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German Pages [190] Year 2015
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand
Band 10 Herausgegeben vom Vorstand der Konferenz für Geschichtsdidaktik: Thomas Sandkühler, Charlotte Bühl-Gramer, Anke John, Astrid Schwabe und Holger Thünemann
Gerhard Henke-Bockschatz (Hg.)
Neue geschichtsdidaktische Forschungen Aktuelle Projekte
Mit zwei Abbildungen
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5391 ISBN 978-3-8471-0504-6 ISBN 978-3-8470-0504-9 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0504-3 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Konferenz für Geschichtsdidaktik e. V. Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Gerhard Henke-Bockschatz Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gerhard Henke-Bockschatz Formen und Funktionen öffentlichen Erinnerns am Beispiel aktueller Rückblicke auf die Julikrise 1914 und den Beginn des Ersten Weltkriegs .
11
Marc Ullrich Transkulturelle Mehrebenenanalyse – Implikationen für Theorie und Praxis des Geschichtsunterrichts in der pluriformen Gesellschaft . . . . .
29
Anne Albers »Weißt du eigentlich, wer Atatürk ist?« Eine Rekonstruktion von Lehrer/innenbeliefs über Themen, Unterrichtsprinzipien und Lernpotenziale eines Geschichtsunterrichts für die vielfältige (Migrations-)Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christiane Bertram Historisches Denken fördern durch die Einbindung von Zeitzeugenaussagen – Eine Unterrichtseinheit zur Friedlichen Revolution in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Max Twickler Rückständigkeit im Provinziellen? Die Kriegerdenkmäler der Weimarer Jahre und die Kriegerdenkmalskultur der westfälischen Provinz unter geschichtskultureller Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Etienne Schinkel Der Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Geschichtsschulbücher als Indikator für Erinnerungskultur und historische Selbstvergewisserung
. 123
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Inhalt
Britta Wehen-Behrens Auswirkungen einer Unterrichtseinheit zum Spielfilm »Schicksalsjahre« auf historische Erzählungen von Schülern – Praktische Erprobung und empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Hannes Burkhardt Digitale Erinnerungskulturen im Social Web. Personen des »Dritten Reichs« auf Facebook am Beispiel von Claus Stauffenberg, Sophie Scholl und Erwin Rommel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Gerhard Henke-Bockschatz
Einleitung
Am 25./26. Juli 2014 fand an der Goethe-Universität Frankfurt/Main die VII. Nachwuchstagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik statt. In einem relativ kleinen Teilnehmerkreis wurden eine Reihe von mehr oder weniger weit fortgeschrittenen Projekten, die die derzeitigen Schwerpunkte geschichtsdidaktischer Forschung widerspiegeln, vorgestellt und ausführlich diskutiert. Der vorliegende Band enthält die Tagungsbeiträge. Er zeigt, dass derzeit vor allem Fragen des Umgangs mit transkulturellen Phänomenen im Geschichtsunterricht sowie der Gedenk- und Erinnerungskultur in der Gesellschaft im Mittelpunkt des Forschungen stehen. Daneben oder auch sich damit überschneidend spielen empirische Untersuchungen zum historischen Lernen und Lehren weiterhin eine wichtige Rolle. In dem ersten Beitrag, der den Eröffnungvortrag wiedergibt, geht Gerhard Henke-Bockschatz (Frankfurt am Main) unter der Überschrift »Formen und Funktionen öffentlichen Erinnerns am Beispiel aktueller Rückblicke auf die Julikrise 1914 und den Beginn des Ersten Weltkriegs« auf den zentralen geschichtskulturellen Diskurs ein, der im Sommer 2014 in Deutschland dominierte. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass historisches Lernen (zukünftige) Bürger und Bürgerinnen dazu befähigen soll, sich aktiv und selbstbewusst in Formen des öffentlichen Erinnern einzumischen. Henke-Bockschatz weist insbesondere auf affirmative Tendenzen hin, die vielen Veranstaltungen des öffentlichen Erinnerns, die anlässlich solcher Jahrestage organisiert werden, immanent sind und die es notwendig, aber auch schwierig machten, eine eigene reflektierte Position zu entwickeln. Im Zuge der Auseinandersetzung mit drei Abteilungen des öffentlichen Erinnerns – auf der Ebene der Medien, der Wissenschaft und der Politiker – wird eine Argumentation entfaltet, die vor allem zeigen soll, wie trotz aller offenen Thematisierung der Grausamkeiten des organisierten Tötens dennoch apologetische Tendenzen unübersehbar sind. Immer noch gibt es Betrachtungsweisen, die den Krieg wie ein über die Menschheit hereinbrechendes, eigentlich von niemanden gewolltes Schicksal verstehen und die von der aktiven Rolle der maßgeblichen Staatsmänner und Militärs abstra-
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Gerhard Henke-Bockschatz
hieren, die doch mit Krieg kalkulierten und ihn vorbereiteten. Gegenüber gängigen Deutungen des Krieges als »Katastrophe« sollte daran festgehalten werden, dass militärische Auseinandersetzungen damals wie heute offenbar zum Repertoire nationalstaatlicher Politik gehören und von den Zuständigen mit Wille und Bewusstsein beschlossen werden. Insofern ist es kritisch zu hinterfragen, wenn heutige Politiker das Erinnern an den Ersten Weltkrieg dazu instrumentalisieren, ihre aktuelle Politik zu legitimieren. In der gegenwärtigen geschichtsdidaktischen Forschung spielen Fragen der Transkulturalität eine besondere Rolle. Sie haben Ansätze interkulturellen Lernens abgelöst bzw. fortentwickelt. Marc Ullrich (Berlin) geht in seinem Aufsatz auf »Transkulturelle Mehrebenenanalyse – Implikationen für Theorie und Praxis des Geschichtsunterrichts in der pluriformen Gesellschaft« ein. Angesichts der »transkulturellen Realität im Klassenzimmer« spricht er sich für eine stärkere Integration von Konzepten der Diversität und Intersektionalität in den Geschichtsunterricht und in die Geschichtsdidaktik aus. Eine kulturwissenschaftlich orientierte Geschichtsdidaktik, so sein Plädoyer, solle sich vor allem auf die »individuelle Sinnverhandlung der Lernenden« konzentrieren. Statt einem essentialistischen, an einzelnen Staaten und Nationen ausgerichteten Kulturverständnis zu folgen, müsse deshalb der Begriff und die Theorie der »Transkulturalität« für das historische Lernen Lernen fruchtbar gemacht werden. Anne Albers (Göttingen) stellt unter dem Titel »›Weißt du eigentlich, wer Atatürk ist?‹ Eine Rekonstruktion von Lehrer/innenbeliefs über Themen, Unterrichtsprinzipien und Lernpotenziale eines Geschichtsunterrichts für die vielfältige (Migrations-)Gesellschaft« eine qualitative Untersuchung vor, mit der der Charakter von Geschichtslehrer/innenvorstellungen und -überzeugungen (beliefs) hinsichtlich des Umgangs mit multi- und transkulturellen Phänomenen im Unterricht erforscht werden soll. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob und wie Lehrer/innen auf die kulturelle Vielfalt in den Klassenzimmern eingehen, insbesondere, auf welche Art sie die Adäquanz eines »leitkulturell geprägten Geschichtsnarrativ« in Zweifel ziehen bzw. relativieren. Durch die Auswertung von Kleingruppendiskussionen mit Lehrer/innen sollen Einsichten in Modifikationen der Stoffauswahl, der Unterrichtsprinzipien und der Methoden gewonnen werden. Unter dem Titel »Historisches Denken fördern durch die Einbindung von Zeitzeugenaussagen – Eine Unterrichtseinheit zur Friedlichen Revolution in der DDR« fasst Christiane Bertram (Tübingen) zentrale Ergebnisse ihrer gerade fertig gestellten Dissertation zusammen. In deren Mittelpunkt steht die Frage nach dem empirisch nachweisbaren didaktischen Nutzen des Einsatzes von Zeitzeugenberichten für das historische Lernen. Mögen Zeitzeugen auf den ersten Blick den Unterricht auch lebendiger und abwechslungsreicher machen,
Einleitung
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so ist ihr Einsatz häufig doch mit Problemen und Risiken verbunden. C. Bertram untersuchte in 30 Gymnasialklassen des 9. Jahrganges unterschiedliche Auswirkungen von Zeitzeugeninterviews, je nachdem ob es sich um direkte, aufgezeichnete oder transkribierte Gespräche handelt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Gruppen, die direkt mit den Zeitzeug/innen sprechen, deutlich weniger Einsicht in den Konstruktcharakter der erzählten Lebensgeschichte zeigen, obwohl solche Schüler/innen selber ihre Lernfortschritte höher einschätzen. Max Twickler (Münster) schließt mit seinem Aufsatz »Ru¨cksta¨ ndigkeit im Provinziellen? Die Kriegerdenkma¨ ler der Weimarer Jahre und die Kriegerdenkmalskultur der westfa¨ lischen Provinz unter geschichtskultureller Perspektive« an Forschungen an, die seit den 1970er Jahren verstärkt in Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik betrieben wurden. Kriegerdenkmäler stellen öffentliche Zeichen und Symbole dar, mit denen an die soldatischen, manchmal auch an die zivilen Opfer militärischer Konflikte erinnert wird. M. Twickler konzentriert sich auf die im Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik und in der Frühzeit des Dritten Reichs in der ehemaligen preußischen Provinz Westfalen errichteten Kriegerdenkmäler. Mit ihrer ausgeprägten konfessionellen und strukturellen Vielfalt eignet sich die Region besonders gut, um Einsichten in die Formen und Inhalte der Geschichtskultur zu gewinnen. Erste Zwischenergebnisse der Untersuchung lassen nicht nur die große Bandbreite neuer und modifizierter Denkmäler, sondern auch erhebliche Kontinuitäten zwischen der frühen und mittleren Bundesrepublik einerseits und der Weimarer Republik und der NS-Zeit andererseits erkennen. Der Mythos von der »sauberen Wehrmacht« beherrschte das öffentliche Erinnern in der Bundesrepublik Deutschland an den Zweiten Weltkrieg längere Zeit. Erst mit der Wehrmachtsausstellung geriet die Beteiligung »einfacher« Wehrmachtssoldaten an den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands verstärkt in den Blick der Öffentlichkeit. Etienne Schinkel (Göttingen) untersucht in seinem Beitrag »Der Vernichtungskrieg der Wehrmacht – Geschichtsschulbücher als Indikator für Erinnerungskultur und historische Selbstvergewisserung«, inwieweit die veränderte Geschichtsschreibung über die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg in neuere Geschichtsschulbücher Eingang gefunden hat. Hierzu analysiert er die Verfassertexte, Arbeitsteile und Aufgabenstellungen von vier neueren Geschichtsschulbücher für die Mittelstufe. Er kommt zu dem Resultat, dass die Beteiligung der Wehrmacht an der Shoah zwar knapp, aber zutreffend geschildert werde, die auf Vernichtung angelegte Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilisten aber kaum berücksichtigt wird. Mit der Rolle und Funktion von Filmen für das historische Lernen setzt sich Britta Wehen-Behres (Oldenburg) auseinander. Unter dem Titel »Auswirkungen einer Unterrichtseinheit zum Spielfilm ›Schicksalsjahre‹ auf historische Erzäh-
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Gerhard Henke-Bockschatz
lungen von Schülern – Praktische Erprobung und empirische Befunde« untersucht sie, wie sich eine konkrete Lernumgebung, in die ein Spielfilm integriert ist, auf die narrative Kompetenz von Schülerinnen und Schüler auswirkt. Die vorgestellte Studie hat einen explorativen Charakter. Schülerinnen und Schülern einer 10. und einer 11. Klasse wurden nach dem dem Anschauen des 2011 entstandenen TV-Films »Schicksalsjahre« aufgefordert, zu ihm eigene Narrationen zu verfassen, die dann mittels qualitativer Inhaltsanalyse analysiert wurden. Wehen-Behrens zeigt an zwei konkreten Beispielen, welcher Lernzuwachs sich feststellen lässt. In beiden Fällen diente der Film hauptsächlich als ein Art Aufhänger zur besseren Strukturierung der schon vor dem Film vorhandenen Narrationen, nicht aber als Muster für die eigene Erzählung. Bei manchen Schülerinnen und Schüler kam es aber auch zu einer expliziten Auseinandersetzung mit dem Charakter und der Plausibilität der verfilmten Geschichte. Hannes Burkhardt (Nürnberg) geht es in seinem Aufsatz »Digitale Erinnerungskulturen im Social Web. Personen des ›Dritten Reichs‹ auf Facebook am Beispiel von Claus Stauffenberg, Sophie Scholl und Erwin Rommel« um die Besonderheit und die Bedeutung neuer Erinnerungskulturen in sozialen Netzwerken. Anhand verschiedener Facebook-Seiten begründet er einige Thesen zur Erinnerungskultur bei Facebook. Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen nach der Funktion geschichtskultureller Institutionen, populärer Medien und bestimmter Subkulturen sowie nach der Pluralität der Nutzergemeinschaft und der Vergangenheitsinterpretationen. Anschaulich vermag Burkhardt zu zeigen, in welcher Weise Nutzer/innen des Web 2.0 sich nicht nur auf vorgefundene Inhalte beziehen, sondern diese selber schaffen, wie Diskussionen und Interaktionen stattfinden und wie neues historisches Wissen generiert.
Gerhard Henke-Bockschatz
Formen und Funktionen öffentlichen Erinnerns am Beispiel aktueller Rückblicke auf die Julikrise 1914 und den Beginn des Ersten Weltkriegs
1.
Einleitung
Um den Weltkriegsjahrestag wird seit einigen Monaten ein enormer geschichtskultureller Aufwand getrieben. Die öffentlich-mediale Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hat ein Ausmaß angenommen, wie es bisher kaum einem historischen Ereignis widerfahren ist. Eine Flut an Publikationen, Tagungen, Fernsehsendungen, Ausstellungen und Gedenkveranstaltungen überschwemmt das Land. Diese Flut erfährt noch mal eine besondere Wucht dadurch, dass das Internet es heutzutage viel mehr Menschen als früher ermöglicht, sich mit ihren Traditionen und Überresten einzubringen.1 Nun besteht das Ziel historischen Lernens darin, junge Menschen zu befähigen, zu öffentlichen historischen Diskursen und Argumenten rational Stellung zu beziehen, sich also mit dem auseinander zu setzen und sich in das einzumischen, was man Geschichtskultur nennt. Es geht beim historischen Lernen letztendlich um die aktive und selbstbestimmte Partzipation an der Geschichtskultur, um ein klares Bewusstsein davon, mit welcher Art von Geschichtskultur man es inhaltlich und formal zu tun hat und ob man sich wirklich an ihr beteiligen, von ihr distanzieren oder ihr eigene Narrative entgegensetzen will. Sind doch mit diesen historischen Diskursen bekanntermaßen immer Deutungen gegenwärtiger Verhältnisse und Zustände verbunden, die die Möglichkeiten und Grenzen individuellen und kollektiven Lebens und Handelns in ihnen betreffen. Es sollte aber immer gefragt werden: Wessen Leben? Das der Gesellschaft, der Nation, der Menschheit, der Kultur oder einfach das eigene Leben, das man ja mit Blick auf die eigenen Interessen und Bedürfnisse, die wiederum sehr unterschiedlich sind, möglichst »gut« führen möchte?
1 Als Beispiel sei hier nur auf die Website »Europeana 1914–1918« verwiesen, die in einer Art Crowdsourcing die User dazu auffordert, eigene Materialien und Quellen zum Ersten Weltkrieg hochzuladen, vgl. www.europeana1914-1918.eu/de (Stand 01. 07. 2015).
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Gerhard Henke-Bockschatz
Es sollen im Folgenden am Beispiel des aktuellen Erinnerns an den Ersten Weltkrieg in Deutschland einige Überlegungen dazu entwickelt, womit es eine so verstandene geschichtskulturelle Kompetenz eigentlich zu tun hat bzw. mit welchen Herausforderungen sie konfrontiert ist. Nach ein paar Bemerkungen zum Charakter von Jahrestagen im Allgemeinen werden drei Felder des Erinnerns an den Ersten Weltkrieg näher betrachtet: die Öffentlichkeit, die Geschichtswissenschaft und die Politik. Die Überlegungen haben einen essayistischen Charakter, beanspruchen keine Allgemeingültigkeit. Sie sind eher als »Probebohrungen« zu verstehen, die Indizien dafür liefern sollen, worauf eine umfassendere Analyse ausgerichtet sein sollte.
2.
Zur Logik öffentlichen Kriegsgedenkens
Für Jubiläen jeglicher Art gilt gleichermaßen, dass sie Aufforderungen zum Erinnern und damit zum Nachdenken darstellen, die erst mal nicht aus den gegenwärtigen Interessen und Belangen der Menschen herrühren. Ihr Ausgangspunkt ist ein rein formaler Anlass – eine mehr oder weniger runde Jahreszahl, die vom Staat und bzw. oder von der Öffentlichkeit als Erinnerungsanlass aufgegriffen wird. Mit dem, was die Menschen aktuell in ihrer Gegenwart bewegt und von dem aus sie eventuell auch Fragen nach Sinn- oder Entstehungszusammenhängen an die Geschichte stellen, hat diese geschichtskulturelle Praxis zunächst kaum etwas zu tun. Vielleicht ist es gerade deshalb bei Jubiläen oftmals besonders notwendig, die Bedeutsamkeit der historischen Person oder des historischen Ereignisses für die Gegenwart um so mehr zu behaupten und zu betonen. Jubiläen – egal ob solche von Personen, Vereinen, Institutionen, Unternehmen etc. – haben eine eigene innere Logik und werden deshalb ritualisiert begangen. In Festreden und Festzeitungen werden die jeweiligen Jubilare belobigt. An ein sachgerechtes Urteil über sie ist deshalb in der Regel nicht zu denken, weil sie ja geehrt und gefeiert, also als vorbildlich und wertvoll gewürdigt werden sollen. Was man an dem Jubilar gut findet, wird hervorgehoben, was man an ihm nicht mag, wird verschwiegen oder als nebensächlich-schrullig dargestellt. Jubiläen haftet somit oftmals von Grund auf ein Zug zur Beschönigung und Verherrlichung an. Es ist beispielsweise wenig überraschend, dass der wirtschaftsgeschichtliche Quellenwert von Firmenfestschriften recht kritisch eingeschätzt wird. Wenn Kriege oder Schlachten sich jähren, wird an eine politische Ausnahmesituation erinnert; an eine existentiell bedrohliche Situation, in der die Untertanen bzw. Bürger der kriegführenden Staaten dazu gezwungen wurden, Leben, Gesundheit und Vermögen für den Fortbestand oder den Erfolg des
Formen und Funktionen öffentlichen Erinnerns am Beispiel aktueller Rückblicke
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eigenen Staates einzusetzen. In dieser Situation wird praktisch zu staatsbürgerlicher Pflicht, was in Friedenszeiten verboten ist und hart bestraft wird: das Töten, Verletzen und Schädigen von Menschen – aber eben von solchen, die dem feindlichen Staat angehören. Die unter solchen Bedingungen anfallenden eigenen Kriegsopfer ehren moderne, nationalstaatlich und demokratisch verfasste Staaten mit Kriegerdenkmälern, Soldatenfriedhöfen, Volkstrauertagen etc. An derartigen Erinnerungsorten und auf solchen Erinnerungsveranstaltungen werden die Gefallenen zu Helden umgedeutet, weil sie praktisch mit ihrem Tod bewiesen haben sollen, dass sie bereit waren, ihr Leben für das große »Wir«, für Vaterland und Heimat, hinzugeben. Dass sie gezwungen wurden, in den Krieg zu ziehen; dass sie eventuell vor Angst und Schrecken gelähmt waren; dass sie sich eventuell, so gut es ging, hinter anderen versteckt haben – all das tritt mit ihrem Tod auf dem Schlachtfeld in den Hintergrund. Ihr Tod macht sie unwidersprechlich zu Helden, auch wenn sie in Wirklichkeit und mit gutem Grund Feiglinge und Drückeberger waren. Bücher und Filme wie »Im Westen nichts Neues« oder »Apokalypse now«, die die brutale Wirklichkeit des Krieges zeigen wollen, leben dann wiederum davon, dieses idealisierende Bild des heldischen Soldaten als Lüge und Täuschung zu entlarven. Zwei weitere Moment wirken grundsätzlich auf öffentliche Erinnerungen an Kriege ein. Sie sind erstens davon geprägt, wie ein Staat gegenwärtig zu der Frage von Krieg und Frieden steht, wie sehr seine Vertreter meinen, sich aktuell rüsten und eventuell militärisch gegen andere Staaten vorgehen zu können und zu müssen. Zweitens hängt für das Gedenken viel davon ab, wie der Krieg ausging, an den erinnert wird. Für den Sieger hat sich der Krieg gelohnt, er muss dem anderen Staat praktisch nicht mehr die Anerkennung zollen, die dieser vorher gefordert hat. Damit sind die Opfer, die der Siegerstaat seinen Bürgern abverlangt hatte, wegen der erreichten staatlichen Unabhängigkeit oder Überlegenheit auf der politischen Ebene gerechtfertigt. Der Staat ist gleichzeitig seiner diesbezüglichen »Veranwortung« nachgekommen: Er hat das Leben seiner Untertanen mit Erfolg eingesetzt. Beim Verlierer hingegen beklagt man mit dem schwindenden (außen)politischen Einfluss auch die »sinnlosen Toten«. Der Verliererstaat hat die Leben seiner Bürger umsonst geopfert, weshalb er sich von seinen Bürgern kritischere Nachfragen gefallen lassen muss – Fragen dazu, inwiefern der staatliche Einsatz seiner Untertanen im Krieg so umsichtig und verantwortungsvoll war, wie es die allgemein erwartete staatliche Wertschätzung des Lebens der Untertanen eigentlich erfordern sollte, oder ob Gesundheit und Leben fahrlässig und rücksichtslos aufs Spiel gesetzt wurden. Deshalb sind Revolutionen und Umstürze häufig die Konsequenz verlorener Kriege.
14
3.
Gerhard Henke-Bockschatz
Der Tenor aktuellen öffentlichen Gedenkens an den Ersten Weltkrieg
Im Mittelpunkt der derzeit zelebrierten Erinnerung an den Ersten Weltkrieg steht die Kenntnis um sein Ausmaß, seine Intensität und seine gravierenden Folgen: Handelte es sich doch nach allseitigem Bekunden um einen »großen« Krieg unter Beteiligung aller europäischen Großmächte und einiger anderer Staaten, mit Millionen von Toten und Kriegsversehrten – ein gegenseitiges Abschlachten und Zerstören riesigen Ausmasses unter Einsatz modernster Techniken und mit unerbittlicher Konsequenz. Im Rückblick erscheint das so dimensionierte Leid als etwas, das doch damals, vor und während des Krieges, »eigentlich« niemand hat wollen können. Dieses »eigentlich« geht von dem festen Glauben aus, dass man sich nicht vorstellen mag, unter den Staatenlenkern habe wirklich jemand mit einem Gemetzel solchen Ausmaßes kalkuliert. Aus solch ungläubigem Entsetzen ergibt sich dann logisch die Frage, wieso es trotzdem zu einem Abschlachten solchen Ausmaßes hat kommen können. Diese Gedankenfigur identifiziert von Beginn an die Suche nach Gründen für den Krieg mit der Suche nach Gründen, warum er nicht verhindert wurde. Man möchte erfahren, was schief gegangen ist, und gibt damit kund, dass man an die grundsätzliche Friedfertigkeit und Vernünftigkeit von Staat und Gesellschaft glaubt. Die Titel vieler Bücher, Dokumentationen, Filme bringen dieses Bedürfnis zum Ausdruck. Nicht erst seit 2014 ist es üblich, den Ersten Weltkrieg als »Katastrophe«, »Tragödie«, »Abgrund«, »Inferno« usw. zu bezeichnen. Solche Begriffe implizieren häufig ein Verständnis des Krieges als schicksalhaftes Geschehen, das über den alten Kontinent wie eine Naturkatastrophe hereingebrochen sein soll und auf das von den Menschen allenfalls am Rande Einfluss genommen werden konnte. Von dieser Vorstellung einer anonymisierten Macht aus wird dann durchaus schonungslos ausgebreitet, wie schrecklich es im Krieg war, was die Menschen an der Front und in der Heimat erlitten und aushalten mussten, gerne auch anhand möglichst konkreter Darstellungen zu einzelnen Personen und Schauplätzen. Die Hypostasierung des Krieges zu einem eigenständigen Subjekt zeigt sich auch in weit verbreiteten Formulierungen wie der, »der Krieg« habe das Leben und die Gesundheit von Millionen Menschen »verschlungen« – und nicht etwa die maßgeblichen Politiker und Generäle, die den Kriege führten. So dispensiert man sich und andere von der zentralen Frage, die die Einheit von Volk und Staat nicht einfach als gegeben hinnimmt: Wer stellte hier eigentlich mit wem was an? Statt dessen wird die allgemeine Betroffenheit der Menschen ausgebreitet und inszeniert, bis hin zu Ausstellungen, in denen »mit allen Sinnen« erfahren
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werden kann, wie unerträglich das Leben im Schützengraben oder an der Heimatfront war. Geschichtskulturelle Kompetenz sollte darin bestehen, nach solchen fragwürdigen Versubjektivierungen zu fragen. Das fängt bei der Redeweise von den Kriegen, die »ausbrechen«, oder von »Konflikten«, die »sich zuspitzen«, an, setzt sich in solchen Formulierungen wie »der Krieg verschlang Leben« fort und hört längst nicht damit auf.
4.
Wissenschaft
Auf der Ebene der Wissenschaft fällt auf, dass in Deutschland (aber nicht nur dort) mehr und mehr Abstand genommen wird von der lange Zeit gepflegten und verbreiteten Vorstellung, das Kaiserreich habe mit seinem »Griff nach der Weltmacht« die Haupt-, zumindest aber eine wesentliche Mitschuld am Krieg.2 Solche Tendenzen zu einer sehr kritischen Beurteilung der deutschen Rolle vor und in dem Krieg scheinen in der Phase des wirtschaftlichen und politischen Wiederaufstiegs der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg an der Seite der USA und der NATO angebracht gewesen sein. Für das seit 1990 vereinigte Deutschland, das als »Herz« Europas politisch, ökonomisch und militärisch immer mehr »Verantwortung« trägt und noch mehr übernehmen will, scheint aber eine solche Sicht auf die deutsche Rolle vor und in dem Krieg 1914–18 nicht mehr angemessen zu sein. Wohl deshalb erfreuen sich Publikationen besonderer Aufmerksamkeit, die eine Sichtweise nahelegen bzw. nahezulegen scheinen, die die deutsche Kriegsschuld bzw. -verantwortung geringer oder anders einschätzen. Das lässt sich an zwei bekannten und breit diskutierten Büchern gut zeigen.
4.1
Christopher Clark3
Die Bestseller-Interpretation des in England lehrenden australischen Historikers ist bewusst stark gegenwartsbezogen: Er vergleicht beispielsweise das Attentat von Sarajewo mit den Terrorattentaten gegen die USA am 11. September 2001 und die serbische »Schwarze Hand« mit Al Qaida. Damit wird nahegelegt, Österreich-Ungarn hätte 1914 zu Serbien in einem ähnlichen Verhältnis gestanden wie die USA nach 2001 zu Afghanistan und den Taliban. Da Clark 2 Fritz Fischer : Griff nach der Wetmacht, 2. Aufl., Düsseldorf 1962 (1. Aufl. 1961). 3 Christopher Clark: The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914. London 2013 (dt.: Die Schlafwandler, München 2013).
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offenbar den Krieg am Hindukusch als Reaktion auf die Attentate in den USA einerseits für zumindest nachvollziehbar, wenn nicht legitim hält, und da er andererseits darauf verweist, dass Serbien in den Balkankriegen der 1990er Jahres sich auch einige Verbrechen hat zu Schulden kommen lassen (z. B. in Srebrenica und bei der Belagerung von Sarajewo), stellt sich ihm die Frage, ob Serbien 1914 wirklich so verhältnismäßig unschuldig und passiv war, wie es in der Geschichtswissenschaft, v. a. der deutschen, lange den Anschein hatte.4 Aus der heutigen EU-Perspektive müsse wiederum dem multiethnischen PatchworkStaat Österreich-Ungarn wesentlich mehr Sympathie entgegen gebracht werden als früher. Clark geht davon aus, dass nach dem Kalten Krieg mit seiner eindeutigen »bipolaren Weltordnung« eine neue weltpolitische Epoche angebrochen ist, die durch »Multipolarität« gekennzeichnet sein soll. Deshalb könne es durchaus wieder zu ähnlichen Konstellationen kommen wie in der politisch komplexen, durch mannigfache staatliche Konkurrenzen gekennzeichneten europäischen Situation vor 1914. Wegen dieser internationalen Lage ist es nach Clark angebracht, weniger nach Gründen fragen, die zu dem Großen Krieg führten, als vielmehr die Art und Weise schildern, wie es zu ihm kam. Er möchte es so vermeiden, in den Politikern bloße Exekutoren von unkontrollierbaren Tendenzen und Strukturen zu sehen, die sie in den Krieg hinein trieben.5 Ist es aber wirklich so, dass die Frage nach dem Kriegsgrund bzw. den Kriegsgründen Politiker zu passiven Handlangern allgemeiner Kräfte und Strukturen macht? Sich nach dem Grund des Ersten Weltkriegs zu erkundigen, heißt zunächst ja nur, danach zu fragen, woran es lag, dass die großen europäischen Staaten meinten, ihre normale wirtschaftlich-politische Konkurrenz nicht länger »friedlich« fortführen zu können; dass ihnen dies zunehmend als unerträglich erschien und sie sich Schritt für Schritt darauf hin bewegten, über ihr Verhältnis zueinander das direkte militärische Kräftemessen entscheiden zu lassen. Wenn es dafür eine Notwendigkeit geben sollte, die aus dem erwuchs, worum es den Staaten im Frieden ging – dann ist mit dem Krieg den Politikern überhaupt nichts außer Kontrolle geraten. Clark möchte aber die Staaten und ihre Politiker anscheinend so betrachten, dass sie immer auch und vor allem diejenigen sind, die den Zug in Richtung Krieg auch zum Halten hätten bringen müssen und können. Und er liefert Erklärungen dafür, warum sie dies angeblich nicht realisieren konnten. Nicht wenige der außenpolitischen »Krisen« vor dem Juli 1914, bei denen es zu keinem Krieg zwischen Großmächten, sondern zu Übereinkünften kam, gilt ihm beispielsweise als Beleg dafür, dass die Antagonismen zwischen den Staaten keineswegs in einen Großen Krieg münden 4 Ebd., Introduction, S. XXXVI. 5 Ebd., Introduction, S. XXXVII.
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mussten bzw. dass auch die Juli-Krise von 1914 friedlich hätte bewältigt werden können. Insofern entspricht Clarks minutiöse Ausmalung all der unfähigen, überforderten Politiker, die der angeblich komplizierten Lage nicht gewachsen gewesen sein sollen (»kollektive Überforderung« in einer »Situation extremer Komplexität«) seinem theoretischen Ausgangspunkt. Da man einfach nicht gesehen und geglaubt habe, was man durchaus hätte wissen und sehen können, nämlich dass ein Krieg groß und schrecklich werden würde, habe man sich – ähnlich wie Schlafwandler – leichtfertig auf den Krieg eingelassen. Der Krieg erscheint so als Resultat einer gestörten und fehlgeleiteten Wahrnehmung der politischen Situation durch Politiker und Militärs.
4.2
Herfried Münkler
Auch Münkler wendet sich gegen Erklärungen des Krieges im Sinne der Thesen von Fritz Fischer. Er ist der Auffassung, Deutschland habe an dem Krieg keine »Schuld« gehabt, jedoch sei ihm »als wirtschaftlich und militärisch mächtigsten Akteur auf dem Kontinent« große Verantwortung zugekommen.6 Das Reich habe zwar zeitweise eine verantwortungsvolle Politik betrieben, z. B. indem es versucht habe, den Konflikt auf Südosteuropa zu »lokalisieren«; es habe sich dann aber aufgrund des Schlieffenplans selbst unter »Zeitdruck« gesetzt. Zudem hätten die anderen europäischen Großmächte nicht zugelassen, dass Deutschland die ihm gebührende Verantwortung übernahm. Sie hätten vielmehr das Reich und seinen Hauptverbündeten Österreich-Ungarn mit Bündnissen »eingekreist«. Dies »musste zwangsläufig dazu führen, dass sich die Zeitperspektive der Politik verkürzte, womit tendenziell ein irrationales Agieren der deutschen Politik wahrscheinlicher wurde. Genau das ist im Juli 1914 eingetreten.«7 So entdeckt Münkler mehr oder weniger selbstverschuldete Umstände, die es den Staatsmännern verunmöglicht haben sollen, der Situation auf rationale Art Herr zu werden. Damit wird unterstellt, dass eigentlich, nämlich unter der Voraussetzung der Fähigkeit und des Willens zu rationalem Agieren, die Situation durchaus »beherrschbar« gewesen sei. Auch Münkler pflegt eine Betrachtungsweise des Krieges, der es darauf ankommt, die gelungenen und die misslungenen, die erfolgreichen und die erfolglosen Entscheidungen und Verhaltensweisen der Verantwortlichen ausfindig zu machen. Wo hat wer wann militärisch oder politisch einen Fehler oder auch genau das Richtige gemacht? War es richtig, dass Moltke Ende August 1914 nach der Eroberung der Festung von Namur zwei Armeekorps an die deutsche Ost6 Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, Berlin 2013, S. 105. 7 Ebd.
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Gerhard Henke-Bockschatz
front verlegte?8 War es richtig, dass Moltke im September 1914 im Luxemburger Hauptquartier blieb, statt sich selber ein Bild von der Lage an der Westfront zu machen?9 Diese Art von Geschichtsschreibung misst die Entscheidungen und Handlungen der Generäle und Politiker daran, ob sie sich rational auf die jeweilige Situation bezogen haben und möchte dies verstanden wissen als eine Reflexion darauf, wie der Krieg eventuell hätte verhindert oder schneller beendet werden können. Es wird auf einer technisch-instrumentellen Ebene gefragt, ob die Entscheidungen und die Handlungen der Politiker und der Militärs der Situation angemessen oder unangemessen waren. Deshalb mag Münkler nicht von der »Schuld« einzelner Staaten oder Politiker sprechen. Er fragt vielmehr nach der »Verantwortung« und nach »Fehlurteilen und Führungsproblemen«. Der Krieg sei keineswegs, wie ältere Imperialismusstudien behauptet hätten, »überdeterminiert« und damit »unausweichlich« gewesen. »Er hätte vielmehr, (…), bei mehr politischer Weitsicht und Urteilskraft vermieden werden können«.10 Münkler verwahrt sich zwar dagegen, dass solch ein Gedanke »retrospektive Besserwisserei« sei.11 Aber ist er das nicht gerade? »Überdeterminiert« – auf diesen merkwürdigen, tautologisch klingenden Begriff läuft ein methodischer Anspruch an das Nachdenken über den Ersten Weltkrieg hinaus, der von vornherein die Freiheit betonen möchte, die damalige Politiker gehabt haben sollen. Wer nach dem Grund oder den Gründen für die Spannungen und Konflikte zwischen den großen europäischen Staaten um 1900 fragt und dann, vielleicht unter Bezug auf den angestaubten Begriff »Imperialismus«, mehr oder weniger deutlich darauf verweist, dass dies etwas mit der politökonomischen Verfasstheit und Zielsetzung der Staaten zu tun haben könnte, liegt demnach falsch. Einen derartigen Erklärungsansatz findet Münkler kritikabel, weil damit »Handlungsspielräume« der Politik übersehen bzw. geleugnet würden. Für Münkler besteht die wichtigste und unentbehrliche Hauptaufgabe der Außenpolitik offenbar darin, Krisen zu meistern und insbesondere Kriege zu verhindern. Den Gedanken, die Außenpolitik könne aktiven Anteil an der Herbeiführung der kriegsträchtigen Lage gehabt haben, hält er für wenig hilfreich. Statt dessen legt er viel Wert darauf, damaligen Politikern die »Kontingenz« des Geschehens, die Bedeutung nicht vorhersehbarer Zufälle, als objektive Schwierigkeit adäquaten Handelns zu Gute zu halten. Von Gründen will Münkler nur in dem Umfang etwas wissen, wie sie sich mit seinem Ideal der um Konfliktlösung bemühten Politik und Politiker vertragen. Davon lässt er sich auch nicht durch Hinweise auf all das abbringen, wodurch Staaten und Politiker 8 9 10 11
Vgl. ebd., S. 160. Vgl. ebd., S. 168. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15.
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in der Vorkriegszeit bewusst und aktiv auf militärische Auseinandersetzungen hinwirkten und mit ihnen kalkulierten. Die meisten »Fehler« entstanden nach Münklers Auffassung daraus, dass militärische Überlegungen die politischen Entscheidungen verdrängten bzw. überlagerten, Krieg also angeblich nicht als kontrolliert eingesetzte Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betrieben wurde. Beispielsweise habe im Deutschen Reich schon zu Kriegsbeginn der Schlieffen-Plan »der Politik jeden Handlungsspielraum genommen«;12 es sei auf deutscher Seite sowieso ein »Fehlen politischer Zwecksetzungen« festzustellen, weshalb die Kriegszieldiskussion umso wilder ins Kraut geschossen sei;13 auch auf der Ebene der zeitgenössischen Beurteilung des Krieges habe man in Deutschland selbstzweckhafte Ideen vertreten, die keine politischen Kompromisse zuließen und »die den Krieg ihrer politischen Verfügung entzogen«;14 mit wachsender Zahl an Opfern sei für die Regierungen ein »Verständigungsfriede« immer schwieriger geworden, weil »ohne Annexionen und Reparationen die Erwartungen der unteren Schichten auf soziale Besserstellung als Lohn für die Lasten des Krieges nicht erfüllt werden konnten«.15 Münklers Art der Erzählung des Ersten Weltkriegs ist gekennzeichnet durch ein ständiges Sichhineindenken in wirkliche oder angebliche Probleme, Zwänge und Nöte derjenigen, die als »Verantwortliche« Menschen und Material für den Kriegserfolg einsetzten. Jede Etappe des Krieges dient ihm als neuer Ausgangspunkt für die Frage nach den verpassten Möglichkeiten des Friedensschließens durch die Politiker. Es passt zu dieser Betrachtungsweise, das größte Problem deutscher Außenpolitik damals wie heute im Umgang mit der unabänderlich gegebenen geografischen Lage auszumachen. Für Münkler ist es selbstverständlich, dass Deutschland als »Macht in der Mitte des Kontinents« oder als »Zentralmacht Europas«16 1914 eine »besonders verantwortungsvolle Aufgabe« zukam, vor der es eben versagt habe.17 Die Erlangung einer außenpolitischen Dominanz war somit kein eigenständiges Ziel deutscher Politik. »Großmacht« soll vielmehr ein Status gewesen sein, in den der Staat aufgrund seiner Lage auf der Landkarte und seiner Potenzen irgendwie hinein gewachsen sei und der dann als solcher »Aufgaben« bereit gehalten habe, denen Politiker und Militärs sich einfach nicht entziehen konnten. Das Deutsche Reich habe wegen seiner Lage im Herzen Europas einfach »nicht die Möglichkeit (gehabt), sich aus Konflikten heraus-
12 13 14 15 16 17
Ebd., S. 82. Ebd., S. 219. Ebd., S. 217. Ebd., S. 793. Ebd., S. 768. Ebd., S. 24; vgl. auch S. 105.
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zuhalten und für neutral zu erklären, wie dies die Mächte an den europäischen Rändern tun konnten«.18 Münkler (und auch Clark) geht es ausdrücklich um die Absage an ein historisches Denken in moralischen Schuldkategorien und um die Hinwendung zu einem Denken entlang der Kategorie »Verantwortung«. Der Unterschied ist klar : Bei »Verantwortung« können Politiker allenfalls versagen; sie handeln dann in einer angeblich komplizierten Situation nicht so, wie sie eigentlich hätten handeln sollen oder müssen, waren also fahrlässig, irrgläubig oder einfach inkompetent. Bei »Schuld« wird hingegen davon ausgegangen, das sich kriegsbereite Politiker willentlich und bewusst über (internationales) Recht und sittliche Normen hinweg gesetzt haben und deshalb eine entsprechend anklagende und verurteilende Geschichtsschreibung ihrem Handeln angemessen ist. Solch Übergang von der Schuld- zu der Verantwortungsargumentation stößt heute in der deutschen Öffentlichkeit auf ein breites Interesse, davon zeugen die Bestsellerlisten. Im Kern geht es dabei nicht einfach um einen historischen Streit über einen 100 Jahre zurückliegenden Krieg; im Kern geht es vielmehr um die heutige Position Deutschlands in Europa. Seit die internationale Finanzkrise zu einer europäischen Schuldenkrise geworden ist, stellt sich die Frage nach dem Charakter der hegemonialen Stellung Deutschlands in Europa immer drängender – dass das Land eine solche Stellung inne hat, ist ja kaum zu bestreiten. Im Hintergrund der Diskussion um die Thesen von Clark und Münkler steht die Diskussion um den europäischen oder den deutschen Charakter der Berliner Europapolitik. Es geht darum, wie selbstbewusst, frei von historischen Schuldzuweisungen durch andere Staaten oder durch eigene Bürger das mächtige Deutschland heutzutage in Europa auftreten soll oder ob es sich zu Recht beständig an seine unheilvolle Rolle in der Geschichte der europäischen Staatenkonkurrenz erinnern lassen muss.19 Was, zumindest bei Clark, als quellengesättigte, auf intensiven Archivstudien beruhende wissenschaftliche Darstellung präsentiert wird, erhält seine besondere Brisanz somit gar nicht aus neuen Quellenfunden. Die Brisanz erwächst vielmehr aus einer Betrachtungsweise, die »unseren« damaligen Politikern zu Gute hält, dass sie in sogenannten »Krisensituationen« lauter schwierige Lagen bewältigen mussten – ähnlich wie »unsere« heutigen Politiker. Lagen, an deren Zustandekommen sie angeblich nie aktiv und mit eigenen Interessen mitgewirkt haben sollen, sondern die ihnen aufgemacht worden sein sollen und auf die sie reagieren mussten. Aus dem lässt sich eine bekannte geschichtsdidaktische 18 Ebd., S. 769. 19 Beispielsweise ist Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, anderer Auffassung, wenn er schreibt, dass »auch weiterhin von der schwierigen, durch Gewalt, Vernichtung und auch Schuld geprägten deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rede sein (müsse)« (Süddeutsche Zeitung, 16. 07. 2014).
Formen und Funktionen öffentlichen Erinnerns am Beispiel aktueller Rückblicke
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Konsequenz ziehen: Es sollte zur geschichtskulturellen Kompetenz gehören, auch und gerade wissenschaftliche Darstellungen auf ihre Zeit- und Standpunktgebundenheit zu hinterfragen.
5.
Politiker zum Ersten Weltkrieg
1984, zu einer Zeit in der im Zuge der Ost-West-Konfrontation viel um den NATO-Doppelbeschluss und die (angeblich) mit ihm verbundene Kriegsgefahr debattiert wurde, reichten sich Helmut Kohl und Francois Mitterand anlässlich des 70. Jahrestages des Beginn des Ersten Weltkriegs auf dem Friedhof von Douaumont bei Verdun symbolträchtig die Hände. Das auf demonstrative Versöhnung angelegte Treffen war von dem deutschen Kanzler angeregt worden. Mitterand, der zuvor Kohl zu der 60-Jahrfeier der Landung der Allierten in der Normandie während des Zweiten Weltkriegs nicht eingeladen hatte, stimmte zu. Der Händedruck war also politisch-diplomatisch eher eine Art Ersatz, auch wenn das Foto der beiden Politiker zu einer zeitgeschichtlichen Bildikone geworden ist. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg bewegte sich zu diesem Zeitpunkt – vor dem Fall der Mauer, der deutschen Wiedervereinigung, der Auflösung des Ostblocks, dem Vertrag von Maastricht etc. – noch auf der Ebene der Versöhnung der ehemaligen »Erbfeinde«. Wie ein paar Beispiel zeigen sollen, hat sich 30 Jahre später der Bezug deutscher Politiker auf den Ersten Weltkrieg grundsätzlich verändert.
5.1
Joschka Fischer
Mitte Februar 2014 meldete sich der Ex-Außenminister mit seiner Lehre aus dem Ersten Weltkrieg in der Süddeutschen Zeitung zu Wort.20 Er führte aus, dass die »Urkatastrophe Europas« bis in die Gegenwart »Bruchzonen« zurückgelassen habe. Dies zeige sich besonders in den vergangenen und gegenwärtigen Kriegen auf dem Balkan und im Nahen und Mittleren Osten. Noch größere Besorgnis müsse in historisch vergleichender Perspektive die politische Situation in Fernost (v. a. wegen der »aufstrebenden Weltmacht China« und den dort fehlenden »Konfliktlösungsmechanismen«) hervorrufen. Aber trotzdem gebe es »Anlass zu Optimismus«:
20 Joschka Fischer: Immer wieder Krieg.Hat die Welt aus der Katastrophe von 1914 gelernt? Trotz aller Konflikte und Rückschläge: Es gibt Grund zu vorsichtigem Optimismus, in: SZ, 10. 02. 2014.
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Gerhard Henke-Bockschatz
»Vor hundert Jahren lebten zwei Milliarden Menschen, heute gibt es mehr als sieben Milliarden, die weltweit vernetzt sind; das schafft gegenseitige Abhängigkeiten und zwingt zur Kooperation. Dann kann im Zeitalter der Nuklearwaffe der Krieg kein Instrument der Machtpolitik unter Großmächten mehr sein: Die Atombombe macht die gegenseitige Zerstörung gewiss. Und schließlich sind nach wie vor die USA ein Ordnungsfaktor, auf den die Welt nicht verzichten kann. Die Welt, das Denken und die Strukturen der internationalen Diplomatie haben sich in diesen hundert Jahren sehr verändert. Bei allen furchtbaren Konflikten: Die Gefahr eines Weltkrieges ist geringer geworden.«
Soll man wirklich darin, dass globalisierte Unternehmen überall auf der Welt präsent sind, dass sich die Weltmächte gegenseitig nuklear vernichten können und dass die USA als globale Supermacht auf alles und alle aufpasst (u. a. in einer Reihe von mittleren und kleinen Kriegen), friedensgarantierende Entwicklungen sehen? Bieten die gewachsenen wechselseitigen Abhängigkeiten nicht vielleicht genauso viele Anlässe zu Konflikten? Fischer erklärt in dem Zitat den heute erreichten Stand der ökonomischen und militärischen Konkurrenz der Staaten einfach zu einem Bollwerk gegen zukünftige Kriege zwischen den Großmächten. Dabei weiß er durchaus, dass an diesem Stand gerüttelt wird, nennt er doch selber China als aufstrebende Weltmacht des 21. Jahrhunderts. Aufmerksamen Beoabachtern der Weltpolitik dürfte es nicht schwerfallen, weitere aktuelle »Baustellen« des Verschiebens der Machtkonstellationen zu benennen, bei deren politischen Subjekten es sich nicht nur wie im Fall China um machtpolitische Newcomer handelt. Für Fischer scheint es selbstverständlich zu sein, dass die Zuständigkeit für Krieg und Frieden grundsätzlich bei den Regierungen und Politikern liegt und dass der Frieden am Besten bei den mächstigsten Staaten aufgehoben ist. Dass Menschen sich auch weigern könnten, für ihre Herrscher in den Krieg zu ziehen, kommt dem ehemaligen Sponti und Häuserkämpfer als Form der Kriegsverhinderung nicht (mehr) in den Sinn. Trotz aller strukturellen Unwahrscheinlichkeit von Kriegen kann nach seiner Auffassung jedoch immer etwas schief gehen: »Aber vergessen wir nicht: Im Sommer 1914 hielten die meisten Akteure die kommende Katastrophe nicht für möglich. Und sie geschah trotzdem.« Mit dem Satz wird die vorherige Argumentation auf einen Schlag entwertet. Die eben noch behauptete Sicherheit vor einem neuen großen Krieg scheint so sicher denn doch nicht zu sein. An die Leser ergeht damit die Botschaft, sich nicht in absoluter Sicherheit zu wiegen. Krieg hat zwar in der heutigen Welt eigentlich keinen Platz mehr, aber man kann ihn auch nicht vollständig ausschließen. So ergibt sich eine Mischung aus weitgehender Beruhigung und gleichzeitiger Einsicht in das Fehlen einer allerletzten Gewissheit, dass Kriege nicht mehr vorkommen werden – unvorhersehbare Betriebsunfälle kann es immer geben.
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5.2
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Walter Steinmeier
In einem Vortrag auf der Münchener Sicherheitskonferenz, gehalten am 17. 02. 2014, hat sich der amtierende deutsche Außenminister Walter Steinmeier (SPD) auf Christopher Clarks Buch »Die Schlafwandler« bezogen. Der habe »minutiös dokumentiert, wie in wenigen Wochen des Jahres 1914 aufgrund von Sprachlosigkeit, Entfremdung, persönlichem Geltungsdrang und nationaler Eiferei erst Europa und dann die Welt in der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts versank. Binnen weniger Wochen war die Lage nicht mehr beherrschbar, alle Verbindungen gekappt und der Tod fraß sich von Haus zu Haus.«21
Aktuell gehe es angesichts der Ukraine-Krise darum, »zu verhindern, dass friedliches Miteinander noch einmal umschlägt in grenzenlosen Hass.«22 Vielleicht aber war ja das europäische »Miteinander« um 1900 so friedlich denn doch nicht; vielleicht ist auch die Kennzeichnung des Vorkriegs-Miteinanders als »friedlich« nicht besonders aussagekräftig, weil sie dazu lediglich festhält, dass es keinen Krieg unter den europäischen Mächten gab. Der Außenminister zeichnet jedenfalls ein Bild der Lage im Jahr 1914, bei der das gute Miteinander von heute auf morgen grundlos in sein gehässiges Gegenteil umschlägt, woraufhin sich der Tod – auch dies eine Versubjektivierung – von Haus zu Haus frisst. Reale Gründe und reale Subjekte kommen in dieser Betrachtungsweise nicht vor. Die damalige Lage erscheint vielmehr als Ergebnis eines großen Versagens der Politiker : Ihnen verschlug es die Sprache, sie wussten einander nichts mehr zu sagen, waren eitel und geltungssüchtig. Es ist nicht schwer, in dieser psychologischen Schilderung das Gegenbild zu einem Politikertyp zu erkennen, an dem Steinmeier selber gemessen werden möchte: den Typ des professionellen, kompetenten und nüchternen Krisenmanagers, der nichts unversucht lässt, um die Lage zu entschärfen.
5.3
Martin Schulz
Martin Schulz (SPD und Ex-Präsident des Europäischen Parlaments) beobachtet am 16. März 2014 in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit großer Sorge, wie sich angesichts der Wirtschaftskrise »Renationalisierung« und »Europaskeptizismus« ausbreiten und wie »längst u¨ berwunden geglaubte Vorurteile u¨ ber andere Vo¨ lker oder gar Feindbilder« auf dem 21 http://www.auswaertiges-amt.de/nn_582140/sid_34AA109BFED82FC3745EF65DD666B545/DE /Infoservice/Presse/Reden/2014/140201-BM_MüSiKo.html?nnm=582150 (Stand 03. 07. 2015). 22 Ebd.
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Vormarsch sind.23 (….). Dann hebt er hervor, dass in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ein »Immunsystem gegen Krieg« eingerichtet worden sei: »Und das besteht eben nicht in Machtgleichgewichten, Bu¨ ndnissen, wirtschaftlichen Verflechtungen oder darin, den Feind zu erniedrigen und zu schwa¨ chen. Das Immunsystem – und das ist wirklich eine geniale Idee – besteht darin, dass wir uns gemeinsame Institutionen gegeben haben, in denen nach der Gemeinschaftsmethode verfahren wird. Die Gemeinschaftsmethode ist die Seele der Europa¨ ischen Union. Gemeinschaftsmethode heißt: Konflikte durch Dialog und Konsens lo¨ sen. An die Stelle des Rechts des Sta¨ rkeren Solidarita¨ t und Demokratie setzen.«24
Die EU – kein Bündnis? Immerhin bezeichnet sie sich selbst doch gerne als das mächstigste Wirtschaftsbündnis der Welt. Ohne machtpolitische Ambitionen gegen Dritte? Immerhin soll doch der Euro dem Dollar als Weltgeld Konkurrenz machen. Und was ist mit den europäischen bzw. europanahen Ländern wie Russland oder der Türkei, die die EU nicht in ihren Reihen haben möchte? Durch Abstraktion von den spezifischen politischen Zwecken und Bedingungen zu bzw. unter denen die europäischen »Institutionen« seit der Montanunion und der EWG eingerichtet und fortentwickelt wurden, wird hier das Idealbild einer europäischen Staatenfamilie vorgestellt, die sich aufgrund schlechter historischer Erfahrungen hauptsächlich und in erster Linie zu einer Sache entschlossen haben soll: in Zukunft alle Streitfragen friedlich-schiedlich gemeinsam zu lösen und dadurch weitere Kriege auf europäischen Boden zu verhindern. Und Deutschland, so Schulz, stehe nach »allem, was im Namen unserer Nation verbrochen wurde« in besonderer Verantwortung, »weil es selbst von einem Europa profitierte, das uns nach dem Zweiten Weltkrieg die Hand zur Verso¨ hnung reichte, es uns ermo¨ glichte, eine eigene Demokratie aufzubauen, unsere Wirtschaftskraft wiederzuerlangen und erhobenen Hauptes in die internationale Gemeinschaft zuru¨ ckzukehren. Heute findet sich Deutschland ungewollt in der Situation, wieder Schlu¨ sselmacht in Europa zu sein. Es muss uns deshalb bedenklich stimmen, wenn heute eine Mehrheit der Europa¨ er besorgt ist u¨ ber einen zu großen Einfluss Deutschlands in Europa. Thomas Manns Appell ist deshalb heute, ein Jahrhundert nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs, aktueller denn je: Wir wollen ein europa¨ isches Deutschland und nie mehr ein deutsches Europa.«25
»Europa« soll Deutschland die Hand gereicht haben nach dem Zweiten Weltkrieg? Gab es da nicht einen »eisernen Vorhang«, der Europa und die Welt teilte? War es nicht allenfalls ein Teil Europas der – unter der weltpolitischen Ägide der USA – Deutschland »die Hand gereicht hat«? So interpretiert man die (nicht erst nach 1989/90) angestrebte und erfolgreich erreichte Dominanz Deutschlands in 23 In: FAS, 16. März 2014. 24 Ebd. 25 Ebd.
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einem nach und nach erweiterten »Europa« als eine Art historisch-moralische Verpflichtung gegenüber einem politischen Subjekt, das es (zumindest ideell) je schon gegeben haben soll. »Wir« sollen einem »Europa« den Einsatz »unserer« Macht schuldig sein, das es als politisch-institutionelles Gebilde überhaupt nur gibt, weil »unsere« ökonomische und politische Macht inzwischen sehr gewachsen ist und sehr weit reicht. Die Redeweise von dem »europäischen Deutschland« als einem Staat, bei dem nationale und europäische Interessen zusammenfallen (sollen), geht darüber hinweg, welchen Inhalt denn das »Europa« hat, dem sich Deutschland akkommodieren soll. Denn wenn dieser Inhalt aus allgemeinen Prinzipien, Gesetzen und Normen besteht, die mit Blick auf den deutschen Wirtschaftserfolg in der EU und darüber hinaus gewonnen wurden bzw. werden, so ist eben auch dieses »Europa« im Kern »deutsch«. Dann meint das »europäische Deutschland« eher einen mächtigen Staat, der aus zwei verlorenen Weltkriegen die Lehre gezogen hat, seine Ambitionen den europäischen Nachbarn nicht mehr mit Gewalt aufzuzwingen, sondern sie als Angebot zum Mitmachen zu präsentieren. Das aber ist eine grundsätzlich andere Lehre als ein inhaltsleeres »Wir beschließen nur noch gemeinsam«.
5.4
Bundespräsident Gauck
Auf der Gedenkveranstaltung »1914–2014. Hundert europäische Jahre« stellte Bundespräsident Gauck am 27. 06. 2014 einen direkten Vergleich zwischen der Situation in der Ukraine und der außenpolitischen Lage im Jahr 1914 an: »Der Widerstand Russlands gegen eine Annäherung der Ukraine an die Europäische Union hat uns mit Denk- und Verhaltensmustern konfrontiert, die wir auf unserem Kontinent für längst überwunden hielten. Was wir heute erleben, ist altes Denken in Macht- und Einflusssphären – bis hin zur Destabilisierung fremder Staaten und zur Annexion fremder Territorien. Fallen wir etwa zurück in eine Politik von Konfrontation und Gewalt?«
Etwas verwunderlich ist es ja schon, Russland wegen der Annexion der Krim und des russischen Vorgehens in der Ukraine den Vorwurf zu machen, es folge einem »Denken in Macht- und Einflusssphären« und das sei in Europa nun mal veraltet. Denken andere Staaten in der Gegenwart etwa nicht mehr in solchen »Mustern«? Gegen so manchen Augenschein behauptet Gauck einfach, dass für sein »Europa« »Macht- und Einflusssphären« keine Rolle mehr spielen. Wie Martin Schulz setzt er ein machtpolitisch durch und durch geläutertes »Europa« voraus, das der Idee abgeschworen haben soll, bestimmte Regionen als seine Einflusszonen zu betrachten und das damit im Prinzip das weit hinter sich gelassen hat, was einstmals die europäischen Staaten zu Kriegen veranlasst
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haben soll. Zu denken gibt aber, dass das »Europa«, von dem Gauck spricht, geographisch viel ausgreifender gedacht als es bisher politisch institutionalisiert ist: Es soll mit dem ganzen Kontinent identisch sein, also auch Staaten umfassen, die »Europa« schon seit einiger Zeit für sich und seinen inneren Proporz als zu groß und zu machtvoll befunden hat (z. B. Russland, aber auch die Türkei). Für Gauck ist Europa also schon erheblich weiter vereinheitlicht, als es faktisch der Fall ist und als es von nicht wenigen Staaten und Menschen in Europa gewünscht wird. Gauck ist ferner der Ansicht, dass es den »Rückzugsraum Nationalstaat, von dem manche träumen«, heutzutage nicht mehr gibt. Allerdings will er die souveränen europäischen Staaten nicht abschaffen, will sie nicht in einem europäischen Supra-Staat aufgehen lassen. Zu den Lehren von 1914 zähle, dass Europa nur noch gemeinsam denkbar sei, vor allem deshalb, weil die Länder alleine auf der weltpolitischen Bühne nicht erfolgreich sein könnten. Nur : Warum soll man die Lehren aus dem Ersten Weltkrieg eigentlich auf Europa begrenzen? Warum wird aus ihm nicht der Schluss gezogen, dass die ganze Welt »nur noch gemeinsam denkbar sei«? Daran kann man ablesen, dass es Gauck als deutschen Staatsoberhaupt um ein Europa geht, dass sich als weltpolitischer Akteur in Konkurrenz zu anderen Mächetn zur Geltung bringen kann. Ist das aber etwa kein »altes Denken in Macht- und Einflusssphären«? Es ist ein offensichtlicherWiderspruch, zunächst darauf zu verweisen, dass ein geeintes Europa notwendig sei, damit Frieden auf dem Kontinent herrsche, dann aber zu betonen, dass das vereinte Europa gebraucht werde, weil die einzelnen europäischen Staaten für sich nicht in der Lage seien, in der multipolaren Welt als Macht zu bestehen und Einfluss zu nehmen.
6.
Schluss
In den drei dargestellten Abteilungen des öffentlichen Erinnerns dominiert im Prinzip eine Perspektive auf den Ersten Weltkrieg, wonach er eigentlich nur wenig mit jener weltweiten Konkurrenz von Staaten und Allianzen um Einflussund Interessensphären zu tun hatte, wie sie damals alltäglich war und auch heute unter anderen Bedingungen und Konstellationen noch alltäglich ist. Die Rückblicke legen direkt oder indirekt Scheuklappen an, die allgemeinere strukturelle Gründe von Kriegen in der Vergangenheit und in der Gegenwart weitgehend ausblenden oder negieren. Dabei ist durchaus bekannt, dass größere Kriege auch heute noch vorkommen können, zum Beispiel wegen des fernöstlichen kapitalistischen Newcomers China, der adäquate Berücksichtigung in einer Weltpolitik fordert, in der bisher der freie Westen unter Führung der USA dominiert,
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oder weil die Atomsupermacht Russland ihre Zurückstufung auf den Status einer »Regionalmacht« nicht hinnehmen will. Mit Blick auf die Bedeutung des Ersten Weltkrieg für die Gegenwart wird einerseits beruhigend auf Mechanismen des internationalen Krisenmanagements verwiesen, die neuerliche größere Kriege unwahrscheinlich machen sollen. Andererseits wird aber auch hervorgehoben, dass man sich auf solche Mechanismen nicht hundertprozentig verlassen kann, dass immer etwas »schief« laufen kann, obwohl das eigentlich niemand will. Eines steht aber fest: Von unserem Staat und seinen Verbündeten geht sicherlich keine Kriegsgefahr aus, wir sind zweifelsfrei die Guten. Aufgrund unserer Geschichte sind wir nicht nur gebrannte Kinder, sondern wir sind wegen dieser Geschichte und den damit verbundenen Erfahrungen geradezu verpflichtet und moralisch prädestiniert, in Europa und in der Welt mit darauf aufzupassen, dass sich innere und äußere Konflikte der Staaten nicht zu Kriegen auswachsen. »Wir« sind primär bestrebt, andere davon abzuhalten, »reine Machtpolitik« zu betreiben, wofür man gegebenenfalls auch frühzeitig und energisch einschreiten muss. Die Subjekte der Erinnerungs- und Geschichtskultur bzw. -politik interessiert am Ersten Weltkrieg also in erster Linie, sich selbst als berufene und kompetente Hüter und Verwahrer der angeblich aus ihm zu ziehenden Lehren für die Menschheit in Szene zu setzen. Auf einen Grund des Weltkriegs will sich dabei niemand festlegen. Wenn überhaupt von einem Grund des Weltkriegs gesprochen wird, dann in dem Sinn, dass Politiker versagt hätten: Sie sollen nicht fähig gewesen sein, die gefährliche Situation zu beherrschen. Der breiten Masse der Bevölkerung wird in den Medien der Krieg als ein Schreckenspanoptikum präsentiert – ein über die Menschheit hereinbrechendes Unglück, von dem die Bevölkerung vielfältig betroffen war und mit dem sie irgendwie fertig werden musste. Politiker inszenieren sich anlässlich des Erinnerns an den Ersten Weltkrieg als diejenigen, die mit der Politik, die sie gerade betreiben, haargenau die Lehren verfolgen, die anstehen, damit sich ein solcher Krieg nicht wiederholt. Ihre aktuellen Widersacher bezichtigen sie hingegen, nichts aus dem Krieg gelernt zu haben und das »alte Denken« fortzusetzen. Geschichtswissenschaftler schließlich nehmen das Jubiläum zum Anlass, quellengestützt und orientiert an neuesten Methoden und Paradigmen alte Narrative ihrer Zunft ganz oder teilweise aus dem Verkehr zu ziehen und durch solche zu ersetzen, die mit aktuellen außenpolitischen Konfliktlinien und dem entsprechenden politischen Selbstbewusstsein kompatibler sein sollen. Als Wissenschaftler erteilen sie der Frage nach dem Grund oder den Gründen des Krieges eine Absage, indem sie dahinter das verkappte moralische Verlangen nach der Identifizierung von Schuldigen kritisieren. Für angemessener halten sie es, der damaligen Lage einen hohen Grad an »Komplexität« und »Instabilität« zu at-
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Gerhard Henke-Bockschatz
testieren, denen die »Verantwortlichen«, die mehr oder weniger fähigen Politiker, leider aus verschiedenen Gründen nicht gewachsen waren. So wird die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg 100 Jahre nach seinem Beginn auf eine Art kultiviert, die der gängigen geschichtsdidaktischen Propagierung eines kritischen Geschichtsbewusstsein den gesellschaftlichen Resonanzboden entzieht. Es ist offensichtlich, dass die zelebrierte und medial inszenierte Erinnerung allenfalls bedingt auf eine konsistente Begründung und Erklärung ausgerichtet ist. Diese Form der Erinnerung lebt davon und bezieht ihren Reiz daraus, einerseits heutige (außenpolitische) Kontrahenten eines Verhaltens zu bezichtigen, das damals zum Krieg geführt haben soll, und andererseits sich selber als jemanden darzustellen, der für die richtigen Konsequenzen aus der »Katastrophe« steht, um solch massenhaftes Abschlachten in Zukunft nicht mehr vorkommen zu lassen. Schülerinnen und Schülern als zukünftigen Bürgerinnen und Bürgern solche Art erinnerungspolitischer Feindbildpflege und Selbstbeweihräucherung durchschaubar zu machen bzw. ihnen die Kompetenzen hierzu zu vermitteln, ist zweifellos ein didaktisch gut begründbares Anliegen, für das der alte Begriff der »Ideologiekritik« nicht unpassend erscheint.
Marc Ullrich
Transkulturelle Mehrebenenanalyse – Implikationen für Theorie und Praxis des Geschichtsunterrichts in der pluriformen Gesellschaft
1.
Geschichtsdidaktik in der pluriformen Gesellschaft
Transkulturalität, Transnationalität, Diversity, Intersektionalität, third space, Hybridität, Kreolisierung, Metissage, Bricolage, cross-cutting identities, traveling culture, cross-culture, worlding at home, postmodern hyperspace, glocalization, Zwischenwelten, global neighborhood, global citizenship etc. Es lässt sich festhalten, dass die Sozial- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren nicht gerade untätig geblieben sind, wenn es darum ging Entwicklungen der Postmoderne in Begrifflichkeiten und Konzepte zu (ver-)packen.1 All diesen Begrifflichkeiten und Konzepten gemein ist indes, dass sie die Vielfältigkeit »pluriformer Gesellschaften«2 beschreiben wollen und versuchen, ältere, letztlich starre und zumeist dichotome Identitätskategorien zu dynamisieren und pluralisieren. Wenn die Geschichtsdidaktik für sich den Anspruch erhebt, »neue gesellschaftliche Situationen«3 bzw. die aktuellen gesellschaftlichen Bedürfnisse nach historischem Wissen zu reflektieren und daraufhin Lern- und Vermittlungsprozesse zu initiieren4, dann muss sie auch zwingend an oben genannten Diskursen partizipieren oder sich zumindest in diesem Geflecht positionieren. Denn der Bezug auf »die Gesellschaft« in der mittlerweile kanonischen Defini1 Vgl. Andreas Ackermann: Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfer. In: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart 2004, S. 139. 2 Der Begriff ist den Bezeichnungen multi- oder plurikulturell insofern vorzuziehen, da diese einerseits in ihrer Bestimmung zumeist ein geschlossenes Kulturverständnis imaginieren sowie andererseits den Kulturbegriff als allumfassende Erklärungsvariable nutzen und andere Subjekt- und Gesellschaftspositionen ausblenden. 3 Vgl. Dietmar v. Reeken: Interkulturelles Geschichtslernen. In: Hilke Günther-Arndt/Maik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2014, S. 238–246, hier S. 241. 4 Vgl. Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft. In: Günther-Arndt/Zülsdorf-Kersting (Anm. 3), S. 11–23, hier S. 13.
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Marc Ullrich
tion von Geschichtsdidaktik Karl-Ernst Jeismanns regt nicht nur eine Ausweitung des Gegenstandsbereichs von Geschichtsdidaktik über den Geschichtsunterricht hinaus an, sondern verpflichtet die Geschichtsdidaktik auch dazu, an aktuellen gesellschaftlichen Überlegungen teilzuhaben, diese in ihre Theorien miteinzubeziehen und den Begründungszusammenhang von aktueller geschichtsdidaktischer Forschung darzulegen.5 Die oben beschriebenen Entwicklungen rücken gleichzeitig die Frage nach dem disziplinären Selbstverständnis der Geschichtsdidaktik in den Fokus. Die Frage, ob sich die Geschichtsdidaktik angesichts der Entwicklungen der Postmoderne selbst als Kultur-6 oder Sozialwissenschaft7 versteht; ergo ob Bedeutungszuweisungen und kulturelle Praxen im Zentrum des didaktischen Interesses stehen, oder, wie in der kritisch-kommunikativen Geschichtsdidaktik Annette Kuhns8, gesellschaftstheoretische Überlegungen Ausgang und Primat des historischen Lernens bilden.9 Nicht zuletzt mit der Etablierung der Kategorie Geschichtskultur10 scheint sich die Geschichtsdidaktik in ihrem Selbstverständnis aktuell kulturwissenschaftlich zu verorten11 (auch wenn vereinzelt wieder Bewegung in die Debatte zu kommen scheint12). Eine kulturwissenschaftlich orientierte Geschichtsdidaktik, so Hans-Jürgen Pandel, konzentriert sich zunächst auf »die wachsende Sensibilität gegenüber den subjektiven Aspekten von Kultur, der Produktion von 5 Vgl. Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Kosthorst, Erich (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 9–33, hier S. 12. 6 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, Schwalbach/ Ts. 2013. 7 Vgl. Klaus Bergmann: Geschichtsdidaktik als Sozialwissenschaft. In: Ders.: Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens. Schwalbach/Ts. 1998, S. 33–52. 8 Vgl. Annette Kuhn: Einführung in die Didaktik der Geschichte, München 1974. 9 Vgl. Pandel (Anm. 6), S. 34–38. 10 Vgl. u. a. Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken. In: Klaus Füßmann/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln u. a. 1994, S. 3–26; Bernd Mütter/Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann (Hrsg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik. Weinheim 2000. 11 Vgl. zuletzt Thomas Sandkühler : Geschichtsdidaktik als gesellschaftliche Repräsentation. Diskurse der Disziplin im zeitgeschichtlichen Kontext um 1970. In: Michael Sauer/Charlotte Bühl-Gramer/Anke John/Marko Demantowsky/Alfons Kenkmann (Hrsg.): Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz. Göttingen 2014, S. 313–332, hier S. 315–319. 12 Vgl. Kommentar von Bärbel Völkel. In: Heuer, Christian: Sound des Mainstreams. Geschichtsdidaktik am Scheideweg. In: Public History Weekly 1 (2013) 7, http://public-historyweekly.oldenbourg-verlag.de/1-2013-7/sound-mainstreams-geschichtsdidaktik-am-schei deweg/. Auch eine Sektion auf der Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik 2015 beschäftigt sich intensiver mit den Bezugsdisziplinen der Geschichtsdidaktik.
Transkulturelle Mehrebenenanalyse – Implikationen für Theorie und Praxis
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Bedeutung und der (Selbst-)Bildung von Identität«.13 Sie ist demnach nicht als Surrogat von Kulturgeschichte misszuverstehen, sondern hebt vor allem Aspekte von Deutungs- und Rezeptionsprozessen in Form historischer Sinnbildungen hervor.14 Ziel einer kulturwissenschaftlich verorteten Geschichtsdidaktik, hier dann im Sinne einer Fachdidaktik Geschichte, sollte es demnach zunächst sein, sich auf die je individuellen Sinnverhandlungen der historisch Lernenden zu konzentrieren, d. h. den Blick auf Prozesse zu richten, in denen kulturellen Kontingenzerfahrungen durch historische Sinnbildung – sprich durch historisches Denken – begegnet wird.15 Mit Blick auf die Strukturen der pluriformen Einwanderungsgesellschaft, vor deren Folie gegenwärtig geschichtsdidaktische Arbeit betrieben wird, ergeben sich mindestens folgende Punkte, die es zu berücksichtigen gilt: Zunächst muss die Geschichtsdidaktik die vielfältigen (sozio-)kulturellen Skripte der historisch Lernenden beachten und diese zugleich auch in ihren Lehr- und Lernkonzepten ansprechen. Weiterhin gilt es, Kultur als individuellen und »eigen-sinnigen«16 Verhandlungsprozess zu begreifen, der in einer von Machtbeziehungen durchzogenen Arena stattfand, stattfindet und stattfinden wird, sowie die Entwicklung und Wandelbarkeit von kulturellen Artikulationsformen deutlich zu machen. Um diese Vorstellungen implementieren zu können, sollte die Geschichtsdidaktik aktuell vor allem stärker an transkulturellen Theoriediskussionen partizipieren. Transkulturalität hat in der Geschichtsdidaktik bisher (zu) wenig Berücksichtigung gefunden17, kann aber – so die These des Beitrages – neue Impulse in Hinblick auf historisches Lernen in der pluriformen Einwanderungsgesellschaft bringen. Innovationspotenzial zeichnet sich dabei besonders im Hinblick auf drei Ebenen ab: erstens in der Möglichkeit die Geschichtsdidaktik (und mithin Diskussionen über Geschichtsbewusstsein) mit einer aktuellen Kulturtheorie zu fundieren, was bisher auch in Theorien und Diskussionen zu Geschichtskultur nicht geschehen ist; zweitens eine bessere Anpassung geschichtsdidaktischer Forschung an die Komplexität und die Pluriformität von
13 Pandel (Anm. 6), S. 35. 14 Vgl. Eugen Kotte: Geschichtsdidaktik als historische Kulturwissenschaft. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 62 (2011), S. 584–592, hier S. 591. 15 Vgl. Andreas Körber : Theoretische Dimensionen des Interkulturellen Geschichtslernens. In: Marcus Ventzke/Sylvia Mebus/Waltraud Schreiber (Hrsg.): Geschichte denken statt pauken in der Sekundarstufe II. Radebeul 2010, S. 25–48. 16 Zum Begriff des Eigen-Sinns vgl. Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn, Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Münster 1994. 17 Bisher existiert dazu lediglich ein eher praxisorientierter Sammelband, in dem jedoch weder eine konkrete Definition des (theoretischen) Gegenstandes noch eine dezidierte Abgrenzung zum interkulturellen Lernen stattfindet. Vgl. Georg Wagner-Kyora (Hrsg.): Transkulturelle Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2005.
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Marc Ullrich
Gesellschaft(en) zu leisten; drittens eine Alternative zu den teilweise problematischen Implikationen interkulturellen Lernens zu ermöglichen.18
2.
Was ist Transkulturalität?
Doch was bedeutet Transkulturalität? Stephanie Schütze und Martha ZapataGalindo geben folgende globale Definition: »Das Präfix trans im Begriff der Transkulturalität bedeutet hier nicht nur ›über‹, ›durch‹, ›jenseits‹ oder ›darüber hinaus‹. Es impliziert zugleich, dass kulturelle Dynamiken normative Grenzziehungen (…) sprengen, und betont das Moment der ständigen Bewegung und Veränderung.«19
Deutlich wird hier bereits, dass die »Trans-Perspektive« als dynamisches Moment zu verstehen ist, welches die Transzendierung konstruierter Binaritäten und Dichotomien beinhaltet. Theorien von Transkulturalität, von denen hier im Folgenden die Rede sein soll, folgen im weitesten Sinne einem bedeutungsorientierten Kulturbegriff. Kultur wird dabei zunächst als ein Bündel symbolischer Ordnungen verstanden und »als symbolischer Code, als ein System von Unterscheidungen oder als ein Sinnhorizont, in dem eine spezifische Form der kognitiven Organisation der Wirklichkeit vollzogen wird« beschrieben.20 Andreas Reckwitz präzisiert weiter : »Dieses Modell geht von der Möglichkeit der Parallelexistenz unterschiedlicher kultureller Codes in den lebensweltlichen Wissensvorräten der gleichen Akteure aus«21. Der Kern eines bedeutungsorientierten Kulturbegriffes liegt wiederum in der Vorstellung, dass »Kultur vom Gemeinschaftsbegriff gelöst wird«.22 Das heißt: Kultur wird nicht mehr einzig von normierenden Großkollektiven gezeichnet, sondern – in der Betonung von den individuellen Bedeutungskonstruktionen und den sich daraus ergebenden kulturellen Performanzen – als prinzipiell offen apostrophiert. Bezogen auf die Heterogenität oder Pluriformität zeitgenössischer Gesellschaften spricht Reckwitz indes von einer multikulturellen Konstellation bzw. von Konstellationen 18 Vgl. Marc Ullrich/Martin Lücke: Transkultureller Geschichtsunterricht. Neues Leitbild für die Konzeption historischer Lehr- und Lernprozesse? In: Psychosozial 136 (2014): Vielfalt, Identität Erzählung. Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur in der Wanderungsgesellschaft, S. 11–22. 19 Stephanie Schütze/Martha Zapata Galindo: Einleitung – Transkulturalität und Geschlechterverhältnisse. In: Dies. (Hrsg.): Transkulturalität und Geschlechterverhältnisse. Neue Perspektiven auf kulturelle Dynamiken in den Amerikas. Berlin 2007, S. 7–19, hier S. 7. 20 Andreas Reckwitz: Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff: Vom Homogenitätsmodell zum Modell kultureller Interferenzen. In: Berliner Journal für Soziologie Jg. 11, (2001), H. 2, S. 179–200, hier S. 186. 21 Ebd. 22 Ebd.
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kultureller Interferenz und beschreibt damit das, was unter der Trans-Perspektive zentral ist: Prozesse von Überlappung, Überschneidung und Kreuzung. »Multikulturell ist nun eine Konstellation, in der Akteure gleichzeitig an mehreren unterschiedlichen Wissensordnungen teilnehmen, die sie zu unterschiedlichen Interpretationen ihrer Lebensfu¨ hrung anleiten. In einer multikulturellen Konstellation bilden Wissensordnungen kulturelle Interferenzen und konfrontieren die Akteure mit einer Situation kultureller Hybridität, in der in den sozialen Kollektiven verschiedene kulturelle Hintergrundsprachen gleichzeitig wirksam sind.«23
Problematisch an Reckwitz’ Ausführungen ist allerdings die Verwendung der Begrifflichkeit »multikulturelle Konstellation«. Einerseits, weil klassische – auf Homogenität und kultureller Eigenständigkeit basierende – Multikulturalitätskonzepte sich noch immer als sehr wirkmächtig erweisen.24 Andererseits, weil in dieser Bewertung, anders als beim Transbegriff, das »jenseits« holistischer Kulturvorstellungen nicht genügend herausgestellt wird, weshalb auch im Folgenden weiterhin am Trans-Begriff festgehalten werden soll. Aus dem bisher Geschriebenen ergeben sich mindestens drei wichtige Aspekte: erstens, ein handelndes Subjekt kann sich mehreren kulturellen Codes anschließen und diesen selbst und eigen-sinnig Bedeutung beimessen bzw. deutende Erklärungen finden fu¨ r eine Teilnahme an verschiedenen kulturellen Praxen; zweitens sind diese Bedeutungskonstruktionen nicht zwangsläufig von einem einzigen Kollektiv abhängig (etwa der Nation oder der Ethnie); und drittens müssen kulturelle Deutungen bzw. kulturelle Sinnproduktionen nun als veränderlich und wandelbar angesehen werden, womit der Blick auf die Historizität selbiger in den Fokus rückt. Transkulturalität selbst rekurriert begriffsgeschichtlich gesehen zumeist auf zwei Bezugsquellen. Am bekanntesten dürften die Ausführungen Wolfgang Welschs sein.25 Transkulturalität nach Welsch zielt primär auf eine deskriptive Begriffsverwendung ab, die über klassische, holistische Kulturvorstellungen hinausgehen und stattdessen kulturelle Verflechtungen in den Blick nehmen soll. Ziel ist es, die Blickverengung aufzulösen, die ein Denken in statischen Kulturauffassungen impliziert – ähnlich wie dies auch in neueren Vorstellungen
23 Ebd., S. 188. 24 Vgl. Rudolf Leiprecht: Pluralismus unausweichlich? Zur Verbindung von Interkulturalität und Rassismuskritik in der Jugendarbeit. In: Wiebke Scharathow/Rudolf Leiprecht (Hrsg.): Rassismuskritik. Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit. Schwalbach/Ts., S. 244–265, hier S. 247f. 25 Vgl. u. a. Wolfgang Welsch: Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Lucyna Darowska/ Thomas Lüttenberg/Claudia Machold (Hrsg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld 2010, S. 39–66.
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zum interkulturellen Lernen gefordert wird.26 Auf gesellschaftlicher Makroebene rücken, so Welsch, statt trennender Kulturmerkmale sowohl Verflechtungen als auch Brüche und Übergänge ins Zentrum der Betrachtung.27 Auf individueller Mikroebene widerspricht Transkulturalität der Auffassung von in sich geschlossenen und separaten Nationalkulturen und beschreibt eine Situation, in der ein Individuum durch die Wahrnehmung einer Vielzahl von Identifikationsangeboten unterschiedlicher Kulturen traditionell erdachte Kulturgrenzen durchbricht und eine neue transkulturelle Identität ausbildet.28 Weniger bekannt hingegen sind ältere Überlegungen des Kubaners Fernando Ortiz, der bereits 1940 mit dem Begriff transculturaciûn einen Prozess der »transmutation of culture«, bestehend aus der Trias Akkulturation, Dekulturation und Neokulturation, beschreibt.29 Dabei fokussiert Ortiz die in Bezug auf die kubanische Geschichte größtenteils gewaltvolle Konfrontation mit bisher unbekannten Kulturelementen im Zuge der kolonialen Besiedlung des Landes durch die Europäer sowie der massenhaften Einfuhr von afrikanischen Sklaven. Transculturaciûn nach Ortiz fasst zunächst einen dynamischen Prozess des Überganges (Akkulturation), geprägt durch eine Situation partieller kultureller Entwurzelung (Dekulturation), der schließlich – in der Kombination von bewahrten eigenen und hinzugefügten fremden Kulturelementen – in der Manifestation einer gänzlich neuen Identität (Neokulturation) kulminiert.30 Damit leitet Ortiz im Grunde genommen – um ein anderes Schlagwort gegenwärtiger kulturwissenschaftlicher Debatten zu bemühen – die »hybride Identität«31 des (post-)kolonialen Kubas her. Auffällig ist, dass Ortiz in seinem Werk nicht nur die transkulturelle Dynamik innerhalb der kubanischen Gesellschaft abbildet, sondern auch auf die dem Kulturkontakt innewohnenden Machtverhältnisse hinweist, indem er den Gewaltcharakter transkultureller Prozesse betont.32 Beiden Begriffsdefinitionen gemein ist, dass sie Transkulturalität eher deskriptiv verwenden, zum einen in der Darstellung von dynamischen Verflechtungsprozessen (Ortiz), zum anderen in der Betrachtung eines Zustandes bereits vollzogener kultureller Verflechtung (Welsch). Ziel des Beitrages ist es indes, den Blick auf transkulturelle Theoriebildung zu richten und mit einem stärker normativ geprägten Zugang eine weiteren Aspekt von Transkulturalität in den 26 Vgl. Ingrid Gogolin/Marianne Krüger-Potratz: Einführung in die interkulturelle Pädagogik. Stuttgart 2012. 27 Welsch (Anm. 25), S. 45ff. 28 Ebd., S. 48ff. 29 Fernando Ortiz: Cuban Counterpoint: Tobacco and Sugar. Durham: Duke University Press 1995, S. 98. 30 Vgl. ebd., S. 97ff. 31 Zum Begriff Hybridität: Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000. 32 Vgl. Ortiz (Anm. 29), S. 98.
Transkulturelle Mehrebenenanalyse – Implikationen für Theorie und Praxis
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Blick zu nehmen, der vor allem in der Reflexion und Kritik von Machtverhältnissen besteht.
3.
Transkulturalität als normative Praxis
Gängige Theorien von Transkulturalität sind in letzter Zeit vielfach (und zu recht) kritisiert worden.33 Hauptkritikpunkte sind in erster Linie das Ignorieren von wirkmächtigen soziokulturellen Differenzkategorien zu Gunsten einer nicht genauer definierten kulturellen Erklärungsvariable, die Beibehaltung zumeist ethnisierter und geschlossener Vorstellung von Kulturen sowie – zumindest bei Welsch – die Ausblendung des Faktors Macht und etwaiger negativer Dynamiken bei der Betrachtung transkultureller Verflechtungen.34 Mit Blick auf eine kulturtheoretische Fundierung der Geschichtsdidaktik und dabei insbesondere auf Diskussionen um die Konstruktion eines individuellen Geschichtsbewusstseins scheint insofern eine Modifikation und Öffnung von Transkulturalität in Richtung der sozialwissenschaftlichen Analysekategorien der Intersektionalitäts- und Diversitätsforschung zielführend.35 Diversity-Kategorien können uns zunächst erlauben Kultur, hier verstanden als vielfältig bestimmbarer Containerbegriff, eine Füllung zu verleihen bzw. notwendige »Indikatoren für ›Kultur‹« bereitzustellen.36 Ein erweiterter Transkulturalitätsbegriff ermöglicht es so gesehen, der Komplexität von Kultur im Innenverhältnis gerechter zu werden (hier wirkt Diversity) sowie zugleich auf die äußerlichen Machtverhältnisse bei der Konstruktion von Kultur zu verweisen (hier wirkt Intersektionalität). Transkulturalität beschreibt dann nicht nur einen Prozess des kulturellen Überganges (Ortiz) oder einen Zustand, der durch klassische Kulturvorstellungen hindurch geht (Welsch), sondern reflektiert bei der Be33 Zur ausführlicheren Kritik Ullrich/Lücke (Anm. 18); Paul Mecheril/Louis Henri Seukwa: Transkulturalität als Bildungsziel? Skeptische Bemerkungen. In: ZEP : Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 29. Jg. (2006), Heft 4, S. 8–13. 34 Exemplarisch für negative Dynamiken transkultureller Verflechtung: Paul Gilroy : The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness. Cambridge 1992. 35 Vgl. u. a. Katharina Walgenbach: Heterogenität, Intersektionalität, Diversity in der Erziehungswissenschaft. Budrich 2014; Helma Lutz/Maria Teresa Herrera Vivar/Linda Supik (Hrsg.): Fokus Intersektionalität – Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Wiesbaden 2010; Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hrsg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II. Münster 2003. Für die Geschichtsdidaktik: Martin Lücke: Diversität und Intersektionalität als Konzepte der Geschichtsdidaktik. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 136–146. 36 Thomas Höhne: Kultur als Differenzierungskategorie. In: Helma Lutz/Norbert Wenning Norbert [Hrsg.]: Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen 2001, S. 197–214, hier S. 211.
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trachtung diverser Aspekte der Identitätsbildung und der eigenen kulturellen Selbstverortung die prozesshafte Verflechtung vielfältiger soziokultureller Kategorien (›Rasse‹37, Ethnie, Klasse, Geschlecht, Sexualität, Körper, Alter, Religion, politischer und rechtlicher Status). Die Verflechtung dieser Diversitätskategorien ergibt dann wiederum eine individuelle transkulturelle Identität, die in ihrer Einzigartigkeit jedoch nicht in einer bloßen Addition von Einzelkategorien zu abstrahieren38 oder in statischen und holistischen (Groß-)Konzepten zu finden ist – vielmehr ist sie jenseits vereinfachender (kultureller) Zuschreibungen zu denken. Aufgrund dessen gilt es Diversity-Kategorien nicht nur als »soziale Platzanweiser« zu verstehen, sondern auch ihren Einfluss auf die Ausbildung der je individuellen (kulturellen) Identität sowie die Konstruktion von Eigen-FremdRelationen zu beleuchten.39 Eigen-Fremd-Relationen beschreiben dabei den Umstand, dass aus der individuellen und kollektiven Wahrnehmung kultureller Kontigenzerfahrung die Explikation von Eigenem und Fremden anhand unterschiedlicher (kultureller) Merkmale wird. Der Erziehungswissenschaftler Thomas Höhne bemerkt dazu: »Erst mit Bezug auf die ›Nation- Form‹ (…) in Verbindung mit der Konstruktion weiterer Kollektivsubjekte (›Klasse‹, ›Geschlecht‹, ›Rasse‹) kann die Festschreibung des ›Eigenen‹ und des ›Fremden‹ als Grunddifferenz des Kulturdiskurses verständlich gemacht werden.«40
Kultur selbst stellt unter dieser Perspektive zwar weiterhin eine diskursive Differenzkategorie dar und muss als solche auch anerkannt werden – schließlich werden auch heute noch (individuelle und kollektive) Eigen-Fremd-Relationen über territorialisierte und substantialisierte Kulturvorstellungen entworfen, wobei das Eigene zur hegemonialen Norm und das Fremde als deviant erklärt wird. Und es mussten und müssen noch immer Menschen reale Erfahrungen der Ausgrenzung entlang von ihnen zugeschriebenen kulturellen (Wesens-)Merkmalen erdulden (angesprochen seien hier nur die Debatten um einen »Kampf der Kulturen« oder eine sogenannte »deutsche Leitkultur«). Da diese Unterscheidungen jedoch in der Regel mit einem holistischen Kulturverständnis 37 Das Wort ›Rasse‹ wird hier in Anführungsstriche gesetzt, um darauf zu verweisen, dass keine tatsächlichen ›Rassen‹, sondern lediglich ›Rasse‹-theorien bzw. ›Rasse‹-konstruktionen existieren, an denen Setzungen von ›eigen‹ und ›fremd‹ vorgenommen werden. 38 Zur Kritik der Addition von Einzelkategorien vgl. Katharina Walgenbach: Intersektionalität – eine Einführung. 2012 URL: http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/schlues seltexte/walgenbach-einfuehrung/ [letzter Zugriff: 07. 01. 2015]. 39 Vgl. Rudolf Leiprecht/Helma Lutz: Intersektionalität im Klassenzimmer. Ethnizität, Klasse, Geschlecht. In: Rudolf Leiprecht/Anne Kerber (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Ein Handbuch. Schwalbach/Ts. 2005, S. 218–234, hier S. 220f. 40 Höhne (Anm. 36), S. 199.
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verbunden sind bzw. zumeist in die Hierarchisierungen von Kultur(en) münden (ähnlich zu Prozessen der racialisation41), möchte Transkulturalität an dieser Stelle nicht das Fortdauern von Kultur als äußerer, ganzheitlicher Differenzkategorie perpetuieren, sondern in der Erforschung diverser hegemonialer Machtmechanismen, die hinter einem solchen Fortdauern liegen, den Konstruktcharakter selbiger betonen. Transkulturalität fasst Kultur dann als Variable, die in einem dialektischen Zusammenhang nach innen hin zwar durch die je individuelle Verflechtung verschiedener soziokultureller Kategorien bestimmt wird und sich somit aus der kollektiven Rubrizierung löst, auf der Außenebene jedoch, ungeachtet dieser inneren Verflechtungen, Macht- und Herrschaftsverhältnissen schafft, die ganz selbstverständlich die jeweiligen Eigen-Fremd-Relationen wieder homogenisieren und/oder (vor-)bestimmen. Folglich müsste sich auch das Forschungsinteresse verändern. Es kann nicht darum gehen, die Wesenhaftigkeit von allumfassend verstandenen Kulturen zu explizieren, da dies zumeist zu Verkürzungen komplexer Prozesse verleitet, und es kann auch nicht darum gehen, eine komparatistische Perspektive zwischen ›den Kulturen‹ einzunehmen (wie es eine interkulturelle Perspektive vornehmlich versucht). Vielmehr müsste in den Fokus geraten, wie Kultur bzw. kulturelle Praxen als Mittel der Herrschaftssicherung, zur Konstruktion von Eigen-Fremd-Relationen oder zur Durchsetzung eines speziellen Geschichtsbildes genutzt werden. Letzten Endes gilt es, anstatt wie im interkulturellen Lernen Andersartigkeit zu verstehen, offenzulegen, wie Prozesse des Otherings42 funktionieren bzw. wie und wann Eigenes und Fremdes als solches entworfen und perpetuiert werden. Das heißt: nicht vermeintlich objektiv gegebene kulturelle Differenzen stehen im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Analyse von deren Herstellung und Performanz (doing culture).43 Der Mehrwert einer solchen Perspektive liegt darin, eben jene Mechanismen der Eigen-FremdKonstruktion sichtbar zu machen und Fragen von In- und Exklusion ins Zentrum der (historischen) Betrachtung zu stellen. Einem solchen Verständnis nach ist Transkulturalität als Analysekategorie zu verstehen, welche sich deutlich erkennbar von bisher in der Geschichtsdidaktik verwendeten Kategorien (etwa Herrschaft44, Ideologie45 und/oder gender46) unterscheidet, da diese sowohl in 41 Vgl. Robert Miles: Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs. Hamburg 1991, S. 100f. 42 »Othering« beschreibt den Prozess der Konstruktion und Funktionalisierung des Anderen, um die eigene kulturelle »Normalität« zu bestätigen. Vgl. Gayatari C. Spivak: The Rani of Simur. In: Francis Barker et al (Hrsg.): Europe and its Others. Colchester : University of Sussex 1985, S. 128–151. 43 Vgl. Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld 2004. 44 Beispielhaft hierfür die politische Dimension des Geschichtsbewusstseins nach Pandel, vgl.
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synchroner als auch diachroner Betrachtungsweise der realen Pluriformität von Gesellschaft mit nur einer Betrachtungsweise begegnen und darüber hinausgehende Verflechtungen ignorieren. Zusammenfassend und mit Blick auf die Analyse historischer Prozesse lässt sich schlussfolgern: Ein erweiterter Transkulturalitätsbegriff fokussiert zunächst kulturell durchformte Macht- und Herrschaftsverhältnisse, möchte dabei allerdings nicht nur allein in einer gegenwärtigen Zustandsbeschreibung aufgehen (wie zum Teil in Sozial- und Kulturwissenschaften üblich), sondern sich der Frage nach Macht und Ohnmacht in der Geschichte annehmen und fragen, wer in der Vergangenheit In- und Exklusion erfuhr. Grundsätzlich muss jedoch beachtet werden, dass diese Prozesse der Konstruktion von kultureller Fremdheit sich über vielfältige Kategorien bestimmen lassen und folglich die komplexen Verflechtungen soziokultureller Kategorien immer mitgedacht werden müssen. Ein erweiterter Transkulturalitätsbegriff erhöht insofern die analytische Schärfe, da nicht mehr monokausal von vereinfachten Standpunkten her argumentiert wird.
4.
Geschichtsbewusstsein und Transkulturalität
Wie aus dem bisher Geschriebenen hervorgeht, spricht ein Transkulturalitätsbegriff, der die Pluriformität kultureller Selbst- und Fremdverortungen fokussiert, im besonderen Maße die bei der Konstruktion eines individuellen Geschichtsbewusstseins relevanten und in der Geschichtsdidaktik vielfach beachteten Prozesse von Identitätsbildung und -konstruktion an.47 Transkulturalität, wenn auch in der Geschichtsdidaktik bisher wenig thematisiert, erweist sich dabei vielfältig anschlussfähig an aktuelle Debatten innerhalb der Geschichtsdidaktik, zuvorderst an neuere Überlegungen zur geschichtsdidaktischen »Zentralkategorie« des Geschichtsbewusstseins.48
45 46 47 48
Hans-Jürgen Pandel: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen. In: Geschichtsdidaktik. Probleme, Projekte, Perspektiven, 12. Jg. (1987), S. 130–142, hier S. 136f. Vgl. Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik, Göttingen 1986, S. 244ff. Vgl. Martin Lücke: Didaktik der Geschichte – Geschlechterkonstruktionen historisch erzählen. In: Marita Kampshoff/Claudia Wiepcke (Hrsg.): Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik. Wiesbaden 2012, S. 185–197. Vgl. Klaus Bergmann: Identität. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Handbuch Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 1997, S. 23–29; Johannes Meyer-Hamme: Historische Identitäten in einer kulturell heterogenen Gesellschaft. In: Barricelli/Lücke (Anm. 35), S. 89–97. Vgl. u. a. Karl-Ernst Jeismann: Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. In: Gerhard Schneider (Hrsg.): Geschichtsbewußtsein und historischpolitisches Lernen. Pfaffenweiler 1988, S. 1–24.
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Prozesse von transkultureller Identitätsbildung und die Konstruktion eben jenen individuellen Geschichtsbewusstseins finden nicht im luftleeren Raum statt, vielmehr werden sie auf der Folie je individueller und vielfältiger soziokultureller Selbst- und Fremdpositionierungen vollzogen, wie sie in Theorien von Diversity und Intersektionalität ver- und behandelt werden.49 Wenn wir nun davon ausgehen, dass Individuen sich selbst über und durch vielfältige Kategorien begreifen (bzw. durch die jeweiligen Kategorien von der Gesellschaft definiert werden), muss die Konstruktion eines je individuellen Geschichtsbewusstseins eben auch mit der Partizipation an vielen kleinteiligen Geschichten (etwa der eigenen sozialen Herkunft, des eigenen Geschlechterverständnisses, der eigenen Sexualität, der eigenen Religion) einhergehen. Anders ausgedrückt: Wenn Identitätsausbildung gerade darin besteht, zu verschiedenen Gruppen und deren Geschichten zugehörig zu sein, ohne die eigene (kulturelle) Identität konflikthaft zu empfinden – einen Einklang zwischen sozialer und personaler Identität zu erreichen50 – müsste diese Syntheseleistung gewiss auch genuiner Bestandteil des Geschichtsbewusstseins sein. Die positive Affirmation der Synthese von konfligierenden Deutungen und Sinnbildungen innerhalb eines Individuums weist insbesondere den Vorteil auf, dass die Verschmelzung vielfältig verflüssigter Geschichten nicht als defizitäres oder gar irgendwie falsches Geschichtsbewusstsein kategorisiert wird.51 So hält auch Jeismann in Bezug auf Hermann Lübbe fest: »Geschichtsbewußtsein kann den Konflikt verschiedener historischer Identitätssubjekte um die Deutung der Vergangenheit in einen Diskurs und – möglicherweise – zur ›Konsensobjektivität‹ bringen«52. Ein »doppeltes semi-historisches Bewusstsein«, wie es etwa jüngst türkeistämmigen Migrant_innen unterstellt wurde, muss insofern ganz zwangsläufig zu kurz greifen.53 Hier scheint der Irrtum vorzuliegen, dass ein Individuum, das mit verschiedenen Geschichten (sei es durch konfligierende Erzählungen innerhalb der Familie, der Peer-Group oder der hegemonialen Geschichtskultur) aufwächst, ein irgendwie doppelt-codiertes Geschichtsbewusstsein ausbildet. Dabei werden eben jene in Theorien von Geschichtsbewusstsein grundgelegten 49 Vgl. Lücke (Anm. 35); Michele Barricelli: Collected memories statt kollektives Gedächtnis. Zeitgeschichte in der Migrationsgesellschaft. In: Markus Furrer/Kurt Messmer (Hrsg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2013, S. 89–118, hier S. 95f. 50 Vgl. Bergmann (Anm. 47), S. 24f. 51 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen. In: Geschichtsdidaktik. Probleme, Projekte, Perspektiven, Heft 02 (1987), S. 130–142, hier S. 131. 52 Karl-Ernst Jeismann: Geschichtsbewußtsein – Theorie. In: Bergmann u. a. (Anm. 47), S. 43. 53 Lale Yildirim: Doppeltes semi-historisches Bewusstsein ? Entwicklung des Geschichtsbewusstseins bei Schülerinnen und Schülern mit türkeistämmigem Migrationshintergrund der dritten Generation. In: Sauer u. a. (Anm. 11), S. 289–306.
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individuellen Rezeptions- und Verarbeitungsprozesse von vielschichtiger historischer Erfahrung ignoriert. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Wolfgang Kaschuba, wenn er im Hinblick auf heutige Geschichtsbilder konstatiert, dass diese nur noch »in synthetischen und hybriden Zusammenhängen, also in jenen Mischungen, Überlagerungen und Bricolagen, die uns in neuer Weise vielfältig, vieldeutig und damit eben beliebig oder verwirrend erscheinen«, existieren würden.54 Weiter gedacht impliziert der Terminus zudem, dass so etwas wie ein ›türkisches‹ und ein ›deutsches‹ Geschichtsbewusstsein bestünden, welche dann miteinander in Konflikt gerieten. Wie aber sollte ein solches Geschichtsbewusstsein in globalisierten und pluriformen Einwanderungsgesellschaften aussehen? Nun ist der Befund allerdings evident, dass sich das Geschichtsbewusstsein von Individuen u. a. auf Grund ihrer je eigenen Position bezogen auf Klasse, ›Rasse‹, Ethnie, Geschlecht oder Körper in einem Spannungs- und Konfliktverhältnis (ab-)bildet – was mit Pandel als Sozialisationsabhängigkeit von Geschichtsbewusstsein beschrieben werden kann.55 Eine Auflösung dieses Spannungsverhältnisses kann jedoch nicht darin bestehen, diesen konfligierenden Deutungen mit einem abqualifizierenden Begriff (»semi«) zu begegnen, sondern muss eben jene Vielschichtigkeit von historischer Deutung zu einer Stärke von Geschichtsbewusstsein machen, dann allerdings im Sinne eines Geschichtenbewusstseins.56 Eine Unterscheidung zwischen beiden Begriffen (»doppeltes semi-historisches Bewusstsein« vs. »Geschichtenbewusstsein«) ist keine Petitesse, da das eine von einer Defizitkonstruktion her argumentiert, während das andere den emanzipatorischen und heterogenen Charakter von Geschichtsbewusstsein stärken möchte und zudem als Plädoyer gegen allumfassende und normierende master narratives verstanden werden kann. Eine transkulturelle Perspektive auf Theorien von Geschichtsbewusstsein kann so gesehen nicht nur einer »Globalisierung des Geschichtsbewusstseins«57 Vorschub leisten, sondern hebt zugleich auch den individuellen Rezeptionscharakter hervor, womit Geschichtsbewusstsein jenseits geschlossener Erklärungsvariablen oder »als kulturkreative Leistung«58 zu denken ist. 54 Wolfgang Kaschuba, »Turns« und »Tunes«: Zur Historizität ethnologischenWissens, in: Zeitschrift fu¨ r Volkskunde 109 (2013), H. 1, S. 1–27, hier S. 20. 55 Pandel (Anm. 51), S. 131. 56 Vgl. Michele Barricelli: Vielfältiges Erinnern und kreatives Vergessen. Geschichte, Geschichtsbewusstsein und historisches Lernen in gebrochenen Zeiten. In: Michele Barricelli/ Axel Becker/Christian Heuer (Hrsg.): Jede Gegenwart hat ihre Gründe. Geschichtsbewusstsein, historische Lebenswelt und Zukunftserwartung im frühen 21. Jahrhundert. Schwalbach/Ts. 2011, S. 15–42, hier S. 20. 57 Bodo von Borries: Globalisierung und Geschichtsunterricht. In: Ventzke u. a. (Anm. 15), S. 15–24, hier S. 19. 58 Barricelli (Anm. 49), S. 100.
Transkulturelle Mehrebenenanalyse – Implikationen für Theorie und Praxis
5.
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Transkulturelle Mehrebenenanalyse als Analyseraster für die Praxis des Geschichtsunterrichts
Bezüglich der Relevanz von Transkulturalität für die Praxis des Geschichtsunterrichts, wurde an anderer Stelle bereits dargelegt, dass das allgemeine Ziel von Transkulturalität primär darin liegen müsse, mit den Mitteln des historischen Denkens eine grundsätzliche Orientierungsfähigkeit und Handlungskompetenz zur Bewältigung der Komplexität heutiger pluriformer Gesellschaften auszubilden – oder wie Welsch es formuliert, die »transkulturelle Übergangsfähigkeit« zu sichern.59 Unterrichtspragmatisch gilt es dabei einerseits transkulturelle Verflechtungen in der Geschichte, wie sie in der Geschichtswissenschaft u. a. entlang von connected history, Transfergeschichte, histoire crois¦e oder entagled history gezeichnet werden60, im Geschichtsunterricht zu thematisieren und transkulturelle Geschichten zu re-konstruieren – bzw. besser zu konstruieren61. Andererseits gilt es – in Abgrenzung zum auf kulturellem Fremdverstehen basierendem interkulturellen historischen Lernen – einen reflexiven Umgang mit der Kategorie Kultur anzuregen, um die Machtmechanismen bei der Konstruktion von kulturellen Differenzen erkennen und die dahinter liegenden master narratives de-konstruieren zu können.62 Offen ist bisher geblieben, mittels welcher Systematisierung besonders die machtkritische transkulturelle Perspektive für die Verhandlung im Geschichtsunterricht zugänglich gemacht werden kann. Theoretische Anleihen für eine solche Systematisierung bieten neuerlich die Intersectionality Studies63, hier im speziellen die von Gabriele Winker und Nina Degele populär gemachte intersektionale Mehrebenenanalyse.64 Die Grundidee der Mehrebenenanalyse ist schnell erklärt: Winker und Degele gehen davon aus, dass es für die Analyse von sozialer Ungleichheit nicht genügt, die Verflechtung von Diversitätskategorien im Rahmen der individuellen Identitätskonstruktion in den Blick zu 59 Wolfgang Welsch: Transkulturalität: Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, 1994, S. 13. http://www.via-regia.org/bibliothek/pdf/heft20/welsch_transkulti.pdf [06. 05. 2014]. 60 Vgl. u. a. die Übersicht bei Margrit Pernau: Transnationale Geschichte. Göttingen 2011, S. 36–85. 61 Michele Barricelli: Narrativität. In: Barricelli/Lücke (Anm. 35), S. 255–280, hier S. 261. 62 Vgl. Ullrich/Lücke (Anm. 18), S. 19f. 63 Zur Diskussion von Intersektionalität für die Geschichtswissenschaft vgl. Christian Koller : Weiblich, proletarisch, tschechisch: Perspektiven und Probleme intersektionaler Analyse in der Geschichtswissenschaft am Beispiel des Wiener Textilarbeiterinnenstreiks von 1893. In: Sabine Hess/Nikola Langreiter/Elisabeth Timm (Hrsg.): Intersektionalität Revisited: Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld 2011, S. 173–196. Für die Geschichtsdidaktik vgl. Lücke (Anm. 35). 64 Gabriele Winker/Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009, s. S. 18–24.
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nehmen, sondern dass darüber hinaus gesellschaftliche Wirkmechanismen und deren symbolische Tradierungen als relevante Faktoren sozialer Subjektpositionierungen ebenfalls betrachtet werden müssen. Die Autorinnen betonen, dass die Fokussierung nur einer Untersuchungsebene selbstredend nicht falsch, jedoch zumeist zu kurz gegriffen und »begrenzt« sei.65 Beeinflusst von Gender und Queer Studies, leiten sie drei zentrale Ebenen ab, an denen soziale Ungleichheiten wechselseitig geformt werden: die Strukturebene, die Repräsentationsebene und die Identitätsebene66, wobei – in forschungspragmatischer Hinsicht – je nach Untersuchungsgegenstand bestimmte Kategorie und Ebenen stärker ins Zentrum rücken können als andere.67 Sie schlussfolgern: »Uns erscheint es deswegen sinnvoll, soziale Praxen, d. h. Prozesse in Form von Interaktionen und Handlungen in den Blick zu nehmen und die dort wirkenden Differenzierungskategorien vor allem in ihren Wechselwirkungen zu untersuchen. Auf dieser Grundlage können wir analysieren, in welche Strukturen (inkl. Institutionen) und symbolischen Kontexte die sozialen Praxen eingebunden sind, wie sie Identitäten hervorbringen und verändern.«68
Evident scheint an dieser Stelle, dass eine Mehrebenenanalyse auch und gerade für eine heuristisch arbeitende Disziplin wie die Geschichtswissenschaft großes Innovationspotenzial bietet. Der Zugewinn für historische Forschung liegt u. a. in einer präziseren Annäherung an die Vergangenheit, weil mit der Betrachtung von intersektionalen Verflechtungen eine höhere historische Tiefenschärfe erreicht werden kann.69 Allerdings sollte, um einen Hinweis von Christian Koller aufzunehmen, ein Zugewinn an Präzision in der historischen Forschung nicht mit der »gebetsmühlenartige[n] Nachbetung«, d. h. einer umstandslosen Adaption des Theoriegerüstes der intersektionalen Mehrebenenanalyse einhergehen, vielmehr müsse ein »reflektierter Einbezug bei der Formulierung von Forschungsstrategien und der Erarbeitung vom Fragestellungen« im Vordergrund stehen.70 Diesem Gedanken folgend ist die Mehrebenenanalyse hier primär als eine »Forschungsperspektive«71 oder eine »heuristische Sehhilfe«72 zu verstehen, um letztlich in transkultureller Lesart untersuchen zu können, 65 Nina Degele/Gabriele Winker : Intersektionalität als Mehrebenenanalyse. 2007. URL: www.portal-intersektionalität.de [letzer Zugriff: 16. 01. 2015]. 66 Vgl. Winker/Degele (Anm. 63), S. 18f. 67 Vgl. ebd., S. 21–24. 68 Degele/Winker (Anm. 64). 69 Vgl. Koller (Anm. 62), S. 194. 70 Ebd., S. 181. 71 Sigrid Kannengießer : Transkulturelle Intrasektionalität als Perspektive in der geschlechtertheoretischen Migrationsforschung. In: Eva Hausbacher u. a. (Hrsg.): Migration und Geschlechterverhältnisse. Kann die Migrantin sprechen? Wiesbaden 2012, S. 24–40, hier S. 30. 72 Vgl. Lücke (Anm. 35), S. 142.
Transkulturelle Mehrebenenanalyse – Implikationen für Theorie und Praxis
43
»welche Effekte mit der Verwendung von Kultur als Differenzierungskategorie verbunden sind: Was wird wie bei der Verwendung von Kultur unterschieden, was wird damit bezeichnet, was ausgeschlossen, welcher semantische Überschuss ist bei Rekurs auf »Kultur« damit verbunden?«73
Die transkulturelle Mehrebenenanalyse ist so gesehen ein Analyseinstrument, mit dem untersucht werden kann, wie an Schnittstellen von je spezifischen Diversity-Kategorien und Herrschaftsorten Eigen und Fremd als gesellschaftlich relevante Ordnungskonzepte konstruiert werden und nach welchen entsprechenden kulturellen Differenzlinien oder binären Begriffspaaren sie die jeweilige Gegenwart ordnen (etwa »Weiß«/»Schwarz«; Kultur/Natur, modern/ vormodern, Zentrum/Peripherie, zivilisiert/unzivilisiert, rational/emotional, triebbeherrscht/triebhaft, vernunftgeleitet/instinktgeleitet).
5.1
Strukturelle Herrschaftsebene
Auf der strukturellen Herrschaftsebene gerät zunächst eine genuin sozialwissenschaftliche Perspektive in den Blick. Vordergründig gilt es zu untersuchen, »welche Sozialstrukturen die zu untersuchenden Phänomene und das damit verbundene Handeln einrahmen«74. Transkulturalität geht es somit einerseits darum, strukturelle Herrschaftsverhältnisse als Motor der Konstruktion kultureller Differenz zu betrachten, sowie andererseits die dahinterliegenden Machtstrukturen zu verdeutlichen. Aus historischer Perspektive besonders interessant ist die Frage, wie spezifische Staats- und Herrschaftsformen (z. B. Polis, Civitas, res publica, Regnum, Stammesgesellschaft, Reich, Kalifat, Imperium, Vielvölkerstaat, Nationalstaat, supranationale Gebilde etc.) mit Hilfe ihrer Institutionen (Kirche, Militär, Verwaltung etc.) und Subsysteme (Arbeitsmarkt, Rechtssysteme, Bildungswesen etc.) Eigenes und Fremdes herstellen und wie sie diese Konstruktionen zur Herrschaftssicherung nutzen. Da, wie bereits dargelegt, Kultur jedoch nie direkt zu beobachten ist und sich immer über diverse Behelfskonstruktionen manifestiert, bleibt die Frage offen, welche Differenzlinien bei der Konstruktion von Eigen-Fremd-Relationen auf der strukturellen Herrschaftsebene besondere Beachtung finden müssten. In Anlehnung an die Systematik von Helma Lutz und Rudolf Leiprecht75, scheinen hier mindestens »Rasse«, Ethnizität, Geschlecht, Klasse, Sexualität, Körper, Nation/Staat, Religion, Sesshaftigkeit/Herkunft, Nord-Süd/West-Ost sowie gesellschaftlicher Entwicklungsstand bedeutsam – weitere sind selbstredend 73 Höhne (Anm. 36), S. 198. 74 Winker/Degele (Anm. 63), S. 19. 75 Vgl. Leiprecht/Lutz (Anm. 39), S. 220.
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denkbar und jeweils induktiv aus dem konkreten Untersuchungsgegenstand abzuleiten. Prinzipiell ist jedoch davon auszugehen, dass bei der Explikation von Eigen-Fremd-Relationen eine größere Offenheit nötig ist als bei Winker und Degele, die ihrerseits deduktiv aus der Gesellschaftsanalyse des modernen Kapitalismus lediglich vier zentrale Kategorien ableiten: Geschlecht, »Rasse«, Klasse und Körper.76 Bezogen auf die konkrete Praxis des Geschichtsunterrichts lassen sich dergestalt vielfältige Untersuchungsfragen herleiten: Wer wurde in der griechischen Polis entlang des Bürgerrechts-Status als Eigen (männliche Hellenen) und wer als Fremd (»Barbaren«) oder Anders (weibliche Hellenen, griechische Metöken) bestimmt?77 Wer wurde entlang der Kategorie Religion im Mittelalter im Rahmen von Steuerpolitik und Gesetzgebung als Eigen (Christen), wer als Fremd (»Heiden«) und wer als Anders (Juden) markiert? Wer durfte entlang der Kategorie »Rasse« in den lateinamerikanischen Kolonialreichen in den lokalen Verwaltungen tätig sein (Kreolen) und wer nicht (»Mestize«/»Zambo«)? Wer konnte in den Vereinigten Staaten am Arbeitsmarkt eine privilegierte Position einnehmen und wer nicht, und wie kreuzten sich dabei Aspekte von Klasse und »Rasse«, um gesellschaftlich Eigenes (white) und Anderes (immigrants) sowie Fremdes (black) zu markieren?78
5.2
Ebene der symbolischen Repräsentation:
Die Ebene der symbolischen Repräsentation umfasst vor allem gesellschaftliche Normen, Werte, Stereotype, Ideologie und Diskurse und schaut primär nach spezifischen hegemonialen und sinnstiftenden Angeboten innerhalb der Gesellschaft. Mit Verweis auf Judith Butler, die davon ausgeht, dass Diskurse soziale Wirklichkeiten nie nur abbilden, sondern immer auch beeinflussen, beschreiben Winker und Degele entsprechend symbolische Repräsentationen nicht nur als von strukturellen Herrschaftsverhältnissen hervorgebracht, sondern auch als diese und ihre jeweiligen Eigen-Fremd-Relationen stützend.79 Symbolische Repräsentationen fungieren darüber hinaus nicht nur als Stärkung von Herr76 Vgl. Winker/Degele (Anm. 63), S. 37–53. 77 Vgl. Jürgen Malitz: Der Umgang mit Fremden in der Welt der Griechen: »natives«, Perser, Juden. In: Waltraut Schreiber (Hrsg.): Kontakte Konflikte Kooperationen. Der Umgang mit Fremden in der Geschichte, Neuried 2001, S. 47–76. 78 Vgl. James Barrett/David Roediger : Inbetween Peoples. Rasse, Nationalität und die »New Immigrant«-Arbeiterklasse in den USA, in: Werkstatt Geschichte 39 (2005), S. 7–34, hier S. 19f. 79 Vgl. Winker/Degele (Anm. 63), S. 54; Judith Butler : Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main 1991.
Transkulturelle Mehrebenenanalyse – Implikationen für Theorie und Praxis
45
schaftsverhältnissen, z. B. durch Apologien von Ungleichheiten, sondern wirken mit ihrer Suggestionskraft gleichzeitig immer auch identitätsbildend (weshalb hier eine Verknüpfungen mit der Ebene der individuellen Identitätsbildung bereits grundgelegt ist).80 Aus transkultureller Perspektive muss insbesondere fokussiert werden, wie und entlang welcher Kategorien symbolische Repräsentationen als Rechtfertigungen für Eigen-Fremd-Relationen und zur gleichzeitigen Stärkung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen wirken. Hier werden in Form von symbolischen Sinn- und Bedeutungswelten sowie des Performativen genuin kulturwissenschaftliche Fragen Teil des Forschungsinteresses. Anfragen an die Geschichte müssen also, mit Blick auf die Performanz von Wir-Sie-Gegensätzen, reflektieren, wie die Mehrheitsgesellschaft ihre kulturelle Ordnung über »hegemoniale Diskurslinien« tradiert.81 Auch und vor allem in Bezug auf postkoloniale Fragestellungen scheint dies besonders relevant.82 Als Mittel und Mittler solcher Tradierungen können u. a. Forschung und Wissenschaft, Schulbücher, Medien, Werbung, Karikaturen, Comics, Kunst, Literatur, Musen, Gedenkfeiern, aber auch Erzählungen, Sprichwörter, Redensarten und Mythen Berücksichtigung finden. Eine besondere Relevanz für die Geschichtsdidaktik ergibt sich aus der Tatsache, dass hier auch Geschichte bzw. Geschichtsschreibung als Form symbolischer Repräsentation in den Blick geraten kann. So ließe sich etwa analysieren, wie sich die Konstruktion kultureller Differenzen als Herrschaftsinstrument in Formen geschichtskultureller Manifestation, konservierter Erinnerung und/oder von Geschichtsschreibung ausdrückte. Mögliche Untersuchungsfragen für den Geschichtsunterricht könnten dergestalt sein: Wie und über welche Kategorien wurden in den Schriften des Aristoteles die »Barbaren« als das kulturelle Andere im Vergleich zu den Hellenen entworfen? Wie wurde in der europäischen Geschichtsschreibung die vorkoloniale Geschichtlichkeit lateinamerikanischer oder afrikanischer Gesellschaften dargestellt und wie wurden durch diese Diskurse die eigenen kolonialen Handlungen gerechtfertigt? Wie wurde in deutschen Kolonialromanen anhand von Kategorien wie gesellschaftlicher Entwicklungsstand und »Rasse« das Eigene (modern-europäisch) und das Fremde (traditionell-afrikanisch) perpetuiert? Wie wurde im 19. Jh. ,im Zuge der Darwinschen Lehre, in der Wissenschaft der Entwurf vermeintlich natürlicher »Rasse«-konstruktionen begünstigt und dadurch Eigen-Fremd-Relationen aufgebaut? 80 Vgl. ebd., S. 58f. 81 Vgl. Degele/Winker (Anm. 64). 82 Vgl. Mara do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 2005.
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5.3
Ebene der Individuellen Identitätsbildung
Auf der Ebene der individuellen Identitätsbildung wird vordergründig analysiert, wie Menschen ihre je eigene kulturelle Identität im Spannungsverhältnis von gesellschaftlich etablierten kulturellen Differenzkonstruktionen entwerfen; insbesondere Aspekte des »doing culture« spielen hier eine wesentliche Rolle.83 Winker und Degele halten fest, »dass es bei Identitätskonstruktionen entlang verschiedenartiger Differenzkategorien erstens um die Verminderung von Unsicherheiten in der eigenen sozialen Positionierung durch Ab- und Ausgrenzung von anderen, und zweitens um die Erhöhung von Sicherheit durch Zusammenschlüsse und eine verstärkte Sorge um sich selbst geht – womit Individuen nicht nur selbst nach Absicherung (zu) streben (versuchen), sondern auch ein umfassendes und vielfältiges Differenzierungssystem aufrechterhalten«.84
Für eine transkulturelle und historische Perspektive ist es demnach wichtig zu fragen, über welche Kategorien Individuen ihre je eigene kulturelle Identität entwerfen und in welchem (Spannungs-)Verhältnis diese Identitätsentwürfe gegenüber hegemonialen Eigen-Fremd-Relationen stehen, die ihrerseits wiederum, wie gezeigt, auf gesellschaftlicher Strukturebene verhandelt und über symbolische Repräsentationen tradiert werden. Den je individuellen Identitätskonstruktionen muss dabei mit einer prinzipiellen Offenheit gegenübergetreten werden, was zur Folge hat, dass die identitätsrelevanten Kategorien hier ausschließlich induktiv zu fassen sind.85 Die Analyse von individuellen kulturellen Selbstverortungen im Gefüge hegemonialer Eigen-Fremd-Relationen kann letztlich, je nach Untersuchungsgegenstand, zwei Perspektiven fokussieren, die der »Integrierten« und die der »Ausgegrenzten«.86 Erstere fragt danach, wie Individuen, die entlang unterschiedlicher Diversity-Kategorien als kulturell Eigen markiert sind, bei der Affirmation der eigenen kulturellen Identität Strategien entwickeln, um über die »Wahrnehmung der Anderen als Andere ihr eigenes Selbst« zu produzieren.87 Letztere fragt danach, wie als Fremd markierte Individuen im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbezeichnung ihre kulturelle Identität entwickeln (Assimilation, Integration, Obstruktion) und wie dies deren je individuelle Eigen-Fremd-Relationen beeinflusst. Besondere Aufmerksamkeit ist dabei auf Individuen mit sogenannten hybriden Identitäten zu richten, die in
83 84 85 86 87
Vgl. Hörning/Reuter (Anm. 43). Winker/Degele (Anm. 63), S. 61. Vgl. ebd., S. 59. Winker/Degele (Anm. 63), S. 60. Ebd.
Transkulturelle Mehrebenenanalyse – Implikationen für Theorie und Praxis
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den Eigen-Fremd-Relationen der Mehrheitsgesellschaft keine genaue oder zumindest eine wechselnde Zuordnung erfahren. Im Geschichtsunterricht kann sich dieser Ebene vor allem über Ego-Dokumente genähert werden (wobei es selbstredend das Problem der »stummen Gruppen« zu berücksichtigen gilt88).89 Praktisch ließe sich zum Beispiel über die imaginierte und »rassisch« konnotierte Zugehörigkeitsvariable »arisch« aufzeigen, wie sich Angehörige der Mehrheitsgesellschaft über den Begriff selbst entwarfen bzw. sich vom als fremd markierten »nicht-arisch« abgrenzten und dieses damit perpetuierten. Gleichzeitig kann in den Blick rücken, wie die »Ausgegrenzten« entlang der Stigmatisierung als »nicht-arisch« ihre je individuelle Identität verhandelten und die Fremdbezeichnungen der Mehrheitsgesellschaft zum Teil ihrer je individuellen Selbstbezeichnung machten, oder auch gerade nicht. Des Weiteren kann fokussiert werden, wie Menschen, die entlang der Kategorie »Rasse« als ursprünglich »arisch« markiert wurden, entlang anderer Kategorien wie Körper (Menschen mit Behinderung), Sexualität (Homosexuelle) oder politischer Weltanschauung (Kommunisten) alieniert wurden, in diesem Spannungsverhältnis ihre je eigene kulturelle Identität entwarfen.
5.4
Transkulturelles historisches Lernen
Ziel der konkreten Unterrichtspraxis muss es angesichts einer transkulturellen Perspektive sein zu thematisieren, wie in der Geschichte an verschiedenen Herrschaftsorten und entlang anthropogener Differenzlinien Eigen-Fremd-Relationen hergestellt wurden sowie in dezidiert machtkritischer Perspektive zugleich zu betrachten, wer von einer solchen Einteilung wie profitiert. Für die historisch Lernenden geht damit das Wissen um das Faktum einher, dass die Herstellung von kultureller Differenz immer auch ein Mittel zur Herrschaftssicherung darstellt. Historisches Lernen kann indes nicht in einer bloßen historischen Situationsanalyse stehen bleiben, vielmehr muss es darum gehen, historische Entwicklungen in den Blick zu nehmen und diese narrativ zu verknüpfen.90 Dies ist im vorliegende Fall schon allein deshalb dringend notwendig, um der Gefahr zu begegnen, mit einer bloßen statischen Situationsbeschreibung territorialisierte 88 Vgl. Martin Lücke: Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität. In: Barricelli/Lücke (Anm. 35), S. 281–288, hier S. 287f. 89 Zur Verwendung von Ego-Dokumenten innerhalb der Geschichtsdidaktik vgl. Martin Lücke: »A hint of what was to come« – Bilingualität und das Erinnern an Antisemitismus und den Holocaust in videografierten Zeitzeugeninterviews. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 8 (2009), S. 87–99. 90 Vgl. Barricelli (Anm. 61).
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und substantialisierte Kulturvorstellungen zu perpetuieren. Stattdessen muss ein transkulturelles historisches Lernen stets mit Blick auf die Entwicklung und Dynamik von Eigen-Fremd-Relationen auf deren Konstruktcharakter verweisen. Das genuin Historische einer solchen Perspektive liegt dann in der Wahrnehmung, dass die Konstruktion kultureller Differenzen in der Vergangenheit je verschieden zu heute war (diachrone Alteritätserfahrung), verbunden mit der Erkenntnis, dass Eigen-Fremd-Relationen keine statischen Gebilde sind und daher auch in Gegenwart und Zukunft alternativ gedacht werden können.91 Damit verknüpft ist die Erfahrung, dass sich Eigen-Fremd-Relationen je nach Herrschaftsform in Zeit und Raum verändern und Fremdheit als Prinzip zwar eine anthropologische Konstante darstellt, jedoch die Differenzlinien, an denen sich kulturelle Fremdheit bildet, anthropogen und folglich wandelbar sind.92 Gleichzeitig nimmt transkulturelles historisches Lernen den Sachverhalt auf, dass Eigen-Fremd-Relationen auch gegenwärtig an spezifischen Herrschaftsorten und über spezifische Kategorien geschaffen werden und diese weiterhin Gesellschaften strukturieren – wodurch insgesamt das für die Ausbildung von Geschichtsbewusstsein so wichtige Historizitätsbewusstsein, sprich die Erfahrung von Kontinuität und Wandel und deren komplexes Zusammenspiel, angesprochen werden kann.93 In der konkreten Praxis des Geschichtsunterrichts könnten so zum Beispiel die Verschiebung von Eigen-Fremd-Relationen im Zuge von spezifischen Konversions- oder Missionierungspraktiken in den Blick geraten, auch die Thematisierung von sich wandelnden Zugehörigkeiten entlang von Nationalstaatsbildungen oder vom Umgang mit nationalen Minderheiten innerhalb von National- und Vielvölkerstaaten sind denkbar. In der Gesamtschau betrachtet ist Transkulturalität dergestalt nicht nur ein Instrument zur Analyse von machtvollen Praktiken der Konstruktion kultureller Differenz. Transkulturelles historisches Lernen setzt sich darüber hinaus zum Ziel, den Lernenden das Wissen um den Konstruktcharakter von Eigen-FremdRelationen zu vermitteln. Konkret äußert sich dies vor allem darin, kulturelle Differenz nicht deterministisch oder naturalistisch zu betrachten, sondern Möglichkeitsräume zu schaffen, um deren anthropogenen Charakter zu fokussieren und Eigen-Fremd-Relationen alternativ zu denken. Auch die für das historische Lernen besonders wichtige Kategorie des Geschichtsbewusstseins, mit Jeismann verstanden als »Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive«94, kann hier angesprochen werden, indem Lernende über das Verstehen und Erklären von kulturellen 91 Vgl. Lücke (Anm. 35), S. 145. 92 Vgl. Joachim Zeller : Weiße Blicke – Schwarze Körper. Afrikaner im Spiegel westlicher Alltagskultur. Bilder aus der Sammlung Peter Weiss. Erfurt 2010, S. 20f. 93 Vgl. Pandel (Anm. 6), 142. 94 Jeismann (Anm. 52), S. 42.
Transkulturelle Mehrebenenanalyse – Implikationen für Theorie und Praxis
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Differenzkonstruktionen in der Geschichte entlang spezifischer Kategorien und Herrschaftsebenen die Vergangenheit deuten lernen, über die Erkenntnis der Gewordenheit und Wandelbarkeit von Eigen-Fremd-Relationen ein Verständnis der Gegenwart entwickeln sowie über das Wissen um die Wandelbarkeit und Veränderlichkeit von Eigen-Fremd-Relationen Zukunftsperspektiven für das eigene Tun und Handeln ausbilden. Durch fortschreitende kulturelle Globalisierungsprozesse sind Lernende heute gezwungen, ihre Eigen-Fremd-Relation stets neu zu justieren. Gerade die Erfahrung der offenkundigen Geschichtlichkeit solcher kulturellen Differenzbestimmung ist für die Lernenden besonders wichtig, um sich Orientierung in der Komplexität pluriformer Gesellschaften zu verschaffen und mit den Mitteln des historischen Denkens konkretes Rüstzeug zur Affirmation der eigenen (trans-)kulturellen Identität sowie zur Bewältigung kultureller Kontingenzerfahrungen zu entwickeln. Mit Verweis auf Jörn Rüsen gilt es aufgrund dessen Geschichte als Quelle »historischer Alteritätserfahrungen« zu betrachten, »die dem menschlichen Handeln und Leiden Möglichkeitsspielräume zur Artikulation von Lebenschancen (und sei es auch nur im Spiegel ihrer faktischen Verweigerung)« eröffnet.95 Ähnlich argumentiert auch Michele Barricelli, der festhält: »Das Fach Geschichte hat an dieser Aufgabe der Identitätsbildung im Rahmen forcierter Kohäsionskrisen Anteil, indem es das Mehrfache der in den diskursiv erzeugten symbolischen und praktischen Mehrfachzugehörigkeiten historisiert bzw. didaktisiert (…)«.96 So gesehen befähigt transkulturelles historisches Lernen dazu, der Fluidität von Eigen-Fremd-Relationen positiv begegnen zu können sowie einer Welt positiv gegenüberzustehen, in der, was heute noch fremd ist, morgen schon vertraut sein kann.
6.
Ausblick
Geschichtsdidaktik sollte sich stets ihrer eigentümlichen gesellschaftlichen Dimension bewusst sein; zumal wenn sie sich selbst darüber definiert, das »Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft«97 zu untersuchen.98 Eine Geschichtsdidaktik – welche, wie hier argumentiert wurde, aktuell transkulturell gedacht werden sollte – die sich primär auf Sinn- und Bedeutungsverhandlung innerhalb der Geschichtskultur stützt und ihre gesellschaftliche Dimension ignoriert, greift insofern vielerorts zu kurz. Mit dem erweiterten Transkultu95 96 97 98
Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u. a. 2013, S. 249. Barricelli (Anm. 49), S. 99. Jeismann (Anm. 5), S. 12. Vgl. Lücke (Anm. 35), S. 136f.
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ralitätsbegriff wurde versucht zu zeigen, wie eine kulturtheoretisch orientierte Geschichtsdidaktik mit den Diversity und Intersectionality Studies um aktuell diskutierte sozialwissenschaftliche Aspekte erweitert werden kann. Geschichtsdidaktik müsste insofern stets intersektional denken und auf kulturund sozialwissenschaftliche Theorien und Themen rekurrieren bzw. »Kultur« – als eine zentrale Kategorie von Geschichte99 – sowie deren Gebrauch immer in den Kontext spezifischer Gesellschaftsverhältnisse stellen. Thomas Sandkühler bemerkte dazu kürzlich in einer disziplingeschichtlichen Beschreibung der Geschichtsdidaktik: »statt zuspitzend von einem Ausschlussverhältnis zwischen Kultur und Gesellschaft auszugehen oder die Gesellschaft unter ›Geschichtskultur‹ zu subsumieren, sollte die Geschichtsdidaktik als ein spezifischer Modus gesellschaftlicher Praxis begriffen werden«.100
Diese zunächst noch recht unkonkrete Handlungsanweisung Sandkühlers kann – wie im vorliegenden Artikel präsentiert – auf der Folie der hier vorgestellten Transkulturalität zu produktiven Impulsen für die gegenwärtige geschichtsdidaktische Forschung verwandelt werden. Geschichtsdidaktik, die einer um Intersectionality und Diversity erweiterten Transkulturalität folgt, operiert letzten Endes selbst an Schnittstellen. Sie ist weder strikt sozial- noch strikt kulturwissenschaftlich orientiert, sondern kann Synergieeffekte beider Ansätze nutzen, ohne sich in den irrigen Frontstellungen zwischen Sozial- und Kulturgeschichte zu verlieren, wie es zum Teil in der Geschichtswissenschaft zu beobachten ist.101
99 Vgl. Ulrich Mayer: Kategorien. In: Ders. u. a.: Wörterbuch der Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2009, S. 115. 100 Sandkühler (Anm. 11), S. 317. 101 Vgl. Koller (Anm. 62), S. 176–182.
Anne Albers
»Weißt du eigentlich, wer Atatürk ist?« Eine Rekonstruktion von Lehrer/innenbeliefs über Themen, Unterrichtsprinzipien und Lernpotenziale eines Geschichtsunterrichts für die vielfältige (Migrations-)Gesellschaft
1.
Einleitende Bemerkungen
Unsere Lebenswelten haben sich im letzten Jahrhundert zunehmend globalisiert, vernetzt und sind u. a. durch Migration und wachsende Mobilität vielfältiger geworden. Viele Grenzen und Räume, anhand derer die Geschichtswissenschaft wie auch der Geschichtsunterricht orientiert und organisiert waren, haben sich verschoben und ihre Konstitution verändert. Im Geschichtsunterricht sollen Schüler/innen die eigene Vernetzung in Geschichte(-n) erkennen, reflektieren und historisch begründet handlungs- und orientierungsfähig werden. Wie sollte also unter diesen Bedingungen Geschichtsunterricht heute für morgen gestaltet sein, was könnte dieser Unterricht beinhalten? Die in diesem Beitrag vorgestellten Überlegungen sind im Kontext der empirischen Erhebungen für meine Qualifikationsarbeit entstanden und geben erste Ergebnisse wieder. Das Projekt fragt nach den Beliefs von Lehrer/innen über Geschichtsunterricht in der Migrationsgesellschaft, erhebt jedoch auch erlebte unterrichtspraktische Erfahrungen mittels der qualitativen Instrumente Gruppendiskussion sowie Interview. Im Anschluss an die Skizzierung des Forschungsstandes werden anhand ausgewählter Passagen zweier Gruppendiskussionen mit Geschichtslehrer/innen an Berliner Schulen eine Bandbreite von Themen und möglicherweise rekonstruierten Beliefs aufgezeigt, um abschließend Fragen für den Fortgang der Untersuchung aufzuwerfen.
2.
Forschungsstand
Die hier vorgestellten Überlegungen und Ergebnisse stehen im Kontext der zahlreicher werdenden Bemühungen aus der Geschichtsdidaktik, die bisher noch desparate Forschungslage zu Lehrer/innenbeliefs und zu der bisher nur in Ansätzen geleisteten Konzeptualisierung eines differenz- und kultursensiblen Geschichtsunterrichts voranzubringen. Vor allem Arbeiten zur fachdidakti-
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schen Kompetenz und zu den Einstellungen, Überzeugungen, Haltungen, Beliefs1 von Lehrpersonen über die Ziele von Geschichtsunterricht, aber auch zu den Schüler/innen und ihrem Geschichtsbewusstsein liefern dienliche Hinweise. Das Spektrum soll hier in aller gebotenen Kürze skizziert werden.
2.1
Grenzen und Gemeinsamkeiten – was und wie erzählen im Geschichtsunterricht für transkulturelle Lebenswelten?
Die KMK stellte im Dezember 2014 eine »Notwendigkeit zum kultursensiblen und multiperspektivischen Erinnern« fest und begründete diese mit den vielfältigen Familiengeschichten und -erinnerungen der Schüler/innen in der Migrationsgesellschaft. Für die KMK ergibt angesichts vielfältiger Lerngruppen und Lebenswelten der Anspruch an den Geschichtsunterricht: »Historisch-politische Bildung muss […] die didaktischen Prinzipien der Multiperspektivität und der Kontroversität berücksichtigen, Geschichte und Geschichtsbilder als Konstruiertes begreifen und zunehmend befähigen, sich mit verschiedenen historischen Ereignissen, Prozessen und Interpretationsmustern zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Es geht um die ständige selbstständige Reflexion von Geschichtsdeutungen und die aktive Beteiligung an historischen und gesellschaftlichen Kontroversen.«2
Wie kann sich ein differenz- und kultursensibler, für transkulturelle und transnationale Lebenszusammenhänge befähigender Geschichtsunterricht gestalten, was könnte er beinhalten? Welche Lernpotenziale für das Leben in der globalisierten, vielfältigen Migrationsgesellschaft bieten sich speziell im Geschichtsunterricht, welche (Teil-) Kompetenzen können hier gefördert werden? Eine umfassende Modellierung liegt bisher nicht vor, an verschiedenen Stellen finden sich jedoch erste Überlegungen und Forderungen. Den bisher umfänglichsten Vorschlag aus der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik als mögliche Antwort auf die ›multiethnische‹ Zusammensetzung der Lernendengruppen legte Bettina Alavi 1998 in ihrer Dissertation mit 1 Der Begriff Beliefs wird in der deutschsprachigen Forschungslandschaft uneinheitlich verwendet. Je nach Fokus der jeweiligen Forschungsarbeit werden die Begriffe Einstellungen, Haltungen, (berufsbezogene) Überzeugungen, Beliefs oder auch Subjektive Theorien gebraucht. Für einen Überblick siehe: Kurt Reusser/Christine Pauli/Anneliese Elmer : Berufsbezogene Überzeugungen von Lehrerinnen und Lehrern. In: Ewald Terhart (Hrsg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf. Münster, München, Berlin [u. a.] 2011, S. 478–495. 2 Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Erinnern für die Zukunft. Empfehlungen zur Erinnerungskultur als Gegenstand historischpolitischer Bildung in der Schule. Beschluss der KMK vom 11. 12. 2014, http://www.kmk.org/ fileadmin/pdf/PresseUndAktuelles/2014/2014-12-11-Empfehlung_Erinnern_fuer_die_Zu kunft.pdf, aufgerufen am 22. 01. 2015. S. 4.
»Weißt du eigentlich, wer Atatürk ist?«
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dem Leitbild ›Geschichte lernen im interkulturellen Dialog‹ vor, verstanden als »Geschichtsunterricht [in dem] die Vergangenheit bezogen wird auf unterschiedliche Kulturen.«3 Im Geschichtsunterricht bieten sich vielfältige Lernpotenziale für das Leben in pluralen Zusammenhängen. So kann hierbeispielsweise der Umgang mit dem ›Fremden‹ und dem historisch Anderen erprobt werden, es können sich im positiven Sinne Reibungsflächen bieten.4 Diese Alteritätserfahrungen, die im Unterricht durch Perspektivenübernahme gemacht werden können, beschreibt Michael Sauer5 als wichtigen Schritt zur Ausbildung von Empathie und Fremdverstehen. Auch Bodo von Borries findet den Geschichtsunterricht geeignet für die Förderung von Fremdverstehen6, sei doch das historische Lernen per se ein Lernen anhand der Begegnung mit dem (historisch) Anderen. Lena Deuble und Lisa Konrad berichteten aus dem Projekt ›Vielfalt, Identität, Erzählung‹, Perspektivenwechsel sei eine simple und praktikable Möglichkeit zur Förderung interkulturellen Lernens im Geschichtsunterricht.7 Geeignete Ansätze für diesen Geschichtsunterricht werden von Alavi einem pädagogisch-didaktischen und einem geschichtswissenschaftlichen Bereich zugeordnet. Für den Letzteren nennt sie das interkulturelle Geschichtslernen, den Weltgeschichtsansatz, den europäisch orientierten Geschichtsunterricht, Geschichte als Kulturgeschichte und die außereuropäische Geschichte als Schwerpunkte, die für den historischen Wissens- und Erfahrungshintergrund, das begegnungs- und konfliktorientierte Lernen sowie den Abbau von Ethnozentrismen und Rassismus notwendig sind. Geschichtsunterricht »sollte vor allem jene Themen behandeln, die die Grenzen der eurozentristischen und nationalen Sichtweise überwinden.«8 Die Auswahl der Themen könnte nach Alavi darauf zielen, Multikulturalität und Migration am historischen Beispiel als Normalfall in der Geschichte aufzuzeigen, die Perspektiven auf »traditionelle
3 Vgl. Bettina Alavi: Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft. Eine fachdidaktische Studie zur Modifikation des Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen. Frankfurt a.M. 1998. 4 Ebd., S. 155. 5 Vgl. Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 10. Aufl. Seelze-Velber 2012, S. 76f. 6 Vgl. Bodo von Borries: Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Erste repräsentative Untersuchungen über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartsdeutungen und Zukunftserwartungen Jugendlicher in Ost- und Westdeutschland. Weinheim, München 1995. 7 Vgl. Lena Deuble/Lisa Konrad: Geschichtsunterricht in situ – videogestützte Beobachtungen als Chance der geschichtsdidaktischen Forschung. In: Tobias Arand (Hrsg.): Neue Wege, neue Themen, neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2014 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 7), S. 153–168, hier: S. 164. 8 Alavi 1998 (wie Anm. 3), S. 241.
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Themen« zu erweitern, außereuropäische Räume einzubinden, vergleichend zu arbeiten oder »weltübergreifende Themen«9 und Kontroversen aufzugreifen. Es liegt jedoch nahe, mögliche Themen, didaktische Zugriffe oder Prinzipien und Methoden auch anhand ihrer Perspektivität und Offenheit für heterogene Deutungen und vielfältige Urteilsbildungen zu beschreiben und zu systematisieren. Denn während am einen Ende des Spektrums versucht wird, historische Sinnbildung als konstituierendes Element von Großkollektiven in Form eines Minimalkonsens zu konstruieren, findet am anderen Ende die Narration als Verflechtung individueller, pluraler Sinnkonstruktionen statt.10 Susanne Popp forderte 2003 im Anschluss an fachwissenschaftliche Tendenzen für den Geschichtsunterricht die »Zurücknahme des nationalhistorischen Basisnarrativs«11. Stattdessen könnten gemeinsame Erinnerungen kommuniziert werden12, um innerhalb nationaler Räume Erinnerungsgemeinschaften zu generieren. In dem von Andreas Körber zuletzt 2010 für den Geschichtsunterricht ausführlich beschriebenen Konzept des Interkulturellen Lernens wird als Ziel die Ausbildung einer »Fähigkeit, mit der Differenz kultureller historischer Orientierungen umzugehen«13, benannt. Inter-Kultur ist hier ein individuell ausgebildeter Zwischenraum, in dem sich Individuen begegnen können, ohne ihre Selbstverortung in einer Herkunftskultur verlassen zu müssen. Trotz der prinzipiellen Unterstellung einer Gleichwertigkeit des Anderen gilt jedoch für interkulturelle Ansätze, dass die Differenz gestaltend bleibt. Für den Unterricht bedeutet dies, dass Kontakt sowie Austausch stattfinden, vermeintliche kulturelle Unterschiede14 thematisiert und bestenfalls in einem weiteren Schritt reflektiert und 9 Ebd. 10 Vgl. Michele Barricelli: Collected Memories statt kollektives Gedächtnis. Zeitgeschichte in der Migrationsgesellschaft. In: Markus Furrer/Kurt Messmer (Hrsg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts 2013 (Geschichte), S. 89–118. Hier: S. 103. 11 Vgl. Susanne Popp: Weltgeschichte im Geschichtsunterricht? Geschichtsdidaktische Überlegungen zum historischen Lernen im Zeitalter der Globalisierung. In: Susanne Popp/Johanna Forster (Hrsg.): Curriculum Weltgeschichte. Interdisziplinäre Zugänge zu einem global orientierten Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2003, S. 68–101. Bea Lundt: National-, Europäische, Weltgeschichte. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 405–421. 12 Vgl. Ebd., sowie: Rainer Ohliger: »Am Anfang war…« Multiperspektivische Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft. In: Viola B. Georgi/Rainer Ohliger (Hrsg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft. Hamburg 2009, S. 109–127. 13 Andreas Körber : Theoretische Dimensionen des interkulturellen Geschichtslernens. In: Marcus Ventzke u. a. (Hrsg.): Geschichte denken statt pauken in der Sekundarstufe II. Radebeul 2010, S. 25–48, hier S. 44. 14 Vgl. u. a. die Kritik bei Paul Mecheril, der Kultur als soziale Praxis versteht, die in der pädagogischen Praxis Sensibilität gegenüber Differenzkategorien erfordert: »Kompetenzlosigkeitskompetenz«. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen. In: Georg Auernheimer (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität.
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bearbeitet werden. Für den Geschichtsunterricht bieten sich demnach prinzipiell zwei Möglichkeiten für Alteritätserfahrungen, die diachrone Zeitdifferenzerfahrung und die synchrone kulturelle Fremdheitserfahrung. Diesen Überlegungen ist gemeinsam, dass sie Identität, Nation, Kultur usw. als Entitäten und als sinnstiftend für eine Perspektive auf einen historischen Gegenstand für den Unterricht nutzbar machen wollen, anstatt auf die Hybridität und Vielfalt dieser Größen als Konzepte abzustellen und dafür ihre Berührungspunkte sowie Verflechtungen zu fokussieren. Auch wenn Alavi »die Synthesefähigkeit von Kulturen und die Fähigkeit von Individuen, Grenzgänger in mehreren Kulturen zu sein und kulturelle Mischformen herausbilden zu können.« für ihr Leitbild herausstellt, wird das Prozesshafte und Hybride eines trans*-Kulturverständnisses nicht durchweg für die unterrichtspraktischen Vorschläge gestaltend. Diesen Gedanken wiederum entwickeln Marc Ullrich und Martin Lücke15 mit ihrer Skizze eines Leitbildes für einen transkulturellen Geschichtsunterricht weiter. Ausgehend von einem Verständnis der Geschichtsdidaktik als Kulturwissenschaft schlagen sie die Ausrichtung des historischen Lernens an den kulturellen Selbstverortungen der Lernenden und an einem transkulturellen, prozesshaften Kulturkonzept vor, indem kulturelle Verflechtungen und Kontingenzerfahrungen im Unterricht bearbeitet, also eine »transkulturelle Dimension von Geschichte« sowie eine »historische Dimension von Transkulturalität«16 aufgezeigt werden. Teil einer als Ziel von Geschichtsunterricht auszubildenden transkulturellen historischen Orientierungskompetenz könnte dann sein, die Schüler/innen zu befähigen Identitäten als hybrid, multidimensional und in Abhängigkeit von ihren historischen Referenzpunkten zu denken. Wie hier bereits skizziert wurde, bieten die in der Geschichtsdidaktik diskutierten Ansätze hierfür möglicherweise bereits dienliche, unterrichtspraktische Hinweise zu geeigneten Methoden, didaktischen Prinzipien, Themen und Lernzielen. Die bisher vorliegenden Unterrichtsvorschläge17 bleiben jedoch zumeist bei einem kulturvergleichenden Ansatz stehen. Es bleibt also zu fragen, welche der hier vorgestellten Überlegungen, auch zum interkulturellen Lernen, für transkulturelle Lernarrangements übernommen oder modifiziert werden Wiesbaden 2013, S. 15–35. Vgl. auch: Paul Mecheril: Pädagogik der Anerkennung. Eine programmatische Kritik. In: Franz Hamburger/Tarek Badawia/Merle Hummrich (Hrsg.): Migration und Bildung. Wiesbaden 2005, S. 311–328. 15 Vgl. Marc Ullrich/Martin Lücke: Transkultureller Geschichtsunterricht. Neues Leitbild für die Konzeption historischer Lehr- und Lernprozesse? In: Psychosozial, 37, 2014, H. 136, S. 11–22. 16 Ebd., S. 19. 17 Vgl. Georg Wagner-Kyora/Jens Wilczek/Friedrich Huneke (Hrsg.): Transkulturelle Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2008.
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können. Die zuvor skizzierten Vorschläge sollten nun weiter entwickelt und in praktikable Unterrichtsleitlinien oder -vorschläge umgesetzt und empirisch überprüft werden. Es muss weiterhin gefragt werden, ob und wie Lehrpersonen die Ideen für einen inter- bzw. transkulturellen Geschichtsunterricht vielleicht bereits praktizieren und wie sie sie bewerten.
2.2
Wie denken Lehrende ihren (Geschichts-) Unterricht und wie wirken sich ihre Beliefs auf die Unterrichtsstrukturierung und die Stoffauswahl aus?
Das Professionswissen von Lehrpersonen18 wird als eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreichen Unterricht diskutiert19 – wie aber ist es konstituiert und welche Kompetenzen benötigen Lehrer/innen, um der ganz unterschiedlich bedingten Heterogenität ihrer Klassen gerecht werden zu können? Lehrer/innen denken und konzipieren ihren Unterricht im Rückgriff auf gesteuert und ungesteuert erworbene Wissensbestände, mittels der Synthetisierung fachdidaktischen, fachwissenschaftlichen und pädagogischen Wissens. Geläufige Modellierungen des Lehrer/innenwissens systematisieren zudem Wissen über die Philosophie des Faches und das Curriculum. Die Wechselwirkungen und Dominanzen zwischen diesen Wissensbereichen sind nicht einheitlich zu fassen, jedoch scheint das Fach wesentlich die Einzelheiten der Unterrichtgestaltung zu bestimmen.20 Dabei werden die Studieninhalte im Zuge der Berufspraxis immer weniger wirksam, stellte Anton Haas21 für das Planungshandeln fest. Diese Ergebnisse korrespondieren mit den professionstheoretischen Überlegungen zur Festigkeit von praxisgeneriertem Wissen. Diethelm Wahl wies in einer unter18 Vgl. Andreas Frey : Kompetenzmodelle und Standards in der Lehrerbildung und im Lehrerberuf. In: Ewald Terhart/Hedda Bennewitz/Martin Rothland (Hrsg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf. Münster, Westf. 2014, S. 712–744. 19 Vgl. Jürgen Oelkers: »I wanted to be a good teacher …« Zur Ausbildung von Lehrkräften in Deutschland. Berlin 2009. Auch in der Metastudie von John Hattie finden sich Hinweise auf Bestandteile der Professionskompetenzen von Lehrenden, die sich für eine lernförderliche Konzeption des Unterrichts positiv auswirken. 20 Vgl. Jürgen Baumert/Mareike Kunter : Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9 (2006), H. 4, S. 469–520, hier S. 492. Genannt werden die Sequenzierung sowie die Anordnung von Inhalten, also dezidiert fachdidaktisches Wissen. Die Überlegungen von Baumert/Kunter beziehen sich hauptsächlich auf das Fach Mathematik, jedoch beschreiben die Autoren auch für andere Fächer einen Zusammenhang zwischen fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Kompetenz. Zur Struktur des Lehrer/innenwissens wird hier das Modell der Wissensmodularisierung nach Lee Shulman (1987, zitiert nach Bromme 1992) und Bromme aufgegriffen. Siehe: Rainer Bromme: Der Lehrer als Experte. Zur Psychologie des professionellen Wissens. Bern 1992. 21 Vgl. Anton Haas: Unterrichtsplanung im Alltag. Eine empirische Untersuchung zum Planungshandeln von Hauptschul-, Realschul- und Gymnasiallehrern. Regensburg 1998.
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richtsbeobachtenden Untersuchung Anfang der 1990er Jahre22 nach, dass die subjektiven Theorien von Lehrer/innen nicht nur sehr individuell und über lange Jahre stabil, sondern auch für das konkrete Handeln in der Praxis wirksam sind. Für den Geschichtsunterricht weisen u. a. die Ergebnisse von Messner/Buff 200723, Sauer 201224 und Lücke/Barricelli 201325 darauf hin, dass Lehrpersonen ihrem eigenen Fachwissen, aber auch dem Vermitteln von systematischen Kenntnissen über die Vergangenheit selbst eine höhere Relevanz als der Förderung historischer Denk- und Arbeitsweisen beimessen. Im Hinblick auf die in Lehrplänen und in der Fachdidaktik genannten Ziele von Geschichtsunterricht ist dies ein Widerspruch, aber keine neue Erkenntnis: von Borries stellte bereits 1995 in seiner Studie zum Geschichtsbewusstsein Jugendlicher fest, dass für die Überzeugungen zu Lernzielen »ziemlich klare Verwerfungen zwischen Normen und Fakten« existieren: Im Unterrichtsalltag »lösen […] weitgehend ›Wissensaneignung‹ und ›Moralisieren gemäß Menschen- und Bürgerrechten‹« die zuvor von den Lehrenden benannten Bestandteile des Geschichtsbewusstseins, Fremdverstehen und »Gegenwartsfolgerungen«26, ab. Bedeutsam für die hier verfolgte Fragestellung ist außerdem der Befund, dass Geschichtslehrkräfte der Fähigkeit zum adäquaten Umgang mit Quellen und Darstellungen sowohl für die eigene Qualifikation als auch für die Vermittlung an Schüler/innen die größte Relevanz beimessen.27 Normativ formulierte die KMK bereits 2004 angesichts zunehmender Heterogenität als Anforderungen an Lehrer/innen in den Standards für die Lehrer/ innenbildung: 22 Vgl. Diethelm Wahl: Handeln unter Druck. Der weite Weg vom Wissen zum Handeln bei Lehrern, Hochschullehrern und Erwachsenenbildern. Weinheim 1991. Mit seiner Habilitationsschrift »Handeln unter Druck« wies Wahl nach, dass Lehrende für Handlungsentscheidungen in ihrer Alltagspraxis habituell und sehr viel vehementer auf ihre alltagsgenerierten Theorien zurückgreifen als auf wissensbasiertes Wissen. 23 Helmut Messner/Alex Buff: Lehrerwissen und Lehrerhandeln im Geschichtsunterricht – didaktische Überzeugungen und Unterrichtsgestaltung. In: Peter Gautschi/Daniel V. Moser/ Kurt Reusser/Pit Wiher (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 143–175. 24 Michael Sauer : Kompetenzen für Geschichtslehrer – was ist wichtig und wo sollte es gelernt werden? Ergebnisse einer empirischen Studie. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012), H. 5/6, S. 324–348. 25 Lücke, Martin; Barricelli, Michele: Diversity, Sozialisation und professionelles Selbstbild von Geschichtslehrkräften. In: Popp, Susanne u. a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Nationale und internationale Perspektiven (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, 5). Göttingen 2013, S. 117–130. 26 von Borries 1995 (wie Anm. 6), S. 302. 27 Sauer 2012 (wie Anm. 24). Was unter diesem »adäquaten Umgang« verstanden werden soll, ergründet mein Dissertationsprojekt anhand der Beliefs der Lehrer*/innen mein Dissertationsprojekt.
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»Die Absolventinnen und Absolventen […] kennen etwaige Benachteiligungen von Schülerinnen beim Lernprozess und Möglichkeiten der pädagogischen Hilfen und Präventivmaßnahmen […], kennen interkulturelle Dimensionen bei der Gestaltung von Bildungs- und Erziehungsprozessen […], beachten die kulturelle und soziale Vielfalt in der jeweiligen Lerngruppe […].«28
Dennoch bemängeln Axinja Hachfeld u. a. 2012, es gebe noch immer »kein umfassendes Modell der Kompetenzen, über die Lehrende im Kontext von wachsender kultureller Heterogenität verfügen müssen«29 und ergänzen das Modell der professionellen Kompetenz von Lehrkräften aus der Studie COACTIV30 um Kompetenzbereiche und -facetten für das Unterrichten von Kindern mit sogenanntem Migrationshintergrund. Lehrpersonen benötigen folglich nicht nur spezifische Kompetenzen, um ihren Unterricht für vielfältige Lerngruppen gestalten zu können. Auch die Vorstellungen von Lehrer/innen wirken auf die Unterrichtsplanung und die unterrichtlichen Handlungsentscheidungen. Wie gestaltet sich nun die Praxis des Geschichtsunterrichts in der vielfältigen Gesellschaft, welche dieser theoretischen Überlegungen haben Lehrer/innen antizipiert oder in ihrer Handlungspraxis erfahren? Bisher gibt es nur wenige empirische Ergebnisse zu der Praxis von Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Heterogenität und kultureller Vielfalt. Ist zu vermuten, dass die Überzeugungen von Lehrer/innen über das Fach die Auswahl ihrer Lernziele und/oder Unterrichtsgegenstände vorstrukturieren, wenn nicht sogar entscheidend bestimmen? Mehr noch: Kann nachgewiesen werden, dass Lehrpersonen eigene Deutungen und Wertungen in den Geschichtsunterricht hineintragen und somit die Urteilsbildung der Lernenden begrenzen? Von Borries beschreibt dies als »Lehrereffekt«31 und stellt für diesen fest: »Das Geschichtsbewußtsein der Jugendlichen hängt keineswegs substantiell von den weltanschaulichen und methodischen Vorlieben der einzelnen Lehrpersonen ab.«32 Trotzdem findet er wichtige Hinweise auf mögliche
28 Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16. 12. 2004. In: Erziehungswissenschaft 16 (2005), Heft 31, S. 36–50, hier : S. 43. 29 Axinja Hachfeld u. a.: Multikulturelle Überzeugungen. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 26 (2012), H. 2, S. 101–120, hier S. 103. Die benannten Kompetenzbereiche sind Vorurteile, kulturelle Überzeugungen, Enthusiasmus und Selbstwirksamkeit. 30 Vgl. Baumert/Kunter 2006 (wie Anm. 19) sowie Jürgen Baumert/Mareike Kunter : Das Kompetenzmodell von COACTIV. In: Werner Blum et al. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster 2011, S. 29–53. 31 von Borries 1995 (wie Anm. 6), S. 371. 32 Ebd., S. 339. Dies sind nur einige Ergebnisse, die aus dem Lehrerfragebogen zur Hauptstudie hervorgehen. Hinsichtlich der verwendeten Kategorien wie Lehr-Lernkonzepten, Schulbucharbeit, Lernziele sowie fachwissenschaftliche und fachdidaktische Überzeugungen und Einstellungen und hinsichtlich des Geschichtsbewusstseins der Lehrenden liefert die Studie
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Prinzipien eines für vielfältige Lebenswelten bedeutsamen Geschichtsunterrichts: So begünstige eine »Orientierung der Lehrenden auf Problemlösungstraining […] den Bildungswunsch der Lernenden«33, die Schülerorientierung der Lehrperson fördere den Aufbau von Wissen und Können ebenso wie den Bildungswunsch und lasse die befragten Schüler/innen eher für Toleranz und Gewaltlosigkeit optieren. Für die Beliefs der Lehrpersonen sind zudem systemische Bedingungen relevant. Lehrer/innen unterliegen wie auch das Schulsystem einem ›leitkulturellen Habitus‹. Rudolf Leiprecht beschreibt das deutsche Bildungssystem in dieser Hinsicht als »Normalisierungsmacht«.34 Dieser ›leitkulturelle Habitus‹ kann auf die Gestaltung des Fachunterrichts wirken. Lehrer/innen sind offenbar zu nicht geringem Ausmaß der Auffassung, dass im Geschichtsunterricht – und zwar stärker als sie dies dem Lehrplan und den Richtlinien beimessen – den Schüler/ innen »eindeutige Werte und Orientierungen« vermittelt und sie bisweilen auf »einlinige Darstellung und dogmatische Urteile«35 festgelegt werden müssten. Dieser Befund von v. Borries/Meyer-Hamme steht im Widerspruch zur ebenfalls in dieser Studie nachgewiesenen großen Zustimmung der Lehrer/innen zu der Aufgabe, im Geschichtsunterricht die Schüler/innen zu einem eigenen kritischen Urteil und zu dem Umgang mit pluralen Deutungsangeboten zu befähigen. Den aktiven Einbezug ihrer Schüler/innen in die Planung und Gestaltung des Geschichtsunterrichts lehnten die Befragten ab, obwohl sie der Überzeugung waren, Geschichtsunterricht müsse auf die außerschulischen Vorlieben36 der Lernenden Rücksicht nehmen und auch unterschiedliche Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein zulassen. Die Autoren vermuten hier, dass die Probanden entweder
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insgesamt eine Fülle von Daten und Interpretationen, die für mein Projekt trotz der mittlerweile großen zeitlichen Distanz interessant sind. Ebd., S. 371. Hierin manifestiere sich ein gesellschaftliches Konzept. Vgl. Rudolf Leiprecht; Helma Lutz: Intersektionalität im Klassenzimmer : Ethnizität, Klasse, Geschlecht. In: Rudolf Leiprecht; Anne Kerber (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Ein Handbuch (Politik und Bildung. Band 38). Schwalbach/Ts. 2006, S. 218–234, hier : S. 218. Von Borries/Meyer-Hamme fragten 2004 im Rahmen von FUER Lehrpersonen nach ihren Gewohnheiten der Schulbuchnutzung sowie nach einer Bewertung der verwendeten Lehrpläne, versuchten aber auch Begründungen für Geschichtsunterricht und die zugrundeliegenden Beliefs hinsichtlich der Ausrichtung von Geschichtsunterricht auf Wertevermittlung und Orientierungen zu rekonstruieren. Die Ergebnisse sind beschrieben bei: Bodo von Borries/Johannes Meyer-Hamme: Lehrervorstellungen und Lehrerüberzeugungen zu Richtlinien und Lehrplänen des Faches Geschichte. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Lehrplanforschung. Methoden – Analysen – Perspektiven. Münster 2004 (Zeitgeschichte, Zeitverständnis, Bd. 12), S. 235–249, hier : S. 246f. Vgl. ebd., S. 246. Hier wurden Buntheit, Abenteuerlichkeit und Gewaltfaszination genannt.
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»aus pädagogischen Gründen im Fach Geschichte etwas mehr ›moralisieren‹ und dadurch ›erziehen‹ wollen […] oder eine Einsicht (ein Verdacht) in die begrenzte Vermittelbarkeit multiperspektivisch-kontroverser Geschichtsbetrachtung – schon im Jugendalter – zugrunde liegt, aufgrund derer die berechtigte Forderung nach Reflexivität nicht ständig global erhoben werden kann, sondern durch eine feinere Stufung der Methodenkompetenz erst erarbeitet und eingelöst werden muß.«37
Diese widersprüchlichen Befunde sollen im Rahmen meiner Untersuchung anhand eines qualitativen Vorgehens in ihren Zusammenhängen und Ausprägungen tiefer ergründet werden. Es drängt sich die Frage nach den Grenzen der Multiperspektivität auch hinsichtlich der durch sie implizierten Offenheit auf, beispielsweise für die Deutungen der Lernenden oder die im Unterricht genutzten Darstellungen. In einer 2006 von Rainer Ohliger, Viola Georgi u. a.38 für die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft durchgeführten Befragung nahmen die Lehrer/innen zwar Migration als thematisch wichtigen Faktor für ihren Unterricht wahr, setzten dies aber kaum didaktisch39 um. Die Erfahrungsebene der Schüler/ innen aus eingewanderten Familien war ihnen dennoch wichtig und für ihren Unterricht bedeutsam. Schüler/innen, die selbst aus eingewanderten Familien stammen, galten vielen Lehrenden offenbar als vermeintlich Autochthone und somit qualifiziert als Expert/innen in Fragen zu Migration und für die ihnen zugeschriebenen Herkunftsräume. Die Studie von Ohliger u. a. fragt jedoch nicht nach den Überzeugungen derjenigen wenigen Praktiker/innen, die anhand des globalgeschichtlichen Ansatzes oder des Prinzips der Multiperspektivität arbeiten. Deutlich wurde, wie stark der öffentliche Diskurs über Migration und Integration, hier besonders anhand der Thematisierung von Islamismus und Islamophobie, in den Politik-, aber auch in den Geschichtsunterricht hinein wirkt, während gleichzeitig lediglich ein Viertel der befragten Lehrenden angibt, Migration habe den Unterricht verändert. Hier könnte eine Deutung von Migration als ›Bereicherung‹40 vorliegen, entstanden möglicherweise aus einer sozialen Erwünschtheit des Topos in bestimmten Gruppen. Ob und wie sich eine 37 Ebd., S. 246. 38 Vgl. Rainer Ohliger u. a. (Hrsg.): Integration und Partizipation durch historisch-politische Bildung. Stand – Herausforderungen – Entwicklungsperspektiven. Berlin 2006. Online verfügbar unter http://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Publika tionen/Studien/2006_migration.pdf, aufgerufen am 02. 07. 2013. 39 Ohliger arbeitete 2009 als Vorschlag eine »Multiperspektivität zweiter Ordnung« aus, die als didaktischer Zugang strukturell für die Einwanderungsgesellschaft unter Einbindung der vielfältigen Blickwinkeln ihrer Akteure/innen geeignet sein soll. Vgl: Ohliger 2009 (wie Anm. 12), hier : S. 125. 40 Deuble, Konrad und Kölbl beschreiben einen ähnlichen Befund. Siehe: Lena Deuble/Lisa Konrad/Carlos Kölbl: Das Prinzip Interkulturelles Frühstück. Empirische Erkundungen im Geschichtsunterricht? In: Psychosozial, 37, 2014, H. 136, S. 23–39.
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Erwünschtheit auf das Unterrichtskonzept der Lehrer/innen auswirkt, bleibt zu fragen. Andere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Lehrpersonen scheinbar eigene Migrationsgeschichten für förderlich im Umgang mit der Vielfalt der Lernenden halten.41 In einem kleineren Projekt von Martin Lücke und Michele Barricelli42 wird die Hypothese zugrunde gelegt, dass »kulturell vielfältige Lehrpersonen« nicht nur »in einer allgemeinpädagogischen Hinsicht […] differenzsensibel« seien, sondern selbst auf ein besonderes Hintergrundwissen zurückgreifen und somit ihr fachdidaktisches Wissen im Hinblick auf vielfältige Lerngruppen reflektieren könnten. Dies käme dann vor allem bei der Auseinandersetzung mit historischen Themen und Fragestellungen, aber auch bei der Auswahl und Strukturierung der Gegenstände im Geschichtsunterricht zum Tragen. Auch wenn noch keine umfassende Modellierung professionsbezogener Kompetenzen von Lehrer/innen oder ein fachdidaktisches Konzept für den Geschichtsunterricht in kulturell vielfältigen Lerngruppen mit dem Ziel der Befähigung für transkulturelle Lebenszusammenhänge vorliegt, so können doch einige hilfreiche Hinweise aus bereits vorliegenden Forschungsarbeiten herangezogen sowie entscheidende Lücken aufgezeigt werden. Die Beliefs der Lehrer/innen über diesen Geschichtsunterricht zu ergründen scheint in zweierlei Hinsicht sinnvoll: Einerseits sind die Beliefs von Lehrpersonen wirksam für ihre Unterrichtskonzeption und andererseits kann die Genese und Verfasstheit der Beliefs in Aus-, Fort- und Weiterbildung als Instrument der Unterrichtsentwicklung bearbeitet werden. Neben einer Veränderung der Unterrichtsvorgaben und Lernmittel wäre also zur Unterrichtsentwicklung im Hinblick auf vielfältige Lerngruppen in einer globalisierten, pluralen Gesellschaft eine spezifische Professionalisierung der Lehrpersonen angezeigt. Ob Lehrende diesen Bedarf in ihrer Praxis selbst bereits identifizieren, soll in Kapitel 4 gefragt werden.
3.
Das Untersuchungsdesign und die Konstruktion des Sample
Die hier vorgestellte Untersuchung zielt auf die Beliefs der Lehrer/innen über Geschichtsunterricht in der und für eine vielfältige (Migrations-)Gesellschaft. Beliefs werden kommunikativ ausgehandelt, sie sind also nicht hermetisch und 41 Dies legte bereits eine Studie von Viola Georgi nahe: Viola B. Georgi u. a.: Vielfalt im Lehrerzimmer. Selbstverständnis und schulische Integration von Lehrenden mit Migrationshintergrund in Deutschland. Münster 2011. 42 Lücke/Barricelli 2013 (wie Anm. 25), S. 117. Die Ergebnisse sind, wenngleich sie spannende Hinweise bieten, nicht valide. Die Autoren vermuten selbst ein extremes Konvenienz-Sample. Interviewt wurden 52 Studierende der Fächer Geschichte im Lehramt sowie Public History an der FU Berlin.
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eigen, sondern sowohl sozial bedingt als auch individuell konstruiert. Sie sind beeinflusst vom öffentlichen Diskurs und unterliegen Erwünschtheit oder Tabuisierung. Hier setzt die Wahl der Erhebungsinstrumente in diesem Projekt an: Zunächst sollen mittels Gruppendiskussionen kollektive Orientierungen und Beliefs in ihrer sozialen Situiertheit erhoben werden. Weil jedoch zu vermuten ist, dass in den Gruppendiskussionen die individuellen Ausprägungen von kollektiven Strukturen überlagert sein können43, sollen in einer späteren Erhebung Einzelinterviews als ein geschützterer Äußerungsraum dienen. Es soll versucht werden, aus den Beschreibungen der Lehrer/innen ihre Erlebnisse in der Handlungspraxis beschreiben, ihre Beliefs sowie die durch die Beliefs vorstrukturierten Handlungsmuster zu rekonstruieren. Weiterhin lässt das methodische Design zu, dass fachwissenschaftliches sowie fachdidaktisches Wissen in den Erzählungen berichtet werden kann.44 Beliefs sind hoch wirksam für die professionelle Praxis und können gezielt erworbenes professionelles Wissen überlagern. Wie mit der dokumentarischen Methode die Rekonstruktion von Handlungskompetenz in Gruppendiskussionen möglich ist, haben Barbara Asbrand und Matthias Martens 200945 aufgezeigt und methodologisch begründet. Die dokumentarische Methode macht das implizite, handlungsleitende Wissen der Akteur/innen zugänglich: »Die Rekonstruktion der Handlungspraxis zielt insbesondere auf das dieser Praxis zugrundeliegende habitualisierte und z. T. inkorporierte Orientierungswissen, welches dieses Handeln relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn strukturiert.«46
Leitend für die Auswertung ist somit die Unterscheidung zwischen dem immanenten und dem dokumentarischen Sinn. Das Gesagte, Berichtete, Erzählte, 43 Gruppendiskussionen sind keinesfalls, dies ist spätestens seit den 1960er Jahren Konsens, als Summe der Einzelmeinungen ihrer Diskutantinnen aufzufassen. Werner Mangold stellte fest, dass in Gruppendiskussionen bereits konsensualisierte Gruppenmeinungen aktualisiert werden, nachdem er zuvor davon ausgegangen war dass Gruppenmeinungen als Ergebnis von Interaktion entstehen. Vgl. hierzu: Werner Mangold: Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens. Frankfurt a.M. 1960. Sowie: Werner Mangold: Gruppendiskussionen. In: Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 2. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1973, hier: S. 240. 44 Selbstverständlich hat diese Erhebung dabei nicht das Testen von Wissen, sondern zunächst eine Bestandsaufnahme des Spektrums zum Ziel. Sie soll nach möglichen Zusammenhängen fragen zwischen Professionalisierung und Einstellungen, zwischen eigenen Überzeugungen und der Perspektive auf den Unterrichtsgegenstand und die Schüler/innen. 45 Vgl. Matthias Martens/Barbara Asbrand: Rekonstruktion von Handlungswissen und Handlungskompetenz – auf dem Weg zu einer qualitativen Kompetenzforschung. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung 10 (2009), H. 2, S. 201–222, hier insbesondere S. 213f. 46 Ralf Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 5. Aufl., Opladen 2003, S. 40.
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das Thematische muss nach Ralf Bohnsack47 von dem unterschieden werden, was sich in den Äußerungen der Proband/innen über die Gruppe, ihre Orientierungen, ihren Habitus dokumentiert48 – also wie ein Thema durch sie und in welchem Rahmen es behandelt wird.49 Der Orientierungsrahmen zeige sich erst vor einem Vergleichshorizont50 anderer Gruppen und ihrer Verhandlung eines bestimmten Themas oder Problems. Die dokumentarische Methode unterscheidet in ihrer Analyse zwischen konjunktivem, milieuspezifischem und kommunikativem, gesellschaftlichem Wissen. Beide sind – so die Annahme – in Kommunikation manifest. Diese Unterscheidung schlägt sich in zwei voneinander getrennten Arbeitsschritten nieder : der formulierenden und der reflektierenden Interpretation. Die formulierende Interpretation umfasst mehrere Arbeitsschritte und verbleibt im Relevanzsystem der Akteur/innen. Es wird eine thematische Gliederung des Materials versucht, die zunächst übersichtsartig zusammengefasst und dem Forschungsstand gegenübergestellt wird. Die reflektierende Interpretation rekonstruiert jenseits der thematischen Struktur die formale Struktur der Äußerungen, also die Diskursorganisation, und fragt, wie die Diskutierenden aufeinander Bezug nehmen, aber auch wie die Themen durch die Diskutieren47 Vgl. Ralf Bohnsack: Gruppendiskussionsverfahren und dokumentarische Methode. In: Heike Boller u. a. (Hrsg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. 3., vollst. überarb. Aufl. (Neuausg.). Weinheim [u. a.] 2010. S. 205–218, hier : S. 213. »Das was gesagt (…) wird, also das, was thematisch wird, gilt es, von dem zu trennen, was sich in dem Gesagten über die Gruppe dokumentiert – über deren Orientierungen oder Habitus.« Ralf Bohnsack: Gruppendiskussion. In: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek 2000, S. 369–383, hier S. 383. 48 Meuser beschreibt die dokumentarische Methode als besonders geeignetes Analyseinstrument für die Habitusrekonstruktion. Vgl.: Michael Meuser : Repräsentation sozialer Strukturen im Wissen. Dokumentarische Methode und Habitusrekonstruktion. In: Ralf Bohnsack/Iris Nentwig-Gesemann/Arnd-Michael Nohl (Hrsg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. 3. Aufl., Wiesbaden 2013, S. 223–239. 49 Dies wird als die Unterscheidung von Was und Wie im Analysevorgang u. a. bei Asbrand beschrieben. Vgl. Barbara Asbrand: Dokumentarische Methode. Online verfügbar unter http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/wp-content/uploads/2010/07/asbrand_dokumentarische_ methode.pdf.pdf, aufgerufen am 07. 10. 2013. 50 »Die Vergleichshorizonte entstammen zunächst dem Erfahrungshorizont des Interpreten und verweisen auf deren eigene kollektive Handlungspraxis. Im Laufe eines Forschungsvorhabens jedoch werden diese Vergleichshorizonte systematisch durch empirische ersetzt, indem in komparativer Analyse […] verglichen wird, wie die verschiedenen Gruppen dasselbe Thema unterschiedlich behandeln.« Peter Loos/Burkhard Schäffer : Das Gruppendiskussionsverfahren. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendung. Opladen 2001 (Qualitative Sozialforschung, Bd. 5), hier : S. 63. Nach Bohnsack (Vgl. u. a. Bohnsack 2003, S. 137.) ist der Fallvergleich das zentrale Moment der dokumentarischen Methode, hier finden die eigentliche Analyse und die Rekonstruktion statt. Der Fallvergleich ermöglicht außerdem den Bezug zu anderen Horizonten als denjenigen der Interpretierenden und gewährleistet somit die Intersubjektivität der Interpretationsergebnisse.
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den bearbeitet werden.51 Die Ergebnisse dieser Arbeitsschritte werden in Kapitel 4 für zwei ausgewählte Stellen aus den Gruppendiskussionen im Fallvergleich präsentiert. Die dokumentarische Methode nimmt die Differenz von Theorien über Handlungspraxis und die Handlungspraxis selbst zum Ausgangspunkt ihrer Sinnrekonstruktion. Grund für dieses Vorgehen ist die Annahme, dass sich in der Art und Weise, wie die Gruppe Themen diskutiert, diejenigen habitualisierten, impliziten Orientierungen dokumentieren, die in den konjunktiven Erfahrungen der Diskussionsteilnehmer/innen begründet liegen. Im Falle dieser Untersuchung sind dies die im gemeinsamen Alltag der Lehrer/innen begründeten, sozial geteilten, im konjunktiven Erfahrungsraum52 Schule im Laufe der beruflichen Sozialisation erworbenen und habitualisierten Orientierungen. Um trotz des ›entdeckungslogischen‹ Vorgehens für die Zusammensetzung der Stichprobe die Gütekriterien der Varianz und Homogenität einzuhalten, wurden Lehrer/innen mit unterschiedlicher Ausbildung, Fakultas und Berufserfahrung (Varianz) in ihrer natürlichen professionellen Umgebung des Realkollegiums (Homogenität) beforscht.53 Im Sinne der Grounded Theory erfolgte ein gezieltes Sampling in Anlehnung an das bei Barney Glaser und Anselm Strauss vorgeschlagene Theoretical Sampling54. Das Sample wird nach Erkenntnisinteresse und Vorkenntnissen55 über den Gegenstand strukturiert, die 51 Damit dieser Schritt valide und somit methodisch kontrolliert vollzogen werden kann, sind Fallvergleiche und die Diskussion der Ergebnisse in Forschungswerkstätten notwendig. Die hier vorgestellten Ergebnisse stellen einen Werkstattbericht dar und bedürfen noch weiterer Fallvergleiche und kommunikativer Validierung. 52 Vgl. Ralf Bohnsack: Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus. In: Karin Schittenhelm (Hrsg.): Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung. Wiesbaden 2012, S. 119–153. Hier : S. 122, im Rückgriff auf Karl Mannheim: Strukturen des Denkens. Frankfurt a.M. 1980. S. 220. 53 Ähnlich wählt für die Untersuchung des Planungshandelns von Lehrer/innen Haas 1998 (wie Anm. 21) aus: Hier erfolgte eine Differenzierung der Stichprobe u. a. nach Alter bzw. Berufsjahren sowie Fortbildungsverhalten. Vgl. zum Sampling auch Uwe Flick: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Vollst. überarb. und erw. 5. Neuausgabe 2012. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 154f. 54 Theoretical Sampling meint sowohl das Verfahren für die Auswahl von Fällen und Daten für die Erhebung als auch die Analyse anhand von Fragestellung und Vorkenntnissen der Forschenden. Vgl. Barney G. Glaser/Anselm L. Strauss: The discovery of grounded theory. Strategies for qualitative research. Chicago 1967. Sowie Barney G. Glaser/Anselm L. Strauss: Grounded theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern u. a. 1998. 55 Diese Einsicht ist so banal wie bedeutend: Weder Theorien noch empirisch fundierte analytische Aussagen emergieren aus dem Material. Sie werden von Forschenden erzeugt, anhand ihrer Kenntnis des Gegenstands. Die Vorannahmen verzerren jedoch die Wahrnehmung des Gegenstands und müssen darum im Analyseprozess expliziert und kritisiert werden, wie hier anhand der Diskussion des Forschungsstands geschehen. Glaser/Strauss 1998 (wie Anm. 5454), S. 51f. beschreiben eine theoretische Sensibilität, die es den Forschenden ermöglicht, ihren Gegenstand wie durch eine fokussierende Linse zu betrachten.
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Auswahl der Fälle im Verlauf der Analyse angepasst. Die Erhebung findet, begrenzt durch einen Eingangsimpuls, offen im Sinne der Entdeckungslogik statt.
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Erste Ergebnisse: Themen und Didaktische Prinzipien für einen Geschichtsunterricht in der Gesellschaft der Vielfalt
Bei den beiden ausgewählten Fällen handelt es sich jeweils nur um einen einzelnen Teilaspekt, der hier exemplarisch vorgestellt wird. So können die zuvor angestellten Überlegungen zur Rekonstruktion von Beliefs anhand der dokumentarischen Methode veranschaulicht und ein Ausblick auf zwei in diesen Fällen als wirkmächtig identifizierte Themen sowie möglicherweise geteilte Orientierungen gegeben werden. Anhand der beigefügten Ausschnitte aus den Gruppendiskussionen sind die nachfolgenden Rekonstruktionen nachvollziehbar. Sie werden darum zunächst jeweils kurz in den Diskussionsverlauf eingeordnet, in einer Diskursbeschreibung zusammengefasst und dann hinsichtlich geteilter oder unterschiedlicher Gruppenorientierungen diskutiert. Grundlage für die Auswahl sind die thematischen Verläufe. Sie geben zunächst einen systematisierten Überblick über das wieder, was in den bisher bearbeiteten sechs Fällen thematisch wurde. Darauf folgt eine Analyse der zwei ausgewählten Stellen zu den Bereichen »Themen im Geschichtsunterricht« sowie »Didaktische und methodische Unterrichtsgestaltung«. Identifizierte thematische Bereiche56 nach dem bisherigen Stand der Analysen: a) Räumliche Öffnung: Osmanisches Reich, Zerfall Jugoslawiens, Sudan b) Personen: Süleyman der Prächtige, Atatürk c) Globalgeschichte
Kelle/Kluge beschreiben die Nutzbarkeit des Vorwissens im Forschungsprozess und plädieren für eine Aufarbeitung des Forschungsstandes im Voraus, auch wenn die Forschenden hier mit definitiven, präzisen Konzepten in Berührung kommen. Vgl.: Udo Kelle/Susann Kluge (Hrsg.): Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. 2., überarbeitete Aufl. Wiesbaden 2010, S. 28f. 56 Die Unterrichtsinhalte lassen sich zunächst im Rückgriff auf die Arbeiten von Bettina Alavi systematisieren, die Tauglichkeit dieser Systematik wird im weiteren Verlauf der Analysen immer wieder überprüft werden. Siehe: Alavi 1998 (wie Anm. 4), S. 241f.
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Genannte didaktische Zugriffe bzw. Unterrichtsprinzipien57: a) Kontrastierung b) Multiperspektivität58 c) Lebensweltbezug d) Gegenwartsbezug e) ›Verflechtungsgeschichte‹ Genannte geeignete Methoden: a) Handlungs- und produktionsorientierte Arbeitsformen b) Projektarbeit c) Referate Von den Lehrer/innen genannte Notwendigkeiten für Veränderungen im Geschichtsunterricht: a) Geringes Interesse der Schüler/innen an einem germano- und eurozentrierten Geschichtsunterricht b) Hintergründe59 der Schüler/innen einbeziehen c) Interessen60 der Schüler/innen bedienen Die von den Lehrer/innen vermuteten Lernpotenziale: a) Befähigung, als mündige/r Bürger/in in einer globalisierten, vielfältigen Welt zu leben b) Reflektierte Identitätsbildung befördern c) »Migrantische« Schüler/innen lernen deutsche Geschichte kennen und finden sich dann in Deutschland besser zurecht d) Begegnung mit dem Fremden und Relativierung des Eigenen e) Perspektivenübernahme lernen Herausforderungen für den Unterricht: a) Sprachkompetenz für den Umgang mit Quellen b) Deutungskonflikte – Wirkung der eigenen Standortgebundenheit für Sachund Werturteilsbildung
57 Vgl.: Sauer 2012 (wie Anm. 24). 58 Vgl. Klaus Bergmann: Multiperspektivität. Geschichte selber denken. Schwalbach/Ts 2000. S. 29f. 59 Die vermuteten ›Hintergründe‹ sind anhand von vermeintlicher Herkunft begründete Zuschreibungen der Lehrer/innen. 60 Diese Interessen sind von den Lehrer/innen berichtete Wünsche ihrer Schüler/innen.
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Wahrnehmungen der Lehrer/innen über ihre Schüler/innen: a) Multilingualismus b) Kulturelle Heterogenität c) Verortung der ›eigenen‹ Herkunftsgeschichte außerhalb der ›deutschen‹ Geschichte des Unterrichts d) Vielfältige und hybride Schüler/innenidentitäten
4.1
Vorstellung der Gruppen A und B anhand ihrer Diskursstrukturen
Anhand zweier ausgewählter Fallbeispiele soll nun eine Kontrastierung versucht werden. Zunächst folgen eine Beschreibung der Gruppen und der Diskursstrukturen sowie einige Hinweise zu Besonderheiten der Diskussionskultur. In Gruppe A zeigen sich streng genommen zwei Gruppen, die sich in Situationen mit nicht zu vereinbarenden Positionen voneinander abspalten und dann zunächst getrennt diskutieren. Es scheinen darüber hinaus in beiden Gruppen starke Hierarchien unter den Kolleg/innen zu bestehen, die auf der Berufserfahrung und den Funktionsstellen beruhen und sogar im Laufe der Diskussion expliziert werden. Auffällig ist für sämtliche bisher in diesem Projekt geführten Diskussionen61, dass die Diskutierenden dazu neigen längere Co-Referate zu halten, anstatt, wie zum Beispiel bei Gruppendiskussionen mit Schüler/innen in anderen Forschungsarbeiten62, aufeinander häufig Bezug zu nehmen. An einigen Stellen, vor allem aber bei Äußerungen, denen viele Teilnehmende nachdrücklich zustimmen oder aber bei konfligierenden Positionierungen, ist demgegenüber jedoch eine vergleichsweise höhere interaktive Dichte63 festzustellen. Die Auswahl des hier vorgestellten Materials erfolgte anhand dieser interaktiven Dichte, aber auch nach thematischer Vergleichbarkeit des Gesagten und der sich möglicherweise dokumentierenden Orientierungen. Gruppe A64 scheint in ihrer Handlungspraxis eine vielfältige Schüler/innenschaft zu erleben, ist jedoch in dieser Hinsicht wenig professionalisiert. An ihrer Schule gibt es einen hohen Anteil von Schüler/innen mit vermutlicher Migra61 Zum Zeitpunkt der Nachwuchstagung der KGD im Juli 2014 waren dies sechs Gruppendiskussionen in zwei Bundesländern. 62 Vgl. Matthias Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzen historischen Verstehens im Umgang mit Darstellungen von Geschichte. Göttingen 2010. S. 141–286. 63 Vgl. Bohnsack 2000 (wie Anm. 47), S. 376f. Nach Bohnsack deutet die häufige Bezugnahme, die hohe interaktive Dichte, auf eine thematische Relevanz für die Beteiligten hin. 64 Aufnahme der Diskussion im Dezember 2013, fünf Teilnehmende, Gymnasium in Berlin.
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tionsgeschichte65. Diese Schüler/innen werden von Gruppe A als die Fremden, Anderen wahrgenommen. Sie werden als eine sehr homogene Gruppe beschrieben, die den Lehrer/innen in ihrer kulturell und historisch begründeten Identitätskonstruktion unbekannt und wenig zugänglich zu sein scheint. Die Schüler/innen dieser Gruppe ordnen sich überwiegend, so beschreiben es die Lehrer/innen, einem gemeinsamen Herkunftsraum zu. Die Lehrer/innen beschreiben, dass sie in ihrer Handlungspraxis die Notwendigkeit verspüren, auf die Bedürfnisse ihrer Schüler/innenschaft zu reagieren, die sie zudem zunehmend als verändert gegenüber früheren Lerngruppen wahrnehmen. Es handele sich einerseits um eine Verschiebung der thematischen Interessen der Schüler/innen hin zu einem Bereich, den die Schüler/innen als ihren kulturellen und historischen Herkunftsraum oder zumindest als den ihrer Eltern oder Großeltern identifizieren und dessen Berücksichtigung sie für den Unterricht explizit wünschen und einfordern. Dies bedeute neben der thematisch-inhaltlich neuen Herausforderung für die Lehrer/ innen auch, didaktische Neuerungen gegenüber dem Angebot im Lehrplan und den verfügbaren oder bekannten Materialien zu entwickeln. Aus ihrer Handlungspraxis berichten die Lehrer/innen, dass mit handlungsorientierten Verfahren die Perspektivenübernahme besonders gut gelingt.66 Es werden von den Lehrer/innen veränderte Ansprüche an ihren Geschichtsunterricht auf unterschiedlichen Ebenen wahrgenommen, um diesen nachkommen zu können müssten sie als Lehrende jedoch fachwissenschaftlich wie didaktisch in besonderer Weise kompetent sein. Eine Lehrperson betont ihre Wahrnehmung von ›Vielfalt als Bereicherung‹, scheinbar meint sie damit die ›Vielfalt‹ auf Seiten der Schüler/innen anhand der ihnen zugeschriebenen oder selbstgewählten Herkunftskonstruktionen. Die unterrichtspraktische Wirksamkeit bleibt jedoch für die didaktische Unterrichtskonzeption auf der Stufe einer Thematisierung des Anderen, Fremden stehen: Die Schüler/innen werden von der Lehrperson angeleitet, Referate zu ihren so benannten ›Heimatländern‹ zu halten. In den Äußerungen der Lehrpersonen aus Gruppe A dokumentiert sich ein in der täglichen Arbeit wahrgenommener Handlungsdruck. Die Lehrer/innen fühlen sich ihm jedoch weder inhaltlich noch fachwissenschaftlich gewachsen und benennen ihnen besonders geeignet erscheinende didaktische Prinzipien 65 Identifiziert anhand des über die Schulstatistik erhobenen Merkmals »nicht-deutsche Herkunftssprache«, eine aufgrund der Erhebung per Selbsteinschätzung sowie wegen ihrer Wirksamkeit hinsichtlich der zugeschriebenen schlechteren Bildungserfolgschancen doppelt problematische, wenig aussagekräftige Kategorie. 66 Die Beschreibungen aus der Handlungspraxis zeigen hier wie auch an anderen Stellen im Material, dass diese Überzeugung der Lehrer/innen nicht als eine Reaktion auf die Situation der Gruppendiskussion erzeugt wurde.
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oder Methoden nicht explizit, umschreiben sie allenfalls mit Perspektivenwechsel oder Gegenwartsbezug. Dies könnte darauf hindeuten, dass sie dieses Wissen nicht gesteuert erworben, sondern aus ihrer Handlungspraxis abgeleitet haben. Die Vorstellungen von den Lernpotenzialen des Geschichtsunterrichts für die Migrationsgesellschaft können beschrieben werden als ein ›Lernen über deutsche Geschichte als Handlungs- und Orientierungswissen in der Alltagswelt‹. Die Gruppe teilt sich im Gesprächsverlauf wegen kontroverser Ansichten und diskutiert in der Folge für einige Minuten getrennt weiter. Hierin könnte sich ein grundlegender Unterschied im Professionsverständnis der Lehrer/innen in den Gruppen A und B manifestieren: Die Lehrpersonen in Gruppe A scheinen nicht im Team die Unterrichtsinhalte und -gestaltung zu besprechen, auch das Schulcurriculum scheint erneuerungsbedürftig zu sein. Ob es regelmäßige Teamsitzungen gibt, bleibt offen. An der Schule von Gruppe B gibt es einen wesentlich geringeren Anteil von Schüler/innen mit (vermuteter) Migrationsgeschichte. Gruppe B67 scheint wenig Notwendigkeit für eine Veränderung ihres Unterrichtskonzeptes aufgrund migrationsbedingter Vielfalt zu verspüren, macht aber dennoch den Eindruck dafür sehr professionalisiert zu sein. Ebenfalls geringer ist an dieser Schule der Anteil von Schüler/innen mit einer Lernmittelbefreiung, was auf gute sozioökonomische Situiertheit und Bildungsnähe hindeuten könnte. Die Lehrer/ innen scheinen gut zusammenzuarbeiten und sich regelmäßig über ihre Unterrichtsgestaltung auszutauschen. Von den Lehrenden in Gruppe B werden die Schüler/innen als eine vielfältige Gruppe beschrieben, der »Migrationshintergrund« werde sehr individuell und situationsgebunden bedeutsam. Die Lehrer/ innen beschreiben die Identitäten ihrer Schüler/innen nicht als fest, sondern als hybrid und je nach ihrem Bezugspunkt wechselnd ausgerichtet. In den Unterricht fließen diese identitätsbezogenen Äußerungen der Schüler/innen mehr oder weniger emotional aufgeladen ein. In Gruppe B berichten die Lehrer/innen von didaktischen Prinzipien wie Lebenswelt- oder Gegenwartsbezug, mittels derer sie ihren Unterricht ihrer Schülerschaft anpassen. Im Gegensatz zu Gruppe A ist ihr formulierter Anspruch nicht, Kenntnisse über Geschichte zur Orientierung in einer wie auch immer definierten westlichen Gesellschaft zu vermitteln, sondern an die als globalisiert zu beschreibende Lebenswelt der Jugendlichen anzuknüpfen und Geschichte jenseits von nationalen Kategorien als Verflechtungs- oder Globalgeschichte zu erzählen.
67 Die Aufnahme der Diskussion erfolgte im März 2014 mit fünf Teilnehmenden an einem Gymnasium in Berlin.
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4.2
Kontrastierung zweier ausgewählter Stellen: Themen und Lernpotenziale von Geschichtsunterricht in der Migrationsgesellschaft
Als Exempel wurden die hier vorgestellten Stellen anhand des Forschungsinteresses68, aber auch wegen der Relevanzsetzung der Diskutierenden ausgewählt. Was die Gruppen in den beiden ausgewählten Beispielen verhandeln, könnte möglicherweise ein Orientierungsrahmen für das Professionsverständnis als Geschichtslehrperson sowie für die Ziele des Geschichtsunterrichts sein und somit wirksam werden für die Handlungspraxis. Die ausgewählten Passagen geben vermutlich Hinweise auf die Beliefs der Lehrer/innen über die Entwicklung von Geschichtsunterricht sowie Überzeugungen zu Bildungs- und Erziehungszielen.69 Gruppe A bezieht sich über die gesamte Diskussion hinweg sehr stark auf die thematisch-inhaltliche Gestaltung des Geschichtsunterrichts und wie diese angesichts veränderter Schülerschaften und deren nicht als irgendwie deutscheuropäisch-abendländisch zu beschreibenden identifikatorischen Selbstverortungen und Interessen anders ausgewählt werden müssten. Es wird dann vornehmlich von Herkunftsräumen und -kulturen als Auswahlkriterien für historische Themen gesprochen. Nach dem Eingangsimpuls, wie sich Geschichtsunterricht für die Migrationsgesellschaft gestalten sollte, mutmaßen die Lehrer/innen über eine mögliche Öffnung des thematischen Spektrums des Rahmenplans anhand der den Schüler/innen zugeordneten Herkunftsräumen. Die Gruppe behandelt hier ein von mir heuristisch zunächst als Oberthema (OT) »Themen im Geschichtsunterricht« bezeichnetes Thema, in Verbindung mit dem Unterthema (UT) »Inhaltliche Gestaltung des Geschichtsunterrichts. Geschichte der ›Herkunftsländer‹ einbinden«. Die Lehrer/innen greifen die Einstiegsfrage wieder auf und entwickeln sie weiter. Hier dokumentiert sich ihr Verständnis von Geschichtsunterricht für die Migrationsgesellschaft: Dieser Geschichtsunterricht müsse an der ›Herkunftsgeschichte‹ der Schüler/innen ausgerichtet sein, die hier analog zur Zusammensetzung der Schülerschaft als Geschichte des türkisch-arabischen Kulturraumes verstanden wird. Als Beispiele werden die Geschichte der Kreuzzüge und des Osmanischen Reiches für den Unterricht als mögliche Themen genannt. Ob die Lehrer/innen dabei in die 68 Vgl. Arnd-Michael Nohl: Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden 2012. S. 40. 69 Innovieren und Erziehen sind originäre Aufgaben von Lehrer/innen, so benannt in der Ausbildungsordnung. Siehe u. a.: KMK Standards für die Lehrerbildung, 2004, S. 3. Die Bildungs- und Erziehungsziele, u. a. die Vermittlung von Werthaltungen sind im Berliner Schulgesetz in § 3 geregelt. Vgl.: Schulgesetz für das Land Berlin (Schulgesetz – SchulG). Vom 26. 01. 2004 (GVBl. Berlin 60.2004,4, S. 26ff.), zul. geänd. durch Gesetz vom 26. 03. 2014 (GVBl. Berlin 70.2014,7, S. 78ff.).
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A2w: Naja, zunächst mal geht es wahrscheinlich auch darum, noch ein paar andere Themen einzubeien, ne. die auch noch mal ein bisschen über das hinausgehen ähm,
11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Na son bisschen ist uns ja die Ethik da so dazwischen gekommen. die hat ja eigentlich ein paar Bereiche zumindest übernommen, oder sollte es übernehmen und auf Kosten von Stunden der Geschichte. also. ((Räuspern)) aber man müsste sich das glaube ich auch noch mal genauer durch- äh anschauen. (3) aber welche Fächer, äh, welche Themen zum Beispiel. also zum Beispiel Kreuzzüge.
A1m:
└ mhm
was wir bisher so im Rahmenplan haben, ein bisschen spezieller vielleicht fokussierter. was ja aber das allgemeine Phänomen betrig der (2) der vielen Themen des Rahmenplans und wie man den (2) oder die Rahmenpläne insgesamt anders gestalten könnte. aber in Bezug darauf jetzt vielleicht Fokussierung oder vielleicht noch mal ein bisschen mehr Themenauswahl, die an unseren Schülern näher dran sind. mit einbeziehen. das wäre sicherlich sinnvoll.
A2w Osmanisches Reich zum Beispiel. zum einen Thema wäre Osmanisches Reich. A5w:
A4m:
└ Hm. ja, genau.
└ ja
und eben auch in Beziehung zur geschichtlichen Entwicklung ähm, mit Europa, inwiefern da sie sich gegenseimg A4m:
└ mh
beeinflusst haben, welche Auswirkungen, und so weiter. wäre ein mögliches Thema. A4m ja, ja. das finde ich übrigens auch. auch vor allen Dingen das Osmanische Reich in seinen Nachwirkungen. A2w └genau┘ also bis quasi in den Balkan heute hinein. also, und und und. ganzen Miielmeerraum, letztendlich.
Beispiel 1, Gruppe A: Themen für die Migrationsgesellschaft Ausschnitt aus dem Diskussionstranskript der Gruppe A
oft beschriebene ›Kulturalisierungsfalle‹ treten, lässt sich an dieser Stelle ohne Kenntnis der Selbstzuschreibung der Schüler/innen nicht feststellen. Für Gruppe B gilt dies nicht, dort werden die Schüler/innen nicht als eine homogene Masse der Anderen oder der Fremden wahrgenommen, die dann thematisch außerhalb eines ›Deutschen Geschichtsunterrichts‹, wie er in den curricularen Vorgaben dem Verständnis der Lehrenden nach angelegt ist, bedient werden müssen. In dieser Sequenz wird zudem das Unterthema »Auswahlkriterium: Nähe zu den Schüler/innen« diskutiert. A2w ist eine fachfremd unterrichtende Lehrerin.
72
Anne Albers
Sie gibt hier in einer Anschlussproposition an A4m didaktische Hinweise. Für die Themenauswahl schlägt sie vor diejenigen auszuwählen, welche ›näher dran‹ sind an den Schüler/innen. Ungeklärt muss hier bleiben, ob damit als didaktische Zugriffe oder Prinzipien der Lebensweltbezug, Gegenwartsbezug oder eine thematisch-räumliche Orientierung an der »Herkunftsgeschichte« gemeint sind. In der folgenden Äußerung von A2w wird deutlich, dass sie eine Orientierung an einer wie auch immer fremd oder selbst zugeschriebenen Herkunftsgeschichte für sinnvoll befindet. Ob dies auch für den Lebensweltbezug gelten kann, wird nicht konkretisiert. A2w schlägt weiterhin die Beziehungs-/Verflechtungsgeschichte und das Aufzeigen historischer Kontinuitäten vor. 1 2
B2m: Also, ich denke wir werden auch in Geschichte demnächst fast nur noch vom Gegenwartsbezug ausgehen. ja. also, was ist für uns heute wichmg, ja,
3
B1m :
4 5
also, jetzt, Wir-Wirtschah ist wichmg, ja, und dann werden, wird die Wirtschah in ihrer Entstehung, in ihrer Problemamk als, in die Geschichte zurück:verwiesen
6
B3m:
7 8
und so wirds mit Migramon sein, ja, also, da findet man ja auch jede Menge Beispiele, aber man wird eher diese Teilaspekte dann behandeln und alles Andere weglassen, also, sowas wie die
9
B2m:
└ja┘
└mhm┘
└mhm┘
└alles schon voll ((lacht))┘
10 11 12
deutsche Einigung, also jetzt die im 19. Jahrhundert, interessiert ja sowieso keinen XY mehr, also da kann man noch mal zur Siegessäule gehen, oder so, aber damit hat sichs auch letzt-, ist ja auch für, hat ja insofern auch keine richmge Relevanz mehr, oder-
13
B1m: aber wenn du von '90 zurückgehst dahin, zum Beispiel? [unverständlich]
14 15 16
B2m: └dann, dann kanns wieder spannend sein, richmg, genau ja. also, es sind eher diese, ähm, diese Verbindungen, die dann irgendwie airakmv werden, ja, und ich glaube auch dass der Unterricht airaktiver wird.
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B1m:
18 19
ich finde dieses Marschieren durch die, durch die Jahrhunderte auch manchmal auch mühsam, ja. und auch irgendwie für mich langweilig, ja. ((pff)), jetzt musst du wieder durch diesen
20
((Gemurmel))
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wir haben jetzt ja zum Glück in der Oberstufe Zentralabitur, zum Glück setze ich jetzt mal in Anführungsstriche, ja, aber es bringt mich immerhin dazu, dass ich, äh, meine Unterrichtsplanung überdenke, ja. ich stelle andere Dinge ins Zentrum und gehe damit auch anders an die Dinge heran, als Früher, wo ich also auch da in der Regel immer wieder zum Schluss in dieser Chronologie gelandet bin ((lacht)), auch wenn ich es mir anders vorgenommen habe. also, das bietet schon mal neue Möglichkeiten und bricht das Ganze auf.
└ja┘
Beispiel 2, Gruppe B: Im Geschichtsunterricht für heute lernen Ausschnitt aus dem Diskussionstranskript der Gruppe B
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Die Lehrer/innen besprechen in dieser Sequenz ebenfalls ihre Vorstellungen von Geschichtsunterricht für eine Migrationsgesellschaft. Im Unterschied zur Gruppe A scheinen bei dieser Gruppe jedoch die Themen, der stoffliche Gehalt des Faches, nicht im Zentrum der Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung zu stehen. Die gemeinsam geteilte Orientierung scheint eine andere zu sein: Ausgehend vom Anspruch an ein Lernen im Geschichtsunterricht als Befähigung für das Leben und als Beitrag für eine reflektierte Identitätsbildung strukturiert die Gruppe ihre Überlegungen im Verlauf des Gesprächs. Dabei wird immer wieder implizit und explizit Bezug genommen auf das geschichtsdidaktische Prinzip des Gegenwartsbezugs. Durch diese Brille werden dann geeignete Themen identifiziert, die den Lehrer/innen wichtig im Sinne einer Handlungsund Orientierungsbefähigung ihrer Schüler/innen für ihre Lebenswelt zu sein scheinen. B2m wirft zu Beginn der Sequenz das OT ›didaktische Prinzipien‹ anhand des UT Gegenwarts-/Lebensweltbezug auf und begründet die Einschätzung, im Geschichtsunterricht sollten die Inhalte und Themen nach ihrer Relevanz für das Heute ausgewählt werden. B1m validiert diese Einschätzung. B2m erwähnt beiläufig auch die Problemorientierung und deutet ein längsschnittartiges Vorgehen an und erhält hierfür auch Zustimmung. Die Lehrer/ innen orientieren also ihre Unterrichtsgestaltung inhaltlich wie didaktisch an der Lebenswelt ihrer Schüler/innen, aber nicht als eine Reaktion auf kulturelle Vielfalt, sondern als eine Art aktive Empowerment-Strategie für vielfältige Lebenszusammenhänge. Die Lehrer/innen reflektieren dabei auch, dass diese Lebenswelten sehr verschieden sind und individuell anhand unterschiedlichster Relevanzen konstruiert werden – sie verhalten sich also diversitätssensibel. In diesem Ausschnitt zeigt sich auch, dass der Gruppe aktuelle Diskussionen aus der Fachdidaktik sowie der Rahmenplankommission bekannt zu sein scheinen. Hieraus lässt sich auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit didaktischer Forschung und/oder eine Fortbildungsaffinität schließen. Die Diskutierenden dieser Gruppe scheinen aktuelle Entwicklungen aus der Didaktik rezipiert zu haben und können demnach als höhergradig professionalisiert beschrieben werden. An anderen Stellen der Diskussion scheint sich diese Vermutung zu bestätigen, wenn etwa explizit auf didaktische Prinzipien und neuere Forschungsergebnisse Bezug genommen wird. In diesem Ausschnitt wird das Aufbrechen des chronologischen Durchgangs diskutiert: B1m schlägt eine Umkehr der Chronologie (UT) vor, B2w baut die Proposition weiter aus und verlangt ein Aufbrechen des chronologischen Durchgangs. Beides findet sich im neuen Rahmenlehrplanentwurf70 für das Fach Geschichte in der Sekundar70 Für Berlin und Brandenburg liegt seit dem 28. 11. 2014 ein neuer Rahmenlehrplanentwurf vor, der eine kontroverse Diskussion anstieß. Im Entwurf wird versucht, auf die durch Inklusion, Migration, Digitalisierung etc. veränderten Ansprüche an Geschichtsunterricht
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stufe I im Land Berlin wieder. Begründet wird dies hier anhand eines Beispiels aus dem Oberstufenunterricht, der in vier Halbjahren vier Themen bearbeitet, dies aber auch in zeitvergleichender Perspektive tun soll. Damit würden »andere Dinge« ins Unterrichtszentrum gerückt und die Lehrenden würden »anders an Dinge« herangehen. Ihre Professionalisierung scheint die hier diskutierenden Lehrpersonen zu befähigen, nicht nur aus einem Handlungsdruck heraus zu reagieren, sondern ihre Schüler/innen reflektiert wahrzunehmen, den Unterricht im Hinblick auf die Anforderungen in diversen Lebenszusammenhängen zu innovieren und diversitätssensibel zu gestalten.
5.
Abschluss und Ausblick
Beide Gruppen scheinen aus ihrer Handlungspraxis heraus die Notwendigkeit für einen anderen Geschichtsunterricht identifiziert zu haben. Ob hierin eine von allen Gruppen geteilte gemeinsame Basisorientierung vorliegt, bleibt im weiteren Fortgang des Forschungsprojektes zu überprüfen. Schon anhand der hier exemplarisch verglichenen Fälle wird jedoch deutlich, dass diese Orientierungen von den Lehrer/innen sehr unterschiedlich konstruiert werden. Gruppe A will ihren Unterricht thematisch an den migrantischen Schüler/innen ausrichten, während Gruppe B von einem Anspruch an das Lernen im Geschichtsunterricht her mögliche Veränderungen diskutiert und die Schüler/ innen als Individuen wahrnimmt. Die identifizierten Orientierungen der Lehrer/ innen lassen sich beschreiben als ›Homogenisierung‹ vs. ›Subjektorientierung‹, einem Verständnis von ›Herkunftskulturen als Entitäten‹ vs. ›Kulturen als Melange kultureller Praktiken‹ und eine Zustimmung zu kontingenzorientierten vs. differenzorientierten Lernarrangements. Beide Gruppen beschreiben und erzählen aus ihrer unterrichtlichen Handlungspraxis Situationen, in denen das lebensweltlich begründete Interesse der Schüler/innen zu einer Erweiterung des thematischen, didaktischen und methodischen Repertoires führen sollte. Die Gruppen unterscheidet, dass für Gruppe A ein in der Unterrichtspraxis wahrgenommener Handlungsdruck eine Auseinandersetzung mit den Besonderheiten des Geschichtsunterrichts für vielfältige Schülerschaften evoziert. Gruppe B nähert sich dem Thema von einem selbst entwickelten normativen Anspruch an das Lernen im Geschichtszu reagieren. Mit Längsschnitten, Globalgeschichte, Multiperspektivität u.v.m. sind bereits zahlreiche auch in diesem Aufsatz vorgeschlagene Prinzipien für einen Geschichtsunterricht für vielfältiges Zusammenleben aufgegriffen worden. Es bleibt zu wünschen, dass der für alle Fächer verpflichtend zu vermittelnde ›Umgang mit Vielfalt (Diversity)‹ auch im Fach Geschichte mit der nötigen Tiefe von den Lehrer/innen umgesetzt und zu ihrer Unterstützung hilfreiche Fortbildungen angeboten werden.
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unterricht für das spätere Alltagsleben als mündige Bürger/in in einer sich globalisierenden und diversifizierenden Welt her, auch wenn hier ebenfalls von Alltagssituationen mit »migrantischen« Schüler/innen als Herausforderungen für einen neuen Geschichtsunterricht berichtet wird. In den beiden Gruppen zeigen sich anhand der ausgewählten Stellen unterschiedliche Orientierungen zum Ziel von Geschichtsunterricht, die heuristisch als »Lernen über deutsche und europäische Geschichte« in Opposition zu »Aufbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins« beschrieben werden können. Diese grundlegende Unterscheidung zwischen den Orientierungen auf Seiten der Lehrenden könnte möglicherweise im Zusammenhang stehen mit den Überzeugungen, dass Geschichtsunterricht eine Identität stiften solle einerseits oder dass historisches Lernen die reflektierte Identitätsbildung und den Umgang mit Perspektivität fördern solle andererseits. Damit einherzugehen scheinen verschiedene Überzeugungen davon, ob es ein konsensfähiges Geschichtsbewusstsein als ›identitätsstiftende‹ Grundlage einer Erinnerungsgemeinschaft braucht. Ob und wie von Lehrer/innen auf vielfältige Schülerschaften reagiert oder ob die Existenz dieser ignoriert wird, könnte abhängig sein von eigenen Überzeugungen sowie der Fort- und Ausbildung, aber auch vom Diskurs im Kollegium und der individuellen Arbeitsbelastung. Gewählte Arrangements sind in diesen Beispielen Referate und Schüler/innenerzählungen über die »andere Heimat«, das »Andere« bleibt das »Fremde«. Das Lernen bleibt ein »Lernen über« und zielt nicht darauf ab, Einsicht zu nehmen und die andere Perspektive nachzuvollziehen oder zu übernehmen. Ob sich aus der Diskussionsstruktur und -kultur im Verlauf der Erhebungen noch Wechselwirkungen mit dem Teamarbeitsverhalten und der Bereitschaft zu Unterrichtsinnovation und Fortbildung, aber auch mit Belastbarkeit und Umgang mit Herausforderungen rekonstruieren lassen, wäre ebenfalls für die weitere Auswertung zu verfolgen. Die dokumentarische Methode und das Untersuchungsdesign scheinen im Sinne des Forschungsinteresses geeignet, die Beliefs der Lehrer/ innen hinsichtlich eines Geschichtsunterrichts in der und für die transkulturelle, globalisierte Gesellschaft der Vielfalt zu erkunden. In weiteren Auswertungen sollen nun diese heuristisch gefassten Orientierungsmuster an anderen Fällen überprüft und eventuell weitere Muster identifiziert werden. Letztlich könnten dann die Beliefs von Lehrer/innen in eine Typologie eingeordnet und so als ein Instrumentarium für Fortbildungen nutzbar gemacht werden.
Christiane Bertram
Historisches Denken fördern durch die Einbindung von Zeitzeugenaussagen – Eine Unterrichtseinheit zur Friedlichen Revolution in der DDR
1.
Einleitung
Wie kann eine Unterrichtseinheit, in der die Arbeit mit Zeitzeugenaussagen im Mittelpunkt steht, so gestaltet werden, dass die historischen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler gefördert werden? Was können Schülerinnen und Schüler aus der Arbeit mit Zeitzeugen lernen – und wo stecken die Probleme? Wie können Zeitzeugen-»Konserven« (Videos oder Transkriptionen) in den Unterricht eingebunden werden – und was lernen die Schülerinnen und Schüler hierbei? Diese und weitere Fragen liegen dem Dissertationsprojekt »Chancen und Risiken von Zeitzeugenbefragungen. Eine randomisierte Interventionsstudie im Geschichtsunterricht« zugrunde.1 In dieser Studie wurde die Wirksamkeit eines Unterrichtsarrangements in einem experimentellen Setting und basierend auf einer umfangreichen Stichprobe (N = 900) untersucht. Hierfür wurde die Expertise der Fachdidaktik Geschichte ebenso wie die der empirischen Bildungsforschung genutzt.2 Der theoretische Rahmen, die Hypothesen, die Konzeption der Unterrichtseinheit und der Entwurf der Messinstrumente sind fachdidaktisch geprägt. Das experimentelle Design, die psychometrische Überprüfung der Messinstrumente und die Datenauswertung orientieren sich an den Qualitätsstandards der empirischen Bildungsforschung.3 In der Interventionsstudie wurde die Wirksamkeit der Arbeit mit Zeitzeugeninterviews in vier Bedingungen (Live, Video, Text, Kontrollgruppe) untersucht. Hierfür wurden insgesamt 35 Gymnasialklassen (N = 900) den vier Bedingungen zufällig zugewiesen. Die weiteren Unterrichtsbedingungen, wie z. B. 1 Das Dissertationsprojekt wurde im März 2015 erfolgreich in Tübingen abgeschlossen. 2 Dies spiegelt sich in den beiden Betreuern und Gutachtern der Arbeit wider : Prof. Dr. Ulrich Trautwein vertrat die empirische Bildungsforschung und Prof. Dr. Bodo von Borries trug die geschichtsdidaktische Expertise bei. 3 Besonders danke ich meinem Kollegen Dr. Wolfgang Wagner, der mich in allen methodischen Belangen und Fragen meines Dissertationsprojekts unterstützt hat.
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Christiane Bertram
Lehrkraft, Unterrichtszeit oder Unterrichtsmaterialien, wurden weitgehend gehalten. Die Studie untersucht, ob mit einer Unterrichtseinheit, in deren Zentrum die Arbeit mit Zeitzeugenbefragungen steht, ausgewählte historische Kompetenzen, das thematische Wissen der Lernenden und ihr Interesse an der Unterrichtseinheit gefördert werden und ob es in Abhängigkeit von der jeweiligen »Repräsentationsform« des Zeitzeugen (Live, Video, Text) zu unterschiedlichen Effekten kommt. Hierfür wurde zunächst eine kompetenzorientierte Unterrichtseinheit entwickelt.4 Um die Wirksamkeit messen zu können, wurden in einer vorgeschalteten Validierungsstudie die Messinstrumente entwickelt und auf die psychometrischen Gütekriterien hin überprüft.5 Das in diesem Rahmen entstandene Kurzinstrument zur Einsicht in die epistemologischen Prinzipien wurde in einer weiteren Studie in zwei Studierenden-Stichproben eingesetzt.6 Im Nachtest der Haupterhebung wurden u. a. auch offene Aufgaben gestellt, um die Methodenkompetenzen der Lernenden zu erfassen. Die Schülertexte wurden theoriebasiert codiert und skaliert und mit den Leistungen in den standardisierten Instrumenten korreliert.7 Im vorliegenden Beitrag liegt der Schwerpunkt auf der didaktischen und methodischen Ausgestaltung der Unterrichtseinheit. Zunächst werden die grundsätzlichen Möglichkeiten der Einbindung von Zeitzeugen in den Geschichtsunterricht wie auch die hiermit verbundenen Chancen und Risiken skizziert. Anschließend werden die mit dem Thema »Friedliche Revolution in der DDR« verbundenen inhaltlichen Anforderungen vorgestellt, um die Themenauswahl für die Unterrichtseinheit zu begründen. Die nachfolgende Skizzierung der geschichtstheoretischen Grundlagen wie auch des FUER-Modells dient dazu, die Zielsetzung der Unterrichtseinheit wie auch das didaktisch4 Einen ersten Überblick über die Konzeption der Unterrichtseinheit habe ich bereits 2012 vorgelegt.Vgl. Christiane Bertram: Zeitzeugen zur Friedlichen Revolution: Live – Video – Text. Vorstellung einer kompetenzorientierten Unterrichtseinheit. In: Gerhard Fritz/Eva Luise Wittneben (Hrsg.): Landesgeschichte in Forschung und Unterricht. Beiträge des Tages der Landesgeschichte in der Schule vom 26. Oktober 2011 in Bühl. Stuttgart 2012, S. 63–80. 5 Christiane Bertram/Wolfgang Wagner/Ulrich Trautwein: Chancen und Risiken von Zeitzeugenbefragungen – Entwicklung eines Messinstruments für eine Interventionsstudie. In: Jan Hodel/B¦atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 12, Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 12«. Bern 2013, S. 108–119. 6 Christiane Bertram/Wolfgang Wagner/Ulrich Trautwein: Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht: Entwicklung eines Kurzinstruments für die Wirksamkeitsmessung. In Torsten Arand/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Neue Wege – neue Themen – neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2014, S. 191–208. 7 Christiane Bertram/Wolfgang Wagner/Ulrich Trautwein: Historische Kompetenzen mit offenen Antwortformaten messen – Eine Studie auf Basis der »Sechser-Matrix« des FUERModells. In: Monika Waldis/B¦atrice Ziegler : Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 13, Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 13«. Bern 2015, S. 165–180.
Historisches Denken fördern durch die Einbindung von Zeitzeugenaussagen
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methodische Vorgehen einordnen zu können. Damit ist der theoretische Rahmen abgesteckt, in dem die Unterrichtseinheit verortet ist. Wie die Arbeit mit Zeitzeugenaussagen in unterschiedlicher Form (Live, Video, Text) in der insgesamt siebenstündigen Unterrichtseinheit vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet wurde, wird nachfolgend vorgestellt. Ausgehend von den zentralen Befunden der Studie werden abschließend die didaktischen Chancen und Risiken von Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht diskutiert.
2.
Chancen und Risiken von Zeitzeugenbefragungen
Seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre hat die Arbeit mit Zeitzeugen »Eingang ins Standardrepertoire eines methodisch fortschrittlichen handlungs- und problemorientierten […] Geschichtsunterrichts gefunden«8 und ist im Rahmen von sozial- und alltagsgeschichtlichen Themen »in allen Rahmenlehrplänen fest verankert«9. So wird im Lehrplan von Baden-Württemberg für das Gymnasium bei der Behandlung der Zeitgeschichte in der neunten Jahrgangsstufe die Einbeziehung von Zeitzeugen empfohlen, weil durch sie »historische Wirklichkeit konkret erfahrbar wird«.10 Im Besonderen für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte sollen – nach dem Beschluss der Kultusministerkonferenz zur »Stärkung der Demokratieerziehung«11 – Zeitzeugen in den Geschichtsunterricht eingeladen werden. In nahezu jedem fachdidaktischen Handbuch12 und in
8 Michele Barricelli: Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute als geschichtskulturelle Objektivation und seine Verwendung im Geschichtsunterricht – ein Problemaufriss. In: Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/Ts. 2009, S. 198–211, hier S. 198. 9 Ebd., S. 198. 10 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport (Hrsg.). Bildungsplan Baden-Württemberg. Allgemein bildendes Gymnasium. Az 6512.–15/167/1 C.F.R. Stuttgart 2004 (http://www.bil dung-staerkt-menschen.de/service/downloads/Bildungsplaene/Gymnasium/Gymnasium_ Bildungsplan_Gesamt.pdf, aufgerufen am 23. 01. 2015), hier S. 219. 11 Sekretariat der ständigen Vertretung der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Stärkung der Demokratieerziehung. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06. 03. 2009. (http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2009/ 2009_03_06-Staerkung_Demokratieerziehung.pdf, aufgerufen am 05. 05. 2015). 12 U.a. Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. 2 Bde., Schwalbach/Ts. 2012. Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Seelze-Velber 1997. Hilke Günther-Arndt: Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003. Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/ Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterrich. Schwalbach/ Ts. 2003. Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. Seelze 2006.
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zahlreichen Handreichungen13 wird geraten, Zeitzeugen zu befragen, um die Schülerinnen und Schüler ihre Eingebundenheit in die Geschichte erleben zu lassen. Unüberschaubar ist die Anzahl an online verfügbaren Materialien: Eine Google-Suchanfrage zu »Zeitzeugen in der Schule« gibt in 0,27 Sekunden etwa 642.000 Treffer aus (Zugriff am 30. 04. 2015). Auch wenn die ministeriellen Vorgaben oder fachdidaktischen Empfehlungen noch keinen Nachweis für den tatsächlichen Einsatz von Zeitzeugen in der Schule geben, belegen sie doch die Akzeptanz der Methode, die als die »Hochform des Lernens im Geschichtsunterricht überhaupt«14 bezeichnet wird.
2.1
Formen der Arbeit mit Zeitzeugen im Geschichtsunterricht
Zeitzeugen können in unterschiedlicher Form in den Geschichtsunterricht eingebunden werden. Häufig sprechen Zeitzeugen – früher vor allem Überlebende des Holocaust, heute oft Zeitzeugen der DDR – im Stil eines Vortrags, bei dem Fragen erlaubt sind, vor einem größeren Auditorium in der Schule. In Zeitzeugenprojekten hingegen sollen Schülerinnen und Schüler den gesamten Forschungsprozess von der Fragestellung über die Akquise der passenden Interviewpartner und die eigenständige Befragung bis zur Auswertung der Interviews und der Präsentation der Ergebnisse nachvollziehen und dabei fachmethodisches Know-how erwerben. Diese Form der Projektarbeit erhält seit vielen Jahren Anregungen durch den alle zwei Jahre stattfindenden »Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten«15. Weniger arbeits- und zeitaufwendig als Zeitzeugen-Projekte und intimer als Zeitzeugen-Vorträge sind Zeitzeugenbefragungen oder -gespräche im Unterricht, bei denen Zeitzeugen zu bestimmten Themen Auskunft geben. In der (inter-)nationalen Literatur wird fast ausschließlich auf Erfahrungen mit Oral-History- bzw. Zeitzeugen-Projekten rekurriert, zum Beispiel in US13 U.a. Gerhard Henke-Bockschatz: Oral History im Geschichtsuntericht. Schwalbach/Ts. 2014. Barry A. Lanman/Laura Wendling (Hrsg): Preparing the next generation of oral historians: An anthology of oral history education. Lanham 2006. Detlef Siegfried: Zeitzeugenbefragung. Zwischen Nähe und Distanz. In: Lothar Dittmer/Detlef Siegfried (Hrsg.): Spurensucher. Ein Praxisbuch für historische Projektarbeit. Weinheim 1997, S. 50–66. Waltraud Schreiber/Katalin Ýrkossy (Hrsg.): Zeitzeugengespräche führen und auswerten. Historische Kompetenzen schulen. Neuried 2009. Glenn Whitman: Dialogue with the past. Engaging students & meeting standards through oral history. Walnut Creek 2004. 14 Ralph Erbar : Allgemeine und spezifische Sozial- und Arbeitsformen. In: Michele Barricelli/ Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Band 2. Schwalbach/ Ts. 2012, S. 11–22, hier S. 18. 15 Vgl. http://www.koerber-stiftung.de/bildung/geschichtswettbewerb.html, aufgerufen am 05. 05. 2015.
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amerikanischen16 oder deutschen Standardwerken zu Oral History resp. Zeitzeugenbefragungen in der Schule17, wie auch in fachdidaktischen Handbüchern18 oder in Zeitschriften-Publikationen19. Zeitzeugenprojekte fordern und fördern nicht nur historische Kompetenzen, sondern ebenso eine Vielzahl überfachlicher und sozialer Kompetenzen, z. B. die Festlegung einer übergeordneten Forschungsfrage, Recherchetätigkeit oder eine adressatengerechte Ergebnispräsentation. Als Besonderheit kommt bei Oral History-Projekten dazu, dass geeignete Interviewpartner gefunden und ein zielgerichtetes Gespräch geführt werden muss. Eventuell zu beobachtende Lernwirkungen von schulischen Zeitzeugenprojekten können auf die Effekte des Projektunterrichts, aber auch auf die Effekte der Arbeit mit Zeitzeugen zurückgeführt werden. In den Vereinigten Staaten wird hinsichtlich der Oral History-Methode als Lernarrangement für die Schule zwischen »passive and active oral history«20 unterschieden. Unter »passive oral history« werden »ready-made« Oral HistoryQuellen, also Audio- und Videoaufnahmen, aber auch Textquellen, verstanden. Unter »active oral history« hingegen wird die forschende Eigentätigkeit der Schülerinnen und Schüler, also die oben erwähnte Projektarbeit mit Interviewpartnern, gefasst. In der vorliegenden Studie wurde der Fokus auf die Arbeit mit Zeitzeugenaussagen im Klassenraum gelegt – eingebettet in eine Unterrichtseinheit zum Thema »Friedliche Revolution in der DDR«. Hierbei wurde entweder mit Zeitzeugen live gearbeitet, oder es wurden Zeitzeugen-»Konserven« (Videos bzw. Transkriptionen) genutzt.
2.2
Stolpersteine der Zeitzeugenbefragung: Chancen und Risiken
Die Arbeit mit Zeitzeugen im Geschichtsunterricht eröffnet spezifische Lernchancen, birgt aber auch potenzielle Risiken. Im Folgenden werden die Eigenheiten der Arbeit mit Zeitzeugen und die sich hieraus ableitenden Chancen und Risiken im Überblick vorgestellt. 16 17 18 19
Vgl. u. a. Lanman/Wendling (Anm. 13), Whitman (Anm. 13). Vgl. u..a. Henke-Bockschatz (Anm. 13), Schreiber & Ýrkossy (Anm. 13). Vgl. u. a. Erbar (Anm. 14), Sauer (Anm. 12). Z.B. »The Oral History Review« mit der Sonderausgabe zu »Practice and Pedagogy : Oral History in the Classroom«, 1998, 25(1/2), »Magazine of History« mit einem Sonderheft »Oral History«, 1993, 3(11) im Jahr 1993; »Geschichte Lernen« mit dem Themenheft »Oral History«, 2000, 76. 20 Barry A. Lanman: Oral history as an educational tool for teaching immigration and black history in American high schools: Findings and queries. In: International Journal of Oral History 8 (1987), S. 122–135, hier S. 123.
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Zeitzeugenaussage als Quelle und Darstellung: Die Zeitzeugenaussage wird als ein Selbstzeugnis verstanden, das auf die Vergangenheit zurückblickt und mit einer Tradierungsabsicht verbunden ist. Die Erfahrungen damals können als eine Quelle betrachtet werden, während die Jahre später innerhalb eines Interviews getätigten Aussagen als eine Darstellung (= Narration) verstanden werden können. Später gewonnene Informationen wie auch nachträgliche Deutungen und Sinnbildungen fließen in diese Narration mit ein.21 Wenn ein Zeitzeuge seine Geschichte über die Vergangenheit live erzählt, wird dieses Changieren zwischen einer Darstellung (ein Bericht »von heute« über die Vergangenheit) und einer Quelle (Überrest aus der Vergangenheit) quasi greifbar. Daher kann anhand eines live vorgetragenen Zeitzeugenberichts die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Geschichte wie auch zwischen Quellen und Darstellungen anschaulich erarbeitet werden. Obwohl diese für das Verständnis von Geschichte zentralen Konzepte schon im Anfangsunterricht vermittelt werden (sollen), sind diese Schülerinnen und Schülern – selbst Abiturienten – häufig nicht klar.22 Zeitzeugen als Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Zeitzeugen berichten von der Vergangenheit, erzählen in der Gegenwart und geben Orientierungsangebote für die Zukunft. Wenn der Zeitzeuge live befragt wird, dann wird in der generationenübergreifenden Kommunikation die Zeitdistanz überbrückt. Dies kann ein großes Motivationspotenzial entfalten. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass der Zeitzeuge oder die Zeitzeugin in der direkten Kommunikationssituation über die vergangenen Erlebnisse als »Sender einer Nachricht«23 eine bestimmte Absicht verfolgt und der Zuhörerschaft – basierend auf seinen oder ihren Erlebnissen in der Vergangenheit bzw. der eigenen Deutung – eine Botschaft für die Gegenwart und Zukunft vermittelt. 21 Waltraud Schreiber : Zeitzeugengespräche führen und auswerten. In: Schreiber/Ýrkossy (Anm. 13), S. 21–28, hier S. 22f. 22 Vgl. Bodo von Borries u. a.: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler- und Lehrerbefragung im deutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2005. Matthias Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzen historischen Verstehens im Umgang mit Darstellungen von Geschichte. Göttingen 2010. Jean Francois Rouet u. a.: Using multiple sources of evidence to reason about history. In: Journal of Educational Psychology 88 (1996), H. 3, S. 478–493. Bernd Schönemann/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. Berlin 2010. Bruce Van Sledright: Assessing historical thinking & understanding. Innovative designs for new standards. New York 2014. 23 Paul Watzlawik/Janet H. Beavin/Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation – Formen, Störungen, Paradoxien. Bern 1969. Friedrich Schulz von Thun. Miteinander reden 1 – Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Reinbek bei Hamburg 1981.
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Damit die Schülerinnen und Schüler die gegebene Deutung und damit transportierte Botschaft erkennen können, sollten die Ebenen der »Vergangenheit«, der »Geschichte« (mit der gegebenen Deutung) und der »Botschaft« (für die Gegenwart und Zukunft) in der Auswertung auseinandergehalten werden.24 Aura der Authentizität: Die direkte Begegnung mit jemandem, der selbst »dabei« war, wirkt authentisch und faszinierend. Lernende sind meist sehr interessiert an einem Gespräch mit einem lebendigen Zeitzeugen und sind überzeugt davon, hierbei viel zu lernen.25 Allerdings neigen sie dazu, die Zeitzeug/innen als die »besseren Historiker«26 wahrzunehmen. Gerade weil der Zeitzeuge oder die Zeitzeugin vermeintlich authentisch berichtet, fällt es den Lernenden schwer, die Aussagen in Frage zu stellen, wie sie es im quellenorientierten Geschichtsunterricht gelernt haben sollten. In der »Youth and History«-Studie27 zum Geschichtsbewusstsein Jugendlicher wurde in einer Stichprobe von ca. 32.000 europäischen Jugendlichen herausgefunden, dass die Fünfzehnjährigen den Zeitzeugen mehr Vertrauen schenken als Schulbuchdarstellungen oder Historikeraussagen. Besonders problematisch für den unterrichtlichen Kontext ist es, wenn die Zeitzeugen Opfer von Gewaltregimen waren, deren Darstellung aus Gründen der Pietät nicht hinterfragt werden darf. Auch in einer nachfolgenden unterrichtlichen Auswertung kann die »Aura der Authentizität«28 kaum aufgebrochen werden. Damit kann die Arbeit mit Zeitzeugen in einen Konflikt mit dem Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsens von 1976 geraten. Hiernach ist es nicht erlaubt, »den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ›Gewinnung eines selbstständigen Urteils‹ zu hindern«.29 Prinzipien der Narrativität: Das Gespräch mit einem Zeitzeugen bietet einen individuellen Zugang zu den vergangenen Ereignissen und einen Einblick in die 24 Hierfür bieten sich die drei sog. »Fokussierungen«, die auf den Rüsen’schen »Triftigkeitskriterien« beruhen, an. Dies wird später genauer erläutert. Schreiber (Anm. 21), S. 26f. 25 Vgl. die Befunde von Lanman (Anm. 20), S. 129. Katharina Obens/Christian GeißlerJagodzinksi: »Dann sind wir ja auch die letzte Generation, die davon profitieren kann«. Erste Ergebnisse einer empirischen Mikrostudie zur Rezeption von Zeitzeugengesprächen bei Jugendlichen/jungen Erwachsenen (http://www.migration-online.de/data/forschungsbe richt_zeitzeugengesprche.pdf, aufgerufen am 20. 04. 2015). 26 Sauer (Anm. 12), S. 238. 27 Magne Angvik/Bodo von Borries (Hrsg.): Youth and history : A comparative European survey on historical consciousness and political attitudes among adolescents. Bd. A. Hamburg 1997. 28 Martin Sabrow: Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten. In: Martin Sabrow/ Norbert Frei (Hrsg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012. S. 13–32, hier S. 27. 29 Hans-Georg Wehling: Konsens la Beutelsbach. In: Siegfried Schiele S. & Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart 1977, S. 173–184, hier S. 179.
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Perspektivität von Geschichte. Jeder Zeitzeuge hat nur einen Ausschnitt der Vergangenheit erlebt, und die Aussagen verschiedener Zeitzeugen zum gleichen historischen Ereignis weichen häufig voneinander ab. Zudem nehmen die Befrager eine bestimmte Perspektive ein und steuern mit ihren Fragen das, was erzählt wird.30 Nicht nur die (Multi-)Perspektivität als grundlegendes Prinzip von Geschichtlichkeit, sondern weitere Grundprinzipien der Narrativität werden in einer Zeitzeugenaussage deutlich. Das Vergangene wird als Geschichte vom Ende her bzw. aus der Gegenwart erzählt (Retroperspektivität), dabei werden viele Einzelheiten ausgeblendet (Selektivität), und die erzählte Geschichte ist in ihrer räumlichen und zeitlichen Erstreckung begrenzt (Partialität).31 Erinnerung und Sinnbildung: Die Vergangenheit ist vorbei. Woran wir uns erinnern, ist geprägt durch die Erfahrungen, die wir danach gesammelt haben. Neurowissenschaftler haben nachgewiesen, dass die individuelle Erinnerung jedes Mal neu produziert wird und dass von Mal zu Mal unmerkliche Anpassungen erfolgen.32 Mit jedem Erinnerungsvorgang wird die Erinnerung an frühere Erinnerungsvorgänge aktiviert: »Your memory is like the telephone game«33 (bei uns bekannt als: »Stille Post«). Auch in der Theorie des »kollektiven Gedächtnisses« wird die rekonstruktive und selektive Funktionsweise des Erinnerns betont. Halbwachs geht davon aus, dass Erinnerung »eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehener Gegebenheiten«34 ist und durch »andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet«35 wird. Als ein Beispiel für den Einfluss der kollektiven auf die individuelle Erinnerung können die vielfachen Zeitzeugenerzählungen zur Bombardierung Dresdens am 14. Februar 1945 gelten, nach denen angeblich »Neger als Piloten«36 Hetzjagden auf die Flüchtenden veranstaltet haben sollen. Schnatz hat aufgrund von Militärakten und Zeitzeugenbefragungen wie auch auf der Basis taktischer, technischer, physikalischer, meteorologischer und psychologischer Überlegungen nachgewiesen , dass diese Hetzjagden nicht stattgefunden haben.37 Die vielfältigen Verfälschungen der 30 Katalin Ýrkossy : Trotz Betroffenheit reflektiert mit Geschichte umgehen. In: Schreiber/ Ýrkossy (Anm. 13), S. 29–32, hier S. 31. 31 Michele Barricelli: Narrativität. In: Barricelli/Lücke (Anm. 12), S. 255–280, hier S. 260f. 32 Martin A. Conway (Hrsg.): Recovered memories and false memories. Oxford u. a. 1997. Daniel A. Schacter : Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Hamburg 1999. 33 Marla Paul: Your Memory is like the Telephone Game. Each time you recall an event, your brain distorts it. (19. September 2012). (http://www.northwestern.edu/newscenter/stories/ 2012/09/your-memory-is–like-the-telephone-game.html, aufgerufen am 04. 05. 2015). 34 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1950, S. 55. 35 Ebd., S. 55. 36 Helmut Schnatz: Tiefflieger über Dresden? Legenden und Wirklichkeit. Köln 2000, S. 17. 37 Ebd., S. 4f.
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Erinnerung lassen sich u. a. auch darauf zurückführen, dass nachträgliche Deutungen und spätere Erfahrungen die Erinnerung an die Vergangenheit beeinflussen.38 Dieses – anscheinend sehr menschliche – Bedürfnis, die Ereignisse des eigenen Lebens in einen logischen emotionalen Zusammenhang zu bringen, wird in der Literatur und Philosophie häufig thematisiert.39 Zusammenfassend lässt sich auf Basis der oben angestellten geschichtstheoretischen und -didaktischen Überlegungen zu den Charakteristika einer Zeitzeugenbefragung konstatieren, dass die Arbeit mit Zeitzeugen im Geschichtsunterricht eine besondere Herausforderung darstellt. Werden Zeitzeugen eingeladen, ohne die Begegnung vorzubereiten oder auszuwerten, dann besteht die Gefahr, dass die Schülerinnen und Schüler falsche Daten oder Fakten über die Vergangenheit lernen und dass ihnen eine schiefe (weil notwendig einseitige) Deutung der vergangenen Ereignisse vermittelt wird. Werden hingegen die Voraussetzungen der Zeitzeugenaussage im Unterricht quellenkritisch hinterfragt, mit weiteren Quellen und Darstellungen verglichen und in den historischen Kontext eingeordnet, dann eröffnet sich die Chance, den Lernenden etwas über die Grundlagen ihres Fachs zu vermitteln.
3.
Friedliche Revolution 1989/90
Mit der Methode der Zeitzeugenbefragung wird häufig die Zeit des Nationalsozialismus assoziiert. Dies hängt mit der Genese des Begriffs zusammen. Das »urplötzlich aus dem Nichts«40 auftauchende Konzept des Zeitzeugen wurde erstmals im medienwirksamen Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem und in den Auschwitz-Prozessen 1963 bis 1968 in Frankfurt sichtbar, noch bevor der Begriff 1975 in einer Buchbesprechung des »Spiegel«41 explizit verwendet wurde. Der Begriff des »Zeitzeugen« wurde in der Folge so fest mit den nationalsozialistischen Verbrechen – und hier häufig mit der Opferperspektive – verknüpft, dass mit dem seit zwanzig Jahren angekündigten »Verschwinden der Zeitzeu38 Schreiber (Anm. 21), S. 23. 39 Vgl. die Romane von Max Frisch, der diese Eigenart des menschlichen Gedächtnisses unter anderem in »Mein Name sei Gantenbein« durchgespielt hat, in dem der Protagonist bemerkt: »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält […] oder eine ganze Reihe von Geschichten«. Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein. Frankfurt 1964. Friedrich Nietzsche formulierte pointiert: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹, sagt mein Stolz – und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.« Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. In: Gesammelte Werke. Bundlach 2005 (Erstausgabe 1886), S. 68. 40 Sabrow (Anm. 28), S. 13. 41 Hans Helmut Kirst: Bericht von der Blutbühne. Über Erich Kubys »Mein Krieg«. In: Der Spiegel, Nr. 42, vom 13. Oktober 1975, S. 214.
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gen«42 ganz selbstverständlich die Zeitgenossen der NS-Zeit konnotiert werden. Heutzutage, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, gibt es kaum noch Zeitzeugen des Nationalsozialismus. Doch es gibt eine Vielzahl von Video»Konserven« wie auch von schriftlichen Zeitzeugenberichten, die für den Geschichtsunterricht genutzt werden können.43 Im Dissertationsprojekt steht daher die Fragestellung im Vordergrund, ob abhängig von dem »Medium«, in dem der Zeitzeuge in Erscheinung tritt (Live – Video – Text), unterschiedliche Wirkungen auf die Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ihre historischen Kompetenzen, ihr Wissen zum Thema und ihre Einschätzung der Unterrichtseinheit zu beobachten sind. Die Arbeit mit dem Zeitzeugeninterview ist hierbei eingebettet in eine Unterrichtseinheit zum Thema »Friedliche Revolution in der DDR«.
3.1
Relevanz des Themas im Geschichtsunterricht
Das Thema DDR und Friedliche Revolution nimmt in den Bildungsplänen aller Länder eine herausgehobene Stelle ein. Explizit wird z. B. in den Bildungsstandards von Baden-Württemberg darauf hingewiesen, dass im Geschichtsunterricht der Mittelstufe die politischen Systeme und der Alltag in den beiden deutschen Staaten wie auch die Ursachen und Besonderheiten der Friedlichen Revolution behandelt werden sollen.44 Dabei geht die Bedeutung des Themas über den Geschichtsunterricht hinaus. Im KMK-Beschluss von 2009 wird im Zusammenhang mit der »Stärkung der Demokratieerziehung« der Erfahrung mit der SED-Diktatur ein besonderer Stellenwert eingeräumt: »Die Entwicklung Deutschlands zu einem sozialen Rechtsstaat in Einheit und Freiheit wäre […] ohne die erfolgreiche friedliche Revolution in der DDR nicht möglich gewesen. […] Den Erfahrungen aus der Zeit der DDR und aus der friedlichen Revolution kommt im Rahmen einer demokratischen Bildung und Erziehung eine Schlüsselrolle zu.«45
42 Jörg Skriebeleit. Das Verschwinden der Zeitzeugen. Metapher eines Übergangs. Vortrag bei der Tagung »Zeitzeugen im Museum«, Görlitz, 12.10. 2011 bis 14. 10. 2011. (http://www.bkge. de/Bildarchiv/Downloads/Zeitzeugenberichte/Skriebeleit_Verschwinden_der_Zeitzeugen. pdf, aufgerufen am 24. 11. 2014). 43 Die international bekannteste Plattform ist wohl die – 1994 von Steven Spielberg gegründete – Shoah Visual History Foundation. Nahezu 52.000 Interviews von Holocaust-Überlebenden in 32 Sprachen und aus 56 Ländern stehen online zur Verfügung. (http://sfi.usc.edu/, aufgerufen am 04. 05. 2015). Unter Berücksichtigung von Qualitätskriterien für den unterrichtlichen Einsatz (z.B. Informationen zum Kontext) kommt Henke-Bockschatz (Anm. 14) auf 32 Websites, die Zeitzeugeninterviews zur deutschen Geschichte online zur Verfügung stellen. 44 Bildungsplan Baden-Württemberg (Anm. 10), S. 225. 45 KMK-Beschluss (Anm. 11), S. 2.
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Explizit wird hierfür die »Einbeziehung von Zeitzeugen«46 eingefordert. Dies ist auch deswegen wichtig, da viele ehemalige DDR-Bürger eine andere Sichtweise auf die Vergangenheit vertreten als die Schulbücher oder die Lehrerinnen und Lehrer. Umso wichtiger ist es, die Schülerinnen und Schüler mit der Methode der Zeitzeugenbefragung vertraut zu machen und sie dafür zu sensibilisieren, dass Zeitzeugenaussagen nicht sakrosankt sind, sondern kritisch befragt werden müssen und einen Baustein – unter anderen – zur Erforschung der Vergangenheit darstellen.
3.2
Debatte um die Friedliche Revolution
Der Streit darum, wie die Ereignisse der Jahre 1989/90 genannt werden sollen, ist ein Hinweis darauf, dass die Deutung dieser Ereignisse noch nicht abgeschlossen ist. Der Begriff der »Wende« hat sich zwar im alltäglichen Sprachgebrauch durchgesetzt, doch bezeichnete dieser von Egon Krenz geprägte Begriff im historischen Kontext die zögerlichen Reformen der SED-Spitze nach der Absetzung Honeckers und entbehrt aller revolutionären Elemente. Begriffe wie »Zusammenbruch« oder »Implosion« hingegen richten das Augenmerk auf die politische und wirtschaftliche Handlungsunfähigkeit des DDR-Staates in seiner Endphase, vernachlässigen aber ebenfalls die Bedeutung der Bürgerproteste in der Endphase der DDR. Die revolutionären Elemente werden auch in den Begriffen »Beitritt« und »Anschluss«, die mit Blick auf die Wiedervereinigung im Jahr 1990 verwendet werden, negiert. Der Begriff der »Revolution« hingegen nimmt das (Zusammen-)Wirken der Oppositionellen, Demonstranten und Flüchtlinge in den Blick. Die Herbstmonate 1989 wurden von den Akteuren selbst tatsächlich als Revolution wahrgenommen. Die – gewaltfreien – revolutionären Prozesse führten zur anschließenden Transformation in ein schon bestehendes System. Daher wird zwischen den revolutionären Prozessen des Jahres 1989, die zwischenzeitlich als »Friedliche Revolution« bezeichnet werden, und der im Dezember 1990 beginnenden Transformation in das politische, wirtschaftliche und soziale System der Bundesrepublik unterschieden.47 46 Ebd., S. 4. 47 Saskia Handro: 1989 – Geschichte hinter dem Jubiläum. In: Geschichte lernen 22 (2009), H. 128, S. 2–8. Günther Heydemann/Gunther Mai/Werner Müller : Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Revolution und Transformation in der DDR 1989/90. Berlin 1999, S. 9–36. Konrad H. Jarausch: Der Umbruch 1989/90. In: Martin Sabrow (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. Bonn 2009, S. 526–535. Werner Müller : Friedliche Revolution 1989/90: Von der Dauerkrise zum Umbruch in der DDR. In: Alexander Gallus (Hrsg.): Deutsche Zäsuren. Systemwechsel seit 1806. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 245–262. Bodo von Borries: Europäische Erinnerung an »1989« – Herausforderung für die Politische Bildung. In: Außerschulische Bildung 40 (2009), Jg. 2, S. 118–130.
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Die Bedingungsfaktoren der Friedlichen Revolution werden ähnlich kontrovers diskutiert. Zum einen wird in der Forschung differenziert zwischen den strukturell bedingten Entwicklungslinien (z. B. fortschreitende wirtschaftliche Stagnation, Erosion der ideologischen Legitimität der SED und das Aufbegehren der Gesellschaftsbasis), den mittelfristigen Kursänderungen (z. B. Aufkündigung der außenpolitischen Garantie durch Gorbatschow) und den im Herbst 1989 auftretenden und sich gegenseitig verstärkenden Ereignisse (Massenflucht, wachsende Demonstrationen und die Entscheidungslähmung der SED). Zum anderen wird unterschieden zwischen internen und externen Prozessen.48 Zu den externen Prozessen zählt die Reformpolitik Gorbatschows, die den gesamten Ostblock in Bewegung gebracht hat.49 Hierdurch erhielten die osteuropäischen Oppositionsbewegungen (z. B. in Polen oder Ungarn) einen massiven Auftrieb, was im Frühjahr/Sommer 1989 zur Öffnung des Eisernen Vorhangs und zur Massenflucht aus der DDR über Ungarn im Sommer 1989 führte. Darüber hinaus beschleunigte die mit den Begriffen »Glasnost« (Offenheit, Transparenz, Öffentlichkeit) und »Perestroika« (Umbau, Umgestaltung, Umstrukturierung) bezeichnete sowjetische Reformpolitik die internen Prozesse in der DDR. So führte die Weigerung der SED-Spitze, Perestroika und Glasnost im eigenen Staat zuzulassen, in der eigenen Anhängerschaft zu Verwirrung. Das Verbot sowjetischer Filme und Zeitschriften war den SED-Parteimitgliedern an der Basis nicht zu vermitteln.50 Als Gorbatschow bei seinem Besuch am 7. Oktober 1989 in Berlin signalisierte, dass die Sowjetunion im Falle eines Aufstandes keine militärische Unterstützung leisten würde, war absehbar, dass die SEDFührung die internen Probleme nicht in den Griff bekommen würde. Als weiterer interner Bedingungsfaktor ist die wirtschaftliche Krise der DDR zu betrachten. Die Unzufriedenheit der Menschen mit den wirtschaftlichen Bedingungen in der DDR und der Wunsch nach der D-Mark und Westwaren waren so groß, dass die Mehrheit der DDR-Bürger nach dem Fall der Mauer zu weiteren – sozialistischen – Experimenten nicht mehr bereit war.51 Aus diesen Vorüberlegungen lassen sich fünf Themenbereiche identifizieren, die in einer Unterrichtseinheit zur Friedlichen Revolution behandelt werden 48 Detlef Pollack: Bedingungsfaktoren der friedlichen Revolution 1989/90. In: Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn 2003, S. 188–195. 49 Vgl. Andreas Wirschning: Die Mauer fällt. In: Udo Wengst/Hermann Wentker (Hrsg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz. Bonn 2008, S. 357–374, hier S. 364f. 50 Stefan Wolle: 20 Jahre nach der Friedlichen Revolution in der DDR. Studie von Stefan Wolle zu Alltag und Umbruch in der DDR 1989 aus Anlass der öffentlichen Veranstaltung des Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer am 26. Juni 2009 in Berlin. Hrsg. vom Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (http://www.ddr-museum. de/src/downloads-sonstiges/dokument-38.pdf, aufgerufen am 04. 05. 2015), S. 7. 51 Vgl. Wirschning (Anm. 49), S. 370f.
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sollten: 1. »SED und politische Ordnung«, 2. »Sowjetunion und Gorbatschow«; 3. »Mauer und Massenflucht«; 4. »Opposition und Protestbewegung« und 5. »Planwirtschaft – Mangelwirtschaft«. Zudem ist es unabdingbar, als sechstes Thema und wichtigen Bereich des Lebens in der DDR den Unterdrückungsapparat der »Stasi« aufzunehmen, um aufzeigen zu können, warum sich das System so lange halten konnte.
4.
Ziel des Geschichtsunterrichts: Kompetenzen historischen Denkens
4.1
Historisches Denken fördern
In der internationalen wie auch in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik besteht weitgehend Konsens darüber, dass im Geschichtsunterricht historisches Denken vermittelt werden soll. Die theoretische Basis hierfür bildet die narrative Geschichtstheorie52 wie auch die Geschichtsbewusstseinsforschung53. Lernende sollen zwischen Vergangenheit und Geschichte wie auch zwischen Quellen und Darstellungen unterscheiden können, und sie sollen verstehen, dass Geschichte aus dem rekonstruierenden Umgang mit der Vergangenheit entsteht.54 Darstellungen rekurrieren zwar auf Quellen, aber sie werden vom Autor mit einem Sinn unterlegt. Die Formulierung Rüsens, das historische Erzählen sei eine »Sinnbildung über Zeiterfahrung«55, wurde unlängst kritisch diskutiert.56 Doch 52 Arthur Coleman Danto: Analytische Philosophie der Geschichte (Erstauflage 1965). Frankfurt am Main, 1980. Paul Ricoeur : Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung (Erstausgabe 1983). München, 1988. 53 U.a. Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 9–33. Jörn Rüsen: Historik und Didaktik. Ort und Funktion der Geschichtstheorie im Zusammenhang von Geschichtsforschung und historischer Bildung. In: Kosthorst/Jeismann (Anm 54), S. 48–64. Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Grundzüge einer Historik I. Göttingen 1983. Hans-Jürgen Pandel: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen. In: Geschichtsdidaktik. Probleme, Projekte, Perspektiven 2 (1987), H. 12, S. 130–142. 54 U.a. Bruce A. VanSledright: Assessing historical thinking & understanding. Innovative designs for new standards. New York 2014. 55 Jörn Rüsen Historische Orientierung. Über die Art des Geschichtsbewusstseins, sich in der Zeit zurechtzufinden. Köln 1994, S. 38. 56 Vgl. die von Michael Sauer angestoßene Diskussion in Public History Weekly vom 30. Januar 2014: »Sinnbildung über Zeiterfahrung – eine Leerformel?« (http://public-history-weekly. oldenbourg-verlag.de/2-2014-4/sinnbildung-ueber-zeiterfahrung/#fnref-1203-3, aufgerufen am 04. 05. 2015).
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die hier angedeutete Forderung nach einem kritischen Umgang mit Narrationen, um die vorgenommenen »Sinnbildungen« aufzudecken, gilt in der deutschsprachigen wie auch in der internationalen Fachdidaktik.57 Um mit historischen Narrationen dekonstruktiv umgehen zu können, müssen die Lernenden eine Einsicht in die epistemologischen Prinzipien des Fachs Geschichte haben, denn diese sind »konstitutiv für historische Erkenntnis und schränken die Möglichkeit a priori ein, durch Geschichte eine vergangene ›Wirklichkeit‹ abzubilden.«58 Hierunter werden u. a. die von Baumgartner formulierten Prinzipien der Retroperspektivität, der Partikularität und der Konstruktivität von Geschichte verstanden.59 Ein weiteres wesentliches Charakteristikum ist die Perspektivität von Geschichte, die sich auf der Ebene der Quellen als Multiperspektivität, auf der Ebene der Darstellungen als Kontroversität und auf der Ebene der Orientierungen als Pluralität fassen lässt.60 Diese drei Ebenen der Vergangenheit, der Geschichte und der Orientierungen finden sich in der sogenannten »Sechs-Felder-Matrix«61 als die »Fokussierung auf Vergangenheit«, »Fokussierung auf Geschichte« und die »Fokussierung auf Gegenwart/Zukunft« wieder. Diese Ebenen korrespondieren auch mit den von Jeismann definierten geschichtsdidaktischen Kategorien der Sachanalyse (Ebene der Quellen), des Sachurteils (Ebene der Darstellungen) und des Werturteils (Ebene der Orientierungen).62 Die drei Triftigkeitskriterien von Rüsen, mit denen die Plausibilität von Narrationen überprüft werden kann, werden ebenfalls diesen drei Ebenen zu-
57 Elisabeth Erdmann/Wolfgang Hasberg (Hrsg.): Facing mapping bridging diversity. Foundation of a European discourse on history education. Part 1 and 2. Schwalbach/Ts. 2011. Manuel Köster/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Researching History Education. International Perspectives and Disciplinary Traditions. Schwalbach/Ts. 2014. 58 Waltraud Schreiber u. a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell (Basisbeitrag). In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner : Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 17–53, hier S. 32. 59 Hans-Michael Baumgartner : Narrativität. In: Bergmann (Anm. 12), S. 157–160. 60 Diese von Bodo von Borries erstmals vorgenommene Unterscheidung hat sich zwischenzeitlich allgemein durchgesetzt. Bodo von Borries: Perspektivenwechsel und Sinnbildungsfiguren im Umgang mit der Geschichte. In: Bodo von Borries (Hrsg.): Lebendiges Geschichtslernen. Bausteine zu Theorie und Pragmatik, Empirie und Normfrage. Schwalbach/Ts. 2004, S. 236-287. Klaus Bergmann: Multiperspektivität. In Mayer u. a. (Anm. 13), S. 65–77. Martin Lücke: Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität. In: Barricelli/Lücke (Anm. 13.), Bd. 1, S. 281–288. 61 Waltraud Schreiber/Sylvia Mebus (Hrsg.): Durchblicken. Dekonstruktion von Schulbüchern. Eichstätt, 2005, S. 16. 62 Karl-Ernst Jeismann: Grundfragen des Geschichtsunterrichts. In: Günther C. Behrmann/ Karl-Ernst Jeismann/Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn, 1979, S. 179–222, hier, S. 93.
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geordnet. Die »Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft«63 steht und fällt nach Rüsen mit der Überprüfung der sog. »Triftigkeiten« (bzw. »Wahrheitsansprüche« oder »Plausibilitäten«). Die Glaubwürdigkeit von Narrationen zeige sich auf drei Ebenen: Empirisch triftig seien Geschichten, die sich in der Vergangenheit so ereignet haben, wie sie erzählt werden, wenn also die »behaupteten Tatsachen durch Erfahrungen gesichert sind«64. Daher umfasse die Überprüfung der empirischen Triftigkeit die Untersuchung der Vergangenheitspartikel bezogen auf den Wahrheitsgehalt der verwendeten Quellen und die Zuverlässigkeit der eingesetzten Methoden. Die Ebene der narrativen Triftigkeit hingegen beziehe sich auf die »Einheit einer in sich sinnvollen Erzählung«65, deren Erzählfluss durch ein »Sinnkriterium«66 gebildet werde. Dieses zeige sich in einer logischen und in sich schlüssigen argumentativen Verknüpfung und in der überzeugenden Kontextualisierung der Vergangenheitspartikel. Da »das erzählte Geschehen eine Bedeutung für die Lebenspraxis ihrer Adressaten hat«67 sollen darüber hinaus die Orientierungsangebote hinsichtlich ihrer normativen Triftigkeit in den Blick genommen werden – und zwar sowohl bezogen auf die damaligen Moralvorstellungen wie auch auf die heutigen Normen.68 Im Geschichtsunterricht sollen also grundsätzliche (epistemologische) Einsichten in den (Re-)Konstruktionscharakter von Geschichte vermittelt werden, aber auch methodisches Handwerkszeug, um die Schülerinnen und Schüler zum selbstständigen und (selbst-)reflexiven historischen Denken zu befähigen. Auf Quellen und Darstellungen basierend sollen sie die Vergangenheit rekonstruieren, aber auch vorliegende Narrationen – beispielsweise mit Hilfe der Triftigkeitskriterien – kritisch prüfen, um zu einem eigenen kriteriengeleiteten Urteil zu gelangen.
63 64 65 66 67 68
Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln 2013, S. 57. Rüsen (Anm. 55), S. 82. Ebd., S. 83. Ebd., S. 83. Ebd., S. 83. In seiner »Historik« von 2013 (Anm. 63) hat Rüsen die ursprünglich drei Triftigkeitskriterien auf vier Plausibilitäten erweitert. Während das erstgenannte Kriterium (empirische Plausibilität) weitgehend der empirischen Triftigkeit entspricht, werden bei den drei anderen Kriterien (theoretische, normative und narrative Plausibilität) neue Grenzziehungen und Definitionen vorgenommen. Griffiger erscheint mir die 1983 vorgenommene Definition der drei Triftigkeitskriterien (empirisch, narrativ, normativ) wegen der Korrespondenz mit den Ebenen der Quellen, Darstellungen und Orientierung.
92 4.2
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Kompetenzmodelle in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik
Erst mit dem PISA-Schock im Jahr 2000 und dem folgenden Wechsel von der Input- zur Outcome-Orientierung hat sich in Deutschland der Kompetenzbegriff durchgesetzt. Im Rahmen der Einführung von bundeseinheitlichen Bildungsstandards als Grundlage der Bildungspläne der Länder wurden die Fachdidaktiken gefordert, für ihr Fach Kompetenzen zu formulieren, die die Schülerinnen und Schüler zu bestimmten Zeitpunkten ihrer Schullaufbahn erreichen sollen.69 Die oben skizzierten Ergebnisse der geschichtstheoretischen und -didaktischen Überlegungen der letzten Jahrzehnte liegen der aktuellen Diskussion über die Kompetenzmodellierung im Fach Geschichte zugrunde. »Geschichte denken statt pauken«70 ist seit vielen Jahren das Credo der nationalen und internationalen Diskussion über die Ziele historischen Lernens bzw. der »history education«71. Doch trotz der gemeinsamen geschichtstheoretischen Grundlagen verlief die »Theoriebildung zum kompetenzorientierten Lernen [in der deutschen Geschichtsdidaktik] weniger konzertiert als kompetetiv«72, sodass es zu einer Ausdifferenzierung verschiedener Modelle kam, die in ihrer theoretischen Grundlegung und ihren Zielsetzungen jedoch durchaus vergleichbar sind.73 Eine zentrale Stellung in allen Kompetenzmodellen nehmen die – in den Modellen unterschiedlich benannten – Methodenkompetenzen ein, die im FUER-Modell74 als »Re- und De-Konstruktionsprozesse« bezeichnet werden. In 69 Eckhard Klieme u. a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Berlin 2003. (http://www.bmbf.de/pub/zur_entwicklung_nationaler_bildungsstandards.pdf, aufgerufen am 10. 11. 2014). 70 Sylvia Mebus/Waltraud Schreiber : Geschichte denken statt pauken. Didaktisch-methodische Hinweise und Materialien zur Förderung hstorischer Kompetenzen. Meißen 2005 (Siebeneichener Diskurse, Bd 3). Peter N. Stearns/Peter Seixas/Sam Wineburg, S. (Hrsg): Knowing, teaching, & learning history. National and international perspectives. New York 2000. 71 Köster/Thünemann/Zülsdorf-Kersting (vgl. Anm. 57). 72 Michele Barricelli/Peter Gautschi/Andreas Körber : Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In Barricelli/Lücke (Anm. 13.), Bd. 1, S. 207–235, hier S. 211. 73 U.a. Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht: Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009. Wolfgang Hasberg: Historiker oder Pädagoge? Geschichtslehrer im Kreuzfeuer der Kompetenzdebatte. Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (Jahresband 2010), S. 159–179. Körber/Schreiber/Schöner (Anm. 58). Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 2005. Verband der Geschichtslehrer Deutschland (Hrsg.): Bildungsstandards Geschichte. Sekundarstufe I. Rahmenmodell Gymnasium. 5.–10. Jahrgangsstufe. (2006/2010). (http://www. geschichtslehrerverband.org/fileadmin/images/pdf/bildungsstandards.pdf, aufgerufen am 17. 12. 2014). 74 Das Akronym »FUER Geschichtsbewusstsein« steht für eine internationale Gruppe von Geschichtswissenschaftler/innen, Fachdidaktiker/innen und Lehrer/innen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Förderung eines reflektierten und (selbst-) reflexiven Geschichtsbewusstseins durch Grundlagenforschung und Empirie zu präzisieren. Vgl. Schreiber
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den US-amerikanischen »Historical Thinking Standards« werden diese beiden Basisoperationen des historischen Denkens ebenfalls adressiert. Die Lernenden »should raise questions, compare and contextualize information learned out of different sources to create a historical narrative by themselves, [and (2)] have to analyze the assumptions from which the narrative was created, and should assess the validity of the evidence presented«.75
Da eine Zeitzeugenaussage – wie oben ausgeführt wurde – als Quelle und Darstellung verstanden werden kann, haben wir uns in der vorliegenden Studie für das FUER-Modell entschieden, das in seiner Definition von Re- und DeKonstruktionsprozessen explizit auf die Unterscheidung zwischen Quellen und Darstellungen abhebt.
4.3
Das FUER-Modell
Ähnlich wie in den Kompetenzmodellen von Pandel, Gautschi und Hasberg76 setzt auch das FUER-Modell am Konzept der »disziplinären Matrix«77 von Rüsen an. Hier werden die Prinzipien und Operationen historischen Denkens (Ideen, Methoden, Formen der Darstellung, Funktionen) in einem systematischen, Lebenswelt und Geschichtswissenschaft miteinander verknüpfenden Regelkreis dargestellt. Hasberg und Körber haben Rüsens Matrix unter dem Titel »Geschichtsbewusstsein dynamisch«78 zu einem Prozessmodell historischen Denkens ausdifferenziert.
75 76 77 78
u. a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell. (http://www.ku.de/fileadmin/ 140205/Publikationen/Sonderdruck_Kompetenzen_2Auflage.pdf, aufgerufen am 05. 05. 2015). Neuried 22006 (Sonderdruck), S. 6. National Center for History in the Schools UCLA. National standards for history. Basic edition. 1996 (http://www.nchs.ucla.edu/history-standards/historical-thinking-standards, aufgerufen am 04. 05. 2015). Vgl. Anm. 73. Rüsen (Anm. 55), S. 29. Wolfgang Hasberg/Andreas Körber : Geschichtsbewusstsein dynamisch. In: Andreas Körber (Hrsg.): Geschichte – Leben – Lernen. Bodo von Borries zum 60. Geburtstag. Schwalbach/Ts 2003, S. 177–200.
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Abbildung 1: »Geschichtsbewusstsein dynamisch«79
Die Abbildung 1 zeigt den Regelkreis des Geschichtsbewusstseins, der von einem Orientierungsbedürfnis ausgeht und zur Erarbeitung einer historischen Fragestellung führt, die sich entweder re-konstruktiv an die Vergangenheit oder de-konstruktiv an eine vorliegende Geschichte (= Narration bzw. Darstellung) richtet. Das Ergebnis der Re- und De-Konstruktion ist der Aufbau eigener oder die Erkenntnis fremder Deutungen. Diese Ergebnisse geben in der Beantwortung der anfangs gestellten Frage eine Orientierung, können (und sollen) aber auch zu neuen Verunsicherungen und Fragestellungen führen. Die FUER-Gruppe hat dieses Prozessmodell als Ausgangspunkt für die Bestimmung der zentralen Kompetenzbereiche historischen Denkens genommen. Daher ist im Hintergrund des FUER-Modells (Abb. 2) die Grafik des Prozessmodells schemenhaft zu erkennen. Im FUER-Modell werden als Hauptkompetenzbereiche die Frage-, Methoden-, Orientierungs- und Sachkompetenzen unterschieden. Dem Prozessmodell entsprechend, setzen Verunsicherungen und Interessen den Prozess historischen Denkens in Gang, der sich – in einer Fragestellung gebündelt (Fragekompetenz) – entweder in re-konstruierender Absicht an die Vergangenheit richtet oder sich in de-konstruierender Absicht mit vorliegenden historischen Narrationen auseinandersetzt (Methodenkompetenzen: Reund De-Konstruktionskompetenz). Zur Operationalisierung der Re- und DeKonstruktionsprozesse wird Bezug genommen auf die oben erwähnte SechserMatrix, welche als Hintergrund hinter der Methodenkompetenz angedeutet 79 Ebd., S. 187.
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wird.80 Das Ergebnis der re- und de-konstruierenden Operationen präsentiert sich als eigene Narration bzw. als Stellungnahme gegenüber einer Darstellung und befriedigt entweder bereits die Orientierungsbedürfnisse (Orientierungskompetenz) oder führt zu einer neuen historischen Frage. Durch den an verschiedenen Themen und Fragestellungen immer wieder durchlaufenen Prozess historischen Denkens bilden sich historische Sachkompetenzen heraus, d. h. die Schülerinnen und Schüler verfügen in zunehmendem Maße über die für den Umgang mit Geschichte relevanten Prinzipien, Konzepte und Skripts. Zum Beispiel verstehen sie zentrale geschichtswissenschaftliche Begriffe wie auch epistemologische Prinzipien des Fachs.81
Abbildung 2: Kompetenzen historischen Denkens82
5.
Ausgestaltung der Unterrichtseinheit
Ziel der Unterrichtseinheit ist es, den Lernenden am Beispiel der Arbeit mit Zeitzeugen einen Einblick in die geschichtstheoretischen Grundlagen des Fachs Geschichte zu vermitteln. Zum einen vollziehen sie im Lauf der Unterrichtseinheit re- und de-konstruierende Arbeitsschritte. Auf Basis von Quellen und 80 Die Sechser-Matrix nimmt im FUER-Modell einen prominenten Platz ein und eröffnet die Basisgrafiken im Grundlagenband. Körber u. a. (Anm. 58), S. 863. 81 Schreiber u. a. (Anm. 58). 82 Schreiber u. a. (Anm. 74), S. 56.
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Darstellungen recherchieren sie Ereignisse und stellen Zusammenhänge her, die zur Friedlichen Revolution geführt haben. Zum anderen de-konstruieren sie differerierende Zeitzeugenaussagen im Hinblick auf die Beurteilung der DDR. Diese re- und de-konstruierenden Operationen werden den Schülerinnen und Schülern offen gelegt, so dass sie einen Einblick in die Arbeit von Historikern wie auch in die dem Fach Geschichte zugrunde liegenden epistemologischen Prinzipien erhalten.
Erste Stunde: Leitfrage und didaktische Grundfigur der Unterrichtseinheit Den Ausgangspunkt der Unterrichtseinheit bildet die Kontroverse zwischen Erwin Sellering und Angela Merkel anlässlich des 20-jährigen Jahrestags des Mauerfalls zu der Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei. Während sich Sellering dagegen verwahrt, die »DDR als totalen Unrechtsstaat zu verdammen«83und auf die »Stärken der DDR«84 wie z. B. die Kitas verweist,war die DDR für Angela Merkel »auf Unrecht gegründet«85. Daher müsse weiter an das »unerträgliche Leben«86 in der DDR erinnert werden, »denn es habe schließlich zur friedlichen Revolution geführt«87. Zwei Zeitzeugen vertreten also zwei sehr unterschiedliche Positionen zur Einschätzung der DDR. Die Leitfrage der Unterrichtseinheit ist im Jeismann’schen Dreiklang (Sachanalyse – Sachurteil – Werturteil)88 der dritten Ebene, dem »Werturteil«, zuzuordnen. Das Werturteil baut auf der Analyse (= Wahrnehmen des historischen Gegenstandes) und dem Sachurteil (= Interpretation des historischen Gegenstandes im historischen Kontext) auf. Diese Stufen müssen jedoch nicht notwendigerweise nacheinander ablaufen, solange die Perspektive, aus der Urteile abgegeben werden, deutlich wird.89 Der Zugang über das Werturteil führt 83 Frank Pergande/Markus Wehner: Erwin Sellering im Gespräch »DDR war kein totaler Unrechtsstaat«. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 22. März 2009. (http://www.faz. net/aktuell/politik/inland/erwin-sellering-im-gespraech-ddr-war-kein-totaler-unrechtsstaat1924072.html, aufgerufen am 05. 05. 2015). 84 Ebd. 85 FAZnet vom 8. Mai 2009. (http://www.faz.net/aktuell/politik/20-jahre-mauerfall/20-jahrefriedliche-revolution-merkel-ddr-war-ein-unrechtsstaat-1802764.html, aufgerufen am 05. 05. 2015). 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Vgl. Jeismann (Anm. 62), S. 93. 89 Jörg Kayser : Die Förderung historisch-politischer Urteilskompetenz. Fachdidaktische Untersuchungen zum Verhältnis zwischen einem didaktisch- theoretischen Modell und seinen unterrichtspraktischen Möglichkeiten. Berlin 2010 (Dissertation), S. 33f. Birgit Wenzel: Ich meine! Was denkst du? Wir urteilen! Über Prägungen durch Peter Schulz-Hageleit und die Urteilsbildung im (Anfangs-)Geschichtsunterricht. In: Christoph Hamann/Judith Martin (Hrsg.): Geschichte – Friedensgeschichte – Lebensgeschichte. Herbolzheim 2007, S. 46–54.
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den Schülerinnen und Schülern den Gegenwartsbezug der Fragestellung und des Themas DDR vor Augen. Die Leitfrage »trägt« durch die gesamte Unterrichtseinheit und wird anhand von Quellen, Darstellungen und Zeitzeugenaussagen untersucht, so dass die Einstiegs-Leitfrage in der letzten Stunde quellenbasiert und kriterienorientiert diskutiert werden kann. Zur Veranschaulichung des methodischen Vorgehens von Historikern wird die Figur von Sherlock Holmes eingeführt. Auch dieser recherchiert die näheren Umstände einer Tat, befragt Zeitzeugen und wertet seine Befunde kritisch-vergleichend aus.90 Damit werden zwei Ziele verfolgt. Zum einen soll der historische Forschungsprozess – inklusive der Arbeit mit Zeitzeugeninterviews – von den Lernenden selbst nachvollzogen werden. Zum anderen wird dieses Vorgehen offen gelegt. Am Beispiel der detektivisch-historischen Arbeitsweise werden die zentralen geschichtsdidaktischen Vorstellungen der Re- und De-Konstruktion veranschaulicht. (Zeit-)Zeugenaussagen müssen kritisch hinterfragt (= de-konstruiert) werden und dienen gleichzeitig als ein Puzzlestein für die Re-Konstruktion der Vergangenheit. Als Hausaufgabe befragen die Schülerinnen und Schüler die eigenen Eltern zu ihrer Erinnerung an die DDR und Friedliche Revolution. Zweite Stunde: Chronologie der Friedlichen Revolution Der Einstieg in die zweite (Einzel-)Stunde erfolgt über die Tagesschau vom 10. November 1989. Hieran schließt sich ein Blitzlicht an, in dem die Lernenden ihr (von den Eltern erfragtes) Vorwissen zur DDR zusammengetragen. Die Lehrkraft sammelt und strukturiert die Ergebnisse unter den Oberbegriffen »SED und politische Ordnung«, »Stasi«, »Sowjetunion/Gorbatschow«, »Mauer/ Massenflucht«, »Opposition/Protestbewegung« und »(Plan-)Wirtschaft« an der Tafel. Nachfolgend erarbeiten die Schülerinnen und Schüler mit Hilfe eines Arbeitsblattes die Chronologie der wichtigsten Ereignisse in den letzten Monaten der DDR. Abschließend werden zu den sechs Themen Gruppen gebildet, verbunden mit der Hausaufgabe, die Materialien zu ihrem Thema im bereit gestellten Reader zu lesen. Dritte und vierte Stunde: Themenplakate erarbeiten (Gruppenarbeit) Um die Fachbegriffe »Quelle« und »Darstellung« zu klären, werden zu Beginn der (Doppel-)Stunde das Filmplakat von »Das Leben der anderen« (Beispiel für 90 Vgl. Alexander von Plato: »Ähnlichkeiten von historischen und kriminalistischen Arbeiten«. Ders.: Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel: Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle. Bonn 22003 (Lizenzausg. für die Bundeszentrale für Politische Bildung), S. 11.
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eine Darstellung) und das Foto eines in einer langen Reihe einfahrenden TrabbiFahrers, der am Grenzübergang mit Handschlag begrüßt wird (Beispiel für eine Quelle) gegenüber gestellt. Auf Basis des Readers, in dem die sechs Themen mit Quellen und Darstellungen vorgestellt werden, und vorbereiteter Bildmaterialien erarbeiten die sechs Gruppen ihr jeweiliges Thema und überlegen sich, welchen Anteil ihr Thema an der Friedlichen Revolution hatte. Die Gruppen präsentieren am Ende der Stunde auf Plakaten die Ergebnisse der »Re-Konstruktion« ihres jeweiligen Themas. Fünfte und sechste Stunde: Arbeit mit Zeitzeugenaussagen (Live – Video – Text) Ausgehend von einer Kurzbiographie des oder der jeweiligen Zeitzeugen/in notieren die Lernenden ihre Fragen auf Moderationskarten. Beim Vorlesen der Fragen wird gemeinsam überlegt, ob und wenn ja zu welchem der sechs Themenschwerpunkt die jeweilige Frage zugeordnet werden kann. Erst danach unterscheidet sich der Unterricht abhängig von der jeweiligen Präsentationsform des Zeitzeugeninterviews. Der oder die live anwesende Zeitzeug/in bezieht sich in seinem/ihren Bericht direkt auf die Schülerfragen. Wird hingegen mit einem Video bzw. mit der Transkription einer Zeitzeugenaussage gearbeitet, dann werden die Schülerfragen basierend auf dem vorliegenden Material gemeinsam beantwortet. Ob live gearbeitet wird oder mit dem Video oder der Transkription, in dieser Stunde wird die Zeitzeugenaussage als ein weiteres »Puzzleteil« für die ReKonstruktion der DDR und der Friedlichen Revolution genutzt. Siebte Stunde: De-Konstruktion differierender Zeitzeugenaussagen Den Einstieg in die letzte Stunde bietet das Foto des Zeitzeugen verbunden mit den Fragen, ob dies eine Quelle oder eine Darstellung sei und ob »unser/e« Zeitzeuge/in die DDR als einen Unrechtsstaat einschätzen würde. Da »unsere« Zeitzeugen während der Friedlichen Revolution aktiv in der Oppositionsbewegung mitgearbeitet haben,91 wird die zweite Frage bejaht. Dem werden die Ergebnisse einer Emnid-Umfrage von 2009, in der die Mehrheit der Bürger in den neuen Bundesländern aussagt, die DDR habe mehr gute als schlechte Seiten gehabt, gegenüber gestellt. Die Umfrageergebnisse werden unterfüttert mit kurzen Zitaten von zwei ehemaligen DDR-Bürgern, die bei dem Vergleich zwischen der DDR und dem wiedervereinigten Deutschland die DDR als den
91 Die insgesamt vier Zeitzeugen, die live in die Klassen kamen bzw. mit deren Videos und Transkriptionen gearbeitet wurden, waren über die Seite www.jugendopposition.de gefunden und akquiriert worden.
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»besseren« Staat einschätzen.92 Einer davon ist Birger, zum Ende der DDR 10 Jahre alt, der in einem Interview sagte: »Die meisten DDR-Bürger hatten ein feines Leben. Ich denke keinesfalls, dass es hier besser ist. Früher gab es die Stasi, heute sammelt Schäuble unsere Daten – oder die GEZ. […] Man kann nicht sagen, die DDR war ein Unrechtsstaat, und heute ist alles gut.«93
Diese Einschätzung wird der Aussage des/r »eigenen«, der DDR sehr kritisch gegenüberstehenden Zeitzeug/in gegenübergestellt. Evelyn Zupke zum Beispiel hatte in einer Klasse in der vorhergehenden Stunde berichtet: »Die Wahlen in der DDR waren Schein-Wahlen. Es gab zwar eine Wahlkabine, aber in die ist keiner hineingegangen. […] Das Wahlergebnis war schon vorher bekannt. Das wusste jeder. […] Die DDR war ein Unrechtsstaat, denn es gab keine Wahl-, Meinungsoder Pressefreiheit, also all das gab es nicht, was einen Rechtsstaat ausmacht.«94
Mit diesen unterschiedlichen Einschätzungen der DDR konfrontiert, erkannten die Schülerinnen und Schülern im Unterrichtsgespräch rasch, dass die Erzählung durch die jeweilige Perspektive und den Erfahrungshintergrund beeinflusst wird, z. B. durch das Alter (Birger war damals ein Kind, Evelyn Zupke war schon erwachsen), die Erlebnisse (Kindheitserlebnisse versus Bedrohung durch die Stasi) oder durch spätere Erfahrungen (wie ging es nach der Wiedervereinigung weiter?) etc. Doch auf die Frage, wie wir angesichts dieser widersprüchlichen Aussagen zu einem eigenen Urteil hinsichtlich unserer Leitfrage: »War die DDR ein Unrechtsstaat?« kommen können, reagierten die Schülerinnen und Schüler mehr oder weniger hilflos. In vielen Klassen kam der Vorschlag, alle ehemaligen DDR-Bürger zu befragen und abzustimmen. Angesichts der Ergebnisse der Emnid-Umfrage von 2009 erscheint aber auch dieser Weg fragwürdig. Im nächsten Schritt wurden die »Fokussierungen« des FUER-Modells95 auf einem Arbeitsblatt in die Schülersprache übersetzt, um die kontroversen Urteile basierend auf den Triftigkeitskriterien von Rüsen96 zu überprüfen. (1) »Liste auf, welche Fakten zur DDR berichtet werden.« Diese Formulierung zielt auf die »empirische Triftigkeit«, die danach fragt, auf welchen »Vergangenheitspartikeln«97 die Argumentation beruht.
92 Julia Bonstein: Heimweh nach der Diktatur. SPIEGEL 27/09, S. 124–126. Verfügbar unter http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/65872415. 93 Zit. nach ebd., S. 124. 94 Auszug aus dem Live-Interview mit Evelyn Zupke, 6. Juli 2012, in einer neunten Gymnasialklasse in Tübingen. 95 Körber u. a. (Anm. 58), S. 863. 96 Rüsen (Anm. 53), S. 82f. 97 Schreiber (Anm. 74), S. 23.
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(2) »Wie deutet der Zeitzeuge in seinen Aussagen die Ereignisse?« Hier wird die »narrative Triftigkeit« adressiert: Es geht darum, ob die Argumentation überzeugend und zwingend ist. (3) »Welche Schlüsse sollen wir für die Zukunft aus dem Zeitzeugenbericht ziehen?« Ob die Botschaft des Zeitzeugen für uns heute ein »guter Rat« ist, dieser Bereich kann der »normativen Triftigkeit« zugeordnet werden. Dabei stellte sich heraus, dass die »Fakten«, die Birger nannte, sich darauf reduzieren lassen, dass es die Stasi gab und die GEZ gibt bzw. dass der Innenminister Schäuble Daten sammelt. Diesen Aussagen würde niemand widersprechen, sie sind »empirisch triftig« und anhand vielfältiger Quellen überprüfbar. Die »narrative Triftigkeit« der Argumentation Birgers kann jedoch angezweifelt werden. Denn dass das Datensammeln der Stasi gleich gesetzt werden kann mit dem Datensammeln der GEZ bzw. der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009, ist eine Argumentationslinie, der sich viele nicht anschließen würden und der auf der Grundlage weiterer Quellen und Darstellungen widersprochen werden kann. Die Botschaft Birgers, der dem Leben in der DDR den Vorzug gibt (»Die meisten DDR-Bürger hatten ein feines Leben. Ich denke keinesfalls, dass es hier besser ist.«), sollte im Hinblick auf die »normative Triftigkeit« überprüft werden. Ist das ein »guter Rat« für uns heute und wollen wir diesem folgen? Die (normative) Einschätzung Evelyn Zupkes hingegen, dass die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, basiert auf einer narrativ triftigen Argumentationslinie: Das, was einen Rechtsstaat ausmacht, also eine Wahl-, Meinungs- oder Pressefreiheit, habe es nicht gegeben. Die Bestandteile der Argumentation (also die »Vergangenheitspartikel«) können empirisch überprüft werden: Bei den Wahlen habe es sich um »Schein-Wahlen« gehandelt, bei denen es verpönt gewesen sei, die Wahlkabine zu benutzen. Dadurch dass die Zeitzeugenaussagen im Hinblick auf die Fokussierungen der »Vergangenheit«, der »Geschichte« und der »Gegenwart und Zukunft« analytisch getrennt und mit Hilfe der Triftigkeitskriterien überprüft werden, wird den Schülerinnen und Schülern ein Instrument an die Hand gegeben, um zu einem eigenen kriteriengeleiteten Sach- und Werturteil zu kommen. Wenn diese geschichtstheoretischen Grundlagen in eine schülernahe Sprache »übersetzt« werden, dann Können auch Lernenden der Sekundarstufe I diese verstehen und für die De-Konstruktion von Narrationen nutzen können.98
98 Vgl. hierzu das internationale Projekt zur De-Konstruktion von Schulbüchern von: Waltraud Schreiber/Carola Grunder (Hrsg.). Geschichte durchdenken. Schüler de-konstruieren internationale Schulbücher. Das Beispiel »1989/1990 – Mauerfall«. Neuried 2010.
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5.
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Fazit
Die Ergebnisse der Studie können an dieser Stelle nicht ausführlich dargelegt werden. Ein zentraler Befund soll jedoch genannt und diskutiert werden. Obwohl die Intervention in allen drei Bedingungen weitgehend gleich ablief und ein wesentlicher Schwerpunkt in der Vor- und Nachbereitung auf der Reflexion der Standortgebundenheit und Perspektivität von Zeitzeugenaussagen lag, haben die Lernenden in der Live-Gruppe weniger gut als die in der Video- und Textgruppe erkannt, dass Zeitzeugenaussagen und andere Narrationen kritisch dekonstruiert werden müssen. Der Live-Zeitzeuge scheint eine große Überzeugungskraft zu entfalten, sodass die Lernenden – obwohl sie genau hierauf vorbereitet wurden – die Notwendigkeit, Zeitzeugenaussagen und Narrationen kritisch zu hinterfragen, weniger gut als die Vergleichsgruppen nachvollziehen konnten. Trotzdem waren sie von ihren inhaltlichen und methodischen Lernerfolgen sehr viel überzeugter als die Vergleichsgruppen und die Arbeit mit Zeitzeugen hat ihnen sehr viel mehr Spaß gemacht. Für die unterrichtliche Praxis bedeuten diese Befunde, dass mit der LiveBefragung sehr sorgsam umgegangen werden sollte. Die Wirkmächtigkeit des live auftretenden Zeitzeugen kann dazu führen, dass mit der Narration unreflektiert umgegangen wird. Dies steht im diametralen Gegensatz zu den Zielen eines kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts. Vergegenwärtigt man sich, dass Zeitzeugenbefragungen im Schulalltag häufig ohne eine unterrichtliche Vor- und/oder Nachbereitung stattfinden, dann ist dieser Befund alarmierend. Lehrkräfte sollten daher für einen sorgsamen Umgang mit Zeitzeugenbefragungen dringend sensibilisiert werden. Die hier vorgestellte Unterrichtseinheit gibt Hinweise für die didaktisch sinnvolle Umsetzung von Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht. Hierzu gehört beispielsweise, dass die Begegnung mit dem/der Zeitzeugen/in in den Unterricht eingebettet sein sollte. Die Lernenden sollten das Thema kennen, um sinnvolle Fragen stellen zu können. Um zu verhindern, dass die Zeitzeugen »eingeschliffene« Geschichten erzählen, ohne die Informationsbedürfnisse und Fragen der Lernenden zu berücksichtigen, können den Lernenden vorab Informationen über den oder die Zeitzeugen/in vorgelegt werden, auf deren Grundlage sie sich Fragen überlegen, so dass eine interaktive Gesprächssituation entstehen kann. Neben der inhaltlichen ist die methodische Vorbereitung wichtig. Der Vergleich mit der kriminalistischen Arbeitsweise hilft beispielsweise, die »Fallen« bei der Zeitzeugenbefragung bewusst zu machen. Von besonderer Bedeutung ist die nachfolgende Auswertung der Zeitzeugenaussage. Die Kontrastierung der Aussage des live befragten Zeitzeugen mit den Aussagen anderer Zeitzeugen verdeutlicht die jeweils perspektivische Sichtweise auf die Vergangenheit. Von besonderer Bedeutung ist es, den Schülerinnen und
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Schülern Kriterien an die Hand zu geben, um differierende Aussagen miteinander zu vergleichen. Hierfür eignen sich die – in die Sprache der Schülerinnen und Schüler »übersetzten« – Triftigkeitskriterien von Rüsen. Die in der Studie durchgeführte Unterrichtseinheit stand unter einem strengen Zeitdiktat. Im »normalen«, eigenen Geschichtsunterricht ist es möglich und notwendig, für die Auswertung und den Vergleich mit anderen Aussagen mehr Zeit zu veranschlagen. Zum einen könnten mehrere Zeitzeugen – ob live, als Video oder im Textauszug – ausführlicher zu einem Thema zu Wort kommen, damit ihre verschiedenen Sichtweisen für die Lernenden einen vergleichbar hohen Stellenwert bekommen.99 Zum anderen wäre es wichtig, die auf den Triftigkeitskriterien basierende kriteriengeleitete Auswertung der Zeitzeugenaussagen in einem längeren Prozess selbstständig zu erarbeiten und an weiteren Themen und Materialien anzuwenden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Lernende in einer relativ kurzen, auf die Arbeit mit Zeitzeugen ausgerichteten Unterrichtseinheit einen Einblick in die Grundlagen des Fachs Geschichte erwerben können. Die Arbeit mit einem Zeitzeugen ist in motivationaler Hinsicht besonders wirkungsvoll, im Hinblick auf die Distanzierungsfähigkeit der Lernenden jedoch problematisch. Um die Lernchancen zu nutzen und die Risiken zu minimieren, sollte eine Zeitzeugenbefragung im Geschichtsunterricht sorgfältig vor- und nachbereitet werden. Die Bereitschaft der Lernenden, sich auf die Geschichte(n) des Zeitzeugen einzulassen, darf nicht dazu führen, dass diese Erzählung ihre Vorstellung von der Vergangenheit determiniert. Stattdessen wäre zu hoffen, dass in der Begegnung mit Zeitzeugen die Vergangenheit so lebendig und vielstimmig wird, dass die Lernenden die Erzählungen als Bausteine nutzen, um sich reflektiert und (selbst-)reflexiv die »Geschichte« zu erschließen.
99 Schreiber/Ýrkossy (Anm. 13).
Max Twickler
Rückständigkeit im Provinziellen? Die Kriegerdenkmäler der Weimarer Jahre und die Kriegerdenkmalskultur der westfälischen Provinz unter geschichtskultureller Perspektive
Einleitung (Krieger-)Denkmäler gehören, ausgehend von den Grundsatzüberlegungen zu den geschichtsdidaktischen Zentralkategorien Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur als dessen materialisierter ›Außenseite‹, zu Standardthemen des Geschichtsunterrichts. Ihre Bedeutung für eine Geschichtsdidaktik, die sich unter anderem auch durch ein Interesse an gesellschaftlichen Wandlungsprozessen auszeichnet, wurde nicht erst seit dem 1992/93 unter dem Thema: ›Denkmal: Erinnerung – Mahnmal – Ärgernis‹ durchgeführten Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten in verschiedenen Kontexten betont und unter zahlreichen Gesichtspunkten beleuchtet.1 Als erste ›Blütezeit‹ einer in diesem Kontext erforschten und in Teilen weiterhin zu erforschenden Kriegerdenkmalskultur in Deutschland kann die frühe Phase der Weimarer Republik gelten, was angesichts des Massensterbens auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges nur allzu nachvollziehbar ist. Obwohl zahlreiche Denkmäler dieser Zeit und auch der spätere Umgang mit ihnen in den letzten Jahrzehnten aus verschiedenen Perspektiven und vor dem Hintergrund beständig wechselnder Kontexte in zahlreichen Publikationen Beachtung fanden, erscheint der Aspekt eines strukturellen Vergleichs im Hinblick auf den Aufstellungsort der Male und die damit verbundenen Milieus bislang wenig hinterfragt.2 Dieser Beitrag geht der Frage nach, welche Kennzeichen für eine 1 Richtungsweisend war in dieser Hinsicht sicherlich: Reinhart Koselleck: Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen für die Überlebenden. In: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hrsg.): Identität. München 1979. S. 255–276. In der Folge entstanden sowohl einige Gesamtdarstellungen wie beispielsweise das umfassende Werk von Meinhold Lurz: Kriegerdenkmäler in Deutschland. 6 Bde. Heidelberg 1985–1988, als auch zahlreiche, teils regional akzentuierte Einzelstudien wie beispielsweise Gerhard Schneider : ›… nicht umsonst gefallen‹? Kriegerdenkmäler und Kriegstotenkult in Hannover. Hannover 1991. 2 Dem Vergleich möglicherweise voneinander abweichender Formen von Kriegerdenkmalskultur im urbanen und ländlichen/kleinstädtischen Milieu dient mein Dissertationsprojekt
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Kriegerdenkmalskultur im ländlichen Milieu, d. h. auf der Ebene von Dörfern und Kleinstädten, möglicherweise besonders prägend sind. Im Folgenden soll zunächst kurz die Herangehensweise skizziert werden. Besonders prägend für die Untersuchung ist – neben einer speziellen räumlichen und diachronen Perspektive – die Ausgangshypothese einer eventuellen ›Rückständigkeit im Provinziellen‹ die im Kern auf einige Thesen des Göttinger Historikers Habbo Knoch zurückgeht.3 Die unter diesen Gesichtspunkten vorgenommene Untersuchung soll, neben dem vorrangigen Ziel der Überprüfung dieser These, zum einen die entscheidenden Mechanismen bei der Denkmalssetzung aufdecken, zum anderen aber auch und besonders die Strukturen hinterfragen, welche die unterschiedlichen Formen von Gefallenengedächtnis und die im steten Wandel befindliche Kriegergedenkkultur des vergangenen Jahrhunderts entscheidend mitprägten. An dieser Stelle muss auf die sich unweigerlich stellende Frage nach der Angemessenheit oder auch Korrektheit eines wie auch immer gearteten Umgangs mit Kriegerdenkmälern als Quelle zwischen Tradition und Überrest hingewiesen werden.4 Die Suche nach einer Antwort gestaltet sich äußerst schwierig und verweist auf das allgemeine Problem, in einem Denkmal Antworten auf Krieg, Verfolgung und Gewalt zu finden. Als minimaler Konsens wird in der vorliegenden Untersuchung jedoch davon ausgegangen, dass Denkmäler, deren inhaltliche Aussagen revanchistische, nationalistische oder kriegsverherrlichende Tendenzen aufweisen, oft kritiklos fortgeschrieben beziehungsweise als Kulisse für ritualisierte Gedenkveranstaltungen genutzt werden. Sie müssen im Verständnis einer, mitunter kontroversen, Aufarbeitung der Vergangenheit als problematisch auch im Sinne geschichtswissenschaftlicher Korrektheit gelten.
unter dem Arbeitstitel ›Kriegerdenkmäler in Westfalen‹ – ein struktureller Vergleich unter geschichtskultureller Perspektive. 3 Vgl. insbesondere den Aufsatz Habbo Knoch: Das mediale Gedächtnis der Heimat. Krieg und Verbrechen in den Erinnerungsräumen der Bundesrepublik. In: ders. (Hrsg.): Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945. Göttingen 2001. S. 275–300. Dabei bezieht sich Knoch an zentraler Stelle auf Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. (zuerst 1966) In: (ders.): Gesammelte Schriften, Bd. 10.2. Frankfurt a.M. 1977, S. 674–691. 4 Zur Frage der diesbezüglichen Klassifizierung von Kriegerdenkmälern als Medien des Geschichtsunterrichts vgl. Gerhard Schneider : Kriegerdenkmäler als Unterrichtsquellen. In: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 1999. S. 525–580, hier S. 530f.
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Die Kriegerdenkmäler der Zeit von 1914–1933 als Untersuchungsgegenstand
Die Kriegerdenkmalskultur in Deutschland erreichte ihre erste Blütezeit während und nach dem Ersten Weltkrieg. Waren es zuvor vor allem Sieges- und Nationaldenkmale, die an den Ausgang von Kriegen und Schlachten erinnerten und die Namen der einzelnen Soldaten unerwähnt ließen, so entwickelte sich nach dem Beginn des Weltkrieges eine neue Form der Gefallenenehrung. Eine Fokussierung auf die Denkmäler, welche in jenem Zeitraum gesetzt wurden, ist besonders im Hinblick auf die Vielzahl der heute noch existierenden Kriegerdenkmäler aus dieser Zeit interessant.5 Die zur Zeit der Weimarer Republik neu geschaffenen Denkmäler für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges heißen zumeist Helden-, Gefallenen- oder Kriegerdenkmäler, sind oft jedoch auch mit dem Zusatz ›Ehrenmal‹ versehen. Bereits hier lässt sich ablesen, dass nicht die Trauer um den Tod der Soldaten, sondern die Betonung ihrer Bewährung im Kampf im Vordergrund steht.6 Mit der verstärkten Denkmalsetzung nach dem Ersten Weltkrieg ist auch eine Vervielfältigung des Gefallenengedächtnisses verbunden. Davon zeugen diverse Denkmalskategorien wie Regimentsdenkmäler, Kirchendenkmäler, Vereinsdenkmäler oder Gemeindedenkmäler.7 Bezüglich der chronologischen Entwicklung der hier zu analysierenden Denkmalskultur unterscheidet Behrenbeck zwei unterschiedliche Wellen. Die erste setzte direkt nach Kriegsende ein, die zweite hingegen erst 1929, was wohl als ein Zeichen der sich ändernden politischen Verhältnisse gewertet werden kann.8 Auch bezüglich der eingesetzten Motive und Stile lassen sich nach Behrenbeck zwei Phasen nachweisen: Findet sich direkt nach Kriegsende eine Dominanz vermehrt christlicher Trauer- und Trostsymbole, werden nach dem Zäsurpunkt von 1929 Trotz und profaner Trost in den Vordergrund gestellt. Dies kann vermutlich auf den maßgeblichen Einfluss der Soldatenverbände und auch der rechten Propaganda zurückgeführt werden.9 Die in dieser Zeit neu gestifteten Monumente thematisieren männliches Kampfgefühl und das Kriegserlebnis, während die negativen Seiten des Krieges wie beispielsweise Verlust, Verletzung oder Elend oft ausgeklammert bleiben.10 Aus diesem Grund domi5 Vgl. Gerhard Schneider: Kriegerdenkmäler. In: Geschichte Lernen. H. 8, 1989, S. 52–58. 6 Vgl. Sabine Behrenbeck: Heldenkult oder Friedensmahnung? Kriegerdenkmale nach beiden Weltkriegen. In: Gottfried Niedhart/Dieter Riesenberger (Hrsg.): Lernen aus dem Krieg? München 1992. S. 344–364. 7 Vgl. Schneider (Anm. 5), S. 53. 8 Zur diesbezüglichen Entwicklungstendenzen vgl. Behrenbeck (Anm. 6), S. 348. 9 Vgl. ebd., S. 350. 10 Vgl. ebd., S. 351.
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niert die Darstellung von körperlich unversehrten und korrekt uniformierten Kombattanten.11 Der Kriegstod selbst wird nicht als leidvolle Erfahrung dargestellt, sondern als Opfer für Heimat und Vaterland stilisiert, was die Vorstellung vom »Krieg als elementarer Naturgewalt«12 unter den Überlebenden verstärkt. Hauptelemente dieser Denkmäler sind zum einen die Inschriften mit den Namen der getöteten Einwohner der Orte, zum anderen eine allgemeine Widmung, die an das Sterben für das Vaterland erinnert.13 Vielfach werden die Gefallenen auf den Inschriften als Helden verklärt, besonders dort, »wo profane Gemeinden und/oder Traditionsverbände beziehungsweise Kriegervereine eine Denkmalsstiftung anregten.«14 Diese Art des Heldengedenkens rühmt die vorgeblichen Tugenden der Soldaten im Feld und ihren vorbildlichen Tod. Sie ist darüber hinaus nicht an einen bestimmten Stil der künstlerischen Gestaltung gebunden.15 Auffällig ist in diesem Kontext die Verbindung der vermeintlichen Helden mit der Verteidigung des Vaterlandes als Zweck des Todes.16 An dieser Stelle muss, Lurz folgend, zwischen den Begriffen ›Vaterland‹ und ›Heimat‹ differenziert werden: Obwohl beide für sich den Status eines »übergreifenden Wertes« beanspruchen, »hinter dem alle persönlichen Differenzen zurückzustehen hatten«17, lässt der Heimat-Begriff eine regional begrenzte Deutung zu. Es fehlt in diesem Fall der totalitäre Anspruch für die nationale Gesamtheit,18 der jedoch wohl vielfach stillschweigend mitgemeint war. Die Erwähnung der Heimat in Inschriften, wo sie beispielsweise als Stifter der Denkmäler auftritt, legt eine emotionale Färbung nahe und transportiert die Botschaft, die Soldaten seien lediglich als Verteidiger aufgetreten, die ihr Leben ›zum Schutze der Heimat‹ gaben.19 Diese extensive Berufung auf den Heimat-Begriff ist nach Lurz jedoch leicht durch eine andere Botschaft zu ersetzen gewesen: »Eine Alternative zu Vaterland und Heimat, in denen sich nationalistischer Geist mit revanchistischen Absichten äußerte, hätte die Hoffnung auf einen anhaltenden Frieden liefern können.«20
11 Vgl. ebd., S. 346. 12 Ebd., S. 351. 13 Vgl. Daniel Siemens: Politik – die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Deutungskämpfe um den Ersten Weltkrieg in der politischen Kultur der Zwischenkriegszeit. In: Geschichte für heute, H. 17, 2009. S. 40–58, hier S. 48. 14 Zur Rolle der Kriegerverbände und -vereine vgl. Lurz (Anm. 1), Bd. 4. S. 308. Zitat ebd. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. ebd., S. 309. 17 Ebd., S. 322. 18 Vgl. ebd. 19 Vgl. ebd., S. 323. 20 Ebd., S. 324. Der gleichen Meinung ist auch Westheider, der in den Kriegerdenkmälern dieser Zeit ein Spektrum der Möglichkeiten zwischen Pazifismus und Revanchismus sieht. Vgl. Rolf Westheider : Zwei Kriege, ein Denkmal. Die Bielefelder Sondererinnerung des
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Es scheint an dieser Stelle unmöglich, die unterschiedlichen ikonografischen und stilistischen Mittel aufzuführen, die bei den Kriegerdenkmälern der damaligen Zeit Verwendung gefunden haben. Dennoch sollen hier beispielhaft einige Elemente Erwähnung finden, die auch eine Vielzahl der heute noch existierenden Kriegerehrenmale prägen. Häufig vorzufindende Symbole sind hier das Eiserne Kreuz, Lorbeer und Eichenlaub als Zeichen für den Ruhm der Gefallenen, auch wenn ihnen der Sieg verwehrt blieb, Adler als Embleme von Macht und Wehrhaftigkeit, Regimentsfahnen, Schwerter und die Heilige Barbara als Schutzpatronin der Artillerie21. Daneben findet sich auf der Mehrzahl der relevanten Kriegerdenkmäler auch die Darstellung menschlicher Figuren. Hier lassen sich zwei Hauptgruppen unterscheiden: Zum einen die Darstellung von Trauernden, die eine Gemeinschaft zwischen der ›Heimat‹ und den Gefallenen über den Tod hinaus versprechen, zum anderen die Abbildung eines oder mehrerer Soldaten selbst.22 Die Epoche nach dem Ersten Weltkrieg ist gekennzeichnet durch ein Wiederaufleben klassizistischer Denkmalstypen.23 Neben selten auftretenden Rittern in Rüstung, die an mittelalterliche Krieger erinnern, finden sich auch nackte Kämpfer nach antiker Denkmals-Tradition und vor allem zeitgenössische, realistisch uniformierte Krieger : »Die realistischen, zeitgemäß wiedergegebenen Soldaten können wiederum danach eingeteilt werden, wie deutlich in ihnen revanchistischer Protest zum Ausdruck kommt. […] Die üblichen Darstellungen der Kämpfergestalten, besonders wo sie in Uniform Wache stehen […], gingen in der Regel auf Kriegervereine als Stifter oder jedenfalls Initiatoren zurück. Diese verherrlichten damit die militärische Aktion als solche und verkündeten eine revanchistische Einstellung.«24
Die plastische Darstellung dieser Kriegerfiguren ist in ihrer pathetischen Verherrlichung des Frontkampfes vergleichbar mit den Werken Ernst Jüngers, welche die promilitärische Einstellung der politischen Rechten widerspiegeln und die Realität der grausamen Materialschlachten mit ästhetischen Mitteln in ihr Gegenteil verkehren.25 Dabei wird der namenlose, unbekannte, nicht identifizierbare Soldat zur Symbolfigur, in der sich die Erinnerung der Hinterbliebenen vereinigte.26 Vielfach ist in diesem Kontext auch die Wiedergabe von
21 22 23 24 25 26
Kriegsgefangenenschicksals. In: Johannes Altenberend (Hrsg.): Ein Haus für die Geschichte. Festschrift für Richard Vogelsang. Bielefeld 2004. S. 467–478. Vgl. Sebastian Kühn: Geschichte auf dem Friedhof. Kriegerdenkmäler als historisch-politisches Dokument. In: Geschichte Lernen, H. 106, 2005. S. 60–66. Vgl. Siemens (Anm. 13), S. 48. Vgl. Lurz (Anm.1), Bd. 4. S. 132. Ebd., S. 160. Ebd., S. 161. Zur Bedeutung der Figur des Unbekannten Soldaten in der Kriegerdenkmalskultur nach 1914 vgl. Reinhart Koselleck/Michael Jeismann: Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne. München 1994. S. 15.
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Kriegswaffen zu beobachten, wobei die Darstellung von originalen Waffen direkt nach 1918 noch eher selten vorzufinden ist. Die Wiedergabe von Schwert und Helm hingegen kommt vergleichsweise häufig vor. Diese besitzt »eine allegorische Bedeutung, insofern sie nicht einfach an den Krieg erinnerten, sondern zumindest latent zu dessen Fortsetzung aufriefen«27. Im Allgemeinen lässt sich bezüglich der bildlichen Darstellung und Symbolik auf Kriegerdenkmälern der fraglichen Zeit mit Lurz schlussfolgern: »›Bei realistischer Wiedergabe erinnerten sie an den 1. Weltkrieg, bei klassischer an den Prototyp zeitlosen Heldentums, in dessen Tradition die Gefallenen stehen sollen.‹28 Eine auf Dauer angelegte Wirkungsabsicht geht aus der Auswahl der Werkstoffe wie Granit, Marmor, Beton, Bronze, Gusseisen oder Findlingen hervor.29 Die ästhetische Darstellung des Ersten Weltkrieges zeigt dabei die Kontinuität der politischen Rechten vom Krieg über die Weimarer Republik bis schließlich zum Nationalsozialismus.«30
Im Hinblick auf Richtlinien und Einflussnahmen, welche Form und Sinn der Kriegerdenkmäler dieser Zeit beeinflussten, ist zu bemerken, dass auch die Denkmalsgestaltung nicht als freie Kunst nach Gutdünken der Architekten oder Beliebigkeit der Stifter gesehen werden kann. Vielmehr sind es vor allem die Kriegerdenkmäler der Zeit nach 1918, bei denen zahlreiche Organisationen und Institutionen eine Rolle gespielt haben dürften. Die meisten dieser Bauwerke entstanden aufgrund privater oder kommunaler Initiativen, wobei sich in erster Linie Soldatenverbände, Kriegervereine, Bürgermeister und Pfarrer besonders engagierten.31 Zwar erließ die Weimarer Koalition keine direkte gesetzliche Regelung für das Inland, jedoch gab es den Versuch der sozialdemokratischen Reichsregierung, propagandistische Auswüchse durch die Einführung einer so genannten Luxussteuer auf Grab- und Denkmale einzudämmen. So mussten bei neu zu errichtenden Denkmälern Schlichtheit und Angemessenheit nachgewiesen werden. Auch das Militär war an dieser Stelle um die Vermeidung von Denkmalkitsch bemüht, wollte man doch eine nach den damaligen Vorstellungen würdige und schlichte Gestaltung der Gedenkstätten erreichen. Behrenbeck macht jedoch deutlich, dass es bei diesen ersten Diskursen wohl lediglich um stilistische Fragen ging; eine Beeinflussung der transportierten Inhalte sei nicht nachweisbar.32 In vielen Fällen musste darüber hinaus wohl auch das Mitspracherecht der Kirchen berücksichtigt werden, denn eine Vielzahl der fraglichen Denkmäler wurde auf oder zumindest in der Nähe von Friedhöfen aufgestellt. 27 28 29 30 31 32
Lurz (Anm. 1), Bd. 4, S. 246. Ebd. Vgl. dazu Schneider (Anm. 5), S. 532. Vgl. Siemens (Anm. 13), S. 54. Vgl. Behrenbeck (Anm. 6), S. 354. Vgl. ebd.
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Lurz verdeutlicht das in diesem Faktum verborgene Konfliktpotenzial, das er als »Konflikt zwischen dem von den Stiftern beabsichtigten Revanchismus und dem sakralen Charakter«33 beschreibt. Auch die Rolle des ›Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge‹ ist in dieser Hinsicht sicherlich zu beachten, war er doch maßgeblich an den Sammlungen zur Finanzierung solcher Denkmäler beteiligt und eng mit dem Militär und der konservativen Gegengesellschaft verbunden.34 Bei der Frage nach der Funktion der Kriegerdenkmale muss zunächst einmal klargestellt werden, dass der sich entwickelnde Denkmalkult nach dem Ende des Ersten Weltkrieges auch mit der Wandlung des Wahrnehmungsbildes des Soldaten an sich in direkter Verbindung steht. So hatte der Soldatenstand seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters an Ansehen gewonnen und der gemeine Soldat wurde zunehmend als Bürger in Uniform begriffen. Im Zuge dieser Entwicklung sollte auch die Bestattungsform des Soldaten derjenigen des zivilen Bürgers angeglichen werden. Demnach sollte jeder Tote ein Einzelgrab mit namentlicher Kennzeichnung erhalten.35 Im gleichen Moment, in dem diese Regel sich durchzusetzen begann, wurde ihre Durchführung jedoch unmöglich. Durch das Massensterben in den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges, die mit einer Perfektionierung der Vernichtungsmittel verbunden waren, wurden die Individuen regelrecht vom Massentod verschluckt; die Zahl der zernichteten, nicht mehr identifizierbaren oder ganz verschwundenen Leichname überschritt die Zahl jener, die noch tatsächlich begraben werden konnten.36 Dies führt zum einen dazu, dass man zentrale Schlachtfelder selbst zu Gedenkstätten machte, zum anderen entwickelt sich dadurch aber auch die Notwendigkeit, Totenmale für die Gefallenen in der Heimat zu errichten, auf denen diejenigen namentliche Erwähnung finden sollten, für die kein eigenes Grab mehr geschaffen werden konnte.37 Die Denkmale vor Ort bilden also gewissermaßen einen Ersatz für die an der Front gelegenen Gräber :38 »Dem Massensterben in den Schützengräben entsprach die Omnipräsenz von Erinnerungsmalen bis hinunter in die kleinsten sozialen Einheiten«.39 Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, in den zu dieser Zeit errichteten Monumenten lediglich einen Ort der Trauer zu sehen: Im Vergleich zu den Gedächtnisformen des 19. Jahrhunderts ist hier eine gesteigerte Heroisierung und Sakralisierung der Gefallenen festzustellen. Diese Sakralisierung des Kriegstodes als eines Opfertodes in Analogie zu Christus ist nicht an das
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Lurz (Anm. 1), Bd.4, S. 285. Vgl. Siemens (Anm. 13). S. 47. Vgl. Lurz (Anm. 1), Bd. 4, S. 7. Vgl. Koselleck/Jeismann (Anm. 26), S. 15. Vgl. Lurz (Anm. 1), Bd. 4. S. 271f. Vgl. Behrenbeck (Anm. 6), S. 358. Westheider (Anm. 20), S. 467.
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Auftauchen christlicher Symbole gebunden.40 Auch bei profaner Ausführung war man darauf bedacht, dem Denkmal einen Weihecharakter zu verleihen.41 Schneider beschreibt die intendierte Atmosphäre als eine »Aura der Unantastbarkeit«: »Die gegenüber dem Ziviltod propagierte Überhöhung ihres meist als ›Opfer‹ deklarierten Todes, die behauptete Tapferkeit der Gefallenen, die vorgebliche Vorbildhaftigkeit ihres Handelns im Krieg sowie die Vereinnahmung der Kriegstoten durch die Überlebenden (›Sinnstiftung‹) tragen zu dieser besonderen Aura der Kriegerdenkmäler bei.«42
Hier wird zum einen das Rechtfertigungsbedürfnis der Überlebenden deutlich, zum anderen aber auch das Bedürfnis nach einer Erklärung für den gewaltsamen Tod einer solchen Vielzahl von Soldaten und auch Zivilisten.43 Im Kern geht es den Denkmalsstiftern nicht um eine moralische Verarbeitung der Kriegsschuld, sondern in erster Linie der Kriegsniederlage. Diese soll eben nicht zu einer Revision der traditionellen Einstellung zu Krieg und Militarismus führen. Diese Werte sollen aufgrund ihrer vorgeblich staatstragenden Funktion erhalten bleiben.44 Die Gefallenen verkörpern diese Werte unter extremen Bedingungen. Da das Erinnern an Niederlagen dem menschlichen Verlangen widerspricht, unangenehme Erinnerungen zu verdrängen, bedient man sich einer Inversionslogik, die zur Identifikation mit dem Vaterland auffordert, für das es sich trotz einer Niederlage zu sterben lohne.45 Die ›Helden‹ des Krieges werden auf diese Art und Weise zum Gegenstand kollektiver Verehrung, ihre Tugendhaftigkeit wird als Beweis für die »innere Unversehrtheit des Reiches«46 propagiert. »Der Krieg wird somit nicht nur bejaht, sondern als Gelegenheit gerühmt, wahre Mannestugend und echtes Heldentum zu beweisen. Auf diese Wiese behielt der Krieg seinen Sinn auch noch nach der Niederlage.«47 Auch nach 1918 bleibt den Kriegerdenkmälern also eine politische Funktion erhalten, indem sie ein Identifikationsangebot an die Überlebenden darstellen.48 Die nachfolgenden Generationen sollen darauf eingeschworen werden, wofür die Gefallenen ihr Leben ließen.49 Diese Glorifizierung des Krieges und seiner Akteure drängt die wirkliche Erinnerung an die Schrecken des Krieges und die 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Vgl. Lurz (Anm. 1), Bd. 4. S. 18. Vgl. ebd., S. 22. Schneider (Anm. 5), S. 52. Vgl. Behrenbeck (Anm. 6), S. 357. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 358. Ebd., S. 359. Lurz (Anm. 1), Bd. 4. S. 161. Vgl. Koselleck (Anm. 1), S. 262. Vgl. Schneider (Anm. 5), S. 532.
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Frage nach der Schuld ins Abseits. Behrenbeck spricht hier von einer Geschichtsmanipulation als »Teil der mentalen Überlebensstrategie«50. Den zentralen Feiertag für das Andenken an den Soldatentod stellt der bereits 1920 vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge vorgeschlagene Volkstrauertag dar, an dem »das ganze Volk trotz gegensätzlicher politischer Meinungen und verschiedener Bedürfnisse im Gedenken an die gefallenen Soldaten«51 geeint werden soll. Interessant ist in diesem Kontext die Tatsache, dass man sich während des Bestehens der Weimarer Republik nicht auf einen einheitlichen Tag zur Feier des Gefallenengedächtnisses einigen konnte, ehe Hitler Jahre später den Streit per Erlass autoritär löste.52 Lurz fasst die ideologische Bedeutung des Volkstrauertages folgendermaßen zusammen: »Die […] Tendenzen der republikanischen Zeit, den Volkstrauertag revanchistisch auszuschlachten, ihn prospektiv zu funktionalisieren, nationalistisch unter dem Vorwand theologischer Begriffe umzudeuten und in dieser Deutung gegen den linken Atheismus auszuspielen, fanden im Nationalsozialismus ihre Steigerung und Überdrehung.«53
Dass an dieser Stelle nicht nur Verdrängung, sondern auch Revanchismus deutlich zu Tage treten, zeigt nicht zuletzt auch die plastische Gestaltung der Denkmäler mit Kämpfergestalten und Kriegswaffen, wie sie oben beschrieben wurde. So diente die Verherrlichung des Militärischen und des Soldatentodes letztlich auch der Kriegsvorbereitung. Aus diesem Blickwinkel ist Siemens zuzustimmen, der schlussfolgert, dass der Erste Weltkrieg für einen Großteil der deutschen Bevölkerung den erfahrungsgeschichtlichen Hintergrund des Zweiten gebildet habe.54 Weite Teile des Volkes waren nicht zu einer kritischen Aufarbeitung des Weltkriegs und seiner Folgen bereit, was sich nicht zuletzt an der Symbolsprache der beinahe in jedem Dorf aufgestellten Kriegerdenkmäler nachweisen lässt.55 Dabei ist mit Rolf Westheider zu fragen, ob an dieser Stelle mindestens sprachlich und symbolisch der Übergang zum Nationalsozialismus längst vollzogen war und die Einstimmung auf den nächsten Krieg damit weit vor 1933 erfolgte.56 Auch in diesem Zusammenhang ist den hier in den Fokus genommenen Kriegerdenkmälern der Weimarer Jahre eine bedeutsame Rolle zuzusprechen. 50 51 52 53 54 55 56
Behrenbeck (Anm. 6), S. 359. Lurz (Anm. 1), Bd.4. S. 414. Vgl. ebd. Lurz (Anm. 1), Bd.4. S. 426. Vgl. Siemens (Anm. 13), S. 40. Vgl. ebd., S. 42. Zur Frage der mentalen Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges vgl. u. a. Rolf Westheider : ›Für König und Vaterland‹. Kulturdenkmäler in Ostwestfalen. Münster 1983. S. 34.
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Die vorliegende Untersuchung möchte an dieser Stelle ansetzen und, aufbauend auf einer Analyse der Genese verschiedener exemplarischer Denkmäler, vor allem nach dem Umgang mit ihnen in der Folgezeit fragen. Dabei geht es, neben eventuellen Modifikationen oder Umdeutungen während des NS-Regimes, in erster Linie um die Kriegerdenkmalskultur von den Gründungsjahren der Bundesrepublik bis in die heutige Zeit. Es ist insbesondere das Vorgehen, bestehende Male aus dem Kontext des Ersten Weltkrieges nach 1945 schlichtweg um die Namen der im Zweiten Weltkrieg Gefallenen zu ergänzen, kritisch zu hinterfragen.
2.
Die räumliche Perspektive: Die Region Westfalen
Neben der Konzentration auf die Jahre von 1914–1933 als Zeitraum der Denkmalssetzung ist auch die Konzentration auf eine bestimmte Region konstitutives Element des hier dargestellten Untersuchungsdesigns. Blotevogel attestiert dem Begriff der Region im Jahr 1996 eine »ausgeprägte aktuelle Diskurskonjunktur«57, während Peter Knoch bereits 1984 von einer »regionale[n] Wende der Geschichtswissenschaft« sprach, die sich als eine »Wiederentdeckung des Menschen mit seiner alltäglichen Lebensumwelt«58 beschreiben ließe. Nach Briesen hat dies sowohl mit einer Wiederentdeckung von Nähe und Kleinräumigkeit sowie mit einer zunehmenden Skepsis gegenüber den großen politischen Entwürfen zu tun, die dazu führten, dass »Variablen wie Umwelt, Geschlecht, Generation und eben Region […] stärker als bisher in den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs eingebracht«59 wurden. Schönemann weist, aufbauend auf den Ausführungen Blotevogels, auf den konstruktivistischen Charakter dieses Begriffes hin: »›Regionen sind nicht irgendwie ›geographisch gegeben‹, sondern in einem doppelten Sinne Konstrukte‹: Zum einen erkenntnistheoretische, die der Wissenschaft zur ana-
57 Hans Heinrich Blotevogel: Auf dem Wege zu einer ›Theorie der Regionalität‹: Die Region als Forschungsobjekt der Geographie. In: Gerhard Brunn (Hrsg.): Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde. Baden-Baden 1996. S. 44–68, hier S. 44. 58 Peter Knoch: Überlegungen zu einer Didaktik der Regionalgeschichte. In: Peter Knoch/ Thomas Leeb (Hrsg.): Heimat oder Region? Grundzüge einer Didaktik der Regionalgeschichte. Frankfurt a.M. 1984. S. 3–16, hier S. 12. 59 Zur erneuten Hinwendung zur Region als Forschungsraum vgl. Detlef Briesen: Region, Regionalismus, Regionalgeschichte – Versuch einer Annäherung aus der Perspektive der neueren Zeitgeschichte. In: Gerhard Brunn (Hrsg.): Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde. Baden-Baden, 1996. S. 151–162, hier S. 154.
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lytischen Durchdringung und Ordnung der Realität dienen, zum anderen historischsoziale, die die Menschen selber hervorbringen, indem sie gesellschaftlich handeln.«60
Die Identifikation der ›Region‹ als erkenntnistheoretisches Konstrukt ist, ebenso wie die Feststellung Briesens, dass es ob der unterschiedlichen Forschungsparadigmen »keinen einheitlichen regionalgeschichtlichen Ansatz oder gar eine verbindliche Definition des Regionalen in der Neueren und Zeitgeschichte«61 geben kann, Grundvoraussetzung für eine adäquate Annäherung an eine regionsbezogene Analyse, wie sie hier vorliegt. Die Untersuchung der Kriegerdenkmalskultur in der Region Westfalen soll auf der Basis kleinräumlicher Operationalisierungen »auf die gesamte Entwicklung gerichtete Theorien möglich«62 machen und auf diese Weise zu allgemeinen Erkenntnissen in Bezug auf den Umgang der Bundesrepublik mit den Kriegerdenkmälern des Ersten Weltkrieges beitragen. Hier sei abschließend mit Köllmann argumentiert, der darlegt: »Nur am Ort lassen sich Differenzierungen innerhalb der allgemeinen Prozesse erkennen, die Rückschlüsse auf beschleunigende oder retardierende Momente zulassen. Besonders im Gesamtverlauf weitgehend eingeebnete Abweichungen können doch richtungsbestimmende Auswirkungen besitzen, soweit sie nicht nur den – ebenfalls nicht auszuschließenden – Charakter regionaler Besonderheit tragen.«63
In diesem Zusammenhang wird hier besonders das »bewußte oder unbewußte Fortwirken[…] von Traditionen« fokussiert, das »nur in regionalgeschichtlicher Untersuchung geklärt werden kann«64. Die Wahl der Provinz Westfalen als Untersuchungsfeld für den hier bearbeiteten Bereich der Kriegerdenkmalskultur begründet sich dahingehend, dass dieser nordöstliche Teil des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen von einer durchaus vielschichtigen Struktur in Bezug auf seine Bevölkerung und seine Städte geprägt ist. Neben verhältnismäßig großen Ballungszentren wie Dortmund, Bochum oder Münster lässt sich hier ebenso eine Vielzahl von mittleren und kleineren Städten bis hin zu den dörflichen Gemeinden finden. Auch Vogt spricht in seiner Untersuchung diesbezüglich von »charakteristische[n] kon60 Bernd Schönemann: Die Region als Konstrukt. Historiographische Befunde und geschichtsdidaktische Reflexionen. In: Heinz-Günther Brock (Hrsg.): Blätter für deutsche Landesgeschichte. Koblenz, 1999. S. 153–187, hier S. 153. 61 Briesen (Anm. 59), S. 161. 62 Ebd., S. 156. 63 Wolfgang Köllmann: Zur Bedeutung der Regionalgeschichte im Rahmen struktur- und sozialgeschichtlicher Konzeption. In: Archiv für Sozialgeschichte. Band 15, 1975. S. 43–50. hier S. 47. 64 Ebd., S. 49.
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fessionell-religiöse[n], ländliche[n] und urbane[n] Regionen«65. Der Umgang mit der Kriegerdenkmalskultur im überregionalen Bereich lässt sich hier ebenso nachvollziehen wie die Herangehensweise im ländlichen Bereich. Besondere Berücksichtigung wird an dieser Stelle auch die Veränderung des Pendleraufkommens finden müssen, steigt der Anteil der über die Grenzen ihres Wohnorts pendelnden Arbeitnehmer Nordrhein-Westfalens in den letzten Jahren doch beständig an. Es kann also auch von einer Verschiebung bezüglich bestimmter Erwartungen an Kultur und Bildung ausgegangen werden.
3.
Ausgangshypothese: Rückständigkeit im Provinziellen?
Wie bereits eingangs formuliert soll mit der vorliegenden Untersuchung gefragt werden, in welcher Art und Weise man sich in der Provinz mit den Kriegerdenkmälern als manifestem Erbe der Weltkriege auseinandersetzte und ob dies in einer wie auch immer gearteten Opposition zur Kriegerdenkmalskultur im urbanen Umfeld gewertet werden kann. Im Kern geht diese Frage auf einen Aufsatz des Göttinger Historikers Habbo Knoch zurück, welcher ein zentrales Element des Sammelbands ›Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945‹66 darstellt. Diese Aufsatzsammlung soll, so besagt es die Einleitung, aufzeigen, »welche Bedeutung das ›Erbe der Provinz‹ für den Umgang mit der NS-Zeit und für das nationale Geschichtsbewusstsein der Deutschen hatte«67. Knoch bezieht sich hier an zentraler Stelle auf Theodor W. Adorno, wenn er darlegt, dass »die mentale Demokratisierung der BRD eng mit der Aufarbeitung der Vergangenheit in der Provinz zusammen[hing]«, in der er jedoch »den zentralen Widerstand auf dem Weg zu einer aufgeklärten Gesellschaft«68 verortet. Dabei nimmt er Bezug auf den Aufsatz ›Erziehung nach Auschwitz‹ aus dem Jahr 1966. Dort spricht Adorno explizit von einer Rückständigkeit der Provinz, wenn er die »fortdauernde kulturelle Differenz von Stadt und Land« als »eine, wenn auch gewiss nicht die einzige und wichtigste der Bedingungen des Grauens« identifiziert und schlussfolgert, die »Entbarbarisierung« sei »auf dem platten Land noch weniger als sonstwo gelungen«69. Er diagnostiziert bei der provinziellen Nachkriegsbevölkerung einen »Bewusst-
65 Arnold Vogt: Krieg und Gewalt in der Denkmalskunst. Münster, 1994. S. 10. 66 Vgl. den Aufsatz und das gesamten von Knoch herausgegebenen Band zur Aufarbeitung der Vergangenheit in der Provinz (Anm. 3). 67 Habbo Knoch: Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945. Göttingen 2001. S. 10. 68 Knoch (Anm. 3), S. 275. 69 Adorno (Anm. 3), S. 677.
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seinsstand, der den des bürgerlichen Kulturliberalismus des 19. Jahrhunderts längst noch nicht erreicht hat«70. Wenn Knochs Befunde mithin nicht ganz so weit gehen, den Bewusstseinsstand derart gering zu bewerten, befasst er sich doch detailliert mit den Umständen, die seinen Befund prägen. So zeigt er auf, dass für einen langen Zeitraum Heimat- und Lokalgeschichte nicht mit einer kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit vereinbar gewesen seien: Während sich in der lokalen Öffentlichkeit subjektive Erzählformen als Erinnerungsressource zum Thema Krieg hätten halten können, die »eng an das soziale Gedächtnis vor Ort gekoppelt waren«71, habe man auf überregionaler Ebene längst einen dokumentarischen, auf kollektive Identifikationsangebote angelegten Zugang gewählt. Bei dieser »Medialisierung des Gedächtnisses« im Überregionalen habe man sich zudem weniger mit dem Krieg selbst als mit der Verbrechen des NS-Staates befasst.72 Als besonders schwerwiegendes Problem identifiziert er eine »kollektive Selbstverpuppung in der politischen Provinzialität« als Reaktion auf die ›Gefahr‹, dass die »Schnittstellen zwischen der lokalen Gewalt und dem abstrakten Verbrechen des Massenmordens an den europäischen Juden […] den Sicherheitskokon der lokalen Erinnerungskultur«73 zum Platzen bringen könnten. Die Reaktion, so Knoch weiter, habe bei der lokalen Bevölkerung zumeist darin bestanden, Einzeltäter des Systems an den Pranger zu stellen oder gar zu dämonisieren, sie in jedem Fall aber weit von der lokalen Bevölkerung abzuheben. Ob diese Strategie jedoch nur bei der Bevölkerung der Provinz und nicht vielmehr bei einem Großteil der Nachkriegsdeutschen zu beobachten ist, darf an dieser Stelle in Zweifel gezogen werden. Als unzweifelhaft kann hier jedoch gelten, dass eine »Kommemorialisierung«74 der Kriegserfahrungen in der 1950er-Jahren mit regionalen Erinnerungsformen in der Provinz begann. In diese Zeit fallen dann sogleich auch die Planung und Umsetzung erster (Krieger-)Denkmäler nach dem Krieg und die Wiederaufnahme von ritualisierten Gedenkveranstaltungen wie beispielsweise am Volkstrauertag.75 Den eigentlichen geistigen Impetus dieser ersten Volkstrauertagsveranstaltungen beschreibt Knoch folgendermaßen: »Statt, wie vorgesehen, die verschiedenen Opfergruppen – auch die Opfer der NSVerbrechen – zu repräsentieren, ging es in der Umsetzung um die Volksgemeinschaft
70 71 72 73 74 75
Ebd. Knoch (Anm. 3) S. 281. Ebd., S. 276. Ebd., S. 277. Ebd., S. 281. Vgl. ebd., S. 282.
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unter umgekehrten Vorzeichen, die sich als überparteiliches Kollektiv ihres Schicksals erinnerte.«76
Hier wird noch einmal deutlich, dass Knoch den Ursprung einer ›Opferikonologie‹, die einer Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und der jeweils eigenen Vergangenheit nur allzu oft im Weg stand, auf der lokalen Ebene verortet.77 Weiterhin spricht er von einer »Dekontaminierung«78 der Heimat, was die Beseitigung symbolischer NS-Repräsentationen und auch »politisch störender Erinnerungszeichen, etwa von sowjetischen Gefangenen«79, bezeichnet, mit der die Heimat »als seelischer Ruhepunkt rekonstruiert werden«80 sollte. Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang, dass sich der Heimat-Begriff selbst an dieser Stelle von der Bezeichnung des konkreten eigenen Herkunfts- und Lebensort löst und durch kollektive mediale Referenzräume mit hoher Integrationskraft ergänzt wird.81 Die Erinnerung, so Knoch, finde in dieser Zeit vornehmlich in den Großstädten statt, da diese ein Grundmaß an Offenheit und Anonymität bieten, das im Gegensatz steht zu den Integrationsregeln der Dörfer und Kleinstädte.82 Erst in den 1960er-Jahren verortet Knoch unter dem Begriff »Entprovinzialisierung der Vergangenheit« beginnende »Versuche, die Grenze zwischen lokaler Gesellschaft und NS-Verbrechen aufzubrechen«83. In der Folge von Strukturwandelprozessen und des Generationenwandels sieht er jedoch auch, dass nur allzu oft der »Aufstand gegen die Provinzialität«84 selbst und der erhöhte Abstraktionsbedarf der Studentenbewegung85 dazu führten, dass der Blick auf die konkreten Orte der Tat verstellt wurde. So ist, so könnte man die Aussagen Knochs zusammenfassen, die mentale Positionierung der Provinz nicht eindeutig geklärt, zumal am Beispiel der Gedenkstättenarbeit »die Wahrnehmungssperre zwischen Lagern als Schreckensorten und den Klischees der sie umgebenden Bevölkerung nicht wirklich behoben wurde«86 : Die »Untersuchung der Beharrung in der realen und mentalen Provinz ist notwendig, will man nicht 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
Ebd., S. 283. Vgl. ebd. Ebd., S. 290. Ebd., S. 286. Vgl. dazu auch den Beitrag: Detlef Garbe: Seismographen der Vergangenheitsbewältigung. Regionalbewusstsein und Erinnerungsorte der NS-Verbrechen am Beispiel des ehemaligen KZ Neuengamme. In: Knoch (Anm. 3), S. 218–232. Knoch (Anm. 3), S. 290. Vgl. ebd., S. 292. Ebd., S. 296. Ebd. Ebd., S. 298. Ebd., S. 299. Ebd.
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fälschlich eine ›Erfolgsgeschichte‹ der deutschen Vergangenheitsbewältigung erinnern.«87 An genau dieser Stelle setzt die vorliegende Untersuchung an und versucht anhand ausgewählter Beispiele aus der westfälischen Kriegerdenkmalskultur den tatsächlichen Umgang mit materiellen Elementen der Vergangenheit zu analysieren und zu hinterfragen, ob sich, wie unter anderem auch Gottschalk darlegt, im Hinblick auf den »kleinstädtischen und dörflichen Raum, wo die Nachbarschaft zwischen Tätern und Opfern besonders eng und das Verdrängen umso hartnäckiger war und ist«88, in der Kriegerdenkmalskultur signifikante Besonderheiten und distinguierende Merkmale im Hinblick auf die vermeintlich aufgeklärtere Gesellschaft der überregionalen Ebene nachweisen lassen. Des Weiteren wird zu überprüfen sein, ob es, wie Knoch hier vermutet, in der Provinz bis in die 1980er-Jahre hinein dauerte, bis an die Stelle einer »Totalverweigerung des kritischen Blicks« an vielen Punkten eine »gemäßigte Öffnung«89 treten konnte und wie diese sich ausgewirkt hat. In diesem Zusammenhang muss gefragt werden, ob, hier Mosse folgend, in Anbetracht der Kriegerdenkmalskultur nach 1945 von einem »Traditionalismus« gesprochen werden kann, der dafür sorgte, dass »in einigen abgelegenen Gegenden die herkömmlichen liturgischen Formeln erhalten« blieben, obwohl man anderswo weitgehend »mit dem traditionellen Gefallenenkult«90 gebrochen hatte. Übergeordnet zu den strukturellen Fragen, die sich im Anschluss an diese Hypothese stellen, ist eine gewisse Vorsicht im Hinblick auf eventuelle Defizithypothesen bezüglich des erinnernden und ehrenden Umgangs mit den in den Kriegen gefallenen deutschen Soldaten geboten. Stets mitbedacht werden muss in diesem Kontext immer der jeweilige Bewusstseinsstand der Gesellschaft, insbesondere in Anbetracht des Täter-Begriffs. Die Untersuchung fußt jedoch auf der Annahme, dass auch unmittelbar nach 1945 bei der Bevölkerung ein zumindest in Ansätzen vorhandenes Bewusstsein beispielsweise zur Rolle der Wehrmacht existent war, wenn sich dieses auch nicht mit dem Bewusstseinsstand vergleichen lässt, wie er beispielsweise nach der vieldiskutierten Wehrmachtsausstellung in den 1990er-Jahren in vielen Kontexten zu beobachten war.
87 Ebd., S. 300. 88 Carola Gottschalk: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Verewigt und vergessen. Kriegerdenkmäler, Mahnmale und Gedenksteine in Göttingen. Göttingen 1992. S. 5. 89 Knoch (Anm. 3), S. 275. 90 George L. Mosse: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben. Stuttgart 1993. S. 130f.
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Beispiele aus der westfälischen Kriegerdenkmalskultur:
Unter der Zielsetzung, einen räumlich und unter den genannten Voraussetzungen eng gefassten Einblick in die Kriegerdenkmalskultur der Region Westfalen zu erlangen, wurden insgesamt fünf Kleinstädte bzw. Dörfer im Hinblick auf den Umgang mit Kriegerdenkmälern als materialisiertem Erbe der Weltkriege untersucht. Unter Berücksichtigung der jeweiligen Ortsteile wurden insgesamt acht Denkmäler der Städte Drensteinfurt (inbegriffen die Stadtteile Rinkerode und Walstedde) und Langenberg (inbegriffen den Stadtteil Benteler) und der Gemeinden Wettringen, Saerbeck und Metelen untersucht.91 Die einzelnen Male wurden dabei einer detaillierten Analyse hinsichtlich ihrer Genese in den Jahren der Weimarer Republik und auch der zu späteren Zeiten an das Mal herangetragenen Kontroversen unterzogen. Auf diese Weise konnten Entwicklungslinien nachgezeichnet werden, die zum einen Kontinuitäten erklären können, zum anderen aber auch dabei helfen, die manchenorts vollzogenen Änderungen und Umwidmungen in den Kontext der jeweiligen Gedenkkultur einzuordnen. Hinsichtlich der Quellenlage lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass zwar zu keinem der fraglichen Kriegerdenkmäler umfassendere Untersuchungen existieren, die Geschichte der Male aber anhand von Dokumenten aus den Denkmalämtern und Heimatarchiven, Heimatchroniken, Zeitungsberichten, Leserbriefen der Lokalpresse, aber auch dokumentierten Gesprächen mit den Beteiligten vor Ort durchaus umfassend rekonstruiert werden konnte.92 Die Ergebnisse der auf diese Art und Weise durchgeführten Analyse von Kriegerdenkmalskultur in dörflichen beziehungsweise kleinstädtischen Strukturen können, ebenso wie die Beschaffenheit des Samples selbst, als durchaus heterogen bezeichnet werden. Zwar kann aufgrund des Untersuchungsdesigns kein Anspruch auf Repräsentativität für die Region Westfalen erhoben werden; einige der hier zu beobachtenden Tendenzen erscheinen jedoch durchaus relevant, vor allem im Hinblick auf die Überprüfung des Ausgangshypothese. An dieser Stelle sollen, neben teilweise fundamentalen Unterschieden, welche die Einzelfalluntersuchungen der verschiedenen Denkmäler ergeben haben, auch einige zentrale Gemeinsamkeiten zusammengefasst werden. Neben den 91 Die Auswahl der zu untersuchenden Gemeinden und Städte erfolgte, nach einer Vorauswahl vom Zeitpunkt der Setzung her relevanter Denkmäler mithilfe des ›Onlineprojekts Gefallenendenkmäler‹ (http://www.denkmalprojekt.org; zuletzt aufgerufen am 10. 01. 2015), nach dem Zufallsprinzip. Ausgenommen davon ist das Kriegerdenkmal der Gemeinde Saerbeck, welches bereits als Teil einer anderen Studie analysiert wurde. 92 Aus pragmatischen Gründen kann an dieser Stelle nicht detailliert auf die Kontexte einzelner Denkmale eingegangen werden. Die Fülle von Quellen und Materialen sowie die vielerorts zu attestierende Intensität der Debatten um mögliche Modifikationen von Denkmalsgestalt und -aussage legen an dieser Stelle einen eher zusammenfassenden Überblick der Ergebnisse nahe.
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durch das Untersuchungsdesign gegebenen Rahmenpunkten wie beispielsweise dem Zeitpunkt der Errichtung gehören dazu unter anderem das nahezu omnipräsente Engagement der örtlichen Kriegervereine im Hinblick auf die Denkmalsinitiative und -finanzierung, die oftmals nahezu identischen gestalterischen Elemente93, aber auch die heutige Pflege der Denkmalsanlagen durch Heimatoder Schützenvereine, wobei diesbezüglich gewisse Kontinuitäten, insbesondere auch personeller Natur, nicht zu bestreiten sind. Ein weiteres einendes Element der hier betrachteten Kriegermale ist die bemerkenswerte Tatsache, dass keines von ihnen in größerem Umfang von der Direktive Nr. 30 des Alliierten Kontrollrates betroffen war, nach der alle Bauwerke zerstört oder zumindest entscheidend verändert werden sollten, die militaristisches oder auch nationalistisches Gedankengut transportierten.94 Diese Tatsache ist umso erstaunlicher, führt man sich die teils eindeutig militaristischen, bisweilen sogar revanchistischen Botschaften vor Augen, die einige der untersuchten Denkmäler durch Inschriften und Ikonografie vermitteln. Insgesamt entsteht hier der Eindruck, dass man der Frage nach dem Umgang mit Kriegerdenkmälern aus der Zwischenkriegszeit in den Jahren nach 1945 zunächst einigermaßen ratlos gegenüberstand, wie die aufgefundenen Quellen und Darstellungen belegen. Dass man sich in den meisten Fällen für eine schlichte Fortschreibung der bestehenden Male entschied, mag zunächst mit pragmatischen Überlegungen zu begründen sein. Oftmals stand an dieser Stelle wohl der finanzielle Aspekt im Mittelpunkt. Die eigentümliche Kontinuitätslinie, die man durch dieses Vorgehen schuf, erschloss sich den damals Beteiligten anscheinend zunächst nicht. Für die Ausgangshypothese nicht unerheblich ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass es in jenen Fällen, in denen es unmittelbar nach 1945 zu kritiklosen Fortschreibung kam, vielfach bis in die 1990er-Jahre oder länger dauerte, bis man die Aussagen der Denkmäler hinterfragte (z. B. in Drensteinfurt-Rinkerode, Saerbeck und unter anderen Vorzeichen auch in Wettringen), wenn dies überhaupt geschah, denn einige der bearbeiteten Denkmäler wurden bis heute in ihrem ursprünglichen Zustand belassen und weiterhin als ›Ehrenmale‹ geführt (z. B. die Denkmäler am Landsbergplatz in Drensteinfurt oder an der Langenberger Kirche). Möglicherweise haben die politischen und gesellschaftlichen Umstände und Umbrüche der fraglichen Zeit dafür gesorgt, dass man andernorts bereits in den 1960er-Jahren die Kernaussagen der bestehenden Male hinterfragte und um Veränderungen bemüht war. Anders gelagert und jenseits der üblichen Muster zumindest dieses Unter93 Zu den gestalterischen Elementen vgl. exemplarisch Kühn (Anm. 21), S. 63f. 94 Als einzige Ausnahme kann an dieser Stelle eine Inschrift des Metelener Kriegerdenkmals gelten. Diese ist zwar eindeutig als Bekenntnis zum Nationalsozialismus deutbar, die von den zuständigen Gremien angeordnete Entfernung des Spruches geschah jedoch in der Folge allenfalls halbherzig, wie auch am weiteren Schicksal des Denkmals abzulesen ist.
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suchungsbereichs sind zwei Fälle, die sich beispielhaft gegenüberstellen lassen, was den Umgang mit Kriegerdenkmälern nach 1945 betrifft. Dabei kann die jeweilige Ausgangssituation als durchaus ähnlich angesehen werden. Sowohl in der Gemeinde Wettringen als auch im Drensteinfurter Ortsteil Walstedde sah man sich in den Anfangsjahren der Bundesrepublik mit eben jenen Fragen konfrontiert, welche die Kriegerdenkmalskultur im fraglichen Zeitraum prägten: Zum einen ging es um eine Positionierung gegenüber den bestehenden Relikten, die an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs erinnerten, zum anderen galt es aber auch, die weitgehend ungeklärte Aufgabe einer, in welcher Form auch immer, angemessenen Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust zu bewältigen. Während man sich in Walstedde bereits in den 1960er-Jahren – die politischen Umstände der damaligen Zeit mögen auch hier eine Rolle gespielt haben – entschied, eine neue Gedenkstätte für die Opfer aller Kriege inhaltlich und räumlich vom bestehenden Ehrenmal und seiner zu diesem Zeitpunkt überkommenen inhaltlichen Botschaft der Heldenverehrung zu trennen und somit einen zunächst untypischen, nichtsdestotrotz aber umso nachvollziehbareren Weg der Erinnerung und auch Mahnung beschritt, blieb im größeren Wettringen eine sich unbestreitbar bietende Chance ungenutzt. Verkehrstechnische Zwänge führten hier bereits in den 1950er-Jahren zum Abbau des alten Mals, ein neues Denkmal sollte an anderer Stelle errichtet werden. Dem neuen, kapellenartigen Bau, für sich genommen zunächst einmal sicherlich auch Ausdruck christlicher Todesdeutung und Erlösungshoffnung, wurden jedoch mit den Bildtafeln des alten Denkmals, die in ihrer Aussage als durchaus kriegsverherrlichend einzustufen sind, und der Inschrift ›Sie starben für uns‹ Elemente beigefügt, die in ihrer Botschaft als durchaus zweifelhaft und historisch mehr als problematisch gelten müssen. Darüber hinaus vermittelt der Komplex einen Eindruck, für den die Bezeichnung ›Ehrenmal‹ oder ›Ehrenhain‹ angemessen erscheint. Auch weil an dieser Stelle expressis verbis nur der deutschen Gefallenen gedacht wird, kann man in keiner Weise von einem Mahnmal sprechen. Hingegen dürfte dieser Gedanke in Bezug auf den zwar eher sachlich gehaltenen, aber dennoch in seiner inhaltlichen Konzeption stimmigen und eingängigen Denkmalsplatz in Walstedde durchaus angebracht sein. In Wettringen blieb sicherlich eine sich bietende Gelegenheit ungenutzt, die sich schon allein aus der Notwendigkeit eines neuen Denkmalstandorts und -konzepts ergab. Dass der Denkmalsneubau in seiner Gesamtheit jedoch die eindeutige Zustimmung der Wettringer Einwohnerschaft besaß, zeigt sich zum einen daran, dass es bis in die 1990er-Jahre dauerte, ehe die Aussagen des Mals und insbesondere der alten Steintafeln erstmalig inhaltlich hinterfragt wurden. Zum anderen wird es sichtbar an dem Ablauf, der Argumentation und der Intensität der darauf folgenden Debatte, die letztlich zum Versuch einer inhaltlichen Korrektur durch beigefügte Erklärungstafeln und eine neu geschaffene
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Skulptur führte. Demgegenüber kann für den Drensteinfurter Ortsteil Walstedde konstatiert werden, dass die neue Konzeption der Gedenkstätte für die Toten der Weltkriege nicht nur auf allen Seiten Akzeptanz fand, sondern man innerhalb der Gemeinde zusammen an deren Realisierung arbeitete, wobei sich insbesondere auch die ehemaligen Mitglieder der örtlichen Kriegerkameradschaft beteiligten, was durchaus als nicht selbstverständlich gelten kann, wie in Hinsicht auf andere Beispiele herausgearbeitet wurde. Die Mitglieder dieser Vereine traten, unter Berufung auf einen wohl falsch verstandenen TraditionsBegriff, zumeist als vehemente Gegner einer Denkmalsmodifikation auf. Insgesamt lässt sich also schlussfolgern, dass die untersuchten Beispiele zur Kriegerdenkmalskultur im kleinstädtischen beziehungsweise dörflichen Raum ein zwar heterogenes Bild ergeben, einzelne Fälle für sich genommen aber eben auch die von Knoch geäußerte These einer ›Rückständigkeit der Provinz‹ durchaus bestätigen. Die bis heute unveränderten und in ihren Aussagen weiterhin problematischen Kriegerdenkmäler und auch die Tatsache, dass es in vielen Dörfern bis in die 1990er-Jahre oder gar bis zur Jahrtausendwende zu keinem Dialog über bestehende Male der Zwischenkriegszeit kam, bestätigen zunächst einmal die zu überprüfende Ausgangshypothese. Auf der anderen Seite verweisen die anders gelagerten Fälle, in denen man vergleichsweise frühzeitig nach neuen Wegen einer Gedenkkultur suchte, darauf, dass von einer allgemeinen Gültigkeit der These zumindest in Bezug auf die untersuchte Region nicht ausgegangen werden kann. Darüber hinaus belegen sie, dass eine Denkmalskritik auch in ländlichen Kreisen schon in den Anfangsjahren der Bundesrepublik durchaus möglich war und bisweilen sogar deutlichen Rückhalt unter den Einwohnern finden konnte. Dies entkräftet zumindest teilweise die Theorie, dass in erster Linie die persönliche Betroffenheit nahezu jeden Bewohners den Blick auf die überkommenen Denkmalsaussagen verstellt haben könnte. Ebenfalls schwächt es die Bedenken, möglicherweise aus heutiger Perspektive einen Bewusstseinsstand der damaligen Bevölkerung im Hinblick auf den ›Täter-Komplex‹ vorauszusetzen, der nicht den Umständen und Möglichkeiten der damaligen Zeit entsprach.
5.
Fazit
Die an dieser Stelle überblicksartig zusammengefassten Ergebnisse der Untersuchung zur Kriegerdenkmalskultur im Kontext von Kleinstädten und Gemeinden können, aufbauend auf den grundsätzlichen Überlegungen zur Gestaltung von Kriegermalen der fraglichen Zeit, zeigen, dass sich die These Habbo Knochs, zumindest in ihrer Intensität, nicht ausnahmslos belegen lässt. Im Kern beschreiben aber vielfach die Befunde einer ›Selbstverpuppung in der politi-
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schen Provinzialität‹ und einer ›Totalverweigerung des kritischen Blicks‹ (s. o.) die Gegebenheiten in zumindest einem Großteil der untersuchten Fälle sehr treffend und besitzen meines Erachtens auch über diese hinaus Gültigkeit. Es ist somit anzunehmen, dass es eben diese Faktoren sind, die eine Auseinandersetzung mit (aus heutiger Sicht) problematischen materialisierten Anteilen von Geschichtskultur grundlegend erschweren und mitunter verhindern, dass es überhaupt zu Kontroversen über geeignete oder auch weniger geeignete Formen des Gedenkens kommt. Das Aufbrechen dieser Strukturen ist aber eine Grundvoraussetzung zum Diskurs, auch und gerade vor dem Hintergrund der sich vollziehenden Historisierung des Nationalsozialismus. In diesem Kontext ist ein Zitat Hans-Dieter Schmids hervorzuheben, der in Bezug die Berliner Holocaust-Gedenkstätte schlussfolgerte, »dass die […] Diskussion wichtiger gewesen sei als das, was letztlich als Denkmal gebaut wurde, ja, dass darin das eigentliche Denkmal gesehen werden könne.«95 Ähnlich muss wohl auch das Resümee bezüglich der Kriegerdenkmalskultur in der westfälischen Provinz ausfallen. Auch aus der Perspektive eines Geschichtsunterrichts, der geschichtskulturelle Phänomene thematisieren will, erscheinen die Ergebnisse dieser kleinräumigen Untersuchung relevant.96 Sie deuten, dieser Hinweis möge an dieser Stelle genügen, auf vielfältige Möglichkeiten hin, Kriegerdenkmäler der näheren Umgebung zum Gegenstand problemorientierter Untersuchungen zu machen. Insbesondere die Tatsache, dass die Hintergründe solcher Male bei einer durchaus vielfältigen Quellenlage bislang zumeist wenig erforscht erscheinen, kann Raum für entdeckend-forschendes Lernen und den Aufbau sowohl denkmals- als auch allgemeinhistorischer Kompetenzen umfassen.97
95 Hans-Dieter Schmid: Den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung. Denkmäler als Quellen der Geschichtskultur. In: Praxis Geschichte H. 6, 2003. S. 4–10, hier S. 9. 96 Die Thematisierung von verschiedenen Aspekten der Kriegerdenkmalskultur und der sie beeinflussenden Faktoren erscheint dabei insbesondere im Kontext einer als Wiederholungsstruktur verstandenen Geschichtskultur von großer Relevanz. Vgl. dazu bspw. Bernd Schönemann: Geschichtskultur als Wiederholungsstruktur. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik. Zeitschrift für historisch-politische Bildung (2006) H. 3, S. 182–191. 97 Zum Potenzial von Kriegerdenkmälern als Medien des Geschichtsunterrichts vgl. etwa: Ulrich Krüger : ›Krieger denk’ mal‹ oder: An was sollen wir uns erinnern? Eine interkulturelle Erkundung. In: Praxis Geschichte H.6, 2003. S. 12–15 oder auch Matthias Bode: Zwischen Trauer, Heldengedenken und Opfermythen. Kriegerdenkmäler als Orte zwiespältigen Erinnerns. In: Geschichte Lernen, H. 121, 2008. S. 18–20.
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Der Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Geschichtsschulbücher als Indikator für Erinnerungskultur und historische Selbstvergewisserung
1.
Das Thema in Forschung und Öffentlichkeit
Die Wehrmacht war eine der größten staatlichen Organisationen der NS-Diktatur, der ein Großteil der deutschen – vornehmlich männlichen – Bevölkerung angehörte.1 Insgesamt dienten in der Wehrmacht ca. 18 bis 19 Millionen Soldaten, von denen wiederum rund zehn Millionen im rassenideologischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion eingesetzt waren.2 In diesem Krieg begingen nicht wenige Soldaten schwere Verbrechen. Hierzu zählten: (1) der Genozid an den Juden, (2) die Ermordung von Kriegsgefangenen, (3) die völkerrechtswidrige Partisanenbekämpfung, (4) die Tötung der einheimischen Zivilbevölkerung, (5) die Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften.3 Trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer Rolle im Vernichtungskrieg blieb die Wehrmacht nach 1945 jahrzehntelang von den deutschen Kriegsverbrechen im Osten ausgeklammert. Es herrschte das Bild der »sauberen Wehrmacht« vor : Die Armee sei am Vernichtungskrieg im Osten (weitgehend) unbeteiligt gewesen, einfache Soldaten hätten nur ihre militärische Pflicht erfüllt und seien im Krieg anständig geblieben. Für die an Millionen von sowjetischen Kriegsgefangenen, Juden oder Zivilisten verübten Gräueltaten seien andere verantwortlich gewesen, vor allem die Einsatzgruppen und die Waffen-SS.4 1 Noch größer war lediglich die Deutsche Arbeitsfront, die 1942 über ungefähr 25 Millionen Mitglieder verfügte. Vgl. Rüdiger Hachtmann: Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront 1933–1945. Göttingen 2012 (Geschichte und Gegenwart, Bd. 3), S. 9. 2 Vgl. Christian Hartmann: Verbrecherischer Krieg – verbrecherische Wehrmacht? Überlegungen zur Struktur des deutschen Ostheeres. In: Christian Hartmann/Johannes Hürter/ Peter Lieb/Dieter Pohl: Der deutsche Krieg im Osten 1941–1944. Facetten einer Grenzüberschreitung. München 2009 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 76), S. 3–71, hier S. 6. 3 Vgl. Michael Sauer: Vernichtungskrieg im Osten. Die deutsche Kriegsführung in der Sowjetunion 1941–1944. In: Geschichte lernen, H. 141 (2011), S. 2–9. 4 Vgl. Peter Steinbach: Zur Mythologie der Nachkriegszeit. Die NS-Wehrmacht als »Zelle des Widerstands« und als Fluchtpunkt der »inneren Emigration«. In: Michael Th. Greven/Oliver
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Nahrung erhielt dieses Geschichtsbild zuvorderst aus den Urteilen des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg. Hier waren 1946 der Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht – anders als beispielsweise die Gestapo oder die SS – von der Anklage, eine verbrecherische Organisation zu sein, freigesprochen worden.5 Meinungsbildend wirkten aber auch die nach Kriegsende abgegebenen pauschalen Ehrenerklärungen der Politprominenz6 sowie die zahlreich erschienenen und mit ausgeprägten apologetischen Tendenzen durchzogenen Memoiren ehemaliger hochrangiger Offiziere.7 Dem entsprach auch die populäre Darstellung im Medium Film8 und in der weitverbreiteten Roman- und Heftchenliteratur (Konsalik9, Landser10).
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von Wrochem (Hrsg.): Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik. Opladen 2000, S. 39–50. Dass es sich hierbei gewissermaßen nur um einen eingeschränkten Freispruch handelte, geht aus der Urteilsverlesung hervor. Dort heißt es: »Sie sind in großem Maße verantwortlich gewesen für die Leiden und Nöte, die über Millionen Männer, Frauen und Kinder gekommen sind. Sie sind ein Schandfleck für das ehrenhafte Waffenhandwerk geworden. Ohne ihre militärische Führung wären die Angriffsgelüste Hitlers und seiner Nazi-Kumpane akademisch und ohne Folgen geblieben. Wenn diese Offiziere auch nicht eine Gruppe nach dem Wortlaut des Statuts bildeten, so waren sie doch sicher eine rücksichtslose militärische Kaste. […] Viele dieser Männer haben mit dem Soldateneid des Gehorsams gegenüber militärischen Befehlen ihren Spott getrieben. Wenn es ihrer Verteidigung zweckdienlich war, so sagen sie, sie hätten gehorchen müssen; hält man ihnen Hitlers brutale Verbrechen vor, deren allgemeine Kenntnis ihnen nachgewiesen wurde, so sagen sie, sie hätten den Gehorsam verweigert. Die Wahrheit ist, daß sie an all diesen Verbrechen rege teilgenommen haben oder in schweigender Zustimmung verharrten, wenn vor ihren Augen größer angelegte und empörende Verbrechen begangen wurden, als die Welt je zu sehen das Unglück hatte.« (Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945–1. Oktober 1946. Bd. 22: Verhandlungsniederschriften 27. August 1946– 1. Oktober 1946. Nürnberg 1948, S. 595). Bundeskanzler Konrad Adenauer äußerte sich beispielsweise am 5. April 1951 im Bundestag wie folgt: »Die Kriegsverbrecher, diejenigen, die wider die Gesetze der Menschlichkeit oder gegen die Regeln der Kriegführung verstoßen haben, verdienen nicht unser Mitleid und unsere Gnade. […] Aber der Prozentsatz derjenigen, die wirklich schuldig geworden sind, ist so außerordentlich gering und so außerordentlich klein, […] daß […] damit der Ehre der früheren deutschen Wehrmacht kein Abbruch geschieht.« (Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte (Plenarprotokolle). 1. Wahlperiode 130. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. 4. 1951, S. 4984). Vgl. Friedrich Gerstenberger: Strategische Erinnerungen. Die Memoiren deutscher Offiziere. In: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944. Hamburg 1995, S. 620–629. Vgl. Lutz Kinkel: Viele Taten, wenig Täter. Die Wehrmacht als Sujet neuerer Dokumentationsserien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. In: Greven/von Wrochem (Anm. 4), S. 113–130; Kirsten Moritz: Krieg auf dem Bildschirm. Eine empirische Studie zum Wandel bundesdeutscher Fernsehdokumentationen über den Russlandfeldzug (1941–43). In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64, 2013, H. 7/8, S. 405–426; Alexander Pollak: Was vom Zweiten Weltkrieg übrig blieb. »Stalingrad« und Wehrmachtsmythos im Fernsehdoku-
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Auch in der historischen Forschung fanden die Wehrmachtsverbrechen auf den östlichen Kriegsschauplätzen schließlich lange Zeit kaum Beachtung. Nur einzelne wichtige Arbeiten waren seit Mitte der 1960er Jahre erschienen, die allerdings keine gesellschaftliche Tiefendimension erreichten.11 Vor allem aus dem Kontext der Judenvernichtung blieb die Wehrmacht bis in die 1990er Jahre weitgehend ausgeklammert. Noch 1994 prangerte beispielsweise Omer Bartov »das fast völlige Fehlen jeder Erörterung des Holocaust«12 im Bereich der deutschen Wehrmachtsforschung an. Öffentliche Virulenz erhielt das Thema erst durch die vom Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) erarbeitete Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die noch immer weitverbreitete Legende von der »sauberen Wehrmacht« zu wi-
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mentarfilm. In: Hannes Heer/Walter Manoschek/Alexander Pollak/Ruth Wodak (Hrsg.): Wie Geschichte gemacht wird. Zur Konstruktion von Erinnerungen an Wehrmacht und Zweiter Weltkrieg. Wien 2003, S. 192–224; Sylvia Schraut: Das Bild des Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsfilm. In: Christoph Cornelißen/Roman Holec/Jirˇ Pesˇek (Hrsg.): Diktatur – Krieg – Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Essen 2005 (Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, Bd. 13), S. 309–327; Frank Stern: Gegenerinnerungen seit 1945: Filmbilder, die Millionen sahen. In: Greven/von Wrochem (Anm. 4), S. 79–91. Vgl. Matthias Harder : Erfahrung im Krieg. Zur Darstellung des Zweiten Weltkrieges in den Romanen von Heinz G. Konsalik. Mit einer Bibliographie der deutschsprachigen Veröffentlichungen des Autors von 1943–1996. Würzburg 1999. Vgl. Reiner App/Bernd Lemke: Der Weltkrieg im Groschenheft-Format. Über den LektüreReiz der »Landser«-Romane und ihre Verherrlichung des Zweiten Weltkrieges. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56, 2005, H. 11, S. 636–641. Vgl. in chronologischer Reihenfolge Hans-Adolf Jacobsen: Kommissarbefehl und Massenexekutionen sowjetischer Kriegsgefangener. In: Martin Broszat/Hans-Adolf Jacobsen/Helmut Krausnick: Konzentrationslager, Kommissarbefehl, Judenverfolgung. Olten/Freiburg im Breisgau 1965 (Anatomie des SS-Staates, Bd. 2), S. 161–279; Klaus-Jürgen Müller : Das Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime 1933–1940. Stuttgart 1969 (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd. 10); Manfred Messerschmidt: Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination. Hamburg 1969 (Truppe und Verwaltung, Bd. 16); Christian Streit: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945. Stuttgart 1978 (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 13); Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942. Stuttgart 1981 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 22); Manfred Messerschmidt/Fritz Wüllner : Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende. Baden-Baden 1987; Rolf-Dieter Müller : Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS. Frankfurt am Main 1991; Hans-Heinrich Wilhelm: Rassenpolitik und Kriegsführung. Sicherheitspolizei und Wehrmacht in Polen und in der Sowjetunion 1939–1942. Passau 1991. Omer Bartov : Wem gehört die Geschichte? Wehrmacht und Geschichtswissenschaft. In: Mittelweg 36 – Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 3, 1994, H. 5, S. 5–21, hier S. 15f.
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derlegen. Die Wanderausstellung, die von 1995 bis 1999 in zahlreichen Städten gezeigt wurde, löste eine lebhafte Debatte innerhalb der Bevölkerung aus.13 Hielten sich anfangs Zustimmung und Kritik noch die Waage, erreichten die öffentlichen Angriffe einen Höhepunkt, nachdem bekannt geworden war, dass einige der insgesamt 1433 in der Ausstellung präsentierten Fotografien nicht Verbrechen der Wehrmacht, sondern des sowjetischen Geheimdienstes zeigten.14 Unter dem Eindruck der anhaltenden Kritiken15 führte dies im November 1999 zum Moratorium der Ausstellung. Das HIS beauftragte daraufhin eine unabhängige Historikerkommission zur Überprüfung der Ausstellung. Diese kam zu dem Ergebnis, dass die kritische Auseinandersetzung mit der Ausstellung aufgrund von Ungenauigkeiten und sachlichen Fehlern durchaus berechtigt gewesen sei. Der Bericht der Gutachterkommission betonte aber auch, dass »die Grundaussagen der Ausstellung über die Wehrmacht und den im ›Osten‹ geführten Vernichtungskrieg der Sache nach richtig«16 seien, und sprach die
13 Die Diskussionen über die Ausstellung offenbarten eine tiefe Kluft zwischen Jung und Alt. Während die Angehörigen der Kriegsgeneration sich mehrheitlich der Anerkennung der Fakten widersetzten, indem sie die Verbrechen leugneten bzw. zu relativieren versuchten, nahm die dritte Generation der Enkel die Ausstellung größtenteils positiv auf. Die mittlere Generation der 40- bis 60-jährigen saß allem Anschein nach zwischen den Stühlen. Vgl. Michael Jeismann: Einführung in die neue Weltbrutalität. Zweimal »Verbrechen der Wehrmacht«: Von der alten zur neuen Bundesrepublik. In: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hrsg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945. München 2003, S. 229–239. 14 Vgl. Klaus Hesse: NKWD-Massaker. Wehrmachtsverbrechen oder Pogrommorde? Noch einmal: die Fotos der »Tarnopol-Stellwand« aus der »Wehrmachtsausstellung«. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51, 2000, H. 10, S. 712–726; Bogdan Musial: Bilder einer Ausstellung. Kritische Anmerkungen zur Wanderausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47, 1999, H. 4, S. 563–591; Dieter Schmidt-Neuhaus: Die Tarnopol-Stellwand der Wanderausstellung »Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«. Eine Falluntersuchung zur Verwendung von Bildquellen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50, 1999, H. 10, S. 596–603; Krisztin Ungvry : Echte Bilder – problematische Aussagen. Eine quantitative und qualitative Fotoanalyse der Ausstellung »Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50, 1999, H. 10, S. 584–595. 15 Neben der Kritik an der falschen Beschriftung und mangelnden Kontextualisierung einzelner Bilder sah sich die Ausstellung folgenden Vorwürfen ausgesetzt: Einseitigkeiten und Verzerrungen in der Darstellung, vermeintliche Pauschalverurteilungen, Verunglimpfung des Andenkens an verstorbene Soldaten, Verkürzung des Bildes der Armee auf deren Verbrechen. Vgl. Johannes Klotz: Die Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944«. Zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik. In: Detlef Bald/ Johannes Klotz/Wolfram Wette (Hrsg.): Mythos Wehrmacht. Nachkriegsdebatten und Traditionspflege. Berlin 2001, S. 116–176. 16 Omer Bartov u. a.: Bericht der Kommission zur Überprüfung der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«. November 2000, S. 91.
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Ausstellungsmacher somit von jeglichen Manipulationsvorwürfen – wie sie auch im Raum gestanden hatten – frei. Die daraufhin ab November 2001 wieder der Öffentlichkeit zugängliche Wanderausstellung unter dem Titel »Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944« stellte die kritikwürdigen Zusammenhänge in völlig überarbeiteter Form neu dar : So wurden beispielsweise die ausgestellten Bilder mehr als halbiert. Aus einer Foto- war eine Dokumentenschau geworden; sowohl quantitativ als auch visuell dominierten jetzt die Schriftquellen.17 Die zweite Ausstellung mit veränderter Präsentationsweise bei unveränderter Grundthese erregte jetzt kaum mehr öffentlichen Widerspruch. Sie galt gemeinhin als »Konsensausstellung«. Die These von der Wehrmacht, die häufig aktiv an nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt gewesen war, hatte sich offenbar durchgesetzt.18 Heutzutage hat dieser historische Tatbestand – gewiss auch aufgrund des unaufhaltsamen Ablebens der Erlebnisgeneration19 – für die kollektive Erinnerung weitgehend seine Anstößigkeit verloren. Innerhalb der Forschung zum Nationalsozialismus und Holocaust nimmt die Thematik mittlerweile einen zentralen Platz ein. Insbesondere in den letzten zehn Jahren ist eine Fülle von Arbeiten entstanden, die die Forschung auch in der Breite konsolidiert haben.20 17 Vgl. für eine systematische und fundierte Kritik an der Neufassung der Ausstellung Klaus Hesse: »Verbrechen der Wehrmacht – Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944«. Anmerkungen zur Neufassung der »Wehrmachtsausstellung«. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53, 2002, H. 10, S. 594–611. 18 Vgl. Hans-Ulrich Thamer : Vom Tabubruch zur Historisierung? Die Auseinandersetzung um die »Wehrmachtsausstellung«. In: Sabrow/Jessen/Große Kracht (Anm. 13), S. 171–186, hier S. 180. 19 Vgl. Norbert Frei: Abschied von der Zeitgenossenschaft. Der Nationalsozialismus und seine Erforschung auf dem Weg in die Geschichte. In: Werkstatt Geschichte 20, 1998, S. 69–83. 20 Vgl. Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939. Frankfurt am Main 2006; Christian Hartmann: Unternehmen Barbarossa. Der Deutsche Krieg im Osten 1941–1945. 2., durchgeseh. Aufl., München 2012; Christian Hartmann: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42. München 2009 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 75); Jörn Hasenclever: Wehrmacht und Besatzungspolitik in der Sowjetunion. Die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete 1941–1943. Paderborn 2010 (Krieg in der Geschichte, Bd. 48); Johannes Hürter : Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42. München 2006 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 66); Peter Kalmbach: Wehrmachtsjustiz. Berlin 2012; Bogdan Musial: Sowjetische Partisanen 1941–1944. Mythos und Wirklichkeit. Paderborn 2009; Sönke Neitzel: Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942–1945. Berlin 2005; Sönke Neitzel/Harald Welzer : Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt am Main 2011; Manfred Oldenburg: Ideologie und militärisches Kalkül. Die Besatzungspolitik der Wehrmacht in der Sowjetunion 1942. Köln 2004; Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944. München 2008 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 71); Christoph Rass: »Menschenmate-
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Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Wehrmacht lässt sich also geradezu – so könnte man resümierend festhalten – als erinnerungsgeschichtliches Lehrstück betrachten.
2.
Untersuchungsdesign
Angesichts des skizzierten Wandels der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur lohnt es zu analysieren, wie im heutigen Geschichtsunterricht die Verbrechen der Wehrmacht behandelt werden. Die Fragestellungen lauten: Wird die Wehrmacht als eine Armee dargestellt, die sich trotz aller scheinbaren Widrigkeiten und Befehlsnotstände tadellos verhielt? Wird also ihre Beteiligung am nationalsozialistischen Vernichtungskrieg marginalisiert und damit die Rolle einfacher Soldaten auf die von passiven Zuschauern reduziert? Oder wird deutlich, dass nicht unbeträchtliche Teile der Wehrmacht sich aktiv an Verbrechen beteiligten? Geschichtsschulbüchern fällt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu. Obwohl dem Schulbuch von den Verfechtern der »Neuen Medien« schon mehrfach das Sterbeglöckchen geläutet wurde, stellt es auch noch im 21. Jahrhundert das Leitmedium für historisches Lernen im Geschichtsunterricht dar.21 Vor dem Hintergrund dieser exponierten Stellung in der Unterrichtspraxis trägt das Schulgeschichtsbuch somit fraglos zur Bildung von Geschichtsbewusstsein bei Schülerinnen und Schülern bei. Das Schulbuch stellt aber nicht nur ein rein unterrichtliches Arbeitsmittel dar, mit dessen Hilfe historische Lehr- und Lernprozesse im Geschichtsunterricht angebahnt werden sollen. Ganz im Gegenteil: Schulbuchverlage sind aufgrund eines mehr oder minder rigorosen staatlichen Genehmigungsverfahrens gezwungen, ihre Lehrwerke in enger Anlehnung an die bildungspolitischen Vorgaben der jeweils gültigen Lehrpläne zu konzipieren.22 Als Medien der Geschichtskultur geben Schulgeschichtsbücher somit anschaulich darüber Aufschluss, was seitens des Staates als erinnerungswürdig angesehen wird. Wolfrial«. Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939–1945. Paderborn 2003 (Krieg in der Geschichte, Bd. 17); Felix Römer: Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42. Paderborn 2008; Felix Römer: Kameraden. Die Wehrmacht von innen. München 2012. 21 Vgl. Simone Lässig: Räume und Grenzen. Außenperspektiven und Innenansichten durch die Linse des Schulbuchs. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64, 2013, H. 1/2, S. 6–12, hier S. 6. 22 Vgl. Bernd Schönemann: Lehrpläne, Richtlinien, Bildungsstandards. In: Hilke GüntherArndt/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 6., überarb. Neuaufl., Berlin 2014, S. 50–66.
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gang Jacobmeyers Formel von den Geschichtsschulbüchern als »nationale[n] Autobiographien«23 ist dafür seit langem zu einem geflügelten Wort geworden. Das Schulbuch ist also aufgrund seines großen Verbreitungsgrades im Geschichtsunterricht und seiner Rolle als Träger allgemein anerkannten und sozial approbierten Wissens, das in das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft eingeschrieben werden soll, in gleichem Maße »Produkt und Lieferant deutscher Erinnerungs- und Geschichtskultur«24. An seinem heuristischen Wert für die vorliegende Fragestellung besteht somit kein Zweifel. Da der Rahmen des Aufsatzes verlangt, exemplarisch vorzugehen, beschränkt sich die Schulbuchanalyse auf die von der Wehrmacht begangenen Verbrechen während des »Unternehmens Barbarossa«, den größten Vernichtungskrieg, den das nationalsozialistische Deutschland zu führen imstande war. Der Fokus der Untersuchung liegt dabei auf den drei größten Verbrechenskomplexen: (1) dem Völkermord an den Juden, (2) der Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen und (3) der völkerrechtswidrigen Partisanenbekämpfung. Als empirische Grundlage dient ein Sample aus vier aktuell für die Sekundarstufe I des Gymnasiums zugelassenen Lehrwerken in den niedersächsischen Länderausgaben der wichtigsten Schulbuchverlage: Das waren Zeiten (C.C. Buchner)25, Forum Geschichte (Cornelsen)26, Geschichte und Geschehen (Klett)27, Horizonte (Westermann)28. Alle Bücher entsprechen dem modernen Typus des kombinierten Lehr- und Arbeitsbuches, der »die Vermittlung grundlegender Informationen durch einen Verfassertext mit einem Angebot zur selbstständigen Erarbeitung durch die Schülerinnen und Schüler«29 verknüpft.
23 Wolfgang Jacobmeyer : Konditionierung des Geschichtsbewusstseins. Schulgeschichtsbücher als nationale Autobiographien. In: Gruppendynamik 23, 1992, H. 4, S. 375–388. 24 Christian Heuer : Geschichtskultur und Schulgeschichtsbuch – Konsequenzen, Möglichkeiten, Potentiale. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung. 2. Aufl., Berlin 2011 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 16), S. 53–66, hier S. 64. 25 Vgl. Dieter Brückner/Harald Focke (Hrsg.): Das waren Zeiten. Neue Ausgabe Niedersachsen. Unterrichtswerk für Geschichte an Gymnasien. Sekundarstufe I. Bd. 4: Deutschland, Europa und die Welt von 1871 bis zur Gegenwart. Bamberg (C.C. Buchner) 2010. 26 Vgl. Hans-Otto Regenhardt (Hrsg.): Forum Geschichte 9/10. Niedersachsen. Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Berlin (Cornelsen) 2010. 27 Vgl. Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Geschehen 6. Ausgabe für Bremen und Niedersachsen. Stuttgart (Klett) 2011. 28 Vgl. Ulrich Baumgärtner/Hans-Jürgen Döscher/Klaus Fieberg (Hrsg.): Horizonte 3. Geschichte Gymnasium Niedersachsen. Schuljahrgänge 9 und 10. Braunschweig (Westermann) 2009. 29 Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 10., erneut akt. u. erw. Aufl., Seelze 2012, S. 255.
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Beide Bausteine sind für die Untersuchung von Bedeutung. Als »Derivat der Historiographie«30 enthält ein Verfassertext nicht nur wertneutrale Informationen, sondern immer auch Interpretationen. Versteckte und implizite (oder auch explizite) historische Wertungen verbergen sich etwa in der Akzentsetzung bestimmter Themenkomplexe, in den Charakterisierungen von Zuständen, Ereignissen oder Prozessen, in der Wort- und Begriffswahl oder in der Berücksichtigung dieser oder Außerachtlassung jener Forschungsposition. Die Arbeitsteile sind deshalb für die Analyse von Interesse, weil sie zur Akzentuierung und Vertiefung der Informationen aus dem Verfassertext beitragen.31 Für Schülerinnen und Schüler lassen sich dort unter Umständen auch »alternative Möglichkeiten der Vergangenheitsdeutung«32 und »fehlende historische Puzzleteile«33 finden. Die Untersuchung geht deskriptiv-analytisch vor, sodass beschreibende Erfassung mit wertender Beurteilung verbunden ist.34 Es geht der Studie zunächst um die fachwissenschaftlich-inhaltliche Ebene der Schulbücher. Die Verfassertexte werden also auf ihren fachlichen Gehalt hin überprüft. Als Beurteilungsmaßstab dienen hier somit in erster Linie die Ergebnisse der historischen Forschung. Da sich eine adäquate Analyse, die dem Medium »Schulbuch« gerecht werden will, jedoch nicht nur auf die von den Schulbuchautoren verfassten Texte beschränken darf, nimmt die explizit fachdidaktische Komponente einen integralen Bestandteil in der Untersuchung ein. Zu fragen ist daher nach der Beschaffenheit der Arbeitsteile: In welcher Form kommen Quellen und Darstellungen zum Einsatz? Dienen sie vornehmlich der Illustration und sollen die Aussagen der Verfassertexte nur belegen oder konkretisieren? Oder werden sie heuristisch eingesetzt und enthalten Informationen, die aus den vorangegangenen Verfassertexten nicht zu entnehmen sind? Werden Schülerinnen und Schüler also über das Vorhandensein von Quellen und Darstellungen im Materialteil zum Perspektivenwechsel angeregt?
30 Hans-Jürgen Pandel: Was macht ein Schulbuch zu einem Geschichtsbuch? Ein Versuch über Kohärenz und Intertextualität. In: Handro/Schönemann (Anm. 24), S. 15–37, hier S. 18. 31 Vgl. Hilke Günther-Arndt: Schulbucharbeit. In: Hilke Günther-Arndt/Saskia Handro (Hrsg.): Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. 5., überarb. Neuaufl., Berlin 2015, S. 174–179, hier S. 176. 32 Bernd Schönemann/Holger Thünemann: Schulbucharbeit. Das Geschichtslehrbuch in der Unterrichtspraxis. Schwalbach/Ts. 2010, S. 86. 33 Ebd. 34 Vgl. zur Methodik der Analyse von Schulgeschichtsbüchern ausführlich Etienne Schinkel: Schulbuchanalyse (Stichworte zur Geschichtsdidaktik). In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65, 2014, H. 7/8, S. 482–497.
Der Vernichtungskrieg der Wehrmacht
3.
Ergebnisse der Schulbuchanalyse
3.1
Der Völkermord an den Juden
131
Die zentrale Rolle, die die Wehrmacht bei der Ermordung der Juden einnahm, ist evident. Wenngleich die Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD unzweifelhaft die Hauptträger der Vernichtungsmaßnahmen waren, war die Armee in alle Phasen des Völkermords involviert. So wurden die Einsatzgruppen administrativ und logistisch unterstützt: Die Wehrmacht stellte Fahrzeuge, Treibstoff und Munition zur Verfügung, übernahm die Registrierung und Kennzeichnung der Juden oder übergab festgenommene Juden »zur weiteren Behandlung« an die Mordkommandos. Wehrmachtssoldaten beteiligten sich aber auch unmittelbar an Massenerschießungen von jüdischen Männern, Frauen und Kindern. Dabei handelte es sich nicht nur um Einzeltäter, zum Teil sind auch ganze Formationen schuldig geworden.35 Bei der Frage, wie nunmehr die Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust im Schulbuch dargestellt wird, offenbart das Untersuchungssample ein widersprüchliches Bild. Während drei Lehrwerke die Beteiligung der Wehrmacht an der Ermordung der Juden mehr oder minder eindeutig ausweisen, wird in einem Schulbuch von der Armee und ihren Soldaten als Akteuren des Völkermords abstrahiert und ihre Rolle auf die von Gegnern der Judenverfolgung oder »Judenrettern« reduziert. Zunächst zu den Büchern, die den aktuellen Forschungsstand berücksichtigen. Die Autoren von Das waren Zeiten formulieren in Bezug auf den Judenmord knapp: »Vollstrecker der Verbrechen waren vor allem Einsatzgruppen aus SS, Gestapo und Polizei. Auch Einheiten der Wehrmacht beteiligten sich.«36 Mehr Informationen gibt es nicht. Der Verfassertext von Horizonte fällt dagegen deutlicher aus: »Reguläre Armeeeinheiten waren an der organisatorischen Durchführung der Judenvernichtung sowie teilweise an der Erschießung und Deportation von Juden beteiligt.«37 Im Materialteil erfahren die Leserinnen und Leser zudem anhand eines Auszuges aus dem Ausstellungskatalog zur »Wehrmachtsausstellung« etwas über das Judenpogrom in Tarnopol im Juli 1941, bei dem die SS der Wehrmacht eine »erfreulich gute Einstellung gegen die Juden« bescheinigt habe. Darüber hinaus geht aus einem abgedruckten Bericht des Dolmetschers bei der Heeresgruppe Mitte vom 24. Oktober 1941 über ein 35 Vgl. Walter Manoschek: »Wo der Partisan ist, ist der Jude, und wo der Jude ist, ist der Partisan«. Die Wehrmacht und die Shoah. In: Gerhard Paul (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002 (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 2), S. 167–185. 36 Das waren Zeiten (Anm. 25), S. 163. 37 Horizonte (Anm. 28), S. 182.
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Massaker in Borissow (Weißrussland) hervor, dass Wehrmachtssoldaten zu Augenzeugen der Massenerschießungen von Juden wurden.38 In Geschichte und Geschehen müssen die Leserinnen und Leser bis zur Doppelseite »Wiederholen und Anwenden«, die am Schluss der Themeneinheit »Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg« steht, warten, bis die Mitwirkung der Wehrmacht am Holocaust angesprochen wird. Unter der Überschrift »Kontrovers diskutieren und Ergebnisse der Debatte präsentieren« finden die Schülerinnen und Schüler zwei Kommentare von Historikern zu der vom HIS erarbeiteten »Wehrmachtsausstellung«. Die Schülerinnen und Schüler werden unter anderem gebeten, die Aussagen der beiden Historiker zu vergleichen, und darüber zu diskutieren, inwiefern die Rolle der Wehrmacht mit dem Völkermord in Zusammenhang gebracht werden kann.39 Forum Geschichte verzichtet im Verfassertext darauf, die aktive Beteiligung der Wehrmacht am Judenmord in der Sowjetunion zu erwähnen. Im Materialteil betreiben die Schulbuchautoren schließlich durch den Abdruck zweier Quellen eine weitgehende Exkulpation der Wehrmacht. Zu finden ist einerseits ein Auszug aus dem Bericht eines Wehrmachtsbefehlshabers vom 23. November 1939, in dem dieser sich über von SS-Formationen durchgeführte Massenerschießungen von Juden in Polen beim Befehlshaber des Ersatzheeres beschwert.40 Andererseits können die Leserinnen und Leser aus einem abgedruckten Zeitungsartikel aus der »Passauer Neuen Presse« etwas über das ehrenhafte Verhalten eines Majors der Wehrmacht erfahren, der 80 bis 100 Juden mehrere Wochen vor dem Zugriff der SS schützen konnte, indem er Straßen und Brücken sperren ließ.41 Dass es sich bei der Auswahl dieser beiden Materialien um eine sehr einseitige und damit die historische Realität verzerrende Aufarbeitung des Themas handelt, bedarf keiner weiteren Erläuterung.
3.2
Die Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen
Die sowjetischen Kriegsgefangenen waren neben den Juden jene Opfergruppe, die während des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges das schlimmste Schicksal erlitt. Ungefähr 3,3 Millionen sowjetische Soldaten kamen in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben. Die Ausrottungspolitik begann bereits mit Erschießungen an der Front. Der Kommissarbefehl des Oberkommandos der Wehrmacht vom 6. Juni 1941, der flächendeckend an die Truppen weitergegeben 38 39 40 41
Vgl. ebd., S. 184. Vgl. Geschichte und Geschehen (Anm. 27), S. 67. Vgl. Forum Geschichte (Anm. 26), S. 174. Vgl. ebd., S. 175.
Der Vernichtungskrieg der Wehrmacht
133
und von den meisten Einheiten auch befolgt wurde, bestimmte die sofortige Liquidation der Politoffiziere der Roten Armee nach deren Gefangennahme. Etwa 1000 Männer wurden so in den ersten Kriegswochen willkürlich erschossen.42 Die überwiegende Zahl der sowjetischen Kriegsgefangenen kam dagegen in den Kriegsgefangenenlagern infolge von systematischer Unterernährung, schlechter Unterbringung und katastrophaler medizinischer Versorgung ums Leben. Hervorzuheben ist, dass die Wehrmacht – und nicht etwa die SS – für Transport, Unterbringung, Versorgung und Verpflegung zuständig war. Das deutsche Militär zeichnete sich somit für den Tod von mehr als drei Millionen Menschen verantwortlich.43 Die Analyse der Schulbücher ergibt ein ziemlich ernüchterndes Bild. Alle Verfassertexte sind weit davon entfernt, das elende Schicksal der gefangenen Rotarmisten auch nur annähernd adäquat zu beschreiben. So heißt es in Das waren Zeiten nur : »Auf Anordnung der Führung waren Richtlinien und Befehle erlassen worden, die internationale Regeln der Kriegsführung missachteten: Gefangene genossen keinen Schutz, Kommunisten und Juden konnten ohne Einschränkung getötet werden.«44 Angesichts von Millionen ermordeter sowjetischer Kriegsgefangener überzeugt auch nicht die vage Formulierung im Verfassertext von Geschichte und Geschehen: »Viele sowjetische Kriegsgefangene wurden kurzerhand erschossen oder starben in den Gefangenenlagern.«45 Als völlig unzureichend muss die Aufbereitung in Forum Geschichte bewertet werden. Hier wird nämlich nur ausgewiesen, dass es die »Misshandlung und Tötung von Kriegsgefangenen«46 während des Russlandfeldzuges gegeben habe. Der Autorentext von Horizonte ist schließlich der einzige, dem sich präzise Zahlenangaben entnehmen lassen: »Von etwa 5,7 Millionen gefangenen Rotarmisten starben 3,3 Millionen.«47 Immerhin zwei Lehrwerke – Das waren Zeiten und Geschichte und Geschehen – machen darauf aufmerksam, dass sich – neben SS und Polizei – auch reguläre Einheiten der Wehrmacht an der Tötung von Kriegsgefangenen beteiligten.48 Das verzerrt zwar immer noch die historische Realität, weil es sich bei der 42 Vgl. Dieter Pohl: Die deutsche Militärbesatzung und die Eskalation der Gewalt in der Sowjetunion. In: Hartmann/Hürter/Lieb/Pohl (Anm. 2), S. 73–93, hier S. 79. 43 Vgl. Christian Gerlach: Die Verantwortung der Wehrmachtsführung. Vergleichende Betrachtungen am Beispiel der sowjetischen Kriegsgefangenen. In: Christian Hartmann/Johannes Hürter/Ulrike Jureit (Hrsg.): Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte. München 2005, S. 40–49. 44 Das waren Zeiten (Anm. 25), S. 163. 45 Geschichte und Geschehen (Anm. 27), S. 45. 46 Forum Geschichte (Anm. 26), S. 174. 47 Horizonte (Anm. 28), S. 182. 48 Vgl. Das waren Zeiten (Anm. 25), S. 163; Geschichte und Geschehen (Anm. 27), S. 45.
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Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen nachweislich um ein eher genuines Verbrechen der Armee handelte, bei dem die Zusammenarbeit mit der SS nur eine untergeordnete Rolle spielte.49 Es soll aber angesichts der insgesamt wenig befriedigenden Darstellungen durchaus positive Erwähnung finden. Nicht viel besser als die Verfassertexte nehmen sich die Arbeitsteile der einzelnen Schulbücher aus. In drei von vier Lehrwerken ist ein Auszug aus dem Kommissarbefehl die einzige Quelle, die den Schülerinnen und Schülern zur Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen zur Verfügung gestellt wird.50 Das waren Zeiten bietet seinen Leserinnen und Lesern neben diesem Mordbefehl51 zusätzlich eine Text- und eine Bildquelle. Dabei handelt es sich zum einen um das Geständnis eines deutschen Kriegsgefangenen über seinen Einsatz an der Ostfront. Darin heißt es: »Kurz vor unserem Abmarsch [in die Sowjetunion] wurden wir von unserem Kompaniechef […] in einer Scheune versammelt. Hier erhielten wir folgenden Geheimbefehl: ›Kriegsgefangene sind von der Roten Armee nur in Ausnahmefällen, d. h. wenn es unvermeidlich ist, zu machen. Im Übrigen sind gefangene Sowjetsoldaten zu erschießen. Stets zu erschießen sind Frauen, die in den Einheiten der Roten Armee dienen.‹ Ich kann nun noch sagen, dass sich der große Teil der Soldaten meiner Einheit nicht so verhielt, wie es der obige Blutbefehl von ihnen forderte. Ich sah aber auch, wie sich die deutsche Armee ein grauenhaftes Ansehen erwarb.«52
Die Schülerinnen und Schüler werden mittels eines Arbeitsauftrages erstens dazu angehalten aufzuzeigen, welche Haltung der deutsche Soldat zu dem »Blutbefehl« einnahm, zweitens das »grauenhafte Ansehen«, das sich die Armee nach Meinung des Soldaten erwarb, zu erläutern. Wenn Schülerinnen und Schüler beispielsweise die Äußerungen des Soldaten mit den Verlautbarungen des nebenstehenden Kommissarbefehls in Beziehung setzen, können sie einerseits erkennen, dass einfache Landser die vom OKW vorgesehenen regelmäßigen Erschießungen von Sowjetsoldaten selbst ausführten. Andererseits könnte im Klassenraum auch die Frage gestellt werden, in welchem quantitativen Ausmaß Wehrmachtsangehörige an den Massenverbrechen beteiligt waren. Ohne Arbeitsauftrag versehen und daher wahrscheinlich vornehmlich zu illustrativen Zwecken gedacht, findet sich auf derselben Seite der Abdruck einer Fotografie aus dem Jahr 1941, auf der zwei sowjetische Gefangene abgebildet sind, die ihr eigenes Grab ausheben müssen. Interessant sind vor allem die 49 Vgl. Dieter Pohl: Die Kooperation zwischen Heer, SS und Polizei in den besetzten sowjetischen Gebieten. In: Hartmann/Hürter/Jureit (Anm. 43), S. 107–116, hier S. 113. 50 Vgl. Forum Geschichte (Anm. 26), S. 174; Geschichte und Geschehen (Anm. 27), S. 46; Horizonte (Anm. 28), S. 185. 51 Vgl. Das waren Zeiten (Anm. 25), S. 164. 52 Ebd.
Der Vernichtungskrieg der Wehrmacht
135
zahlreichen »Zuschauer«, die den Vorgang zum Teil aufmerksam beobachten. In jedem Fall dokumentiert die Fotografie, dass die Armee tatsächlich planmäßig und als Organisation in den Vernichtungskrieg involviert war.53
3.3
Die völkerrechtswidrige Partisanenbekämpfung
Im Kampf gegen die ab Winter 1941/42 vor allem in Jugoslawien und in der Sowjetunion stärker und koordinierter werdende Partisanenbewegung reagierten Teile der Wehrmacht mit zahlreichen Vergeltungsmaßnahmen. Leitragende war in erster Linie die Zivilbevölkerung. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt, ihre Einwohner samt Frauen und Kindern – sobald auch nur der geringste Verdacht auf Partisanentätigkeit bestand – an Ort und Stelle erschossen oder in Gefangenschaft geführt.54 Geradezu als Freibrief für diese Gräueltaten diente den Soldaten der Kriegsgerichtsbarkeitserlass Hitlers vom 13. Mai 1941, der nicht nur den völkerrechtlichen Schutz für die einheimische Bevölkerung komplett aufhob, sondern zugleich die gerichtliche Verfolgung der Straftaten von Wehrmachtsangehörigen unterband: »Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist.«55 In den untersuchten Schulbüchern finden die völkerrechtswidrige Partisanenbekämpfung und die Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung kaum bis gar keine Beachtung. Während sich die Schulbuchautoren von Horizonte mit der simplen und völlig unzureichenden Feststellung begnügen, dass Partisanen die deutschen Eroberer bekämpft hätten56, informiert der Verfassertext von Das waren Zeiten zunächst ausführlich über die von Partisanen verübten Taten: »Mit Flugblättern, Streiks, Sabotageaktionen wie der Zerstörung von Eisenbahnanlagen und Brücken sowie Anschlägen auf den deutschen 53 Vgl. ebd. 54 Zur Rolle des Ostheeres im Partisanenkrieg bilanziert Christian Hartmann: »Ein nachvollziehbares militärisches Sicherheitsbedürfnis, das sich wenigstens zum Teil noch völkerrechtlich begründen ließ, vermischte sich schon bald mit den Ideologemen einer barbarischen Besatzungspolitik, die in allem Fremden bereits den Feind witterte. Dieses Gemengelage, in der Recht und Moral immer schwerer zu erkennen waren, kann die Reaktionen vieler deutscher Soldaten erklären, aber wohl kaum rechtfertigen. Die moralische Ambivalenz, die dem Partisanenkrieg stets anheftet, ändert aber nichts daran, dass Teile des Ostheeres zum Exekutor eines rassenideologischen Vernichtungsprogramms wurden, dessen Leidtragende in erster Linie eine eingeschüchterte Zivilbevölkerung war.« (Hartmann (Anm. 2), S. 29). 55 Zitiert nach Gerd R. Ueberschär/Wolfram Wette (Hrsg.): Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. »Unternehmen Barbarossa« 1941. Frankfurt am Main 1991, S. 252. 56 Vgl. Horizonte (Anm. 28), S. 180.
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Nachschub versuchten Widerstandsgruppen, die Fremdherrschaft zu schwächen.«57 Daran schließt sich folgender Satz an: »Dabei nahmen sie brutale Gegenmaßnahmen in Kauf: Partisanen wurden erschossen oder gehenkt.«58 Ganz davon abgesehen, dass die Leserinnen und Leser nicht erfahren, wer für die Ermordung verantwortlich war, erweckt diese Textpassage indirekt den Eindruck, dass die Partisanen gewissermaßen selbst an ihrem Schicksal schuld gewesen seien, hätten sie die Vergeltungsmaßnahmen der Deutschen angesichts ihrer eigenen Taten doch erahnen müssen. Positiver fällt dagegen die Aufarbeitung in Geschichte und Geschehen und Forum Geschichte aus, wenngleich auch hier die Ungenauigkeiten überwiegen. Beide Lehrwerke drucken in den Arbeitsteilen Hitlers Kriegsgerichtsbarkeitserlass ab.59 Durch den Abdruck dieser Quelle geraten die völkerrechtswidrigen Gewalttaten der Soldaten gegen die Zivilbevölkerung in den Fokus. Unkonkret wird hingegen der Partisanenkrieg beschrieben. Diesen verorten die Autoren von Geschichte und Geschehen nämlich seltsamerweise allein in Jugoslawien und Griechenland.60 Auch die von Wehrmachtseinheiten getroffenen Vergeltungsmaßnahmen werden nur sehr abstrakt dargestellt, wenn es heißt: »Um diesen [den anhaltenden Widerstand der Partisanengruppen] zu brechen, reagierten deutsche Einheiten mit brutalen Vergeltungsmaßnahmen, bei denen jeweils zahlreiche Menschen umgebracht wurden.«61 Im Verfassertext von Forum Geschichte wird ungenau ausgewiesen, dass es im Krieg gegen die Sowjetunion »Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung«62 gegeben habe. Im Materialteil findet sich die berühmte Fotografie der Hinrichtung zweier jugendlicher Widerstandskämpfer in Minsk. Diese ist allerdings derart beschnitten, dass – zumindest für Schülerinnen und Schüler, die das Bild zum ersten Mal sehen – der die Hinrichtung ausführende Soldat kaum mehr zu erkennen ist.63
57 58 59 60
Das waren Zeiten (Anm. 25), S. 167. Ebd. Vgl. Forum Geschichte (Anm. 26), S. 174; Geschichte und Geschehen (Anm. 27), S. 46. Vgl. Geschichte und Geschehen (Anm. 27), S. 45: »In Jugoslawien und Griechenland bildeten sich Partisanengruppen, die anhaltenden Widerstand leisteten.« 61 Ebd. 62 Forum Geschichte (Anm. 26), S. 174. 63 Dass es sich zweifelsfrei um Wehrmachtsangehörige handelte, die für diese Vergeltungsmaße verantwortlich waren, wird indes durch die Bildunterschrift kenntlich gemacht: »Öffentliche Hinrichtung in Minsk, der heutigen Hauptstadt Weißrusslands, Foto, 26. Oktober 1941. An jenem Sonntag wurden zwölf Personen von Angehörigen der Wehrmacht öffentlich hingerichtet. Sie trugen Schilder mit der Aufschrift ›Wir sind Partisanen und haben auf deutsche Soldaten geschossen‹. Das entsprach nicht der Wahrheit. Sie gehörten zu einer Widerstandsgruppe, die Rotarmisten unterstützte. Bisher ungeklärt ist die Identität der jungen Frau. Im Holocaust-Museum in Washington wird sie als jüdische Widerstandskämpferin Masha Bruskina verehrt; auf dem Denkmal in einem Dorf nahe Minsk wird an Alexandra
Der Vernichtungskrieg der Wehrmacht
4.
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Diskussion der Befunde und pragmatische Konsequenzen
Ausgehend von der eingangs formulierten Frage, welches »Geschichtsbild«64 derzeit an niedersächsischen Gymnasien verwendete Schulbücher von der Wehrmacht zeichnen, fällt auf, dass die Verbrechen der deutschen Armee bisher nur wenig Berücksichtigung gefunden haben. Gewiss werden die Gräueltaten der Wehrmacht vereinzelt in den Verfassertexten genannt oder durch diverse Materialien in den Arbeitsteilen dokumentiert, von einem scharfkantigen Herauspräparieren der Verbrechen kann aber keine Rede sein. Schätzungen, wie viele Soldaten aus der Truppe sich an den Verbrechen beteiligten, unterbleiben. Auch die Frage, ob sie dies freiwillig taten oder unter Zwang, findet keine Berücksichtigung. Bei den Themen »Tötung der sowjetischen Kriegsgefangenen« und »Partisanenkrieg« gewinnt man zuweilen gar den Eindruck, dass sich die Schulbücher um ein harmonisierendes Geschichtsbild bemühen, da die Beteiligung der Wehrmacht hier oftmals völlig unberücksichtigt bleibt. Insgesamt ist zu konstatieren, dass das Thema »Vernichtungskrieg« eindeutig im Schatten des übermächtigen Themas »Holocaust« steht. Es ist immer die Frage, was überhaupt von einem Geschichtsschulbuch erwartet werden kann. Wer Schulbücher analysiert, muss natürlich die mediale Eigenlogik dieses Mediums berücksichtigen. Das heißt: Bei aller gebotenen Kritik, die man gegen die Aufbereitung historischer Themen in Schulbüchern erheben kann, darf nicht vergessen werden, dass der Raum, der Schulbuchautoren für die Abfassung ihrer Texte und den Abdruck von Quellen und Darstellungen zur Verfügung steht, notwendigerweise begrenzt ist. Ein Lehrwerk kann somit die in der Fachwissenschaft bis ins kleinste Detail vorgetragenen Erkenntnisse niemals in Gänze wiedergeben. Ein Geschichtsschulbuch wird darüber hinaus – auch das gilt es zu bedenken – nicht für ausgebildete Historikerinnen und Historiker, sondern für Schülerinnen und Schüler mit wenig bis gar keinen Vorkenntnissen geschrieben. Statt sich in den Verästelungen der Wissenschaft zu verrennen, muss es also vornehmlich um historische Orientierung in Raum und Zeit sowie in stark vereinfachten Inhalten gehen. Als Autor von Schulbuchanalysen hat man die Pflicht, diese dem Medium innewohnenden Zwänge zur Komplexitätsreduktion stets mitzudenken. Das hat zur Folge, dass in den Schulbüchern nicht der Platz sein kann, das gesamte Kaleidoskop der Verbrechen der Wehrmacht im Detail aufzubereiten. Das Schulbuch muss sich auf einige typologische Bemerkungen beschränken. Wasiljewna Linewitsch erinnert, die nach Aussagen von Verwandten die Hingerichtete sein soll.« (Ebd., S. 175). 64 Vgl. Marko Demantowsky : Geschichtsbild. In: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider/Bernd Schönemann (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. 3. Aufl., Schwalbach/Ts. 2014, S. 82–83.
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Allerdings – und dies betrifft vor allem die Verfassertexte – haben auch die in der Schule Lernenden einen Anspruch auf verlässliche Wissensvermittlung. Forschungsergebnisse aus älteren Arbeiten, die durch neuere Studien als längst überholt gelten können, gehören daher nicht ins Schulbuch.65 Aus den Verfassertexten muss also eindeutig hervorgehen, dass sich die Wehrmacht nicht allein auf ihre originären militärischen Aufgaben besann. Faktum ist: Mit diversen verbrecherischen Befehlen hatte die Wehrmachtsführung den Soldaten die generelle »Lizenz zur barbarischen Behandlung des Feindes«66 erteilt. Die Armee ließ infolgedessen Millionen sowjetischer Kriegsgefangener verhungern und zahlreiche reguläre Wehrmachtseinheiten beteiligten sich aktiv an Juden- und Partisanenaktionen. Aus diesen Gründen sollten in den Arbeitsteilen einschlägige Quellen ihren Platz finden, anhand derer sich Schülerinnen und Schüler mit zentralen Fragen nach der Täterschaft der Wehrmacht als Organisation beziehungsweise einzelner Wehrmachtssoldaten beschäftigen. Natürlich haben maßgebliche verbrecherische Befehle oder Fotografien nach wie vor einen integralen Platz in den Lehrwerken verdient.67 Von besonderem Interesse sind aber auch Selbstzeugnisse68 und Ego-Dokumente69, zwei Quellengattungen, die bisher bei diesem 65 Vgl. Ernst Hinrichs: Zur wissenschaftlichen Angemessenheit von Schulbuchtexten. Beispiel: Geschichtsbücher. In: K. Peter Fritzsche (Hrsg.): Schulbücher auf dem Prüfstand. Perspektiven der Schulbuchforschung und Schulbuchbeurteilung in Europa. Frankfurt am Main 1992 (Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Bd. 75), S. 97–105. 66 Omer Bartov : Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 113. 67 Schulbuchproduzenten sollten allerdings verstärkt darauf achten, »Bilder« als genuine Geschichtsquellen wirklich ernst zu nehmen. Dazu gehört vor allem, die immer wieder geforderten Qualitätsstandards für die Präsentation von »Bildern« konsequent einzuhalten. Dass »Bilder« in Lehrwerken bis heute regelmäßig beschnitten, nachkoloriert oder mit sachfremden Kommentaren versehen werden, ist sehr ärgerlich. Vgl. Günter Kaufmann: Neue Bücher – alte Fehler. Zur Bildpräsentation in Schulgeschichtsbüchern. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51, 2000, H. 2, S. 68–87 sowie Michael Sauer : Fehlende Standards, mangelnde Vorarbeiten. Zu den Problemen der Bildverwendung in Unterrichtsmedien. In: Uwe Uffelmann/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Verstehen und Vermitteln. Armin Reese zum 65. Geburtstag. Idstein 2004, S. 367–382. 68 Bei Selbstzeugnissen handelt es sich um »Äußerungen einer Person, die Auskunft geben können über deren Lebensverhältnisse, Erfahrungen und Erlebnisse, Wahrnehmungen und Befindlichkeiten, Wünsche und Hoffnungen, Selbst- und Weltbilder. Üblicherweise wird die Definition auf schriftliche und aus eigenem Antrieb vorgenommene Äußerungen eingegrenzt. Als klassische Quellengattungen zählen zu den Selbstzeugnissen Autobiografien, Memoiren, Tagebücher und private Briefe; auch Reiseberichte können Selbstzeugnisse sein.« (Michael Sauer : Selbstzeugnisse als historische Quellen. In: Geschichte lernen, H. 156 (2013), S. 2–11, hier S. 2). 69 Der Begriff »Ego-Dokument« umfasst – in Abgrenzung bzw. in Erweiterung zum Begriff »Selbstzeugnisse« – auch solche Aufzeichnungen, die nicht unmittelbar von einer Person stammen, aber über sie Auskunft geben können. Darunter fallen zum Beispiel Personalakten, Verhörprotokolle oder Zeugenaussagen. Winfried Schulze, der den Begriff in die
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Thema kaum Berücksichtigung gefunden haben. Neben Augenzeugenberichten70 oder Tagebuchauszügen71 bieten sich vor allem Feldpostbriefe an. In Feldpostbriefen lassen sich nämlich neben einer Fülle von ideologischen Vorurteilen und rassistischen Feindbildern72 auch – wenngleich seltener – unverblümte Beschreibungen über das Morden finden. In einem Feldpostbrief, den ein einfacher Landser im Juli 1941 an seine Eltern schrieb, heißt es beispielsweise:
deutsche Geschichtswissenschaft einführte, definiert: »Gemeinsames Kriterium aller Texte, die als Ego-Dokumente bezeichnet werden können, sollte es sein, daß Aussagen oder Aussagenpartikel vorliegen, die – wenn auch in rudimentärer und verdeckter Form – über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren. Sie sollten individuellmenschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln.« (Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annährung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung »Ego-Dokumente«. In: Winfried Schulze (Hrsg.): EgoDokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996 (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 2), S. 11–30, hier S. 28). 70 Vgl. exemplarisch die während des Minsker Prozesses gegen Verbrechen der deutschen Wehrmacht, der Polizei und des SD im Jahre 1946 abgegebene Aussage von Albert Rodenbusch, einem zur Tatzeit Angehörigen des 635. Ausbildungsregiments, über seine Teilnahme an einer »Partisanenaktion«: »Am Abend des 29. Dezember 1942 haben wir unsere Aktion in einem Dorf begonnen. In diesem Dorf gab es keine Partisanen. Die Bewohner des Dorfes stellten uns geheizte Räume zur Verfügung, gaben uns zu essen, und wir waren sehr überrascht, als uns der Kompanieführer danach befahl, das Dorf niederzubrennen und die Bewohner festzunehmen. Wir haben damals 50 Bewohner festgenommen. […] Dann zogen wir zu einem anderen Dorf. Das war 10 oder 11 Kilometer entfernt. Als wir dort ankamen, beschoß man uns mit Gewehren. Unser Kompanieführer befahl, das Dorf zu besetzen und jeden, der Widerstand leistet oder zu fliehen versucht, sofort zu erschießen. […] Wir haben etwa 70 Menschen erschossen. Darunter waren auch Frauen, Alte und Kinder. Und dann haben wir das Dorf niedergebrannt. Aus dem ersten Dorf haben wir 14 Stück Vieh und aus dem zweiten Dorf 10 Stück Vieh mitgenommen. Dann gingen wir zu dem dritten Dorf. Dort fanden wir keine Partisanen. Aber das Dorf haben wir trotzdem niedergebrannt und ca. 50 Personen erschossen. Auch Frauen und Kinder. Und dann zogen wir zum vierten Dorf und haben auch dort dasselbe gemacht wie in den anderen Dörfern auch. Dabei haben wir circa 100 Menschen erschossen, das Dorf niedergebrannt und 80 Personen festgenommen. Die nahmen wir mit. Nachdem wir alle diese Dörfer vernichtet hatten, zogen wir in Richtung Ossipowitsche. Unterwegs haben wir noch die Wälder durchkämmt und nach Partisanen durchsucht.« (zitiert nach Hannes Heer : Die Logik des Vernichtungskrieges. Wehrmacht und Partisanenkampf. In: Heer/Naumann (Anm. 7), S. 104–138, hier S. 104). 71 Vgl. beispielhaft die Tagebuchauszüge von Johannes Gutschmidt, einem Kommandanten mehrerer Durchgangslager für sowjetische Kriegsgefangene, bei Christian Hartmann: Massensterben oder Massenvernichtung? Sowjetische Kriegsgefangene im »Unternehmen Barbarossa«. Aus dem Tagebuch eines deutschen Lagerkommandanten. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49, 2001, H. 1, S. 97–158. 72 Vgl. Walter Manoschek: Der Holocaust in Feldpostbriefen von Wehrmachtsangehörigen. In: Heer/Manoschek/Pollak/Wodak (Anm. 8), S. 35–58.
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»Liebste Eltern! Soeben komme ich von der Aufbahrung unserer von den Russen gefangenen Kameraden der Luft- und Gebirgstruppen. Ich finde keine Worte um so etwas zu schildern. Die Kameraden sind gefesselt, Ohren, Zungen, Nase und Geschlechtsteile sind abgeschnitten, so haben wir sie im Keller des Gerichtsgebäudes von Tarnopol gefunden und außerdem haben wir 2.000 Ukrainer und Volksdeutsche auch so zugerichtet gefunden. Das ist Rußland und das Judentum das Paradies der Arbeiter. Wenn es heute noch einen Kommunisten in Wien gibt, der gehört sofort erschlagen aber nicht erschossen. Die Rache folgte sofort auf dem Fuße. Gestern waren wir mit der SS gnädig, denn jeder Jude, den wir erwischten, wurde sofort erschossen. Heute ist es anders, denn es wurden wieder 60 Kameraden verstümmelt gefunden. Jetzt müssen die Juden die Toten aus dem Keller herauftragen, schön hinlegen und dann werden ihnen die Schandtaten gezeigt. Hierauf werden sie nach Besichtigung der Opfer erschlagen mit Knüppeln und Spaten. Bis jetzt haben wir zirka 1.000 Juden ins Jenseits befördert aber das ist viel zu wenig für das, was die gemacht haben. Die Ukrainer haben gesagt, daß die Juden alle die führenden Stellen hatten und ein richtiges Volksfest mit den Sowjets hatten bei der Hinrichtung der Deutschen und Ukrainer. Ich bitte Euch liebe Eltern macht das bekannt auch der Vater in der Ortsgruppe. Sollten Zweifel bestehen, wir bringen Fotos mit. Das gibt es kein Zweifeln. Viele Grüße Eurer Sohn Franzl.«73
Die hier zum Vorschein tretende Billigung des Judenmords sowie dessen Rechtfertigungsversuch gegenüber der »Heimatfront« finden sich auch in dem Brief eines Gefreiten vom 18. Dezember 1942: »Gott sei Dank aber, daß wir nach Süden kommen. Denn der Winter ist nicht so streng, und das Partisanentum, dieses hinterhältigste Verbrechertum, ist hier nicht anzutreffen. Da ist der Mittel- und Nordabschnitt viel schlechter dran. […] Die Städte sehen verwahrlost aus, breite, ausgetretene Straßen, die völlig vereist sind und auf denen zerlumpte Kinder auf einem Fuß eislaufen. Die Häuser sind Bretterbuden, mit Halteleisten verklebt und dann mit einem Anwurf weiß getüncht. Das ist in der Ukraine. Die Häuser und Wohnungen sind sauber. Die Menschen sehen alle wohlgenährt aus und sind sehr prall. Manchmal begegnen uns wunderschöne Mädels, Perlen des Landes. Aber was russisch ist, starrt vor Dreck, auch die Bauten sind Hütten. Kirchen gibt es sehr sehr wenige, und was steht, war bis vor kurzem Magazin, Pferdeställe oder Kinos. Nur Fabriken stehen als Ruinen in und bei den Städten. Ganz Rußland war ein Rüstungsarsenal. Alles ist aber ohne große Planung, wahllos und ohne Stil gebaut. Es spricht aus all dem die schrecklich chaotische Fratze des Judentums. Ich glaubte das nicht, bis ich hier her kam. Aber nun verstehe ich, und finde es voll am Platze. Es gibt nur eins für das Judentum: Vernichtung. Es ist unaussprechlich, welches Chaos hier herrscht. Unvergeßlich ist mir das Telefonmastengewirr, das dunkel mit unzähligen Drähten beiderseits der Stadt Sslawjansk zum Himmel starrte – ein Chaos ohnegleichen. Und ich versicherte mir, daß die gesamte Leitung aller Institutionen Juden waren. So ist ihre Schuld riesengroß, das angerichtete Leid unfaßbar und ihr Morden teuflisch. Es kann nur durch ihre Vernichtung gesühnt werden. Ich habe diese Art bisher als 73 Zitiert nach Walter Manoschek (Hrsg.): »Es gibt nur eines für das Judentum: Vernichtung«. Das Judenbild in deutschen Soldatenbriefen 1939–1944. Hamburg 1995, S. 33.
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unmoralisch abgelehnt. Nach dieser Schau des Sowjetparadieses aber weiß ich selbst keine andere Lösung. In diesem Ostjudentum lebt der Abschaum jeglichen Verbrechertums, und die Einmaligkeit unserer Sendung ist mir bewußt.«74
Gewiss lassen wenige Zitate aus Feldpostbriefen keine generalisierenden Aussagen über die Verbreitung des Wissens über den Völkermord oder die Beteiligung von Wehrmachtssoldaten an Judenerschießungen zu.75 Sie geben aber anschaulich Aufschluss darüber, was einzelne Soldaten zu bestimmten Zeitpunkten über den Holocaust gedacht haben beziehungsweise zeigen, dass trotz der Geheimhaltungsbestimmungen und der Zensur durch die Feldpostprüfstellen76 die Ermordung der Juden »nicht in eine Tabuzone des Unaussprechlichen verbannt war«77. In den letzten Jahren ist fernerhin verstärkt eine Verhaltensweise von Wehrmachtssoldaten in das Blickfeld der Forschung geraten, die als »Rettungswiderstand« bezeichnet wird. Gemeint ist mit diesem Begriff »eine Verhaltensweise, die nicht auf einen politischen Umsturz abzielte und sich nicht in der Desertion manifestierte, sondern die sich in anderer Weise äußerte: als Empörung über den Vernichtungskrieg und das rassistische Mordprogramm, als Ver-
74 Zitiert nach ebd., S. 65. 75 Schon allein wegen der mangelnden Repräsentativität der überlieferten Kriegsbriefe sind Aussagen wie »Wer an Exekutionen beteiligt war – als Täter oder Gaffer –, schrieb darüber nach Hause« (Volker Ullrich: »Wir haben nichts gewußt«. Ein deutsches Trauma. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 6, 1991, H. 4, S. 11–46, hier S. 22) oder »ein Großteil der Truppe berichtete […] geradezu unbefangen von der Tötung von Juden, von aufgegriffenen Versprengten, von sogenannten ›Flintenweibern‹ wie auch von der Vernichtung ganzer Dörfer« (Peter Jahn: »Russenfurcht« und Antibolschewismus. Zur Entstehung und Wirkung von Feindbildern. In: Peter Jahn/Reinhard Rürup (Hrsg.): Erobern und Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941–1945. Berlin 1991, S. 47–64, hier S. 49) wissenschaftlich unhaltbar. 76 Feldpostbriefe sind durch zwei Arten von Zensur beeinflusst: Die »äußere Zensur« meint die Überwachungs- und Prüfungstätigkeiten der Feldpostprüfstellen, die aber angesichts von Milliarden verschickter Briefe nur stichprobenartig erfolgen konnten. Mit »innerer Zensur« ist dagegen zum einen die abschreckende Wirkung der erwähnten Prüfungstätigkeiten auf das Schreibverhalten der Soldaten gemeint. Dies konnte eine starke Selbstzensur der Schreiber bewirken, sodass zum Beispiel Äußerungen über das Schicksal der Juden vermieden wurden. Zum anderen fällt unter »innere Zensur« die Selbstkontrolle des Briefschreibers, der aus Rücksicht auf die Gefühle des Briefpartners auf die Mitteilung aufwühlender Vorgänge verzichtet. Vgl. Klaus Latzel: Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945. Paderborn 1998 (Krieg in der Geschichte, Bd. 1), S. 25–31 sowie Benjamin Ziemann: Feldpostbriefe und ihre Zensur in den zwei Weltkriegen. In: Klaus Beyrer/Hans-Christian Täubrich (Hrsg.): Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Heidelberg 1997, S. 162–171. 77 Klaus Latzel: Feldpostbriefe: Überlegungen zur Aussagekraft einer Quelle. In: Hartmann/ Hürter/Jureit (Anm. 43), S. 171–181, hier S. 177.
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weigerung der Teilnahme an Exekutionen oder als Hilfeleistung für Juden, Kriegsgefangene und Angehörige anderer Verfolgtengruppen«78.
Bekanntestes Beispiel ist der Reservehauptmann Wilm Hosenfeld79, der während des Krieges in Warschau Polen und Juden rettete, unter ihnen den berühmten Pianisten Wladyslaw Szpilman, dessen Erinnerungen80 im Jahr 2001 vom Regisseur Roman Polanski verfilmt wurden. Diese anständigen und mutigen Soldaten, die aus unterschiedlichen Motiven ihr Leben für die zum Tode Verurteilten aufs Spiel setzten, stellten indes im Verhältnis zur großen Masse der Schweigenden und Mitläufer nur eine verschwindend geringe Minderheit dar.81 Sie waren – wie es Wolfram Wette treffend formuliert hat – »gleichsam die Goldkörnchen unter einem riesigen Haufen von historischem Schutt«82. Ihre Thematisierung im Schulbuch könnte also – sofern die Verbrechen der Wehrmacht verschwiegen werden – leicht dazu führen, die Armee in einem günstigeren Licht erscheinen zu lassen. Wenn allerdings Verfassertexte und Arbeitsteile die Beteiligung der Wehrmacht am Vernichtungskrieg eindeutig herausstellen, spricht nichts dagegen, den Rettungswiderstand des »kleinen Mannes« in Uniform in die Lehrwerke aufzunehmen. Denn: »Alleine der Tatbestand, dass der Wehrmacht ungefähr 18 Millionen Menschen angehörten und dass die Zahl der bislang bekannten Retter in Uniform unter 100 liegt, macht das Gesamtbild der Wehrmacht eher noch düsterer und keinesfalls heller.«83
78 Wolfram Wette: Rettungswiderstand aus der Wehrmacht. In: Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hrsg.): Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Berlin 2004, S. 322–337, hier S. 322. 79 Vgl. Thomas Vogel (Hrsg.): Wilm Hosenfeld. »Ich versuche jeden zu retten«. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern. München 2004. 80 Vgl. Wladyslaw Szpilman: Das wunderbare Überleben. Warschauer Erinnerungen 1939 bis 1945. Aus dem Polnischen von Karin Wolff. Vorwort von Andrzej Szpilman. Anhang von Wilm Hosenfeld. Mit einem Essay von Wolfgang Biermann. Düsseldorf/München 1998. 81 Wolfram Wette bilanziert: »Als vorläufiges Ergebnis der Durchsicht der überlieferten Wehrmachtsakten kann – mit aller Vorsicht, da viele Vorgänge gar nicht greifbar sind – die Annahme formuliert werden, dass es wohl einige Dutzend, vielleicht sogar um die hundert Angehörige der Wehrmacht gegeben haben mag, die Kriegsgefangenen, Juden und anderen politisch oder rassisch Verfolgten geholfen haben oder sie zu retten versucht haben und die aus diesem Grunde in die Mühlen der NS-Militärjustiz geraten sind. Jedenfalls scheint es sich bei den Helfern und Rettern in Uniform um eine winzige Minderheit gehandelt zu haben.« (Wolfram Wette: Helfer und Retter in der Wehrmacht als Problem der historischen Forschung. In: Wolfram Wette (Hrsg.): Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Frankfurt am Main 2002, S. 11–31, hier S. 16). 82 Wolfram Wette: Einleitung: Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter in den bewaffneten Formationen des NS-Staates. In: Wolfram Wette (Hrsg.): Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter aus Wehrmacht, Polizei und SS. Frankfurt am Main 2004, S. 15–32, hier S. 17. 83 Wolfram Wette: »Ich habe nur als Mensch gehandelt …«. Rettungswiderstand aus der Wehrmacht. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56, 2005, H. 11, S. 604–617, hier S. 617.
Britta Wehen-Behrens
Auswirkungen einer Unterrichtseinheit zum Spielfilm »Schicksalsjahre« auf historische Erzählungen von Schülern1 – Praktische Erprobung und empirische Befunde
1.
Einführung
Bisherige Studien zur Rezeption und Wirkung von Geschichtsspielfilmen kommen zu dem Ergebnis, dass geschichtliche Spielfilme eine große Rolle bei der Geschichtsvermittlung spielen und wichtige Deutungsrahmen für die Wahrnehmung historischer Ereignisse liefern.2 Selbst Geschichtsstudierende lassen sich von den Bildern und Deutungen in Spielfilmen leiten: Andreas Sommer legte eine qualitative Studie zur Kohärenz zwischen Geschichtsbild und historischem Spielfilm vor und konstatierte, dass die Perspektiven bzw. Wertungen eines Spielfilms von den Rezipienten häufig übernommen werden.3 Was für Geschichtsstudierende gilt, gilt für Schüler erst recht. Björn Bergold konnte zeigen, dass bei unterrichtlichem Vorwissen eine Fokussierung auf die menschlichen Schicksale der Figuren und ihre Emotionen erfolgt. Schüler ohne vorhergehende Unterrichtseinheit zum Thema konzentrierten sich demgegenüber nicht auf einzelne Bereiche, sondern nahmen den Film eher als ein »Wissensreservoir in bewegten Bildern« wahr.4 Christoph Kühberger5 erforschte
1 Der Begriff Schüler stellt ein generisches Maskulinum dar und umfasst sowohl männliche als auch weibliche Personen. Dies gilt ebenso für die weiteren Personenbezeichnungen in diesem Beitrag. 2 Vgl. hierzu u. a. Bodo von Borries: Geschichte im Fernsehen – und Geschichtsfernsehen in der Schule. In: Geschichtsdidaktik 8 (1983), S. 221–238; Sam Wineburg: Sinn machen: Wie Erinnerungen zwischen den Generationen gebildet wird. In: Harald Welzer (Hrsg.): soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001, S. 179–204; Oliver Näpel: Historisches Lernen durch »Dokutainment«? Ein geschichtsdidaktischer Aufriss. Chancen und Grenzen einer neuen Ästhetik populärer Geschichtsdokumentationen analysiert am Beispiel der Sendereihen Guido Knopps. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2 (2003), S. 213–244. 3 Vgl. Andreas Sommer : Geschichtsbilder und Spielfilme. Eine qualitative Studie zur Kohärenz zwischen Geschichtsbild und historischem Spielfilm bei Geschichtsstudierenden. Berlin 2010 (Geschichtskultur und historisches Lernen 5), S. 257. 4 Björn Bergold: »Man lernt ja bei solchen Filmen immer noch dazu«. Der Fernsehzweiteiler
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bislang als einziger die Auswirkungen eines Spielfilmeinsatzes auf bestimmte Kompetenzen, indem er die Dekonstruktionsleistungen von Schülern nach einem Ausschnitt aus dem Film »1492 – Die Eroberung des Paradieses« überprüfte. Die Schüler sollten schriftlich erörtern, ob der Filmausschnitt zeigt, wie die Ankunft des Kolumbus 1492 stattgefunden hat.6 Aus den gewonnenen Daten konnte der Schluss gezogen werden, dass fast die Hälfte der befragten Schüler glaubt, der Film bilde die Verhältnisse von 1492 ab. Solche Studien geben erste Einblicke in den Umgang von Schülern und jungen Erwachsenen mit filmischen Angeboten. Dieses Forschungsfeld ist aber bei Weitem noch nicht in Gänze erforscht.7 Bei fast allen Arbeiten auf diesem Gebiet schafft man eine Situation, die der Rezeption von Spielfilmen in der Freizeit nahe kommt: Man sieht sich einen Film lediglich an, ohne sich vorher näher mit dem Thema beschäftigt zu haben oder den Film und seine Deutungsangebote im Anschluss näher zu untersuchen. Dabei stellt die Verbindung von Ansehen und anschließender Analyse des Films genau das Vorgehen dar, das nicht nur von Geschichtsdidaktikern normativ gefordert, sondern (teilweise) auch von Geschichtslehrkräften in der Praxis eingelöst wird. Bei der Umsetzung in der Praxis deuten empirische Daten jedoch epistemologische Unklarheiten sowie methodische Schwächen an.8 Dies sollte nicht als ›Lehrerschelte‹ missverstanden werden. Vielmehr stellen die Befunde ein Indiz dafür dar, dass grundsätzliche Fragen zum Einsatz eines Spielfilms im Geschichtsunterricht bisher unbeantwortet sind: Wie kann ein sinnvolles Unterrichtsarrangement zur Analyse eines Spielfilms aussehen, welche Aufgabenformate können und sollten genutzt werden, und wie wirkt sich dies dann auf historische Erzählungen, die ja eigentlich das Grundgerüst und das übergeordnete Ziel von Geschichtsunterricht darstellen, von Schülern aus?9 Werden auch nach einer Unterrichtseinheit und vertieften Auseinandersetzung mit der filmischen Narration Perspektiven und/oder Wertungen des Films übernommen? Dient der Film als Muster für eigene Narrationen? Inwiefern lässt sich ein produktiver und reflektierter Umgang mit der filmischen Narration
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6 7 8 9
»Die Flucht« und seine Rezeption in der Schule. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 61 (2010), S. 503–515. Vgl. Vgl. Christoph Kühberger (Hrsg.): Geschichte denken. Zum Umgang mit Geschichte und Vergangenheit von Schüler/innen der Sekundarstufe I am Beispiel »Spielfilm«; empirische Befunde – diagnostische Tools – methodische Hinweise. Innsbruck u. a. 2013 (Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik 7), S. 34. Vgl. ebd., S. 39–48. Ähnlich argumentiert wird auch im Projekt GAMe – Geschichtsaneignungen in der Mediengesellschaft, vgl. http://www.geschichtsaneignung.ovgu.de/, Zugriff am 24. 01. 2015. Vgl. Britta Wehen: »Heute gucken wir einen Film«. Eine Studie zum Einsatz von historischen Spielfilmen im Geschichtsunterricht. Oldenburg 2012 (Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft 12). Vgl. Michele Barricelli: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2005, S. 78.
Auswirkungen einer Unterrichtseinheit zum Spielfilm »Schicksalsjahre«
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erkennen, indem Schüler bspw. Aspekte aus einem zuvor angesehen Film aufgreifen und hinterfragen? Auch in der geschichtsdidaktischen Forschung stellen diese Fragen bisher ein Desiderat dar. Dieser Beitrag nimmt sich der gestellten Fragen an. Hierzu wird eine Unterrichtseinheit vorgestellt, die in einer 10. Klasse (Realschule) sowie einem 11. Jahrgang (gymnasiale Oberstufe) zum Spielfilm »Schicksalsjahre«10 durchgeführt wurde. Anhand zweier Fallbeispiele wird schlaglichtartig aufgezeigt, wie sich die Arbeit an und mit diesem Film auf die Narrationen der beteiligten Schüler auswirkte.
2.
Historisches Erzählen – Theoretisches Konzept und Erwartungen an Narrationen von Schülern
Der historischen Erzählfähigkeit von Schülern widmeten sich bereits einige Studien, hervorzuheben sind insbesondere die Arbeiten von Rüsen, Pandel, Barricelli, Hartung, Ankersmit sowie Schönemann/Thünemann/ZülsdorfKersting11, die das historische Erzählen in (geschichts-)theoretischer Sicht erörterten, verschiedene Erzählformate bzw. narrative Leistungen beschrieben, empirische Erkundungen zu diesem Gegenstand durchführten und dabei verschiedene Aufgabenformate einsetzten. Als Grundlage für das Konzept historischer Narrationen, wie es in diesem Beitrag vertreten wird, dienen insbesondere die geschichtstheoretisch ausgerichteten Arbeiten von Jörn Rüsen12, der sich wiederum auf die analytische Geschichtsphilosophie von Arthur Danto13 und dessen Hauptthese von der »narrative(n) Struktur der historischen Erkenntnis«14 stützt. Das Spezifikum historischen Erzählens ist in der Herstellung 10 »Schicksalsjahre – Eine deutsche Familiengeschichte« (Miguel Alexandre: ZDF 2011). 11 Vgl. u. a. Jörn Rüsen: Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik. In: Siegfried Quandt/Hans Süssmuth (Hrsg.): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen. Göttingen 1982; sowie zuletzt Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln 2013; Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2010; Michele Barricelli: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht. Schwalbacht/Ts. 2005; Olaf Hartung: Geschichte schreiben und lernen. Eine empirische Studie. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Sprache. Berlin 2010 (Zeitgeschichte, Zeitverständnis, 21), S. 61–78; Frank Ankersmit/Hans Kellner : A new philosophy of history. London 2013; Bernd Schönemann/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. 2. Aufl. Berlin 2011 (Geschichtskultur und historisches Lernen, 4). 12 Der von Rüsen beschriebene Erkenntnisprozess ist auch unter dem Namen »Regelkreis historischen Denkens« bekannt. 13 Vgl. Arthur Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt 1980. 14 Rüsen 1982 (Anm. 11), S. 133.
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eines Sinnzusammenhangs zwischen zwei zeitlich differenten historischen Ereignissen sowie den drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sehen. Historischer Sinn ist gedeutete Zeit, die in Orientierung und Motivation des menschlichen Handelns eingeht […].«15 Neben dem Aspekt der historischen Sinnbildung gibt es weitere konstitutive Merkmale der historischen Erzählung.16 Zu diesen Merkmalen gehören nach Michele Barricelli17 und HansJürgen Pandel18 Retrospektivität, Selektivität/Perspektivität, Sequenzialität/ Temporalität, Konstruktivität, Partialität sowie Geschichte und Norm. Diese Merkmale reichen jedoch noch nicht aus, um historische Narrationen in der Tiefe zu beschreiben sowie ihre Qualität zu bestimmen. Hierzu müssen verschiedene Niveaus der einzelnen Kriterien ausgewiesen werden.19 In diesem Zusammenhang wurde ein theoretisch-normatives Konzept historischer Erzählungen entwickelt, anhand dessen die Ausprägung der Merkmale vier Niveaustufen zugeordnet werden kann: der basalen, intermediären und elaborierten Niveaustufe sowie der sogenannten Nullstufe, nach der ein Merkmal gar nicht erfüllt ist. Im Rahmen der Retrospektivität ist es zunächst von Bedeutung, dass ein erkennbares Bewusstsein vorliegt, dass die Gegenwart Bezugspunkt für die Deutung historischer Ereignisse ist und aus diesem Grund auch das Präteritum verwendet wird. Ebenfalls sollten ein Anfang, ein Ende, das Interesse des Verfassers sowie die Fokussierungen auf die drei Zeitebenen (Vergangenes wird aus Gegenwart/Zukunft betrachtet, Geschichte für Gegenwart/Zukunft erzählt) 15 Jörn Rüsen: Was heißt Sinn der Geschichte? (Mit einem Ausblick auf Vernunft und Widersinn). In: Klaus Müller/Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 17–47, hier S. 28–29. 16 Diese gehen zurück auf geschichtstheoretische Überlegungen von Hayden White: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M. 1990; sowie Hans-Jürgen Pandel: Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/ Ts. 2010, S. 75–78. 17 Vgl. Michele Barricelli: Historisches Erzählen: Was es ist, soll und kann. In: Hartung, Olaf (Hrsg.): Lernen und Erzählen interdisziplinär. Wiesbaden 2011, S. 61–82. 18 Vgl. Pandel 2010 (Anm. 11). 19 Die detaillierte und begründete Entwicklung der Kriterien sowie Niveaus findet sich in einem anderen Beitrag. Hierbei handelt es sich um theoretisch-normative Setzungen, die aus der Forschungsliteratur abgeleitet wurden. Vgl. Britta Wehen-Behrens: Macht das Sinn? Historische Erzählungen von Schülern vor und nach einer Spielfilmanalyse – Theoretisches Konzept und empirische Befunde. In: Martin Buchsteiner/Martin Nitsche (Hrsg.): »Die Frucht ist reif!« – Historisches Erzählen und Lernen entwickeln. Historische, theoretische, empirische und pragmatische Erkundungen. Freiburg 2015. Im vorliegenden Beitrag liegt der Fokus nicht auf dem zugrunde gelegten Konzept von Narrationen, so dass die einzelnen Merkmale und Niveaus hier nur zusammenfassend genannt werden. Die genannten Zuordnungen sind sicherlich diskussionswürdig; es handelt sich um einen Vorschlag zur Tiefenbeschreibung von Narrationen, wie sie auch in der Studie, die im Rahmen eines Dissertationsprojektes durchgeführt wurde, vorgenommen wurde.
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erkennbar sein (basales Niveau). Sind diese Aspekte explizit genannt, handelt es sich um eine Ausprägung auf intermediärem Niveau, bei zusätzlichen Begründungen um ein elaboriertes Niveau. Bezüglich Selektivität bzw. Perspektivität sollte auf einem basalen Niveau die Perspektive zumindest erkennbar sein und die ausgewählten historischen Ereignisse sollten in einem Zusammenhang stehen. Auf intermediärer Ebene wird auf die eigene Perspektive bzw. die Unvollständigkeit der gewählten historischen Ereignisse hingewiesen, was auf elaboriertem Niveau hinterfragt bzw. begründet wird. Hinsichtlich der Sequenzialität sollte eine Chronologie erkennbar sein sowie Sequenzen hergestellt werden (basales Niveau), die auf intermediärem Niveau durch komplexere Temporalsätze bzw. in Form von Periodisierungs- und Epochenmodellen markiert werden, während auf elaborierter Ebene zusätzlich Ursachen und Wirkungen angegeben und Zeitverlaufsvorstellungen zum Ausdruck gebracht werden. Konstruktivität bzw. Kontextualisierung stellen gewissermaßen den Kernbereich historischer Narrationen dar, hier sollten Fakten und Fiktion getrennt werden und empirisch triftige Sachaussagen geäußert sowie einzelne Zusammenhänge hergestellt und einzelne Gewichtungen historischer Ereignisse vorgenommen werden (basales Niveau). Strikte Trennungen zwischen Fakten und Fiktion, Hinweise auf die Herkunft von Sachaussagen sowie durchgängige Gewichtungen und Kontextualisierungen sind einem intermediären Niveau zuzurechnen, Erläuterungen und Begründungen hierzu einem elaborierten Niveau. Ebenfalls sollten empirisch triftige Sachurteile, eine zumindest vereinzelte diskursive Argumentation und Hinweise auf Kontinuität und Wandel sowie eine Identifizierung bzw. Ablehnung mit unterschiedlichen Perspektiven erkennbar sein (basales Niveau). Sachurteile mit impliziten Begründungen, eine überwiegend diskursive Argumentation sowie explizite Identifizierung mit bzw. Ablehnung von Perspektiven steht für ein intermediäres Niveau, angemessene Begründungen, eine durchgängig diskursive Argumentation sowie Begründungen für Identifizierung mit bzw. Ablehnung von bestimmten Perspektiven spricht für ein elaboriertes Niveau. Der konstruktive Charakter der eigenen Narration sollte zudem nicht verschleiert werden (basal) bzw. auf die Vorläufigkeit der historischen Erkenntnis verwiesen (intermediär) oder diese sogar erklärt (elaboriert) werden. Die Partialität zeigt sich darin, dass die Narration zumindest teilweise an andere Darstellungen angeknüpft werden kann, nicht in offenem Widerspruch hierzu steht und Sinnbildungsmuster erkennbar sind (basales Niveau). Auf intermediärem Niveau wird auf Anknüpfungspunkte in anderen Darstellungen verwiesen und es sind Zusammenhänge zu Sinnbildungsmustern aus Wissenschaft und Öffentlichkeit erkennbar. In einer elaborierten Narration werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Narrationen thematisiert und Zusammenhänge zu Sinnbildungsmustern aus Wissenschaft und Öffentlichkeit reflektiert. Schließlich ist es im Bereich Ge-
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schichte und Norm von Belang, Unterschiede zwischen zeitgenössischen und gegenwärtigen Normen zumindest implizit zu erkennen und ein empirisches historisches Werturteil zu formulieren (oder zu paraphrasieren), das begründet wird (basales Niveau). Auf intermediärem Niveau sollte zusätzlich die Zeit- und Standortgebundenheit von Normen thematisiert und die Wertmaßstäbe für ein Werturteil offen gelegt sowie paraphrasierte Werturteile als solche markiert werden. Elaborierte Narrationen verfügen darüber hinaus über Begründungen von Unterschieden zwischen zeitgenössischen und gegenwärtigen Normen, die Reflexion des eigenen Standortes bei Werturteilen oder die Untersuchung eines paraphrasierten Werturteils auf Sachangemessenheit und Begründungstransparenz. Insgesamt handelt es sich bei der Entwicklung von historischen Narrationen um ein hochkomplexes Gefüge von unterschiedlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten. Es liegt also nicht nur dann eine gute Narration (bzw. überhaupt um eine historische Erzählung) vor, wenn alle Merkmale wie beschrieben zu identifizieren sind, da nicht immer mit jeder Aufgabenstellung alle Teilaspekte eingefordert werden. Aus dem Zutreffen oder Nicht-Zutreffen der Aspekte kann daher nicht automatisch auf die Qualität einer historischen Erzählung geschlossen werden. Neben den formalen Aspekten bleibt das wichtigste Kriterium einer historischen Erzählung, dass Sinn gebildet wird. Die Schüler-Narrationen müssen daher nicht nur formal geprüft, sondern auch der Frage unterzogen werden, welcher Sinn gebildet wird. Hierfür sind die Sinnbildungstypen von Jörn Rüsen maßgeblich, die Bodo von Borries sowie Andreas Körber erweiterten bzw. systematisierten.20 Darüber hinaus wird das von Jörg van Norden beschriebene Muster des entrückten Erzählens einbezogen, da zu prüfen ist, ob die Arbeit mit einem Spielfilm dazu führt, dass die beteiligten Schüler der Gegenwart ›entrücken‹ und (ähnlich wie der Film) völlig in ihre eigene Erzählung eintauchen.
20 Traditionales, traditions-kritisches, exemplarisches (organisches als Sonderfall), exempelkritisches, genetisches (telisches als Sonderfall), genetisch-kritisches, zyklisches Sinnbildungsmuster. Vgl. Bodo von Borries: Geschichtslernen und Geschichtsbewusstsein. Empirische Erkundungen zu Erwerb und Gebrauch von Historie. Stuttgart 1988, S. 59–62; sowie Andreas Körber : Die anthropologische Begründung des historischen Denkens nach Jörn Rüsen und die Lehre von den Sinnbildungstypen des historischen Denkens. http://koer ber2005.erzwiss.uni-hamburg.de/wordpress-mu/historischdenkenlernen/2009/10/09/ die-anthropologische-begrundung-des-historischen-denkens-nach-jorn-rusen-und-dielehre-von-den-sinnbildungstypen-des-historischen-denkens-version-2-letzte-anderung23-10-2008/comment-page-1/#comment-22878, zuletzt aktualisiert am 25. 02. 2014, zuletzt geprüft am 02. 07. 2014.
Auswirkungen einer Unterrichtseinheit zum Spielfilm »Schicksalsjahre«
3.
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Untersuchungsdesign
Um beantworten zu können, wie sich eine Unterrichtseinheit zu einem geschichtlichen Spielfilm auf Narrationen von Schülern auswirkt, wurde eine explorative Wirkungsstudie mit Prä-Posttest-Design entwickelt. Jeweils vor und nach einer Unterrichtseinheit mussten die beteiligten Schüler eine schriftliche Narration zu folgender Aufgabe anfertigen: »›Der Zweite Weltkrieg hat alles verändert.‹ – Schreibe auf, was mit dieser Aussage gemeint sein könnte und nimm begründet Stellung dazu.« Die Formulierung enthält eine fast wörtliche Aussage aus dem Spielfilm, mit dem gearbeitet wurde, so dass für eine bessere Vergleichbarkeit die Möglichkeit gegeben war, dass sich die Schüler auf ähnliche historische Ereignisse wie den Film beziehen (ohne den Film bereits zu kennen). Eine begründete Stellungnahme zu dem Zitat erfordert zudem eine Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen selbst wie auch deren Bewertung und ermöglicht insofern grundsätzlich eine historische Erzählung, die alle Merkmale historischer Narrationen einfordert. Die Schüler erhielten keine zusätzlichen Hilfestellungen wie Materialien in Form von Quellen oder Darstellungen, da diese bereits in der vorherigen Unterrichtseinheit analysiert wurden. Mit diesem Vorgehen sollte – und kann – nicht gezeigt werden, inwiefern sich die Auseinandersetzung mit einem Geschichtsspielfilm im Vergleich zu anderen Medien auf Narrationen auswirkt, ob z. B. die Spielfilmanalyse zu ›besseren‹ Resultaten führt als die Auseinandersetzung mit anderen Medien. Vielmehr sollte in einem explorativen Sinn geprüft werden, inwiefern sich überhaupt Veränderungen in den Erzählungen der Schüler nach einer Spielfilmanalyse zeigen und inwiefern sich diese Veränderungen systematisieren lassen, um darauf aufbauend neue Impulse für die Spielfilmarbeit im Geschichtsunterricht entwickeln zu können und ggf. die theoretischen Ansätze zu diesem Forschungsfeld zu erweitern. Die Unterrichtseinheit wurde dabei als untrennbare Einheit von Filmsichtung und -analyse aufgefasst, da ein Spielfilmeinsatz nur in Verbindung mit einer anschließenden Analyse didaktisch sinnvoll erscheint.
4.
Durchgeführte Unterrichtseinheit: Analyse eines Geschichtsspielfilms
Ein geschichtlicher Spielfilm erzählt ebenso wie andere Darstellungsformate Geschichte. Der Spielfilm folgt allerdings seinen eigenen (dramaturgischen) Regeln und personalisiert bzw. personifiziert21 das Geschehen und zieht den 21 Personalisierung meint die Re-Konstruktion der Vergangenheit unter dem Aspekt des Wirkens großer Männer oder großer Frauen und Personifizierung meint, dass Geschichte am
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Betrachter durch Emotionalisierung22 in seinen Bann. Mit Blick auf die medienspezifischen Besonderheiten können vier Erzählebenen identifiziert werden, die bei einer Analyse zu berücksichtigen sind: 1.) Die historische Hintergrundnarration, ausgedrückt bspw. über die verwendeten Vergangenheitspartikel. Auf dieser Ebene werden die Merkmale der Selektivität sowie Temporalität ausgestaltet. 2.) Die emotionale Narration, in erster Linie vermittelt über die Figuren, ihre Ansichten und Erlebnisse, sowie Musik. Auf dieser Ebene kommt vor allem das Merkmal Perspektivität zum Tragen. Durch die Inszenierung als Sympathie- oder Antipathieträger, explizite oder implizite Werthaltungen und Deutungen der Figuren werden aber auch Kontextualisierungen vorgenommen sowie Normen ausgedrückt. 3.) Die ästhetisch-visuelle Narration, aufgebaut v. a. über Kameraführung und Bildästhetik, die mit den Merkmalen Selektivität (Was wird gezeigt?) sowie Konstruktivität (Welche Zusammenhänge/Gewichtungen werden hergestellt?) korrelieren. Schließlich 4.) die Narration über die Narration, in deren Zentrum die zeitgenössische Rezeption sowie die eigene Beurteilung der Rezipienten stehen und die durch ihren starken Bezug auf Retrospektivität sowie Geschichte und Norm nicht vernachlässigt werden sollte. Die Analyse des TV-Films »Schicksalsjahre« richtete sich auf die konkrete Ausgestaltung dieser vier Ebenen, um die filmische Narration in ihrer Tiefe beschreiben zu können. Ein zu diesem Zweck entwickeltes Raster23 erwies sich jedoch schnell als zu umfangreich. Daher wurden Schwerpunkte gebildet und eine sechsstündige Unterrichtseinheit (exklusive Filmsichtung) entworfen. Im Rahmen dieses Beitrags werden die Ausführungen auf den Arbeitsblättern und die daraus zu schließenden Erkenntnisse zur filmischen Narration vorgestellt, nicht aber weitere Impulse aus den Unterrichtsstunden. Beispiel eines ›Durchschnittsmenschen‹ erzählt wird. (»Stauffenberg«, 2004, vs. »Dresden«, 2005, oder »Die Flucht«, 2007). Siehe hierzu Wolfgang Hardtwig: Personalisierung als Darstellungsprinzip. In: Guido Knopp/Siegfried Quandt (Hrsg.): Geschichte im Fernsehen. Ein Handbuch. Darmstadt 1988, S. 234–241. 22 Vgl. Rainer Wirtz: Bewegende Bilder. Geschichtsfernsehen oder TV-History. In: Albert Drews (Hrsg.): Zeitgeschichte als TV-Event. Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm. Loccum 2008 (Loccumer Protokolle 31/07), S. 29–53, hier S. 30. Auf die starke Wirkung einer emotional aufwühlenden Story, die dem Zuschauer Identifikationsmöglichkeiten bietet, wurde insbesondere in Zusammenhang mit der Serie »Holocaust« (1979) und »Schindlers Liste« (1993) hingewiesen. Siehe hierzu Peter Meyers: Film im Geschichtsunterricht. Realitätsprojektionen in deutschen Dokumentar- und Spielfilmen von der NS-Zeit bis zur Bundesrepublik. Geschichtsdidaktische und Unterrichtspraktische Überlegungen. Frankfurt a.M. 1998, hier S. 16. 23 Basierend auf filmanalytischen und geschichtsdidaktischen Überlegungen, vgl. Britta Wehen: Historische Spielfilme – ein Instrument zur Geschichtsvermittlung?. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier Kulturelle Bildung, 11. 09. 2012, http://www.bpb.de/ gesellschaft/kultur/kulturelle-bildung/143799/historische-spielfilme?p=all, Zugriff am 12. 09. 2012.
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Die konkreten Unterrichtsideen sahen zu allen Ebenen der filmischen Narration jeweils Re- sowie Dekonstruktionsleistungen der Schüler vor. Zunächst sollte eine gemeinsame Sprache gefunden werden, um die Filmanalyse später auf die Merkmale historischer Erzählungen beziehen zu können. Daher sollten die Schüler arbeitsteilig anhand kurzer Informationstexte die Merkmale Retrospektivität, Selektivität, Temporalität und Konstruktivität erarbeiten. Allerdings kann das Wissen um leitende Begriffe und Modelle nicht vorgegeben werden, sondern muss selbst erkannt werden.24 Daher sollten die Schüler weiterhin an zwei Textauszügen üben, diese »formalen« Kriterien zu erkennen und zu verstehen. In der Folge sollte die gattungs- und medienspezifische Ausgestaltung in der konkreten filmischen Narration untersucht werden.25 Um die Schüler auf den Film und das historische Thema einzustimmen, erhielten sie in einer vorbereitenden Hausaufgabe den Klappentext der DVD zum Film. Wie in der gesamten Unterrichtseinheit wurden neben Dekonstruktionsaufgaben auch Rekonstruktionsaufgaben eingesetzt. So wurden die Schüler ohne genaue Kenntnis des Films zu einer kleinen Narration aufgefordert. Sie sollten skizzieren, welche Handlung sie von dem Film erwarten, was die Figuren erleben, wie sie sich verhalten sowie welche historischen Ereignisse eine Rolle spielen könnten. Weiterhin sollten die Schüler erläutern, was sie an der Zeit, in der die Filmhandlung angesiedelt ist (1938–1949), besonders interessiert und ob sie sich einen Film wie »Schicksalsjahre« auch in ihrer Freizeit ansehen würden. Das gemeinsame Ansehen des Films wurde ebenfalls mit einer Aufgabe verknüpft, auf die im späteren Verlauf der Einheit zurückgegriffen wurde. Die Schüler notierten die jeweils vertretenen Meinungen der Hauptfiguren zum Nationalsozialismus und Krieg. Direkt nach dem Film wurden die Schüler aufgefordert, die Szene(n) zu beschreiben, an die sie sich besonders gut erinnern konnten und welche Szene(n) sie besonders traurig, lustig oder dramatisch fanden. Auf diese Weise konnten die Schüler ihre spontanen Eindrücke zum Film äußern, sich in einem ersten Schritt ihrer eigenen Wahrnehmung bewusst werden und für die weitere Arbeit Schlüsselszenen des Films identifizieren. Die eigentliche Analyse richtete sich dann als erstes auf die historische Hintergrundnarration bzw. die Ausgestaltung der Merkmale Selektivität und Temporalität im Film. Die Filmhandlung wurde hierzu in sieben etwa fünfzehnminütige Teile geschnitten. Die Schüler sahen sich diese Abschnitte arbeitsteilig an und erarbeiteten die Ge24 Vgl. Wolfgang Hasberg: Von Pisa nach Berlin. Auf der Suche nach Kompetenzen und Standards historischen Lernens. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56 (2005), S. 684–702, hier S. 698. 25 Vgl. Waltraud Schreiber : Kompetenzbereich historische Methodenkompetenzen. In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 194–235, hier S. 226.
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schehnisse, genannte Daten und Orte sowie historische Ereignisse, auf die in verschiedenen Formen (Erlebnisse, Dialoge) Bezug genommen wurde. Weiterhin untersuchten sie, aus welcher Perspektive erzählt wird, welche Ursachen und Auswirkungen von historischen Ereignissen dargestellt werden und inwiefern der Film versucht, möglichst authentisch zu wirken. Die Ergebnisse wurden auf Wandplakaten visualisiert, sodass die Filmhandlung im restlichen Verlauf der Einheit jederzeit präsent war. Hierdurch traten die verwendeten Vergangenheitspartikel und deren Kontextualisierung zutage: »Die Art und Weise, wie […] die […] tragenden Sinnstrukturen hergestellt werden, beginnt sich abzuzeichnen. (Grundentscheidungen zur Fokussierung, zentrale Deutungs- und Sinnbildungsmuster, die immer wieder zur Anwendung kommen).«26
Neben dekonstruierenden Fragestellungen, die filmimmanent bearbeitet wurden, sollten die Schüler auch zusätzliches Material heranziehen und auch immer wieder kürzere Narrationen vornehmen. In einer nachbereitenden Hausaufgabe wurde daher die Erzählung in »Schicksalsjahre« mit den Kapiteln im Schulbuch verglichen. Die Schüler erarbeiteten hierbei, welche Themen im Film keine Rolle spielten und ausgelassen wurden und welche weiteren Perspektiven denkbar wären. In der nächsten Stunde richtete sich der Fokus auf die Analyse der emotionalen Narration, vermittelt über die Figuren. Schlüsselfiguren und die von ihnen vertretenen Ansichten sowie ihre Inszenierung als ›Held‹ bzw. ›Gegenspieler‹ lassen übergeordnete Sinneinheiten, wie Leitmotive und Schlüsselereignisse, genauso hervortreten wie Vergangenheitspartikel und deren Kontextualisierung: Im Erleben der Figuren bzw. in den Dialogen, mit denen die Figuren auf Erlebtes, Erlittenes, Erhofftes etc. verweisen, zeigen sich Wertungen vergangener Ereignisse. Diese Wertungen erscheinen erstrebenswert oder ablehnenswert, je nachdem ob die Figur als Sympathie- oder Antipathieträger inszeniert wird. Grundlage für die Analyse waren die Notizen, die die Schüler während der Filmsichtung angefertigt hatten. Nachdem die vertretenen Ansichten erarbeitet waren, erfolgte eine Einordnung der Figuren auf einer Sympathieskala, wobei auch erste Ideen diskutiert wurden, warum eine Figur eigentlich positiv oder negativ auf die Zuschauer wirkt. Die Inszenierung als Sympathie- oder Antipathieträger wird bei Spielfilmen im Wesentlichen über gattungsspezifische Merkmale in Form von filmästhetischen Mitteln beeinflusst, die daher in Schlüsselszenen des Films untersucht wurden, die die Schüler selbst nach der Filmsichtung als wichtige Szenen genannt hatten und die für die Analyse zusammengeschnitten wurden. Auf diese Weise konnten auch nichtsprachliche Bewertungen seitens der Filmemacher aufgedeckt und Anhaltspunkte dafür gefunden werden, welche Werte und Normen vertreten werden. 26 Ebd., S. 227.
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Hierbei ist jedoch eine Konzentration auf einzelne Szenen und/oder Sequenzen nötig, um eine vertiefte Analyse und das Offenlegen der medienspezifischen Konstruktionsprinzipien zu ermöglichen. Die Schüler sollten Besonderheiten in der Kameraführung, Mimik und Gestik sowie im Ton untersuchen und anschließend eine These entwickeln, was das Filmteam mit dem Film ausdrücken wollte. Ebenfalls sollten die Schüler erklären, wie die filmische Umsetzung dazu beiträgt, diese Botschaft zu transportieren. Abschließend wurde die »Narration über die Narration« untersucht. Die Schüler untersuchten hierzu in einer vorbereitenden Hausaufgabe die Rezeption des Zweiteilers anhand von Quoten und Auszeichnungen sowie einer Rezension zum Film. In diesem Zusammenhang sollten sie u. a. auch überlegen, warum der Film wohl so erfolgreich war und somit die – vermuteten – (retrospektiven) Auslöser für die Produktion des Films einbeziehen.27 Weiterhin sollten sie begründen, ob man überhaupt noch Filme über den Zweiten Weltkrieg drehen solle und auf diese Weise klären, welche Funktion die Erzählung (für das Publikum) erfüllt. Ebenso wurde hierdurch die Frage nach möglichen Orientierungen, die der Vergangenheit zugewiesen werden, berührt. Schließlich bereiteten die Schüler eine Abschlussdiskussion vor, in der die eigene Beurteilung im Fokus stand. Die Schüler sollten Argumente für bzw. gegen eine Auszeichnung des Films als »Bester Geschichtsfilm« sammeln, hierbei auf die gesammelten Arbeitsergebnisse zurückgreifen und sich bspw. nochmals mit der Frage auseinandersetzen, ob sie sich für andere Inhalte oder Aussagen entschieden hätten und ob man ›so einen‹ Film überhaupt machen ›dürfe‹.
5.
Performanzen historischen Erzählens in schriftlichen Narrationen von Schülern
Die Narrationen der Schüler vor und nach der Unterrichtseinheit wurden mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Anhand zweier Fallbeispiele soll schlaglichtartig aufgezeigt werden, inwiefern die Schüler überhaupt formal historisch erzählen, zu welchen Sinnbildungen sie dabei gelangen und welchen Einfluss die Unterrichtseinheit zum Film hierauf hat. Die Schülerin Merle28, die im Fach Geschichte zuletzt mit 05 Punkten beurteilt wurde, schrieb zu Beginn der Studie folgendes:
27 Vgl. Christoph Kühberger : Kompetenzorientiertes historisches und politisches Lernen. Methodische und didaktische Annäherungen für Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung. Wien u. a. 2009 (Geschichtsdidaktik 2), S. 24. 28 Bei den genannten Namen handelt es sich um anonymisierte Pseudonyme.
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»Zum Einen hat der Weltkrieg alles verändert, da heute alle bzw. viele Länder miteinander Frieden bewahren wollen. Zum Anderen hat es die Welt schon ein wenig zusammengebracht, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. Eine Demokratie wurde geschaffen und jeder hat das Recht seine Meinung zu sagen und zu vertreten um die Weltgemeinschaft ein wenig enger zu bringen. Eine schlechte Zeit in der Menschheitsgeschichte wurde beendet, um eine neue, »bessere« begonnen. (Auch wenn die Vergangenheit keiner ändern kann, haben, denke ich, alle etwas daraus gelernt.) Ich denke schon das sich die Welt nach dem zweiten Weltkrieg verändert hat. Viele Länder arbeiten gemeinsam und wollen vieles besser machen.«29
In formaler Hinsicht fällt zunächst ein Verweis auf die Gegenwart auf (»da heute«). Allerdings ist dies nicht als Verweis auf Retrospektivität zu sehen, vielmehr wird ein Gegensatz zwischen der Vergangenheit und Gegenwart konstruiert sowie der Topos von der Vergangenheit gezeichnet, aus der man offensichtlich lernen kann. Die Schülerin lässt ihre Erzählung zwar beim Ende des Zweiten Weltkriegs beginnen, fokussiert aber die Gegenwartsebene. Die Vergangenheitspartikel (»Demokratie geschaffen«, »Recht seine Meinung zu sagen«) stehen auf Ebene der Nationen bzw. Politikgeschichte in einem Zusammenhang (Entwicklung zu »besserer« Zeit wird begründet), allerdings ohne Verweis auf die Herkunft bzw. Triftigkeit. Die Schülerin identifiziert sich implizit mit einer westdeutschen bzw. westeuropäischen Perspektive (erkennbar an der Betonung »Demokratie wurde geschaffen«). Die Zeitebenen werden eher unbewusst getrennt, der Zweite Weltkrieg erscheint dabei als ferne Vergangenheit, die positiv betrachteten Entwicklungen danach werden gegenwartsnah verortet. Die Ausgestaltung der Merkmale Retrospektivität, Selektivität und Sequenzialität findet insofern auf basaler Ebene statt. Im Bereich der Konstruktivität werden die Urteile »Welt näher zusammengebracht« und »Weltgemeinschaft enger zusammen bringen« begründet durch »es wurde Demokratie geschaffen«. Das Urteil »Länder arbeiten gemeinsam und wollen vieles besser machen« wird implizit ebenfalls begründet durch »Demokratie geschaffen«, allerdings gibt es keinen Verweis auf z. B. Sachaussagen in Form von Beispielen für diese Zusammenarbeit. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird zudem eine Kontinuität in den Ansichten angenommen. Insgesamt werden die Ereignisse gewichtet, Gegenstimmen, die der eigenen Position widersprechen, werden jedoch nicht eingeflochten. Dennoch ist die Erzählung im Bereich der Konstruktivität eher auf intermediärer Ebene anzusiedeln. Der Aspekt Geschichte und Norm ist allerdings allenfalls auf basaler Ebene anzusetzen: Das Werturteil »bessere Zeit begonnen« fußt zwar auf einer Sachaussage (»Demokratie geschaffen«) bzw. einem Sachurteil (»Zusammenarbeit«), heutige Normen werden in der Erzäh29 Die Schülertexte und -zitate werden grammatikalisch und orthografisch unverändert übernommen und sind daher z. T. fehlerhaft.
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lung jedoch generalisiert. Funktional betrachtet wird der Sinn aus einer globalgeschichtlichen Perspektive gebildet. Der Zweite Weltkrieg wird als Krise der Menschheit sowie als Zäsur dargestellt, auf den eine positive Entwicklung bis in die Gegenwart folgte. Erzählt wird also eine Fortschrittsgeschichte, die zudem in Bezug auf die angenommenen Normen nach dem Krieg – die in Merles Erzählung bis heute gültig sind – traditional ist. Nach der Unterrichtseinheit schrieb Merle: »›Der Zweite Weltkrieg hat alles verändert‹ – Die Zeit vor und während des zweiten Weltkriegs war sehr angespannt. Es gab viele die für den Krieg war aber auch viele dagegen. Das Ende des Kriegs hat diese Anspannung etwas gelöst, aber doch war noch einiges da. Deutschland, zum Beispiel, wurde unter den Siegermächten aufgeteilt. Danach in zwei Hälften geteilt. Nicht nur das Land wurde geteilt, auch viele Familien getrennt. Die Unterschiede zwischen den zwei »deutschen« Ländern war auch groß. Im einem (BRD) wurde kräftig die Wirtschaft angekurbelt. In der DDR lief es etwas schleppend. Die Lebensbedingung in der DDR waren auch nicht die Besten. (Doch wenn man heute die ehemaligen Bewohner der DDR fragt, wünschen sich viele dies wieder zurück, mit der Begründung »früher war es doch gar nicht so schlecht«). »Der zweite Weltkrieg hat alles verändert« Vieles davon ist wirklich. Die Welt versucht einen weiteren Krieg zu verhindern, aber doch gibt es noch einige Menschen, die immer noch so denken, wie die Menschen, bevor der zweite Krieg ausbrach.«
Die auffälligsten Unterschiede bestehen zunächst im Bereich der Selektivität. Merle formuliert nun viel mehr empirisch triftige Sachaussagen: »Es gab viele die für den Krieg waren aber auch viele dagegen«, »Deutschland wurde unter den Siegermächten aufgeteilt.«, »Danach in zwei Hälften geteilt.«, »Nicht nur das Land wurde geteilt, auch viele Familien getrennt«. Bei der Aussage »Doch wenn man heute die ehemaligen Bewohner der DDR fragt, wünschen sich viele dies wieder zurück, mit der Begründung ›früher war es doch gar nicht so schlecht‹« wird zudem die Herkunft angegeben (Befragungen). Auch hier stehen die Ereignisse in einem Zusammenhang, die verbindende Klammer stellen nun im Gegensatz zur ersten Narration allerdings nicht mehr die Nationen, sondern eher Auswirkungen auf Individuen dar. Eingenommen wird erneut eine eher westdeutsche Perspektive, allerdings werden nun auch Unterschiede (Kriegsbefürworter vs. Kriegsgegner, BRD vs. DDR) betrachtet. So wird auf den Wunsch nach der ›guten alten Zeit‹ vieler DDR-Bürger verwiesen und insofern auch andere Stimmen wahrgenommen als die eigene, die die Lebensbedingungen in der DDR immerhin als »nicht die besten« ablehnt. Die Sachurteile sind überwiegend durch vorherige Sachüberlegungen begründet, auch wenn hier nicht immer exakt die historischen Ereignisse (z. B. MarshallPlan für »wirtschaftlich angekurbelt«) genannt werden. Im Bereich Selektivität/Perspektivität kann die Erzählung nun auf basaler Ebene mit einigen intermediären Elementen verortet werden, die Konstruktivität ist nunmehr
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voll der intermediären Ebene zuzuordnen. Hinsichtlich der vertretenen Normen ist zu beobachten, dass die Schülerin Kriege nach wie vor ablehnt, aber auch schreibt, dass »es noch einige Menschen [gibt], die immer noch so denken, wie die Menschen, bevor der zweite Krieg ausbrach«. Auf unterschiedliche Werte wird also zumindest verwiesen. In funktionaler Hinsicht lässt sich festhalten, dass in der ersten Narration eine klare Entwicklungslinie vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute gesehen und eine klare Fortschrittsgeschichte erzählt wurde. In der zweiten Narration werden Beispiele genannt, die auch der Gegenposition zuzuordnen sind (»manche waren für den Krieg«; »manche ehemalige DDR-Bürger wünschen sich die DDR zurück«; »manche denken auch heute noch wie vor dem Krieg«). Zumindest implizit werden diese aber abgelehnt und passen nicht zur eigenen Position. Argumentiert wird dabei für eine veränderte, nämlich eine AntiKriegs-Haltung sowie für eine friedliche Zusammenarbeit der Länder. Dieser Sinn wurde mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg bereits in der ersten Narration hergestellt, nun aber etwas differenzierter argumentativ entfaltet. Um den Einfluss des Films auf die zweite Narration zu prüfen, muss zunächst aufgezeigt werden, welche Sinnbildungsangebote der Film bietet. Der ZDF-Film »Schicksalsjahre – Eine deutsche Familiengeschichte« erzählt ein Heldenepos, in dessen Zentrum Ursula Heye steht. Hinzu kommt der typische Wendepunkt von Glück zu Unglück (die »Katastrophe«), der durch den Kriegsbeginn markiert wird. »Schicksalsjahre« entspricht der typischen Mischung von Katastrophenfilm und gleichzeitiger Helden-/Rettergeschichte. Insofern handelt es sich um einen Typus von Geschichtsspielfilm, der als Paradebeispiel für gegenwärtige TV-Geschichtsspielfilme angesehen werden kann.30 Ursel entwickelt sich in diesem Katastrophen-/Helden-Geschichtsfilm von einer Sekretärin im Oberkommando der Marine, die Befehle empfängt, zu einer Frau, die sich einige Jahre später eine Arbeitsstelle im Reichspropaganda-Amt nahezu ›erpresst‹, um ihre Familie durchzubringen. Schließlich wird sie Lazaretthelferin, die Informationen für eine kleinere Widerstandsgruppe sammelt. Verknüpft ist diese Entwicklung mit romantischen Motiven: Ursel will dazu beitragen, den Krieg zu beenden, damit ihre große Liebe Wolfgang wieder nach Hause zurückkehren kann. Es kommt jedoch zur tragischen Wendung: Ursel erfährt 1949, dass Wolfgang im Strafbataillon ums Leben gekommen ist. Erst acht Jahre später stellt sich heraus, dass Wolfgang lebt und seinerseits dachte, seine Familie sei beim Untergang der »Gustloff« gestorben. Ein Zusammentreffen offenbart, wie stark 30 Vgl. Michael Andr¦: Archetypen des Grauens. Über die Sentimentalisierung und Dramatisierung von Geschichte im Fernsehen. In: Claudia Cippitelli/Axel Schwanebeck/Michael Andr¦ (Hrsg.): Fernsehen macht Geschichte. Vergangenheit als TV-Ereignis. Baden-Baden 2009, S. 43–56, hier S. 56.
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Ursel und Wolfgang, der inzwischen neu verheiratet ist, sich voneinander entfernt haben. Während Wolfgang gebrochen scheint und mehrfach mit seinen Emotionen kämpfen muss, erscheint Ursel als starke Figur, die am Ende auch allein ihren Weg gehen kann und trotz der finalen Aussage, dass »so etwas nie wieder passieren dürfe«, ein versöhnliches Fazit zieht. Mit Blick auf Merles Narration lassen sich Versatzstücke aus dem Film »Schicksalsjahre« nur in der Aussage finden, dass »auch viele Familien getrennt« wurden. Es kommt also durchaus zu unterschiedlichen Sinnbildungen im Film und bei der Schülerin. Versatzstücke aus dem Film fügt die Schülerin in ihr ohnehin schon angelegtes Muster ein und geht insofern produktiv mit dem Sinnbildungsangebot des Films um. Von einer bloßen Übernahme oder Nacherzählung kann nicht die Rede sein. Als zweites Fallbeispiel werden die Narrationen der Schülerin Sandra herangezogen, die zuletzt mit 10 Punkten benotet wurde: »Der Zweite Weltkrieg wurde von 1939 bis 1945 geführt. Er began 1939 mit dem Überfall der Deutschen auf Polen. Beteiligt waren Deutschland, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich. Mit dieser Aussage könnte gemeint sein, dass nach dem Sturz Hitlers zum einen das System von einer Diktatur zur Demokratie ›geändert‹ wurde, und sich zum anderen das Selbstbild der Menschen änderte. Der Krieg führte viel Zerstörung mit sich, weshalb besonders die Frau langsam aus dem typischen Frauenbild entweichen konnte. International veränderte sich die Einstellung der beteiligten Länder gegenüber Deutschland. Nach dem Mauerbau war Deutschland in die DDR und die BRD geteilt. Die Bürger bekamen nach Ende des Kriegs mehr Rechte. Die Judenverfolgung, also der Holocaust bzw. damals die sogenannten ›Reichskristallnacht‹ ist heute noch im Gedächtnis der Menschen manifestiert. Ebenso wie die Konzentrationslager, in die neben Juden auch damals sogenannte ›lebensunwürdige‹ Personen wie z. B. behinderte gebracht worden. Der Antisemitismus war sehr verbreitet. Nach Ende des Krieges wurden Verdächtige Personen, also diese die eventuell beteiligt an der Judenvergasung usw. klassifiziert, so z. B. in Schuldige, Mitschuldner usw. Dies wurde aufgrund von Fragebögen ermittelt die aus Amerika stammten und nach ihnen wurde die Strafe derjenigen Beteiligten verhängt. Es gab ebenfalls sogenannte Persilscheine. Noch bis in die heutige Zeit hat der 2. Weltkrieg das Leben der Menschen verändert, und von Vorurteilen, man sei aufgrund von blonden Haaren und blauen Augen ein Nazi, geprägt.«
Die Erzählung setzt ein mit einer Datierung des Zweiten Weltkriegs, so dass als Anfang das Jahr 1939 gesetzt wird. Das Ende wird mit »bis in die heutige Zeit« markiert. Für die Darstellung historischer Ereignisse wird durchgängig das Präteritum genutzt. Die Gegenwart zieht sich als Bezugspunkt durch die komplette Erzählung (»bis in die heutige Zeit«, »heute noch«, »ist noch heute im Gedächtnis der Menschen manifestiert«), heutige Bezugspunkte bzw. Erinnerungen spiegeln daher auch das Interesse der Verfasserin und leisten gleichzeitig
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eine Verknüpfung der drei möglichen Fokussierungen: Vergangenes wird aus der Gegenwart betrachtet bzw. Geschichte offenbar für die Gegenwart erzählt. Im Bereich der Retrospektivität ist die Erzählung daher auf der basalen Ebene zu verorten. Hinsichtlich der Selektivität ist festzuhalten, dass die Schülerin Sandra offenbar eine demokratisch-freiheitliche Perspektive einnimmt, da sie eine Entwicklung »von der Diktatur zur Demokratie« skizziert und ebenso festhält, dass Frauen »aus dem typischen Frauenbild entweichen konnten«. Die eigene Perspektive wird jedoch nicht hinterfragt, ebenfalls lassen sich keine Anzeichen für eine Reflexion der Unvollständigkeit der angesprochenen historischen Ereignisse finden, so dass die Erzählung hinsichtlich der Selektivität ebenfalls basal ausgeprägt ist. Sandra hält die Chronologie grundsätzlich ein und verwendet Datierungen (1939–1945), eventuell könnte man die Aussage, dass »das System von einer Diktatur zu einer Demokratie ›geändert‹ wurde« auch als Ausweis einer Wirkung einordnen. In diesem Fall würde es sich um eine elaborierte sequenzielle Passage halten. Allerdings erscheint die Aussage hierfür insgesamt zu schwach und die Schülerin ist sich offenbar selbst in ihrer Formulierung nicht sicher (sie verwendet einfache Anführungszeichen). Daher erscheint die Erzählung auch diesbezüglich eher basal gestaltet. Hinsichtlich der Konstruktivität bzw. Kontextualisierung sind zunächst die Sachaussagen zu prüfen. Die Schülerin äußert zwei Aussagen, die zumindest nicht ohne Einschränkung empirisch triftig sind: »Sturz Hitlers« (Hitler wurde nicht gestürzt, er beging angesichts der sich abzeichnenden militärischen Niederlage Selbstmord) und »Nach dem Mauerbau war Deutschland in die DDR und die BRD geteilt« (Deutschland war bereits 1949 in zwei deutsche Staaten geteilt und nicht erst 1961). Demgegenüber werden jedoch auch einige empirisch triftige Sachaussagen geäußert (»Der Zweite Weltkrieg wurde von 1939 bis 1945 geführt«; »Er began 1939 mit dem Überfall der Deutschen auf Polen«; »Beteiligt waren Deutschland, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich«; »von einer Diktatur zur Demokratie«; »viel Zerstörung«; »Mauerbau«; »Judenverfolgung, also der Holocaust bzw. damals die sogenannten ›Reichskristallnacht‹«; »Konzentrationslager, in die neben Juden auch damals sogenannte ›lebensunwürdige Personen‹ wie z. B. behinderte gebracht worden«; »Nach Ende des Krieges wurden Verdächtige Personen, also diese die eventuell beteiligt an der Judenvergasung usw. klassifiziert, so z. B. in Schuldige, Mitschuldner usw., Fragebögen ermittelt die aus Amerika stammten und nach ihnen wurde die Strafe derjenigen Beteiligten verhängt«; »Es gab ebenfalls sogenannte Persilscheine«). Ebenfalls werden Zusammenhänge hergestellt, indem Ursachen und Folgen genannt (Zweiter Weltkrieg begann »mit dem Überfall der Deutschen auf Polen«) und bspw. veränderte Rechte beschrieben werden und auf Shoa bzw. Opfer und Täter eingegangen wird. Hierbei nimmt Sandra außerdem auch unterschiedliche Perspektiven wahr (Opfer und Täter). Weitere Zusammenhänge
Auswirkungen einer Unterrichtseinheit zum Spielfilm »Schicksalsjahre«
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werden über mentalitätsgeschichtliche Aspekte hergestellt (Frauenbild, Einstellung, Vorurteile). Darüber hinaus formuliert Sandra mehrere Sachurteile, allerdings ohne Begründung durch Sachaussagen (»sich zum anderen das Selbstbild der Menschen änderte«; »International veränderte sich die Einstellung der beteiligten Länder gegenüber Deutschland«; »Die Bürger bekamen nach Ende des Kriegs mehr Rechte«; »Antisemitismus war sehr verbreitet«). Das veränderte Rollenverständnis der Frau (»weshalb besonders die Frau langsam aus dem typischen Frauenbild entweichen konnte«) wird implizit mit der Tätigkeit vieler Frauen als sogenannte Trümmerfrauen begründet, da Sandra »aufgrund der Zerstörung« schreibt. Hinweise auf Wandel finden sich durch den Verweis auf das veränderte Selbstbild, das veränderte Frauenbild und die veränderte Einstellung, ebenso wie durch die Angabe, dass die »Bürger nach dem Krieg mehr Rechte« bekamen. Über die Erinnerungsfunktion bzw. Aspekte, die »bis in die heutige Zeit« als relevant eingestuft werden, ist auch ein Hinweis auf Kontinuität gegeben. Die Konstruktivität in Sandras Text ist überwiegend als basal einzustufen. Dadurch, dass Sandra sich auf historische Ereignisse beruft, die auch heute noch im Gedächtnis manifest sind, sind Anknüpfungspunkte zu (öffentlichen) Darstellungen gegeben (Partialität intermediär). Hinsichtlich des Merkmals Geschichte und Norm ist Sandras Erzählung jedoch überraschend schwach. Deutliche Wertungen fehlen gänzlich, allenfalls kann in der Passage »sogenannte ›lebensunwürdige‹ Personen« eine Ablehnung erkannt werden. Das Merkmal ist daher bestenfalls basal ausgestaltet. In funktionaler Hinsicht erzählt Sandra eine typische Fortschrittsgeschichte (von der Diktatur zur Demokratie, Frauen konnten aus dem früheren Bild ›entweichen‹), vorherrschend ist daher auch das traditionale Sinnbildungsmuster, da in Demokratie, Emanzipation und Gleichheit überzeitliche Werte gesehen werden. Nach der Unterrichtseinheit schrieb Sandra: »Meiner Meinung nach hat der Zweite Weltkrieg definitiv »alles verändert«, da sehr viele Menschen Leid erfahren mussten, Familien auseinandergerissen wurden und Beziehungen zerbrachen. Das Leid bezieht sich hauptsächlich auf diejenigen die unfreiwillig an die Front mussten und ebenfalls auf die, die sie ziehenlassen mussten. Viele Menschen verloren ihre Arbeitsplätze und sahen ihre Männer bzw. Frau und Kinder nie wieder. Noch heute spührt man beispielsweise bei der Stellung der Frau die Auswirkungen des zweiten Weltkriegs. Während des Krieges lebten die Menschen in Unsicherheit und mussten sich dafür rechtfertigen was sie taten bzw. nicht taten. Diese Veränderungen wurden besonders im Film deutlich, als Ursula mit ihrem Vater aneinandergeraten ist, als dieser sich nicht in die Volkslisten hat eintragen lasen. Des Weiteren dient der Schrecken dieser Zeit als Abschreckung für heutige Handlungen, es soll also vorgebeugt werden das so etwas nicht nochmal passiert. Das Ende des Zweiten Weltkriegs leitete unter anderem ein Migrationswelle in Europa ein, bei der Millionen Menschen aus den Besatzungszonen nach Hause zurück kehrten. Aspekte,
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welche nicht im Film deutlich wurden bzw. nur angedeutet sind, sind die Konzentrationslage, die Judenverfolgung, Stalingrad und der Umgang mit Kranken und behinderten Menschen.«
Nach der Unterrichtseinheit setzt Sandra zwar keinen klar erkennbaren Anfang, sie verweist aber darauf, dass die Gegenwart Bezugspunkt für die Deutung der Vergangenheit ist (»Des Weiteren dient der Schrecken dieser Zeit als Abschreckung für heutige Handlungen«), wodurch auch die Zeitebenen verknüpft werden. Das eigentliche Ende der Erzählung wird mit den Wanderungsbewegungen der displaced persons (wenn auch anders bezeichnet) gesetzt. Das strukturierende Interesse für die Erzählung ist zwar auch hier in Aspekten zu sehen, die heute noch als relevant eingestuft werden, Sandra schreibt aber nun nicht mehr von Rechten oder Einstellungen, sondern verstärkt von negativen Auswirkungen, die Menschen zu ertragen hatten (Interesse erkennbar). Im Bereich der Retrospektivität ist die Erzählung weiterhin auf der basalen Ebene zu verorten. Auch die Perspektive ist weiterhin erkennbar, konnte sie zuvor als freiheitlich-demokratisch beschrieben werden, nimmt Sandra nun eine Perspektive ein, die das übergeordnete, erlittene Leid in den Blick nimmt. Anders als vor der Unterrichtseinheit weist Sandra nun außerdem explizit auf die Unvollständigkeit der Erzählung hin (»unter anderem«). Hinsichtlich der Selektivität ist die Narration daher auf basaler bis intermediärer Ebene einzuordnen. Die Chronologie ist erneut erkennbar, auch in dieser Erzählung werden Ursachen und Wirkungen markiert sowie Sequenzen hergestellt (Wirkung des Zweiten Weltkriegs, Leid, Rechtfertigung). Sandras zweite Narration ist daher nun auf intermediärer Ebene gefestigt. Im Bereich der Konstruktivität bezieht sich Sandra in ihrer zweiten Erzählung auch auf den behandelten Film und kann dabei grundsätzlich Fakten und Fiktion trennen. Anders als zuvor findet sich nur noch eine nicht überzeugend empirisch triftige bzw. missverständliche Aussage (»Millionen Menschen kehrten aus den Besatzungszonen nach Hause zurück«). Demgegenüber stehen erneut einige empirisch triftige Sachaussagen (»Viele Menschen verloren ihre Arbeitsplätze«; »sahen ihre Männer bzw. Frau und Kinder nie wieder«; »Migrationswelle in Europa«; »Konzentrationslage, die Judenverfolgung«; »Stalingrad«; »Umgang mit Kranken und behinderten Menschen«). Weiterhin stellt Sandra Zusammenhänge her (Leid getrennter Familien, veränderte Stellung der Frau, Migrationswelle). Hinsichtlich der Sachurteile äußert Sandra nur noch zwei Urteile ohne Begründung durch Sachaussagen (»Noch heute spührt man beispielsweise bei der Stellung der Frau die Auswirkungen des zweiten Weltkriegs«; »Während des Krieges lebten die Menschen in Unsicherheit«), die weiteren Sachurteile werden zumindest implizit begründet. Die Wahrnehmung der Perspektive von sowohl Opfern wie auch Tätern ist zwar in
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der zweiten Narration nicht so präsent wie in der ersten, taucht aber ansatzweise erneut auf. So schreibt Sandra, dass sich die Menschen »dafür rechtfertigen [mussten] was sie taten bzw. nicht taten«, was zumindest implizit Helfer, Opfer, Täter wie auch Mitläufer einschließt. Im Bereich der Konstruktivität ist die Erzählung daher nun eher intermediär einzustufen und enthält mehr Sachurteile sowie weniger empirisch nicht triftige Sachaussagen als vor der Unterrichtseinheit und darüber hinaus Verweise auf den untersuchten Film. Deutliche Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Partialität. Sandra verweist mehrfach explizit auf den behandelten Film und thematisiert dabei Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen dem Film und anderen Darstellungen (es wird jedoch nicht expliziert, welche anderen Darstellungen Sandra im Kopf hat). So schreibt Sandra: »Diese Veränderungen wurden besonders im Film deutlich, als Ursula mit ihrem Vater aneinandergeraten ist, als dieser sich nicht in die Volkslisten hat eintragen lasen« und weiter »Aspekte, welche nicht im Film deutlich wurden bzw. nur angedeutet sind, sind die Konzentrationslager, die Judenverfolgung, Stalingrad und der Umgang mit Kranken und behinderten Menschen«. Hinsichtlich der Partialität bewegt sich die zweite Narration daher im intermediären bis sogar elaborierten Bereich. Etwas deutlicher ist nun auch eine Wertung enthalten. Sandra schreibt bspw. vom »Schrecken dieser Zeit« und der »Abschreckung«, die sie mit Sachaussagen bzw. Sachurteilen begründet. Das Merkmal Geschichte und Norm ist daher nun voll basal ausgeprägt. Der Einfluss des Films ist wie auch bei Merle gering einzustufen. Zwar rückt das erlittene Leid in den Fokus von Sandra, allerdings thematisiert sie Bezüge zum Film direkt (»Diese Veränderungen wurden besonders im Film deutlich, als Ursula mit ihrem Vater aneinandergeraten ist, als dieser sich nicht in die Volkslisten hat eintragen lasen.«) und überlegt am Ende ihrer Erzählung sogar, welche Aspekte im Film nicht vorkommen, aus ihrer Einschätzung heraus aber offensichtlich vorkommen müssten. Sandra erzählt in der zweiten Narration daher eher telisch und erwartet eine positive Entwicklung, da sie schreibt, dass »vorgebeugt werden soll, dass so etwas nicht nochmal passiert«. Ähnlich wie bei Merle nimmt Sandra daher zwar Anleihen aus der filmischen Erzählung, fügt diese aber in bereits bestehende Erzählpartikel und -muster ein. In beiden Erzählungen geht es so bspw. um die Funktion der historischen Ereignisse für die Gegenwart wie auch um eine veränderte Rolle der Frau sowie erlittenes Unrecht. Der Film fungiert daher eher als Stichwortgeber, mit dem Sandra sich darüber hinaus außerdem eher bewusst auseinandersetzt und kritisch reflektiert, welche Aspekte in ihm »deutlich« bzw. nicht deutlich wurden.
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6.
Britta Wehen-Behrens
Fazit
Bezüglich der durchgeführten Studie lässt sich festhalten, dass die Narrationen der Schüler nach der Unterrichtseinheit zur Spielfilmanalyse in formaler Hinsicht besser werden und die Ausgestaltung der Merkmale historischer Erzählungen oftmals der nächsthöheren Ebene zuzuordnen ist. Bei einer eher schwachen Schülerin zeigt sich der Befund, dass die Narration vor allem empirisch triftiger wird, während die Narration einer guten Schülerin stärker emotionale Aspekte aufgreift.31 Dennoch findet nicht einfach eine unreflektierte Übernahme aus dem Film statt. In funktionaler Hinsicht zeigt sich vielmehr eine Ausdifferenzierung des hergestellten bzw. bereits vor der Unterrichtseinheit angelegten Sinns, der analysierte Film dient dabei zwar als Stichwortgeber, jedoch nicht als Muster für die eigene Erzählung. Die gute Schülerin benennt zudem Aspekte, die nicht im Film vorkommen und reflektiert kritisch den Wert des Films. Auswertungen weiterer Fallbeispiele bestätigen dies, müssen jedoch für die gesamte Stichprobe noch dahingehend geprüft werden, ob die Ergebnisse zu unterschiedlichen Typen klassifiziert werden können. Hinsichtlich möglicher Konsequenzen für die unterrichtspraktische Arbeit könnten erste Ansätze darin bestehen, die Rezeption und Analyse stärker zu individualisieren. Für Schüler wie »Merle« könnte es bspw. sinnvoll sein, sich auf die historische Hintergrundnarration des Spielfilms zu fokussieren und diese zu hinterfragen. Schülerinnen wie »Sandra« hingegen könnten sich vertieft mit der emotionalen Lenkung durch den Film auseinandersetzen. In dieser Hinsicht sollten nach der weiteren Auswertung pragmatische Konsequenzen formuliert werden. Zu prüfen wäre insbesondere, wo bereits ein produktiver Sinnbildungsvorgang nach dem Film stattfindet, um diese Prozesse durch weitere bzw. andere Aufgabenstellungen bei der Filmanalyse zu fördern. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass sich die Narrationsfähigkeit allein oder am besten durch die Analyse von Geschichtsspielfilmen fördern ließe. Stattdessen lassen die ersten Ergebnisse der Studie darauf schließen, dass Spielfilme nicht nur »Nacherzählungen« auslösen (oder gar lediglich ›falsche‹ Vorstellungen evozieren), sondern eine angeleitete Auseinandersetzung mit der filmischen Narration offensichtlich dazu beitragen kann, eigene Sinnbildungsprozesse auszulösen bzw. zu vertiefen. Insofern können auch mit einem Spielfilmeinsatz Kernideen des Faches gefördert werden. 31 Insofern kann ein Ergebnis der Studie von Björn Bergold bestätigt werden: Bei unterrichtlichem Vorwissen erfolgt offenbar eine Fokussierung auf die menschlichen Schicksale der Figuren und ihre Emotionen. Schüler ohne vorhergehende Unterrichtseinheit bzw. in diesem Fall schwächere Schüler ohne ausgeprägte Vorkenntnisse zum Thema konzentrierten sich demgegenüber nicht auf einzelne Bereiche, sondern nehmen den Film als ein »Wissensreservoir in bewegten Bildern« wahr. Vgl. Bergold 2010 (Anm 4), S. 257.
Hannes Burkhardt
Digitale Erinnerungskulturen im Social Web. Personen des »Dritten Reichs« auf Facebook am Beispiel von Claus Stauffenberg, Sophie Scholl und Erwin Rommel
1.
Einleitung
Im Jahr 2009 hatte der 1933 in Lublin (Polen) geborene und 1942 im Vernichtungslager Majdanek ermordete Henio Zytomirski tausende von FacebookFreunden. Dies war möglich, weil der Historiker Piotr Brozek im August 2009 auf Facebook ein eigenes Profil von Henio Zytomirski angelegt hatte. Brozek gab dem Holocaustopfer eine Stimme, denn Henio postete täglich. Die Basis dafür waren jedoch keine Egodokumente von Henio Zytomirski, sondern andere historische Quellen in Form von Briefen, die Henios Vater Samuel, der Lehrer und orthodoxer Jude war, vor und während des Krieges an Henios Onkel Leon geschrieben hatte. Dieser hatte den Holocaust überlebt, da er bereits 1937 nach Israel ausgewandert war. Brozek sprach auf Facebook als Henio Zytomirski und postete auf Englisch und Polnisch: »Der Winter ist gekommen, jeder Jude muss seinen Namen auf dem Davidstern tragen«, oder : »Auf der Straße laufen deutsche Truppen. Mama sagt, dass ich mich nicht fürchten soll, weil das Gute immer gewinnt. Immer?«.1 Henio Zytomirskis Facebookseite war für tausende Menschen eine Art virtuelles Denkmal als »virtual version of what they would leave if they actually went to a place where there was a monument to him«2. Von einer sehr normativen Vorstellung von Holocaustgedenken ausgehend befürchteten einige polnischer Historiker eine Trivialisierung des Holocaust und eine Vermischung von Realität und Fiktion.3 Dabei verkannten sie offensichtlich die generelle Narrativität und Konstruktivität von Geschichte, obwohl doch gerade diese beiden Strukturmerkmale von Geschichte bei einem auf Facebook 1 Vgl. Cornelius Janzen: Erinnerung 2.0. Ein Holocaust-Opfer bei Facebook 2010, http://www. 3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/142553/index.html, aufgerufen am 31. 1. 2015. 2 Joy Sather-Wagstaff zitiert nach Virtual memorials on Facebook commemorate Holocaust victims 2012, http://www.haaretz.com/jewish-world/2.209/virtual-memorials-on-facebookcommemorate-holocaust-victims-1.262761, aufgerufen am 31. 1. 2015. 3 Vgl. Greg Gutfeld: Holocaust Boy’s 3,000 Facebook Friends 2010, http://activitypit.ning.com/ forum/topics/holocaust-boys-3000-facebook, aufgerufen am 31. 1. 2015.
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schreibenden Holocaustopfer, das im Jahr 2009 mit Nutzern interagiert, offensichtlich sind. Zudem kommt bekanntermaßen auch die anspruchsvollste historische Publikation nicht ohne fiktionale Elemente aus.4 Entscheidend ist daher nicht das Medium oder der Modus der Vermittlung von Geschichte, sondern die Transparenz in Bezug auf die historischen Quellen, die bei Henio Zytomirskis Facebookseite gegeben war. Diese Facebookseite von Henio Zytomirski war der Anfang eines bis dahin neuen Phänomens digitaler Erinnerungskulturen. Heute existieren auf Facebook und anderen Social-Web-Plattformen tausende von Profilen und Seiten von historischen Personen des »Dritten Reiches« und aus anderen historischen Kontexten und Epochen, durch die insgesamt Millionen von Menschen erreicht werden. Das Social Web ist so heute ein Massenmedium der Vermittlung von Geschichtsbildern, ein Ort der breiten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und dem Holocaust und ein erheblicher Faktor gegenwärtiger Erinnerungskulturen zur Geschichte des »Dritten Reiches«, da hier sowohl große und etablierte Institutionen als auch Privatpersonen zu den Akteuren gehören. Dieser Beitrag diskutiert zahlreiche Facebookseiten mit Bezügen zu den drei Personen Claus Stauffenberg, Sophie Scholl und Erwin Rommel, um zu zeigen, wie sich im Social Web neue Formen der kollektiven Erinnerung etablieren, die vor allem als medienspezifische Transformationen populärer Erinnerungsdiskurse zu verstehen sind. Dabei nimmt der Beitrag eine kulturwissenschaftliche analytisch-deskriptive Perspektive ein, die fern von normativen Erinnerungskonzepten von der »Pluralität von Vergangenheitsbezügen, die […] in verschiedenartigen Modi der Konstitution der Erinnerung, die komplementäre ebenso wie konkurrierende, universale wie partikulare, auf Interaktion wie auf Distanz- und Speichermedien beruhende Entwürfe beinhalten können«, ausgeht und so versucht, ein Teil des Phänomens Erinnerungskulturen Social Web analytisch zu fassen.5 Es wird deutlich werden, dass Facebook kein exklusives Medium für traditionelle Institutionen des kulturellen Gedächtnisses und er4 Vgl. u. a. Hayden V. White: Metahistory. The historical imagination in nineteenth-century Europe. Baltimore 1973; dt: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1991; Jörn Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens. In: Reinhart Koselleck/Heinrich Lutz/Jörn Rüsen (Hrsg.): Formen der Geschichtsschreibung. München 1982, S. 514–605; Jörn Rüsen: Narrativität und Modernität in der Geschichtswissenschaft. In: Pietro Rossi (Hrsg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main 1987, S. 230–237; Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln, Weimar, Wien 2013, S. 191–219. 5 Marcus Sandl: Historizität der Erinnerung/Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung. In: Günter Oesterle (Hrsg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen 2005, S. 89–120, hier S. 100.
Digitale Erinnerungskulturen im Social Web
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innerungspolitisch etablierte Produzenten von Geschichte ist, sondern ein Forum für eine vielschichtige Nutzergemeinschaft mit einer Vielzahl alternativer Vergangenheitsinterpretationen. Dies bedeutet aber nicht, dass Institutionen Facebook nicht auch sehr erfolgreich nutzen, wie die Facebookseite Anne Frank6 des Anne Frank House mit heute 2.351.702 Likes oder die Facebookseite Auschwitz Memorial / Muzeum Auschwitz7 des Auschwitz-Birkenau State Museum mit heute 170.517 Likes belegen können. In diesem Beitrag werden allerdings ausschließlich Seiten dargestellt, die von Privatpersonen betrieben werden.
2.
Erinnerungskulturen Social Web
In Anlehnung an Dörte Hein8 wird die Remedialisierung von Personen des »Drittes Reiches« auf Facebook hier prinzipiell als ein kommunikativer Erinnerungsprozess verstanden, sodass bei der Beschreibung von diesen Erinnerungskulturen im Social Web immer auch das Gedächtnismedium analysiert und die zugrundeliegenden Kommunikationsprozesse beschrieben werden müssen. Der Kommunikationsprozess und die diesen bestimmende Materialität des Mediums müssen dabei in zweifacher Hinsicht beachtet werden: zum einen in Bezug auf den Kommunikationsprozess aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht und zum anderen aus gedächtnistheoretischer Sicht in Bezug auf den kollektiven Erinnerungsprozess. Eine Analyse muss daher die Medialität von Erinnerung und deren soziale Rahmung und die Materialität von Medien und deren Praktiken und Funktionen berücksichtigen. Die mediale Materialität wird stark geprägt von der technischen Revolution der Web-2.0-Technologie, die es den Nutzern ermöglicht, durch einfach handhabbare, browserbasierte Anwendungen ihren Inhalt selbst zu produzieren, sich im Internet darzustellen und verstärkt untereinander zu vernetzen.9 Aus kommunikationssoziologischer Sicht erscheint nach Jan Schmidt die Bezeichnung Social Web als die präzisere, da sie u. a. den grundlegenden sozialen Charakter desjenigen Bereichs des Internets betont, der Kommunikation und anderes aufeinander bezogenes Handeln zwischen Nutzern fördere, also über die
6 https://www.facebook.com/annefrankauthor?ref=ts& fref=ts, aufgerufen am 31. 1. 2015. 7 https://www.facebook.com/auschwitzmemorial?fref=ts, aufgerufen am 31. 1. 2015. 8 Vgl. Dörte Hein: Virtuelles Erinnern. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2010, H. 25–26, S. 23–29, hier S. 29. 9 Vgl. Gunnar Bender : Von Web 1.0 zu Web 2.0: Kommunikation eines Paradigmenwechsels. In: Miriam Meckel/Katarina Stanoevska-Slabeva (Hrsg.): Web 2.0. Die nächste Generation Internet. Baden-Baden 2008, S. 132–141, hier S. 132.
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Hannes Burkhardt
Mensch-Maschine-Interaktion hinausgehe.10 Auch nach Ebersbach, Glaser und Heigl erscheint es als folgerichtiger, das Social Web als einen Teilbereich des Webs 2.0 zu begreifen, der mehr auf die Bereiche desselben fokussiert, bei denen es um die Unterstützung sozialer Strukturen und Interaktionen über das Internet geht und nicht so sehr darum, Verbindungen zwischen Servern herzustellen oder Daten auszutauschen.11 Diese Definition von Social Web war bereits eine, die von den kommunikativen Funktionen her ausgebreitet wurde, da Informationsaustausch (Publikation und Verteilung von multimedialen Objekten, die Informationen enthalten), Beziehungsaufbau (Aufbau und Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen) und Zusammenarbeit (Sammlung und Herstellung von Wissen und Erkenntnissen) als zentrale Merkmale ausgemacht wurden.12 Eine ähnliche Trias definiert auch Jan Schmidt als Komponenten von Social-Web-Praktiken. Er unterscheidet die Handlungskomponenten Identitäts-, Beziehungsund Informationsmanagement.13 Identitätsmanagement meint in diesem Zusammenhang das Zugänglichmachen von Aspekten der eigenen Person durch das Ausfüllen eines Profilbogens in einer Art »standardisierten Selbstdarstellung«14. Durch das eigene Profil und die Facebook-Timeline als »Mikrobiografie« werden diese Social-Network-Plattformen immer auch ein multimediales und multimodales Instrument zur Repräsentation und Vermittlung von narrativen Identitätskonstruktionen.15 Facebook wird dabei zum Medium der Konstruktion einer narrative identity im Sinne Paul Ricoeurs, in welcher »[t]he interpretation of the self, in turn, finds narrative, among other signs and symbols, to be a privileged mediation.«16 Dabei wird das volle mediale, interaktive und dynamische Potenzial der Social-WebPlattformen zur narrativen Selbstdarstellung genutzt.17 Der für die narrative
10 Vgl. Jan Schmidt: Was ist neu am Social Web? Soziologische und kommunikationswissenschaftliche Grundlagen. In: Ansgar Zerfaß (Hrsg.): Kommunikation, Partizipation und Wirkungen im Social Web. Köln 2008, S. 18–40, hier S. 22. 11 Vgl. Anja Ebersbach/Markus Glaser/Richard Heigl: Social Web. 2. Aufl., Konstanz 2011, S. 32–33. 12 Vgl. ebd., S. 38. 13 Jan Schmidt: Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0. 2. Aufl., Konstanz 2011, S. 73–106. 14 Vgl. ebd., S. 85. 15 Vgl.: Gerhard Jens Lüdeker : Identität als virtuelles Selbstverwirklichungsprogramm: Zu den autobiografischen Konstruktionen auf Facebook. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Narrative Genres im Internet. Theoretische Bezugsrahmen, Mediengattungstypologie und Funktionen. Trier 2012 (WVT-Handbücher und Studien zur Medienkulturwissenschaft, Bd. 7), S. 133–150, hier S. 146. 16 Paul Ricoeur : Narrative Identity. In: Philosophy Today 35 (1991), H. 1, S. 73–81, hier S. 73. 17 Vgl. Jonas Ivo Meyer : Narrative Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken: Das mediale,
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Identitätskonstruktion funktionale Aspekt von Facebook ist für diesen Beitrag wichtig, denn jede Aktivität von Nutzern wird immer auch als eine Art der narrativen Identitätskonstruktion im Sinne eines Social-Media-Identitätsmanagements verstanden werden. Zum anderen kann das Potenzial der SocialWeb-Plattformen eben auch genutzt werden, um eine historische Identität medial neu zu konstruieren, was im Einzelfall aber auch Teil einer eigenen narrativen Identitätskonstruktion sein kann. Beziehungsmanagement meint im Zusammenhang von Social Web einen »active process of building, maintaining, and sustaining a specific set of mutually regarded relationships«18, in dem Beziehungen durch Einträge auf Seiten anderer, durch Nachrichten, durch Aussprache oder Annahme eines Kontaktgesuches und durch das Verlinken von Bildern oder Videos geknüpft und gepflegt werden. Nutzeraktivität auf Facebook muss immer auch dann unter dem Aspekt des Beziehungsmanagements analysiert werden, wenn Nutzer historische Personen des »Dritten Reiches« in Form eines digitalen Reenactments remedialisieren und reinszenieren. Informationsmanagement meint bei Schmidt das Selektieren, Filtern, Bewerten und Verwalten von Informationen.19 Besonders für das Bewerten von Informationen, was wiederum eine wichtige Komponente im Identitäts- und Beziehungsmanagement sein kann, bieten die verschiedenen Social-WebPlattformen verschiedene Bewertungsmöglichkeiten an, wie etwa den Gefälltmir-Button bei Facebook.20 Auch kommunikative Praktiken des Social Webs wie Identitätsmanagement, Beziehungsmanagement und Informationsmanagement beeinflussen die medial vermittelten Geschichtsnarrative und Erinnerungskulturen im Social Web auf vielfältige Weise und müssen berücksichtigt werden. Erinnerungskulturen im Social Web sind somit auch als medienspezifische Produkte der Materialität des Erinnerungsmediums und deren kommunikativen Praktiken zu verstehen und zu analysieren. Wie sich Erinnerungskulturen im Social Web konkret medial vollziehen, soll nun an den drei Beispielen Claus Stauffenberg, Sophie Scholl und Erwin Rommel gezeigt werden.
interaktive und dynamische Potenzial eines neuen Mediengenres. In: Nünning u. a. (wie Anm. 15), S. 151–170. 18 Bernard J. Hogan: Networking in Everyday Life. Toronto 2009, S. 14. 19 Vgl. Schmidt (wie Anm.13), S. 73. 20 Vgl. ebd., S. 103.
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3.
Hannes Burkhardt
Claus Stauffenberg und der 20. Juli auf Facebook
Der Umsturzversuch des 20. Juli 1944 wurde schon sehr früh mit einer symbolischen Bedeutung für die monumentalisierte Begriffsbestimmung des Widerstands gegen Hitler und dessen moralische Bewertung versehen.21 Auch heute noch steht die Tat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Zentrum jeder Betrachtung des Widerstands im Nationalsozialismus.22 Bereits seit den 1960er Jahren findet jedes Jahr im Innenhof des Bendlerblocks die zentrale Gedenkveranstaltung der Bundesrepublik Deutschland und des Berliner Senats zum Gedenken an den 20. Juli 1944 statt.23 Heute existieren auf Facebook zahlreiche Seiten, die einen Bezug haben zur historischen Person Stauffenberg, sei es als Profilseiten24, die nur für Nutzer sichtbar sind, die mit diesen »Stauffenbergs« befreundet sind, oder durch öffentliche Seiten als Seitentyp der Person des öffentlichen Lebens.25 Ein Beispiel für eine solche öffentliche Facebookseite hat heute 11.740 Likes.26 Diese von Privatpersonen betriebene Seite bedient sich auch eines typischen Modus von Social-Web-Erinnerungskulturen, den ich als Erinnerungspost bezeichne. An dem Tag, an dem sich ein bestimmtes historisches Ereignis jährt, wird ein Post initiiert, der an dieses vergangene Ereignis erinnert. Diese Posts bestehen oft aus einem kurzen Text, der wenige Fakten zum Ereignis zusammenfasst, und manchmal auch aus einem Bild, das oft aber mehr illustrativen Charakter hat und so die Authentizität erhöhen soll, dabei aber fast keinen historischen Wert für das konkrete Ereignis hat. Auch Institutionen wie das Anne Frank House27 in Amsterdam oder das Auschwitz-Birkenau State Muse-
21 Vgl. Gerd R. Ueberschär : Von der Einzeltat des 20. Juli 1944 zur »Volksopposition«? Stationen und Wege der westdeutschen Historiographie nach 1945. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Für ein anderes Deutschland. Der deutsche Widerstand gegen den NS-Staat 1933–1945. Darmstadt 2005, S. 125–157, hier S. 126. 22 Vgl. Peter Steinbach/Johannes Tuchel: Der 20. Juli 1944 – Vermächtnis und Erinnerung. Berlin 2004. S. 6. 23 Vgl. Peter Steinbach: Claus von Stauffenberg. Zeuge im Feuer. Leinfelden-Echterdingen 2007. S. 119. 24 Auswahl: https://www.facebook.com/claus.stauffenberg.33?ref=br_rs; https://www.face book.com/clausschenk.stauffenberg?ref=br_rs; https://www.facebook.com/profile.php?id =100008174552210& ref=br_rs, aufgerufen am 31. 1. 2015. 25 Auswahl: https://www.facebook.com/pages/Claus-von-stauffenberg/363440780364503?ref= br_rs; https://www.facebook.com/pages/Long-live-our-sacred-Germany-Claus-von-Stauffen berg/161177237233990?ref=br_rs, aufgerufen am 31. 1. 2015. 26 http://www.facebook.com/pages/Claus-Schenk-Graf-von-Stauffenberg/12241838036, aufgerufen am 31. 1. 2015. 27 https://www.facebook.com/annefrankhouse?fref=ts, aufgerufen am 31. 1. 2015.
Digitale Erinnerungskulturen im Social Web
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um28 nutzen diesen Modus der Erinnerungsposts auf ihren Facebookseiten zur Umsetzung ihres geschichtspolitischen und pädagogischen Auftrags.29 So postete30 die entsprechende Stauffenberg-Facebookseite am 20. Juli 2014: »On this 70th anniversary of the Widerstand’s heroic deeds, take a moment to remember those who decided to take a stand against tyranny.«31 Dieser Post wurde 255-mal geliket und 46-mal geteilt. In den Kommentaren drückt sich immer wieder große Heldenverehrung und Bewunderung aus, wie diese Beispiele zeigen: »Held«, »Der mutigste Mann der Welt!«, »Ein Musterbeispiel für Mut und Aufrichtigkeit. Großer Mann, selbstverständlich auch alle anderen Beteiligten«, »Never forget a true hero«, »Hero of war«, »Von Stauffenberg and ALL the conspirators are heroes for Deutschland«. Auch am 20. Juli 2012 hatte der Betreiber ein schlichtes »In remembrance on the anniversary of 20 July, 1944« gepostet.32 Dieser Post wurde 764-mal geliket und 72-mal geteilt. Auch hier drücken in den Kommentaren viele Nutzer ihre Bewunderung aus und schreiben: »Ehrt Sie, sie starben für Deutschland und die Freiheit«33, »Ein deutscher Held«34 oder »Staufenberg war einer der mutigsten Männer im 3. Reich«35. Ein Nutzer hat den Erinnerungspost mit einer Variante36 von Stauffenbergs letzten Worten kommentiert.37 Diese finden sich immer wieder auf der Facebookseite38, wobei in einem Fall auch eine Diskussion über den richtigen Wortlaut geführt wird.39
28 https://www.facebook.com/auschwitzmemorial?fref=ts, aufgerufen am 31. 1. 2015. 29 Vgl. Hannes Burkhardt: Anne Frank auf Facebook. Erinnerungskulturen im Social Web zwischen Trivialisierung und innovativer Erinnerungsarbeit. In: Peter Seibert/Jana Pieper/ Alfonso Meoli (Hrsg.): Anne Frank. Mediengeschichten. Berlin 2014, S. 135–163, hier S. 151. 30 Die Posts werden hier im Folgenenden im Originaltext inklusive aller orthografischen und sonstiger Fehler wiedergegeben, ohne dass Fehler nochmals konkret kenntlich gemacht werden. 31 https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10152278491098037& id=12241838 036, aufgerufen am 31. 1. 2015. 32 http://www.facebook.com/pages/Claus-Schenk-Graf-von-Stauffenberg/12241838036, aufgerufen am 31. 1. 2015. 33 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150947178908037& id=12241838 036& comment_id=448687901& offset=0& total_comments=48, aufgerufen am 31. 1. 2015. 34 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150947178908037& id=12241838 036& comment_id=448688842& offset=0& total_comments=48, aufgerufen am 31. 1. 2015. 35 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150947178908037& id=12241838 036& comment_id=448688901& offset=0& total_comments=48, aufgerufen am 31. 1. 2015. 36 »Trotzdem herrscht bis heute keine Einigkeit, was er gesagt hat. ›Es lebe das heilige Deutschland‹ wollen drei Zeugen vernommen haben, darunter Stauffenbergs Fahrer, der treue Schweizer. Andere hören das ›geheiligte Deutschland‹, wieder andere das ›geheime‹.« (Aus: Tobias Kniebe: Operation Walküre. Das Drama des 20. Juli. Berlin 2009. S. 239). 37 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150947178908037& id=12241838 036& commentid=448687416& offset=0& total_comments=48, aufgerufen am 31. 1. 2015. 38 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=82316783036& id=12241838036;
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Viele Nutzer haben am 20. Juli die Facebookseite auch genutzt, um direkt auf der Seite entweder ein schlichtes »Danke«40 zu posten, ihre Bewunderung in kurzen Äußerungen wie »In Gedenken an Claus Stauffenberg!….denn größer als das Schiksal ist der Mensch der es trägt!!«41 auszudrücken oder auch längere Kommentare zu posten wie: »In Gedenken an die Menschen um Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die am 20. 07. 1944 den Mut hatten, eine Herrschaft beenden zu wollen, deren Schatten uns noch heute begleitet. Friede euren Seelen und der Aufruf an die Menschheit: seit Wachsam und lasst es nie wieder soweit kommen, dass eine Person eine ganze Nation und Millionen von Menschen ins Unglück stürzt ! Thomas Blaskowski, Hannover.«42
Der Ausdruck von Verehrung und Bewunderung findet sich auch über den 20. Juli hinaus. Oft fällt dabei der Begriff »Held!«43. Es existieren außerordentlich viele Kommentare wie »This man Was a Hero«44, »A brave soldier, a true German hero. (Ein tapferer Soldat, Ein echter deutscher Held)«45 oder »he was an autentic hero.Ich liebe Deutschland!«46. Es existieren auf Facebook jedoch ebenfalls Stimmen, wenn auch wenige, die vorsichtig Einspruch gegen diese Heldenverehrung erheben. So kommentierte ein Nutzer am 21. Juli 2012: »Die Abkehr Stauffenbergs von Hitler kam allerdings sehr spät, als Held taugt er nur sehr bedingt … Allerdings: besser spät als nie (http://de.wikipedia.org/wiki/Claus_Schenk_Graf_ von_Stauffenberg).«47 Eine Minute nach diesem Kommentar folgt die Rüge eines anderen Nutzers: »Ist das dein Ernst hier andere mit Wikipedia zu belehren? Lies mal ein paar Ori-
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http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=168566148036& id=12241838036, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150403280738037& id=12241838 036, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150946131118037& id=12241838 036, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150945402628037& id=12241838 036, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150945332393037& id=12241838 036, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150276833078037& id=12241838 036, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150275212248037& id=12241838 036, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150223951003037& id=12241838 036, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=66921303036& id=12241838036, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150947178908037& id=122418 38036& comment_id=448688174& offset=0& total_comments=49, aufgerufen am 31. 1. 2015.
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ginalquellen und höre auf so einen Schwachsinn zu verzapfen!«48 Auf den Post »Gott segne ihn. Er und die Seinen gaben ihr Leben, damit wir heute frei Leben duerfen …«49 eines Nutzers kommentierte ein anderer Nutzer : »Sorry, aber dafür wurde es ihnen nicht genommen, die Freiheit kam viel später und durch andere, wenn überhaupt. Immerhin wurden viele Deutsche anschließend nach dem 08. Mai 45 von ihrem Leben und ihren Patenten befreit, oft auch vom Recht auf körperliche Unversehrtheit und dergleichen mehr. Stauffenberg und Co. waren viel zu spät dran und haben dem Regime viel zu lange gedient, weil es für sie eben viele Vorteile hatte. Ihr Widerstand hat außer einer gewissen gelinden Reputation daher auch nichts bewirkt, erfolgreich war er ja bekanntlich nicht.«50
Dies wird dann wie folgt beantwortet: »Ich will jetzt hier nicht streiten, … aber ich glaube, dass das Opfer von Zehntausenden Deutschen, die an Klaviersaiten erhaengt, erschossen, vergast, erschlagen oder auf andere Arten das Martyrium erlitten auch Dank verdient – und zwar das Opfer aller, unabhaengig davon, was sie nun heute am Wahltag waehlen wuerden. Auch darauf kann man stolz sein. Und einzusehen, dass man zuvor einem verbrecherichen Regime gedient hat kann ja auch nicht falsch sein. Jedenfalls nur, um noch einen besseren Frieden herauszuholen, dafuer laesst man sich nicht vor ein Erschiessungskommando stellen – noch dazu mit den Worten »es lebe das heilige Deutschland« auf den Lippen…»51
Ein weiterer Nutzer schrieb: »Leider, je länger er tot ist und je länger die Epoche her ist die er erleben musste – je mehr Leichenfledderer finden sich die sein Andenken in den Schmutz werfen wollen weil sie selbst angeblich so viel mutiger und idealistischer wären. Am meisten nimmt man ihm wohl seine letzten Worte übel.«52
Diese Posts und Diskussionen zeigen, dass sich auf dieser Facebookseite zumindest in Teilen die Ambivalenz abbildet, die Erinnerungskulturen zu Stauffenberg und zu dem 20. Juli allgemein inhärent ist. Die Ambivalenz hat ihre historischen Wurzeln bereits in den 1940er Jahren, als die nationalsozialistische Propaganda zunächst versucht hatte, das Bild der »ehrgeizzerfressenen Offi48 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150947178908037& id=12241838 036& comment_id=448688279& offset=0& total_comments=49, aufgerufen am 31. 1. 2015. 49 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150631400198037& id=12241838 036, aufgerufen am 31. 1. 2015. 50 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150631400198037& id=12241838 036& comment_id=21422323& offset=0& total_comments=3, aufgerufen am 31. 1. 2015. 51 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150631400198037& id=12241838 036& comment_id=21455777& offset=0& total_comments=3, aufgerufen am 31. 1. 2015. 52 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10150174134733037& id=12241838 036, aufgerufen am 31. 1. 2015.
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ziere« zu schaffen und so in Bezug auf den 20. Juli die Schlagwörter von Verrat und Eidbruch populär zu machen.53 Nach 1945 wechselte die Perspektive allmählich und Stauffenberg wurde nicht mehr offen als Verräter diffamiert, seine Familie nicht mehr geächtet, sondern man versuchte in Teilen, seine eigene Passivität mit der angeblich dilettantischen und inkonsequenten Ausführung des Attentats zu rechtfertigen, wobei Stauffenberg als Person kein Respekt gezollt wurde.54 In den 1950er Jahren nahm das öffentliche Interesse an Stauffenberg kontinuierlich zu, auch wenn es noch mehrheitlich abgelehnt wurde, Straßen oder öffentliche Gebäude nach ihm zu benennen.55 Diese Ablehnung hatte vermutlich auch tiefenpsychologische Ursachen, da Angepasstheit, Passivität und Mitläufertum vieles von dem ermöglicht hatten, wogegen sich Stauffenberg versucht hatte zu wehren.56 Spiel- und Dokumentarfilme fanden aber mehr und mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung, da Stauffenberg die Öffentlichkeit in zunehmendem Maße interessierte und faszinierte und man immer mehr bereit war, über die Grenzen von Befehl und Gehorsam, von Distanz und Engagement, von Kooperation und Opposition und von Verstrickung und Willensfreiheit zu reflektieren.57 Auch die Bundeswehr hatte Stauffenberg seit Mitte der 1950er Jahre in das Traditionsverständnis aufgenommen, denn diese deutsche Armee sollte nicht mehr durch die Pflicht zum unbedingten Gehorsam bestimmt sein, sodass Stauffenbergs Verhalten in die ethischen Grundlagen des Soldatentums der Bundeswehr aufgenommen wurde.58 Man überdehnte aber Stauffenbergs Motivationshintergründe, indem man unterstellte, er hätte eine freiheitlich-demokratische Grundordnung installieren wollen.59 Heute erscheint es als kurzsichtig, die Angehörigen des 20. Juli 1944 schlicht in eine politische Tradition des Parlamentarismus, der Rechtsstaatlichkeit, des innerstaatlichen Pluralismus und der modernen Verfassungsstaatlichkeit zu stellen.60 Man wollte
53 Vgl. Tilman Mayer: Die geschichtspolitische Verortung des 20. Juli 1944. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 2004, H. 27, S. 11–14, hier S. 11. 54 Vgl Peter Steinbach: Claus von Stauffenber – Zeuge im Feuer. In: Die Mahnung 51 (2004), H. 4, S. 1–2, hier S. 1. 55 Vgl Peter Steinbach: Entstehung und Bewertung des Stauffenberg-Bildes nach 1945. In: Eberhard Zeller (Hrsg.): Oberst Claus Graf Stauffenberg. Ein Lebensbild. Nachdr. der 2. Aufl. 1994 / mit einer neuen Einf. von Peter Steinbach. Paderborn, München [u. a.] 2008, S. VII–XXV, hier S. VII. 56 Peter Steinbach: Der 20. Juli 1944 – mehr als ein Tag der Besinnung und Verpflichtung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), B 28/2003, S. 5–10, hier S. 5. 57 Vgl. ebd., S. 7. 58 Vgl. Steinbach (wie Anm. 54), S. 2. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. Peter Steinbach: Widerstandsdeutungen in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung: Erfahrungen aus der Arbeit an der ständigen Ausstellung ›Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Berlin‹. In: Andreas Nachama/Heinz Galinski (Hrsg.): Aufbau nach
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in den Plänen der Widerstandsgruppe für das Deutschland nach dem gelungenen Umsturz den Keim für die Ordnung des Grundgesetzes angelegt sehen.61 Hinzu kamen nun aber in den 1960er Jahren auch andere Deutungen, die Stauffenberg als demokratiefernen Adligen zeichneten, der in letzter Minute den militärischen Untergang hätte abwenden wollen.62 Man betonte die obrigkeitsstaatliche und politisch-hegemoniale Verfassungsvorstellung und die außenpolitischen Denkmodelle eines bürgerlichen und militärischen Widerstandes.63 Diese Deutungen hoben hervor, dass Stauffenberg aus den Denkvorstellungen des Obrigkeitsstaates heraus Widerstand geleistet habe und dass bis in die letzten Wochen vor dem Attentat die Sicherung einer Hegemonialstellung Deutschlands in der Mitte Europas sein wichtigstes Ziel gewesen sei.64 Weitgehender geschichtswissenschaftlicher Konsens ist heute, dass Stauffenberg weder ein rückwärtsgewandter konservativer Militarist noch ein Träger einer freiheitlichen Grundordnung war.65 Der 20. Juli ist heute im öffentlichen Bewusstsein ein Tag, an dem einer Widerstandshandlung gegen eine totalitäre Diktatur gedacht wird66, inklusive aller Widersprüchlichkeiten.67 Der 20. Juli ist zwar nur zu einem sehr geringen Teil in den demokratischen Traditionen Deutschlands zu verorten, wird aber heute vielfach dafür in Anspruch genommen68 – wie gezeigt auch auf Facebook. Auch das Medium der Fotografie ist auf der oben bereits dargestellten Facebookseite ein wichtiges Element. Schon das Titelbild69 zeigt Stauffenberg mit zweien seiner Kinder. Besonders solche Fotografien, die die »private Seite« von Stauffenberg zeigen, werden stark kommentiert. So schrieb ein Nutzer »wenn solche Menschen wir er noch hier wandeln würden was für ein schöner Ort könnte diese Welt sein, doch heutzutage wird die Welt regiert von Menschen ohne Rückgrat und ohne jeden funken von Ehre!«70 Unter eine Fotografie71, die
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dem Untergang. Deutsch-jüdische Geschichte nach 1945 : in memoriam Heinz Galinski. Berlin 1992, S. 404–416, hier S. 100. Vgl. ebd., S. 404. Vgl. Mayer (wie Anm. 53), S. 13. Vgl. Steinbach (wie Anm. 60), S. 404. Vgl. Steinbach (wie Anm. 54), S. 2. Vgl. ebd. Vgl. Mayer (wie Anm. 53), S. 14. Vgl. Steinbach (wie Anm. 54). S. 2. Vgl. Manfred Zeidler : Der 20. Juli 1944. Eine Replik. Göttingen 2005. http://www.facebook.com/photo.php?fbid=10150654194258037& set=a.101506541927430 37.393440.12241838036& type=1, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/photo.php?fbid=10150654194258037& set=a.101506541927430 37.393440.12241838036& type=1& comment_id=6188705& offset=0& total_comments= 24, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/photo.php?fbid=12244298036& set=a.12244088036.24217.12241 838036& type=1, aufgerufen am 31. 1. 2015.
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Stauffenberg im Seitenprofil zeigt, schrieb Elmar Stöwer : »Er hatte leider noch als einer der wenigen noch einen Arsch in der Hose!!!«72 Auch andere private Fotografien werden vielfach kommentiert.73 Sie zeigen beispielsweise den privaten Stauffenberg mit seiner Frau Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg74, als junger Mann75 oder in Uniform auf dem Pferd76. Auch das Hochzeitsbild wird an anderer Stelle veröffentlicht.77 In der gruppeneigenen Fotogalerie78 einer anderen Facebook-Gruppe79 stehen historische Fotografien unkommentiert neben Szenen aus dem Film »Valkyrie« von Bryan Singer. Die Grenzen zwischen historischen fotografischen Quellen und Geschichte im Spielfilm verschwimmen fast völlig. Viele Nutzer posten auch Verlinkungen zu YouTube, die Szenen aus dem Stauffenberg-Film »Valkyrie« mit Tom Cruise zeigen.80 Die Differenz zwischen der Filmfigur Stauffenberg und der historischen Persönlichkeit ist so teilweise nur minimal. Der Stauffenberg-Film »Valkyrie« von Bryan Singer ist trotz seiner vielen historischen Fehler81, seiner Verfälschung der spezifischen Bedeutung des deutschen Widerstandes82 und seiner Reduzierung der NS-Zeit zu einer Folie für eine spannende Hollywood-Handlung83 medial auf den Facebookseiten immer wieder präsent. Und ähnlich wie es Peter Steinbach für den Film Singers aufzeigt84, ist auch die Facebook-Präsenz des 20. Juli stark auf die Person Stauffenberg fixiert. Dabei wird die historische Person Stauffenberg auf Facebook tendenziell zu einer Person der Gegenwart, deren Hochzeits-, Familien- und Jugendbilder auf 72 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=12244298036& set=a.12244088036.24217.12241 838036& type=1& comment_id=258409964& offset=0& total_comments=9 (zuletzt geprüft am 31. Januar 2015). 73 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=12244293036& set=a.12244088036.24217.12241 838036& type=1& permPage=1, aufgerufen am 31. 1. 2015. 74 Vgl. Gerd R. Ueberschär : Stauffenberg. Der 20. Juli 1944. Frankfurt am Main 2004. S. 100. 75 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=10150446385773037& set=a.12244088036.2421 7.12241838036& type=1& permPage=1, aufgerufen am 31. 1. 2015. 76 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=10150446386078037& set=a.12244088036.2421 7.12241838036& type=1& permPage=1, aufgerufen am 31. 1. 2015. 77 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=102061029890347& set=a.102060929890357.40 06.101274156635701& type=3& theater, aufgerufen am 31. 1. 2015. 78 http://www.facebook.com/media/set/?set=o.211315615654& type=1, aufgerufen am 31. 1. 2015. 79 http://www.facebook.com/groups/211315615654/, aufgerufen am 31. 1. 2015. 80 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=362951417072500& id=12241838036, aufgerufen am 31. 1.2015. 81 Vgl. Erika Steinbach: Die unsäglichen Fehler im Film Operation Walküre. In: Hamburger Abendblatt vom 22. 1. 2009, S. 3. 82 Vgl. Peter Steinbach: Wie Tom Cruise Geschichte verfälscht. In: Neue Passauer Presse vom 22. 1. 2009. 83 Vgl. Peter Steinbach: Bewegt er uns doch. In: Süddeutsche Zeitung vom 23. 1. 2009, S. 2. 84 Vgl. Peter Steinbach: Widerstand zwecklos. Aus historischer Sicht liefert der Action-Film ›Operation Walküre‹ ein flaches und falsches Bild. In: Der Tagesspiegel vom 20. 1. 2009, S. 19.
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Facebook angeschaut, kommentiert, geteilt und geliked werden. Die Differenz zwischen einer Person der Gegenwart, einer Hollywoodfigur und einer historischen Person scheint in Erinnerungskulturen auf Facebook relativ gering zu sein, was in Teilen auf ein mangelndes Zeit-, Wirklichkeits- oder Historizitätsbewusstsein im Sinne Pandels verweisen könnte.85 Ursächlich hierfür ist vor allem der mediale Kontext Facebook mit seiner medialen Materialität und den kommunikativen Praktiken des Social Web. Wie oben breit dargestellt, werden die interaktiven Möglichkeiten des Erinnerungsmediums Facebook (Teilen, Liken, Kommentieren, Posten) und die multimedialen Potenziale (Texte, Fotografien, Videos) auf der Basis der Web 2.0-Technologien breit genutzt. Die eingangs eingeführten Social-Web-Praktiken Identitäts- und Beziehungsmanagement ermöglichen es nun, das Nutzerverhalten analytisch zu fassen, ohne dabei voreilig auf mangelndes Zeit-, Wirklichkeits- oder Historizitätsbewusstsein zu schließen. Denn das »Befreunden« mit historischen Personen wie Stauffenberg und das Kommentieren von privaten Fotografien dient teilweise auch der Inszenierung einer eigenen Onlineidentität und dem Knüpfen von Beziehungen mit Personen mit gleichen Interessen, ohne dass dabei gleichzeitig die Historizität der Kontexte verloren gehen muss, auch wenn dies manchmal, wie gezeigt, den Anschein hat und nicht auszuschließen ist. Hierauf wird im nächsten Kapitel am Beispiel von Sophie Scholl noch näher eingegangen werden. Daneben wird deutlich, dass die von Vielfalt und Widersprüchlichkeit geprägten erinnerungskulturellen Diskurse über Stauffenberg und den 20. Juli sich auf Facebook fast ausschließlich zur eindimensionalen Heldenverehrung hin verengen.86 Die Teile von Stauffenbergs Biografie, die ihn als »Anti-Demokrat, Elitist und Nationalist«erscheinen lassen, verschwinden auf Facebook fast völlig hinter der überhöhten Heldenfigur Stauffenberg.87 Erinnerungskulturell finden sich hier also Anknüpfungspunkte an zwei Erinnerungsdiskurse. Zum einen an die Überdehnung der 1950er Jahre, die in Stauffenbergs Vorstellungen des Deutschlands ohne Hitler eine freiheitlich-demokratische Grundordnung sehen wollte. Es werden vor allem die moralisch-ethischen Beweggründe der Verschwörer hervorgehoben, während die außenpolitisch-militärischen Beweg85 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins – Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen. In: Geschichtsdidaktik 12 (1987), H. 2, S. 130–142. 86 Vgl. Peter Steinbach: Vermächtnis oder Verfälschung? Erfahrungen mit Ausstellungen zum deutschen Widerstand. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Für ein anderes Deutschland. Der deutsche Widerstand gegen den NS-Staat 1933–1945. Lizenzausg. 2005, S. 212–237, hier S. 232. 87 Richard J. Evans: Sein wahres Gesicht. Vor 65 Jahren tat der Hitler-Attentäter Graf von Stauffenberg das Richtige. Aber es ist falsch, den strikten Anti-Demokraten heute zum Superhelden zu verklären. Anmerkungen zum Start des Films »Operation Walküre«. In: Süddeutsche Zeitung Magazin vom 23. 1. 2009, S. 8–10, hier S. 10.
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gründe im Dunkeln bleiben.88 Zum anderen ist eine eindimensionale, auf die Person Stauffenberg fixierte Heldenverehrung feststellbar, die an eine Form der Heldenverehrung anknüpft, wie sie ein Bryan Singer oder ein Guido Knopp liefern.89 Der Facebook-Stauffenberg hat letztlich oft mehr mit diesen überzeichneten Stauffenberg-Figuren gemein als mit der historischen Person.
4.
Sophie Scholl und die Weiße Rose auf Facebook
Die wichtigste studentische Widerstandsgruppe der Kriegsjahre war die Weiße Rose in München, die für den zivilen Widerstand im hochmilitarisierten NSRegime steht.90 Das Lebenswerk von Sophie Scholl und der Widerstand der Weißen Rose im »Dritten Reich« sind bis heute in populären Erinnerungskulturen Symbole für beispielhafte Zivilcourage und das Auflehnen gegen eine verbrecherische Diktatur im politischen und im privaten Leben.91 Nach 1945 wurde in Deutschland die Weiße Rose in Teilen zu einem nachträglichen Alibi für die schweigende Mehrheit, indem ihr Scheitern die Ohnmacht und die Aussichtslosigkeit jeglicher Widerstandsaktionen belegen sollte.92 Bereits in dieser Phase der kollektiven Erinnerung entstand die Fixierung auf Sophie und Hans Scholl, wobei zu diesem Zeitpunkt Hans Scholl noch als der eigentliche Widerstandskämpfer galt. Beide Lebensläufe wurden aber bereits hier mit Legenden versehen, idealisiert und mit Motiven der Christus-Legende in Verbindung gebracht, was als Beginn eines Mythisierungsprozesses gelten kann.93 Bereits 1945 begann die Stilisierung von Sophie und Hans Scholl zu »Helden« und »halben Heiligen«94, die gekennzeichnet war von der Übersteigerung der Weißen Rose »gewissermaßen ins Überirdische«95. Von 1949–1955
88 Vgl. Klaus Jürgen Müller : 20. Juli 1944: Der Entschluß zum Staatsstreich. Berlin 2001. S. 5–7. 89 Guido Knopp/Anja Greulich/Mario Sporn: Stauffenberg. Die wahre Geschichte. München 2008. 90 Vgl. Detlef Bald: Die »Weiße Rose«. Von der Front in den Widerstand. 2. Aufl. Berlin 2009. S. 199. 91 Vgl. Kirsten Schulz: Sophie Scholl und die »Weiße Rose«, 2005, http://www.bpb.de/ge schichte/nationalsozialismus/weisse-rose/60941/vorwort, aufgerufen am 31. 1. 2015. 92 Vgl. Barbara Schüler : Im Geiste der Gemordeten. Die »Weiße Rose« und ihre Wirkung in der Nachkriegszeit. Paderborn 2000. S. 160. 93 Vgl. Ebd., S. 161–163. 94 Vgl. Peter Steinbach/Johannes Tuchel: Von »Helden« und »halben Heiligen«. Darstellungen und Wahrnehmungen der Weißen Rose 1943 bis 1948. In: Anneliese Knoop-Graf/Michael Kissener/Bernhard Schäfers (Hrsg.): »Weitertragen«. Studien zur »Weissen Rose««: Festschrift für Anneliese Knoop-Graf zum 80. Geburtstag. Konstanz 2001, S. 97–118. 95 Arno Klönne: Zur Traditionspflege nicht geeignet. Wie die deutsche Öffentlichkeit nach 1945 mit der Geschichte jugendlicher Opposition im »Dritten Reich« umging. In: Matthias von
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setzte sich dieser Prozess der Stilisierung von Heldentum und Martyrium fort und verband sich nun mit einer Politisierung der Aktionen der Weißen Rose.96 In den 1950er und 1960er Jahren versuchte die Zeitgeschichtsforschung die fortschreitende Mythisierung zu beenden, jedoch festigte sie sich trotzdem und fand Eingang ins kollektive Gedächtnis.97 In den 1970er Jahren ließ das Interesse nach, setzte aber in den 1980ern wegen der Publikation von quellenorientierten Darstellungen wieder ein.98 Die Weiße Rose und vor allem Sophie Scholl sind auf Facebook in vielfacher Form sehr präsent. Die Weiße Rose Stiftung hat eine gut gepflegte Facebookseite99. Auch Hans Scholl hat eigene Facebookseiten als Profilseiten100 oder als Person des öffentlichen Lebens101. Daneben haben teilweise auch andere prominente Mitglieder der Widerstandgruppe Facebookseiten, z. B. Christoph Probst102 oder Alexander Schmorell103. Die mit Abstand meisten Facebookseiten104 hat aber Sophie Scholl als das heute prominenteste Mitglied der Weißen Rose. Eine Facebookseite als »Person des öffentlichen Lebens« hat heute 5.681 Likes.105 Die Aktivitäten des Betreibers dieser Seite fallen größtenteils unter die Rubrik Erinnerungsposts. Am Geburtstag Sophie Scholls postete die Seite einen Link zur Plattform geboren.am, die kurze Artikel über bekannte Persönlichkeiten aus Geschichte, Kultur und Politik an deren Geburtstagen bietet. Am Todestag von Sophie Scholl postete der Betreiber der Seite folgenden Text: »›It is such a splendid, sunny day, and I have to go. But how many have to die on the battlefield in these days, how many young, promising lives … What does my death matter if by our acts thousands of people are warned and alerted. Among the student
96 97 98 99 100
101 102 103 104 105
Hellfeld/Wilfried Breyvogel (Hrsg.): Piraten, Swings, und Junge Garde. Jugendwiderstand im Nationalsozialismus. Bonn 1991, S. 295–310, hier S. 301. Vgl. Schüler (wie Anm. 92), S. 165. Vgl. ebd., S. 166–169. Vgl. ebd., S. 170–175. http://www.facebook.com/WeisseRoseStiftung, aufgerufen am 31. 1. 2015. Auswahl: http://www.facebook.com/hans.scholl.3914?ref=ts; http://www.facebook.com/ hans.scholl.39; http://www.facebook.com/hans.scholl.18; http://www.facebook.com/pro file.php?id=100001688213595; http://www.facebook.com/profile.php?id=1042885012; http://www.facebook.com/hans.scholl.1, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/pages/Hans-und-Sophie-Scholl/113268345426292, aufgerufen am 31. 1.2015. http://www.facebook.com/profile.php?id=100002449579303, aufgerufen am 31. 1. 2015. Auswahl: http://www.facebook.com/pages/Alexander-Schmorell/145710365478541; http:// www.facebook.com/alexander.schmorell.14; https://www.facebook.com/alexander.schmo rell.9, aufgerufen am 31. 1. 2015. Auswahl: http://www.facebook.com/sophiemscholl; http://www.facebook.com/sophie. scholl.524, http://www.facebook.com/sophie.scholl.7503, aufgerufen am 31. 1. 2015. http://www.facebook.com/pages/Sophie-Scholl/153462978017803, aufgerufen am 31. 1. 2015.
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body there will certainly be a revolt.‹ Today, may we honor her memory through words; because with words she fought, and for those brave words she gave her life.«106
Dies ist die kommentierte englische Übersetzung von Sophie Scholls letzten Worten, bevor sie zur Hinrichtung aus ihrer Zelle geführt wurde. Die Zellenpartnerin Else Gebel hatte diese gehört und im November 1946 in einem Brief an die Schwester Sophie Scholls, Inge Aicher-Scholl, geschrieben.107 Dieser Post wurde 62-mal geliket und hat kurze Reaktionen von Nutzern wie »Unvergessen auch nach 68 Jahren«108, »The sun still shines«109 oder »May she rest in peace ' Thanks '«110 hervorgerufen, aber auch längere Antworten wie die von Sarah Mettraux: »Sie war eine Heldin, wie man heute kaum finden kann. Wir müssen uns alle an die Ereignisse erinnern, die in dieser Zeit passierten, damit sie nie wieder geschehen. Sophie, wir werden nie vergessen!«111 Meinungsäußerungen und Würdigungen von Nutzern über Sophie Scholls Widerstand finden sich auf der gesamten Seite, z. B.: »A real hero. Really unforgotten«112 oder »What this young women did was a confirmation that decency and good exists no matter how dim the light of freedom glows. She is an inspiration to the human race.«113 Am Todestag von Sophie und Hans Scholl hatte ein Nutzer auch einen Text auf dem Blog It’s all for L.O.V.E. über Hans und Sophie Scholl verlinkt. Andere Nutzer verweisen auf YouTube-Videos114, Facebook-Gruppen115 zum Thema Widerstand oder auf aktuelle Literatur.116 Diese Facebookseite bietet auch ein Facebook-Fotoalbum.117 Die Nutzer106 http://www.facebook.com/SophieMagdalenaScholl/posts/190836037613830, aufgerufen am 31. 1. 2015. 107 Vgl. Inge Aicher-Scholl: The White Rose – Munich 1942–1943. 2. Aufl. Connecticut 1984. S. 138–147. 108 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=190836037613830& id=15346297801 7803& comment_id=2601734& offset=0& total_comments=10, aufgerufen am 31. 1. 2015. 109 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=190836037613830& id=15346297801 7803& comment_id=2596851& offset=0& total_comments=10, aufgerufen am 31. 1. 2015. 110 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=190836037613830& id=15346297801 7803& comment_id=2597100& offset=0& total_comments=10, aufgerufen am 31. 1. 2015. 111 http://www.facebook.com/SophieMagdalenaScholl/posts/190836037613830?comment_id =2596951& offset=0& total_comments=10, aufgerufen am 31. 1. 2015. 112 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=173516306012470& id=153462978 017803, aufgerufen am 31. 1. 2015. 113 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=363081763722589& id=153462978 017803, aufgerufen am 31. 1. 2015. 114 http://www.facebook.com/LoveisVegan/posts/487100104640833, aufgerufen am 31. 1. 2015. 115 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=156137277760784& id=153462978 017803, aufgerufen am 31. 1. 2015. 116 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=332428996834478& id=153462978 017803, aufgerufen am 31. 1. 2015. 117 http://www.facebook.com/media/set/?set=a.154219897942111.31821.153462978017803& type=3, aufgerufen am 31. 1. 2015.
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kommentare zu diesen Fotografien sind interessant, weil sie sich in auffälliger Weise eines Kommunikationsstils bedienen, der typisch ist für eine kommunikative Social-Web-Praxis und der hier wieder Eingang findet in eine Erinnerungskultur auf Facebook. Unter eine Fotografie, die Sophie Scholl auf einem Sessel sitzend und in ein Buch vertieft zeigt, kommentierte an deren Geburtstag ein Nutzer : »My Dear Sophie. Another birthday (91 today) I hope to meet you one day, when its my turn to go – until then sleep well, I know you are with your family again x x.«118 Wieder wird eine historische Person hier direkt in einem persönlichen Stil angesprochen, als ob es sich um einen Familienangehörigen oder engen Freund handeln würde. Neben Kommentaren, die wieder Bewunderung für Sophie Scholls Widerstand ausdrücken (z. B. »Bewunderung, nichts als Bewunderung vor diesem Mut«119, »Eine wundervolle Frau mit einem sehr kurzen Leben. Eine der wichtigsten Personen der Welt. Danke für den MUT«120 oder »Man kann viel von ihr lernen. Sie war eine starke Persönlichkeit '«121), ist ein weiterer immer wieder auftauchender Topos die Schönheit und die Frisur von Sophie Scholl. Ein Nutzer schrieb unter eine Fotografie, die die lachende Sophie Scholl im Badeanzug zeigt: »mir ist nie aufgefallen wie schön eigentlich Sophie Scholl war. Als Schülerin sah man nur die Intelligenz und den Mut, dass die Jugendlichen ihre Leben, ihre Jugend und ihre Schönheit opferten, ist an Idealismus nicht zu überbieten. Schöne, fröhliche Frau.«122 Andere Nutzer schrieben: »Man muss sie einfach lieben und ihre wunderbare Ausstrahlung weitertragen, hinaus in die Welt ! Ich liebe sie unendlich«123, »die Frisur könnnte auch von Mitte der 60ziger (»Tiffany«) oder Anfang der 80er (Punk) sein«124,
118 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=201110409919726& set=a.154219897942111.3 1821.153462978017803& type=1& comment_id=982727& offset=0& total_comments=5, aufgerufen am 31. 1. 2015. 119 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=166584393372328& set=a.154219897942111.3 1821.153462978017803& type=1& comment_id=388384& offset=0& total_comments=1, aufgerufen am 31. 1. 2015. 120 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=166584123372355& set=a.154219897942111.3 1821.153462978017803& type=1& comment_id=244489& offset=0& total_comments=1, aufgerufen am 31. 1. 2015. 121 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=166597280037706& set=a.154219897942111.3 1821.153462978017803& type=1& comment_id=443763& offset=0& total_comments=1, aufgerufen am 31. 1. 2015. 122 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=166584140039020& set=a.154219897942111.3 1821.153462978017803& type=1& comment_id=708176& offset=0& total_comments=2, aufgerufen am 31. 1. 2015. 123 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=166583913372376& set=a.154219897942111.3 1821.153462978017803& type=1& permPage=1, aufgerufen am 31. 1. 2015. 124 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=166584193372348& set=a.154219897942111.3 1821.153462978017803& type=1& comment_id=244353& offset=0& total_comments=2, aufgerufen am 31. 1. 2015.
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»Als Jungmädel in der HJ wollte sie taff wirken, wie man heute sagen würde«125 oder : »Ich bewundere diese Frau in jeder Hinsich. Ich mag es dass sie schon in den 30ern/40ern einen Sidecut hatte.«126 Hier wird immer wieder Bewunderung für Sophie Scholl als Widerstandskämpferin in Verbindung gebracht mit ihrem Aussehen, ihrer Ausstrahlung, ihrer Schönheit oder ihrer Frisur. So verbinden sich hier zwei Aspekte einer historischen Person, die nicht miteinander in Verbindung stehen. Ursächlich hierfür könnte ebenfalls der mediale Kontext sein. Denn in einer persönlichen und freundschaftlichen Kommunikation in einem sozialen Netzwerk wie Facebook ist es nichts Ungewöhnliches, die neue Frisur eines Facebookfreundes zu kommentieren. In anderen medialen Kontexten würde es befremdlich wirken, wenn die auf die Frisur bezogene Stilsicherheit einer Person hervorgehoben wird, die aufgrund ihres Engagements gegen eine verbrecherische Diktatur mit der Guillotine enthauptet wurde.127 In Erinnerungskulturen auf Facebook vollziehen sich so in einem kommunikativen Erinnerungsprozess in Form von Praktiken und Merkmalen der Kommunikation von Social-Network-Diensten neue Formen der kollektiven Erinnerung. Die Betonung der vermeintlichen geschlechtsspezifischen weiblichen Attribute (Schönheit, Ausstrahlung, Stilsicherheit) ist zwar auch außerhalb von Erinnerungskulturen im Social Web ein Faktor, aber nicht in dieser starken medienspezifischen Ausprägung.128 Denn auch wenn ihr Aussehen mit ihrer persönlichen Leistung im Widerstand nichts zu tun hat, scheint die ihr in der Erinnerungskultur auf Facebook zugesprochene Schönheit, Ausstrahlung und Stilsicherheit ihr Lebenswerk auf Facebook zu komplementieren. Eine hohe Nutzeraktivität hat auch eine andere Facebook-Gruppe zu Sophie Scholl.129 Auch hier spielt das Medium der Fotografie wieder eine große Rolle. Es finden sich hier Bilder von Mitgliedern der Weißen Rose130, der lesenden Sophie Scholl131 oder verschiedene Schnappschüsse.132 Und auch hier stehen in großem
125 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=166584193372348& set=a.154219897942111.3 1821.153462978017803& type=1& comment_id=252942& offset=0& total_comments=2, aufgerufen am 31. 1. 2015. 126 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=166584456705655& set=a.154219897942111.3 1821.153462978017803& type=1& comment_id=394802& offset=0& total_comments=2, aufgerufen am 31. 1. 2015. 127 Vgl. Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biografie. München 2010. S. 465. 128 Ein Beispiel hierfür könnte der Spielfilm »Sophie Scholl – Die letzten Tage« (2005) von Marc Rothemund sein. 129 http://www.facebook.com/groups/81792335586/, aufgerufen am 31. 1. 2015. 130 http://www.facebook.com/groups/81792335586/permalink/10151259656050587/, aufgerufen am 31. 1. 2015. 131 http://www.facebook.com/groups/81792335586/permalink/10151259656115587/, aufgerufen am 31. 1. 2015.
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Maße Sophies Aussehen und Ausstrahlung neben ihrer persönlichen Leistung im Widerstand im Zentrum der Kommentare, die »simply Beautiful«133 oder »she looks like a very beautiful girl and god bless her for what she did!«134 lauten. Sophie Scholl kommt auf dieser Facebookseite auch selbst zu Wort, denn Nutzer posten bekannte Zitate: »Das Gesetz ändert sich, das Gewissen nicht. The law will change, the conscience will not. – Sophia Magdalena Scholl«.135 Aber es sind nicht nur kurze Zitate, die auf dieser Facebookseite veröffentlicht werden. Auch Texte verschiedener Flugblätter der Weißen Rose136, der Text des Todesurteils gegen Hans und Sophie Scholl und Christoph Probst137 und die Begründung und das Gnadengesuch der Eltern Scholl auf Deutsch, Englisch und Spanisch138 werden gepostet. Dabei handelt es sich im Falle der deutschen Textfassungen nicht um Rückübersetzungen, sondern um den originalen Wortlaut der historischen Dokumente.139 Darauf erfolgte aber von Seiten der Nutzer keine Reaktion. Inhaltlich bleibt die Erinnerung an Sophie Scholl und die Weiße Rose auf Facebook also insgesamt sehr oberflächlich. Posts, die eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Art des Widerstands der Weißen Rose hätten auslösen könnten wie die Texte der Flugblätter werden von der Nutzergemeinschaft kollektiv ignoriert. So erschöpft sich die Erinnerung an den mutigen Widerstand jener, die eine Verantwortung empfanden und wahrnahmen, die die meisten hohen Funktionsträger und so mancher Gebildete seinerzeit abwehrte und ausschlug140, auf Facebook immer wieder in kurzen Würdigungs- und Bewunderungsäußerun132 http://www.facebook.com/groups/81792335586/permalink/10151259656300587/, aufgerufen am 31. 1. 2015. 133 http://www.facebook.com/groups/81792335586/permalink/10151259656300587/?comment_ id=10151259656990587& offset=0& total_comments=4, aufgerufen am 31. 1. 2015. 134 http://www.facebook.com/groups/81792335586/permalink/10151259656300587/?comment_ id=10151259657020587& offset=0& total_comments=4, aufgerufen am 31. 1. 2015. 135 http://www.facebook.com/groups/81792335586/permalink/10151259657360587/, aufgerufen am 31. 1. 2015. 136 http://www.facebook.com/groups/81792335586/permalink/10151259655920587/; http:// www.facebook.com/groups/81792335586/permalink/10151259655935587/; http://www. facebook.com/groups/81792335586/permalink/10151259655950587/; http://www.face book.com/groups/81792335586/permalink/10151259655980587/; http://www.facebook. com/groups/81792335586/permalink/10151259656005587/, aufgerufen am 31. 1. 2015. 137 http://www.facebook.com/groups/81792335586/permalink/10151259655880587/, aufgerufen am 31. 1. 2015. 138 http://www.facebook.com/groups/81792335586/permalink/10151259655870587/, aufgerufen am 31. 1. 2015. 139 Vgl. Inge Aicher-Scholl: Die Weiße Rose. Erweiterte Neuausgabe. 14. Aufl., Frankfurt/M 2012, S. 9–120. 140 Vgl. Peter Steinbach: »Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt …«. Widerstehen im Jahrhundert der Diktaturen. Der Widerstand der Geschwister Scholl als prägendes Erbe für das 21. Jahrhundert. In: Bernd H. Stappert (Hrsg.): »Tausend Jahre wie ein Tag …«. Das zweite Jahrtausend im Spiegel von zehn Tagen. Würzburg 2001, S. 202–226, hier S. 223.
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gen und bisweilen im Lob für Sophie Scholls Ausstrahlung und ihre Frisur. Der bereits nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland einsetzende Mythisierungsprozess, in dem Heldentum und Märtyrium von Sophie Scholl stilisiert werden, findet auf Facebook so eine medienspezifisch transformierte diskursive Fortsetzung, wird weiter verkürzt und verengt. Die Ursache hierfür ist sicherlich nicht per se im mangelndem Zeit- oder Historizitätsbewusstsein der Nutzer zu finden, sondern im medialen Kontext, das heißt, in der medialen Materialität von Facebook und den kommunikativen Praktiken des Social Web. Man muss davon ausgehen, dass der Kontext der Medialisierung des historischen Themas im situativen Umgang mit dem Medium Rückwirkungseffekte auf den Facebook-Nutzer hat. Zwischen Kommentaren und Posts der Facebookfreunde, die über ihre alltäglichen Belange schreiben, erscheint eine Fotografie der jungen Sophie Scholl in ebenfalls alltäglichen Situationen. Man muss vermuten, dass der mediale Kontext und die medienspezifischen kommunikativen Praktiken zu dem oben dargestellten Umgang mit einer historischen Person führen, der das Merkmal des Historischen in den Hintergrund treten und völlig neue Praktiken der Erinnerung entstehen lässt, die Teil von Erinnerungskulturen im Social Web sind. Dabei wird die historische Person scheinbar tendenziell zu einer Person der Gegenwart. So kann am Beispiel Sophie Scholl auf Facebook auch wieder gezeigt werden, wie in Erinnerungskulturen auf Facebook auf der Basis der Web 2.0-Technologien die interaktiven Möglichkeiten des Erinnerungsmediums und die multimedialen Potenziale ausgeschöpft werden. Das sehr gegenwartsbezogene Kommentieren von privaten Fotografien dient dabei auch bei Sophie Scholl vermutlich der Inszenierung einer eigenen Onlineidentität als Identitätsmanagement und dem Knüpfen von Beziehungen als Beziehungsmanagement, ohne dass dabei zwangsweise die Historizität der Kontexte verloren gehen muss, auch wenn dies nicht auszuschließen ist.
5.
Erwin Rommel auf Facebook
Als dritte Person sollen hier Erwin Rommel und seine Remedialisierung auf Facebook untersucht werden, um einen weiteren Beleg für die These dieses Beitrages zu liefern, dass sich im Social Web neue Formen der kollektiven Erinnerung etablieren, die als medienspezifische Transformationen populärer Erinnerungsdiskurse zu verstehen sind. Noch 1952 feierte der Innenminister Baden-Württembergs Fritz Ullrich den ehemaligen Generalfeldmarschall der Wehrmacht Erwin Rommel als »den populärsten Heerführer und großen Sohn des Schwabenlandes«.141 Erwin 141 Stuttgarter Zeitung vom 15. September 1952; zitiert nach Günter Riederer : Hitlers Krieger
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Rommel war nach dem Zweiten Weltkrieg für die junge Bundesrepublik eine schillernde Integrationsfigur, in der der von der NS-Propaganda inszenierte Afrika- und Rommel-Kult fortlebte. Auch nach dem Krieg wurde er weiterhin als genialer Stratege, ritterlicher Held, heroischer Widerstandskämpfer oder nationalsozialistischer Wehrmachtsgeneral propagiert, was vor allem in Spielfilmen geschah, die weitgehend widerspruchslos den Inhalt und die Ästhetik filmischer NS-Propagandabilder übernahmen. Im »Mythos Rommel« um die historische Figur ließen sich Wahrheit und Fiktion kaum mehr unterschieden.142 Seine Rolle im Attentat vom 20. Juli ist umstritten, da sich aus den heute noch vorliegenden Quellen darüber kaum klare Erkenntnisse gewinnen lassen.143 Sicher ist, dass Rommel dem Diktator Adolf Hitler fast bis zum Ende des Krieges loyal diente und sich erst gegen seinen »Führer« stellte, als er davon überzeugt war, dass der Krieg für Deutschland nicht mehr zu gewinnen war.144 Rommel hatte Kenntnis von den Kriegsverbrechen an der Ostfront und vom Holocaust, wenn auch nicht in ihren vollen Ausmaßen.145 Erst Ende Juli 1944 hatte er die uneingeschränkte Bereitschaft zu staatsstreichartigen Maßnahmen bekundet, ein Attentat auf Hitler lehnte er jedoch ab, da die Ermordung des verfassungsmäßigen Staatsoberhaupts für ihn nicht in Frage kam, weshalb er an den Vorbereitungen des Anschlags auch nicht beteiligt war.146 Aber er wusste, dass die Verschwörung des 20. Juli zu Friedensverhandlungen führen sollte147, was aus militärischen Gründen seinen Vorstellungen entsprach und ihn am Ende auch das Leben kostete.148 Es existieren für Erwin Rommel auf Facebook zahlreiche Facebookseiten als Profile149 und »Person des öffentlichen Lebens«150, die sich auf ihn als historische Persönlichkeit beziehen. Auch auf diesen Facebookseiten ist das Medium der
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im Wüstensand. Zur medialen Konstruktion des militärischen Mythos Rommel. In: Fabio Crivellari/Sven Grampp (Hrsg.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive. Konstanz 2004, S. 569–588, hier S. 569. Vgl. ebd., S. 569 und 579. Vgl. David Fraser : Rommel. Die Biographie. Überarbeitete und ergänzte Fassung, Sonderausgabe. München 2001, S. 546. Vgl. David Fraser: Generalfeldmarschall Erwin Rommel. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Hitlers militärische Elite. Darmstadt 1998, S. 184–193, hier S. 184–189. Vgl. Fraser (wie Anm. 143), S. 548. Vgl. ebd, S. 553–554. Vgl. ebd, S. 553–554. Vgl. Maurice Philip Remy : Mythos Rommel. München 2002, S. 326. Auswahl: http://www.facebook.com/profile.php?id=100001613733031; http://www.face book.com/erwinjohanneseugen.rommell; http ://www.facebook.com/profile.php ?id= 100003623370994, aufgerufen am 31. 1. 2015. Auswahl: http://www.facebook.com/pages/General-Erwin-Desert-Fox-Rommel/11418524 5259611; http://www.facebook.com/pages/Field-Marshal-Erwin-Rommel/211239418968 075; http://www.facebook.com/pages/Erwin-Johannes-Eugen-Rommel/211253735596126, aufgerufen am 31. 1. 2015.
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Fotografie ein zentrales Element. Erwin Rommel erscheint als junger Mann151, in seltenen Farbfotografien152, im Gefecht153 oder im Handschlag mit Adolf Hitler.154 Selten werden Fotografien kommentiert. Wenn dies der Fall ist, dann ist die Tendenz der Kommentare immer eine ähnliche, wie in einer Farbfotografie, die Erwin Rommel im Gespräch mit anderen Offizieren zeigt: »One of the few Nazis that wasn’t evil. He was a hero.«155 Kommentare ähnlichen Wortlautes finden sich auch an anderer Stelle wieder.156 Betreiber dieser Seiten posten Kommentare wie »respect the desert fox!!!!«157, während Nutzer sich ähnlich positionieren wie in diesem Post: »don’t mess with him. He is a no nonsense general. The Best of the Best. Fighting for his country. All his allied general called him the Desert Fox. A very intelligent war strategist. He also can not tolerant tyrant. Eventually he was in a coup to dethrone Hitler.«158
Auch andere Posts machen diese Haltung der Verehrung deutlich, etwa wenn eine Abbildung seiner Totenmaske159 oder eine Fotografie, die seine Kappe, seine Handschuhe und seinen Kommandostab zeigt160, gepostet werden. Ebenso sind Verlinkungen zu YouTube ein Grundbaustein dieser Facebookseiten. Auffällig ist bei den verlinkten Videos161, dass die meisten bis auf wenige Ausnahmen162 151 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=307285689310351& set=a.307278612644392.6 8413.307255862646667& type=3& theater, aufgerufen am 31. 1. 2015. 152 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=133285093470117& set=a.113736702091623.1 6752.100003658824962& type=1, aufgerufen am 31. 1. 2015. 153 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=307278615977725& set=a.307278612644392.6 8413.307255862646667& type=3& theater, aufgerufen am 31. 1. 2015. 154 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=307279889310931& set=a.307278612644392.6 8413.307255862646667& type=3& theater, aufgerufen am 31. 1. 2015. 155 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=462509677093831& set=a.376344029043730. 96775.114185245259611& type=1& comment_id=1428454& offset=0& total_comments= 2, aufgerufen am 31. 1. 2015. 156 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=460146153996850& id=114185245 259611, aufgerufen am 31. 1. 2015. 157 http://www.facebook.com/r01584070w/posts/472825852757754, aufgerufen am 31. 1. 2015. 158 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=438765879468211& id=114185245 259611, aufgerufen am 31. 1. 2015. 159 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=181956288597370& id=211239418 968075, aufgerufen am 31. 1. 2015. 160 http://www.facebook.com/photo.php?fbid=3583023408461& set=o.114185245259611& type=1, aufgerufen am 31. 1. 2015. 161 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=301719256561181& id=114185245 259611; http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=266352250106450& id=11 4185245259611; http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=484451098236607 & id=154449007903769; http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=32775232 7277128& id=154449007903769, aufgerufen am 31. 1. 2015. 162 http://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=151755724957297& id=211239418 968075, aufgerufen am 31. 1. 2015.
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keine Informationen beinhalten, sondern Zusammenschnitte von Filmaufnahmen von Erwin Rommel bieten, die mit pathetischer Musik unterlegt sind. Die auf Facebook präsentierten Videos und Fotografien übernehmen weitestgehend die Ikonografie des »Mythos Rommel« und die Posts und Kommentare die legendenartige Erzählung vom guten, unpolitischen General, der von einer böswilligen nationalsozialistischen Führung missbraucht worden war. Die Bilder von Rommel erzählen von vermeintlich positiv konnotierten Sekundärtugenden wie Pflichtbewusstsein, Dienstethos, Opferbereitschaft und Kameradschaft und verschweigen die verbrecherische Dimension des Krieges, den die Wehrmacht geführt hatte.163 Es setzt sich hier auf Facebook ein Erinnerungsdiskurs fort, der seinen Ursprung bereits in den 1950er Jahren hat, als Spielfilme über Rommel wie »Rommel, der Wüstenfuchs«164 oder »Die Wüstenratten«165 ohne Hinweise auf Auschwitz und den Genozid arbeiteten und damit eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs erzählten, die den verbrecherischen Charakter des Vorgehens der Wehrmacht ausblendete, den Völkermord aus dem Bewusstsein der Deutschen in den Jahren des Wiederaufbaus verdrängte und in der Filmfigur Rommel die ungeliebte nationalsozialistische Vergangenheit entsorgte. Diese Filme trennten zwischen sauberer Wehrmacht und verbrecherischer SS, in der fanatische Nazis das Böse verkörperten und ihnen der vermeintlich unschuldige, vom Schicksal in den Krieg getriebene deutsche Soldat gegenüber gestellt wurde.166 Im Film ist die Geschichte Rommels eine Opfer- und Heldengeschichte, in der Viktimisierung und Heroisierung zentrale Muster darstellen.167 Die Filmfigur Rommel ist die populärste Form vom Bild des politisch missbrauchten Soldaten der deutschen Wehrmacht, das zum Bestandteil des Gründungsmythos der Bundesrepublik wurde.168 Der »Mythos Rommel« hat in den Spielfilmen der 50er Jahre seine formative Phase durchlaufen, wirkt aber bis hinein in neuere Fernsehdokumentationen wie in die 1998 von Guido Knopp produzierte Reihe »Hitlers Krieger«169, die auch von Knopp produzierte Dokumentation »Entscheidungsschlacht El Alamein« von 2001 aus 163 Vgl. Riederer (wie Anm. 141), S. 580. 164 Henry Hathaway : Rommel, der Wüstenfuchs. The Desert Fox: The Story of Rommel. USA 1951. 165 Robert Wise: Die Wüstenratten. The Desert Rats 1953. 166 Vgl. Riederer (wie Anm. 141), S. 583. 167 Vgl. Thomas Kühne: Die Viktimisierungsfalle. Wehrmachtsverbrechen, Geschichtswissenschaft und symbolische Ordnung des Militärs. In: Michael Greven/Oliver von Wrochem (Hrsg.): Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik. Opladen 2000, S. 183–196, hier S. 184–187. 168 Vgl. Detlef Bald: Kämpfe um die Dominanz des Militärischen. In: Detlef Bald/Johannes Klotz/Wolfram Wette: Mythos Wehrmacht. Nachkriegsdebatten und Traditionspflege. Berlin 2001, S. 17–65, hier S. 19–22. 169 Guido Knopp: Hitlers Krieger 1998.
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der Serie »Der Jahrhundertkrieg«170 oder die 2002 in der ARD ausgestrahlte dreiteilige Serie »Mythos Rommel«171 und ist auch auf Facebook in einer medienspezifischen Transformation wieder präsent. Der »Mythos-Rommel«, der Rommel als genialen Strategen, ritterlichen Helden, heroischen Widerstandskämpfer und unpolitischen Wehrmachtsgeneral konstruiert, findet so auf den entsprechenden Facebookseiten eine medienspezifische diskursive Fortsetzung sowohl in visuell-ästhetischer als auch in inhaltlicher Hinsicht.
6.
Schluss
Erik Meyer vertritt die These, dass in einer Erinnerungskultur 2.0 der Historiker als Instanz in den Hintergrund tritt und Geschichte hier nicht vermittelt, evaluiert oder eingeordnet wird.172 Für diese These finden sich auf den vorgeführten Facebookseiten zu Claus Stauffenberg, Sophie Scholl und Erwin Rommel wie gezeigt etliche Belege. Claus Leggewie stellt fest, dass Erinnerungskultur 2.0 auch bedeutet, dass zunehmend individuelle und auch inkommensurable und idiosynkratische Geschichten erzählt werden, die sich nur schwer unter ein stringentes historisches Paradigma subsumieren lassen.173 Außerhalb der Seiten von Institutionen des kollektiven Gedächtnisses sind auf Facebook oft Laien direkt involviert und präsentieren eine Vielzahl von Vergangenheitsdeutungen, die sich nur schwer oder gar nicht unter ein stringentes historisches Paradigma subsumieren lassen. Auch Rosemarie Beiers These, dass Erinnerung in den Neuen Medien oft subjektiv, ungeordnet und eigensinnig ist, kann für die gezeigten Facebookseiten voll bestätigt werden.174 Die Ergebnisse der Analyse der hier dargestellten Facebookseiten zu Claus Stauffenberg, Sophie Scholl und Erwin Rommel sollen hier abschließend in zwei Thesen zusammengefasst werden, deren allgemeine Gültigkeit für andere »Personen des Dritten Reiches« und für andere Social-Web-Plattformen noch zu überprüfen ist.175 170 Guido Knopp: Der Jahrhundertkrieg 2001. 171 Maurice Philip Remy : Mythos Rommel 2002. 172 Vgl. Erik Meyer : Erinnerungskultur 2.0? Zur Transformation kommemorativer Kommunikation in digitalen, interaktiven Medien. In: Erik Meyer (Hrsg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien. Frankfurt am Main, New York 2009, S. 175–206. S. 203. 173 Vgl. Claus Leggewie: Zur Einleitung: Von der Visualisierung zur Virtualisierung des Erinnerns. In: Meyer (wie Anm. 172), S. 22. 174 Vgl. Rosemarie Beier: Geschichte, Erinnerung und Neue Medien Überlegungen am Beispiel des Holocaust. In: Rosmarie Beier (Hrsg.): Geschichtskultur in der zweiten Moderne. Frankfurt 2000, S. 299–323. hier S. 315. 175 Im Rahmen meines Promotionsprojektes »Erinnerungskulturen Social Web: Kollektive
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1. Auf Facebookseiten mit Bezug zu historischen Personen des »Drittes Reichs« finden Erinnerungsdiskurse in medienspezifischen Transformationen Fortsetzungen, deren Ursprung sich teilweise bis in die 1940er Jahre zurückverfolgen lässt. Der von Vielfalt und Widersprüchlichkeit geprägte erinnerungskulturelle Diskurs über Stauffenberg und den 20. Juli 1944 verengt sich auf Facebook hin zur eindimensionalen Heldenverehrung, in der Stauffenbergs antidemokratische, elitäre und nationalistische Züge hinter dem Konstrukt einer überhöhten Heldenfigur zurückbleiben, wie sie auch in anderen populären Erinnerungsmedien konstruiert wird. Auch im Fall von Sophie Scholl findet ein Erinnerungsdiskurs auf Facebook seine Fortsetzung, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland einsetzte und sich in einem Mythisierungsprozess ausdrückt, in dem Heldentum und Martyrium von Sophie Scholl stilisiert wurden. Ebenso wird der »Mythos Rommel« auf Facebook fortgesetzt, der ihn als genialen Strategen, ritterlichen Helden, heroischen Widerstandskämpfer und unpolitischen Wehrmachtsgeneral erscheinen lässt. 2. Die Erinnerung an historische Personen des »Dritten Reichs« auf Facebook ist stark geprägt vom medialen Kontext, das heißt von der spezifischen medialen Materialität von Facebook und den kommunikativen Praktiken des Social Web. Der mediale Kontext hat starke Rückwirkungseffekte auf Erinnerungskulturen im Social Web. Hochzeitsbilder und andere private Aufnahmen von Stauffenberg sind beliebt und werden häufig geteilt, kommentiert und geliket. Auch Fotografien der jungen Sophie Scholl sind sehr beliebt und werden vielfach mit Kommentaren zu Schönheit, Ausstrahlung und Stilsicherheit versehen. Historische Personen werden auf Facebook tendenziell zu Personen der Gegenwart, deren Hochzeits-, Familien- und Jugendbilder man betrachten, liken, teilen und kommentieren kann. Die Differenz zwischen Personen der Gegenwart und historischen Personen ist im Erinnerungsmedium Facebook so teilweise relativ gering. Die Ursache hierfür ist aber sicherlich nicht pauschal in einem mangelnden Zeit-, Wirklichkeits- oder Historizitätsbewusstsein der Nutzer zu suchen, sondern in der Materialität des Mediums als Folge der Web-2.0-Techno-
Gedächtnisprozesse und kommunikative Erinnerung zu Nationalsozialismus und Holocaust in Social-Network-Diensten« (Arbeitstitel) erforsche ich an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), wie im Social Web zum einen Institutionen des kulturellen Gedächtnisses wie Museen und Gedenkstätten ihrem geschichtspolitischen Auftrag innovativ Rechnung tragen und zum anderen wie Privatpersonen unterschiedlichste Geschichtsbilder und Geschichtsdeutungen in verschiedensten Social Web Medien (u. a. Twitter, Facebook, Pinterest, Instagram) präsentieren. Historische Orte, Institutionen, Ereignisse und Personen des »Dritten Reichs« sind dabei die inhaltlichen Bezugspunkte. Vgl. http ://www.geschichtsaneignung.ovgu.de/Projekte/Internet/Erinnerungskulturen +Social+Web.html.
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logien und in den kommunikativen Praktiken des Social Webs, wie u. a. Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement. Das hier Dargestellte kann eine Kernthese meines Promotionsprojektes bestätigen: Erinnerungskulturen im Social Web zur Geschichte des »Dritten Reiches« sind zum einen als Produkt einer Geschichte der deutsch-europäischen Erinnerung und zum anderen als ein Ergebnis der Materialität des Erinnerungsmediums und der kommunikativen Praktiken zu verstehen und zu analysieren. So entstehen auf Facebook neue Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Teil von Erinnerungskulturen im Social Web.
Autorinnen und Autoren
Anne Albers, Doktorandin am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte der GeorgAugust-Universität Göttingen, z. Z. im Vorbereitungsdienst Dr. Christiane Bertram, abgeordnete Lehrerin am Hector-Institut für empirische Bildungsforschung der Eberhard Karls Universität Tübingen Hannes Burkhardt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Gerhard Henke-Bockschatz, Professor für Didaktik der Geschichte an der Goethe Universität Frankfurt/M. Etienne Schinkel, M. Ed., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Didaktik für Geschichte der Georg August-Universität Göttingen Max Twickler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Geschichtskultur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Marc Ullrich, M. Ed. Doktorand am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität Berlin Britta Wehen-Behrens, M. Ed., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg