werks, wovon ich Ihnen schon zu unterschiednenmalen geschrieben habe, zu stände kommen, so werde ich es auch gerne sehen, denn auf meiner Seite habe ich gar nichts mehr daran zu thun.
Auf das Spanische habe ich eine Zeit her sehr viel
96
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Fleiß verwendet, und ich glaube meine Mühe nicht umsonst ange
wendet zu haben.
Da es eine Sprache ist, die eben in Deutsch
land so sehr nicht bekannt ist, so glaube ich, daß sie mir mit der Zeit nützliche Dienste leisten soll. Herr Mylius
zwar Auktionskommissar
ist
geworden,
doch
wer ihm die 1500 Thaler Besoldung angedichtet hat, der hat ihm
Wenn es so viel einbrächte, so wäre ich es
groß unrecht gethan.
selbst geworden, da mir es der jüngere Herr Rüdiger, welcher diese
Stelle wieder niederlegte, so zuerst ganz ernstlich antrug, weil er es nicht eher niederlegen konnte, als bis er einen andern an seinen Platz geschafft hatte. Auch
Wenn es viel ist, so trägt es 400 Thaler ein.
dieses ist genug
für ihn.
Doch
dieses
schreibe
ich allein
Ihnen, weil er vielleicht seine Ursachen mag gehabt haben, seinem
Bruder in Elstra solchen Wind vorzumachen.
nicht, der andern Leuten seine Projekte
Ich bin der Mensch
gerne zu schänden macht.
Der jüngre Mylius ist mit dem ältern Rüdiger zerfallen, und schreibt also die Zeitungen nicht mehr.
Ich bin mehr als einmal darum an
gegangen worden, sie an seiner Statt zu schreiben, wenn ich mit solchen politischen Kleinigkeiten meine Zeit zu verderben Lust ge
habt hätte. Ich habe ein besondres Vergnügen,
in Meißen so wohl zufrieden sind.
daß Sie mit Theophilo
Wenn ich Theophilus wäre,
so hätten Sie es mit mir auch sein sollen.
Da er so fleißig stu
diert, so möchte ich gar zu gerne wissen, was er, und wie er stu diert.
Ich habe es in Meißen schon geglaubt, daß man vieles da
selbst lernen muß, was man in der Welt gar nicht brauchen kann, und jetzo sehe ich es noch viel deutlicher ein.
Herr Wehsen wollte ich von Grund meiner Seelen noch eine Rull an seine Besoldung wünschen. sehr wunderbar zu sein.
Sein Amt aber scheint mir
Wenn die, die zu unserer Religion treten
wollen, erst müssen informiert werden, so haben sie offenbar andre Ursachen, als die Überzeugung der Wahrheit. Denn wenn diese
die Ursache der Veränderung ist, so brauchen sie die Information
nicht. ich.
Doch dieses muß das Oberkonsistorium besser verstehen als Wenn Sie Herr Wehsen sprechen sollten, so werden Sie so
gütig sein, ihn meiner fortdauernden Freundschaft, zu versichern. Ich sende Ihnen hierbei das dritte Stück der theatralischen
97
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Beiträge, worin Sie des Herrn Gregorius in Ehren gedacht finden. Die Recension ist von mir, und es dauert mich nur, daß ich sie
Hätte ich mich durch solch Zeug
nicht noch ärger gemacht habe.
bekannt machen wollen, als er thut, so wollte ich schon ganze
Folianten geschrieben haben.
Sollte er sich über die Ungerechtig
keit meines Urteils beschweren, so will ich ihm das Recht geben, mit meinen Sachen auf gleiche Art zu verfahren.
Die Simonet-
tischen und politisch berlinschen Zeitungen kann ich Ihnen schicken, ohne daß sie mich etwas kosten.
Es ist also nur die Frage, ob
Sie das Postgeld daran wenden wollen. Wenn Betzold nach Berlin bald kömmt, so will ich Ihnen dieses Jahr von den gelehrten
Zeitungen bis jetzo komplett überschicken.
Ich würde es heute bei
legen, wenn das Paket nicht zu groß werden möchte. Wer Ihnen geschrieben hat, daß es mir sehr schlecht ginge, ich
weil
bei Herrn Rüdiger nicht mehr den Tisch
und andre
Einnahme hätte, der hat Ihnen eine große Lügen geschrieben.
Ich
habe mit diesem alten Manne nie länger etwas wollen zu thun
haben, als bis ich mir seine große Bibliothek recht bekannt gemacht hätte.
Dieses ist geschehen, und wir waren also geschiedne Leute.
Der Tisch bekümmert mich in Berlin am allerwenigsten.
Ich kann
für 1 Gr. 6 Pf. eine starke Mahlzeit thun. De la Mettrie, von dem ich Ihnen einigemal geschrieben habe,
ist hier Leibmedikus des Königs. hat viel Aufsehen gemacht.
Seine Schrift l’homme machine
Edelmann ist ein Heiliger gegen ihn.
Ich habe eine Schrift von ihm gelesen, welche Antlseneque ou le souverain bien heißet, und die nicht mehr als zwölfmal ist gedruckt
worden.
Sie mögen aber von der Abscheulichkeit derselben daraus
urteilen, daß der König selbst zehn Exemplare davon ins Feuer geworfen hat.
Es ist Zeit, daß ich meinen Brief schließe, wenn er noch auf der Post soll angenommen werden. Über acht Tage werde ich ganz
gewiß ein mehreres schreiben, desgleichen an die Frau Mutter und an Theophilus.
Ich bin Dero
Berlin,
gehorsamster Sohn
den 2. November 1750.
L.
Lessing, Werke. XII.
7
98
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Hochzuehrender Herr Vater,
Die Antwort auf Dero letztes Schreiben, woran ich, durch die
vielen Umstände, welche man mir wegen der mitgeschickten Wäsche auf dem hiesigen Packhofe machte, vergangen verhindert wurde, würde ich bis jetzo nicht aufgeschoben haben, wenn ich nicht auf
Betzolden gewartet hätte, welcher mir damals sagte, daß er läng stens in vierzehn Tagen wieder in Berlin sein werde.
Ich habe
alles richtig erhalten und bin Ihnen und der Frau Mutter dieser
gütigen Vorsorge wegen höchstens verbunden. Die gelehrten Zeitungen, welche ich nebst andern gedruckten Sachen Betzolden mitgegeben habe, werden Sie ohne Zweifel be kommen haben. heraus sind.
Hier folgen die übrigen Stücke, so viel als davon
Ich würde Ihnen, ohne die geringsten Unkosten auf
feiten meiner, auch die hiesigen politischen Zeitungen mitschicken
können, wenn ich glaubte, daß Ihnen damit gedient wäre.
Sie
sind, wegen der scharfen Censur, größtenteils so unfruchtbar und
trocken, daß ein Neugieriger wenig Vergnügen darin finden kann. Es ist wahr, in Berlin sind Gelehrte die Menge, und unter
diesen erhalten allezeit die Franzosen den Vorzug.
Allein, ich
glaube, daß auch Göttingen daran keinen Mangel hat, und daß ein
Mensch, wie ich bin, auch da aus einem großen Haufen hervorzu dringen hat, wenn er will bekannt werden.
Ich glaube also, daß
es von mir eben nicht allzuklug gehandelt sein würde, wenn ich einen großen Ort mit einem andern vertauschte, wo ich als ein Unbekannter eine Menge Hindernisse von neuem übersteigen müßte, die ich hier zum Teil schon überstiegen habe.
Das wenige, was
ich in Göttingen zu hoffen hätte, kann in keine Betrachtung kommen, weil ich hier in Berlin, das Jahr über, wenigstens auf noch einmal
so viel gewisse Rechnung machen kann.
Meinen Sie aber, daß ich
diesen Verdienst auch in Göttingen beibehalten könnte, so irren Sie
unmaßgeblich.
Er hängt von verschiednen Personen ab, von welchen
ich hernach allzuweit entfernt sein würde, als daß ihnen an meiner Arbeit viel gelegen sein sollte.
Ehe ich in Göttingen dergleichen
Personen wieder auftriebe, würden alle die Verdrießlichkeiten mich nochmals überfallen, die mich hier oft bis zur Verzweiflung ge
bracht haben.
Und sind denn die 50 Thaler und der freie Tisch
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
9Ä
schon ganz gewiß? Ich bin schon allzuoft angeführt worden, als
daß ich mich auf bloße Versprechungen verlassen sollte.
Sie haben
recht, Gottes Vorsorge muß bei meinem Glücke das beste thun;
allein diese kann hier ebensoviel als anderwärts für mich thun.
Ich habe überzeugende Beweise davon, für die ich dem Himmel insbesondre danken würde, wenn ich glaubte, daß man ihm nur
für das Gute danken müßte. Das Lob, welches Theophilus in Meißen hat, hat mich aus nehmend erfreut.
Ich wünsche, daß er den Beifall, den er in der
Schule hat, auch in der Welt haben möge.
Dem guten.Herrn
Konrektor hat es gefallen, seinen Groll gegen mich auch noch in
diesem Briefe ein wenig zu verraten.
Er kann aber nichtsdesto
weniger versichert sein, daß ich alle Hochachtung gegen ihn habe,
ob es mich gleich gar nicht reuet, daß ich ihm nicht in allem ge folgt bin.
Ich weiß wohl, daß es seine geringste Sorge ist, aus
seinen Untergebnen vernünftige Leute zu machen, wenn er nur wackre Fürstenschüler aus ihnen machen kann, das ist, Leute, die ihren Lehrern blindlings glauben, ununtersucht ob sie nicht Pedanten
sind.
Wenn Gottlob nach Meißen kommen wird, so will ich eben
nicht wünschen, daß er in Theophili Fußstapfen treten möge, denn
vielleicht sind ihre Gemütsarten zu verschieden,
als daß dieses
möglich sein könnte; ich will bloß wünschen, daß er seinem inner lichen Berufe, (vorausgesetzt, daß er daraus geht, etwas Rechtschaffnes zu lernen) vernünftig folgen möge, und daß er so leben möge,
wie er sich, wenn er aus der Erfahrung lernen wird, was nötige und unnötige Studia sind, gelebt zu haben wünschen möchte.
Ich
kann Theophilo noch nicht antworten, so gerne, als ich es thäte, und so empfindlich ich auch gegen seine aufrichtige Liebe bin.
Den
Brief des Herrn Konrektors will ich nächstens zurücksenden, weil er
sich unter meinen Papieren versteckt hat, und ich ihn schon eine halbe Stunde vergebens gesucht habe.
Wenn Herr M. Gregorius glaubt, daß die Welt seinen Herrn Sohn verlästre, so thut er der Welt unrecht. Herr Konrektor mit
So lange der neue
einer unglaublichen Unwissenheit gleichwohl
einen so ausschweifenden Stolz verbinden wird, so lange verlästert
er sich selbst.
Der Artikel, den ich nur heute abermals in den
Hamburgischen Nachrichten von ihm gelesen habe, muß ihn bei allen
100
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Vernünftigen lächerlich machen.
Ich möchte doch wissen, was er
auf die Schuljungenschnitzer antworten könnte, die ich ihm in dem
dritten Stücke der theatralischen Beiträge gezeigt habe? Der Magi strat in Lauban ist derjenige eben nicht, dessen Wahl ich
zum
Währmanne meiner Verdienste haben wollte. Wider den Herrn Biedermann ist hier mehr als eine Kritik
zum Vorscheine kommen; sowohl in beiden Zeitungen hat man ihn
herumgenommen, als auch in besonders gedruckten Blättern.
Man
hat ihm zu viel gethan, und man hätte nicht vergessen sollen, daß er ein Mann sei, der sonst Verdienste hat.
Der Verfasser der
einen Recension, welche sich in den Haudeischen Zeitungen von
seinem Programmale befindet, ist ein Advokat Krause, von der Ich gebe Ihnen diese
andern ist es der Herr Konzertmeister Bach.
Nachricht unter der Hand, weil ich mir diese Leute nicht zu Feinden
machen will, die ich sonst sehr wohl kenne. Ich bin Zeitlebens
Dero Berlin, den 8. Februar 1751.
gehorsamster Sohn
G. E. Lessing.
Än Johann Adolf Schlegel. Hochwohlehrwürdiger, Hochgelahrter rc. insonders hochzuehrender Herr Diakonus,
Da ich die Ehre habe, Ew. Hochwohlehrwürden zufälligerweise auf einem Wege zu begegnen, so erfordern es die Regeln der Höf
lichkeit, Ihnen mein Kompliment zu machen.
Sie werden mich sogleich verstehen. Schon seit anderthalb Jahren bin ich mit einer Übersetzung beschäftiget, mit welcher auch Sie jetzt beschäftiget sind; und schon seit einigen Monaten habe
ich dasjenige der Presse übergeben, was Sie ihr vielleicht erst in einigen Monaten überlassen werden.
Ich meine die Fabellehre des
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
101
Herrn Bannier. Werden Sie über diese Nachricht wohl so erstaunen,
wie ich über die Ihrige, die Sie beut Publico kürzlich mitgeteilt haben, erstaunt bin? Schwerlich.
Weg; mir ein Riese:
Ihnen kömmt ein Zwerg in den
Ihnen ein Mensch, der sich der Welt erst
zeigen will; mir ein Schriftsteller, der sich ihr schon zum öfteren mit Ruhm gezeigt hat: Ihnen ein bloßer Übersetzer, mir ein Über setzer mit Anmerkungen.
Was vermuten Sie wohl also von mir? Nicht wahr, Friedens vorschläge? Eine barmherzige Vorstellung, daß Sie meine Arbeit
mit der Ihrigen unterdrücken werden; eine daraus fließende Bitte,
Ihre Unternehmung fahren zu lassen; und vielleicht einen ver führerischen Vorschlag, das rückständige Werk des Bannier, seine Erklärungen der Verwandlungen des Ovids, zu über
nehmen.
Und in der That, dieses würden die Waffen sein, die
ich gegen Ew. Hochwohlehrwürden gebrauchen könnte,
wenn ich
nicht besorgen müßte, daß Sie Ihren graden Weg fortgehen werden,
ohne zu thun, als ob Sie mich gemerkt hätten.
Damit ich aber meine Aufrichtigkeit zeige, so will ich Ihnen die Waffen melden, die mein Verleger, der Herr Voß hier in Berlin, gegen den Ihrigen, den Herrn Dyck in Leipzig, brauchen
wird.
Erstlich ist dieses ein großer Vorteil für ihn, daß er die
ersten zwei Teile schon künftige Ostern liefert, und beinahe seine
Ausgabe endiget, wenn die andere erst zum Vorscheine kömmt. Zweitens wird er die Käufer durch einen Preis verführen, welcher kaum die Hälfte des Preises ist, den Herr Dyck festgesetzt hat.
Drittens wird er ihm Privilegia Privilegien, und Freiheiten Frei heiten entgegensetzen können.
Ich sehe es im voraus, was dieses alles vor Wirkungen haben wird; und ich werde untröstlich sein, wenn eine wohlfeile schlechtere Übersetzung den Abgang einer teureren und bessern hindern wird.
Ja, wenn wir hurtig und geschwind noch vorher alle Käufer klug machen könnten. Ich würde sogleich meine Arbeit ins Feuer werfen,
um mich der Gefahr einer Parallele nicht auszusetzen, wenn die
Unkosten, die man schon auf den Druck verwendet hat, mich nicht nötigten, auszuhalten. Doch die Unkosten sind es nicht allein; der Verleger hat mit dieser Übersetzung ein Projekt verbunden, welches
ziemlich weitaussehend ist, und wovon er öffentlich nähere Nachricht
102
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
geben wird.
Einige hiesige und auswärtige Gelehrte nämlich iich
bin nicht darunter, muß ich Ihnen sagen) haben ihn dahin gebracht,
etwas zu unternehmen, wozu er sich ganz gewiß auch die Hilfe Ew. Hochwohlehrwürden ausbitten wird. Tollte er sich wohl also einen so gräßlichen Strich durch seine Rechnung machen lassen? Mein Zureden wird wenig helfen.
das Ihrige gegen den Herrn Dyck vielleicht desto mehr.
Allein
Nielleicht
kommen durch Dero Bermittlung diese beiden Merkure zusammen,
auf eine Art, welche weder Ew. Hochwohlehrwürden noch einem von beiden nachteilig ist.
Von mir will ich nicht reden; ich kann
nicht viel dabei verlieren, als die gefährliche Gelegenheit, mich ge
druckt zu sehen. Glauben Sie, daß mein Brief eine Antwort verdienet, so
werde ich sie mit Vergnügen erwarten.
Ich bin mit der größten
Hochachtung
6iv. Hochwohlehrwürden ?c. Berlin den 23. Januar 1753.
gehorsamster Diener M. Gotthold Ephraim Lessing.
In Johann David Michaelis. Berlin, den 10. Februar 1754.
Ich habe nicht ohne angenehme Verwunderung vor einiger
Zeit meine Schriften in den Göttingischen Anzeigen auf eine Art bekannt gemacht gefunden, die viel zu vorteilhaft war, als daß
ich mir jemals hätte Hoffnung darauf machen können,
Nichts glich
damals meiner Begierde, dem Urheber dieses verbindlichen Urteils
meine Ergebenheit zu bezeigen; und nur aus Ungewißheit, an wen
ich mich deswegen wenden müsse, ist sie bis jetzt unwirksam ge blieben.
Endlich kömmt ein Freund meiner Mutmaßung zu Hilfe,
und versichert mich, daß ich mich nicht irren würde, wenn ich Ew. Hoch edelgeboren meinen Dank dafür abstatten wollte. Wenn es also wahr
ist, daß ich in Ihnen einen Gelehrten, den ich längst hochgeschätzt
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
103
habe, nunmehr auch lieben muß, so empfangen Sie hiermit von mir die
aufrichtigste Beteurung,
daß ich
künftig nichts eifriger
suchen werde, als mich Dero fernern Beifalls würdig zu machen. Ich bin dabei kühn genug, mit Dero Beifall allein nicht zufrieden zu sein, sondern mir noch über dieses einen Teil Ihrer Freund
schaft zu erbitten, die ich mich mit der größten Sorgfalt zu erwidern bestreben werde. Wenn mir in gedachter Recension irgend etwas Vergnügen gemacht hat, so ist es vorzüglich Dero Beistimmung zu meinem Urteile über die elende Langische Übersetzung der Oden des Horaz.
Sie richtete mich gleich zu der Zeit wieder auf, da mich die pöbel hafte Antwort meines Gegners beinahe zu empfindlich gekränkt
hatte, als daß ich eines öffentlichen Trostes nicht benötigt gewesen wäre.
Vielleicht, daß Ew. rc. sein Schreiben an den Hamburgi
schen Korrespondenten schon gesehen haben; meine Antwort aber
wird Ihnen schwerlich zu Gesichte gekommen sein.
Ich nehme mir
also die Freiheit, sie beizulegen, in Hoffnung, daß Sie derselben einige Augenblicke gönnen werden, um meine Verteidigung wegen
einer niederträchtigen Verschwärzung meines moralischen Charakters darin zu lesen.
Ich weiß nicht, wie sich der Herr Pastor gegen
mein Vademecum bezeigen wird; so viel aber habe ich vor einigen
Tagen gesehen, daß sich die Jenaischen gelehrten Zeitungen seiner angenommen haben, und ohne zu thun, als ob sie meine Ver
teidigung kennten, die doch schon mehr als eine Woche vorher in ihren Buchläden gewesen ist, sich wundern, daß man andern Orts (worunter sie offenbar Göttingen verstehen) meinen Tadel für ge
gründet habe halten können.
Es ist mir sehr gleichgültig gewesen,
daß sich der Jenenser der Schulschnitzer des Herrn Langens teil
haft gemacht hat; nur das fyxt mich empfindlich verdrossen, daß er
unverschämt genug gewesen ist, eine nichtswürdige Verleumdung nachzuplaudern.
Ich hoffe, daß billige Richter mich nicht unver
hörter Sache verdammen werden.
Mein Brief ist für den ersten, den ich an Ew. Hochedelgeboren zu schreiben die Ehre habe, schon viel zu lang.
Ich habe übrigens
das Vergnügen, einen Beischluß an Dieselben von dem Herrn von
Prömontval zu besorgen. Dieser liebenswürdige Philosoph würdiget
mich hier seiner Freundschaft, und es muß Ihnen notwendig an-
104
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
genehm sein, auch ihn unter diejenigen zählen zu können, die sich Dieselben durch die freundschaftlichsten Beurteilungen unendlich ver
bunden gemacht haben.
Ich bin mit großer Hochachtung rc.
M. G. E. Lessing.
In Johann Navi- Michaelis. Berlin, den 16. Oktober 1754.
Sie haben fortgefahren, mich Ihnen unendlich zu verbinden. — — Wenn ich Ihnen eben nicht bei jeder Gelegenheit meine
Ergebenheit dafür bezeigt habe, so ist es mehr aus Hochachtung für Ihre Beschäftigungen, als aus Nachlässigkeit geschehen.
Es ist
zwar nicht fein, wenn man die Danksagungen zusammenkommen läßt; allein es ist doch besser, als daß man durch die allzusorg
fältige Abstattung derselben überlästig wird. Wenn ich von der uneingeschränkten Billigkeit Ewr. rc. nicht vollkommen überzeugt wäre, so würde ich mich scheuen, Ihnen das erste Stück meiner Theatralischen Bibliothek zu übersenden.
Ich bin darin so frei gewesen, etwas auf diejenigen Erinnerungen zu erwidern, die Sie über meine Juden zu machen die Gütigkeit
gehabt haben.
Ich hoffe, daß die Art, mit welcher ich es gethan,
Ihnen nicht zuwider
sein wird.
Nur des eingerückten Briefes
wegen bin ich einigermaßen in Sorgen.
Wenn einige anstößige
Ausdrücke darin vorkommen sollten, die ich nicht billige, die ich
aber kein Recht gehabt habe zu ändern, so bitte ich Ew. rc., be
ständig auf den Verfasser zurückzusehen.
Er ist wirklich ein Jude;
ein Mensch von etlichen und zwanzig Jahren, welcher, ohne alle
Anweisung, in Sprachen, in der Mathematik, in der Weltweisheit, in der Poesie, eine große Stärke erlangt hat.
Ich sehe ihn im
voraus als eine Ehre seiner Nation an, wenn ihn anders seine
eigne Glaubensgenossen zur Reife kommen lassen, die allezeit ein
unglücklicher Verfolgungsgeist wider Leute seinesgleichen getrieben hat.
Seine Redlichkeit und sein philosophischer Geist läßt mich ihn
im voraus als einen zweiten Spinoza betrachten, dem zur völligen Gleichheit mit dem erstem nichts, als seine Irrtümer fehlen werden.
105
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Ew. rc. bezeigten in Dero Briefe eine für mich sehr schmeichel hafte Begierde, nähere Umstände von mir zu wissen, genauer zu kennen.
und mich
Allein, kann man von einem Menschen ohne
Bedienung, ohne Freunde, ohne Glück viel Wichtigers sagen, als seinen Namen ? Noch kann ich mich durch wenig anders, als durch
diesen unterscheiden.
Ich bin ein Oberlausitzer von Geburt; mein
Vater ist oberster Prediger in Camenz.--------- Welche Lobsprüche würde ich ihm nicht beilegen, wenn er nicht mein Vater wäre! —
— Er ist einer von den ersten Übersetzern des Tillotsons.
Ich
habe in der Fürstenschule zu Meißen, und hernach zu Leipzig und
Wittenberg studiert.
Man setzt mich aber in eine große Verlegen
heit, wenn man mich fragt, was?
An dem letzten Orte bin ich
bin also
etwas mehr als ein bloßer
Magister geworden.
Ich
Student, wie mich der Herr Pastor Lange nennt, und etwas we niger als ein Prediger, für welchen mich der Herr Professor Walch
gehalten hat.
Ich befinde mich seit 1748 in Berlin, und habe
mich während dieser Zeit nur ein halbes Jahr an einem andern Orte aufgehalten. Ich suche hier keine Beförderung; und ich lebe bloß hier, weil ich an keinem andern großen Orte leben kann.---------
Wenn ich noch mein Alter hinzusetze, welches sich auf fünfund
zwanzig Jahr beläuft — so ist mein Lebenslauf fertig. noch kommen soll, habe ich der Vorsicht überlassen.
Was
Ich glaube
schwerlich, daß ein Mensch gegen das Zukünftige gleichgültiger sein kann, als ich.
Ich habe des Herrn Professor Walchs gedacht; und darf ich wohl Ew. rc. ersuchen,
ihm meinen Empfehl zu
machen?
Nur
meine Furchtsamkeit ist Ursache, daß ich ihm nicht selbst schreibe, und ihn versichere, wie sehr die Art, mit welcher er einen nichtigen Zweifel von mir ausgenommen hat, alle meine Hoffnung von seiner
Leutseligkeit und edeln Denkungsart übertroffen habe.
Seine Ant
wort thut mir völlig Genüge, und das, was Sie bei Anführung
derselben hinzugethan haben, ist ein Superpondium, das schon an sich den Ausschlag geben könnte.
Ich bin mit der größten Hoch
achtung rc. Lessing.
106
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
An Friedrich Nicolai. Im November 1756.
Liebster Freund!
Ihren Brief vom 3. November bekam ich vorgestern abends, und den vom 31. August habe ich erst vor einigen Stunden erhalten; denn der Weg von Berlin nach Leipzig über Wittenberg ist näher, als
der über Amsterdam.
Jetzt antworte ich auf beide, und weil ich
in Kleinigkeiten ein großer Liebhaber der Ordnung bin, so beant worte ich den ältesten zuerst.
Was steht in diesem?
Erstlich Hunzen Sie mich aus, eine ganze Seite lang! Ich
aber brauche nur ein paar Worte, mich zu verantworten.
Das
Geheimnis Ihrer Autorschaft habe ich nicht ausgeschwatzt, sondern es ist mir abgestohlen
worden.
Ich war nicht allein, als ich
Ihren Brief mit der Ankündigung erbrach.
Wer schreibt Ihnen
das? fragte man mich. Herr Nicolai — das durfte ich doch sagen?
Was gedruckt ist, darf man doch ansehen? fuhr der Neugierige fort. Ja. — Ei! und also wird Herr Nicolai mit an dem Journale ar
beiten? -------- Warum nicht gar! er kommuniciert mir bloß die An
kündigung. — Warum denn aber zwei Exemplare, wenn er keinen Teil daran hat? — Diun war ich drum!
Und wenn Verräterei
mit untergelaufen ist, wahrhaftig, so habe ich nicht das Geheimnis,
sondern das Geheimnis hat mich verraten.
Auf den polemischen Teil Ihres Briefes folgt der didaktische. Ich danke Ihnen aufrichtig für den kurzen Auszug aus Ihrer
Abhandlung über das Trauerspiel. Er ist mir auf mancherlei Weise sehr angenehm gewesen, und unter andern auch deswegen, weil er mir Gelegenheit giebt zu widersprechen. Überlegen Sie
ja alles wohl, was ich darauf sagen werde; denn es könnte leicht
sein, daß ich nicht alles wohl überlegt hätte — Ich will umwenden, um das freie Feld vor mir zu haben! Vorläufiges Kompliment! Da die Absicht, warum ich gelvisse
Wahrheiten abhandele, die Art, wie ich sie abhandeln soll, bestimmen muß, und da jene es nicht allezeit erfordert, auf die allerersten Begriffe zurück zu gehen; so würde ich gar nichts wider Ihren
Aufsatz zu erinnern haben, wenn ich Sie nicht für einen Kopf hielte, der mehr als eine Absicht dabei hätte verbinden können.
107
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Es kann sein, daß wir dem Grundsätze: Das Trauerspiel
manches elende aber gutgemeinte Stück schuldig
soll bessern,
sind; es kann sein, sage ich, denn diese Ihre Anmerkung klingt ein wenig zu sinnreich, als daß ich sie gleich für wahr halten sollte. Aber das erkenne ich für wahr, daß kein Grundsatz, wenn man
sich ihn recht geläufig gemacht hat, bessere Trauerspiele kann her vorbringen helfen, als der: Die Tragödie soll Leidenschaften erregen. Nehmen Sie einen Augenblick an, daß der erste Grundsatz
ebenso wahr als der andere sei, so kann man doch noch hinläng liche Ursachen
angeben, warum
jener bei der Ausübung mehr
schlimme, und dieser mehr gute Folgen haben müsse.
Jener hat
nicht deswegen schlimme Folge, weil er ein falscher Grundsatz
ist, sondern deswegen, weil er entfernter ist, als dieser, weil er bloß den Endzweck angiebt, und dieser die Mittel.
Wenn ich die
Mittel habe, so habe ich den Endzweck, aber nicht umgekehrt.
Sie
müssen also stärkere Gründe haben, warum Sie hier vom Aristoteles
abgehen, und ich wünschte, daß Sie mir einiges Licht davon ge
geben hätten; denn dieser Verabsäumung schreiben Sie es nun mehr zu, daß Sie hier meine Gedanken lesen müssen, wie ich glaube,
daß man die Lehre des alten Philosophen verstehen solle, und wie
ich mir vorstelle, daß das Trauerspiel durch Erzeugung der Leiden schaften bessern kann.
Das meiste wird darauf ankommen: was das Trauerspiel für Leidenschaften erregt.
In seinen Personen kann es alle mög
liche Leidenschaften wirken lassen, die sich zu der Würde des Stoffes schicken.
Aber iverben auch zugleich alle diese Leidenschaften in dem
Zuschauer rege?
Wird er freudig?
wird er verliebt? wird er
zornig? wird er rachsüchtig? Ich frage nicht, ob ihn der Poet so
weit bringt, daß er diese Leidenschaften in der spielenden Person billiget, sondern ob er ihn so weit bringt, daß er diese Leiden
schaften selbst fühlt, und nicht bloß fühlt, ein andrer fühle sie?
Kurz, ich finde keine einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel
in dem Zuschauer rege macht, als das Mitleiden.
Sie werden
sagen: erweckt es nicht auch Schrecken? erweckt es nicht auch Be wunderung? Schrecken und Bewunderung sind keine Leidenschaften, nach meinem Berstande.
Was denn? Wenn Sie es in Ihrer Ab-
108
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
schilderung getroffen haben, was Schrecken ist, eris mihi magnus
Apollo, und wenn Sie es getroffen haben, was Bewunderung ist,
Phyllida solus habeto.
Setzen Sie sich hier auf Ihre Richterstühle, meine Herren Nicolai und Moses.
Ich will es sagen, was ich mir unter beiden
vorstelle. Das Schrecken in der Tragödie ist weiter nichts als die plötzliche Überraschung des Mitleides, ich mag den Gegenstand meines Mitleids kennen oder nicht.
Zum Exempel: Endlich bricht der
Priester damit heraus: Du Ldip bist der Mörder des Lajus!
Ich erschrecke, denn auf einmal sehe ich den rechtschaffnen Ldip un glücklich ; mein Mitleid wird auf einmal rege.
Ein ander Exempel:
Es erscheinet ein Geist; ich erschrecke: der Gedanke, daß er nicht erscheinen würde, wenn er nicht zu des einen oder zu des andern
Unglück erschiene, die dunkle Vorstellung dieses Unglücks, ob ich den gleich noch nicht kenne, den es treffen soll, überraschen mein
Mitleid, und dieses überraschte Mitleid heißt Schrecken.
Belehren
Sie mich eines Bessern, wenn ich unrecht habe.
Nun zur Bewunderung! Die Bewunderung! O in der Tra gödie, um mich ein wenig orakelmäßig auszudrücken, ist sie das
entbehrlich gewordene Mitleiden.
Der Held ist unglücklich,
aber er ist über sein Unglück so weit erhaben, er ist selbst so stolz
darauf, daß es auch in meinen Gedanken die schreckliche Seite zu
verlieren anfängt, daß ich ihn mehr beneiden, als bedauern möchte. Die Staffeln sind also diese: Schrecken, Mitleid, Bewunde
rung.
Die Leiter aber heißt: Mitleid; und Schrecken und Be
wunderung sind nichts als die ersten Sprossen, der Anfang und das
Ende des Mitleids.
Zum Exempel: Ich höre auf einmal, nun ist
Cato so gut als des Cäsars Mörder. Schrecken! Ich werde hernach mit der verehrungswürdigen Person des erstem, und auch nachher mit seinem Unglücke bekannt. Mitleid.
Das Schrecken zerteilet sich in
Nun aber hör' ich ihn sagen: „Die Welt, die Cäsarn
dient, ist meiner nicht mehr wert." dem Mitleiden Schranken.
Die Bewunderung setzt
Das Schrecken braucht der Dichter
zur Ankündigung des Mitleids, und Bewunderung gleichsam zum
Ruhepunkte desselben.
Der Weg zum Mitleid wird dem Zuhörer
zu lang, wenn ihn nicht gleich der erste Schreck aufmerksam macht,
109
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
und das Mitleiden nützt sich ab, wenn es sich nicht in der Be wunderung erholen kann.
Wenn es also wahr ist, daß die ganze
Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung und Dauer
des einzigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu
fühlen, erweitern.
Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen
oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns
so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeilen, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. Und nun berufe ich mich auf einen Satz, den Ihnen Herr Moses vorläufig demonstrieren mag, wenn Sie, Ihrem eignen Gefühl
zum Trotz, daran zweifeln wollen.
Der mitleidigste Mensch
ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu
allen Arten der Großmut der aufgelegteste.
Wer uns also mit
leidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauer
spiel, das jenes thut, thut auch dieses, oder — es thut jenes, um
dieses thun zu können.
Bitten Sie es dem Aristoteles ab, oder
widerlegen Sie mich.
Auf gleiche Weise verfahre ich mit der Komödie.
Sie soll
uns zur Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen
wahrzunehmen.
leicht
Wer diese Fertigkeit besitzt, wird in seinem Be
tragen alle Arten des Lächerlichen zu vermeiden suchen, und eben dadurch der wohlgezogenste und gesittetste Mensch werden.
Und
so ist auch die Nützlichkeit der Komödie gerettet. Beider Nutzen, des Trauerspiels sowohl als des Lustspiels,
ist von dem Vergnügen unzertrennlich; denn die ganze Hälfte des Mitleids und des Lachens ist Vergnügen, und es ist großer Vor teil für den dramatischen Dichter, daß er weder nützlich, noch an genehm, eines ohne das andere sein kann.
Ich bin jetzt von diesen meinen Grillen so eingenommen, daß
ich, wenn ich eine dramatische Dichtkunst schreiben sollte, weitläuftige Abhandlungen vom Mitleid und Lachen voranschicken würde. Ich würde beides sogar miteinander vergleichen, ich würde zeigen,, daß das Weinen ebenso aus einer Vermischung der Traurigkeit
und Freude, als das Lachen aus einer Vermischung der Lust und Unlust entstehe; ich würde weisen, wie man das Lachen in Weinen
verwandeln kann, wo man auf der einen Seite Lust zur Freude,
110
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
und auf der andern Unlust zur Traurigkeit in beständiger Ver mischung anwachsen läßt; — ich würde — Sie glauben nicht,
was ich alles würde.
Ich will Ihnen nur noch einige Proben geben, wie leicht und glücklich aus meinem Grundsätze nicht nur die vornehmste bekannte Regeln, sondern auch eine Menge neuer Regeln fließe, an deren
Statt man sich mit dem bloßen Gefühle zu begnügen pflegt. Das Trauerspiel soll so viel Mitleid erwecken, als es nur immer kann; folglich müssen alle Personen, die man unglücklich werden läßt, gute Eigenschaften haben, folglich muß die beste Person
auch
die unglücklichste sein, und Verdienst und Unglück in be
ständigem Verhältnisse bleiben.
Das ist, der Dichter muß keinen
von allem Guten entblößten Bösewicht aufführen.
Der Held oder
die beste Person muß nicht, gleich einem Gotte, seine Tugenden ruhig und ungekränkt übersehen.
Ein Fehler des Kanuts, zu dessen
Bemerkung Sie aus einem andern Wege gelanget sind.
Merken
Sie aber wohl, daß ich hier nicht von dem Ausgange rede, denn das stelle ich in des Dichters Gutbefinden, ob er lieber die Tugend
durch einen glücklichen Ausgang krönen, oder durch einen unglück
lichen uns noch interessanter machen will.
Ich verlange nur, daß
die Personen, die mich am meisten für sich einnehmen, während der Dauer des Stücks die unglücklichsten sein sollen.
Zu dieser
Dauer aber gehöret nicht der Ausgang.
Das Schrecken, habe ich gesagt, ist das überraschte Mitleiden;
ich will hier noch ein Wort hinzusetzen: das überraschte und un entwickelte Mitleiden; folglich wozu die Überraschung, wenn es
nicht entwickelt wird? Ein Trauerspiel voller Schrecken, ohne Mit leid, ist ein Wetterleuchten ohne Donner.
So viel Blitze, so viel
Schläge, wenn uns der Blitz nicht so gleichgültig werden soll, daß
wir ihm mit einem kindischen Vergnügen entgegen gaffen.
Die
Bewunderung, habe ich mich ausgedrückt, ist das entbehrlich ge
wordene Mitleid.
Da aber das Mitleid das Hauptwerk ist, so
muß es folglich so selten als
möglich
entbehrlich
werden;
der
Dichter muß seinen Held nicht zu sehr, nicht zu anhaltend der bloßen Bewunderung aussetzen, und Cato als ein Stoiker ist mir
ein schlechter tragischer Held. Der bewunderte Held ist der Vor wurf der Epopöe; der bedauerte des Trauerspiels. Können Sie
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
111
sich einer einzigen Stelle erinnern, wo der Held des Homers, des Virgils, des Tasso, des Klopstocks, Mitleiden erweckt? oder eines einzigen alten Trauerspiels, wo der Held mehr bewundert als be
dauert wird?
Hieraus können Sie nun auch schließen, was ich
von Ihrer Einteilung der Trauerspiele halte.
Erlaubnis ganz weg.
Sie fällt mit Ihrer
Ich habe nicht Lust noch einen dritten Bogen
anzulegen, sonst wollte ich mich noch über einige andere Punkte erklären.
Ich verspare es bis auf einen nächsten Brief, welcher
zugleich die Beantwortung Ihres zweiten enthalten soll. Jetzt melde ich Ihnen nur noch, daß ich Ihr zweites Aver
tissement besorgt habe; verlange, daß Sie mir Ihre aufrichtige Meinung über dieses Geschwätz je eher je lieber entdecken sollen,
und empfehle mich Ihrer fernern Freundschaft.
Leben Sie wohl!
Ich bin 2C. N. S.
Wenn Sie über meine Zweifel freundlich antworten
wollen, so schicken Sie mir diesen Brief wieder mit zurück; denn es könnte leicht kommen, daß ich über acht Tage nicht
mehr wüßte, was ich heute geschrieben habe.
An Moses Mendelssohn. Den 13. November 1756.
Liebster Freund! Ich habe heute an unsern Herrn Nicolai einen sehr langen und langweiligen Brief geschrieben, und ich vermute, daß Sie
einen desto kürzern bekommen werden.
Je kurzer je angenehmer!
Zu lesen oder zu schreiben? werden Sie fragen.
Dieser kurze Brief kann aber keine Antwort auf Ihre Ant wort meines letztern sein, den Ihnen Herr Joseph mitgebracht hat,
nam epistolae nullae sunt responsiones. Sondern er ist eine Ant
wort auf Ihren Brief, den ich Ihnen von Amsterdam aus beant
wortet hätte, wenn der König von Preußen nicht ein so großer Kriegsheld wäre.
Es ist mir recht sehr angenehm, daß mein Freund, der Meta
physiker, sich in einen Belesprit ausdehnt, wenn sein Freund, der
112
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Belesprit, sich nur ein wenig in einen Metaphysiker konzentrieren
könnte oder wollte.
Was ist zu thun? Der Belesprit tröstet sich
unterdessen mit dem Einfalle — denn mit was kann
sich
ein
Belesprit anders trösten, als mit Einfällen? — daß, wenn Freunde
alles unter sich gemein haben sollen, Ihr Wissen auch das meinige
ist, und Sie kein Metaphysiker sein können, ohne daß ich nicht auch einer sei.
Zum Erempel: Ich bitte Sie, das, was ich an Herrn Nicolai ge schrieben habe, zu überdenken, zu prüfen, zu verbessern. Erfüllen Sie
nun meine Bitte, so ist es eben das, als ob ich es selbst nochmals
überdacht, geprüft und verbessert hätte. Ihre bessern Gedanken sind So bald Sie also,
weiter nichts als meine zweiten Gedanken.
unter andern, meinen Begriff vom Weinen falsch finden werden, so bald werde ich ihn auch verwerfen, und ihn für weiter nichts
halten, als für eine gewaltsame Ausdehnung meines Begriffs vom Lachen.
Jetzo halte ich ihn noch für wahr; denn ich denke so: alle
Betrübnis, welche von Thränen begleitet wird, ist eine Betrübnis über ein verlornes Gut; kein anderer Schmerz, keine andre unan genehme Empfindung wird von Thränen begleitet.
Nun findet sich
bei dem verlornen Gute nicht allein die Idee des Verlusts, sondern
auch die Idee des Guts, und beide, diese angenehme mit jener
unangenehmen, sind unzertrennlich verknüpft.
Wie, wenn diese
Verknüpfung überall statthätte, wo das Weinen vorkömmt?
den Thränen des Mitleids ist es offenbar.
Bei
Bei den Thränen der
Freude trifft es auch ein: denn man weint nur da vor Freude, wenn man vorhero elend gewesen, und sich nun auf einmal be
glückt sieht; niemals aber, wenn man vorher nicht elend gewesen. Die einzigen
sogenannten Bußthränen machen mir zu
schaffen,
aber ich sorge sehr, die Erinnerung der Annehmlichkeit der Sünde,
die man jetzt erst für strafbar zu erkennen anfängt, hat ihren guten Teil daran; es müßte denn sein, daß die Bußthränen nichts anders
als eine Art von Freudenthränen wären, da man sein Elend, den Weg des Lasters gewandelt zu sein, und seine Glückseligkeit, den Weg der Tugend wieder anzutreten, zugleich empfände. Ich bitte Sie nur noch, auf die bewundernswürdige Harmonie
acht zu haben, die ich nach meiner Erklärung des Weinens, hier zwischen den respondierenden Veränderungen des Körpers und der
113
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Seele zu sehen glaube.
Man kann lachen, daß die Thränen in
die Augen treten; das körperliche Weinen ist also gleichsam der
höchste Grad des körperlichen Lachens.
Und was braucht es bei
dem Lachen in der Seele mehr, wenn es zum Weinen werden soll, als daß die Lust und Unlust, aus deren Vermischung das Lachen entsteht, beide zum höchsten Grade anwachsen, und ebenso
vermischt bleiben.
Zum Exempel: Ter Kops eines Kindes in einer
großen Staatsperücke ist ein lächerlicher Gegenstand; und der große Staatsmann, der kindisch geworden ist, ein beweinenswürdiger.
Ich sehe, daß mein Brief doch lang geworden ist. Sie mir es ja nicht übel.
Nehmen
Leben Sie wohl, liebster Moses, und
fahren Sie fort mich zu lieben,
^»ch bin
ganz der Ihrige Lessing.
An Moses Mendelssohn. Leipzig, den 28. November 1756.
Liebster Freund!
Ich muß Ihnen auf Ihren letzten Brief den Augenblick ant worten; denn was bei mir nicht den Augenblick geschieht, das ge schieht entweder gar nicht, oder sehr schlecht.
weniger als Langeweile habe,
Da ich aber nichts
und den größten Teil des Tages
mit unsern Gästen zubringen muß — (denn das wissen Sie doch, daß nunmehr auch Leipzig nicht länger von preußischer Einquar tierung verschont ist?) so werde ich von der Faust weg schreiben,
und meine Gedanken unter der Feder reif werden lassen. Es kömmt mir sehr gelegen, ums Sie von der Bewunderung sagen; und in meinem Briefe an unsern Freund habe ich diesen
Affekt nicht sowohl überhaupt erklären, als anzeigen wollen, was für Wirkung er in dem Trauerspiele hervorbringe; eine Wirkung, die Sie selbst nicht ganz in Abrede sind.
Wir geraten in Bewunderung, sagen Sie, wenn wir an einem Menschen gute Eigenschaften gewahr werden, die unsre Meinung, die wir von ihm oder von der ganzen menschlichen Natur gehabt
haben, übertreffen.
In dieser Erklärung finde ich zweierlei Dinge,
Les fing, Werke. XII.
tz
114
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
die zweierlei Namen verdienen, und in unserer Sprache auch wirk
lich haben.
Wenn ich an einem gute Eigenschaften gewahr werde,
die meine Meinung von ihm übertreffen; so heißt das nicht, ich
bewundere ihn, sondern ich verwundere mich über ihn.
Be
wundern Sie den sterbenden Gusman? Ich nicht, ich verwundere mich bloß, daß aus einem christlichen Barbaren so geschwind ein
Mensch geworden ist, ja ich verwundere mich so sehr, daß ich mich nicht enthalten kann, den Dichter ein wenig zu tadeln.
Die Ver
änderung ist zu jäh, und nach dem Charakter des Gusman durch
nichts wahrscheinlich
zu
Wirkung der Religion.
machen,
als durch
eine
übernatürliche
Voltaire muß es selbst gemerkt haben:
Sieh hier den Unterschied der Götter, die wir ehren. Die deinen konnten dich nur Wut und Rache lehren. Bis diesen Augenblick habe ich den Gusman gehaßt: ich freue mich fast, daß ihn der Wilde erstochen hat; er erstach ein Ungeheuer,
das eine Welt verwüstete; wo sollte das Mitleiden Herkommen? Nunmehr aber höre ich, er vergiebt; er thut die erste und letzte gute That, die ich nicht von ihm erwartet hätte; das Mitleid er scheint an der Hand der Verwunderung, das ist, es entsteht durch
die endlich und plötzlich entdeckte gute Eigenschaft.
Ich sage mit
Fleiß: plötzlich, um eine Erfahrung daraus zu erklären, die ich wirklich gehabt habe, ehe die Spekulation noch daran teilnehmen
konnte.
Ich bin, als ich diese Scene zum erstenmal las, über die
Vergebung
des
Gusman erschrocken.
Denn den Augenblick
fühlte ich mich in der Stelle des Zamor.
Ich fühlte seine Be
schämung, seine schmerzliche Erniedrigung, ich fühlte es, ums es einem Geiste, wie dem feinigen, kosten müsse, zu sagen: ich schäme mich der Rache! Zum Tode, dem kleinern Übel, war er vor
bereitet; zur Vergebung, dem größern, nicht.
Also, wenn ein Bösewicht oder jede andere Person eine gute
Eigenschaft zeigt, die ich in ihm nicht vermutet hätte, so entsteht keine Bewunderung, sondern eine Verwunderung, welche sowenig
etwas Angenehmes ist, daß sie vielmehr weiter nichts, als ein
Fehler des Dichters genannt zu werden verdient, weil in keinem
Charaktermehr sein muß, als man sich anfangs darin zu finden
verspricht.
Wenn der Geizige auf einmal freigebig, der Ruhm-
115
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
redige auf einmal bescheiden wird; so verwundert man sich, be
wundern aber kann man ihn nicht. Wenn nun dieser Unterschied keine falsche Spitzfindigkeit ist,
so
wird die
Bewunderung
allein
da
stattfinden, wo
wir
so
glänzende Eigenschaften entdecken, daß wir sie der ganzen mensch
lichen Natur nicht zugetrauet hätten.
Um dieses näher einzusehen,
glaube ich, werden folgende Punkte etwas beitragen können. Was sind dieses für glänzende Eigenschaften, die wir be
wundern?
Sind es besondere Eigenschaften, oder sind es nur die
höchsten Grade guter Eigenschaften? Sind es die höchsten Grade aller guten Eigenschaften, oder nur einiger derselben?
Das Wort Bewunderung wird von dem größten Bewunderer, dem Pöbel, so oft gebraucht, daß ich es kaum wagen will, aus dem Sprachgebrauchs etwas zu entscheiden.
Seine, des Pöbels
Fähigkeiten sind so gering, seine Tugenden so mäßig, daß er beide nur in einem leidlichen Grade entdecken darf, wenn er bewundern
soll.
Was über seine enge Sphäre ist, glaubt er über die Sphäre
der ganzen menschlichen Natur zu sein. Lassen Sie uns also nur diejenigen Fälle untersuchen, wo
die bessern Menschen, Menschen von Empfindung und Einsicht, bewundern.
Untersuchen Sie Ihr eigen Herz, liebster Freund!
Bewundern Sie die Gütigkeit des Augustus, die Keuschheit des
Hippolyts, die kindliche Liebe der Chimene? Sind diese und andere solche Eigenschaften über den Begriff, den Sie von der mensch
lichen Natur haben?
Oder zeigt nicht vielmehr die Nacheiferung
selbst, die sie in Ihnen erwecken, daß sie noch innerhalb diesem
Begriffe sind? Was für Eigenschaften bewundern Sie denn nun?
Sie be
wundern einen Cato, einen Essex — mit einem Worte, nichts als
Beispiele einer unerschütterten Festigkeit, einer unerbittlichen Stand
haftigkeit, eines nicht zu erschreckenden Muts, einer heroischen Ver
achtung der Gefahr und des Todes; und alle diese Beispiele be wundern Sie um so viel mehr, je besser Sie sind, je fühlbarer
Ihr Herz, je zärtlicher Ihre Empfindung ist.
Sie haben einen zu
richtigen Begriff von der menschlichen Natur, als daß Sie nicht alle unempfindliche Helden für schöne Ungeheuer, für mehr als
Menschen, aber gar nicht für gute Menschen halten sollten.
Sie
116
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
bewundern sie also mit Recht; aber eben deswegen, weil Sie sie bewundern, werden Sie ihnen nicht nacheifern.
Mir wenigstens
ist es niemals in den Sinn gekommen, einem Cato oder Essex an Halsstarrigkeit gleich zu werden, so sehr ich sie auch wegen dieser
Halsstarrigkeit bewundere, die ich ganz und gar verachten und ver
dammen würde, wenn es nicht eine Halsstarrigkeit der Tugend zu sein schiene. Ich werde also der Bewunderung nichts abbitten, sondern ich
verlange, daß Sie es der Tugend abbitten sollen, Sie zu einer Tochter der Bewunderung gemacht zu haben.
Es ist wahr, sie ist
sehr oft die Tochter der Nacheiferung, und die Nacheiferung ist die natürliche Eigenschaft.
Folge der
Erkenntnis
anschauenden
einer guten
Aber muß es eine bewundernswürdige Eigenschaft
sein? Nichts weniger.
Es muß eine gute Eigenschaft sein, deren
ich den Menschen überhaupt, und also auch mich fähig halte.
Und
diese Eigenschaften schließe ich so wenig aus dem Trauerspiele aus,
daß vielmehr, nach meiner Meinung, gar kein Trauerspiel ohne sie besteht, weil nmn ohne sie kein Mitleid erregen kann.
Ich
will nur diejenigen großen Eigenschaften ausgeschlossen haben, die wir unter
dem
allgemeinen Namen
des
Heroismus
begreifen
können, weil jede derselben mit Unempfindlichkeit verbunden ist, und Unempfindlichkeit in dem Gegenstände
des Mitleids
mein
Mitleiden schwächt. Lassen Sie uns
hier bei den Alten in die Schule gehen.
Was können wir nach der Natur für bessere Lehrer wählen?
Um
das Mitleid desto gewisser zu erwecken, ward Ödipus und Alceste
von allem Heroismus entkleidet.
Jener klagt weibisch, und diese
jammert mehr als weibisch; sie wollten sie lieber zu empfindlich,
als unempfindlich machen; sie ließen sie lieber zu viel Klagen aus
schütten, zu viel Thränen vergießen, als gar keine. Sie sagen, das benähme der Bewunderung ihren Wert nicht, daß sie das Mitleiden schwäche oder gar aufhebe, weil sie dieses
mit dem Tode des Helden gemein habe.
Sie irren hier aus zu
großer Scharfsinnigkeit. Unter tausend Menschen wird nur ein Weltweiser sein, welcher den Tod nicht für das größte Übel, und das Totsein nicht für eine Fortdauer dieses Übels
hält!
Das
Mitleiden hört also mit dem Tode noch nicht auf; gesetzt aber, es
117
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
hörte auf, so würde dieser Umstand weiter nichts, als die Ursache
der Regel sein, warum sich mit dem Tode des Helden auch das Stück
schließen
müsse.
wunderung schließen?
Kann sich aber das Stück mit der Be
Wenn ich aber gesagt habe, der tragische
Dichter müsse die Bewunderung so wenig
lassen,
daß er sie
vielmehr
nur
sein Hauptwerk
zu Ruhepunkten
sein
des Mitleids
machen müsse; so habe ich dieses damit sagen wollen, er solle sei
nem Helden nur so viel Standhaftigkeit geben, daß er nicht auf eine unanständige Art unter seinem Unglück erliege.
Empfinden
muß er ihn sein Unglück lassen, er muß es ihn recht fühlen lassen, denn sonst können wir es nicht fühlen.
Und nur dann und wann
muß er ihn lassen einen etiort thun, der auf wenige Augenblicke eine dem Schicksal gewachsene Seele zu zeigen scheint, welche große
Seele den Augenblick darauf wieder ein Raub ihrer schmerzlichen
Empfindungen werden muß. Was Sie von dem Mithridat des Racine sagen, ist, glaub'
ich, eher für mich, als für Sie.
Eben die edelmütige Scene, wo
er seinen Söhnen den Anschlag, vor Rom zu gehen, entdeckt, ist
Ursache, daß wir mit ihm wegen seines gehabten mißlichen Schick sals in dem Kriege wider die Römer kein Mitleiden haben können.
Ich sehe ihn schon triumphierend in Rom einziehen, und vergesse darüber alle seine unglücklichen Schlachten.
diese Scene bei dem Racine
mehr,
als
Und was ist denn
eine schöne Flickscene?
Sie bewundern den Mithridat, diese Bewunderung ist ein ange
nehmer Affekt;
sie kann bei einem Karl XII. Nacheiferung er
wecken, aber wird es dadurch unwahr, daß sie sich besser in ein
Heldengedicht als in ein Trauerspiel schicke? Doch ich will aufhören zu schwatzen, und es endlich bedenken, daß ich an einen Wortsparer schreibe.
Ich will, was ich wider
die Bewunderung bisher, schlecht oder gut, gesagt habe, nicht ge sagt haben; ich will alles wahr sein sagen.
lassen, was Sie von ihr
Sie ist dennoch aus dem Trauerspiel zu verbannen.
Denn — doch ich will erst eine Erläuterung aus dem Ur
sprünge des Trauerspiels voranschicken.
Die alten Trauerspiele
sind aus dem Homer, ihrem Inhalte nach, genommen, und diese
Gattung der Gedichte selbst ist aus der Absingung seiner Epopöen entsprungen.
Homer und nach ihm die Rhapsodisten wählten ge-
118
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
wisse Stücke daraus, die sie bei feierlichen Gelegenheiten, vielleicht auch vor den Thüren ums Brot, abzusingen pflegten.
Sie mußten
die Erfahrung gar bald machen, was für Stücke von dem Volke am liebsten gehört wurden.
mit sonderlichem Vergnügen;
Heldenthaten hört man nur einmal
Neuigkeit rührt
ihre
meisten.
am
Aber tragische Begebenheiten rühren, so oft man sie hört.
Diese
also wurden, vorzüglich vor andern Begebenheiten bei dem Homer, ausgesucht, und anfangs, so wie
sie
erzählungsweise
bei
dem
Dichter stehen, gesungen, bis man darauf fiel, sie dialogisch abzu
teilen, und das daraus entstand, was wir jetzt Tragödie nennen. Hätten denn nun die Alten nicht
ebensowohl aus den Helden
thaten ein dialogisches Ganze machen können?
Freilich, und sie
würden es gewiß gethan haben, wenn sie nicht die Bewunderung
für eine weit ungeschicktere Lehrerin des Volks als das Mitleiden
gehalten hätten. Und das ist ein Punkt, den Sie selbst am besten beweisen können.
Die Bewunderung
in dem
allgemeinen
Verstände, in
welchem sie nichts ist, als das sonderliche Wohlgefallen an einer seltnen Vollkommenheit, bessert vermittelst der Nacheiferung, und
die Nacheiferung setzt eine deutliche Erkenntnis der Vollkommen heit, welcher ich nacheifern will, voraus.
Wie viele haben diese
Erkenntnis?
Und wo diese nicht ist, bleibt die Bewunderung nicht
unfruchtbar?
Das Mitleiden hingegen bessert unmittelbar; bessert,
ohne daß wir selbst etwas
dazu beitragen dürfen;
bessert den
Mann von Verstände sowohl als den Dummkopf.
Hiermit schließ' ich.
Sie sind mein Freund; ich will meine
Gedanken von Ihnen geprüft, nicht gelobt haben.
Ich sehe Ihren
fernern Einwürfen mit dem Vergnügen entgegen, mit welchem inan der Belehrung entgegen sehen muß.
Jetzt habe ich mich, in An
sehung des Briefschreibens, in s2ltem gesetzt; Sie wissen, was Sie zu thun
haben, wen« ich darin
bleiben
soll.
Leben Sie wohl/
und lassen Sie unsre Freundschaft ewig sein!
Lessing.
119
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
In Friedrich Nicolai. Leipzig, den 29. November 1756.
Liebster Freund,
Vorigesmal
bekamen Sie den
langen Brief;
jetzt hat ihn
Herr Moses bekommen, und Sie bekommen den kurzen. Gesegnet sei Ihr Entschluß, sich selbst zu leben! Verstand
auszubreiten,
muß
man
seine Begierden
Um seinen
einschränken.
Wenn Sie leben können, so ist es gleichviel, ob Sie von mäßigen oder von großen Einkünften leben.
Und endlich sind Plätze in
der Welt, die sich besser für Sie schicken, als die Handlung.
glücklich
Wie
wäre ich, wenn ich Ihre Einladung annehmen könnte!
Wie viel lieber wollte ich künftigen Sommer mit Ihnen und un
serm Freunde zubringen, als in England!
Vielleicht lerne ich da
weiter nichts, als daß man eine Nation bewundern und hassen kann. Ich komme zur rückständigen Beantwortung Ihrer Briefe. Ich wollte lieber, daß Sie mein Stück, als die Aufführung meines Stücks, so weitläuftig beurteilt hätten.
Sie würden mir dadurch
das Gute, das Sie davon sagen, glaublicher gemacht haben.
Ich
kann mich aber doch nicht enthalten, über Ihr Lob eine Anmer kung zu machen.
Sie sagen, Sie hätten bis zum fünften Aufzuge
öfters Thränen vergossen;
am Ende aber hätten Sie vor starker
Rührung nicht weinen können:
eine Sache, die Ihnen noch nicht
begegnet sei, und gewissermaßen mit Ihrem System von der Rüh
rung streite. — Es mag einmal in diesem Komplimente, was noch in
keinem Komplimente gewesen ist, jedes Wort wahr sein —
wissen Sie, was mein Gegenkompliment ist?
Ihnen
ein falsches System
haben!
Wer Geier heißt
Oder vielmehr:
wer Geier
heißt Ihrem Verstände sich ein System nach seiner Grille machen, ohne Ihre Empfindung zu Rate zu ziehen?
Diese hat,
Ihnen
unbewußt, das richtigste System, das man nur haben kann; denn
sie hat meines. Herrn Moses.
die
Ich
berufe mich auf meinen letzten Brief an
Das Mitleiden giebt keine Thränen mehr, wenn
schmerzhaften Empfindungen in ihm die Oberhand
gewinnen.
Ich unterscheide drei Grade des Mitleids, deren mittelster das
weinende Mitleid ist, und die vielleicht mit den drei Worten zu
120
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
unterscheiden
wären,
Rührung, Thränen,
Rührung ist, wenn ich
Beklemmung.
weder die Vollkommenheiten,
noch das
Unglück des Gegenstandes deutlich denke, sondern von beiden nur einen dunklen Begriff habe; so rührt mich zum Exempel der An
blick jedes Bettlers.
Thränen erweckt er nur dann in mir, wenn
er mich mit seinen guten Eigenschaften
sowohl, als mit seinen
Unfällen bekannter macht, und zwar mit beiden zugleich, welches
das
wahre Kunststück ist,
mich erst mit seinen
Thränen
zu erregen.
guten Eigenschaften
Denn macht er
und hernach
mit seinen
Unfällen, oder erst mit diesen und hernach mit jenen bekannt, so
wird zwar die Rührung stärker, aber zu Thränen kömmt sie nicht. Ich
Zum Exempel.
frage den Bettler nach seinen Umständen,
und er antwortet: ich bin seit drei Jahren amtlos, ich habe Frau und Kinder; sie sind teils krank, teils noch zu klein, sich'selbst zu
versorgen; ich selbst bin nur vor einigen Tagen vom Krankenbette
aufgestanden. — Das ist sein Unglück! — Aber wer sind Sie denn? frage ich weiter. — Ich bin der und der, von dessen Ge schicklichkeit in diesen oder jenen Verrichtungen Sie vielleicht gehört
haben; ich bekleidete mein Amt mit möglichster Treue; ich könnte es
alle Tage wieder antreten, wenn ich lieber die Kreatur eines Mi nisters, als ein ehrlicher Mann sein wollte rc.
Vollkommenheiten!
mand weinen.
Bei einer
solchen Erzählung
Das sind seine aber kann nie
Sondern wenn der Unglückliche meine Thränen
haben will, muß er beide Stücke verbinden; er muß sagen: ich bin vom Amte gesetzt, weil ich zu ehrlich war, und mich dadurch bei dem Minister verhaßt machte; ich hungere, und mit mir hungert eine kranke liebenswürdige Frau; und mit uns hungern sonst hoff
nungsvolle, jetzt in der Armut vermodernde Kinder; und wir werden gewiß noch lange hungern müssen.
Doch ich will lieber hungern,
als niederträchtig sein; auch meine Frau und Kinder wollen lieber
hungern, und ihr Brot lieber unmittelbar von Gott, das ist, aus
der Hand eines barmherzigen Mannes, nehmen, als ihren Vater und Ehemann lasterhaft wissen rc. — (Ich weiß nicht,
mich verstehen.
ob Sie
Sie müssen meinem Vortrage mit Ihrem eignen
Nachdenken zu Hilfe kommen.)
Einer solchen Erzählung habe ich
immer Thränen in Bereitschaft.
Unglück und Verdienst sind hier
im Gleichgewicht.
Aber lassen Sie uns das Gewicht in der einen
121
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
oder andern Schale vermehren, und zusehen, was nunmehr entsteht.
Lassen Sie uns zuerst in die Schale der Vollkommenheit eine Zu
lage werfen.
Der Unglückliche mag fortfahren: aber wenn ich und
meine kranke Frau uns nur erst wieder erholt haben, schon anders werden.
so soll es
Wir wollen von der Arbeit unsrer Hände Alle Arten, sein Brot zu verdienen,
leben; wir schämen uns keiner.
sind einem ehrlichen Manne gleich anständig;
Holz spalten, oder
Es kömmt seinem Gewissen nicht
am Ruder des Staates sitzen.
darauf an, wie viel er nützt, sondern wie viel er nützen wollte. —
Nun
hören
meine Thränen
auf;
die Bewundrung
erstickt sie.
Und kaum, daß ich es noch fühle, daß die Bewundrung aus dem
Mitleiden entsprungen. — Lassen Sie uns eben den Versuch mit der andern Wagschale anstellen.
Der ehrliche Bettler erfährt, daß
es wirklich einerlei Wunder, einerlei übernatürliche Seltenheit ist,
von der Barmherzigkeit der Menschen,
oder unmittelbar aus der
Er wird überall schimpflich ab
Hand Gottes gespeist zu werden.
gewiesen; unterdessen nimmt sein Mangel zu, und mit ihm seine Verwirrung.
Endlich gerät er in Wut; er ermordet seine Frau,
seine Kinder und sich. — Weinen Sie noch? — Hier erstickt der
Schmerz die Thränen, aber nicht das Mitleid, wie es die Be wundrung thut.
Es ist —
Ich verzweifelter Schwätzer!
Nicht ein
Wort mehr.
Ihre Recension vom Devil to pay schon gedruckt?
Ist
Ich habe eine
sehr merkwürdige Entdeckung in Ansehung dieses Stücks gemacht; wovon in meinem nächsten. Leben Sie wohl, liebster Freund!
Nachschrift.
Was
macht
Lessing.
denn
Grüßen Sie ihn tausendmal von mir.
unser
lieber
Marpurg?
Ich lasse mich wegen des
berühmten Dichters in seinen Oden schöne bedanken.
In Moses Mendelssohn. Leipzig, den 18. Dezember 1756.
Liebster Freund! Sie haben recht; ich habe in meinem Briefe an Sie ziemlich
in den Tag
hineingeschwatzt.
Heben Sie
ihn nur immer auf;
122
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
aber nicht zu Ihrer, sondern zu meiner Demütigung.
Er bleibe
bei Ihnen ein dauerhafter Beweis, was für albernes Zeug ich
schreiben kann, wenn ich, wie ich mich auszudrücken beliebt habe, meine Gedanken unter der Feder reif werden lasse. Lassen Sie mich jetzt versuchen, ob sie durch Ihre Einwürfe und
Erinnerungen reifer geworden.
Ich lösche die ganze Tafel
aus,
und will mich über die Materie von der Bewunderung noch gar
nicht erklärt haben.
Bon Dome!
Ich hatte in dem ersten Briefe an Herrn Nicolai von dieser Mate rie geschrieben: die Bewunderung müsse in dem Trauer spiele nichts sein, als der Ruhepunkt des Mitleidens.
Haben Sie mich auch recht verstanden?
Herr Nicolai machte zu
seiner zweiten Gattung der Trauerspiele diejenige, wo man durch
Hilfe des Schreckens und des Mitleidens Bewunderung
wolle.
In dieser Gattung
also
erregen
wird die Bewunderung
zum
Hauptwerke, das ist, das Unglück, das den Helden trifft, soll uns
nicht sowohl rühren,
als dem Helden Gelegenheit
geben,
seine
außerordentlichen Vollkommenheiten zu zeigen, deren intuitive Er kenntnis
in uns den
angenehmen Affekt
erwecke,
welchen
Sie
Bewunderung nennen. Ein solches Trauerspiel nun, sage ich, würde ein dialogisches Heldengedicht sein, und kein Trauerspiel.
Der bewunderte Held,
habe ich mich gegen Herrn Nicolai ausgedrückt, ist der Stoff des
Heldengedichts.
Da Sie mir doch also wohl zutrauen werden,
daß ich ein Heldengedicht
(ein Gedicht voller Bewunderung) für
ein schönes Gedicht halte; so kann ich nicht einsehen, wie Sie mir
Schuld
geben können,
daß
ich der Bewunderung alles Schöne,
alles Angenehme rauben wolle.
Sie ist ein
angenehmer Affekt,
gut; aber kann ihr dieses die vornehmste Stelle in einem Trauer spiele verdienen?
Das Trauerspiel (sagt Aristoteles, Hauptstück 14)
soll uns nicht jede Art des Vergnügens ohne Unterschied gewähren, sondern nur allein das Vergnügen, welches ihn: eigentümlich zu-
kömmt. Warum wollen wir die Arten der Gedichte ohne Not ver
wirren, imb die Grenzen der einen in die andern laufen lassen?
So wie in dem Heldengedichte die Bewunderung das Hauptwerk ist,
alle andere Affekten, das Mitleiden besonders, ihr untergeordnet
123
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
sind:
so sei auch in dem Trauerspiele das Mitleiden das Haupt
werk,
und jeder andere Affekt, die Bewunderung
besonders,
sei
ihm nur untergeordnet, das ist, diene zu nichts, als das Mitleiden
erregen zu helfen.
lich
sein,
um
Der Heldendichter läßt seinen Helden unglück
seine Vollkommenheiten ins Licht zu setzen.
Der
Tragödienschreiber setzt seines Helden Vollkommenheiten ins Licht, uni uns sein Unglück desto schmerzlicher zu machen. Ein großes Mitleiden kann nicht ohne große Vollkommenheiten
in dem Gegenstände des Mitleids sein,
und große Vollkommen
heiten, sinnlich ausgedrückt, nicht ohne Bewunderung. großen Vollkommenheiten sollen
Aber diese
in dem Trauerspiele nie
ohne
große Unglücksfälle sein, sollen mit diesen allezeit genau verbunden
sein, und sollen also nicht Bewunderung allein, sondern Bewun derung und Schmerz, das ist. Mitleiden erwecken.
Und das ist
Die Bewunderung findet also in dem Trauer
meine Meinung.
spiele nicht als ein besonderer Affekt statt, sondern bloß als die eine Hälfte des Mitleids. auch recht gehabt,
Und in dieser Betrachtung habe ich
sie nicht als einen besondern Affekt,
sondern
nur nach ihrem Verhältnisse gegen das Mitleiden zu erklären. Und in diesem Verhältnisse,
sage ich noch, soll
Ruhepunkt des Mitleidens sein, nämlich da, sich allein wirken soll.
sie der
wo sie für
Da sie aber zum zweitenmal
auf dem
Exempel des Mithridats bestehen, so muß ich glauben, Sie haben meine Worte so verstanden, als wollte ich mit diesem Ruhepunkte
sagen, sie soll das Mitleiden stillen helfen.
Aber das will ich da
mit gar nicht sagen, sondern gleich das Gegenteil.
Hören Sie nur!
Wir können nicht lange in einem starken Affekte bleiben; also können wir auch ein starkes Mitleiden nicht lange aushalten;
schwächt sich selbst ab.
es
Auch mittelmäßige Dichter haben dieses
gemerkt, und das starke Mitleiden bis zuletzt verspürt.
Aber ich
hasse die französischen Trauerspiele, welche mir nicht eher, als am
Ende des fünften Aufzugs, einige Thränen auspressen.
Der wahre
Dichter verteilt das Mitleiden durch sein ganzes Trauerspiel;
bringt überall Stellen an,
er
wo er die Vollkommenheiten und Un
glücksfälle seines Helden in einer rührenden Verbindung zeigt, das ist, Thränen erweckt. Zusammenhang
Weil aber das ganze Stück kein beständiger
solcher Stellen
sein kann,
so untermischt er sie
124
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
mit Stellen, die von den Vollkommenheiten seines Helden allein handeln,
und in diesen Stellen
hat die Bewunderung,
als Be
wunderung, statt.
Was sind aber diese Stellen anders, als gleich
sam Ruhepunkte,
wo sich der Zuschauer zu neuem Mitleiden er
holen sott?
Gestillt soll das vorige Mitleiden nicht dadurch werden,
das ist mir niemals in die Gedanken gekommen, und würde meinem System schnurstracks zuwider sein. Da nun aber diese Stellen (ich will sie die leeren Scenen
nennen, ob sie gleich nicht immer ganze Scenen sein dürfen, weil die Bewunderung, oder die Ausmalung der außerordentlichen Voll kommenheiten des Helden, der einzige Kunstgriff ist, die leeren
Scenen, wo die Aktion stille steht, erträglich zu machend da, sage
ich, diese leeren Scenen nichts als Vorbereitungen zum künf tigen Mitleiden sein sollen, so müssen sie keine solchen Vollkommen
heiten betreffen, die das Mitleiden zernichten.
Ich will ein Exempel
geben, dessen Lächerliches Sie mir aber verzeihen müssen.
Gesetzt,
ich sagte zu jemand: heute ist der Tag, da Titus seinen alten Vater,
auf
einem Seile, welches
von der
höchsten Spitze des
Turms bis über den Fluß ausgespannt ist, in einem Schubkarren von oben herab führen soll.
Wenn ich nun, dieser gefährlichen
Handlung wegen. Mitleiden für den Titus erwecken wollte, was
muß ich thun?
Ich müßte die guten Eigenschaften des Titus
und seines Vaters auseinandersetzen,
und sie beide zu Personen
machen, die es um so viel weniger verdienen, daß sie sich einer
solchen Gefahr unterziehen müssen, je würdiger sie sind.
Aber
nicht wahr, dem Mitleiden ist der Weg zu dem Herzen meines Zuhörers auf einmal abgeschnitten, sobald ich ihm sage, Titus ist
ein Seiltänzer, der diesen Versuch schon mehr als einmal gemacht hat?
Und gleichwohl habe ich doch weiter nichts als eine Voll
kommenheit des Titus den Zuhörern bekannt gemacht.
Ja, aber
es war eine Vollkommenheit, welche die Gefahr unendlich verrin
gerte, und dem Mitleiden also die Nahrung nahm.
Der Seil
tänzer wird nunmehr bewundert, aber nicht bedauert.
Was macht aber derjenige Dichter aus seinem Helden anders, als einen Seiltänzer, der, wenn er ihn will sterben lassen, das ist,
wenn er uns am meisten durch seine Unfälle rühren will, ihn eine Menge der schönsten Gasconaden, von seiner Verachtung des Todes,
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
125
von seiner Gleichgültigkeit gegen das Leben Herschwatzen läßt? In eben dem Verhältnisse, in welchem die Bewunderung auf der einen
Seite zunimmt, nimmt das Mitleiden auf der andern ab.
Aus
diesem Grunde halte ich den Polyeukt des Corneille für tadelhaft; ob er gleich wegen ganz anderer Schönheiten niemals aufhören
wird zu gefallen.
Polyeukt strebt ein Märtyrer zu werden; er
sehnet sich nach Tod und Martern; er betrachtet sie als den ersten
Schritt in ein überschwänglich seliges Leben; ich bewundere den
frommen Enthusiasten, aber ich müßte befürchten, seinen Geist in
dem Schoße der ewigen Glückseligkeit zu erzürnen, wenn ich Mitleid
mit ihm haben wollte. Genug hiervon;
Sie können nlich hinlänglich verstehen, um
mich zu widerlegen, wenn ich es verdiene.
Aber die Feder läuft
einmal, und ich will mich nunmehr über die Verschiedenheit zwischen
den Wirkungen der Bewunderung und den Wirkungen des Mit leids erklären.
Aus der Bewunderung entspringt der Vorsatz der
Nacheiferung; aber, wie Sie selbst sagen, dieser Vorsatz ist nur
augenblicklich.
Wenn er zur Wirklichkeit kommen soll, muß
ihn entweder die darauf folgende deutliche Erkenntnis dazu bringen,
oder der Affekt der Bewunderung muß so stark fortdauern, daß der Vorsatz zur Thätigkeit kömmt, ehe die Vernunft das Steuer
wieder ergreifen kann.
Das ist doch Ihre Meinung? — Nun
sage ich: in dem ersten Falle ist die Wirkung nicht der Bewun derung, sondern der deutlichen Erkenntnis zuzuschreiben; und zu
dem andern Falle werden nichts Geringeres als Phantasten er fordert.
Denn Phantasten sind doch wohl nichts anders, als Leute,
bei welchen die untern Seelenkräfte über die obern triumphieren? Daran liegt nichts, werden Sie vielleicht sagen, dieser Phantasten
sind sehr viele in der Welt, und es ist gut, wenn auch Phantasten tugendhafte Thaten thun.
Wohl; so muß es beim eine von den
ersten Pflichten des Dichters sein, daß er nur für wirklich tugend hafte Handlungen Bewunderung erweckt.
Denn wäre es ihm er
laubt, auch untugendhaften Handlungen den Firnis der Bewunderung zu geben, so hätte Plato recht, daß er sie aus seiner Republik
verbannt wissen wollen.
Herr Nicolai hätte also nicht schließen
sollen: weil der Wein nicht selten blutige Gezänke erzeugt, so ist es falsch, daß er des Menschen Herz erfreuen soll; oder weil die
126
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
Poesie oft schlechte Handlungen als nachahmungswürdig anpreiset,
so kann ihr Endzweck nicht sein, die Sitten zu bessern. Ich gehe noch weiter, und gebe Ihnen zu überlegen, ob die tugendhafte That, die ein Mensch aus bloßer Nacheiferung, ohne
deutliche Erkenntnis, thut, wirklich eine tugendhafte That ist, und ihm als eine solche zugerechnet werden kann?
Ferner dringe ich
darauf: die Bewunderung einer schönen Handlung kann nur zur Nacheiferung eben derselben Handlung, unter eben denselben Um
ständen, und nicht zu allen schönen Handlungen
antreiben;
sie
bessert, wenn sie ja bessert, nur durch besondere Fälle, und also auch nur in besondern Fällen.
Man bewundert zum Exempel den
Gusman, der. seinem Mörder vergiebt.
Kann mich diese Be
wunderung, ohne Zuziehung der deutlichen Erkenntnis, antreiben,
allen meinen Widersachern zu vergeben?
Oder treibt sie mich nur,
demjenigen Todfeinde zu vergeben, den ich mir selbst durch meine Mißhandlungen dazu gemacht habe?
Ich glaube, nur das letztere.
Wie unendlich besser und sicherer sind die Wirkungen meines Mitleidens!
Das Trauerspiel soll das Mitleiden nur überhaupt
üben, und nicht uns in diesem oder jenem Falle zum Mitleiden bestimmen.
Gesetzt auch, daß mich der Dichter gegen einen un
würdigen Gegenstand mitleidig macht, nämlich vermittelst falscher
Vollkommenheiten,
durch
die er meine Einsicht verführt, um
mein Herz zu gewinnen.
Daran ist nichts gelegen, wenn nur
mein Mitleiden rege wird, und sich gleichsam gewöhnt, immer
leichter und leichter rege zu werden.
Ich lasse mich zum Mitleiden
im Trauerspiele bewegen, um eine Fertigkeit im Mitleiden zu be kommen; findet aber das bei der Bewunderung statt?
Kann man
sagen: ich will gern in der Tragödie bewundern, um eine Fertig keit im Bewundern zu bekommen? Geck,
Ich glaube, der ist der größte
der die größte Fertigkeit im Bewundern hat;
so wie ohne
Zweifel derjenige der beste Mensch ist, der die größte Fertigkeit
im Mitleiden hat. Doch bin ich nicht etwa wieder auf meine alten Sprünge ge kommen?
Schreie ich die Bewunderung durch das, was ich bis
her gesagt habe, nicht für ganz und gar unnütz aus, ob ich ihr gleich das ganze Heldengedicht zu ihrem Tummelplätze einräume?
Fast sollte es so scheinen; ich will es also immer wagen, Ihnen
127
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
einen Einfall zu vertrauen, der zwar ziemlich seltsam klingt, weil
er aber niemand Geringers als mich und den Homer rettet, Ihrer Untersuchung vielleicht nicht unwürdig ist. Es giebt gewisse körperliche Fähigkeiten, gewisse Grade der körperlichen Kräfte, die wir nicht in unsrer willkürlichen Gewalt
haben, ob sie gleich wirklich in dem Körper vorhanden sind.
Ein
glasender, zum Exempel, ist ungleich stärker, als er bei gesundem
Verstände war; auch die Furcht, der Zorn, die Verzweiflung und
andre Affekten mehr,
erwecken in uns einen größern Grad der
Stärke, der uns nicht eher zu Gebote steht, als bis wir uns in
diesen oder jenen Affekt gesetzt haben. Meine zweite vorläufige Anmerkung ist diese.
Alle körperliche
Geschicklichkeiten werden durch Hilfe der Bewunderung
wenigstens das Feine
von allen
Nehmen Sie einen Luftspringer.
körperlichen
gelernt;
Geschicklichkeiten.
Von den wenigsten Sprüngen
kann er seinen Schülern den eigentlichen Mechanismus zeigen; er
kann oft weiter nichts sagen, als:
sieh nur, sieh nur, wie ich es
mache! das ist, bewundere mich nur recht, und versuch' es alsdann,
so wird es von selbst gehen; und je vollkommener der Meister den Sprung vormacht, je mehr er die Bewunderung seines Schülers
durch diese Vollkommenheit reizt,
desto leichter wird diesem die
Nachahmung werden.
Heraus also mit meinem Einfalle!
Wie, wenn Homer mit
Bedacht nur körperliche Vollkommenheiten bewundernswürdig ge schildert hätte?
Er kann leicht ein ebenso
wesen sein, als ich.
guter Philosoph
ge
Er kann leicht, wie ich, geglaubt haben, daß
die Bewunderung unsre Körper wohl tapfer und gewandt, aber nicht unsre Seelen tugendhaft machen könne.
Achilles, sagen Sie,
ist bei dem Homer nichts als ein tapfrer Schläger; es mag sein.
Er ist aber doch ein bewundernswürdiger Schläger, der bei einem andern den Vorsatz der Nacheiferung erzeugen kann.
Und so oft
sich dieser andere in ähnlichen Umständen mit dem Achilles befindet, wird ihm auch das Exempel dieses Helden wieder beifallen, wird
sich auch seine gehabte Bewunderung erneuern, und diese Bewun derung wird ihn stärker und geschickter machen, als er ohne sie
gewesen wäre.
Gesetzt aber, Homer hätte den Achilles zu einem
bewundernswürdigen Muster der Großmut gemacht.
So oft sich
128
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
nun ein Mensch von feuriger Einbildungskraft in ähnlichen Um
ständen mit ihm sähe, könnte er sich zwar gleichfalls seiner gehabten Bewunderung erinnern, und zufolge
großmütig handeln;
aber würde
dieser Bewunderung gleich
er deswegen
großmütig
sein?
Die Großmut muß eine beständige Eigenschaft der Seele sein, und
ihr nicht bloß ruckweise entfahren.
Ich bin es überzeugt, daß meine Worte oft meinem Sinne Schaden thun, daß ich mich nicht selten zu unbestimmt oder zu
nachlässig ausdrücke.
Versuchen Sie es also, liebster Freund, sich
durch Ihr eigen Nachdenken in den Geist meines Systems zu ver
setzen.
Und vielleicht finden Sie es weit besser, als ich es vor
stellen kann.
In Vergleichung
meiner,
sollen Sie doch noch immer ein
Wortsparer bleiben; denn ich habe mir fest vorgenommen, auch diesen zweiten Bogen noch voll zu schmieren. aus
dem
Folgenden
einen
besondern
Ich wollte anfangs
Brief an Herrn Nicolai
machen; aber ich will seine Schulden mit Fleiß nicht häufen.
Lesen Sie doch das dreizehnte Hauptstück der Aristotelischen Dichtkunst. Der Philosoph sagt daselbst: der Held eines Trauerspiels
müsse ein Mittelcharakter sein; er müsse nicht allzulasterhaft und auch nicht allzutugendhaft sein; wäre er allzulasterhaft, und ver
diente sein Unglück durch seine Verbrechen, so könnten wir kein Mitleiden mit ihm haben; wäre er aber allzutugendhaft, und er würde dennoch
unglücklich,
so verwandle sich das Mitleiden in
Entsetzen und Abscheu.
Ich möchte wissen, wie Herr Nicolai diese Regel mit den
bewundernswürdigen Eigenschaften seines Helden zusammen reimen könne--------- Doch das ist es nicht, was ich jetzt schreiben will. Ich bin hier selbst wider Aristoteles, welcher mir überall eine falsche
scheint.
Erklärung des
Mitleids
zum Grunde
gelegt zu
haben
Und wenn ich die Wahrheit weniger verfehle, so habe ich
es allein Ihrem bessern Begriffe vom Mitleiden zu danken.
Ist
es wahr, daß das Unglück eines allzutugendhaften Menschen Ent
setzen und Abscheu erweckt?
Wenn es wahr ist, so müssen Ent
setzen und Abscheu der höchste Grad des Mitleids sein, welches sie
doch nicht sind.
Das Milleiden, das in eben dem Verhältnisse
wächst, in welchem Vollkommenheit und Unglück wachsen, hört auf,
129
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
mir angenehm zu sein, und wird desto unangenehmer, je größer auf der einen Seite die Vollkommenheit, und auf der andern das Unglück ist. Unterdessen ist es doch auch wahr, daß an dem Helden eine
gewisse apctQua, ein gewisser Fehler sein muß, durch welchen er sein Unglück über sich gebracht hat.
wie sie Aristoteles nennt?
Etwa,
Aber warum diese
weil er ohne sie vollkommen
sein würde, und das Unglück eines vollkommenen Menschen Ab scheu erweckt?
Gewiß nicht.
Ich glaube, die einzige richtige Ur
sache gefunden zu haben; sie ist diese: weil ohne den Fehler, der
das Unglück über ihn zieht, sein Charakter und sein Unglück kein
Ganzes ausmachen würden, weil das eine nicht in dem andern gegründet wäre, und wir jedes von diesen zwei Stücken besonders
denken würden.
Kanut sei
Ein Exempel wird mich
verständlicher machen.
ein Muster der vollkommensten Güte.
Soll er nur
Mitleid erregen, so muß ich durch den Fehler, daß er seine Güte mcht durch die Klugheit regieren läßt, und den Ulfo, dem er nur
verzeihen sollte, mit gefährlichen Wohlthaten überhäuft, ein großes Unglück über ihn ziehn; Ulfo muß ihn gefangen nehmen und er morden.
Mitleiden im
höchsten Grade!
Aber gesetzt, ich ließe
den Kanut nicht durch seine gemißbrauchte Güte umkommen; ich
ließ' ihn plötzlich durch den Donner erschlagen, oder durch den ein stürzenden Palast zerschmettert werden? ohne Mitleid!
Warum?
Entsetzen und Abscheu
Weil nicht der geringste Zusammenhang
zwischen seiner Güte und dem Donner, oder dem einstürzenden Palast, zwischen seiner Vollkommenheit und seinem Unglücke ist.
Es sind beides zwei verschiedene Dinge, die nicht eine einzige ge meinschaftliche Wirkung, dergleichen das Mitleid ist, hervorbringen
können, sondern deren jedes für sich selbst wirkt. — Ein ander Exempel!
Gedenken Sie an den alten Vetter,
im Kaufmann
wenn ihn Barnwell ersticht,
entsetzen sich die
von London; Zuschauer,
ohne mitleidig zu sein, weil der
gute Charakter des
Alten gar nichts enthält, was den Grund zu diesem Unglück ab
geben könnte.
Sobald
man ihn
aber für
seinen Mörder und
Vetter noch zu Gott beten hört, verwandelt sich das Entsetzen in
ein recht entzückendes Mitleiden, und zwar ganz natürlich, weil diese großmütige That aus Grund in demselben hat. Lessing, Werke. XII.
seinem Unglücke fließet
und ihren
9
130
Auswahl aus den Briefen von Lessing. Und nun bin ich es endlich müde, mehr zu schreiben, nachdem
Sie es ohne Zweifel schon längst müde gewesen sind, mehr zu Ihre Abhandlung von der Wahrscheinlichkeit habe ich mit
lesen.
recht großem Vergnügen
gelesen;
wenn ich sie noch ein paarmal
werde gelesen haben, hoffe ich, Sie so weit zu verstehen, daß ich
Sie um einige Erläuterungen fragen kann. solchen Dingen so gut schwatzen
ließe,
Wenn es sich von
wie von der Tragödie!
Ihre Gedanken von dem Streite der untern und obern Seelen
kräfte laffen Sie ja mit das erste sein, was Sie mir schreiben. Ich empfehle Ihnen dazu meine Weitläuftigkeit, die sich wirklich ebenso gut zum Vortrage wahrer,
als zur Auskramung
vielleicht
falscher Sätze schickt. Bitten Sie doch den Herrn Nicolai in meinem Namen, mir
mit ehestem denjenigen Teil von Cibbers Lebensbeschreibung der
englischen Dichter zu schicken, in welchem Drydens Leben steht.
Ich brauche ihn. Leben Sie wohl, liebster Freund, und werden Sie nicht müde, mich zu bessern, so werden Sie auch nicht müde werden, mich zu
Lessing.
lieben. N. S.
Damit dieser Brief ja alle Eigenschaften eines un
ausstehlichen Briefs habe, so will ich ihn auch noch mit einem
P. S. versehen.
Sie haben sich schon zweimal auf die
griechischen Bildhauer-
berufen, von welchen Sie glauben, daß sie ihre Kunst besser ver standen hätten, als die griechischen Dichter.
Lesen Sie den Schluß
des sechzehnten Hauptstücks der Aristotelischen Dichtkunst, und sagen
Sie mir alsdann, ob den Alten die Regel von der Verschönerung der Leidenschaften unbekannt gewesen sei.
Der Held ist in der Epopöe unglücklich, und ist auch in der Tragödie unglücklich.
Aber auf die Art, wie er es in der einen
ist, darf er es nie in der andern sein.
Ich kann mich nicht er
innern, daß ich die Verschiedenheit dieser Arten irgendwo gehörig
bestimmt gefunden hätte.
Das Unglück des Helden in der Epopöe
muß keine Folge aus dem Charakter desselben sein, weil es sonst, nach meiner obigen Anmerkung, Mitleiden erregen würde; sondern
es
muß ein
Unglück des
Verhängnisses und Zufalls
sein,
an
131
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
welchem seine guten oder bösen Eigenschaften keinen Teil haben. Fato proiugus, sagt Virgil von seinem Äneas. Bei der Tra gödie ist es das Gegenteil, und aus dem £bip zum Exempel wird
nimmermehr
ein Heldengedicht
werden,
und
wer eins daraus
machen wollte, würde am Ende weiter nichts als ein Trauerspiel
in Büchern
gemacht
Tenn
haben.
beiden Tichtungsarten
es wäre
elend,
wenn diese
keinen wesentlichern Unterschied, als den
beständigen oder durch die Erzählung des Dichters unterbrochenen Dialog, oder als Aufzüge und Bücher haben sollten. Wenn Sie Ihre Gedanken von der Illusion mit dem Herrn
DHcotai aufs Reine bringen werden, so vergessen Sie ja nicht, daß
die ganze Lehre von der Illusion eigentlich den dramatischen Dichter nichts angeht, und die Vorstellung seines Stücks das Werk einer
andern Kunst, als der Dichtkunst, ist.
Das Trauerspiel muß auch
ohne Vorstellung und Akteurs seine völlige Stärke behalten, und diese bei dem Leser zu äußern, braucht sie nicht mehr Illusion als jede andre Geschichte.
Sehen Sie deswegen den Aristoteles noch
gegen das Ende des sechsten
und den Anfang des vierzehnten
Hauptstücks nach. Nun bin ich ganz fertig.
Leben Sie wohl!
An Moses Mendelssohn. Leipzig, den 2. Februar 1757.
Liebster Freund!
Ich
glaube es ebensowenig,
als Sie, daß wir bis jetzt in
unserm Streite viel weiter, als über die ersten Grenzen gekommen sind.
Haben Sie aber auch wirklich so viel Lust, als ich, sich
tiefer hinein zu wagen, und dieses unbekannte Land zu entdecken,
wenn wir uns auch hundertmal vorher verirren sollten?
warum zweifle ich daran?
Doch
Wenn Sie es auch nicht aus Neigung
thäten, so würden Sie es aus Gefälligkeit für mich thun.--------Ihre Gedanken von der Herrschaft über die Steigungen, von
der Gewohnheit, von der anschauenden Erkenntnis sind vortrefflich,
Sie haben mich so überzeugt, daß ich mir auch nicht einmal einen
132
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
logischen Fechter st reich dawider übrig gelassen finde.
Warum
kann ich von Ihren Gedanken über die Illusion nicht eben das sagen!
Hören Sie meine Zweifel dagegen; aber machen Sie sich
gefaßt, eine Menge gemeiner Dinge vorher zu lesen, ehe ich dar auf kommen kann. Über das Wort werde ich Ihnen keine
Schwierigkeiten machen. Darin sind wir doch wohl einig, liebster Freund, daß alle Leidenschaften
entweder
scheuungen sind?
heftige Begierden
Auch darin:
oder heftige
Verab
daß wir uns bei jeder heftigen
Begierde oder Verabscheuung, eines größern Grads unsrer Realität
bewußt sind, und daß dieses Bewußtsein nicht anders als ange nehm sein kann?
Folglich sind alle Leidenschaften, auch die aller-
unangenehnlsten, als Leidenschaften angenehm.
Ihnen darf ich es
aber nicht erst sagen: daß die Lust, die mit der stärkern Bestim
mung unsrer Kraft verbunden ist, von der Unlust, die wir über
die Gegenstände haben, worauf die Bestimmung unsrer Kraft geht, so unendlich kann überwogen werden, daß wir uns ihrer gar nicht
mehr bewußt sind.
Alles, was ich hieraus folgere, wird aus der Anwendung auf das Aristotelische Exempel von der gemalten Schlange am deutlich
sten erhellen.
Wenn wir eine gemalte Schlange plötzlich
erblicken, so gefällt sie uns desto besser, je heftiger wir darüber erschrocken sind.
Dieses erkläre ich so: Ich erschrecke über die so wohlgetroffne Schlange, weil ich sie für eine wirkliche halte.
Der Grad dieses
Schreckens, als eine unangenehme Leidenschaft, oder vielmehr der
Grad der Unlust, die ich über diesen schrecklichen Gegenstand em
pfinde, sei 10; so kann ich den Grad der Lust, die mit der Em pfindung der Leidenschaft verbunden ist, 1 nennen, oder 10, wenn
jener zu 100 wüchse.
Indem ich also 10 empfinde, kann ich nicht
1 empfinden, das ist, so lange als ich die Schlange für eine wirk
liche halte, kann ich keine Lust darüber empfinden.
Nun werbe
ich aber auf einmal gewahr, daß es keine wirkliche Schlange, daß es ein bloßes Bild ist:
was
geschieht?
schrecklichen Gegenstand — 10 fällt übrig,
als die Lust,
weg,
Die Unlust über den und es bleibt nichts
die mit der Leidenschaft,
als einer bloßen
stärkern Bestimmung unsrer Kraft, verbunden ist; 1 bleibt übrig,
133
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
das ich nunmehr empfinde, und in dem Grade 8 oder 10 empfinden kann, wenn jener Grad, anstatt 10, 80 oder 100 gewesen ist.
Wozu brauchen wir nun hier die Illusion?
Lassen Sie mich
meine Erklärung auch an einen: entgegengesetzten Exempel ver
suchen, um ihre Nichtigkeit desto ungezweifelter darzulegen.--------
Dort in der Entfernung werde ich das schönste, holdseligste Frauen zimmer gewahr, das mir mit der Hand auf eine geheimnisvolle
Ich gerate in Affekt, Verlangen, Liebe,
Art zu winken scheint.
Bewunderung, wie Sie ihn nennen wollen.
Hier kömmt also die
Lust über den Gegenstand — 10 mit der angenehmen Empfindung des Affekts = 1 zusammen, und die Wirkung von beiden ist = 11.
Nun gehe ich darauf los.
Himmel!
Es ist nichts als ein Ge
Nach Ihrer Erklärung, liebster Freund,
mälde, eine Bildsäule!
sollte nunmehr das Vergnügen desto größer sein, weil mich der
Affekt von der Vollkommenheit der Nachahmung intuitiv überzeugt
Aber das ist wider alle Erfahrung; ich werde vielmehr ver
hat.
drießlich; und warum werde ich verdrießlich?
Die Lust über den
vollkommnen Gegenstand fällt weg, und die angenehme Empfin
dung des Affekts bleibt allein übrig. Folge
b).
Daher
gefallen
Affekte in der Nachahmung. zornig rc.
Ich komme auf Ihre zweite
uns
alle
unangenehmen
Der Musikus kann uns
Hierwider sage ich: Die unangenehmen Affekten in der
Nachahmung gefallen deswegen, weil sie in uns ähnliche Affekten
erwecken, die auf keinen gewissen Gegenstand gehen.
Der Musikus
macht mich betrübt; und diese Betrübnis ist mir angenehm, weil ich diese Betrübnis bloß als Affekt empfinde, und jeder Affekt an
genehm ist.
Denn setzen Sie den Fall, daß ich während dieser
musikalischen Betrübnis
wirklich
an etwas Betrübtes
denke, so
fällt das Angenehme gewiß weg.
Ein Exempel aus der Körperwelt!
Es ist bekannt, daß wenn
man zwei Saiten eine gleiche Spannung giebt, und die eine durch die Berührung ertönen läßt, die andre mit ertönt, ohne berührt zu sein.
Lassen Sie uns den Saiten Empfindung geben, so können
wir annehmen,
daß ihnen zwar eine jede Bebung,
aber nicht
eine jede Berührung angenehm sein mag, sondern nur diejenige Berührung, die eine gewisse Bebung in ihnen hervorbringt.
Die
erste Saite also, die durch die Berührung erbebt, kann eine schmerz-
134
Auswahl aus den Briefen von Lessing.
liche Empfindung haben; da die andre, der ähnlichen Erhebung ungeachtet, eine angenehme Empfindung hat, weil sie nicht (we nigstens nicht so unmittelbar) berührt worden.
Also auch in dem
Die spielende Person gerät in einen unangenehmen
Trauerspiele.
Affekt, und ich mit ihr.
Aber warum ist dieser Affekt bei mir
Weil ich nicht die
spielende Person selbst bin, auf
welche die unangenehme Idee
unmittelbar wirkt, weil ich den
angenehm?
Affekt nur als Affekt empfinde, ohne einen gewissen unangenehmen Gegenstand dabei zu denken. Dergleichen zweite Affekten aber, die bei Erblickung solcher
Affekten an andern, in mir entstehen, verdienen kaum den Namen der Affekten; daher ich denn in einem von meinen ersten Briefen schon gesagt habe, daß die Tragödie eigentlich keinen Affekt bei
uns rege mache, als das Mitleiden.
pfinden
Denn diesen Affekt em
nicht die spielenden Personen, und wir empfinden ihn
nicht bloß, weil sie ihn empfinden, sondern er entsteht in uns ur sprünglich aus der Wirkung der Gegenstände auf uns; es ist kein zweiter mitgeteilter Affekt rc. Ich hatte mir vorgenommen, diesem Brief eine ungewöhnliche
Länge zu geben, allein ich bin seit einigen Tagen so unpaß, daß es mir unmöglich fällt, meine Gedanken beisammen zu behalten.
Ich muß also hier abbrechen, und erst von Ihnen erfahren, ob Sie ungefähr sehen, wo ich hinaus will; oder ob ich nichts als verwirrtes Zeug in diesen Brief geschrieben meiner
außerordentlichen Beklemmung
habe, welches bei
der Brust
(so
muß ich
meine Krankheit unterdessen nennen, weil ich noch keinen Arzt um
den griechischen Namen gefragt habe) gar leicht möglich gewesen ist.
Ich schreibe nur noch ein paar Worte von der Bibliothek. Es ist mir wegen des Verlegers ein unvermuteter verdrießlicher begegnet.
Erschrecken Sie aber nur nicht, mein
lieber Nicolai, ich habe
dem Unglück schon wieder abgeholfen.
Streich
damit
Lankischens drucken sie nicht; beruhigen Sie aber nur Ihre Neu
gierde bis auf den nächsten Posttag, da Sie den Kontrakt des neuen Verlegers zur Unterschrift bekommen, und gewiß damit zu frieden sein sollen.
Leben Sie beide wohl; sobald ich besser bin, werde ich Herrn Nicolai einen langen Brief über verschiedene Punkte in seiner Ab-
135
Auswahl aus den Briefen von Lessing. Handlung schreiben, die mir,
ohne auf meine eigentümlichen
Grillen zu sehen, außerordentlich gefallen hat.
Ihren Aufsatz von der Herrschaft über die Neigungen erhalten Ich habe ihn abschreiben lassen.
Sie hier nach Verlangen zurück.
Leben Sie nochmals wohl; ich bin Zeitlebens der Ihrige
Lessing.
Leipzig, den 2. April 1757. Mein lieber Nicolai,
Ich hatte mich vorigen Posttag mit beiliegendem Briefe zu lange verweilt; er blieb daher liegen, und Sie bekommen jetzt zwei für einen.
Auch bekommen Sie zwei Aushängebogen für einen,
und können folglich mit meiner Verzögerung gar wohl zufrieden sein.
Ich will auch jetzt anfangen, mein Versprechen zu halten,
und Ihnen einige fernere Anmerkungen über Ihre Abhandlung Ich werde alles schreiben, was
von dem Trauerspiele mitteilen.
mir in die
Gedanken kömmt,
gesetzt
auch,
daß vieles
falsch,
und alles sehr trocken wäre.
Zu S. 18. wo Sie die Aristotelische Erklärung des Trauerspiels anführen.
Furcht und Mitleiden. warum
Können Sie mir nicht
sowohl Dacier als Curtius
gleich bedeutende Worte nehmen?
sagen,
Schrecken und Furcht
für
Warum sie das Aristotelische
qroftoc, welches der Grieche durchgängig braucht, bald durch das
eine, bald
durch das andre übersetzen?
Es sind doch wohl zwei
verschiedne Dinge, Furcht und Schrecken?
Und wie, wenn sich
das ganze Schrecken, wovon man nach den falsch verstandenen Ari stotelischen Begriffen bisher so viel geschwatzt, auf weiter nichts, als auf diese schwankende Übersetzung gründete? Lesen Sie, bitte
ich, das zweite und achte Hauptstück des zweiten Buchs der Ari stotelischen Rhetorik: denn das muß ich Ihnen beiläufig sagen,
ich kann mir nicht einbilden, daß einer, der dieses zweite Buch und die ganze Aristotelische Sittenlehre an den Nikomachus nicht
Auswahl aus den Briefen von Lessing,
136
gelesen
hat, die Dichtkunst dieses Weltweisen verstehen
Aristoteles
könne.
welches Herr Curtius am
erklärt das Wort