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German Pages [227] Year 2019
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik
Band 19
Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand: Thomas Sandkühler, Michele Barricelli, Monika Fenn, Markus Bernhardt und Astrid Schwabe
Christine Pflüger (Hg.)
Die Komplexität des kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts Aktuelle geschichtsdidaktische Forschungen
Mit 12 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5391 ISBN 978-3-7370-1030-6
Inhalt
Christine Pflüger (Universität Kassel) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Schülerinnen und Schüler im Fokus der geschichtsdidaktischen Forschung Jan Scheller (Fachhochschule Nordwestschweiz) Rekonstruktion historischer Denkoperationen: Schüler/-innen und Studierende analysieren Intentionen und Orientierungsabsichten eines Plakats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andrea Kolpatzik (Ruhr-Universität Bochum) »Also mich persönlich hat das jetzt mit dem Jubel und Applaus an die Sportpalastrede erinnert«. Werturteilsbildung im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Viola Schrader (Universität Münster) Schülerinnen und Schüler vergleichen kontroverse Historikerpositionen. Zum Zusammenhang historischen Denkens und sprachlichen Handelns .
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Isabelle Nientied (Universität Münster) »›Gut‹ ist ja auch sehr subjektiv«: Schülerkonzepte von gelungenem Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Geschichtslehrkräfte im Fokus der geschichtsdidaktischen Forschung Christian Heuer / Mario Resch (PH Heidelberg) Zur Entwicklung geschichtsdidaktischer Kompetenzen angehender Lehrpersonen während der zweiten Phase der Lehramtsausbildung
. . .
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Inhalt
Inga Kahlcke (Georg-August-Universität Göttingen) Berufsbezogene Überzeugungen in der schriftlichen Leistungsbeurteilung durch Geschichtslehrkräfte – ein Fallbeispiel . . . . 113
III. Unterrichtsmedien Benjamin Bauer (Universität Bamberg) »Die Entscheidung für ein Geschichtsbuch ist auch ein politischer Akt« – Geschichtskulturelle Hegemonie und Schulgeschichtsbücher im Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Christoph Wilfert (Universität Köln) Schulbuchbilder als Teil multimodaler historischer Narrationen. Überlegungen zu einer diskurstheoretischen Betrachtung und Analyse von Bildern in Geschichtsschulbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
IV. Konzepte des Geschichtsunterrichts Johanna Sachse (Universität Bremen) »Dann war das doch was ganz anderes als wir dachten« – Konzeptveränderungen bei Schülerinnen und Schülern im Rahmen der Durchführung einer archäologischen Ausgrabung . . . . . . . . . . . . . 173 Corinna Link (Georg-August-Universität Göttingen) »Der deutsche« und »der englische« Blick auf »Imperialismus/Imperialism«: Concept Mapping als Methode zur Erfassung kultureller Geschichtsbilder im bilingualen Unterricht . . . . . 191 Philipp McLean (Universität Frankfurt) Normative Ansprüche an den Geschichtsunterricht – Mündigkeit als Zielvorstellung der historischen Bildung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Christine Pflüger (Universität Kassel)
Einleitung
Der competency-turn1 war ein Paradigmenwechsel, der auch in der Geschichtsdidaktik zu neuen Fragestellungen und neuen methodischen Ansätzen der empirischen Erforschung des Geschichtsunterrichts führte.2 Dennoch »wissen wir immer noch zu wenig über das Phänomen Geschichtsunterricht«,3 wie Meik Zülsdorf-Kersting erst kürzlich wieder betonte. Die in diesem Band versammelten Beiträge widmen sich folglich einem zentralen Desiderat. Die aktuellen Forschungsprojekte zum kompetenzorientierten Geschichtsunterricht haben die komplexen Wechselwirkungen des Unterrichtsgeschehens im Blick und wählen für eine vertiefende Analyse in der Regel einzelne Segmente des Geschehens aus. Für die Erforschung des historischen Denkens bei Schülerinnen und Schülern wird dabei auf die derzeit vorliegenden Kompetenzmodelle für Strukturen und Dynamiken historischen Denkens und Lernens zurückgegriffen, während zur professionellen Kompetenz von Geschichtslehrpersonen noch kein fachspezifisches Modell vorhanden ist.4 Einige der Projekte machen sich daher auf der Basis empirischer Erforschung von Dimensionen des Lehrerhandelns auf den Weg der Theoriebildung. Auch die Zusammenhänge zwischen historischem Denken und sprachlichem Handeln im Unterrichtskontext stehen unter verschiedenen Vorzeichen im Fokus. So ruft etwa das Unterrichtskonzept des bilingualen Unterrichts regelmäßig die Frage nach dem Mehrwert der Mehrsprachigkeit für die Entwicklung des historischen Denkens hervor. Das Forschungsinteresse gilt daher unter anderem der Konzeptbildung und dem Umgang mit Konzepten, die hinter historischen und historiographischen Begrifflichkeiten stehen. Aber auch die Analyse von Schülerinnen- und Schüleräußerungen im Hinblick auf die Formulierung von Werturteilen oder die Untersuchung der sprachlich repräsentierten Per1 2 3 4
Ziegler 2019, S. 19. Als prominentes Beispiel sei hier nur auf Gautschi 2009, S. 26, verwiesen. Zülsdorf-Kersting 2019, S. 175. Waldis/Nitsche/Marti/Hodel/Wyss 2014, S. 47.
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spektivität historischen Denkens spüren dem Verhältnis von Sprache und historischem Denken nach. Die mediale Dimension der Vermittlung historischer Fragestellungen wird in der aktuellen Forschung nicht allein durch Schulbücher (sowohl für den deutschsprachigen als auch für den bilingualen Unterricht) repräsentiert. Auch Arrangements der experimentellen Archäologie und die Partizipation von Schülerinnen und Schülern an Forschungsgrabungen eröffnen hier neue Perspektiven. Sowohl Schulbücher als auch archäologische Grabungen, Erkenntnisse und Deutungen spielen aber nicht allein für das methodische Repertoire des Unterrichts eine Rolle, sondern sind als mediale Träger des kulturellen Gedächtnisses auch auf spezifische Weise in den geschichtskulturellen Diskurs eingebettet. In Anlehnung an das »Handbook of Research on Teaching« (2002) ordnete Peter Gautschi die Erforschung des Geschichtsunterrichts fünf Forschungsrichtungen zu, von denen durch die hier vorgestellten Projekte zumindest vier – die Phänomenforschung, die Interventionsforschung, die Wirkungsforschung sowie die Forschung zum historischen Denken und Lernen – vertreten sind.5 Dennoch stehen schwerpunktmäßig auch Akteure, Medien oder Konzepte des Unterrichts im Zentrum der Aufmerksamkeit. So untersucht Jan Scheller Prozesse historischen Denkens von Schülerinnen und Schülern am Beispiel des Umgangs mit Quellen. Dies sei eine der zentralen »Operationen«, die sowohl in unterschiedlichen Kompetenzmodellen als auch in Überlegungen zu den Erkenntnisschritten im Geschichtsunterricht verankert sei. Er stellt die Ergebnisse seiner Pilotstudie vor, die auf der Grundlage eines mixed-methods-Ansatzes vorgenommen wurde. Seine Probandinnen und Probanden sollten die Intention eines Plakats erschließen und damit eine Denkoperation vollziehen, die komplexes historisches Denken erfordert. Scheller konnte bislang fünf verschiedene Typen von Herangehensweisen ausmachen, die zu jeweils unterschiedlichen Analysen und Deutungen der Quelle durch die Schülerinnen und Schüler führten. Den Zusammenhängen der Werturteilsbildung bei Schülerinnen und Schülern – die im Unterricht häufig nach einer kritischen Quellenanalyse angestrebt wird – nähert sich Andrea Kolpatzik mittels der Analyse von Sprachhandlungen im Rahmen einer explorativen Studie. Ihre ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Jugendlichen zwar in der Lage sind, den suggestiven Charakter einiger im Unterricht analysierten Geschichtsdarstellungen zu erkennen, die Formulierung von Werturteilen im geschichtsdidaktischen Sinne ihnen jedoch schwer falle. Andrea Kolpatzik leitet daraus letztlich die Notwendigkeit ab, die Formulierung von Aufgabenstellungen entsprechend weiterzuentwickeln. 5 Gautschi 2009, S. 104ff.; Gautschi 2007, S. 31ff.
Einleitung
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Viola Schrader untersucht den Zusammenhang zwischen historischem Denken und sprachlichem Handeln mittels der Analyse von Schülersprache in schriftlichen Äußerungen. Die Probandinnen und Probanden sollten kontroverse Positionen der historischen Forschung vergleichen. Als erstes Ergebnis konnte die Autorin vier Typen der Repräsentation von Perspektivität in Schülersprache identifizieren. Methodisch entwickelt Schrader für ihre Untersuchung eine Kombination von funktional-linguistischer Theorie und kognitiver Linguistik, und orientiert sich dabei an Carla van Boxtels und Jeannette van Dries Modell des »historical reasoning«. Ausgehend von der Hypothese, dass die Wahrnehmung und Beurteilung von Geschichtsunterricht durch Schülerinnen und Schüler einen signifikanten Einfluss auf deren Lernprozesse haben, untersucht Isabelle Nientied Schülerkonzepte von gelungenem Geschichtsunterricht bzw. Schülerkriterien für guten Geschichtsunterricht. Neue Erkenntnisse darüber könnten eine Hilfe für die Weiterentwicklung des Unterrichts seitens der Lehrenden darstellen, so Nientied. Sie entwickelt das Konzept der »subjektiven Qualitätskonzepte«, um eine Verwechslung mit dem »Werturteil« zu vermeiden, und erstellt eine Typologie der beobachteten subjektiven Qualitätskonzepte. Eine freundliche und kompetente Lehrkraft, gut strukturierter Unterricht sowie Möglichkeiten, durch eigene Aktivitäten die Beschäftigung mit Geschichte voranzubringen, seien einige der Gütekriterien, die Schülerinnen und Schüler an den Geschichtsunterricht anlegen. Die Auffassungen von »kompetent« für den Geschichtsunterricht können freilich – je nach Perspektive – sehr unterschiedlich sein. So untersuchen Christian Heuer und Mario Resch beispielsweise die geschichtsdidaktischen Kompetenzen von Geschichtslehrpersonen im Vorbereitungsdienst, d. h. in der zweiten Ausbildungsphase. In der Kompetenzdebatte mit Blick auf die Lehrkräfteausbildung werde, so Heuer und Resch, die Fachlichkeit häufig marginalisiert. Sie empirisch zu fassen zu bekommen stelle daher ein wichtiges Forschungsdesiderat dar. Die beiden untersuchen die fachspezifische Kompetenzentwicklung bei Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern sowie den Einfluss der Fachspezifik auf deren Unterrichtshandeln, epistemische Überzeugungen und Selbstverständnis, kurz: das Verhältnis zwischen Fachwissen und geschichtsdidaktischem Wissen und Können angehender Lehrkräfte. Heuer und Resch kommen zu dem Schluss, das Problem des »Bruchs« zwischen »Wissen und Können« sei noch nicht gelöst; geschichtsdidaktisches Wissen spiele aber eine zentrale Rolle für die Problemwahrnehmung. Inga Kahlke beleuchtet individuelle Praktiken von Lehrkräften in ihrer Komplexität, um die dahinterstehende Eigenlogik von Bewertungsentscheidungen zu verstehen. Sie interessiert sich in ihrer Studie dafür, wie Geschichtslehrkräfte vorgehen, wenn sie Leistungen von Schülerinnen und Schü-
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lern beurteilen, welche Aufgabenstellungen sie dafür verwenden, welche Kriterien sie bei der Bewertung anlegen. Kahlke vermutet hier einen Zusammenhang zwischen diesen Entscheidungen und den individuellen Überzeugungen der Lehrkräfte. Darüber hinaus nimmt sie an, dass Lehrkräfte ihre »beliefs« im Zuge der Leistungsbewertung implizit an die Lernenden vermitteln. Anhand der Untersuchung des Vorgehens bei der Bewertung von schriftlichen Klassenarbeiten konnte sie als vorläufiges Ergebnis herausarbeiten, dass Lehrkräfte je nach Kontext ein positivistisches oder auch ein konstruktivistisches Geschichtsverständnis zur Grundlage der Bewertung von Schülerleistungen machen. Welche Rolle das Geschichtsverständnis von ministeriellen Gutachtern auf der einen Seite, der Fachautoren-Teams auf der anderen bei der Aushandlung der Inhalte von Schulgeschichtsbüchern spielt, zeigt Benjamin Bauer auf. Schulgeschichtsbücher seien ein Unterrichtsmedium, über das »geschichtskulturelle Hegemonie« ausgehandelt werde, so Bauer. Diese Aushandlungsprozesse stehen im Fokus seiner Untersuchung. Er analysiert die Konflikte um die Darstellung und Deutung der Zeit des Nationalsozialismus, die im Rahmen des Prüfverfahrens für die Zulassung bayerischer Schulgeschichtsbücher in den Jahren 1949 bis 1974 zwischen den verschiedenen Instanzen ausgetragen wurden. Die endgültigen Fassungen der Schulgeschichtsbücher entstanden in zum Teil zähen Auseinandersetzungen zwischen ministeriellen Gutachtern auf der einen Seite, Autorenteams auf der anderen. In diesen Auseinandersetzungen spielten die Geschichtsbilder und Interpretationen der historischen Zusammenhänge durch die am Verfahren Beteiligten eine große Rolle. Benjamin Bauer zeigt an einem Beispiel eindrücklich auf, wie das Autorenteam versucht, durch Umformulierungen letztlich doch seine Position in der Schulbuchdarstellung unterzubringen. Während Benjamin Bauer den Prozess der Entstehung der darstellenden Texte untersucht, widmet sich die Studie von Christoph Wilfert der Identifikation von »geschichtskulturell dominanten Visualisierungsmustern« und Bildverwendungsstrategien in Schulgeschichtsbüchern. Anknüpfend an den visual turn und neuere Bildtheorien beobachtet er, wie durch die Kontextualisierung von Akropolis-Darstellungen in Schulgeschichtsbüchern kulturelle Verwandtschaftslinien zwischen dem antiken Griechenland und heute konstruiert werden. Dass für die Konstruktion solcher Traditionslinien der westeuropäische Philhellenismus des 18. und 19. Jahrhunderts eine tragende Rolle spielte, werde in den Schulbüchern, so Wilfert, freilich nicht erwähnt. Obwohl die Archäologie und ihre Erkenntnisse in gängigen öffentlichen Medien quasi omnipräsent seien, gebe es noch erstaunlich wenig Untersuchungen zum Potential einer Einbeziehung der Archäologie in den Geschichtsunterricht, konstatiert Johanna Sachse. Sie nimmt sich in ihrer Studie daher dieses Desiderats an. Mit zwei verschiedenen Gruppen aus Schülerinnen und
Einleitung
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Schülern arbeitet sie dazu an zwei unterschiedlichen Grabungsorten. Während es sich bei Kalkriese um eine »pädagogische Grabung« im Sinne experimenteller Archäologie handelt, sind die Schülerinnen und Schüler am zweiten Grabungsort an einer realen Grabung auf dem sogenannten »Schützenhof«-Gelände beteiligt. Das Gelände gehörte gegen Ende des zweiten Weltkriegs zum Konzentrationslager Neuengamme, aktuell werden dort Reste der Barackenanlage freigelegt. Sowohl Autofotografien, die die Jugendlichen während der Grabungen aufnehmen, als auch audiografierte Gruppendiskussionen werden anschließend qualitativ-rekonstruktiv ausgewertet und gewähren Einblicke in historische Denkprozesse der Schülerinnen und Schüler. Forschungsbedarf besteht nach wie vor auch zum bilingualen Geschichtsunterricht, insbesondere aus der Perspektive der Geschichtsdidaktik. Während die Vertiefung sprachlicher Kompetenzen im bilingualen Unterricht bereits empirisch nachgewiesen sei, werde in der Geschichtsdidaktik immer wieder die Frage nach dem Mehrwert dieser Unterrichtsform gestellt, so Corinna Link. Mittels der Analyse kulturell geprägter Geschichtsbilder in englischen und deutschen Schulgeschichtsbüchern, die im bilingualen Unterricht zum Einsatz kommen, zielt ihre Untersuchung daher auf Aussagen über den Mehrwert des bilingualen Geschichtsunterrichts. In einem ersten Schritt wurden dafür in Form detaillierter Concept maps die unterschiedlichen Konzepte von »Imperialismus« und »imperialism« in den Schulbüchern erhoben. Dass in die Überlegungen zum »guten Geschichtsunterricht« immer auch normative Vorstellungen miteinfließen, ruft abschließend Philipp McLean ins Bewusstsein. Am Beispiel des Topos der Mündigkeit als Ziel historisch-politischer Bildung und der Diskussionen über die Einführung des Neuen Kerncurriculums für Hessen unternimmt er eine Diskursanalyse mit dem Ziel, die expliziten und impliziten normativen Prämissen im Diskurs über Mündigkeit als Bildungsziel sichtbar zu machen. Im Fokus stehen sowohl die öffentliche als auch die fachwissenschaftliche Debatte in den Jahren 2010 bis 2013, die der Verabschiedung des hessischen Kerncurriculums vorausgingen und folgten. Philipp McLeans bisherige Ergebnisse belegen die hohe Relevanz der »Mündigkeit« im Diskurs über die historische Bildung, auch wenn das Konzept kaum wörtlich adressiert werde. Im Ringen um die Einschätzung des Beitrags der historischen Bildung zur Mündigkeit des Einzelnen spielen, so McLean, nicht allein die Bildungspolitik, sondern auch gesellschaftliche Verbände eine entscheidende Rolle. Die Beiträge dieses Bandes gehen auf die IX. Nachwuchstagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik zurück, die am 15. und 16. Juni 2018 an der Universität Kassel stattfand. Sie wurde von der KGD großzügig gefördert und darüber hinaus vom Kasseler Internationalen Graduiertenzentrum Gesellschaftswissenschaften (KIGG) mitfinanziert. Für den großzügigen Druckkostenzuschuss, der die Pu-
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blikation des Tagungsbandes ermöglichte, bedankt sich die Herausgeberin ebenfalls bei der Konferenz für Geschichtsdidaktik. Die erfreulich hohe Zahl der eingereichten Expos8s ließ deutlich werden, wie breit gefächert die Themen, Fragestellungen und Methoden der aktuellen geschichtsdidaktischen Forschung sind. Aufgrund des Zeitrahmens erforderte dies aber auch, für Programm und Tagungsband eine Auswahl zu treffen. Den Autorinnen und Autoren sei dafür gedankt, dass sie sich anschließend auf die Einhaltung enger Zeitlimits bei der Erstellung ihrer Beiträge für diesen Band eingelassen haben. Als Herausgeberin bedanke ich mich beim unipress-Team des Vandenhoeck & Ruprecht Verlags für die angenehme und unkomplizierte Zusammenarbeit und die trotz des engen Zeitrahmens große Geduld. Ein großer Dank gebührt dem Kasseler Team der Geschichtsdidaktik, allen voran meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Dennis Erk, der nicht nur die Planung, Organisation und Durchführung der Tagung mitgetragen hat, sondern auch mit großer Sorgfalt, technischem Know-how und nie erlahmender Zuverlässigkeit an den Redaktionsarbeiten für den Tagungsband beteiligt war. Für die umfassende Betreuung der Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer, die Betreuung des Sekretariats sowie für kompetente organisatorische Unterstützung bedanke ich mich herzlich bei Anna Strauß, Yvonne Hesse und Laura Wetzel. Kassel, im Juni 2019
Literaturverzeichnis Gautschi, P.: ›Geschichtsunterricht erforschen – eine aktuelle Notwendigkeit‹, in: P. Gautschi/ D. V. Moser/ K. Reusser/ P. Wiher (Hrsg.), Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 21–59. Gautschi, P.: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. (Forum Historisches Lernen) Schwalbach /Ts. 2009. Waldis, M./ Nitsche, M./ Marti, P./ Hodel, J./ Wyss, C.: ›»Der Unterricht wird fachlich korrekt geleitet« – theoretische Grundlagen, Entwicklung der Instrumente und empirische Erkundungen zur videobasierten Unterrichtsreflexion angehender Geschichtslehrpersonen‹, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2014/13, S. 32–49. Ziegler, B.: ›Innenblicke: Eine wissenssoziologische Perspektive auf die geschichtsdidaktische Community unter dem Paradigma der Kompetenzorientierung‹, in: W. Schreiber/ B. Ziegler/ C. Kühberger (Hrsg.), Geschichtsdidaktischer Zwischenhalt. Beiträge aus der Tagung »Kompetent machen für ein Leben in, mit und durch Geschichte« in Eichstätt vom November 2017. Münster 2019, S.19–31.
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Zülsdorf-Kersting, M.: ›Metakognition im Geschichtsunterricht. Ein Beitrag zur Diskussion von Unterrichtsqualität‹, in: W. Schreiber/ B. Ziegler/ C. Kühberger (Hrsg.), Geschichtsdidaktischer Zwischenhalt. Beiträge aus der Tagung »Kompetent machen für ein Leben in, mit und durch Geschichte« in Eichstätt vom November 2017. Münster 2019, S. 175–185.
I. Schülerinnen und Schüler im Fokus der geschichtsdidaktischen Forschung
Jan Scheller (Fachhochschule Nordwestschweiz)
Rekonstruktion historischer Denkoperationen: Schüler/-innen und Studierende analysieren Intentionen und Orientierungsabsichten eines Plakats
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Einleitung
Dieser Aufsatz stellt Aufbau und Ergebnisse der Pilotstudie zu meinem Forschungsprojekt vor. In diesem Projekt wird die Fragestellung verfolgt, wie Schülerinnen und Schüler, Studierende und Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftler während einer Teiloperation historischen Denkens, der Analyse von Quellen und Darstellungen,1 vorgehen. Im Rahmen der Pilotstudie wurden Schülerinnen und Schüler und Geschichtslehramtsstudierende aufgefordert, ein Plakat zur Weimarer Republik hinsichtlich der zugrundeliegenden Intentionen zu analysieren. Zu Beginn wird neben einer Schilderung der erkenntnisleitenden Fragestellungen die Analyse von Quellen und Darstellungen als Teiloperation historischen Denkens modelliert und es werden die Ergebnisse ähnlich gelagerter empirischer Studien vorgestellt. Hieraus lassen sich Konsequenzen für das eigene methodische Vorgehen ableiten. Abschließend werden die Ergebnisse der Pilotierung vorgestellt.
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Ausgangslage und Forschungsfrage
Heutige Vorstellungen über Prozesse historischen Denkens sind wesentlich durch die während des Historismus begründete historische Methode geprägt. Diese wird in die Teilschritte Heuristik, Kritik, Interpretation und Darstellung unterschieden, folglich stellt der Umgang mit Quellen und Darstellungen eine zentrale Operation historischen Denkens dar.2 Während der Formierung der 1 Im Folgenden wird statt der Formulierung Quellen und Darstellung der übergeordnete Begriff Medien nach der geschichtsdidaktischen Definition Günther-Arndts verwendet, wonach Quellen und Darstellungen geschichtsdidaktische Medien seien und Unterrichtsmittel daher in diesem Kontext nicht als Medien zu verstehen sind. Vgl. Günther-Arndt 2015, S. 29. 2 Droysen 31882, S. 13–24; Bernheim 1909, S. 72–156; Rüsen 1986, S. 102–117; Rüsen 1992, S. 123–127.
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Geschichtsdidaktik griffen verschiedene Autorinnen und Autoren auf die Geschichtstheorie zurück und vertraten die Ansicht, dass Schülerinnen und Schüler die zentrale fachwissenschaftliche Erkenntnismethode im Schulgeschichtsunterricht erlernen sollen.3 Folglich wurde die Historik in den Organisationsrahmen des Geschichtsunterrichts zu transferieren versucht. Saskia Handro und Hans-Jürgen Pandel übernahmen die Analyseschritte als zentralen Erkenntnisprozess der Unterrichtsstunde und differenzierten sie weiter aus,4 Karl-Ernst Jeismann entwickelte darüber hinausgehende Operationen historischen Denkens.5 Für einzelne Mediengattungen wurden von zahlreichen Vertretern – teilweise unter Hinzunahme von Bezugswissenschaften – spezielle Analyseverfahren für den Schulunterricht entwickelt.6 Auch in den Kompetenzmodellen findet sich die Analyse7 von Medien als zentrale Operation historischen Denkens und Lernens wieder. In den Kompetenzmodellen von Andreas Körber und Kolleginnen und Kollegen, Peter Gautschi oder Hans-Jürgen Pandel gilt sie als Voraussetzung dafür, historische Ereignisse sinnbildend zu einer Narration zu verknüpfen.8 Das Kompetenzmodell von FUER unterscheidet dazu zwischen der Analyse von Quellen mit dem Ziel der Re-Konstruktion und der Analyse von Darstellungen als De-Konstruktion.9 Auch im niederländischen Konzept des Historical Reasoning zählt die Nutzung von Quellen zu den zentralen Komponenten, um historische Phänomene erklären zu können.10 Im kanadischen Modell von Peter Seixas beinhaltet das Konzept Evidence das Analysieren von Medien als wichtige Tätigkeit historischen Denkens.11 Aus diesem Forschungsabriss wird ersichtlich, dass die Analyse von Medien eine zentrale Teiloperation historischen Denkens darstellt, da kein aufgeführtes Modell ohne sie auskommt. Wie eine historische Medienanalyse jedoch verläuft und welche Denkoperationen hierbei vorgenommen werden, liegt noch weitestgehend im Dunkeln.12 Im Rahmen des gesamten Projekts soll daher erforscht 3 4 5 6 7
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Kuhn 1974, S. 68–70; Rüsen 1982, S. 154. Handro 2008, S. 27; Pandel 2006, S. 180. Jeismann 2000, S. 63; jüngst wieder aufgegriffen von Bracke 2018. U. a. Sauer 2003, S. 16; Bergmann 2002, S. 250f.; gattungsunabhängiges Analyseverfahren hingegen bei Buchsteiner 2018. Für die Klärung, inwiefern von einer Analyse oder Interpretation von Medien zu sprechen sei, wäre eine eigene Abhandlung nötig, die den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde. Daher sei die knappe Festlegung auf den Begriff Analyse und seine Definition als »kriterienorientierte bzw. aspektgeleitete Erschliessung von Materialien« an dieser Stelle gestattet, vgl. Kultusministerkonferenz 2005, S. 8. Körber 2007; Gautschi 2009; Pandel 2013, S. 222. Schreiber u. a., in: Körber/Schreiber/Schöner (Anm. 8), S. 28f. Van Drie/van Boxtel 2008, S. 89. Seixas 2013, S. 10. Erste Heuristiken entwickelte Wineburg 1991, S. 73–87.
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werden, wie die Probandinnen und Probanden beim Analysieren verschiedener Mediengattungen vorgehen und zu welchen Ergebnissen sie dabei kommen. Da bisherige Studien, die im nächsten Kapitel ausgeführt werden, die Analyseprozesse meist anhand einer Mediengattung in den Blick nahmen, ist eine Teilfrage, inwiefern bei verschiedenen Mediengattungen unterschiedliche Denkoperationen vorgenommen werden. Ferner wird die in bisherigen Arbeiten bereits anfänglich untersuchte Frage vertieft, inwiefern sich die Denkoperationen bei unterschiedlichen Alters- und Professionsstufen unterscheiden. Schließlich soll die theoretische Annahme, dass bei Quellen und Darstellungen unterschiedliche Denkoperationen vorliegen13, empirisch untersucht werden. In der Pilotierung wurde von den Teilnehmenden die Analyse eines Mediums hinsichtlich der Intentionen des Künstlers eingefordert. Diese Zielrichtung der Analyse wurde gewählt, da nahezu alle geschichtsdidaktischen Modellierungen zur Medienanalyse diese Teiloperation gattungsübergreifend aufführen.14 Die Intention ist nicht explizit im Medium aufgeführt, sondern muss sowohl mit Hilfe des Mediums als auch seines historischen Entstehungskontextes erschlossen werden. Dies erfordert somit komplexes historisches Denken.15 Die Analyse der Intention lässt sich einer Interpretation im engen Sinne16 bzw. einer Erschließung der Tiefenstruktur der Narration17 zuordnen und ist ein wesentlicher Analyseschritt, um mit der Perspektivität und Partikularität wesentliche Merkmale historischer Deutungen zu identifizieren.18 Intentionen werden als Absichten des Autors definiert19 und lassen sich in drei Dimensionen aufgliedern: die Absicht Wissen zu vermitteln (informative Intention), das Auffordern zu Handlungen (appellative Intention) sowie das Wecken von Gefühlen/Emotionen (expressive Intention).20
13 Vgl. Anm. 9. 14 Schnakenberg 2012, S. 103; Pandel (Anm. 4), S. 180; Pandel 2007, S. 156; Bergmann/ Schneider (Anm. 6), S. 251; Sauer 2001, S. 151, 160 und 215. 15 Im Sinne der Historischen Methode (vgl. Anm. 2 und 4) eine äußere und inne Quellenkritik, im Sinne Wineburgs (Anm. 12) Sourcing und Contextualization, im Sinne des FUER-Modells (Schreiber in: Körber/Schreiber/Schöner (Anm. 8), S. 226–228) eine Analyse der Oberflächen- und Tiefenstruktur. 16 Pandel (Anm. 4), S. 180. 17 Schreiber u. a. (Anm. 9). 18 Rüsen, Jörn: Historik: Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u. a. 2013, S. 139. 19 Köppe 2011, S. 124. 20 Gansel 2009, S. 84.
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Forschungsstand
Die Frage, wie Lernende mit Medien umgehen, ist verschiedentlich untersucht worden. Zunächst werden die Untersuchungen mit Bildern beleuchtet. Bereits in den 1970er Jahren veröffentlichte Kurt Fina seine Studien darüber, wie Lernende der 7. und 10. Klasse mit Bildquellen umgehen. Trotz unspezifischem Arbeitsauftrag (»betrachte das Bild und schreib deine Beobachtungen in frei gewählter Reihenfolge nummeriert nieder«)21 konnten zwei verschiedene Verhaltensmuster erschlossen werden: Während die 7.Klässler Wert auf eine vollständige Bildbeschreibung legten und dem »Sichtbaren verhaftet blieben«, wichen die 10.Klässler zugunsten eines ermittelten Deutungsversuchs der Bildaussage (»Verlangen nach Wesenserfassung«) davon ab.22 Zum Prozess des Bildverstehens kam Fina zu dem Schluss, dass »der Sinn nicht additiv-assoziativ erschlossen, sondern antizipierend erfaßt« wird.23 Demzufolge fand sich die Deutung der Bildaussage oft am Anfang statt am Ende der Darstellung der Lernenden. Weiterhin stellte er fest, dass die Lernenden das Bild deuteten, obwohl die Aufgabenstellung dies nicht explizit verlangte.24 Markus Bernhardt griff die Frage nach der Bildwahrnehmung und -verarbeitung von Schülerinnen und Schüler wieder auf und erforschte mit seinem Team anhand von Einzelinterviews bei Schülerinnen und Schüler verschiedener Alters- und Schulstufen, inwiefern sie über Strategien bei der Bildwahrnehmung verfügen. Dazu wurde im ersten Durchlauf ebenfalls ein relativ unspezifischer Arbeitsauftrag erteilt (»Ich zeige dir jetzt ein Bild. Sage bitte alles, was dir dazu einfällt (…).«)25 Er kam zu den Schluss, dass weniger von verfolgten Strategien sondern vielmehr von einer individuellen und sprunghaften Vorgehensweise ausgegangen werden muss. Weiterhin fanden einzelne Bildelemente überhaupt keine Beachtung, während andere überinterpretiert wurden.26 Auch Birte Wolfrum und Michael Sauer fiel in ihren Einzelinterviews mit Gymnasialschülerinnen und -schülern der 10. und 11. Klasse die selektive Wahrnehmung und Verarbeitung von Bildelementen auf.27 Damit belegen beide Arbeiten die Gültigkeit der kognitionspsychologischen Erkenntnis für den Geschichtsunterricht, dass Bilder nach dem »Prinzip der minimalen Verstehensintensität« betrachtet werden.28 Demnach brechen Bildwahrnehmende im Alltag und Schulunterricht 21 22 23 24 25 26 27 28
Fina 1970, S. 618. Ebd., S. 631f. Fina 1972, S. 688. Ebd., S. 692. Bernhardt 2007, S. 420. Ebd., S. 422. Wolfrum/Sauer 2007, S. 416. Weidenmann 1988, S. 54ff.
Rekonstruktion historischer Denkoperationen
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den Kontakt mit dem Bild ab, sobald sie eine für sich überzeugende Deutung des Bildes vorgenommen haben. Entscheidend dafür sind laut Bernhardt die den Lernenden aufgrund alltäglicher Vorkenntnisse bekannten Bildelemente, welche eine schnelle »Spontandeutung« des Bildes ermöglichen.29 Widersprüchliche oder zumindest irritierend wirkende Bildelemente werden dabei meist ignoriert.30 Weitere wichtige Erkenntnisse konnten bezüglich des Einflusses individueller Wissensbestände auf die Bildwahrnehmung gewonnen werden. Einerseits sollten die Lernenden ein Bild analysieren, dessen historischer Kontext (Rassenund Klassengegensätze in den USA) ihnen unbekannt war. Demzufolge war es ihnen nicht möglich, nur mit Hilfe des Bildes und seiner wesentlichen formalen Merkmale die Intentionen zu erschließen. Ohne Wissen zum historischen Sachverhalt ist eine Analyse des Mediums demnach nicht möglich. Andererseits scheint vorhandenes Wissen zum historischen Sachverhalt keineswegs eine Garantie für bessere Analyseergebnisse zu sein. Zu einem Bild über den Holocaust aktivierten Lernende nämlich Vorstellungen, »die mit der konkreten Situation nur wenig gemein hatten.«31 Auch in der Studie von Wolfrum und Sauer wurden Wahrnehmungen von Fotographien über den Nationalsozialismus »durch vorgefertigte Erwartungen […] beeinträchtigt.«32 In einem anderen Fallbeispiel der Studien von Bernhardt war im vorherigen Geschichtsunterricht die Französische Revolution Thema, in der danach und unabhängig davon stattfindenden Studie wurde das verwendete Bild von 1830 (!) – trotz expliziter Angabe der Entstehungszeit – der Französischen Revolution zugeordnet.33 Diese Ergebnisse konnte Kristina Lange in ihrer Dissertation, in welcher sie bei 16 Gymnasialschülerinnen und -schülern der 9. Klasse mittels Concept Mapping, Gruppendiskussionen und Lautem Denken Lernprozesse mit Bildern untersuchte, teils bestätigen und weiter schärfen.34 Sie kommt zu dem Ergebnis, dass »erkennende, analysierende und interpretierende [Bildverstehens-]Prozesse […] in unterschiedlichen Qualitäten der Verarbeitungstiefe […] zeitgleich und in hohem Maß individuell unterschiedlich« ablaufen.35 Schülerinnen und Schüler gehen mit Medien rein positivistisch um und deuten Bilder vor allem durch lebensweltliche Bezüge.36 Dabei steht lediglich die »Identifikation des Abgebildeten« im Vordergrund, die Kommunikationabsicht des Bildproduzen29 30 31 32 33 34 35 36
Bernhardt (Anm.25), S. 429. Ebd., S. 430. Ebd., S. 426. Wolfrum/Sauer (Anm. 27), S. 416. Bernhardt (Anm. 25), S. 427f. Lange 2011. Ebd., S. 271. Ebd., S. 266.
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ten wird häufig vernachlässigt.37 Wolfrum und Sauer konnten diesbezüglich nachweisen, dass Schülerinnen und Schüler bei Propagandafotos aus der Zeit der NS-Herrschaft die Intentionalität analysieren können, sofern sie im Interview explizit danach befragt werden.38 Ebenso wie Bernhardt konnte Lange den Einfluss des Vorwissens insofern charakterisieren, dass »wechselseitige Interaktionsprozesse zwischen den Vorwissensstrukturen des Lerners und den Informationen des Lernmediums« stattfinden.39 Nicht nur das thematische Vorwissen, auch die subjektiven Konzepte über Geschichte40 haben einen Einfluss auf die Bildrezeption.41 Auch zum Umgang von Schülerinnen und Schülern mit Texten liegen verschiedene Studien vor. Das Analysieren von »Zugangsweisen und dabei ablaufenden Denkprozessen« verfolgten Anfang der 2000er Jahre Martina LangerPlän und Helmut Beilner.42 Hierzu wurden Schülerinnen und Schüler dreier Klassenstufen (6, 9 und 11) und dreier Schulformen interviewt, der Schwerpunkt lag im Wiedergeben der »wesentlichen Aussagen der Quelle« sowie der Definition des Quellenbegriffes.43 Dabei kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler erhebliche Probleme beim Erfassen der Kernaussagen hat.44 Wie schon bei Studien mit Bildern konnten die Autoren nachweisen, dass Textinhalte durch lebensweltliche Vorstellungen gedeutet werden.45 Matthias Martens fokussierte in seiner Dissertation, wie Schülerinnen und Schüler mit Darstellungen umgehen.46 Mittels Gruppendiskussionen konnten geschlechts- und schulformspezifische Erkenntnisinteressen typologisch herausgearbeitet werden, wobei sowohl zwischen den Geschlechtern als auch zwischen den Schulformen große Unterschiede bestehen.47 Wie bei Bildern war der Umgang mit Darstellungen zu geschichtskulturell prominent vertretenen Themen dem Einfluss bereits bestehender Geschichtsbilder unterworfen. So wurden Darstellungen mit dem konventionellen Lutherbild widersprechenden Elementen »als falsch, unvollständig oder propagandistisch gegen Luther gerichtet eingeschätzt.«48 Bestätigt wurden auch die Erkenntnisse der Forschung mit 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Ebd., S. 270. Vgl. Anm. 32. Lange (Anm. 34), S. 271f. Zu deren Einfluss auf die Fähigkeit historisch zu argumentieren: Lee 1997, S. 233–244. Vgl. Anm. 39. Langer-Plän 2003, Zitat auf S. 320; Beilner 2002, S. 84–96. Langer-Plän (Anm. 42), S. 324. Ebd., S. 328. Ebd., S. 331. Martens 2010. Ebd., S. 313–316. Ebd., S. 310.
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Bildern im Geschichtsunterricht, dass die individuellen Konzepte über Geschichte wirkungsmächtig sind und ein positivistischer Umgang auch mit Darstellungen alters- und schulformübergreifend dominiert.49 Dennoch konnten bei Gymnasialschüler/-innen ab der 8. Klasse erste Ansätze historischen Denkens identifiziert werden: ein Verständnis von Perspektivität, multiperspektivisches Denken sowie vorgenommene Unterscheidungsgrade von Darstellungen hinsichtlich ihrer Parteilichkeit.50 Dabei scheint es keinen Unterschied zu machen, ob Quellen oder Darstellungen vorliegen, da die Schülerinnen und Schüler beide nach identischem Muster bearbeiteten.51 Den Umgang mit Darstellungen untersuchte auch Manuel Köster in seiner Dissertation, allerdings fokussierte er fachspezifische Textverstehensprozesse. Hierzu wurden anhand zweier Darstellungstexte über den Holocaust 50 Schülerinnen und Schüler der 10. Klassenstufe von Gesamtschulen leitfadengestützt interviewt.52 Er konnte in seiner Studie nachweisen, dass es sich auch beim Textverstehen um einen »hochgradig individuellen Konstruktionsprozess« handelt.53 Wie vergleichbare Studien zur Bild- und Textwahrnehmung konstatierte er eine selektive Wahrnehmung der Texte durch die Schülerinnen und Schüler. Ähnlich wie bei den Darstellungstexten in Martens Studie wies Köster auch an Darstellungstexten über den Holocaust »präexistente Werturteile« als »wahrnehmungsleitende Filterwirkung« nach, sobald Lernende eine Beziehung zwischen dem Text und ihrer sozialen Identität herstellten. Dabei wurden ausschließlich identitätsbekräftigende Deutungen der Texte vorgenommen und widersprüchliche Elemente ignoriert.54 Erste Studien mit mehreren Mediengattungen nahm Samuel S. Wineburg unter der Fragestellung vor, wie Schülerinnen und Schüler sowie Historikerinnen und Historiker die Glaubwürdigkeit von Texten und Bildern einschätzen.55 Er konnte drei verschiedene Denkoperationen erschließen: die Nutzung formaler Merkmale für das Einschätzen der Glaubwürdigkeit (Sourcing), die Einbettung des Mediums in den historischen Kontext (Contextualization) und den Vergleich von inhaltlichen Aussagen mehrerer Medien (Corroboration).56 Dabei traten insofern Unterschiede zwischen den beiden Gruppen auf, dass Schüler/innen im Gegensatz zu den Historikerinnen und Historikern Medien kaum miteinander vergleichen und die formalen Merkmale lediglich als weitere In49 50 51 52 53 54 55 56
Ebd., S. 141 und 303. Ebd., S. 327f. Ebd., S. 304. Köster 2013. Ebd., S. 256. Ebd., S. 244. Wineburg (Anm. 12). Ebd., S. 77.
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formation neben dem Inhalt ansehen, während die Experten die formalen Merkmale als wesentliches konstituierendes Merkmal für die inhaltliche Gestaltung betrachten.57 Auch in seiner Studie trat das positivistische Geschichtsverständnis der Schülerinnen und Schüler offen zutage, indem Medien dichotom als glaubwürdig oder unglaubwürdig eingeschätzt wurden und somit die Überzeugung zutage trat, dass die Fragestellung eindeutig richtig oder falsch beantwortet werden könne.58 Jeffery D. Nokes griff die von Wineburg ermittelte Heuristik des Sourcing auf und erforschte an 427 Schüler/-innen der 8. Klasse, wie sie Quellen für das Entwickeln historischer Argumente nutzen.59 Er konnte fünf Progressionsstufen ableiten, die grob vom Nicht-Berücksichtigen über das bloße Nennen bis hin zur Nutzung für ihre Argumentation reichen. 40 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gingen mit den vorliegenden Quellen nicht kritisch um.60 Zusammenfassend spricht viel dafür, dass der Umgang mit Medien weniger von der vorliegenden Gattung, sondern vielmehr von den individuellen Vorwissensbeständen sowie geschichtstheoretischen Konzepten abhängt. So belegen die Studien gattungsunabhängig, dass Schüler/-innen an Medien positivistisch herangehen und den Inhalt mit lebensweltlichen Bezügen deuten. Ihnen unbekannte Elemente in Texten und Bildern werden dabei ignoriert. Die Verwendung von Medien zu im öffentlichen Geschichtsdiskurs besonders präsenten Themen führt dazu, das dem Medium die bereits entwickelten Geschichtsbilder übergestülpt und die diesen widersprechende Elemente ignoriert oder als falsch bewertet werden. Die formalen Merkmale der Medien werden dabei lediglich als zusätzliche Informationen neben dem Inhalt aufgefasst und selten mit ihm in Beziehung gesetzt. Die vorliegenden Studien konzentrieren sich dabei vor allem auf den allgemeinen Umgang von Schülerinnen und Schülernmit Medien, spezielle historische Denkoperationen standen mit Ausnahme der US-amerikanischen Projekte nicht im Fokus. So weiß man über die Analyse der Intentionen lediglich, dass sie nicht erschlossen werden, wenn sie nicht explizit in der Aufgabenstellung adressiert werden.
57 58 59 60
Ebd., S. 83. Ebd., S. 84. Nokes 2017, S. 437–467. Ebd., S. 448.
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Forschungsdesign und methodische Vorgehensweise
Deutschsprachige und angloamerikanische Studien weisen darauf hin, dass die Ergebnisse der Denktätigkeiten erheblich von der Aufgabenstellung, dem Material, dem Thema und dem Erhebungssetting abhängen.61 Basierend auf den im vorherigen Kapitel beschriebenen, bereits in der Forschung verfolgten Zugängen, werden nun das Sample sowie das Vorgehen bei der Datenerhebung und -analyse beschrieben. Für die Pilotstudie wurden Schülerinnen und Schüler verschiedener Altersstufen sowie Geschichtslehramtsstudierende ausgewählt, um zu testen, inwiefern das gewählte Studiendesign mit Probandinnen und Probanden verschiedener Alters- und Professionsstufen geeignet ist, Aussagen über die Denkoperationen während einer Medienanalyse zu treffen. Aufgrund der oft ernüchternden Ergebnisse anderer empirischer Studien62 wurden bewusst leistungsstarke Schüler/innen und Studierende ausgewählt. Die Schüler/-innen besuchten zum Zeitpunkt der Befragung ein privates Gymnasium in Mecklenburg-Vorpommern, die Universität der Studierenden befindet sich im gleichen Bundesland. Der Kontakt zur Schule und Universität ergab sich durch meine berufliche Tätigkeit an beiden Orten. Die Auswahl der Schüler/-innen wurde aufgrund des Feedbacks des Lehrerkollegiums vorgenommen, die Auswahl der Studierenden anhand sehr guter Klausurergebnisse im Rahmen des Basismoduls »Einführung in die Geschichtsdidaktik«. Die Analyse von Medien war kein Thema der Klausur gewesen. Die Erhebungen fanden in der jeweils vertrauten Umgebung statt (Schul- bzw. Universitätsräume). An der Pilotstudie nahmen teil: – zwei Schülerinnen der 8. Klasse, – zwei Schülerinnen der 10. Klasse, – ein Schüler der 12. Klasse sowie63 – eine Studierende und ein Student (Studiengang für das Lehramt im Fach Geschichte an Gymnasien, 4. Fachsemester). Für die Erfassung der Denkoperationen während einer Medienanalyse wurden zwei verschiedene Erhebungsmethoden gewählt. Zunächst fand ein Cognitive Lab Interview statt. Die Methode wurde aus zwei Erwägungen heraus gewählt. Einerseits besteht so die Möglichkeit zu prüfen, inwiefern die gewählte Aufgabe von den Probandinnen und Probanden verstanden wird und sich für die 61 Nitsche 2017, S. 227–241; Nitsche/Waldis 2016, S. 31; Monte-Sano/De La Paz 2012, S. 288. 62 Vgl. Anm. 25, 27, 34, 42 und 46. 63 Ursprünglich waren auch hier zwei Probanden vorgesehen, leider fiel die Erhebung in die Zeit der mündlichen Abiturprüfungen.
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Hauptstudie eignet. Andererseits können durch die Methode erste Einblicke in die Lösungsstrategien der Teilnehmenden gewonnen werden.64 Darüber hinaus wurde in den Interviews gefragt, wie vertraut die Teilnehmenden mit dieser Art Aufgabe sind und über welches thematische Vorwissen sie verfügen.65 Bei der Aufgabenkonstruktion wurde darauf geachtet, dass die Aufgabenstellung offen formuliert ist und keine Hinweise zu Lösungswegen enthält, die Zielstellung der Analyse jedoch transparent benannt wird. Um für die Hauptstudie eine möglichst verständliche Aufgabenformulierung zu finden, wurden drei verschiedene Aufgabenstellungen getestet. Jeder Probandin und jedem Probanden wurde eine der folgenden Aufgabenstellungen vorgelegt: a) Untersuche das Material hinsichtlich der Frage, welche Absicht der Autor mit diesem Medium verfolgte. b) Erschließe die Intention. c) Warum deutete der Autor die historische Person auf diese Weise. Am Ende des Pilots wurden den Teilnehmenden die jeweils anderen Formulierungen vorgelegt die sie ebenfalls kommentieren sollten. Anschließend wurde die Aufgabe von den Probandinnen und Probanden schriftlich gelöst. Nachdem die Probandin/der Proband signalisierte, dass sie/er fertig sei, wurde erneut ein Cognitive Lab Interview durchgeführt, in welchem nach der tatsächlichen Vorgehensweise, den Ergebnissen sowie auftretenden Schwierigkeiten beim Lösungsprozess gefragt wurde.66 Bei der Materialauswahl wurde ein Plakat67 gewählt, da Plakate »ganz bewusst und offen einem Zweck [dienen]. Insofern […] lassen […] [sie] erkennen, auf welche Art und Weise sie ihrerseits auf gesellschaftliche Gegebenheiten einwirken wollen/sollen.«68 Daher bestand die Hoffnung, dass es den Probandinnen und Probanden eventuell leichter fällt, die Intentionen anhand dieser Mediengattung zu erschließen. Als Thema – die französische Besetzung des Ruhrgebiets 1923 – wurde ein sowohl im für die befragten Schülerinnen und Schüler gültigen Geschichtslehrplan als auch im öffentlichen Geschichtsdiskurs eher randständiges Thema gewählt. Zum einen wurde so versucht, die im Forschungsstand skizzierten Befunde bei der Verwendung populärer Themen wie Luther oder »NS-Herrschaft« zu verhindern und zum anderen sollte so das thematische Vorwissen der Beteiligten möglichst gleich (niedrig) sein und verhindert werden, dass dieses Medium bereits aus anderen Kontexten bekannt ist. Da aus dem Forschungsstand hervorging, dass für das Erschließen der Intentionen thematisches Vorwissen nötig ist, wurde ein kurzer Darstellungstext mit Arbeitswissen zur Ruhrbesetzung sowie zur Figur der Marianne, die im Zentrum des Plakats 64 Werner/Schreiber 2015, S. 155. 65 Beatty/Willis 2007, S. 288. 66 Die Fragen für beide Interviews wurden adaptiert nach Gollin/Nitsche 2019 und Jabine 1984, S. 13–16. 67 Plakat »Hände weg vom Ruhrgebiet!«, Matejko 1923. 68 Schneider, Gerhard in: Pandel/Schneider (Anm. 6), S. 277.
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steht, beigelegt. Es wurde darauf geachtet, keine Lösung der Aufgabenstellung vorwegzunehmen. Die aufgezeichneten Interviews sowie schriftlichen Beantwortungen wurden transkribiert und mittels MaxQDA ausgewertet. Das Analyseverfahren folgt der qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz.69 Die transkribierten Interviews sowie die schriftlichen Ausführungen wurden mittels eines deduktiven Kategoriensystems70 analysiert, indem Textstellen den Kategorien zugeordnet wurden. Nach Proberatings und interpersonalem Austausch wurde das Kategoriensystem induktiv erweitert und angepasst.
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Ergebnisse
Die Auswertung der Interviews und schriftlichen Aufzeichnungen ergibt, dass die Probandinnen und Probanden relativ gleichförmig mit dem Erschließen der Intentionen des Künstlers begannen. Im weiteren Arbeitsprozess kamen sie jedoch zu unterschiedlichen Lösungen und verfolgten dafür verschiedene Lösungswege. Daher werden zunächst strukturelle Gemeinsamkeiten und anschließend individuelle Unterschiede im Vorgehen der Teilnehmenden erläutert. Befragt nach ihrem Vorgehen zur Lösung der Aufgabe vor und nach der Bearbeitung, antworteten alle Teilnehmenden, dass sie sich zunächst mit dem Plakat und dem Arbeitswissen vertraut machen werden bzw. gemacht haben, um mit Hilfe des Kontextwissens den Inhalt des Plakates zu verstehen: »Also ich würde mir das Bild angucken, also das Plakat hier und den Text dazu lesen und dann erstmal versuchen so relativ die Verbindung dazwischen zu finden und und dann vielleicht weitersehen, wenn ich die Verbindung dann habe und so gucken wie es zusammenhängt.« (P2 I1)71 »Ich werde mir erst diesen Text durchlesen und dass dann halt vergleichen wie ich es wieder erkenne was ich wodurch z. B. dass man irgendwie Teile dieses Plakat aus dem anderen Text irgendwie identifiziere, dass man z. B. sagen kann welche Person darauf ist, dass man dann halt versucht erstmal so das Plakat im Gesamten in all deinen Aussagen zu verstehen.« (P4 I1) »Also ich würde vielleicht das Bild selbst erstmal einmal deuten.« (P6 I1)
Auch in den schriftlichen Ausführungen nahm folglich das Verstehen des Plakates durch das Deuten der graphischen und stilistischen Elemente im Sinne 69 Kuckartz 2016. 70 Scheller, Jan in: Waldis/Ziegler (s. Anm. 67). 71 Proband/-in wird folgend mit »P« abgekürzt, »I1« steht für das Interview vor der schriftlichen Lösung, »I2« für das Interview danach, »B« für die schriftliche Bearbeitung zwischen den Interviews.
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einer inneren Quellenkritik72 bzw. Analyse der Tiefenstruktur73 einen großen Stellenwert ein, obwohl dies die Aufgabenstellungen nicht explizit verlangten. Im Interview nach der Bearbeitung schlugen zwei Probandinnen vor, diese Denkoperation als vorgeschalteten Arbeitsschritt durch eine zusätzliche Aufgabe explizit zu adressieren, um das Erschließen von Intentionen zu erleichtern: »Vielleicht wäre es, also mir hätte es gut geholfen, […], dass dann noch die Fragestellung kommt, vorher, wie deutet der Autor die Person, weil wenn man (…) das bearbeitet hat, man sich dann vorher gedacht, dass ich vorher noch eine Beschreibung und ein wie mache« (P4 I2) »Ich denke mal, es wäre erstmal generell hilfreich, […] dass man das vielleicht in Teilaufgaben aufgliedern […] von daher würde ich dir ja da vielleicht erstmal als Arbeitsauftrag ja generell erstmal die eigenständige Interpretation, wie man selbst dieses Bild interpretieren würde […] weil wenn man selbst eine eigene Interpretation hat und eine Ahnung hat, was das Bild ausdrücken soll, denke ich mal kann man das doch ganz gut lösen, also jetzt die Aufgabe, die da schon steht.« (P7 I2)
Somit wurde die historische Denkoperation, die Deutung des historischen Sachverhalts durch den Künstler zu erschließen, mindestens von zwei Probandinnen als notwendiger Arbeitsschritt zum Erschließen der Intentionen erkannt. Alle anderen Teilnehmenden erkannten dies entweder ebenso, ohne dies im Interview explizit anzusprechen, oder vollzogen diese Denkoperation instinktiv. Bis auf eine Ausnahme74 wandelten alle Teilnehmenden als nächste Denkoperation die Deutung des historischen Sachverhaltes in eine informative Intention um. Hierfür verwendeten sie die Verben »aufmerksam machen«, »zeigen« oder »sagen«: »Es wurde im Auftrag der Kultur Liga gefertigt, auch um zu zeigen, welch grausame Sachen Frankreich macht, obwohl das Land, welches hier durch ’Marianne’ gezeigt wird, eigentlich selbst dagegen ist. Die Intention dahinter ist, das Böse in dem vermeintlich ’Guten’ zu zeigen.« (P1 B) »[…] da er die französische Nationalfigur Marianne, welche für Freiheit und Demokratie in der französischen Republik steht, wie eine böse Hexe über das Ruhrgebiet schwebt, um auf die grausamen Taten, also das Ausweisen der ca. 150 000 Menschen von den Franzosen, die dieses Gebiet besetzten, die Ermordungen und das Ruinieren der deutschen Wirtschaft [hinzuweisen]« (P2 B) »Das lässt für mich die Intention aufkommen, dass der Autor sagen möchte, wenn schon Reparationen, dann müsst ihr auch die Wirtschaft, die diese erarbeitet, stehen lassen.« (P6 B) 72 Vgl. Anm. 2 und 4. 73 Schreiber (Anm. 9). 74 Eine Studentin nahm lediglich die erste Denkoperation vor und beendete, in der Annahme die Aufgabe erfüllt zu haben, den Arbeitsprozess.
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Diese beiden dargestellten Denkoperationen konnten als grundsätzliche Vorgehensweisen aller Teilnehmenden identifiziert werden. Ansonsten dominierten individuelle Unterschiede in der Herangehensweise. Aus den unterschiedlichen Herangehensweisen wurden fünf verschiedene Typen gebildet. Die Typen unterscheiden sich darin, wie viele und welche der durch das Setting zugänglichen Informationen (formale Merkmale des Plakats, graphische und stilistische Elemente des Plakats, Arbeitswissen zum historischen Kontext) für das Erschließen von Intentionen genutzt wurden. Für die bereits illustrierten Intentionen genügte es, die Deutung des Plakates mit Hilfe des Arbeitswissens zu entschlüsseln. Vom selbigen Typ war daher das Erschließen folgender appellativer Intention: »Das Textsymbol »Hände weg vom Ruhrgebiet!« steht für eine Aufforderung zur Beendigung der Besatzung.« (P5 B) Plakatelemente Deutung
Intention
Historischer Kontext
Abb. 1: Typ 1
Der zweite Typ unterscheidet sich vom ersten durch die zusätzliche Benennung eines Adressaten, an den die Intention gerichtet war. Da der Adressat im Material nicht explizit benannt wird, müssen die Teilnehmenden hierfür z. B. die formalen Merkmale zusätzlich mit einbezogen haben. Die Probandinnen dieses Typs machen jedoch nicht transparent, wie sie den Adressaten erschlossen haben: »Mit dieser überspitzten und überdeutlichen Darstellung der Situation war es wohl leicht, die Bevölkerung des Ruhrgebiets auf das Unrecht aufmerksam zu machen, das ihnen angetan wird.« (P3 B) »Der Autor deutet die Marianne wahrscheinlich auf diese Weise, da er somit mit seinem Plakat die Bürger des Ruhrgebiets auf die Gefahren/Bedrohung durch Frankreich hinweist.« (P4 B) Plakatelemente Deutung
Intention
Historischer Kontext Adressat
Abb. 2: Typ 2
Der dritte Typ zeichnet sich dadurch aus, dass er den Erscheinungsort des Plakats berücksichtigt und mit dem Arbeitswissen zum historischen Kontext in
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Beziehung setzt. Hierdurch gelingt es zwei Probandinnen, eine weitere Intention zu erschließen: »Durch den Text zum historischen Kontext ist bekannt, dass die Bevölkerung des Ruhrgebiets zum passiven Widerstand aufgefordert wurde. Dies geschah durch die Reichsregierung, welche in Berlin tagte, an dem Ort, wo auch das Plakat entstand. Mit diesen Informationen ist anzunehmen, dass das Plakat genau zu diesem Zwecke entworfen wurde: um die Bevölkerung zum Widerstand zu animieren.« (P3 B) »Das Plakat wurde also entworfen, um die Deutschen zum vereinigten Widerstand gegen Frankreich aufzurufen, was letztendlich auch klappte.« (P2 B) Historischer Kontext
Plakatelemente Deutung
Intention Erscheinungsort
Historischer Kontext Adressat
Abb. 3: Typ 3
Der vierte Typ kommt durch seine Herangehensweise zur Erkenntnis mehrerer Intentionen, indem er dem Medium verschiedene Adressaten zur Entstehungszeit zuordnet und die Eigenlogik der Mediengattung mitberücksichtigt. Das erste Beispiel begründet die unterschiedlichen Adressaten mit verschiedenen Erscheinungsorten. Das zweite Beispiel ordnet einem Erscheinungsort verschiedene Adressaten zu. »Je nachdem, wo das Plakat veröffentlicht wurde, können die Betroffenen entweder nur die Gefahr oder einen Aufruf dazu, die Marianne, also Frankreich, zu verletzen, erkennen.« (P4 B) »Der Karikaturist versucht durch diese inszenierende und übertriebene Darstellung die Bürger des Rheinlandes ›aufzuwecken‹ und auf die Unterdrückung durch Frankreich und die allgemeine Problematik aufmerksam zu machen. […] Die Positionierung der Plakate im Rheinland, konnte auch als Signal gegen die Franzosen gewertet werden.« (P5 B) Plakatelemente Historischer Kontext
Plakatelemente Historischer Kontext
Deutung
Deutung
Intention1
Adressat 1
Erscheinungsort 1
Intention2
Adressat 2
Erscheinungsort 2
Intention1
Adressat 1
Intention2
Adressat 2
Erscheinungsort
Gattung
Gattung
Abb. 4: Typ 4
Der fünfte – und dabei am meisten Informationen verarbeitende – Typ verknüpft die Deutung des Plakates, den Auftraggeber als eine um Mitglieder werbende
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Gemeinschaft, die Mediengattung als gängiges Medium für werbende (politische) Organisationen sowie den Adressaten des Mediums, der zuvor aus dem Erscheinungsort abgeleitet wurde. Er entwickelt daraus folgende Intention: »Gleichzeitig ist es auch als Parteiwerbung zu denken, welche den Menschen des Rheinlandes zeigen soll, dass sich die Kultur-Liga um bestehende und aktuelle politische Probleme kümmert.« (P5 T) Gattung Plakatelemente Deutung
Intention
Adressat
Erscheinungsort
Historischer Kontext Auftraggeber
Abb. 5: Typ 5
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Fazit und Ausblick
Die Pilotstudie stellte an Schüler/-innen und Studierende verschiedener Altersstufen die Aufgabe, die Intentionen des Autors eines Plakates zu erschließen. Dies brachte zwei wesentliche Befunde zu Tage: erstens begannen alle Teilnehmenden mit derselben historischen Denkoperation, die durch die Aufgabe nicht explizit vorgegeben war : die Erschließung der im Plakat enthaltenen Deutung des historischen Sachverhaltes. Zweitens gingen die Teilnehmenden im Anschluss individuell verschieden vor und kamen so auch zu verschiedenen Lösungen.75 Die unterschiedlichen Herangehensweisen konnten zu fünf unterschiedlichen Typen verdichtet werden, die sich in der Anzahl der genutzten Informationen unterscheiden und dahingehend eine unterschiedliche Komplexität aufweisen. Es sei jedoch betont, dass unter den Typen keine Niveau- oder Progressionsstufen verstanden, sondern lediglich die Vielzahl der unterschiedlichen Vorgehensweisen systematisiert werden soll. Die unterschiedlichen Typen ergaben sich vor allem aufgrund der marginalen und höchst unterschiedlichen Nutzung der formalen Merkmale, welche die Befunde Wineburgs76 und Nokes77 bestätigen. Weiterhin erlauben die Ergebnisse eine erste Prognose, dass die Unterschiede zwischen den Altersstufe als gering einzuschätzen sind.78 75 Bereits Lange (Anm. 34) und Köster (Anm. 52) konstatierten individuell unterschiedlich verlaufende Denkprozesse. 76 Vgl. Anm. 12. 77 Vgl. Anm. 59. Aufgrund des unterschiedlichen Erkenntnisinteresses ließen sich die Stufungen von Nokes allerdings nicht auf diese Studie anwenden. 78 Vgl. Anm. 75, die Altersstufen verteilen sich zudem gleichmäßig auf die einzelnen Typen.
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Die erschlossenen Typen werden in der Hauptstudie an einer größeren Stichprobe und unter Hinzunahme weiterer Gruppen wie Historikerinnen und Historiker geprüft und gegebenenfalls überarbeitet. Durch das Durchführen mehrerer Durchgänge mit verschiedenen Mediengattungen sowie einem Wechsel von Quellen und Darstellungen soll zudem deren Einfluss auf die historischen Denkoperationen erfasst werden.
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Pandel, Hans-Jürgen: Geschichtsdidaktik: eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/ Ts. 2013. Rüsen, Jörn: ›Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik‹, in: Quandt, Siegfried/Süssmuth, Hans (Hg.): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen. Göttingen 1982, S. 129–170. Rüsen, Jörn: Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung. Göttingen 1986. Rüsen, Jörn: ›Historische Methode‹, in: Bergmann, Klaus (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Seelze-Velber 41992. Rüsen, Jörn: Historik: Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u. a. 2013. Sauer, Michael: Geschichte unterrichten – eine Einführung in die Didaktik und Methodik. Seelze-Velber 2001. Sauer, Michael: Bilder im Geschichtsunterricht. Typen, Interpretationsmethoden, Unterrichtsverfahren. Seelze-Velber 22003. Scheller, Jan: ›Ein Diagnoseraster für die De-Konstruktionskompetenz nach dem FUERModell‹, in: Waldis, Monika/Ziegler, B8atrice (Hg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 17. Bern 2019 (im Druck). Schnakenberg, Ulrich: Die Karikatur im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2012. Schneider, Gerhard: ›Das Plakat‹, in: Pandel, Hans-Jürgen/Schneider, Gerhard (Hg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 22002, S. 277–338. Seixas, Peter/Morton, Tom: The Big Six Historical Thinking Concepts. Toronto 2013. Van Drie, Jannet/van Boxtel, Carla: ›Historical Reasoning: Towards a Framework for Analyzing Students’ Reasoning about the Past‹, in: Educational Psychology Review 2008/20 2, S. 87–110. Weidenmann, Bernd: Psychische Prozesse beim Verstehen von Bildern. Bern/Stuttgart/ Toronto 1988. Werner, Michael/Schreiber, Waltraud: ›Testfragen befragen – Pretestung und Optimierung des Large-Scale-Kompetenztests »HiTCH« durch Cognitive Labs‹, in: Waldis, Monika/Ziegler, B8atrice (Hg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 13. Bern 2015, S. 153–164. Wineburg, Samuel S.: ›Historical Problem Solving: A Study of the Cognitive Process Used in the Evaluation of Documentary and Pictorial Evidence‹, in: Journal of Educational Psychology 1991/83/1, S. 73–87. Wolfrum, Birte/Sauer, Michael: ›Zum Bildverständnis von Schülern. Ergebnisse einer empirischen Studie‹, in: GWU 2007/7 8, S. 400–416.
Andrea Kolpatzik (Ruhr-Universität Bochum)
»Also mich persönlich hat das jetzt mit dem Jubel und Applaus an die Sportpalastrede erinnert«. Werturteilsbildung im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht1
1
Einleitung »Vor ungefähr zehn Jahren kam der Begriff Populismus in den politischen Debatten kaum vor. Heute ist er allgegenwärtig. Eben sagte Wolfgang Schäuble in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit und an die Adresse der ›Populisten‹ gerichtet: ›Niemand hat das Recht, zu behaupten, er allein vertrete ›das Volk‹.‹ Seit es den politischen Populismus der Gegenwart gibt, für den symptomatisch der Name Donald Trump steht, wird von interessierter Seite unterstellt, man erkenne Populisten daran, dass sie behaupten, im Namen der wahren Mehrheit zu sprechen. Was uns betrifft: Wir haben keinen Alleinvertretungsanspruch. Wir sind nicht ›das‹ Volk, aber wir wollen, dass das Volk mehr direkten politischen Einfluss bekommt. Wir akzeptieren, dass es demokratische Mitbewerber, Wahlergebnisse und wechselnde politische Mehrheiten gibt – was denn sonst? Um den Populismus zu verstehen, muss man fragen: Warum ist er entstanden? Worauf reagiert er? […]«.2
In dem hier nur ausschnitthaft zitierten Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) klärte Alexander Gauland, Fraktionsvorsitzender der Partei »Alternative für Deutschland« (AfD), am 6. Oktober 2018 die geneigte Leserschaft über die Entstehung und politische Notwendigkeit des Populismus 1 Der Beitrag ist die schriftliche Fassung des am 16. Juni 2018 unter dem Titel »›Also mich persönlich hat das jetzt mit dem Applaus und Jubel ziemlich an die »Sportpalastrede« erinnert.‹ Sprachliche Phänomene der Werturteilsbildung im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht« im Rahmen der IX. KGD-Nachwuchstagung an der Universität Kassel gehaltenen Vortrages. Weitere Aspekte des an der Ruhr-Universität Bochum angesiedelten Habilitationsprojekts der Verfasserin wurden unter dem Vortragstitel »Geschichtsklitterung oder alternative Fakten? Urteilsbildung im vielbeschworenen ›postfaktischen‹ Zeitalter am Beispiel eines videografierten Unterrichtsettings zu NS-Propaganda« im Rahmen der Tagung »Geschichtsdidaktik empirisch 17« am 7. September 2017 an der Alten Universität Basel referiert. Beide Vorträge werden publiziert, Überschneidungen bei der Darstellung des theoretischen Fundaments und des Forschungsdesigns in den nachfolgenden Publikationen sind deshalb leider nicht zu vermeiden. 2 Gauland, 2018a.
36
Andrea Kolpatzik
auf.3 Das Echo der Fachöffentlichkeit ließ nicht lange auf sich warten: »Historiker vergleichen Gauland-Text mit Hitler-Rede, die er 1933 vor Arbeitern gehalten hat«4, berichtete etwa das Handelsblatt. »Wie Gauland sich an Hitler-Rede anschmiegt«5, monierte der Tagesspiegel. Der Vorwurf: Alexander Gauland habe in seinem Gastbeitrag für die FAZ Argumentation und Duktus der sogenannten Siemensstadt-Rede, die Adolf Hitler im Jahr 1933 vor Berliner Arbeitern gehalten habe, übernommen. Der Historiker Wolfgang Benz, renommierter Antisemitismus-Forscher, brachte die Kritik im Tagesspiegel auf den Punkt: Der Text Gaulands »wirke so, als habe der AfD-Chef den Redetext des Führers von 1933 auf den Schreibtisch gelegt, als er seinen Gastbeitrag für die ›FAZ‹ schrieb«6. Diese hier nur in Auszügen skizzierte Kontroverse um den Gastbeitrag Alexander Gaulands in der FAZ verdeutlicht exemplarisch die Bedeutung von Urteilsbildung im vielbeschworenen ›postfaktischen Zeitalter‹. Wenngleich der Stellenwert von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht in der Geschichtsdidaktik unbestritten ist,7 stellt diese seit einiger Zeit Überlegungen an, wie Urteilsbildung im Geschichtsunterricht angesichts der geschichtskulturellen Allgegenwärtigkeit von Populismus nachhaltig angebahnt werden kann.8 Im aktuellen Diskurs scheint sich ein sprachwissenschaftlicher Zugriff durchzusetzen: Statt einer rein normativen Opposition zwischen faktischen und fiktiven Geschichtsdarstellungen fokussieren sich die Vertreter der Systematischen Funktionslinguistik (SFL) angelsächsischer Prägung auf narrativ-strukturelle Elemente der Konstruktion wirkmächtiger populärer Geschichtsdarstellungen.9 Der vorliegende Beitrag greift diese sprachwissenschaftlichen Überlegungen zu Urteilsbildung im Geschichtsunterricht auf. Am Beispiel eines mehrere Geschichtsstunden umfassenden videografierten Unterrichtssettings zu NSPropaganda in einem Geschichte-Leistungskurs möchte er aus empirischer Perspektive zur aktuellen Diskussion beitragen, versteht sich als Beitrag zur geschichtsdidaktischen Phänomenforschung und gliedert sich in sechs Abschnitte: Im ersten Abschnitt wird das Erkenntnisinteresse dieses Beitrages skizziert, in Abschnitt zwei der Forschungsstand diskutiert und in Abschnitt drei 3 4 5 6 7
Ebd. N.N. 2018. Benz, 2018. Ebd. Sowohl curriculare Vorgaben als auch geschichtsdidaktische Kompetenzmodelle identifizieren historische Urteilsbildung als ein Qualitätsmerkmal »guten« Geschichtsunterrichts. Vgl. z. B. Meyer-Hamme/ Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2016; Gautschi, 2015. 8 Vgl. in systematischer Absicht Zülsdorf-Kersting 2016. Auch die von Andreas Körber herausgegebene Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 17 (2018) widmetet sich dem Themenkomplex »Fakten und Fiktionen«. 9 Vgl. z. B. Köster 2018; Hasenberg 2018; Kerber 2018; Kolpatzik 2010. Zum Zusammenhang von Geschichte und Sprache grundsätzlich Handro/Schönemann 2010.
Werturteilsbildung im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht
37
und vier schließlich der theoretische Rahmen sowie das Forschungsdesign reflektiert. In Abschnitt fünf folgt die Präsentation und Diskussion erster empirischer Ergebnisse, bevor in Abschnitt sechs schließlich Forschungsperspektiven erörtert werden.
2
Fragestellung
Am thematischen Beispiel eines mehrere Geschichtsstunden umfassenden videografierten Unterrichtssettings zu NS-Propaganda, einem mit Emotionen und ideologisch gefärbten Wertungen aufgeladenen Lerngegenstand,10 unternimmt der vorliegende Beitrag eine explorative Erkundung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht in einem Geschichte-Leistungskurs der Jahrgangsstufe Q1/ Q2 des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen11. Der analytische Fokus liegt hierbei auf der (1.) sprachlichen Artikulation von Werturteilen und (2.) deren argumentativen Begründung und diskursiven Behauptung im videografierten Unterrichtsgespräch durch die Schülerinnen und Schüler. Natürlich, auf den ersten Blick scheint das thematische Beispiel des Nationalsozialismus wenig geeignet, um Werturteilsbildung im Geschichtsunterricht empirisch zu erkunden. Denn die Erinnerung an die NS-Zeit ist in der Bundesrepublik geschichtspolitisch derart genormt, dass Lernende im Geschichtsunterricht vor allem sozial erwünschte Antworten geben und dort viele Dinge nicht gedacht, gesagt oder geschrieben werden (dürfen).12 Doch dieser erinnerungskulturelle Konsens wird gegenwärtig infrage gestellt: So versucht etwa die AfD, die Grenzen des Sagbaren im Umgang mit dem Holocaust zu verschieben und die deutsche Erinnerungskultur zu renovieren.13 Diese Debatte macht den Nationalsozialismus trotz seiner normativen Vorbestimmtheit der geschichtspolitischen Bewertung zu einem produktiven Gegenstand für die empirische Exploration von Werturteilsbildung im Geschichtsunterricht. Denn mit Jan Hodel und Kollegen wird davon ausgegangen, dass erstens diese gesellschaftliche Omnipräsenz des Nationalsozialismus Schülerinnen und Schüler eher zu Werturteilen provoziert als abseitigere Themen und zweitens diese geschichtspolitische Normativität des Themenkomplexes bei den Lernenden sprachlich besonders prägnante Wertungen evoziert.14
10 11 12 13 14
Longerich 2014. Im Folgenden NRW. Vgl. Zülsdorf-Kersting 2007; Hodel 2013, v. a. S. 140–143. Gauland 2018b; Sabrow 2017. Hodel 2013 (Anm. 12).
38
3
Andrea Kolpatzik
Forschungsstand
Während die Bedeutung des Aufbaus und der Differenzierung von Urteilsfähigkeit im Geschichtsunterricht aus programmatischer Perspektive unstrittig ist, deuten die wenigen Befunde geschichtsdidaktischer Empirie auf pragmatische Probleme der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht hin: Vor allem die Befunde der Studien von Köster,15 Martens,16 Spieß17 oder Zülsdorf-Kersting18 können als Hinweise interpretiert werden, dass Lernende mit dem Prozess der historischen Erkenntnisgewinnung nicht hinreichend vertraut sind,19 epistemisch auf basaler Ebene oftmals nicht zwischen Quelle und Darstellung unterscheiden können20 und Urteile im Geschichtsunterricht primär in Form affirmativer Werturteile bilden.21 Diese hier aus Platzgründen nur kursorisch skizzierten Befunde, die zudem im Lichte der jeweils beforschten Lerngruppe und der gewählten Forschungsmethoden zu interpretieren sind, korrespondieren mit den Ergebnissen der repräsentativen Studie von Bernd Schönemann und Kollegen: Unter der Fragestellung »Was können Abiturienten?«22 werteten die Forscher für das Bundesland Nordrhein-Westfalen die Klausuren des Zentralabiturs Geschichte des Jahres 2008 aus und kommen zu dem Befund, dass Lernenden am Ende ihrer Schullaufbahn oftmals nicht bewusst sei, »wie man gute historische Sach- und vor allem Werturteile bildet«23.
4
Theoretisches Fundament
Das in aktuellen Lehrplänen des Bundeslands NRW definierte Ziel des Geschichtsunterrichts ist gemäß geschichtsdidaktischer Prämissen die Entwicklung und Förderung eines »reflektierten Geschichtsbewusstseins«24. Im Kernlehrplan für Geschichtsunterricht in der Oberstufe an Gymnasien und Gesamtschulen heißt es:
Köster 2014. Martens 2010. Spieß 2014. Zülsdorf-Kersting 2011, 2007 (Anm. 12). Vgl. z. B. Martens 2010 (Anm. 16); Spieß 2014 (Anm. 17). Vgl. z. B. Spieß 2014 (Anm. 17); Schönemann 2016. Zülsdorf-Kersting 2011, 2007(Anm. 12); Köster 2014 (Anm. 15). Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2011. Siehe hierzu auch das Plädoyer für eine Erdung der Kompetenzdebatte von Schönemann 2016 (Anm. 20). 23 Ebd. S. 98. 24 Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW 2014, S. 12.
15 16 17 18 19 20 21 22
Werturteilsbildung im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht
39
»Die Beherrschung der Fähigkeiten zur sinnbildenden Darstellung von Geschichte sowie zur Analyse und Beurteilung historischer Narrationen charakterisieren ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein«.25
Wenngleich der Lehrplan in Anlehnung an Karl-Ernst Jeismann intendiert, »Urteilskompetenz«26 über »Sachurteile«27 und »Werturteile«28 anzubahnen, bleibt indes weitgehend offen, wie historische Narrationen konkret analysiert und beurteilt werden sollen. Damit weist der Kernlehrplan NRW eine Leerstelle auf, die auch im geschichtsdidaktischen Diskurs aktuell kontrovers diskutiert wird.29 Allerdings: Urteilsbildung ist in der Geschichtsdidaktik eng mit dem Namen Karl-Ernst Jeismann verknüpft. Dessen idealtypische Differenzierung des Prozesses der Urteilsbildung in Analyse, Sach- und Werturteil findet sich nicht nur im aktuellen Kernlehrplan für Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe II an Gymnasien und Gesamtschulen in NRW, sondern gilt in der Geschichtsdidaktik gemäß Becker auch als akzeptiertes Modell.30 Im Interesse einer Verzahnung von geschichtsdidaktischer Theorie und Unterrichtspraxis bildet die Jeismann-Trias31 deshalb das theoretische Fundament dieser Untersuchung (Tab. 1). Jeismanns idealtypischer Zugriff ist an den aktuellen geschichtsdidaktischen Diskurs anschlussfähig. Die Jeismann-Trias erlaubt es, den Prozess der Urteilsbildung auf Basis eines erzähltheoretischen Zugriffs durch Bereitstellung unterschiedlich dimensionierter Urteilskategorien heuristisch zu strukturieren – und dadurch für empirische Erkundungen operationalisierbar zu machen.32 Mit dieser Grundentscheidung lehnt sich diese Untersuchung an theoretisch-methodische Überlegungen der Studie Schönemanns und Kollegen zur Auswertung des Zentralabiturs in NRW im Fach Geschichte des Jahres 2008 an, deren Autoren ihren Zugriff explizit als Alternative zur Kompetenztestung verstehen.33
25 26 27 28 29 30 31 32 33
Ebd. Ebd. S. 16. Ebd. Ebd. Siebörger 2017; Seixas 2016; Köster 2018 (Anm. 9). Becker 2010, 2017. Siehe z. B. Jeismann 2000; Jeismann 1997. Becker 2010, 2017 (Anm. 30). Schönemann 2011 (Anm. 22), v. a. S. 33–36.
40
Andrea Kolpatzik
Analyse »[…] Beschreibung oder Analyse eines aus historischen Zeugnissen rekonstruierten Faktums, sei es ein Zustand oder ein Vorgang, also die Klärung des historischen Sachverhalts, die Sachanalyse« (Jeismann, 2000, S. 63)
Sachurteil »[…] die historische Bedeutungszuweisung, d. h. die Einordnung dieses Faktums in einen größeren Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen und die Zumessung einer historischen Kraft – also ein Urteil über die Stellung dieses Faktums im Zusammenhang der Epoche oder der aufeinanderfolgenden Perioden der Geschichte, das über die bloße Erhellung und Deskription des Sachverhalts hinausgreift und nicht allein aus den Quellen abzuleiten ist, die sich auf diesen Sachverhalt beziehen. […]« (Jeismann 2000, S. 63–64)
Werturteil »[…] die Herstellung einer Beziehung zwischen dem historischen Faktum und seiner geschichtlichen Bedeutung einerseits, einer persönlichen und sozialen Betroffenheit andererseits ist die dritte Operation, die den unmittelbaren Lebensbezug historischer Erscheinungen betrifft. Bei dieser Operation fließen die Aussagen über Sachverhalte und das historische Urteil im Selbstverständnis zusammen zu einem historischen Werturteil, das je nach Art der Betroffenheit des Betrachters unterschiedlich ausfallen kann.« (Jeismann, 2000, S. 64)
Tab. 1: Tabellarische Darstellung der idealtypischen Definition unterschiedlicher Teiloperationen historischen Denkens nach Karl-Ernst Jeismann.
5
Methodischer Ansatz
Die Studie umfasst die Lerngruppe eines Geschichte-Leistungskurses (N = 1) eines Gymnasiums in NRW. Es handelt sich somit um eine Fallanalyse. Der Leistungskurs setzt sich aus 13 Lernenden (8m/5w) zusammen. Die Wahl dieses Leistungskurses erfolgte primär aus arbeitspragmatischen Überlegungen (leichter Zugang zur Lerngruppe über bekannte Lehrerkollegen, handhabbare Datenauswertung) und orientierte sich im Interesse einer gewissen Vergleichbarkeit der Befunde am Sample der Studie von Schönemann und Kollegen aus dem Jahr 2011. Doch während Schönemann und Kollegen zu einem deutlich früheren Zeitpunkt im Jahr 2008 mit Abiturklausuren die Ergebnisse schulischen Geschichtsunterrichts auswerteten, stehen in diesem Beitrag der Geschichtsunterricht und die in den videographierten Geschichtslektionen stattfindenden Lernprozesse im Fokus.
Werturteilsbildung im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht
5.1
41
Datenerhebung
Die Erhebung der Daten erfolgte mittels Videographie. Insgesamt wurden fünf problemorientierte Unterrichtseinheiten eines Unterrichtssettings im Inhaltsfeld 5 »Die Zeit des Nationalsozialismus – Voraussetzungen, Herrschaftsstrukturen, Nachwirkungen und Deutungen«34 des Kernlehrplans für das Unterrichtsfach Geschichte in der gymnasialen Qualifikationsphase in NRW mit dem Schwerpunkt der Analyse der »ideologische[n] Voraussetzungen«35 für die Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft zum Thema NS-Propaganda videographiert (Tab. 2).36 Unterrichtsstunde
1. UE
2. UE
Thema Dauer Dokumentation »[…] Wir wollen die Menschen so lange bearbeiten, bis sie uns verfallen sind […]« – Die Analyse zeitgenössischer Überlegungen Adolf Hitlers aus dem Jahr 1936 (»Mein Kampf«), Hermann Görings aus dem Jahr 1934 (»Über Kunstwillen und Volksempfinden«) und Joseph 45 Minuten Goebbels aus dem Jahr 1933 (Aufgaben und Ziele des »Reichsministeriums für Volksaufklärung«) als exemplarischer Anlass zur Charakterisierung der ideologisch motivierten Methoden, Funktion und intendierten Ziele von NSPropaganda »Wollt ihr den totalen Krieg?« – Die Analyse der ›Sportpalastrede‹ Joseph Goebbels vom 18. Februar 1943 als exemplarischer Anlass zur 90 Minuten Erörterung der suggestiven Wirkung der sprachlichen Mittel von NS-Propaganda
34 Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW 2014 (Anm. 24), S. 19. 35 Ebd. S. 38. 36 Das Unterrichtsetting wurde von universitären Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktikern, Fachleiterinnen und Fachleitern sowie Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern geplant.
42
Andrea Kolpatzik
(Fortsetzung) Unterrichtsstunde
3. UE
Thema Dauer Dokumentation »Du bist nichts, Dein Volk ist alles«? Die Analyse des NSPropagandafilmes »Hitlerjunge Quex. Ein Film vom Opfergeist der deutschen Jugend« aus dem Jahr 1933 als exemplarischer [nicht Anlass zur Erörterung der 90 Minuten videographiert] suggestiven Wirkung filmischer Inszenierungsmittel von NSPropaganda [in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung und dem Beckumer Stadttheater Filou]
4. UE
Verfu¨ hrt, verfolgt oder verwa¨ hlt? Die Analyse unterschiedlicher Erklärungsmodelle der Geschichtswissenschaft als 45 Minuten exemplarischer Anlass zur Bewertung des Aufstieges und der gesellschaftlichen Akzeptanz der NSDAP 1933/ 1934
5. UE
Verfu¨ hrt, verfolgt oder verwa¨ hlt? Die Analyse unterschiedlicher Ansa¨ tze der Geschichtswissenschaft als exemplarischer Anlass zur 45 Minuten Bewertung des Aufstieges und der gesellschaftlichen Akzeptanz der NSDAP 1933/ 1934
6. UE
NS-Propaganda reloaded? – Die Analyse historischer Hassreden im Internet als exemplarischer Anlass zur Bewertung sprachlicher Formen und Inhalte von 90 Minuten Geschichtsklitterung im 21. Jahrhundert [in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung und Geschichtscheck]
[nicht videographiert, Lernprodukte dokumentiert]
Werturteilsbildung im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht
43
(Fortsetzung) Unterrichtsstunde
7. UE
Thema Dauer Dokumentation Geschichtsklitterung oder ›alternative Fakten‹? Die Analyse der Rede Björn Höckes vom 17. Januar 2017 als exemplarischer Anlass zur Bewertung von 60 Minuten sprachlichen Formen und Inhalten der aktuellen Verschiebung der Grenzen des Sagbaren im Umgang mit dem Nationalsozialismus
Tab. 2: Darstellung der Geschichtslektionen des videografierten Unterrichtsettings
Die Konzeption dieses Unterrichtssettings folgte dem Grundgedanken, dass die Grenzen des Sagbaren in Bezug auf den Nationalsozialismus vor allem von der AfD gegenwärtig neu verhandelt werden, sich dieser über Sprache vollziehende Versuch, die deutsche Erinnerungskultur zu renovieren, für Schülerinnen und Schüler jedoch nicht unmittelbar erschließt. Ausgehend von dieser Prämisse fokussierte das videographierte Unterrichtssetting in einem ersten Schritt die quellenbasierte Auseinandersetzung mit Intentionen und Methoden von NS-Propaganda der Jahre 1933 bis 1945 (einfache Sprache, plakative Botschaften und deren permanente Wiederholung), um deren Umsetzung und (suggestive) Wirkung anschließend in einem exemplarischen Zugriff am Beispiel der ›Sportpalastrede‹ Joseph Goebbels vom 18. Februar 1943 sowie am Beispiel des Spielfilms »Hitlerjunge Quex« aus dem Jahr 1933 zu analysieren (vgl. Tabelle 2, Geschichtslektionen 1–3). Im zweiten Schritt erfolgte auf Basis multiperspektivischer und kontroverser Historikerurteile unter der Leitfrage »Verführt, verfolgt oder verwählt? (Historiografische) Erklärungsansätze der Etablierung der NS-Herrschaft in den Jahren 1933/34 in der Diskussion« die mehrdimensionale Analyse und Bewertung möglicher Gründe (z. B. Verführung der deutschen Bevölkerung durch geschickte Propaganda, systematische Verfolgung und Unterdrückung politisch Andersdenkender, Konstrukt der »NS-Volksgemeinschaft« als soziale Verheißung) des gesellschaftlichen Aufstieges und der gesellschaftlichen Akzeptanz der NSDAP in den Jahren 1933/34 (vgl. Tabelle 2, Geschichtslektionen 4 und 5). Im dritten Schritt folgte der Rekurs auf die Gegenwart: Am Beispiel historischer Hassreden im Internet und des medienwirksamen Appells einer »erinnerungspolitischen Wende« des thüringischen AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höckes vom 17. Januar 2017 – freilich ohne Angaben zum Redner und seiner Parteizugehörigkeit – setzten sich die Lernenden mit den (quellenkritischen) Schwierigkeiten auseinander, populäre Geschichtsdeutungen auf frei zugänglichen Internet- und Streaming-Seiten zu identifizieren, zu interpretieren und
44
Andrea Kolpatzik
differenziert Stellung zu ihnen zu nehmen (vgl. Tabelle 2, Geschichtslektionen 6 und 7). Die einzelnen Unterrichtsstunden wurden jeweils mit Hilfe von drei Videokameras aufgezeichnet: Die erste Kamera filmte vom Ende des Kursraumes die Lernenden. Die zweite Kamera war auf die Tafel gerichtet, um den Tafelanschrieb (Entwicklung der Leitfrage, Tafelbilder etc.) zu dokumentieren. Die dritte Kamera zeichnete die Lehrkraft sowie deren Interaktion mit den Lernenden auf. Ergänzend wurden Lernprodukte (Klausuren, Concept Maps) erhoben. Die videographierten Geschichtslektionen waren in einem größeren unterrichtlichen Kontext situiert: Ihnen ging die Analyse der politischen Voraussetzungen der NS-Herrschaft voraus. Es dürfte deutlich geworden sein: Bei dieser kleineren explorativen Untersuchung zur Urteilsbildung im Geschichtsunterricht in der gymnasialen Oberstufe handelt es sich im Sinne der Schweizer Geschichtsdidaktikerin Monika Waldis um eine »thematisch fokussierte[…] Datenerhebung[…] mit mehreren Lektionseinheiten und einer darauf abgestimmten Lernzielerfassung (z. B. Lernzieltest vor und nach der Lektionseinheit)«37. Dieses Forschungsdesign erlaubt Waldis zufolge die »systematische Suche nach Zusammenhängen zwischen fachlichen Ansprüchen (Qualität der Inhalte), fachdidaktischen Ansprüchen (Qualität der Unterrichtsprozesse), Lernprozessen und Lernwirkungen«38.
5.2
Datenauswertung
Der Fokus der Datenauswertung liegt auf Sprachhandlungen. Von Interesse sind die sprachliche Artikulation von Werturteilen und deren diskursive Begründung durch die Lernenden im Geschichtsunterricht. Um Werturteile in der Unterrichtskommunikation zu erfassen, wurde Geschichtsunterricht videographiert, die einzelnen Lektionen transkribiert. Die Auswertung der Transkripte erfolgte in einem mehrschrittigen Verfahren mittels einer strukturierten qualitativen Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring,39 Körber40 und Bracke41 (Tab. 3).
37 38 39 40 41
Waldis 2016, S. 141–142. Ebd. S. 142. Mayring 2002. Körber 2006. Bracke 2017.
Werturteilsbildung im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht
45
Schritt Fokus Ziel 1. Schritt Analyse der Unterrichtskommunika- Offenlegung von Sichtstrukturen und tion nach formalen Kriterien zur unterrichtlichen KommunikationsGestaltung von Geschichtsunterricht zusammenhängen (z. B. Einstieg, Erarbeitungsphase, Ergebnispräsentation und -diskussion, Urteilsbildung, Reflexion des Lernweges) 2. Schritt Strukturierung der Unterrichtskommunikation hinsichtlich der von der Lehrkraft eingeforderten historischen Denkleistungen (Arbeitsaufträge, visuelle und verbale Impulse, Sprechanlässe)
Strukturierung der Unterrichtskommunikation bezüglich Phasen der Problemorientierung, historischen Sachanalyse sowie der historischen Sach- und Werturteilsbildung oder Metakognition
3. Schritt Kodierung und Kategorisierung ein- Analyse sprachlicher Phänomen der zelner Redebeiträge der Lernenden Werturteilsbildung, deren argumenim Hinblick auf Werturteilsbildung tativer Begründung und diskursiver Behauptung im Unterrichtsgespräch durch die Lernenden Tab. 3: Tabellarische Darstellung des mehrdimensionalen Auswertungsverfahrens
Hinter diesem mehrdimensionalen Auswertungsverfahren steht die Annahme, dass sich historisches Denken im Geschichtsunterricht in einer spezifischen Kommunikationssituation vollzieht.42 In der Erziehungswissenschaft gilt die Definition von Unterricht als Angebot-Nutzungs-Modell als state of the art der Unterrichtsforschung.43 Das Angebot-Nutzungs-Modell modelliert Lernleistungen als das in Form von Unterrichtsbeiträgen messbare Ergebnis der Nutzung der von der Lehrkraft bereitgestellten Lernangebote durch die Lernenden. Das vorgestellte Auswertungsverfahren ermöglicht die Analyse dieser spezifischen Unterrichtskommunikation: Im ersten Schritt wurden die videographierten Geschichtslektionen nach formalen Kriterien bzw. Sichtstrukturen analysiert.44 Anschließend wurde das Datenmaterial im zweiten Schritt nach Phasen strukturiert, die auf Basis der von der Lehrkraft im videographierten Geschichtsunterricht geforderten historischen Denkleistungen festgelegt werden.45 Im dritten Schritt wurden auf Basis der Definition des Prozesses der Urteilsbildung nach Karl-Ernst Jeismann (Analyse, Sach- und Werturteil) die einzelnen Redebeiträge der Lernenden im Hinblick auf Werturteile kodiert. Dessen geschichtstheoretisch deduzierte Urteilskategorien dienen als Heuristik,
42 43 44 45
Siehe z. B. Körber 2006 (Anm. 40); Gautschi 2015; Bracke 2018. Hierzu v. a. Bracke 2017; Helmke 2014; Köster/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2017. Hodel/Waldis 2007; Körber 2006 (Anm. 40). Bracke 2017 (Anm. 41).
46
Andrea Kolpatzik
um Werturteile der Lernenden zu identifizieren und deren argumentative Qualität auf Basis einzelner Schüleräußerungen induktiv auszudifferenzieren.
6
Erste Ergebnisse
Für eine empirische Exploration sprachlicher Phänomene der Werturteilsbildung im vielbeschworenen ›postfaktischen Zeitalter‹ erscheint die Analyse der siebten Geschichtslektion (vgl. Tabelle 2) besonders aufschlussreich, da diese auf die Bewertung der Forderung einer »erinnerungspolitischen Wende«46 des thüringischen AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke im Rahmen einer in Dresden am 17. Januar 2017 gehaltenen Rede durch die Schülerinnen und Schüler des videografierten Geschichte-Leistungskurses fokussiert. Strukturiert man Lektion sieben entlang der von der Lehrperson geforderten Denkleistungen, dann ergibt sich folgende Unterrichtsstruktur (Tab. 4). Geschichtslektion 7 Struktur des Methodisch-didaktische Unterrichtsverlauf Grundentscheidungen 1. Phase Problemorientierung Problemgenerierung durch kognitive Dissonanz: Die Lernenden erklärten die Etablierung der NSHerrschaft 1933/34 im Unterrichtssetting bisher mit der vermeintlichen Verführung der deutschen Bevölkerung durch geschickte NS-Propaganda – und gaben an, für aktuelle populistische Argumentationen deshalb besonders sensibel zu sein. Aus diesem Grund wurden die Lernenden mit einem Zitat Adolf Hitlers aus »Mein Kampf« über den Zweck von Geschichtsunterricht konfrontiert – freilich ohne Quellenangabe. Im Ergebnis folgten alle Lernenden Hitlers Auffassung von Geschichte als »Lehrmeisterin für die Zukunft« und Garantin »für den Fortbestand des eigenen Volkstums« unreflektiert. 2. Phase Entwicklung der Leitfrage
Die Leitfrage dieser Stunde lautete: »Geschichtsklitterung oder ›Alternative Fakten‹? Populistische Argumentationen im Faktencheck«
46 Die von Björn Höcke am 17. Januar 2017 in Dresden gehaltene Rede liegt im Wortlaut vor und ist in den Online-Ausgaben überregionaler Tages- und Wochenzeitungen im Internet abrufbar. Siehe z. B. Dpa 2017 (aufrufbar auf: https://www.zeit.de/news/2017-01/18/parteiendie-hoecke-rede-von-dresden-in-wortlaut-auszuegen-18171207) [Stand: 24. Dezember 2018].
Werturteilsbildung im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht
47
(Fortsetzung)
Struktur des Unterrichtsverlauf 3. Phase Interpretation der Rede Björn Höckes in Dresden vom 17. Januar 2017
4. Phase Ergebnispräsentation und -diskussion
Geschichtslektion 7 Methodisch-didaktische Grundentscheidungen In diesem Stundenteil wurde die Forderung Björn Höckes nach einer »erinnerungspolitischen Wende« – freilich ohne Offenlegung der Person und Funktion des Redners – herausgearbeitet. Die Aufgabenstellung lautete: »Interpretieren Sie den vorliegenden Redeauszug, indem Sie a) ihn analysieren (äußere Quellenkritik); b) die zentrale These und die zentralen Argumente herausarbeiten und diese mit historischen Fallbeispielen be- oder widerlegen; c) auf Basis Ihrer Arbeitsergebnisse Stellung zur Leitfrage dieser Stunde nehmen.« In dieser Phase sollten die Lernenden die von ihnen interpretierte Höcke-Rede den anderen Schülerinnen und Schülern des Geschichtskurses problemorientiert und ökonomisch darstellen. Im Fokus dieser Phase der videographierten Geschichtsstunde standen folglich die Teilaufgaben a und b der oben zitierten Aufgabenstellung. Die Ergebnispräsentation und -diskussion erfolgte auf Basis von Lernplakaten, auf denen eine vorstrukturierte Concept Map vorgegeben war, die folgende Schwerpunkte umfasste: 1. äußere Quellenkritik, 2. Herausarbeitung der zentralen These und der zentralen Argumente des Autors, 3. Erörterung der Triftigkeit der Thesen und Argumente des Autors durch deren historische Kontextualisierung.
5. Phase Beantwortung der Im Fokus dieser Phase der videographierten Leitfrage / Geschichtsstunde stand folglich Teilaufgabe c der Werturteilsdiskussion oben zitierten Aufgabenstellung. Tab. 4: Phasierung der siebten Geschichtslektion anhand der von der Lehrkraft geforderten Denkleistungen
Diese Phasierung des Stundenverlaufs zeigt, dass die Lehrkraft Werturteile erst am Stundenende (Der Operator des entsprechenden Arbeitsauftrages lautete: Stellung nehmen; vgl. Tabelle 4) einfordert. Deren Diskussion erfolgt als Unterrichtsgespräch zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern. Dieses dauert 17:05 Minuten und umfasst 56 Diskurspositionen (Redebeiträge). Die Analyse des transkribierten Verlaufs der Werturteilsdiskussion offenbarte zwei zentrale Befunde: Erstens deuten die Redebeiträge der Lernenden darauf hin, dass diese Werturteile überwiegend als Aufforderung zu einer persönlichen Aussage mit Wertungsfunktion (»Also mich persönlich hat das jetzt
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[…]«; »würde ich betrachten […]«) begreifen. Diese persönlichen Bewertungen korrespondieren folglich überwiegend nicht mit geschichtsdidaktischen Konzepten der Werturteilsbildung.47 Zweitens fiel auf, dass der YouTube-Mitschnitt der Rede Björn Höckes vom 17. Januar 2017 entgegen des Arbeitsauftrages von den in der siebten Geschichtslektion videografierten Schülerinnen und Schülern überwiegend in Hinblick auf dessen narrative Triftigkeit bewertet wurde.48 Dieser Befund ist bemerkenswert, da die Ergebnisse der empirischen Studien von Meik Zülsdorf-Kersting, Jan Hodel et al., Bernd Schönemann et al. oder Manuel Köster den großen Einfluss der normativen Vorbestimmtheit der geschichtspolitischen Bewertung des Nationalsozialismus betonen,49 so dass in einem Unterrichtssetting zu NS-Propaganda zunächst besonders Werturteile bezüglich der normativen Triftigkeit der Rede Björn Höckes naheliegen. Stattdessen setzten sich die Lernenden in der videographierten Werturteilsdiskussion vor allem mit der narrativen Organisationsstruktur der Rede Björn Höckes auseinander, indem sie die Funktion gattungsspezifischer Elemente und die Wirkung der narrativen Organisationsstruktur der Rede auf die Zuhörer analysierten (Typ 1), durch einen Vergleich der Rede mit anderen bekannten historischen Reden gattungsspezifische Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiteten (Typ 2) sowie die Erzähllogik der Rede prüften (Typ 3). Diese zentralen Befunde sollen im Folgenden nun beispielhaft am Transkript verdeutlicht werden: Ein prägnantes Beispiel für die Bewertung der Rede Höckes auf Basis der Analyse gattungsspezifischer Elemente und der Wirkung der Organisationsstruktur der Rede auf die Zuhörer ist das Urteil von Sw1: Sw1, Unterrichtslektion 7, Diskursposition 5–11 (Minute 43.05–44.26): Sw1: »Also aus sprachlicher Perspektive würde ich das als sehr, sehr kritisch betrachten, weil eben sehr viele sprachliche Mittel verwendet wurden, die die Zuhörerschaft beeinflussen. Wie wir das ja schon gerade erkannt haben, ein ›Wir-Gefühl‹. Er spricht sehr, sehr oft ›liebe Freunde‹ und ›Patrioten‹ und das suggeriert halt den Zuhörern, wir können was erreichen, um endlich etwas gegen dieses böse System in Anführungszeichen zu tun. Und demnach ist – wie heißt er jetzt? Bernd Höcke? – Björn Höcke ja recht gut darin, andere Personen zu beeinflussen.« L: »Möglicherweise. Ja. Also über die Wirkung der Rede auf die in Dresden anwesenden Zuhörer können wir jetzt nichts Genaues sagen, aber deine Schlussfolgerung spiegelt deine Wahrnehmung wider. Von daher völlig berechtigt. Ja.« 47 Vgl. z. B. Weymar 1970; Jeismann 1997, 2000 (Anm. 31) oder Rüsen 2013. 48 Jörn Rüsen unterscheidet zwischen normativer, narrativer und empirischer Triftigkeit. Rüsen, 2013 (Anm. 47), S. 60–63. 49 Zülsdorf-Kersting 2007 (Anm. 12), 2011 (Anm. 22); Hodel 2013 (Anm. 12); Schönemann 2011 (Anm. 22), Köster 2013, 2014 (Anm. 15).
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Sw1: »Ja, beweisen lässt sich das dahingehend, dass halt sehr oft applaudiert und gejubelt wird.«
Dieses Zitat zeigt, dass diese Schülerin den Arbeitsauftrag der Stellungnahme zunächst als Aufforderung zu einer persönlichen Aussage mit Wertungsfunktion begreift (»[…] würde ich […] betrachten«): Sw1 bewertet die zuvor interpretierte Rede als suggestiv, legt ihren Wertmaßstab (»aus sprachlicher Perspektive«) offen und begründet ihr Urteil mit sprachlichen Mitteln und der Reaktion des Dresdner Auditoriums. Mehr noch: Um der Wirkung der Rede auf das Auditorium nachzuspüren, fokussiert Sw1 auf gattungsspezifische Besonderheiten der analysierten Geschichtsdeutung in Form der verbalen Konstruktion eines Gemeinschaftsgefühls durch den Redner (»liebe Freunde«, »Patrioten«) und die Interpretation von Jubel und Applaus des Auditoriums als Beleg für die Wirkmächtigkeit der Rede. Allerdings: Die Argumentation der Schülerin basiert zwar auf dem analysierten Quellenmaterial. Dieses dient jedoch lediglich der Fundierung des eigenen Urteils, entgegen des Arbeitsauftrages unterbleibt eine kritische Reflexion des eigenen Standpunktes.50 Auch das Urteil von Sw2 rekurriert auf die narrative Organisationsstruktur der analysierten Rede, fokussiert jedoch einen historischen Vergleich: Sw2, Unterrichtslektion 7, Diskursposition 17–21 (Minute 45.31–45.53): Sw2: »Also mich persönlich hat das jetzt mit dem Applaus und Jubel ziemlich an die Sportpalastrede erinnert.« L.: »Von wem?« Sw2: »Von Joseph Goebbels.« L.: »Wie kommst Du auf diesen Zusammenhang?« Sw2: »Einfach, weil wegen Aufbau. Weil er halt immer die Aussagen so stellt, dass er Zustimmung bekommt.«
Dieses Zitat zeigt, dass das Urteil von Sw2 über die Triftigkeit der zuvor analysierten Rede auf einer Analogie basiert (»Also mich persönlich hat das jetzt mit dem Applaus und Jubel ziemlich an die Sportpalastrede erinnert.«). Ähnlich wie der in diesem Beitrag eingangs zitierte Historiker Wolfgang Benz, der aufgrund einer vermeintlich ähnlichen Argumentation und eines vermeintlich analogen Duktus den Gastbeitrag Alexander Gaulands in der FAZ vom 6. Oktober 2018 mit der Siemensstadt-Rede Adolf Hitlers aus dem Jahr 1933 verglich, unterzieht Sw2 50 Zur Problematik einer differenzierten historischen Argumentation im Geschichtsunterricht siehe auch Mierwald/Brauch 2015. Die Bochumer Geschichtsdidaktiker konnten empirisch fundiert nachweisen, dass Lernenden vor allem die Reflexion der Erklärungskraft und der Reichweite des interpretierten Quellenmaterials schwerfällt.
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die Rede Höckes ebenfalls einer narrativen Triftigkeitsprüfung. Die zwischen der im Geschichtsunterricht analysierten Rede und der ›Sportpalastrede‹ Joseph Goebbels von der Schülerin identifizierte Gemeinsamkeit bleibt jedoch vage: Sie wird auf kleinschrittige Nachfrage der Lehrkraft von Sw2 zwar in Ansätzen entfaltet, aber aufgrund der verwendeten Alltagssprache weder argumentativ elaboriert (»Einfach, weil wegen Aufbau.«) noch sprachlich konkretisiert (»Weil er [Wer? A.K.] halt die Aussagen so stellt, dass er [Wer? A.K.] Zustimmung bekommt.«). Hinzu kommt: Auch die Zulässigkeit einer Analogie zwischen der Rede vom 17. Januar 2017 und der ›Sportpalastrede‹ reflektiert die Schülerin nicht. Deutlich elaborierter fällt das Urteil von Sw1 aus. Die Schülerin stützt ihre Bewertung der Rede Höckes auf die Analyse der Plausibilität von deren Erzähllogik: Sw1, Unterrichtslektion 7, Diskursposition 23 (Minute 46.06–47.05): Sw1: »Zum einen spricht er ähm von der Bombardierung Dresdens, da er ja die Rede in Dresden hält, die auch auf viel Zuspruch trifft, da eben die Leute, die anwesend sind, oder deren Verwandte eben das miterlebt haben und ähm der Vergleich mit dem Atombombenabwurf in Nagasaki und Hiroshima, was aus meiner Perspektive recht übertrieben ist, weil also naja Atombomben und vielleicht so eine Bombardierung haben ganz unterschiedliche Auswirkungen auf die Menschen, die in den Ländern und in den Städten leben. Und ja er geht jetzt nicht weiter drauf ein, was äh es für das Volk dann bedeutet hat, welches dann unter der Bombardierung zu leiden hatte.«
Dieses Zitat verdeutlicht, dass Sw1 die Akzentuierung der Bombardierung Dresdens in der Ordnungsstruktur der Rede Höckes aufgrund deren Wirkung auf das Dresdner Auditorium akzeptiert (»Zum einen spricht er ähm von der Bombardierung Dresdens, da er ja die Rede in Dresden hält, die auch auf viel Zuspruch trifft, da eben die Leute, die anwesend sind, oder deren Verwandte eben das miterlebt haben […]«), den Vergleich der Bombardierung Dresdens mit dem Atombombenabwurf in Nagasaki und Hiroshima jedoch als wenig plausibel ablehnt. Ihren Wertmaßstab, die unterschiedlichen Bomben und die damit einhergehenden Auswirkungen für die bombardierte Bevölkerung, legt Sw1 jedoch nur implizit offen. Einzig Sm2 nimmt in der videographierten Werturteilsdiskussion eine normative Bewertung vor : Sm2, Unterrichtslektion 7, Diskursposition 31 (Minute 49.19–49.44): Sm2: »Was ich daran auch ein bisschen zynisch finde, ist, dass er so sehr auf die Bombardierung Dresdens eingeht, aber komplett die Luftschlacht in England vernachlässigt. Die Deutschen haben – im August 1940 war es, glaube ich – London über Wochen hinweg täglich bombardiert. Und das er das dann mit keinem einzigen Wort erwähnt.«
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Dieses Zitat veranschaulicht, dass sich Sm2 in seiner Stellungnahme zur Rede Björn Höckes vor allem an dessen eindimensionaler Bewertung des Zweiten Weltkrieges stößt (»[…] dass er so sehr auf die Bombardierung Dresdens eingeht, aber komplett die Luftschlacht in England vernachlässigt«). Allerdings: Dieser normativen Bewertung der Rede Höckes (»Was ich daran ein bisschen zynisch finde […]«) des zitierten Schülers liegt die Analyse der narrativen Organisationsstruktur der Rede Höckes zugrunde, da Sm2 das Verschweigen der Bombardierung Englands durch die deutsche Luftflotte zum Maßstab seiner normativen Bewertung macht (»Und das er das dann mit keinem einzigen Wort erwähnt«.)
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Perspektiven
Die diskutierten sprachlichen Phänomene der Artikulation von Werturteilen und deren argumentative Begründung durch die Lernenden im videographierten Unterrichtsgespräch sind nicht repräsentativ. Sie wurden im Rahmen eines videographierten Unterrichtsettings gewonnen, das zwar mehrere Geschichtslektionen umfasst, aber zuvorderst der Pilotierung des Forschungsdesigns des Habilitationsprojektes der Verfasserin dieses Beitrages diente. Die im vorherigen Abschnitt notwendigerweise nur knapp präsentierten Befunde dürfen zudem nicht verdecken, dass sich die Wertungen der Schülerinnen und Schüler in einzelnen Aspekten voneinander unterscheiden. Zwar wurde angedeutet, dass die Mehrheit der videographierten Lernenden Björn Höckes Forderung einer »erinnerungspolitischen Wende« primär hinsichtlich ihrer narrativen Triftigkeit bewerten (vgl. Sw1, Sw2). Lediglich ein Schüler nahm eine normative Bewertung der Rede Björn Höckes vor (vgl. Sm2). Dennoch: Die in diesem Beitrag diskutieren Schüleräußerungen deuten darauf hin, dass der suggestive Charakter populistischer Geschichtsdarstellungen von den Lernenden weitgehend erkannt wurde. Auffällig ist zudem, dass die hier notwendigerweise nur knapp diskutierten Muster der Urteilsbildung geschichtsdidaktischen Konzepten der Werturteilsbildung nicht entsprechen.51 In der weiteren Auswertung des empirischen Materials wird es also darum gehen, empirisch fundiert zu klären, aus welchen Gründen die Stellungnahmen der Lernenden von wissenschaftlichen Konzepten
51 Auf theoretisch-normativer Ebene siehe z. B. Weymar 1970 (Anm. 47); Jeismann 1997, 2000 (Anm. 31); Rüsen 2013 (Anm. 47). Die Ergebnisse neuerer empirischer Studien der Geschichtsdidaktik scheinen diesen Befund zu stützen. Vgl. mit Blick auf erfahrungsbasierte oder personalisierte Urteilsbildung im Geschichtsunterricht die Studien von Bracke 2017 (Anm. 41); Zülsdorf-Kersting 2007 (Anm. 12), 2011 (Anm. 22), Köster 2013 (Anm. 49), 2014 (Anm. 15).
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der Werturteilsbildung abweichen, um Möglichkeiten der methodisch kontrollierten Intervention zu entwickeln. Eine erste Erklärung zielt auf die Konstruktion der Arbeitsaufträge sowie auf die sprachliche und methodische Unterstützung (Scaffolding) von (Wert-)Urteilsbildung im Geschichtsunterricht: Zwar wurde der Arbeitsauftrag der videographierten Werturteilsdiskussion in Geschichtslektion sieben dreigliedrig formuliert – und damit die von den Lernenden geforderten unterschiedlichen Denkleistungen und Arbeitsschritte bei der Interpretation der zu analysierenden Rede kleinschrittig transparent gemacht. Jedoch deutet vor allem der präsentierte Befund des sprachlichen Phänomens der personalen Wertung darauf hin, dass den Lernenden die mit dem Operator der Stellungnahme verbundenen Denk- und Argumentationsleistungen der Urteilsbildung nicht hinreichend bewusst sind.52 Bereits Bernd Schönemann und Kollegen empfahlen im Anschluss an ihre Auswertung des NRW-Zentralabiturs Geschichte des Jahres 2008 deshalb »für den gesamten Bereich der Urteilsbildung (historische Sach- und Werturteile) ein bewussteres Vorgehen und die Einübung der für das historische Denken konstitutiven Urteilstypen. Aufgrund der großen Defizite gilt das in besonderer Weise für die anspruchsvolle Herausforderung der Wertargumentation. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, Werturteile mit der erforderlichen Begründungstiefe zu formulieren und die Maßstäbe ihrer Urteile offenzulegen«53. Vor diesem Hintergrund lässt sich an dieser Stelle auf Basis der videographierten siebten Geschichtslektion mit Blick auf Werturteilsbildung folgendes, freilich nur vorläufiges und keineswegs repräsentatives Fazit ziehen: Ein Geschichtsunterricht, der Schülerinnen und Schüler zur reflektierten Werturteilsbildung animieren möchte, sollte die damit einhergehenden Arbeits- und Denkschritte im Sinne des Kölner Geschichtsdidaktikers Holger Thünemann in der Aufgabenstellung explizit einfordern und in Anlehnung an die Bochumer Geschichtsdidaktiker Marcel Mierwald/Nicola Brauch ein methodisch-sprachliches Scaffolding für Werturteilsbildung bereitstellen.54
52 Vor allem die Befunde der empirischen Studien von Mierwald/Brauch 2015 (Anm. 50) und Waldis 2016b stützen diese Interpretation. Vgl. zur Bedeutung und Problematik von Operatoren und Arbeitsaufträgen für historische Denkprozesse jüngst Sieberkrob 2018; Mägdefrau/Michler 2018 oder Altun/Günther 2018. 53 Schönemann 2011 (Anm. 33), S. 124. 54 Für Gütekriterien von historischen Lernaufgaben siehe v. a. Thünemann 2013. Für ein Plädoyer für Unterstützungsmöglichkeiten beim historischen Argumentieren im Geschichtsunterricht siehe v. a. Mierwald/Brauch, 2015 (Anm. 50).
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Viola Schrader (Universität Münster)
Schülerinnen und Schüler vergleichen kontroverse Historikerpositionen. Zum Zusammenhang historischen Denkens und sprachlichen Handelns
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Fragestellung
Das qualitativ vorgehende Dissertationsprojekt zielt auf die systematische Beschreibung des Zusammenhangs zwischen historischem Denken und schülersprachlichem Handeln. Es stellt dazu folgende Forschungsfrage: Wie lässt sich der Zusammenhang historischen Denkens und sprachlichen Handelns systematisch in Schreibprodukten beschreiben, in denen die Schülerinnen und Schüler kontroverse Historikerpositionen vergleichen und beurteilen? Mit der fachspezifischen Untersuchung von Schülersprache greift die Studie ein oftmals herausgestelltes Desiderat der geschichtsdidaktischen Forschung auf.1 Im Zuge der Debatte um den sprachsensiblen Fachunterricht wird dieses Desiderat erneut betont und dabei besonders für Fragen des historischen Kompetenzerwerbs nach PISAweiter diskutiert: So hebt Handro hervor, dass die »Stärkung der sprachlichen Dimension«, vor allem die Orientierung an den sprachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler als Ausgangspunkt für die Diagnose und Förderung historischen Denkens die Chance bedeute, bekannten Problemlagen historischen Lernens zu begegnen.2 Dazu müssten jedoch, so Handro, »zentrale Schnittstellen zwischen den sprachlichen Repräsentationen historischen Denkens und historischer Sinnbildung, den sprachlichen Voraussetzungen Lernender und den methodischen Strategien geschichtsunterrichtlicher Sprachbildung« systematisch herausgestellt und begründet werden.3 Mit der oben benannten Fragestellung orientiert sich die Studie eng am Lernsubjekt und am historischen Lernprozess. Fokussiert auf eine authentische 1 Zuletzt haben Bernhardt und Conrad (2018, S. 4) dieses Desiderat hervorgehoben: »Das, was an der Sprache im Geschichtsunterricht domänenspezifisch ist, lässt sich nicht allein an den Texten erforschen, sondern muss die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Rezipienten mit einbeziehen.« Vgl. u. a. auch Bernhardt/Wickner 2015, S. 281; Günther-Arndt 2010, S. 31. 2 Vgl. Handro 2013, insbes. S. 329. 3 Vgl. Handro 2018, insbes. S. 28.
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Viola Schrader
Schreibsituation, wird das Verhältnis von historischem Denken und Sprachhandeln bottom-up, d. h. von den Leistungen der Schülerinnen und Schüler aus, beschrieben. Dies geschieht in Anlehnung an einen interdisziplinären Theorierahmen. Von diesem ausgehend wurde ein Kategoriensystem entwickelt, mit dem die Schülertextanalyse unter gleichrangiger Berücksichtigung geschichtsdidaktischer und linguistischer Kategorien erfolgt. Im vorliegenden Beitrag wird der integrative Ansatz des Projekts erläutert. Dazu wird das Vorhaben zunächst im bisherigen Forschungsstand verortet, bevor im Anschluss der methodische Forschungsansatz zu präzisieren sein wird. Abschließend werden erste Ergebnisse der Schülertextanalyse vorgestellt. Dabei wird in zweifacher Hinsicht exemplarisch verfahren: Zum einen steht die Operation des Historikertextvergleichs im Fokus. Zum anderen wird anhand der historischen Denkoperation Perspektivität als eine der untersuchten geschichtsdidaktischen Analysekategorien herausgestellt, in welcher systematischen Beziehung die linguistischen Merkmale der Schülertexte mit den ermittelten Ausprägungen dieser Kategorie stehen.
2
Kontextualisierung des Projekts im Forschungsstand
Den Zusammenhang historischen Denkens und sprachlichen Handelns über eine schreiborientierte Perspektive auf Schülersprache zu konturieren, ist in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik noch relativ neu: »[D]ass in der Geschichtsvermittlung historische Probleme oder Lernprobleme auch eminent sprachliche Probleme sind«, gerät erst seit PISA zunehmend in den Blick der geschichtsdidaktischen empirischen Forschung.4 Zwar war die Auseinandersetzung um den Zusammenhang historischen Denkens und Sprache immer Teil geschichtsdidaktischer Reflexion, basierte lange Zeit aber vor allem auf einem geschichtstheoretischen Fundament.5 Damit einhergehende Fragen der Rezeption und Produktion wurden in der Geschichtsdidaktik bereits früh, jedoch primär in ideologiekritischer Hinsicht oder bezogen auf Narrativität theoretisch differenziert thematisiert.6 Ausgehend vom Referenzkonzept des Geschichts-
4 Günther-Arndt 2010 (Anm. 1), S. 25; vgl. auch Handro 2018 (Anm. 3); Bernhardt/Conrad 2018 (Anm. 1). 5 Vgl. z. B. Günther-Arndt 2010 (Anm. 1); Handro 2013 (Anm. 2); Bernhardt/Wickner 2015 (Anm. 1). 6 Vgl. zuletzt Bernhardt/Conrad 2018 (Anm 1), S. 4. Mit Blick auf eine linguistische Konkretion narrativer Kompetenz vgl. v. a. Pandel 2015, S. 127–129. In empirischer Hinsicht widmen sich der narrativen Kompetenz Geschichtslernender etwa: Barricelli 2005; Hodel 2013; Waldis 2015.
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bewusstseins wurde Sprachhandeln in epistemologischer Funktion somit zwar immer mitgedacht, vor allem aber top-down konturiert.7 Erst seit einigen Jahren richten geschichtsdidaktische Studien des deutschsprachigen Forschungsraums ihr Erkenntnisinteresse verstärkt auf Prozesse des Textverstehens wie auch der Textproduktion Geschichtslernender und konnten seither vor allem für Zusammenhänge von historischem und sprachlichem Kompetenzerwerb sensibilisieren.8 Dass in diesem Kontext Schreibhandlungen im historischen Lernprozess eine besondere Bedeutung zukommt, lässt sich beispielsweise durch Hartungs Untersuchungen zeigen.9 In der angloamerikanischen geschichtsdidaktischen Forschung erfolgt die Konzentration auf Schreibhandlungen im historischen Lernprozess schon seit Längerem. Weniger auf geschichtstheoretischer Basis, sondern vor allem lernpsychologisch fundiert, orientieren sich die Untersuchungen eng am Lernsubjekt und nehmen Schreibhandlungen im Rahmen von Zieltextformaten – besonders das historische Argumentieren10 – als domänenspezifische Problemlösestrategien in den Blick. So liegen im englischsprachigen Kontext bereits zahlreiche Untersuchungen vor, die anhand von Schülerschreibprodukten Realisierungen verschiedener Zieltextformate im Geschichtsunterricht vergleichen, Strategien der fachspezifischen Schreibförderung entwickeln und im Feld erproben sowie Wirkungsforschung betreiben. Durch letztere werden z. B. Effekte fachspezifischer und fachunspezifischer Schreibinstruktionen auf die Fähigkeit der fachlichen Textproduktion hin gemessen.11 Im Rahmenmodell des historical reasoning, wie es van Drie und van Boxtel 2008 vorgelegt haben, wird dieser Ansatz aufgegriffen.12 Historical reasoning wird dabei im Kern über drei Teiloperationen (describe change, compare, explain) modelliert, die im Kontext von sechs Komponenten (das Stellen historischer Fragen, den Bezug auf Quellen und Darstellungen, die Kontextualisierung, Argumentation sowie den Gebrauch sogenannter substantive und meta-concepts13) für das historische Denken fachspezifisch konkretisiert werden. Folgt 7 Jeismann weist entlang der drei Dimensionen der Analyse, des Sachurteils und des Werturteils jeweils auch konkrete Sprachhandlugen aus (1978, S. 93). Bei Rüsen greifen im historischen Erzählen historische Sinnbildungsprozesse und Sprachhandlung ineinander (1983, S. 52). Vgl. dazu u. a. auch: Handro 2013 (Anm. 2), S. 323f. 8 An dieser Stelle sei etwa verwiesen auf Langer-Plän/Beilner 2006; Memminger 2007; Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2011; Hodel 2013 (Anm. 6); Waldis 2015 (Anm. 6); vgl. auch den Überblick bei Handro 2018 (Anm. 3), S. 19–23. 9 Vgl. Hartung 2013. 10 Vgl. dazu Mierwald/Brauch 2015. 11 Vgl. in Auswahl z. B. Voss/Wiley 1997; Monte-Sano 2010; De la Paz/Felton 2010; Monte-Sano/ De la Paz 2012. Vgl. auch den Forschungsstand bei Mierwald/Brauch 2015 (Anm. 10). 12 Vgl. van Drie/van Boxtel 2008, S. 88. 13 Speziell für diese beiden Begriffe sei hier verwiesen auf: Günther-Arndt 2014, S. 48f.
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man diesem Ansatz, dann kann der Zusammenhang historischen Denkens und sprachlichen Handelns über Teiloperationen historischen Denkens gegriffen und durch die einzelnen Komponenten spezifiziert werden. Für die Fragestellung der Studie bietet das Modell daher ein hohes Anknüpfungspotential, weil es historisches Denken zum einen direkt in Beziehung zu den mündlichen wie schriftlichen Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler setzt und sich zum anderen an gut zu konkretisierenden Operationen des individuellen historischen Lernprozesses ausrichtet. Im Zuge interdisziplinärer Konzeptualisierungen eines sprachsensiblen Fachunterrichts konzentriert sich auch der deutschsprachige geschichtsdidaktische Diskurs zunehmend auf die Funktion von Teiloperationen historischen Denkens. Beispielsweise hat Bernhardt, zusammen mit Wickner sowie mit Conrad, wiederholt dafür plädiert, die narrative Kompetenz »vom Kopf auf die Füße zu stellen« und sich einer fachspezifischen Profilierung von Teiloperationen und Textsorten zuzuwenden.14 Fachspezifisch an Kontur gewinnt dieser Ansatz bei Handro im »Prozessmodell historischen Erzählens im Geschichtsunterricht«15. Mit dem Rahmenmodell des historical reasoning lassen sich somit Beziehungen zwischen dem historischen Denken und Sprachhandlungen im Lernprozess über Teiloperationen historischen Denkens herstellen, das Verhältnis von Kognition und Sprache präzisiert es jedoch nicht näher. Daher nimmt die hier vorzustellende Studie Bezug auf einen funktional-linguistischen Theorierahmen, genauer auf die systemic functional linguistics16 einerseits sowie auf die Kognitive Linguistik17 andererseits. Beide funktionalen Sprachtheorien verstehen Sprache als ein System kontextspezifischer Bedeutungskonstruktion und konzentrieren sich daher auf den situativen Sprachgebrauch.18 Auch in diesem Kontext sind Teiloperationen wie benennen, vergleichen, erklären usw. zentral. Sie werden als kognitiv-sprachliche Schnittstelle verstanden, deren konkrete
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Bernhardt/Wickner 2015 (Anm. 1), insbes. S. 285; Bernhardt/Conrad 2018 (Anm. 1), S. 4–8. Vgl. Handro 2018 (Anm. 3), S. 30. Vgl. mit Blick auf den Geschichtsunterricht v. a. Schleppegrell 2004; Coffin 2006. Vgl. z. B. Evans/Green 2006; Schwarz 2008. Vgl. Heine 2016; Elsen 2014, insbes. S. 189–219. Prinzipiell sind diese Theorien damit anschlussfähig an die Beschreibung domänenspezifischer Herausforderungen von Texten und Aufgabenformaten, auch im Hinblick auf die heterogenen sprachlichen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler : vgl. z. B. Schleppegrell 2004 (Anm. 16); Coffin 2006 (Anm. 16); de Oliveira 2011. Auf Grund dieses Ansatzes haben in den letzten Jahren auch Untersuchungen der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik verstärkt auf diese funktionalen Sprachtheorien zurückgegriffen. Vgl. für eine Adaption dieser Theorien an geschichtsdidaktische Fragestellungen z. B. für die Kognitive Linguistik/Metapherntheorie GüntherArndt 2005, 2016; Lange 2011; für den SFL-Ansatz z. B. Schrader 2013; Schlutow 2015; Köster/Spieß 2018.
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Realisierung in Abhängigkeit vom spezifischen Gebrauchskontext gesehen wird (»Diskursfunktionen«).19 Damit lässt sich unmittelbar an das Modell des historical reasoning anknüpfen: Während dieses den Gebrauchskontext spezifiziert und damit den Rahmen für die fachspezifische Realisierung der Teiloperationen steckt, werden letztere durch den linguistischen Theorierahmen wiederum als Schnittstelle von Kognition und Sprache modellierbar. Dabei setzen die beiden genannten linguistischen Theorien auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen an, die eine systematische Untersuchung der Schülersprache auf drei für den historischen Lernprozess zentralen Ebenen nahelegen: Erstens im Hinblick auf die fachspezifische Realisierung der Teiloperationen, zweitens hinsichtlich der dabei in Schülersprache repräsentierten historischen Denkstrukturen sowie drittens mit Blick auf die Rekonstruktion epistemologischer Überzeugungen.20
3
Forschungsmethodischer Ansatz
Das zentrale Untersuchungsinstrument der Studie bildet eine materialbasierte Schreibaufgabe, zu der im Herbst 2015 in insgesamt fünf Geschichtskursen der 10. Klasse21 an drei Gymnasien im Umkreis des Ruhrgebiets 116 Schülertexte erhoben wurden. Begleitet wurde die Erhebung der Schreibprodukte durch einen kurzen Selbsteinschätzungsfragebogen (Auskünfte u. a. zum Interesse an Geschichte, thematisches Vorwissen, Vorerfahrungen zum Schreiben in Geschichte) vor dem Schreibprozess sowie einen individuellen, schriftlichen Aufgabenkommentar nach der Bearbeitung. Für die Konkretisierung der Schreibaufgabe sowie die forschungsmethodisch notwendige Spezifizierung der geschichtsdidaktischen und linguistischen Untersuchungsaspekte wurde das historical-reasoning-Modell im Hinblick auf Kontroversität als Ausdrucksform des zentralen geschichtsdidaktischen Prinzips der Multiperspektivität22 adaptiert. Historisches Denken und sprachliches Handeln bezieht sich damit in der Studie auf den Umgang mit kontroversen historischen Darstellungen (vgl. auch 19 Vgl. Dalton-Puffer 2013; Vollmer 2011. 20 Vgl. für die Integration der beiden Theorien: Heine 2016 (Anm. 18), insbes. S. 87–90. Über diesen Ansatz lassen sich Kenntnisse gewinnen, wie Lernende Sprachhandlungen als Schnittstellen von Operationen historischen Denkens und dem kontextspezifischen Sprachgebrauch ausführen. Hierüber ließe sich auch dem Spannungsfeld zwischen impliziten Erwartungen der Lehrkräfte und den Vorwissensbeständen der Schülerinnen und Schüler begegnen, das z.B. Schmölzer-Eibinger 2013, S. 27 problematisiert hat. Vgl. auch: Bernhardt/Conrad 2018 (Anm. 1), S. 6. 21 In Nordrhein-Westphalen (G8) bildet die 10. Klasse des Gymnasiums die erste Stufe der Oberstufe. 22 Vgl. Bergmann 2016.
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Tab. 1) und geht von den Teiloperationen vergleichen und beurteilen aus. Als Materialimpuls der Erhebung wurden zwei Historikerdarstellungen zur Kriegsschuldfrage des Ersten Weltkriegs ausgewählt und den Schülerinnen und Schülern folgende Aufgabe gestellt, die im Rahmen einer regulären 90-minütigen Doppelstunde zu bearbeiten war : »2013 haben der australische Historiker Christopher Clark und der deutsche Historiker Gerd Krumeich23 unterschiedliche Positionen zur Kriegsschuldfrage vertreten. Lies bitte beide Textauszüge und bearbeite dann schriftlich folgende Aufgabe: Vergleiche die Positionen der beiden Historiker miteinander und beurteile ihre Argumente in Bezug auf die Kriegsschuldfrage.«
Die Aufgabe war Teil eines Arbeitsblattes, das neben der Benennung der historischen Frage auch einen kurzen Textauszug zur Kontextualisierung der Kontroverse24 bot. Die Auswahl des Untersuchungssamples wurde von drei Entscheidungen besonders geleitet: Erstens sollten die Probandinnen und Probanden sowohl in Bezug auf das historische Denken als auch hinsichtlich der eigenständigen Textproduktion über Vorwissen und Vorerfahrungen verfügen. Zweitens sollte sich dem explorativen Zugriff der Studie gemäß im Sample ein möglichst heterogenes Spektrum dieser Vorwissensbestände und Vorerfahrungen widerspiegeln. Und drittens sollte die Erhebung in einer Jahrgangsstufe stattfinden, in der Schriftlichkeit im Geschichtsunterricht zunehmend relevant wird.25 Die Auswertung der 116 Schülertexte erfolgt mit dem Ziel der inhaltlichen und formalen Strukturierung durch die Verfahren der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring.26 Entlang der linguistischen Theorierahmen erfolgt die Analyse der Schülertexte, wie oben herausgestellt, systematisch erstens im Hinblick auf die fachspezifische Realisierung der Teiloperationen vergleichen und beurteilen im Kontext der adaptierten historical-reasoning-Komponenten, zweitens im Hinblick auf die Repräsentation einzelner Kategorien historischen Denkens27 im Umgang mit den kontroversen Historikerdarstellungen sowie drittens die Rekonstruktion epistemologischer Überzeugungen mit Bezug zum Rahmenkonzept historischer Kontroversität. Die drei entsprechenden Katego23 Es handelt sich um Auszüge aus: Clark, Christopher (2013). Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München: DVA; Krumeich, Gerd (2013). Interview zum Kriegsausbruch 1914. Online unter : http://www.welt.de/geschichte/article119906475/Das-Kaiser reich-unterschaetzte-1914-Englands-Macht.html, aufgerufen am 09. 07. 2015. 24 Vgl. Bergmann 2016 (Anm. 22), S. 56–59. 25 Dieses ist in Nordrhein-Westphalen mit Beginn der Oberstufe durch die Einführung von Klausuren als Prüfungsformat der Fall. 26 Vgl. Mayring 2015. 27 In den Begrifflichkeiten des historical-reasoning-Modells würde dieser Analyseschritt etwa einem gesonderten Fokus auf sogenannten meta-concepts entsprechen.
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riensysteme wurden induktiv-deduktiv generiert, wobei je geschichtsdidaktische und linguistische Kategorien Berücksichtigung fanden. Tabelle 1 visualisiert das Kategoriensystem in Bezug auf den zweiten Untersuchungsaspekt, folglich die Repräsentation einzelner historischer Denkstrukturen in der Schülersprache beim Vergleichen und Beurteilen (Tab. 1). Kategorien historischen Denkens im Textteil Vergleichen Wahrnehmung einer historischen Forschungsfrage Kennzeichnung von Perspektivität
Linguistische Kategorien auf Text-, Satzund Wortebene Konnektoren – Verben (v. a. redeeinleitende Verben) – Substantive – Tempusgebrauch – Modusgebrauch – Gebrauch von Adjektiven und Adverbien
Herausstellung von Triftigkeit Markierung von Zeitdifferenz im Textteil Beurteilen Beurteilung der Argumente durch historischen Tatsachenbezug (Sach- und Werturteilsorientierung)
Merkmale sprachlicher Register– Gebrauch von Phrasen und Idiomen
Beurteilung der Argumente durch Darstellungskritik (Überprüfung von Triftigkeit) Tab. 1: Kategoriensystem: Repräsentation historischer Denkstrukturen in der Schülersprache
In dieser gleichrangigen Berücksichtigung geschichtsdidaktischer und linguistischer Kategorien liegt eine Besonderheit in der Anwendung der Qualitativen Inhaltsanalyse: Die Sprache wird nicht im Zuge der fachlich-inhaltlichen Kategorienbildung zunehmend reduziert und verdichtet, sondern explizit in ihren Strukturen auf Text-, Satz- und Wortebene in Bezug zu den Kategorien historischen Denkens gesetzt.28 Die linguistischen Kategorien liegen insgesamt quer zu den Kategorien historischen Denkens, weil sie jeweils – in spezifischer Semantik – für die Ausprägung historischen Denkens relevant werden. Wie den ersten holistischen Analysedurchgängen zu entnehmen war, sind im Rahmen der Urteilsbildung darüber hinaus Merkmale sprachlicher Register sowie der Gebrauch von Phrasen und Idiomen von besonderem Interesse.
28 Mayring nennt hier den Begriff der »formalen Strukturierung« (Anm. 26, S. 99–102).
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Erste Ergebnisse – die Repräsentation von Perspektivität in der Schülersprache
Im Folgenden werden Ergebnisse der Schülertextanalyse vorgestellt, die sich hier exemplarisch auf die Repräsentation von Perspektivität in den sprachlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler beim Vergleichen der Historikerdarstellungen beziehen. Dass historische Erkenntnis perspektivgebunden ist und Historikerdarstellungen somit nicht die Vergangenheit abbilden, sondern Deutungsangebote zu einem historischen Sachverhalt vorlegen, ist eine zentrale Einsicht, die im Umgang mit Kontroversität geschult werden kann und soll.29 Besonders im Vergleich unterschiedlicher Deutungen zu einer historischen Frage liegt das Potential, aber auch die fachspezifische Herausforderung, die Perspektivität der Darstellungen zu erkennen. Folgt man Befunden der bisherigen empirischen Forschung, stellt ein wissenschaftsförmiges Verständnis der Perspektivität historischer Deutungen für die Schülerinnen und Schüler eine große Herausforderung dar.30 Nimmt man die Schülersprache in den individuellen Schreibprodukten in den Blick, so repräsentiert sich Perspektivität in den vergleichenden Sprachhandlungen im Rahmen von vier Ausprägungen. Diese Ausprägungen weisen jeweils spezifische linguistische Merkmale auf, über die sich der Umgang mit Perspektivität wiederum sprachlich diagnostizieren lässt. Im Folgenden werden die Ausprägungen kurz erläutert sowie in ihrem Zusammenhang in Tab. 2 in Bezug auf Ankerbeispiele systematisiert.
4.1
Perspektivenunabhängigkeit der Historikertexte
Schülerinnen und Schüler, deren Texte diese Ausprägung aufweisen, scheinen die Historikertexte ausschließlich als objektive Berichte über einen historischen Sachverhalt wahrzunehmen, sodass den Historikern lediglich die Aufgabe des Referierens zukommt. Ein markantes sprachliches Merkmal ist in diesem Zusammenhang der ausschließliche Gebrauch redeeinleitender Verben des Aussagens und Berichtens. Damit wird die nachfolgende Aussage von den Historikern distanziert und durch die undifferenzierte Verwendung dieser Verben Deutungen, Argumente und belegende Bezüge qualitativ gleichgesetzt. Der Fokus liegt für die Lernenden ferner vor allem auf den Inhalten in den Historikerdarstellungen, weniger auf den Historikern selbst. Als Berichterstatter 29 Vgl. Bergmann 2016 (Anm. 22), S. 41f. 30 Vgl. etwa: Lee/Ashby 2000; Martens 2010; Lange 2011 (Anm. 18); Günther-Arndt 2014 (Anm. 13).
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werden sie zwar teilweise namentlich genannt, jedoch greifen die Schülerinnen und Schüler ebenso auf unpersönliche Bezeichnungen wie »Text 1« oder »im zweiten Auszug« zurück, sodass die Historiker gänzlich hinter den Textinhalten zurücktreten. Besonders deutlich wird die Inhaltszentrierung zudem, wenn die Lernenden Sätze im Passiv formulieren oder historische Ereignisse bzw. Quellen, die von den Historikern benannt werden, personalisieren.
4.2
Perspektivität als Persönlichkeitsmerkmal
In dieser Ausprägung wird Perspektivität in den Historikerdarstellungen nicht nur wahrgenommen, sondern erscheint als Persönlichkeitsmerkmal und wird damit regelrecht zwingend. Was den Sprachgebrauch betrifft, fällt in diesen Schülertexten zunächst die Häufung von Adjektiven im Wortfeld der Parteilichkeit bzw. von Attribuierungen im Spannungsfeld von Außenstehend und Betroffen mit dem Bezugspunkt »Deutschland« auf. Damit wird den Historikern eine jeweilige Außen- bzw. Innenperspektive zugeschrieben, die auch ihre Urteilsspielräume determiniert. Dass Perspektivität und Urteilsbildung eine strenge und scheinbar unausweichliche Kausalkette bilden, wird in der Schülersprache an drei weiteren Merkmalen ersichtlich. Erneut mit Blick auf den Prädikatgebrauch sowie die verwendeten Adjektive und Adverbien scheint die Außenperspektive grundsätzlich mit einer abwägenden Urteilsbildung einherzugehen (»Clark versucht, Deutschland höflich und neutral zu betrachten«), während die Innenperspektive zu deutlicheren Positionierungen aufzufordern scheint (»Krumeich gibt Deutschland ganz klar die Schuld«). Zudem verbinden kausale Konnektoren Bedingung und Konsequenz miteinander, sodass die Teiloperation des Vergleichens in diesen Schülertexten vermehrt durch kausale Strukturen geprägt ist. Schließlich werden die Urteilsspielräume durch sprachliche Modalisierungen angezeigt und reflektiert. Hier markiert oftmals der Konjunktiv II die Begrenzung der Urteilsspielräume, die sich aus der Bedingung nationaler Zugehörigkeit ergeben.
4.3
Perspektivität als externe Wahlmöglichkeit
Im Rahmen der dritten Ausprägung erhalten Sichtweisen auf ein historisches Ereignis einen interpersonellen Charakter ; sie sind der Auseinandersetzung mit dem historischen Sachverhalt gewissermaßen schon immanent und liegen damit außerhalb eines Individuums. Darüber hinaus hat Perspektivität einen kognitiven Gehalt, der darin besteht, dass Individuen, wie die Historiker, angesichts einer Auswahl von Sichtweisen situativ eine spezifische Auswahl treffen und sich
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ihr damit aktiv anschließen. Charakteristisch ist vor allem der Gebrauch des Verbs »vertreten«, das den Historiker auf der einen Seite und »die« Sichtweise auf der anderen Seite über den kognitiven Akt des aktiven Anschließens verbindet, zugleich aber auch beide voneinander distanziert. Der bestimmte Artikel in Bezug auf die jeweiligen vertretenen Ansichten verstärkt in diesem Zusammenhang noch die Distanz bzw. lässt »die« Sichtweise als etwas erscheinen, das auch außerhalb des Historikers besteht. Der Anschluss an externe Sichtweisen erlaubt dabei scheinbar auch die parallele Einnahme konträrer Perspektiven auf ein Ereignis. Das vermeintliche Nebeneinander von Sichtweisen funktioniert in den entsprechenden Schülertexten, weil sich die Kennzeichnung von Perspektivität vornehmlich auf additive, konstatierende Sprachhandlungen, also die reine Feststellung der Position, beschränkt. Dass wiederum der Historiker darüber entscheidet, wann und wie er sich diesen Sichtweisen anschließt, deutet sich in diesen Schüleräußerungen durch sprachliche Mittel der Lokalisierung an: Präpositional werden die Ansichten in den entsprechenden Textauszügen situiert (z. B. »im Auszug seines Buches«), damit an die Bedingung des spezifischen Publikationskontextes geknüpft und so zu einem kontextgebundenen Entscheidungsfeld.
4.4
Perspektivität als analytisches Produkt
Auch in dieser Ausprägung besteht für die Schülerinnen und Schüler offenbar eine kognitive Distanz zwischen den Historikern und ihren Sichtweisen; Perspektivität bedeutet dabei jedoch nicht den aktiven Anschluss an eine externe Sichtweise, sondern entsteht durch die individuelle analytische bzw. interpretative Auseinandersetzung mit dem strittigen historischen Sachverhalt. In dieser Hinsicht veräußert sich Perspektivität vor allem in argumentativen und diskursiven Sprachhandlungen, die zu ihrer Erhärtung und Entfaltung beitragen. Sprachlich kommt dies in den Schülertexten in verschiedenen Merkmalen zum Ausdruck. Betrachtet man zunächst erneut die redeeinleitenden Verben, verzeichnen die Schülertexte hier eine Reihe kognitiver Aktivitäten, die zwischen positionierenden (»von etwas ausgehen«), analytisch schließenden (»sich beziehen auf«) sowie diskursiven (»auf etwas eingehen«) Tätigkeiten wechseln. Perspektivität wird darüber eng mit Interpretation und Argumentation verbunden. Ein sprachliches Merkmal ist in diesem Zusammenhang der Gebrauch kausaler und adversativer Konnektoren zur Kennzeichnung von Argumentationszusammenhängen innerhalb und im Vergleich der Historikeraussagen, in Kombination mit der expliziten Benennung des Begriffs »Perspektive«. Auf Textebene geht diese Denkstruktur folglich mit der sukzessiven inhaltlichen Gegenüberstellung von Positionen und Argumenten einher, sodass sich in den
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entsprechenden Schülertexten das kohäsive Muster einer adversativ-konzessiven Argumentation abbildet (Tab. 2). Ausprägung der Kategorie Charakteristische Perspektivität sprachliche Merkmale Perspektivenu– Neutrale redeeinleitende abhängigkeit der Verben des Aussagens Historikertexte und Berichtens (»sagen«, Die Historiker berichten »berichten«): Qualitative über einen historischen Gleichsetzung aller Aussagen; perspektivgebunSachverhalt: Als dene Deutungen werden Berichterstatter sind sie z. T. als externe Positioniezwar personell vertreten, rungen nivelliert ihre Perspektive erscheint allerdings als nicht relevant – Passivgebrauch: Distanzierung der Aussage vom Historiker – z. T. Verzicht auf Historikerbenennung; ersetzen der Historikernamen durch »Text 1«, »Text 2«
Perspektivität als Persönlichkeitsmerkmal Perspektivität ist ein zwingender Tatbestand der Historikerpositionen: Die Historiker sind durch ihre nationale Identität automatisch einer spezifischen Sichtweise verschrieben, die zugleich ihre Urteilsspielräume begrenzt
– Verwendung von Adjektiven im Wortfeld der Parteilichkeit (»parteiisch«, »neutral«) zur Zuschreibung von äußerlich determinierten Eigenschaften – Relativierung von Aussagen (z. B. durch den Gebrauch des Konjunktivs II) zur Kennzeichnung des eingeschränkten Urteilsspielraums – Markierung kausaler Zusammenhänge zwischen äußerer Eigenschaft und Urteilsbildung
Ankerbeispiele »[Clark] berichtet außerdem, dass nicht ein einzelner Staat die gesamte Verantwortung für den ersten Weltkrieg haben kann, sondern dass alle Protagonisten von 1914 beteiligt sind.« (ST 107m) »Im ersten Auszug, von Christopher Clark, wurde die Position und Schuldzuweisung der Deutschen im Buch ›The Sleepwalkers‹ als folgende beschrieben: Der Versailler Vertrag berief sich […] Doch wurde der Kriegsausbruch als ›Tragödie‹ nicht als ›Verbrechen‹ (Z. 22) bezeichnet. […]« (ST 105m) »Während Christopher Clark eher als Außenstehender versucht, Deutschland höflich und neutral zu betrachten, schreibt Gerd Krumeich gegen Deutschland. […] Gerd Krumeich wiederum gibt Deutschland ganz klar die Schuld, da Deutschland Russlands Kriegsbereitschaft testen wollte (Z. 9–11). […] Da er Deutscher ist, wäre es ehrenlos zu sagen, dass Deutschland nicht schuld wäre.« (ST 118m)
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(Fortsetzung) Ausprägung der Kategorie Charakteristische Perspektivität sprachliche Merkmale Perspektivität als externe – Verwendung des Verbs Wahlmöglichkeit »vertreten« in KombinaInterpersoneller Charakter tion mit den Begriffen von Perspektivität: Die »Sichtweise«, »Ansicht« Historiker treffen aus oder »Meinung«: Persobereits feststehenden nelle Differenzierung Sichtweisen zum und Distanzierung von historischen Ereignis eine Sichtweise und HistoriAuswahl, der sie sich kern – Gebrauch von Präposisituativ und kognitiv selbstbestimmt anschließen tionen zur Lokalisierung (»im Buch«) bzw. Gebrauch von bedingungsanzeigenden Konjunktionen (»wenn«) zur Situierung von Perspektiven – v. a. additive, deklarative Aussagen
Perspektivität als – Verwendung redeeinleianalytisches Produkt tender Verben zur Kognitive Distanz zwischen Kennzeichnung kognitiHistoriker und Perspektive: ver, analytischer TätigDie Sichtweisen der keiten (»vergleichen«, Historiker resultieren aus »sich beziehen auf«, einer analytischen bzw. »bezeichnen«, »entgeginterpretativen nen«) Auseinandersetzung mit – Kausale und adversative dem historischen Ereignis, Konnektoren zur Kennsind zu ihrer Erhärtung zeichnung von Begrünspezifischen dungen in Erhärtung der BegründungszusammenInterpretation hängen verpflichtet und – Explizite Benennung des können somit auch Begriffs »Perspektive«, relativiert werden ggf. zudem Kontrastierung über Adjektive (»andere«) – Konzessive Konnektoren zur Gegenüberstellung von Perspektiven auf das historische Ereignis
Ankerbeispiele »Christopher Clark vertritt im Auszug seines Buches »Die Schlafwandler« zwei Sichtweisen. Die erste bezieht sich auf die ›Fischer-Kontroverse‹, wodurch er Deutschland die Hauptschuld für den Kriegsausbruch gibt. […] Nach seiner zweiten Sichtweise war der Kriegsausbruch kein Verbrechen, sondern bloß eine Tragödie.« (ST 85w) »Im ersten Auszug wird von Christopher Clark die Ansicht vertreten, dass die gegenseitigen Schuldzuweisungen […].« (ST 106m) »Clark geht davon aus, dass die Krise, die zum Krieg führte, die ›Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur‹ (Z. 26f.) war. Somit wurden die Imperialisten alle von ihm mit Schlafwandlern verglichen, denn sie waren seiner Meinung nach alle wachsam, aber zu blind, um die Realität zu erkennen. Auch Krumeich geht auf den Vergleich mit den Schlafwandlern ein, jedoch aus einer anderen Perspektive. Er bezieht sich darauf, dass alle ›hellwach‹ waren und erst gegen Ende hin bemerkten, dass die Situation außer Kontrolle geriet.« (ST 51w)
Tab. 2 Ausprägungen der Kategorie Kennzeichnung von Perspektivität
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Diskussion der Ergebnisse
Alle Schülerinnen und Schüler des Samples können textvergleichende Sprachhandlungen ausführen. Sie sind in der Lage, sprachliche Mittel des Vergleichens zu gebrauchen (z. B. adversative Konnektoren, Begriffe wie »Gegenposition«, Adjektive wie »unterschiedlich«) und greifen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich auch auf weitere wichtige Sprachmittel zurück, so beispielsweise redeeinleitende Verben, um die Historikeraussagen anzumoderieren. Der kurze Einblick in die Untersuchungskategorie Perspektivität zeigt jedoch bereits, dass die Lernenden des Samples das Vergleichen der Historikertexte sehr heterogen ausführen und die sprachlichen Mittel entsprechend auf unterschiedliche Weise zur Anwendung kommen.31 Differenzierungen liegen dabei weniger im grundsätzlichen Gebrauch eines sprachlichen Mittels, sondern vielmehr in seiner semantischen, d. h. fachlichen Spezifizierung. Deutlich wird dieses beispielsweise in der Verwendung der redeeinleitenden Verben: Während sich alle oben zitierten Schülerinnen und Schüler über dieses Mittel von den Historikeraussagen distanzieren, setzen sie letztere jedoch mit gänzlich unterschiedlichen Handlungen der Historiker in Verbindung. So changieren die Historikeraussagen in der Schülersprache zwischen scheinbar objektiven Wiedergaben eines historischen Sachverhalts und diversen kognitiv-analytischen Tätigkeiten in der deutenden Auseinandersetzung mit diesem Sachverhalt. Nimmt man diese Befunde in kognitiv-linguistischer Lesart ernst, so ist in dem spezifischen Sprachgebrauch mehr zu sehen als unterschiedliche sprachliche Komplexitätsgrade in der Realisierung eines Textvergleichs. Vielmehr wären die zu beobachtenden linguistischen Kategorien als Indikatoren für spezifische Ausprägungen historischen Denkens zu interpretieren und damit in diagnostischer Hinsicht besonders relevant. Dabei ist jedoch nicht die Frage ob, sondern wie die Sprachstrukturen verwendet werden, von besonderem Interesse. Je nach untersuchter Kategorie historischen Denkens (vgl. Tab. 1) kommt auch jeweils spezifischen linguistischen Kategorien eine besondere Bedeutung zu.32 Oben wurde gezeigt, wie eine derartige Diagnose historischer Denkleistungen im Kontext Perspektivität über die Schülersprache erfolgen kann. In dieser Hinsicht kann sich Schülersprache offensichtlich als ein zuverlässiger Indikator für die Diagnose historischen Denkens erweisen. Wie auch schon an
31 Inhaltlich lässt sich mit den ermittelten Ausprägungen in der Kennzeichnung von Perspektivität nahtlos an bisherige Befunde der empirischen Forschung anknüpfen, deren Diagnostizierbarkeit hier systematisch mit der Schülersprache verankert wird: Vgl. z. B. Martens 2010 (Anm. 30); Köster 2013 (Anm. 18); Günther-Arndt 2014 (Anm. 13). 32 Hier lassen sich Befunde vertiefen, wie sie sich etwa in der Studie von Schönemann, Thünemann und Zülsdorf-Kersting (Anm. 8) andeuten.
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anderer Stelle hervorgehoben33, liegt dabei ein besonderes Potential im Medium der Schriftlichkeit, da stärker als in der Mündlichkeit zur individuellen kohärenten und kohäsiven Verknüpfung von Aussagen aufgefordert wird.
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Perspektiven
Mit den funktional-linguistischen Theorien basiert die Studie auf der Annahme, dass Kognition und Sprache eng miteinander verbunden sind. In dieser Hinsicht wird die Schülersprache als Repräsentantin historischer Denkleistungen verstanden und die Schülertexte entsprechend interpretiert. Im explorativen Rahmen dieser Studie erfolgt dieses anhand in sich abgeschlossener Schreibprodukte, um das mit der Fragestellung verbundene Forschungsfeld zunächst zu systematisieren. So haben die Befunde zuallererst einen hypothesengenerierenden Charakter, der als Ausgangspunkt weiterer Forschung fungieren kann. Die so herausgestellten Zusammenhänge historischen Denkens und schülersprachlichen Handelns müssten in weiteren Forschungen auf zwei miteinander verbundenen Ebenen überprüft werden: Zum einen im Hinblick auf die Frage, inwiefern die direkte Koppelung zwischen Kognition und Sprachgebrauch im Einzelnen tatsächlich zutrifft. Dieses könnte beispielsweise durch Reflexionsgespräche im Sinne der Metakognition mit den Schülerinnen und Schülern über ihre Schreibprodukte stattfinden. Zum anderen hinsichtlich der Effekte, die durch eine Förderung historischen Denkens über Sprache möglichen wären. Auch hier könnten die Befunde der Studie als Ausgangspunkt für eine vertiefende Wirkungsforschung genutzt werden.
7
Literaturverzeichnis
Barricelli, Michele: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2005. Bergmann, Klaus: Multiperspektivität. Geschichte selber denken. Schwalbach/Ts. 32016. Bernhardt, Markus/Wickner, Mareike-Cathrine: ›Die narrative Kompetenz vom Kopf auf die Füße stellen – Sprachliche Bildung als Konzept der universitären Geschichtslehrerausbildung‹, in: Benholz, Claudia/Frank, Markus/Gürsoy, Erkan (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern. Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Stuttgart 2015, S. 281–296. Bernhardt, Markus/Conrad, Franziska: ›Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Sprachliche Bildung als Aufgabe des Fachs Geschichte‹, in: Geschichte lernen 2018/31, S. 2–9.
33 Vgl. etwa besonders Hartung 2013 (Anm. 9).
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Isabelle Nientied (Universität Münster)
»›Gut‹ ist ja auch sehr subjektiv«: Schülerkonzepte von gelungenem Geschichtsunterricht
Die Frage nach Unterrichtsqualität hat innerhalb der letzten 30 Jahre große Aufmerksamkeit erfahren. Bereits im Jahre 1989 stellte die OECD in ihrem Bericht »Schule und Qualität« fest: »Die Sorge um die Qualität der Bildung hat heutzutage höchste Priorität in den OECD-Staaten. So wird es ohne Zweifel auch in absehbarer Zeit bleiben.«1 Diese Prognose stellte sich als zutreffend heraus. Bis heute kann das Thema der Güte von Unterricht in der politischen Diskussion, im wissenschaftlichen Diskurs und in der schulischen Praxis ungebrochene Aufmerksamkeit für sich beanspruchen.2 Im Folgenden soll auf Kriterien für gelungenen Geschichtsunterricht eingegangen werden, wobei der Schwerpunkt auf der Untersuchung der Schülerperspektive liegt. Zunächst erfolgt eine Konkretisierung des Erkenntnisinteresses, bevor auf den Stand der Forschung, theoretische Anknüpfungspunkte und das methodische Vorgehen der empirischen Studie eingegangen wird. Anschließend werden Befunde zu kollektiven sowie individuellen Schüleransprüchen an historisches Lehren und Lernen in der Schule erläutert, diskutiert und reflektiert.
1
Problemaufriss und Erkenntnisinteresse
Weitgehend durchgesetzt hat sich die Erkenntnis, dass Unterrichtsqualität keine objektiv feststellbare und absolut zu setzende Größe ist, sondern ein standortabhängiges, individuell verfasstes Konstrukt.3 So werden die Perspektiven der verschiedenen Akteurinnen und Akteure im wissenschaftlichen Diskurs verstärkt ›mitgedacht‹. Auch in der Didaktik der Geschichte ist seit einigen Jahren eine wiederaufgelebte Debatte zu Geschichtsunterrichtsqualität zu verzeichnen,
1 OECD 1991, S. 175. 2 Vgl. z. B. McElvany/Bos/Holtappels/u. a. 2016; Gold 2015; Unruh/Petersen 2015. 3 Vgl. grundlegend Clausen 2002.
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die sukzessiv mehrere Perspektiven berücksichtigt.4 Die Sicht der Schülerinnen und Schüler ist bislang jedoch eher in Ansätzen in den Blick genommen worden: Tiefgehende und methodenplurale Explorationen von Schülervorstellungen zu Geschichtsunterrichtsqualität stellen bislang ein Desiderat dar. Eine geschichtsdidaktische Beschäftigung mit den Vorstellungen von Lernenden zu Geschichtsunterrichtsqualität ist aus zweierlei Gründen relevant.5 Erstens besitzt die Schülerwahrnehmung und -beurteilung von Geschichtsunterricht unmittelbaren Einfluss auf historische Lernprozesse. Der derzeitige lerntheoretische Common Sense versteht Lernende nicht als passive Rezipienten von Informationen, die Input aufnehmen und empirisch abbilden, sondern als aktive Konstrukteure ihrer persönlichen Realität.6 Nicht nur Lerninhalte, sondern auch der institutionelle Rahmen selbst, der Geschichtsunterricht, wird vor dem Hintergrund individueller Vorstellungen wahrgenommen, gedeutet und an Qualitätsvorstellungen gespiegelt.7 Qualitätsansprüche der Schülerinnen und Schüler können so im konkreten unterrichtlichen Geschehen verhaltenswirksam und lernrelevant werden. Zweitens ist die Praxisperspektive in den Blick zu nehmen: Die Sicht der Lernenden stellt eine wertvolle Hilfe für Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer bei der Weiterentwicklung des eigenen Geschichtsunterrichts dar. Schülervorstellungen von qualitätsvollem Geschichtsunterricht besitzen für Lehrpersonen und Didaktikerinnen und Didaktiker demnach einen hohen Erkenntniswert und stellen dennoch einen größtenteils weißen Fleck auf der Karte der geschichtsdidaktischen Lehr-Lern-Forschung dar.
2
Stand der Forschung und theoretische Anknüpfungspunkte
Was ›guten Unterricht‹ ausmacht, erscheint intuitiv verständlich; die wissenschaftliche Bestimmung von Unterrichtsqualität ist jedoch keineswegs trivial. So ist die Diskussion um gelungenen Geschichtsunterricht zwar erst nach 2005 deutlich aufgelebt, beruft sich aber auf Wurzeln, die weit in die Disziplingeschichte zurückreichen. Seit Mitte der 1970er Jahre bis heute wurden mindestens sieben verschiedene Gütekriterienkataloge entworfen, die sich alle auf Ulrich Mayers und Hans-Jürgen Pandels erstes und besonders einflussreiches Kategoriensystem zur Geschichtsunterrichtsanalyse beziehen.8 Einigkeit besteht 4 5 6 7 8
Vgl. einführend Zülsdorf-Kersting 2012. Vgl. bereits 1982 das Plädoyer von Hofer; ebenfalls Ditton 2002, S. 264. Vgl. Reusser 2006. Vgl. Kunter/Ewald 2016, S. 20. Vgl. Mayer/Pandel 1976; Hug 1977; Barricelli/Sauer 2006; Gautschi 2009; Zülsdorf-Kersting 2010; Pandel 2013; Kuchler/Sommer 2018.
Schülerkonzepte von gelungenem Geschichtsunterricht
77
innerhalb der Kataloge über ein exemplarisches, geschichtswissenschaftlich und persönlich bedeutsames Thema, über einen an historischen Erkenntnisverfahren ausgerichteten Unterrichtsprozess, über die Beachtung geschichtsdidaktischer Grundprinzipien, wie z. B. Multiperspektivität, über die Ausbildung historischer Kompetenzen, Volition und Identität sowie über Lernaufgaben, die zu historischen Denkleistungen anregen. Im Gegensatz zu allgemeinen Merkmalen guten Unterrichts sind die geschichtsdidaktischen Kriterien jedoch bislang nicht evidenzbasiert.9 Auch fällt auf, dass die Kataloge ausschließlich den Unterrichtsprozess berücksichtigen, und nicht die Lehrkraft oder die Lernerträge.10 Die Schülerperspektive auf die Güte von historischem Lehren und Lernen in der Schule wurde dagegen nur in wenigen Publikationen fokussiert. In größer angelegten quantitativen Studien von Bodo von Borries und Peter Gautschi spielen Schülerwahrnehmungen und Schülerurteile zwar eine Rolle, jedoch lediglich als eine Datenquelle von mehreren.11 Qualitative Mikroanalysen mit hoher Befragungstiefe sind in etwas größerer Anzahl vorhanden: Sowohl Johannes Meyer-Hamme als auch Sybilla Leutner-Ramme konnten punktuelle Einsichten in die Schülerwahrnehmung gewähren.12 In beiden Studien werden Erlebnis, Quellenorientierung sowie Stofforientierung als Gütekriterien der Lernenden ausgewiesen. Die neueste Untersuchung von Daumüller und Seidenfuß identifiziert Gütekriterien aus Schülersicht als Nebenprodukt der eigentlichen Forschungsfrage. Darunter fallen Abwechslung, Diskussionen, Lehrererzählungen, Personifizierung und Gegenwartsorientierung.13 Wie können diese Schülervorstellungen von ›gutem Geschichtsunterricht‹ in lerntheoretischer Hinsicht konzeptualisiert werden? Bei der Darstellung der Kriterien gelungenen Geschichtsunterrichts und der Erläuterung fachspezifischer Befunde zur Schülerperspektive wurde deutlich, dass die geschichtsdidaktische Forschung zu Geschichtsunterrichtsqualität auf dem Vorstellungsbegriff beruht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler besitzen Vorstellungen darüber, wie historisches Lernen in der Schule auszusehen habe. Analog zur Konstruktion von Schülervorstellungen über Inhalte kann davon ausgegangen werden, dass Lernende über ihre Schulbiographie hinweg institutionenspezifische Vorstellungen oder, kognitionspsychologisch gewendet, Schemata über (Fach-)Unterricht
9 Vgl. Meyer-Hamme 2012, S. 21. 10 Vgl. Becker 2007, S. 106, der ebenfalls für eine Berücksichtigung aller drei Qualitätsdimensionen plädiert. 11 Vgl. von Borries 1999; Gautschi 2009 (Anm. 8). 12 Vgl. Meyer-Hamme 2012 (Anm. 9); Leutner-Ramme 2003, 2005, 2007. 13 Vgl. Daumüller/Seidenfuß 2017, S. 173ff.
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ausbilden, also Vorstellungen darüber, wie (historische) Lehr-Lern-Prozesse in der Schule gestaltet sind und ›funktionieren‹.14 Angebunden an diese Schemata über Unterricht sind, so soll argumentiert werden, über die Wissensstrukturen hinausreichende, normativ-wertende Elemente, das heißt Erwartungshaltungen darüber, wie guter Unterricht gestaltet sein sollte. Für diese Erwartungshaltungen wird der Zentralbegriff der ›subjektiven Qualitätskonzepte‹ gewählt. Die individuell-perspektivierten, nicht-wissenschaftlichen Eigenschaften dieser Kognitionen sollen durch das Attribut ›subjektiv‹ ausgedrückt werden. Der Konzeptbegriff dagegen betont den alltagstheoretischen, orientierungsbildenden Charakter, ohne die Schlüssigkeit, Elaboration und Komplexität wissenschaftlicher Theorien oder die Festigung von Überzeugungen konnotieren zu wollen.15 Anhand eines Modells der Geschichtsunterrichtswahrnehmung und -beurteilung16 soll dargelegt werden, wie diese Qualitätskonzepte für das historische Lernen relevant werden (Abb. 1). Die Impulse, die im Geschichtsunterricht auf das Individuum einwirken, bilden den Ausgangspunkt des Verarbeitungsprozesses. Darunter können z. B. eine bestimmte historische Lernaufgabe oder eine Geschichts-Dokumentation fallen. Die Situation im Geschichtsunterricht muss in einem zweiten Schritt wahrgenommen werden, damit sie dann in einem dritten Schritt vom Lernenden mit Bedeutung versehen und ›verstanden‹ werden kann. Hierbei wird extensiv auf bestehende Kognitionen rekurriert. Dazu zählen Lernvoraussetzungen, wie z. B. historisches Vorwissen oder Geschichtsinteresse, sowie Vorstellungen von Geschichtsunterricht. In einem vierten Schritt werden die gedeuteten Informationen unter Rückbezug auf das subjektive Qualitätskonzept von Geschichtsunterricht beurteilt. Aus dem gefällten Urteil kann sich beobachtbares Verhalten des Beurteilenden im Geschichtsunterricht ergeben, wie z. B. Verweigerung oder Engagement. Vor diesem theoretischen Hintergrund setzt die Arbeit an und fragt, worauf es den Schülerinnen und Schülern im Geschichtsunterricht – mit Holger Thünemann gesprochen – nun eigentlich ankommt.17
14 Vgl. z. B. Lenske 2016, S. 75. 15 Vgl. Baalmann/Frerichs/Weitzel 2004, S. 8; weiterführend Gropengießer 2007. 16 Es wird von Beurteilung gesprochen, um Verwechslungen mit historischer Urteilsbildung zu vermeiden. 17 Vgl. Thünemann 2012, S. 52.
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Abb. 1: Wahrnehmungs- und Beurteilungsmodell für den Geschichtsunterricht
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3
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Forschungsmethodischer Ansatz: Ein sequentielles Mixed-Methods-Design
Im Rahmen einer sequentiellen, multimethodalen Befragungsstudie18 wurden in einem ersten Erhebungsschritt Fragebögen eingesetzt und in einer darauffolgenden Phase Einzelinterviews geführt. Die Gesamtstichprobe bestand aus 42 15–16-jährigen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus dem Regierungsbezirk Münster. Die Stärke des Designs liegt auf Grund der kleinen, lokal eingegrenzten Stichprobe in der Kontextualisierung des Forschungsgegenstandes sowie in der daraus resultierenden Subjektnähe und Analysetiefe, nicht in statistischer Repräsentativität. Die Untersuchung begann mit einer Explorationsphase. Es galt, die Gütekriterien der Probandinnen und Probanden mit Hilfe offener schriftlicher Fragebögen zu erkunden. Sie wurden zu diesem Zwecke gebeten, eine selbst erlebte Geschichtsstunde sowie einen Stundeneinstieg einer fremden Geschichtsstunde in Form einer Videovignette zu beurteilen. Es wurde angenommen, dass Schülerinnen und Schüler auf Grund der persönlichen Distanz zu einer fremden Unterrichtsstunde eventuell quantitativ oder qualitativ andere Gütekriterien kommunizieren als bei der Beurteilung des eigenen Geschichtsunterrichts.19 Diese schriftlichen Daten wurden in einem induktiven Vorgehen inhaltsanalytisch-kategorienbildend ausgewertet.20 In einem darauffolgenden Schritt wurden die Erkenntnisse der qualitativen Befragungen ergänzt, indem Hypothesen mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens überprüft wurden. Die Daten der Explorationsstudie bildeten die Grundlage für das Sampling und die Erkenntnisinteressen der Vertiefungsphase. Die Probandinnen und Probanden wurden in problemzentrierten Interviews21 zu ihren Qualitätskonzepten befragt, wobei es besonders galt, subjektive Bedeutungszuschreibungen und Relevanzsetzungen zu eruieren. Abschließend erfolgte eine Typologisierung der Schülerinnen und Schüler nach den von ihnen verwendeten Hauptgütekriterien. Insgesamt liegt die Akzentuierung auf der Interviewstudie, die Erklärungsmacht für die zuvor aus den schriftlichen Daten herausgearbeiteten empirischen Regelmäßigkeiten besitzt.
18 Zu sequentiellen Designs vgl. Thünemann 2016, S. 233ff.; ebenso Ivankova/Creswell/Stick 2016. 19 Diese Annahme ist aus Befunden zur Unterrichtswahrnehmung durch Lehrkräfte ableitbar, vgl. hierzu Schwindt 2008. 20 Vgl. Mayring 2010. 21 Vgl. Witzel 2000.
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4
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Befunde: Gütekriterien aus Schülerperspektive
Die zentralen Befunde der Untersuchung sollen im Folgenden erläutert werden. Zunächst wird das ›Basiskonzept der Geschichtsunterrichtsqualität aus Schülersicht‹ vorgestellt, das diejenigen Gütekriterien bündelt, die von allen befragten Schülerinnen und Schülern geteilt werden. Ein anschließender Typologisierungsversuch dient dazu, die weiteren, individuelleren Kriterien in inhaltlich schlüssigen Idealtypen zu bündeln, ohne zu viele Teilinformationen zu verlieren.22
4.1
Basiskonzept der ›Geschichtsunterrichtsqualität aus Schülersicht‹
Die Schülerperspektive auf ›guten Geschichtsunterricht‹ beinhaltet einen geteilten, unter den Lernenden konsensfähigen Anteil. Dieser ist vorrangig allgemeindidaktisch profiliert und stellt die kompetente und freundliche Lehrkraft in den Mittelpunkt. Ihr wird als Qualitätsgarant im Geschichtsunterricht die größte Relevanz zugesprochen. Allgemeine Lehrerkompetenzen wie gerechte Leistungsbewertung und verständliches Erklären sind den Befragten dabei ebenso wichtig wie Wärme und Humor ; fachdidaktische Professionskompetenzen nehmen sie dagegen deutlich seltener in den Blick. In Bezug auf den Unterrichtsprozess sind allen Probandinnen und Probanden ein effizienter, gut organisierter und strukturell klarer Unterricht sowie ein unterstützendes Lernklima wichtig. In medialer Hinsicht wurde die Begeisterung der Schülerinnen und Schüler für Spielfilme mit historischem Gegenstand und Geschichts-Dokumentationen bzw. Docutainment-Formate sichtbar : »[…] das ist halt Abwechslung. Man muss nicht selber lesen, sondern bekommt das ganze Wissen so gesprochen« (B2, Z. 265–266). Deutlich überlagern Filme Quellen und schriftliche Darstellungen in ihrer Attraktivität, werden jedoch von den Lernenden mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen angegangen (z. B. Unterhaltung, ›Hineinfühlen‹ oder Faktenentnahme). Genau wie im Falle der audio-visuellen Medien nehmen die Probandinnen und Probanden zu Gruppenarbeit im Geschichtsunterricht eine dezidiert positive Position ein. Dabei ist der Wunsch nach kooperativen Arbeitsformen eng mit dem Bedürfnis nach Austausch über historische Sachverhalte verbunden. Dass Geschichte dabei gemeinsam konstruiert und intersubjektiv ausgehandelt werden kann, spielt in den Schemata der meisten Lernenden jedoch keine erkennbare Rolle. Die einzige genuin fachliche gemeinsame Erwartungshaltung der Schülerinnen und Schüler besteht in dem Wunsch, im Geschichtsunterricht 22 Vgl. Kelle/Kluge 2010, S. 83ff.
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Überblickswissen über die Vergangenheit zu erwerben: »Und nicht irgendwie ganz besonders auf die kleinen Details eingehen, sondern wirklich auf die grundlegenden Fakten« (B5, Z. 315–316). Der Begriff ›Vergangenheit‹ wird an dieser Stelle bewusst genutzt: Es geht den Lernenden weniger um Geschichte als Deutungsprozess, sondern vielmehr um grundlegendes, faktenbasiertes Inhaltswissen zur Orientierung in Zeit und Raum. Das Basiskonzept Geschichtsunterrichtsqualität besitzt bei den Lernenden die primäre Wahrnehmungs- und Beurteilungsrelevanz, was in den Befragungsschleifen an mehrerlei Stellen sichtbar wurde. Diesbezüglich erwies sich die Betrachtung der Videovignette durch die Schülerinnen und Schüler als besonders aufschlussreich: Da die Probandinnen und Probanden die Gestaltung des Einstiegs durch den Lehrer als unorganisiert wahrnahmen, schenkten sie der fachlichen Dimension der Sequenz kaum Aufmerksamkeit. Im Falle der selbst erlebten Geschichtsstunde, die die Jugendlichen als organisiert und strukturell klar beurteilten, konzentrieren sie sich hingegen deutlich stärker auf geschichtsdidaktische Unterrichtsaspekte.
4.2
Typologie der unterrichtlichen Qualitätskonzepte von Schülerinnen und Schülern
Trotz der erläuterten fallübergreifenden Merkmale sind die Qualitätskonzepte der Jugendlichen im Detail sehr unterschiedlich. Die folgende Typologie geht vom jeweiligen Hauptgütekriterium aus, das die Lernenden an Geschichtsunterricht anlegen, und das als dominante Vorstellung eine »prägenden« Einfluss auf die meisten anderen Ebenen ausübt. Sie strukturiert sich über fünf Idealtypen, die als spezifische Ausprägungen und Weiterführungen des kollektiven ›Basiskonzepts der Geschichtsunterrichtsqualität aus Schülersicht‹ verstanden werden sollen. Darunter fallen vier fachspezifische und ein vorrangig überfachlicher Qualitätstyp. Beeinflusst wird die Zugehörigkeit zu einem Idealtypus vor allem von der jeweiligen Beschaffenheit epistemologischer Überzeugungen zur Geschichte sowie von der Größe des Geschichtsinteresses. Es ergibt sich so eine grundsätzliche Zweiteilung, die empirisch abgesichert ist (Abb. 2). Der Schülertyp, der gelungenes historisches Lehren und Lernen mit allgemeindidaktischer Unterrichtsqualität gleichsetzt, verfügt über ein Qualitätskonzept, das das ›Basiskonzept der Geschichtsunterrichtsqualität‹ (s. o.) in großen Teilen aufgreift. Er legt den Hauptfokus auf Unterrichtseffizienz sowie ein gutes Lernklima, und versteht die Lehrperson vorrangig als Pädagogin bzw. Pädagogen. Sie soll möglichst kompaktes historisches Inhaltswissen vermitteln, zum Beispiel im Rahmen eines informierenden Lehrervortrags: »Und ähm, ja,
Schülerkonzepte von gelungenem Geschichtsunterricht
83
Abb. 2: Typologie subjektiver Qualitätskonzepte
generell auch möglichst viel Allgemeinwissen versuchen, da reinzubringen. So dass, ähm, ja, das auch wirklich interessant ist und dass man das Gefühl hat, dass das wichtig ist« (B5, Z. 154–156). Bevorzugte Lernaufgaben dieses Typs sind auf niedrigschwellige Reproduktion ausgelegt. Er lernt gerne in Gruppen, da er dies als ›locker‹ empfindet, und schaut Filme zur Unterhaltung. Er besitzt zumeist wenig Vorwissen, kaum Interesse am Fach, ein positivistisches Geschichtsbild und ein instruktionales Lernverständnis. Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die guten Geschichtsunterricht als Forschungswerkstatt verstehen, bilden den polaren Gegensatz zum eben beschriebenen Idealtyp. Ihre Hauptgütekriterien sind Problem- und Wissenschaftsorientierung. Sie möchten sich historisches Gegenstands- und Erkenntniswissen eigenständig erarbeiten. Dabei verstehen sie die Lehrperson als Historikerin bzw. Historiker, die im Rahmen ihres Expertenstatus historisches Denken anleiten. Entsprechend präferieren sie kognitiv anspruchsvolle Aufgaben, die aus genuinen historischen Fragen erwachsen, und schätzen besonders die eigene Sach- und Werturteilsbildung: »Weil Schüler werden verschiedene Aspekte erläutern und auch verschiedene Denkansätze haben, die vielleicht im Buch gar nicht so vorgesehen sind, aber den-noch vielleicht wichtig zu beachten« (B6, Z. 342–343). Hinsichtlich Schriftlichkeit und Mündlichkeit lässt sich dieser Idealtyp ausdifferenzieren in diejenigen Schülerinnen und Schüler, die histori-
84
Isabelle Nientied
sche Denkleistungen vorrangig mündlich verhandeln möchten, und diejenigen, die das epistemische Schreiben im Geschichtsunterricht vorziehen. Andere Schülerinnen und Schüler des Samples verstehen Geschichtsunterricht primär als diskursiven Zusammenhang. Ihre Gütekriterien sind die Werturteilsbildung zum historischen Sachverhalt und der sich anschließende mündliche Austausch. Im Mittelpunkt steht für sie ein hoher Grad der kognitiven Anregung, der vor allem durch Pluralität unter den Schülerinnen und Schülern garantiert werden kann. Die Geschichtslehrkraft sehen sie entsprechend als Moderatorin bzw. Moderator, die den Austausch der Lernenden steuert, aber durchaus auch mit einem eigenen Werturteil am Diskurs teilnimmt. Oft spielt ihre persönliche moralische Bewertung einer Epoche bzw. eines Ereignisses eine große Rolle für das von ihnen aufgebrachte Interesse. Am liebsten bearbeiten diese Lernenden Aufgaben des Anforderungsbereiches III, vertreten dabei jedoch zumeist keinen Rationalitätsanspruch. So fällen sie Werturteile, die vorrangig moralisch geprägt und wenig reflektiert sind (z. B. B5, Z. 249: »Wie findet ihr das mit dem (..) Hitler und so?«). Für die Schülerinnen und Schüler des nächsten Idealtyps funktioniert guter Geschichtsunterricht ebenfalls über starke persönliche Bezüge, jedoch eher auf der emotionalen Ebene. Ihre Ansprüche umfassen das affektive Erleben von Geschichte, das empathische Hineinversetzen in historische Akteure, Alteritätserfahrungen sowie Spaß- und Spannungsempfinden. Bei kurzen und sprachlich leichten Selbstzeugnissen, wie Reiseberichten, versprechen sich die Schülerinnen und Schüler ein direktes Mit-Erleben der Vergangenheit über die Erfahrung des einzelnen historischen Akteurs: »[…] weil die halt sind ja meistens aus ähm der Perspektive des Verfassers geschrieben und dann, ja, kann man halt so, meist bringt/bringt der Verfasser dann die Gefühle dann schon zum Ausdruck« (B3, Z. 84–87). Ihr Verständnis von Handlungsorientierung ist eher motivational-animativ :23 Sie möchten ›irgendwie‹ tätig werden, zeigen jedoch kein Interesse am Nachvollziehen und Einüben geschichtswissenschaftlicher Praxis. Sie schätzen vielmehr spielerische, kreative und kooperative Aufgaben, wie z. B. Rollenspiele. Die Zielperspektive des letzten Schülertyps im Geschichtsunterricht ist es, möglichst viel Stoff zu akkumulieren. Dabei handelt es sich nicht lediglich um Überblickswissen, sondern durchaus auch um weiterführende Detailinformationen. Didaktische Maßnahmen bewertet er entsprechend danach, wie zuträglich sie der persönlichen Behaltensleistung sind. Die Aufgabenpräferenzen umfassen Anforderungen aus dem Bereich I, wie z. B. das mündliche Zusammenfassen von Darstellungstexten. Vor allem visualisierende Unterrichtsmaterialien sind beliebt, wie z. B. ein Zeitstrahl. Insgesamt sind diese Schülerinnen 23 Vgl. Demantowsky 2015, S. 68ff.
Schülerkonzepte von gelungenem Geschichtsunterricht
85
und Schüler der Ansicht, dass Unterrichtsgespräche am effektivsten für das Lernen im Fach Geschichte sind, da eindeutiges Wissen von der Lehrkraft an die Lernenden kommuniziert wird. Während die Lernenden dieses Typs konsequent Stichpunkte anfertigen, empfinden sie das Verfassen eigener, längerer Schreibprodukte als wenig sinnvoll: »Aber es ist halt einfach nichts, was mich wirklich weiter bringt meiner Meinung nach. Also wenn ich diese Texte gelesen und verstanden habe, habe ich die Information. Und dann brauche ich keine Analyse da noch drüber schreiben« (B5, Z. 208–210).
5
Synthese und Diskussion
Schülerinnen und Schüler verfügen über eigene Vorstellungen von Geschichtsunterricht und seiner Qualität. Diese Vorstellungen sind inhaltlich heterogen, unterschiedlich elaboriert und in zweierlei Hinsicht subjektiv : Zum einen weicht die Schülerperspektive als Ganzes von wissenschaftlichen geschichtsdidaktischen Gütekriterien ab bzw. setzt grundlegend andere Schwerpunkte. Dies spiegelt Peter Gautschis Erkenntnis, dass sich Lehrerinnen und Lehrer, Didaktikerinnen und Didaktiker und Schülerinnen und Schüler bezüglich guten Geschichtsunterrichts nicht einig sind.24 Zum anderen lässt sich auch innerhalb der Gruppe der Probandinnen und Probanden eine große Heterogenität von Ansprüchen und Erwartungen nachweisen. Dies deckt sich mit den Grundannahmen der Schematheorie: Schemata sind persönliche Konstrukte, die auf individuellen Biographien und Erfahrungen basieren und so von Person zu Person unterschiedlich sind.25 Die Schemata der Jugendlichen von Geschichtsunterrichtsqualität bestehen nicht lediglich aus unverbundenen Begriffen und Wissensinseln, besitzen aber ebenfalls noch nicht die Schlüssigkeit ausgereifter subjektiver Theorien.26 Die Schülerperspektive auf Geschichtsunterricht ist entsprechend wenig systematisch: Ein Verständnis von spezifisch historischen Kategorien und geschichtsdidaktischen Unterrichtsprinzipien ist nur bei wenigen Probandinnen und Probanden angelegt. Hieraus ergibt sich, dass die meisten Schülerinnen und Schüler in ihren Äußerungen kaum zwischen allgemeinen und fachlichen Kriterien unterscheiden. Oftmals nutzen sie Begriffe, die durchaus dem Begriffsinventar der Didaktik der Geschichte zugerechnet werden können, verbinden damit aber nicht immer den etablierten wissenschaftlichen Bedeutungsgehalt. Die Verwendung alltagssprachlicher Begriffe lässt so nicht isoliert, sondern erst 24 Vgl. Gautschi 2009 (Anm. 8), S. 169. 25 Vgl. Baalmann/Frerichs/Weitzel 2004 (Anm. 15), S. 8. 26 Vgl. ebd.
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in ihrem kontextuellen Gebrauch der Schüleraussage erkennen, ob damit auf allgemeine oder fachliche Konzepte rekurriert wird. Vor diesem Hintergrund zeigte sich in allen Befragungsschleifen die Relevanz allgemeindidaktischer Qualitätsmerkmale aus Schülersicht. Dass die Lernenden bezüglich der allgemeinen Basisdimensionen ›Unterrichtseffizienz‹ und ›unterstützendes Lernklima‹ Einigkeit zeigen, ist im Lichte empirischer Befunde aus pädagogisch-psychologischen Studien zu Schülerurteilen nicht überraschend.27 Auffällig ist vielmehr, dass die zweite Basisdimension nach Klieme (›kognitive Aktivierung‹) nicht konsensfähig ist. Sie umfasst unter anderem die Einbettung des (historischen) Lernens in Problembezüge und lebensweltliche Kontexte sowie komplexe und anspruchsvolle Aufgaben.28 Diese Kriterien sind offensichtlich eher typenspezifisch als übergreifend relevant und zeigen die Individualität der Zugänge zum spezifisch historischen Lernen. Der Wunsch, historisches Überblickswissen zu erwerben, wird hingegen von allen Probandinnen und Probanden geäußert. In der Schülersprache drückt sich diese Komponente des Qualitätskonzepts über die Begriffe »Fakten« und »Informationen« aus. Das Lernziel »Wissen über die Hauptfakten der Geschichte aneignen«29 wurde bereits in den 1990er Jahren als dominante Zielperspektive deutscher Schülerinnen und Schüler nachgewiesen und scheint somit zeitstabil zu sein. Auf dieser Basis sprechen sich mehrere Jugendliche entschieden gegen exemplarische Themenzuschnitte aus: Das Lernen am singulären Fall lässt sie nach eigener Auskunft orientierungslos zurück. Auf ähnlich geringe Zustimmung stoßen Merkmale wissenschaftsorientierten Geschichtsunterrichts, darunter vor allem die Quelleninterpretation, die auf genauem Lesen beruht, sowie textproduktives Schreiben. Gefordert wird vielmehr mündlicher Geschichtsunterricht, der Lese- und Schreibprozesse marginalisiert. Dabei ist besonders die Bedeutung des Lesens für das Fach Geschichte unumstritten: Die Medien der Geschichte beruhen auf Sprache, die entschlüsselt werden muss.30 Auch Schreiben ist im Geschichtsunterricht unverzichtbar, da es als Denkwerkzeug beim Aufbau historischen Wissens eine wichtige Rolle spielt.31 Vor dem Hintergrund einer integralen Betrachtung von fachlichem und sprachlichem Lernen wird in geschichtsdidaktischer Hinsicht dafür sensibilisiert, die Ausbildung historischen Denkens auch an den Erwerb fachspezifischer Lese- und Schreibstrategien zu koppeln, wobei etwa auf das Lesen und Schreiben von Historikerinnen und Historikern rekurriert wird.32 In allen Befragungs27 28 29 30 31 32
Vgl. z. B. Ditton 2002 (Anm. 5), S. 264ff. Vgl. Klieme 2006, S. 770. von Borries 1999 (Anm. 11), S. 76. Vgl. Handro 2016, S. 269. Vgl. z. B. Hartung 2015, S. 221. Vgl. Handro 2016 (Anm. 30), S. 279f.
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schleifen wurde jedoch ersichtlich, dass nicht Lesen und Schreiben, sondern Hören und Sprechen für die meisten Schüler*innen zentrale Gütekriterien darstellen. Quellen werden von den Schülerinnen und Schülern zwar als Teil des Geschichtsunterrichts gesehen, jedoch bis auf einige wenige Ausnahmen nicht als zentrale Erkenntnisgrundlage geschätzt. Diese Orientierung weist eine bemerkenswerte Stabilität auf und wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder empirisch nachgewiesen.33 Für die Ablehnung der Arbeit mit Quellen und Darstellungen ließen sich drei übergreifende Begründungsmuster identifizieren: 1) ein mangelndes Sinnempfinden, 2) sprachliche Überforderung und 3) eine als zu gering wahrgenommene Schülerorientierung. Insbesondere Quellen werden eher zur Auflockerung bzw. Illustration denn als Analysegrundlage eingefordert. Der Befund steht in engem Zusammenhang damit, dass die historische Frage von den meisten Probandinnen und Probanden dieser Studie als fachlicher Schlüsselmoment nicht mitgedacht und die Geschichtsstunde so nicht als Erkenntnisprozess wahrgenommen wird. Das größte explanative Potential für die Ausprägung der erläuterten Qualitätsvorstellungen besitzen die Lernvoraussetzungen ›Geschichtsverständnis‹ und ›Geschichtsinteresse‹. Ob Geschichte als Inhaltsbereich verstanden wird, den es zu ›pauken‹ gilt, oder aber als Deutungsprozess, der eigene Urteile erfordert, beeinflusst vor allem die Aufgabenpräferenzen von Schülerinnen und Schülern. Die Variable ›Gesamtinteresse‹ zeigt wiederum überzufällig deutliche Zusammenhänge mit den Bedürfnissen nach einem wissenschaftsnahen Themenzuschnitt, Werturteilsbildung/Pluralität sowie dem Wunsch, im Geschichtsunterricht historische Denkoperationen einzuüben. Der Zusammenhang zwischen dem individuellen Geschichtsverständnis und dem jeweiligen Qualitätskonzept ist dabei jedoch nicht monokausal.
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Reflexion und (Forschungs-)Perspektiven
»Also, ich glaube, was mir das wichtigste am Geschichtsunterricht wäre, was leider recht wenig gemacht wird, dass zwischendurch einmal die Schüler gefragt werden, worauf hättet ihr mal Lust?« (B9, Z. 355–356) Wie in der Schüleraussage deutlich wird, möchten Lernende als Partnerinnen und Partner der Unterrichtsgestaltung und -entwicklung wahrgenommen werden. Sie verfügen nicht nur über Vorstellungen zu historischen Inhalten, sondern ebenfalls über institutionenspezifische Konzepte von Geschichtsunterricht und dessen Qualität. In dem hier vorgestellten Projekt wurden die in der Disziplin bereits vorhandenen, 33 Vgl. z. B. von Borries 2005, S. 75.
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punktuellen Forschungserträge zum Thema ergänzt, ausdifferenziert und vertieft. Neben der Modellierung der Schülerwahrnehmung von Geschichtsunterricht (vgl. Abbildung 1) war das zentrale Anliegen der Untersuchung, empirische Erkenntnisse zur Schülersicht auf Geschichtsunterricht zu generieren. Vor dem Hintergrund der geschichtsdidaktischen Debatte um guten Geschichtsunterricht wurden fallübergreifende und typenspezifische Gütekriterien identifiziert, die aus Schülersicht gelungenes historisches Lernen ausmachen. Der Qualitätsdiskurs wurde auf diese Weise empirisch weiter gesättigt, da neben der Perspektive der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie der Lehrerinnen und Lehrer nun auch die Schülersicht auf Geschichtsunterricht in ihrer spezifischen Phänomenologie repräsentiert ist. Die Kriterien der Jugendlichen stehen bisweilen im Gegensatz zu fachdidaktischen Normen und können zeigen, dass bei der Generierung eines perspektivensensiblen Modells guten Geschichtsunterrichts die genaue Definition, Begründung und Gewichtung der Einzelkriterien zentral ist: Nicht alle Akteure sehen die gleichen Kriterien aus den gleichen Gründen als gleich wichtig an. In Hinblick auf die Praxis des Geschichtsunterrichts kann eine Bezugnahme auf die Qualitätskonzepte von Schülerinnen und Schülern mit dem Paradigma der Subjektorientierung begründet werden. Ein Geschichtsunterricht, der verstärkt vom Standpunkt des Lernsubjektes aus konzeptualisiert wird, kommt nicht umhin, neben individuellen Lernvoraussetzungen auch die Wünsche und Ansprüche der Schülerinnen und Schüler an das historische Lernen zu berücksichtigen. Welcher Stellenwert ihnen eingeräumt werden sollte, ist jedoch weniger leicht zu bestimmen. Eine Unterrichtsplanung, die sich unreflektiert an den Gütekriterien der Jugendlichen ausrichtet, wäre willkürlich und in vielerlei Hinsicht vermutlich nicht lernförderlich. Viele Lernende zeigen sich gegenüber wissenschaftsorientiertem Geschichtsunterricht wenig aufgeschlossen. Ein Geschichtsunterricht, der auf diese Problematik reagiert, indem er Transparenz hinsichtlich seiner fachlichen Struktur, seiner Ziele und seiner Anforderungen herstellt und diesbezügliche Kommunikationsprozesse anstößt, kann alltagsweltliche Schülervorstellungen zum historischen Lernen modifizieren, einen Dialog zur Unterrichtsentwicklung initiieren, und den Blick der Lernenden für das eigene historische Denken schärfen.
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II. Geschichtslehrkräfte im Fokus der geschichtsdidaktischen Forschung
Christian Heuer / Mario Resch (PH Heidelberg)
Zur Entwicklung geschichtsdidaktischer Kompetenzen angehender Lehrpersonen während der zweiten Phase der Lehramtsausbildung1
1
Professionelle Kompetenz und domänenspezifische Profilierung
Innerhalb der letzten Jahre ist die Lehrperson als professionell Handelnde auch innerhalb einzelner Fachdidaktiken in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und der pädagogische Allgemeinplatz2 »Auf den Lehrer kommt es an« aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung und einzelner Fachdidaktiken einer theoretisch-empirischen Validierung unterzogen worden. Denn das, was man jahrelang irgendwie wusste, läßt sich mittlerweile ansatzweise empirisch bestätigen: zentrale Variablen des Unterrichts sind gekoppelt an die »professionelle Kompetenz«3 der unterrichtenden Lehrperson. Die gegenwärtige Forschung zur professionellen Kompetenz von Lehrpersonen stimmt dabei zum einen darin überein, dass Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die Bereitschaft zur Bewältigung beruflicher Herausforderungen prinzipiell erlernbar und veränderbar sind; zum anderen folgt sie der Annahme, dass sich die Entwicklung der professionellen Kompetenz in der Auseinandersetzung mit entsprechenden Lerngelegenheiten im Laufe der drei Phasen der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern vollzieht.4 Zahlreiche empirische Studien stützen zwar diese Thesen,5 aber in ihnen wird der Sache und den studierten Unterrichtsfächern meistens nur eine untergeordnete Rolle zuteil, unabhängig davon, ob sie kompetenzorientiert, strukturtheoretisch fundiert oder der Bildungsgangforschung zuzurechnen sind.6 Die Fachlichkeit bzw. die Sache des Handelns der Lehre1 Die Arbeit an diesem Projekt wurde durch Sachbeihilfen des Landes Baden-Württemberg sowie der Pädagogischen Hochschulen Heidelberg und Ludwigsburg im Rahmen des Forschungs- und Nachwuchskollegs »Effektive Kompetenzdiagnose in der Lehrerbildung (EKoL)« ermöglicht. 2 Vgl. Terhart 2017, S. 227–234. 3 Baumert/Kunter : 2006, S. 469–520. 4 Vgl. Messner/Reusser 2000, S. 157–171. 5 Vgl. u. a. König 2015, S. 85. 6 Vgl. Laging/Hericks/Saß 2015, S. 109.
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rinnen und Lehrer wird in der Diskussion um die Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern vielfach ausgeblendet,7 gerade weil man Kompetenzen des Lehrens als fächerübergreifend ansieht. Fasst man die professionelle Kompetenz der Lehrperson jedoch als domänenspezifische Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften auf, erkennt man schnell, dass die Marginalisierung der Fachlichkeit8 eine Leerstelle in der Kompetenzdiskussion markiert. Es stellt sich deswegen die Frage nach der Bedeutung der einzelnen Fächer und ihrer jeweiligen nature of science für die individuelle Kompetenzentwicklung, das darauf aufbauende unterrichtliche Handeln, die epistemologischen Überzeugungen und das Selbstverständnis der Lehrperson in ihrer Rolle als Fachlehrperson. Auch die Geschichtsdidaktik als »Wissenschaft vom historischen Lernen«9 beschäftigt sich vor diesem Hintergrund seit längerem und konzentrierter mit der Geschichtslehrperson, ihren subjektiven Theorien und epistemologischen Überzeugungen, ihrem professionellen Wissen und ihrem geschichtsunterrichtlichen Handeln, um zu beschreiben, was es braucht, um Geschichte zu unterrichten.10 Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen des Forschungskollegs EKoL (Effektive Kompetenzdiagnose in der Lehrerbildung) versucht, den Professionalisierungsprozess angehender Geschichtslehrpersonen in Bezug auf ihre geschichtsdidaktische Kompetenzentwicklung theoretisch zu modellieren und empirisch zu erfassen.11 Im Rahmen dieser Forschungen wurden dabei mögliche Antworten auf zwei Fragen der Professionalisierung von Geschichtslehrpersonen gesucht: 1) Wie entwickeln sich geschichtsdidaktische Kompetenzen während der Lehramtsausbildung? und 2) Wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen Fachwissen und geschichtsdidaktischem Wissen und Können im Laufe der Professionalisierung? Dafür wurden im Rahmen des Forschungsprojektes bislang zwei Phasen des individuellen Professionalisierungsprozesses empirisch untersucht12. Im Folgenden sollen die theoretischen Modellierungen und das Testinstrument vorgestellt werden. Basierend auf ersten vorläufigen Ergebnissen einer längsschnittlichen Untersuchung zur geschichtsdidaktischen Kompetenzentwicklung in der zweiten Phase (Referendariat) der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern werden abschließend geschichtsdidaktische Perspektiven auf das Theorie-Praxis-Problem der Ausbildung zur Diskussion gestellt.
7 8 9 10 11 12
Vgl. Martens et al. 2018, S. 10. Vgl. Liessmann 2016, S. 137. Rüsen 2013, S. 254. Vgl. Bühl-Gramer 2018, S. 355–365; Heuer/Resch/Seidenfuß 2018, S. 27–41; Heuer 2017. Vgl. Resch/Heuer/Seidenfuß 2019. Für die erste Phase der Lehrerbildung vgl. Resch 2018.
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Wissen, Können, Kompetenz?
Innerhalb der scientific community zur Professionsforschung von Lehrerinnen und Lehrern ist man sich weitgehend einig darüber, dass das Professionswissen ein zentraler Aspekt der übergreifenden professionellen Kompetenz von Lehrpersonen darstellt. Die Shulmansche Taxonomie des Wissens von Lehrerinnen und Lehrern13 gilt dabei als zentraler Referenzpunkt und hat in den letzten Jahren auch die geschichtsdidaktischen Forschungen zur Professionsforschung initiiert.14 Im Anschluss an Shulman und das etablierte Modell professioneller Kompetenz15 geht man nicht nur in der Geschichtsdidaktik davon aus, dass eine breite Vernetzung der einzelnen Wissensbereiche (Content Knowledge, Pedagogical Content Knowledge und Psychological/Pedagogical Knowledge) eine wichtige Voraussetzung für qualitätsvolles Lehrhandeln ist und dass demnach der Handlungskompetenz von Lehrpersonen eine »multiple Wissensbasis«16 zu Grunde liegt.17 Dabei überschneiden sich im Handlungsvollzug die einzelnen Bereiche des professionellen Wissens und lassen sich wohl nur heuristisch und analytisch trennen.18 So hatte bereits Shulman davon gesprochen, als er das fachdidaktische Wissen einer Lehrperson als »[…] that special amalgam of content and pedagogy that is uniquely the province of teachers, their own special form of professional understanding«19 bezeichnete. Die Performanz als das beobachtbare, tatsächliche unterrichtliche Handeln der (Geschichts)lehrperson markiert in dieser Lesart eine Summe von situationsspezifischen Wahrnehmungen, Interpretationen und Entscheidungen, die vor dem Hintergrund in13 Shulman 1986, S. 4–14; Ders. 1987, S. 19. 14 Vgl. Hartmann 2018, S. 269–284; Lüke/Seider/Fenn 2018, S. 75–98; Litten 2017; Heuer/ Resch/Seidenfuß 2017, S. 158–176; Fenn/Seider 2017, S. 199–217; Resch/Seidenfuß/Vollmer 2017, S. 169–182; Schröer Berlin 2015; Waldis et al 2014, S. 32–49; Kanert/Resch 2014, S. 15–31. 15 Vgl. Baumert/Kunter 2006 (Anm. 3). Selbstverständlich gibt es auch zahlreiche Gegenstimmen zum kompetenztheoretischen Modell von Baumert und Kunter. Vgl. hierzu die bereits 2007 veröffentlichten Kritikpunkte aus strukturtheoretischer Perspektive. Helsper 2007, bes. S. 574f. 16 Herzog 1995, S. 256. 17 Bereits 1994 beschrieben Shulman und Grossman dieses Handlungswissen wie folgt: »The knowledge and practical understanding teachers act upon daily in classrooms is unlikely to be composed of principles derived from research, not even the precepts of dedicated teacher educators. Rather, teachers’ knowledge is composed largely of a repertoire of cases, of what happened in particular classes with specific kids.« Grossman/Shulman 1994, S. 11. 18 International lassen sich vereinfacht zwei unterschiedliche Konzeptionalisierungen (integrativ und transformierend) der unterschiedlichen Wissensbereiche unterscheiden. Vgl. Gramzow/Riese/Reinhold 2013), S. 10. Empirisch lassen sich die drei zentralen Wissensbereiche gleichwohl voneinander trennen, vgl. König u. a. 2017. 19 Shulman 1987 (Anm. 13), S. 8.
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dividueller Dispositionen (kognitive, affektive und motivationale) gemacht und gefällt wurden. Professionelle Handlungskompetenz von Geschichtslehrpersonen lässt sich so als ein Prozess modellieren, als ein »continuum with many steps in between«20, bei dem das Verfügen über Fachwissen, aus einer geschichtsdidaktischen Perspektive, eine notwendige Bedingung darstellt, um Geschichte qualitätsvoll zu unterrichten, das aber dennoch nicht allein durch professionelles Wissen gesteuert wird. Beim Handeln der Lehrerinnen und Lehrer im Handlungsvollzug sind immer explizite und implizite Wissensbestände beteiligt und finden »eigenwillig Verwendung.«21 Shulman bezeichnete dieses praktische, erfahrungsbasierte Wissen selbst als »wisdom of practice«22 und verstand unter dem Pedagogical Content Knowledge wohl eher ein »situiertes Können«23 als ein Verfügen über einzelne Wissensfacetten.24 Wissen allein reicht in dieser Perspektive wohl nicht aus, um Geschichte qualitätsvoll unterrichten zu können. Es ist eine notwendige Bedingung für kompetentes Handeln im Geschichtsunterricht, längst jedoch nicht hinreichend. So zeigen auch neuere empirische Befunde25, dass dies nach wie vor ein großes Problem darstellt. Novizen verfügen zwar über ein ausreichendes Fachwissen (Geschichtswissen und geschichtsdidaktisches Wissen) können dieses aber nicht in einer komplexen Handlungssituation kompetent nutzen.26 Diese aus handlungstheoretischer Perspektive ausgesprochene Trivalität, dass nämlich die Theorie der Praxis nicht gerecht wird, kann selbstverständlich auch durch andere Ausbildungsstrukturen oder Ausbildungsinhalte nicht aufgehoben, geschweige denn die naiven Apologeten dieser Trivialität zum Verstummen gebracht werden.27 In erster Linie liegt dies Blömeke/Gustafsson/Shavelson 2015, S. 7. Helsper 2007 (Anm. 15), S. 574. Shulman 2004. Neuweg 2015, S. 379. Interessanterweise lässt sich diese Shulmansche »Weisheit der Praxis« empirisch bislang nicht bestätigen. Die Vorstellung, dass sich das Professionswissen von Lehrpersonen im Rahmen ihrer Berufserfahrung quasi automatisch und allein durch die Praxiserfahrung steigert, lässt sich nicht belegen. Eher im Gegenteil kommen mehrere Studien aus den unterschiedlichsten Fächern zu dem Ergebnis, dass die Expertise von Lehrpersonen relativ unabhängig von der individuellen Dauer der Berufstätigkeit ist. Vgl. Kirschner 2017, S. 126; Sturm 2016, S. 130; Lindl/Krauss: 2017, S. 409f. Fragen nach der zugrundeliegenden Validität der Norm von Expertinnen und Experten sind durchaus berechtigt und führen letztlich wieder zurück zu der Frage, ob Kompetenzen sich überhaupt empirisch angemessen mit den bisher vorliegenden Testinstrumenten messen lassen. Vgl. Neuweg 2015 (Anm. 23), S. 378. Zu Fragen führt dann auch die Integration von so genannten Expertinnen und Experten, wie sie in zahlreichen empirischen Arbeiten zur Auswertungsnorm hinzugezogen werden und der meist nicht weiter thematisierte Status von »Expertinnen« und »Experten« im Rahmen eines »Best-Practice-Ansatzes.« Vgl. dazu bereits Bromme 1992, S. 45ff. 25 Vgl. Fenn 2013, S. 327–342. 26 Vgl. Resch/ Heuer 2019. 27 Vgl. Twardella 2017, S. 350.
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darin begründet, dass die Praxis mit all ihren Unsicherheiten immer unübersichtlicher und komplexer ist als die theoretischen Möglichkeiten der Handlungsplanung selbst.28 Da sich Kompetenzen per definitionem nur domänenspezifisch beschreiben lassen,29 muss dies Konsequenzen für die Modellierung einzelner Wissensbereiche und einzelner Wissensfacetten haben.30 Ein allgemein-didaktisches Fachwissen oder ein allgemein-fachdidaktisches Wissen, wie es die fachunspezifische Verwendung des Terminus als Pedagogical Content Knowledge in den unterschiedlichen Fachdidaktiken nahe legt,31 führt hier nicht weiter. Bereits frühzeitig hatte Shulman in der Auseinandersetzung mit den europäischen Traditionen darauf hingewiesen, dass sich die US-amerikanische Forschung aus einer dezidiert psychologischen, also fachunspezifischen, Perspektive heraus mit dem Wissen der Lehrerinnen und Lehrer beschäftigt hatte.32 Auch ein allgemein-didaktisches Pedagogical Content Knowledge gibt es nicht, weil die Allgemeine Didaktik es »[…] mit der Beschreibung von Unterricht zu tun [hat], und zwar unter Absehung seiner besonderen Kontextbedingungen«.33 Bezogen auf das Handeln von Lehrerinnen und Lehrern im Unterricht liefert die allgemeine Didaktik somit ein »allgemeines Konzept«34 desgleichen und ist als allgemeindidaktische Wissensfacette des fachunspezifischen Pedagocical Knowledge zu begreifen.35 Aus diesen Gründen wurde im Heidelberger Geschichtslehrerkompetenzmodell HeiGeKo36 das Fachwissen einer Geschichtslehrperson in die beiden zentralen Wissensbereiche des Geschichtswissens (GW) und des Geschichtsdidaktischen Wissen (GdW) gegliedert und domänenspezifisch profiliert.37
28 Vgl. Herzog (Anm. 16), S. 256. Somit ist es durchaus naheliegend, wenn Neuweg davon spricht, dass »das Theorie-Praxis-Problem ein Wissen-Können-Problem« darstellt; Neuweg 2015, S. 209. 29 Auch die ersten Versuche, die Kompetenzen von Geschichtslehrpersonen zu modellieren (vgl. Pandel 2005, S. 45f.; Jung/Thünemann: 2007, S. 243–252) konnten das Problem der Domänenspezifik nicht lösen. Vgl. Hasberg 2010, S. 165. 30 Vgl. ebenso aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung König u. a. 2017 (Anm. 18). 31 Vgl. für die geschichtsdidaktische Diskussion Fenn/Seider (Anm. 14). 32 Vgl. Shulman 1995, S. 202. 33 Rucker 2017, S. 622. 34 Terhart 2014, S. 813. 35 Vgl. Rothland 2013, S. 638. 36 Vgl. Heuer/Resch/Seidenfuß 2017 (Anm. 14). 37 So bereits Hasberg, der 2010 betonte, dass es gerade die geschichtsdidaktischen Kompetenzen seien, die das »Lehrerhandeln des Geschichtslehrers bestimmen respektive mitbestimmen (sollen).« Hasberg 2010 (Anm. 29), S. 166. Das hier zugrunde liegende Modell des Fachwissens von Geschichtslehrpersonen wurde basierend auf den bisher vorliegenden Arbeiten und basierend auf den Anforderungen des Vignettentests theoretisch modelliert.
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Für das kompetente Handeln der Geschichtslehrperson als Expertin bzw. Experte für das Unterrichten des Faches Geschichte spielt unserer Einschätzung nach insbesondere der Wissensbereich des geschichtsdidaktischen Wissens (GdW) eine zentrale Rolle. Dabei verstehen wir unter dem geschichtsdidaktischen Wissen einer Geschichtslehrperson diejenigen Wissensfacetten, die benötigt werden, um historisches Denken und die es auszeichnenden Methoden und Kategorien an bestimmten Inhalten des Historischen zu lehren,38 diese Inhalte für Lernende verständlich aufzubereiten und sie für die Lernenden als »Geschichte«, also als gegenwärtige narrative Sinnbildung über vergangenes menschliches Geschehen, zugänglich zu machen und die Lernenden zur eigenen historischen Sinnbildung über die Erfahrung von Zeit zu befähigen (sinnbildend und sinnverstehend): »[…] in a word, the most useful ways of representing and formulating the subject that make it comprehensible to others.«39 Dafür stellt die Geschichtsdidaktik als Wissenschaft ein System an Begriffen, Kategorien und Prinzipien zur Verfügung. Dieses Wissen, bestehend aus propositionalen Wissensbeständen, aus Fallwissen und strategischem Handlungswissen40 bezeichnen wir im Folgenden als Geschichtsdidaktisches Wissen. Es manifestiert sich in Regelwissen über die Praxis des historischen Denkens und Lernens (Geschichtsdidaktik als Reflexionswissenschaft), in Fallwissen aus der Praxis des historischen Denkens und Lernens (Geschichtsdidaktik als Erfahrungswissenschaft) und in Handlungswissen für die Praxis des Geschichtsunterrichts (Geschichtsdidaktik als Handlungswissenschaft).41 In dieser Hinsicht sprechen wir deshalb von der geschichtsdidaktischen Professionalität der Geschichtslehrperson, die unserer Auffassung nach die zentrale professionelle Fähigkeit im Handlungsfeld Geschichtsunterricht darstellt.42 In einem Geschichtsunterricht, der sich als »Diskursraum«43 versteht, also ein Unterricht, in dem bei Lernenden und Lehrenden durch Kommunikation44 – und hier genauer durch gemeinsames historisches Erzählen45 – historisches Denken als Kontingenzbewältigung ermöglicht werden soll46, ist die Geschichtslehrper38 39 40 41 42
43 44 45 46
Vgl. Bergmann 1978, S. 114. Shulman 1986 (Anm. 13), S. 9. Vgl. Dick 1994, S. 134. Vgl. Schönemann 2014, S. 11. Auch in disziplinpolitischer Perspektive ist diese Betonung der Geschichtsdidaktik als zentrale Berufswissenschaft von Geschichtslehrpersonen zielführend und kann dadurch zur Professionalisierung der Fachdidaktik Geschichte im Kontext der Lehrerinnen- und Lehrerbildung beitragen. Vgl. Heitzmann/Pauli 2015, S. 195f. Thünemann/Jansen 2018, S. 72. So bereits 1978 Ulrich Mayer und Hans-Jürgen Pandel: »Wenn wir Unterricht als Kommunikation definieren […] intendieren wir nicht ›irgendeine Kommunikation‹ zu untersuchen, sondern Kommunikation über Geschichte.« Mayer/Pandel 1978, S. 163. Vgl. Heuer 2011, S. 46–60. Vgl. Köster/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2017), S. 222.
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son mit zahlreichen Problemen und Herausforderungen konfrontiert. Und zwar aus einer doppelten Perspektive. Denn zum einen ist aus der Perspektive der Lehrperson heraus die Erfahrung von Differenz zwischen Erwartung und Beobachtung immer schon konstitutiver Bestandteil ihrer Profession: »Unterricht kann sich nicht auf lineare Kausalität verlassen.«47 Geschichtsunterricht ist zunächst immer Unterricht: »Wenn man glaubt, ein Problem gelöst zu haben, wachsen gleich drei andere nach.«48 Zum anderen sind die Lerngegenstände des Geschichtsunterrichts Wissensbestände, die im besten Fall von den Lernenden selbst konstruiert und gemeinsam verhandelt werden und damit entscheiden die Lernenden, ob und wie sie mit den präsentierten Inhalten der Geschichtslehrperson als Möglichkeiten umgehen, um historisch zu denken. Die Wirksamkeit des Handelns als Geschichtslehrperson hängt demnach immer zuerst damit zusammen, wie sehr die jeweilige Lerngruppe die Möglichkeiten nutzt. Aus diesen Grundvoraussetzungen des Geschichte-Unterrichtens ergeben sich zahlreiche geschichtsunterrichtsspezifische Probleme, auf die die Geschichtslehrperson in der alltäglichen Unterrichtspraxis reagieren muss, im besten Fall kompetent. Nun ist es aber keineswegs gesagt, dass die Geschichtslehrperson in diesen konkreten Problemsituationen auch kompetent handeln kann selbst wenn sie über ein breites Geschichtswissen und über ein vertieftes geschichtsdidaktisches Wissen verfügt. Denn die Praxis des (Geschichte-)Unterrichtens widersetzt sich mit all ihren Unübersichtlichkeiten nur allzu oft der Anwendung der verschiedenen Wissensbereiche. Die Geschichtslehrperson wird also, um im Moment der Problemkonfrontation kompetent handeln zu können, auftretende Probleme, die sich zwangsläufig ergeben, zunächst immer erst als solche wahrnehmen müssen, sie als solche aufgrund ihres professionellen Wissens einordnen und interpretieren wollen, um schlussendlich professionell handeln zu können.49 Geschichtsdidaktisches Wissen übernimmt hier als Rahmen einer »kategorialen Wahrnehmung«50 eine wichtige Unterstützungsfunktion, um diese spezifischen erfahrenen Problemsituationen einzuordnen, es löst die spezifischen Probleme des Geschichte-Unterrichtens jedoch nicht.51 Im Rahmen dieser theoretischen Annahmen und vor dem Hintergrund des Heidelberger Geschichtslehrerkom47 48 49 50 51
Meseth/Proske/Radtke 2011, S. 223. Mayer/Pandel 1978 (Anm. 44), S. 155. Vgl. Jahn u. a. 2014, S. 171–180. Bromme 1992, S. 42. Die Interpretation von Kanert/Seidenfuß greift also zu kurz, wenn sie schreiben dass »wenn ausreichend deklaratives und abstraktes Wissen und prozedurale Wissensstrukturen vorhanden wären, würden die Probanden diese Schwierigkeit nicht nennen, die die Planung von Geschichtsunterricht in den Vordergrund rücken.« Kanert/Seidenfuß 2014, S. 732. Fraglich ist überhaupt, inwiefern Selbsteinschätzungen, also artikulierte subjektive Theorien, Aussagen über vorhandenes Wissen zulassen. Vgl. auch Neuweg 2015 (Anm. 28), S. 212.
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petenzmodells (HeiGeKo) gehen wir somit davon aus, dass sich im kompetenten Geschichte-Unterrichten Bestände des Geschichtswissens mit denen des geschichtsdidaktischen Wissens verknüpfen und in der jeweiligen Unterrichtssituation zu geschichtsdidaktisch-reflektierten Handlungen führt. »In diesem Sinne kann Kompetenz verstanden werden als die Verbindung von Wissen und Können in der Bewältigung von Handlungsanforderungen.«52
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Zur empirischen Erfassung des relevanten Gewichtswissens (GW) und geschichtsdidaktischen Wissens (GdW) – Vignetten- und Fachwissenstest
Als Erfahrungswissenschaft unterliegen die theoretischen Überlegungen auch der Geschichtsdidaktik der empirischen Überprüfung. In geschichtsdidaktischer Perspektive, die eben dieses Wissen generiert, das man benötigt, um etwas zu können, nämlich Geschichte zu unterrichten und diesen Geschichtsunterricht zu beurteilen, stellt sich so die Frage danach, in wie weit das bei der Geschichtslehrperson vorhandene Fachwissen (GW und GdW) dazu befähigt, authentische Situationen des Geschichtsunterrichts domänenspezifisch zu beschreiben, zu beurteilen und Handlungsmöglichkeiten zu entwerfen? Oder, um es aus der Perspektive der geschichtsdidaktisch-empirischen Forschung problemorientierter zu sagen: Kann das Wissen über das wir als Forscherinnen und Forscher verfügen, das Können der handelnden Person angemessen beschreiben?53 Kann die Logik des Handelns von Geschichtslehrpersonen angemessen von außen konstruiert werden? Um diese Fragen beantworten zu können, wurden im Kontext des interdisziplinären Forschungskollegs EKoL für das Geschichte-Unterrichten ein situierter Vignettentest zu einzelnen Konstruktfacetten (»Aufgaben formulieren können« und »Diagnostizieren können«) entwickelt.54 Dieser Vignettentest wurde im Rahmen einer längsschnittlichen Untersuchung von Lehramtsanwärterinnen und -anwärter des Landes Baden-Württemberg55 erstmalig zu Beginn des Jahres 2017 eingesetzt, der zweite Messzeitpunkt folgte zum Anfang des Jahres 2018. Neben dem Vignettentest wurde ein umfangreicher Fachwissens52 53 54 55
Klieme/Hartig 2008, S. 19. Neuweg 2015 (Anm. 23), S. 215. Vgl. Resch/Seidenfuß/Vollmer 2017 (Anm. 14). Die Erhebungen fanden an den Seminarstandorten Freiburg, Karlsruhe, Schwäbisch-Gmünd, Ludwigsburg, Reutlingen und Mannheim statt. Zum ersten Messzeitpunkt nahmen insgesamt 145 Anwärter*innen teil (davon 14 fachfremd). Zum zweiten Messzeitpunkt konnten 122 Anwärter*innen (davon 7 fachfremd) befragt werden. Für die Längsschnittanalysen liegen vollständige Datensätze von 94 Proband*innen für beide Messzeitpunkte vor.
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test, Selbsteinschätzungsskalen zu subjektiven Theorien und Einstellungen eingesetzt. Im Vignettentest wurden den Probandinnen und Probanden authentische Unterrichtssituationen, die an einer bestimmten Stelle des Unterrichts abbrechen und/oder Schülerprodukte präsentiert, die zur Weiterführung und zur Reflexion anregen sollen. Dafür bietet eine Unterrichtsvignette bereits durch eine aussagekräftige Überschrift (z. B. »Fortschritt oder Untergang?« – Die Industrialisierung) eine erste Orientierung für die inhaltliche Bearbeitung. Darauf folgt die Darstellung der authentischen Unterrichtssituation mitsamt relevanter Kontextinformationen (Klassenstufe, Lernstand, Lernziele) im sogenannten Vignettenstamm, an den sich die zu bearbeitende Fragestellung sowie die zugehörigen geschlossenen Items anschließen.56 Der entwickelte und eingesetzte Paper-Pencil-Fachwissenstest bezog sich auf die beiden Wissensbereiche des Geschichtswissens und des Geschichtsdidaktischen Wissens und umfasste die Wissensfacetten »nature of history«, »geschichtstheoretisches Wissen«, »Grammatik des Historischen«, »vertieftes Schulbuchwissen«, »nature of historical learning« sowie »geschichtskulturelles Wissen«.57 Ergänzend hierzu wurde zusätzlich das historische Wissen zu den einzelnen in den Vignetten thematisierten Inhalten (Industrialisierung, Altsteinzeit, Antisemitismus, Holocaust, mittelalterliche Stadt) erhoben (curriculares Wissen). Die Auswahl der abgefragten Wissensfacetten bezog sich dabei auf die angenommene Relevanz für die Beurteilung der authentischen Unterrichtssituationen und für die intendierte Reflexion von Handlungsentscheidungen in den Unterrichtsvignetten. So liegt es unseren Annahmen nahe, nach dem »vertieften Schulbuchwissen«, nach der individuell verfügbaren »Grammatik des Historischen« und nach der Kenntnis geschichtsdidaktisch-theoretischen Wissensbeständen zu fragen, wenn man möchte, dass ein Schülerprodukt als Sachurteil domänenspezifisch beurteilt wird.58 Verfügt die Geschichtslehrperson selbst nur über ein rudimentäres curriculares Wissen zur Industrialisierung, kennt die Merkmale eines plausiblen Sachurteils nicht und operiert nur bedingt mit zentralen Kategorien historischer Erkenntnis wie z. B. Fortschritt oder Entwicklung, dann wird es dieser Person schwer fallen, im Moment des Diagnostizierens anhand eines vorliegenden Schülertextes fachspezifisch kompetent zu handeln.
56 Vgl. Seidenfuß/Heuer/Resch 2018, S. 393–405. 57 Zu den einzelnen Wissensfacetten vgl. Heuer/Resch/Seidenfuß 2017 (Anm. 14), S. 163–169. 58 Vgl. Krauss u. a. 2017, S. 38f.
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Wissen ist nicht Können – Perspektiven auf das Theorie-Praxis-Problem
Die Klage von der Unvereinbarkeit von akademischem Fachwissen und praktischem Lehrhandeln im Unterricht ist bekannt, auch dass sich Studierende schwer damit tun, Bezüge zwischen ihrer wissenschaftlichen Ausbildung und den späteren beruflichen Anforderungen herzustellen.59 Auffassungen, nach denen die fachwissenschaftliche Ausbildung ein breites Überblickswissen und lehrplanrelevante Themen vermitteln sollte und insbesondere die geschichtsdidaktischen Seminare dazu dienen sollen, relevantes Handlungswissen für die Unterrichtspraxis zu generieren, finden sich auf allen verschiedenen Ebenen der Ausbildung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern.60 Auch wenn sich die Geschichtsdidaktik als Wissenschaft seit ihrer Konstituierung darum bemüht, nicht als Anwendungswissenschaft gesehen zu werden, bleibt doch anscheinend in den Köpfen, dass Geschichtsdidaktik irgendwie Rezepte liefern oder »Hilfestellung«61 geben sollte, damit den vielfältigen Problemen der Unterrichtspraxis wohl gerüstet entgegengetreten werden könnte:62 Geschichtsdidaktik als »Theorie der Effektivierung«63. Das hinter dieser Vorstellung stehende »Transmissionskonzept«64 findet sich auch grundgelegt in den Ausbildungsstrukturen der Lehrerbildung. In der ersten Phase, die ja gemeinhin als die Phase der Vermittlung des akademischen Wissens gilt, soll das relevante theoretische Wissen vermittelt werden, das man dann in der zweiten Phase als Grundlage für die Generierung professioneller Unterrichtskompetenzen braucht.65 Die Frage nach Wissen und Können von Geschichtslehrpersonen führt so gesehen schnell zu der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis in der Ausbildung von Geschichtslehrpersonen und nach den Möglichkeiten der Vermittlung und des Transfers von akademischem Fachwissen und unterrichtspraktischem Können. Wie muss das Fachwissen beschaffen sein, welche Facetten sollte es abdecken und wie kann es den Lehramtsstudierenden so vermittelt werden,66 dass sie beim Schritt in die Praxis nicht das Gefühl haben, dieses Wissen biete ihnen keinerlei Sicherheit im alltäglichen Geschichtsunterricht?67
59 60 61 62 63 64 65 66 67
Vgl. z. B. Baumgärtner 2014, S. 647. Ebd., S. 649. Heinßen 2012, S. 193. Vgl. Litten (Anm. 14), S. 447. Mayer/Pandel (Anm. 44), S. 153. Winkler 2015, S. 202. Vgl. KMK 2017. Vgl. Fenn/Seider (Anm. 14), S. 202. »Es ist statistisch einleuchtend, dass Schwierigkeiten aufgrund fehlender Wissensstrukturen als solche wahrgenommen werden.« Kanert/Seidenfuß (Anm. 59), S. 732. Auch die Ergeb-
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Die bisherigen und vorläufigen empirischen Ergebnisse unserer Forschungen zeigen, dass es den angehenden Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern weitgehend nicht gelingt, das vermittelte und aufgebaute Wissen in kompetentes Handeln zu überführen. So erleben sich zwar die Probandinnen und Probanden zum zweiten Messzeitpunkt in ihren Selbsteinschätzungen kompetenter in Bezug auf die Formulierung und Beurteilung von fachspezifischen Aufgabenformaten (Tabelle 1), in den Ergebnissen spiegelt sich diese Selbsteinschätzung jedoch nicht wieder. Hier findet im Laufe des Referendariats keine Kompetenzentwicklung beim Erkennen von geeigneten Aufgabenformaten statt (t-Test bei verbundenen Stichproben: M1 = 26.41 (SD = 6.28), M2 = 25.88 (SD = 6.33), t (92) = 0.85, p = 0.40), vielmehr stagniert diese und es kommt lediglich zu einer Zunahme im Bereich des Fachwissens(t-Test bei verbundenen Stichproben: M1 = 75.75 (SD = 15.54), M2 = 79.37 (SD = 7.97), t (90) = -2.26, p = 0.026) (Tab. 1). Item M SD Min Max Aufgrund meines Referendariats kann ich Aufgabenformate auf 3.24 0.75 1 4 unterschiedlichen Niveaustufen formulieren. Aufgrund meines Referendariats kann ich Aufgaben einsetzen, 2.90 0.79 die die Schüler*innen zur Formulierung eigener Narrationen anleiten.
1
4
Aufgrund meines Referendariats kann ich Operatoren für Aufgaben auswählen, die den Lernenden die Reflexion ihrer eigenen Sinnbildungen ermöglichen.
1
4
3.10 0.76
Tab. 1: Selbsteinschätzung »Aufgaben formulieren können« (MZP-2; N = 119; vierstufige Skala von 1 = »kann ich überhaupt nicht« bis 4 = »kann ich sehr gut«)
Übersetzt man die vorläufigen Ergebnisse auf den Zusammenhang von Theorie und Praxis in der Geschichtslehrerbildung, dann bestätigt sich die Vermutung, dass der Berufseinstieg während der zweiten Phase weitgehend als berufsbiographischer Bruch gesehen wird, der sich nicht durch das erworbene und nach den Selbsteinschätzungen eben gerade nicht »anschlussfähige fachwissenschaftliche und fachdidaktische Wissen«68 kitten lässt. Die bereits angesprochenen Klagen, die Wünsche nach »Hilfestellungen« und die geäußerten Hoffnungen nach »Unterstützung durch die Didaktik«69 und der dahinter stehende Wunsch nach Einheit sind ein deutlicher Beleg dafür, dass der wahrgenommene Bruch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissen und Können, für die nisse von Lüke/Seider/Fenn 2018, S. 93 (Anm. 14) zum Professionswissen sollen dazu dienen, Hochschulbildung und damit Unterrichtsqualität zu verbessern. 68 KMK (Anm. 65), S. 32. 69 Litten (Anm. 14), S. 414.
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Beteiligten ein Problem darstellt, das zu Irritationen und Schwierigkeiten führt und das bislang nicht gelöst wurde. Vielleicht lassen sich die empirischen Befunde aber auch wieder zurückbinden an theoretische Überlegungen, die zwar das Problem nicht lösen können, es aber zumindest anders betrachten helfen? Denn Können lässt sich grundsätzlich nicht durch Wissensvermittlung erreichen. Zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissen und Können, zwischen Reflexion und Handlung besteht eine grundlegende Differenz, die sich auch durch noch so fein-zisellierte Didaktisierungen nicht beheben lässt, gerade weil Theorie und Praxis, Wissen und Können, »gleichsam in verschiedenen Welten«70 liegen. Vor diesem Hintergrund könnte man dann aber zurecht bezogen auf die Ausbildung von Geschichtslehrpersonen fragen, wozu es denn dann überhaupt akademisch vermitteltes Geschichtswissen und geschichtsdidaktisches Wissen braucht, wenn das Können des Geschichte-Unterrichtens nicht über dieses wissenschaftliche Wissen, sondern über die Praxis des Geschichte-Unterrichtens selbst gesteuert wird?71 Wir haben versucht die professionelle Kompetenz der Geschichtslehrperson, das kompetente Geschichte-Unterrichten, als Prozess zu beschreiben, bei dem die Wissensbereiche des Geschichtswissens, des geschichtsdidaktischen Wissens, die Motivation und die Unterrichtswahrnehmung die zentralen handlungsleitenden Variablen sind. Aus professionstheoretischer und domänenspezifischer Sicht spielt dabei insbesondere das geschichtsdidaktische Wissen eine zentrale Rolle, um auftretende Probleme als solche überhaupt wahrzunehmen, einzuordnen und beurteilen zu können. Unser theoriebasiertes Modell kann so als ein Versuch verstanden werden, relevante Elemente des Geschichte-Unterrichtens zu verdeutlichen, hat aber nicht den Anspruch, die Praxis des Geschichtsunterrichts abzubilden. Übertragen auf das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Ausbildung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern bedeutet dies, dass das akademisch vermittelte Wissenschaftswissen der Geschichtsdidaktik dabei nicht zum Können in der konkreten Unterrichtssituation führen kann. Stattdessen stellt »die eigenständige Art des Denkens über Geschichte«72 in diesem Sinne die Reflexionsgrundlage dar, auf der didaktische Entscheidungen getroffen werden. Geschichtsdidaktisches Wissen ist so wohl eher geschichtsdidaktische Reflexion73 als geschichtsdidaktisches Handeln. Wissenschaftliches Wissen filtert so verstanden die Wahrnehmung von Schwierigkeiten und Problemen im Vollzug des Geschichte-Unterrichtens und ermöglicht es der Geschichtslehrperson als Professionelle, ihr Handeln im 70 71 72 73
Herzog 2018, S. 814. Vgl. Dewe/Radtke 1991, S. 155. Rüsen1991, S. 15. Neuweg 2011, S. 36.
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Nachhinein fachspezifisch zu begründen und zu reflektieren. Geschichtsdidaktik als zentrale Berufswissenschaft stellt somit einen Möglichkeitsraum zur Verfügung, in dem man sich als Geschichtslehrperson sicher fühlen kann, wenn man ihn denn kennt. Damit ist das akademisch vermittelte geschichtsdidaktische Wissen eine notwendige Bedingung professioneller Handlungskompetenz von Geschichtslehrpersonen, generiert aber eben kein »Regelwerk für die Praxis«74, sondern ist die theoretische Grundlage für die Reflexion von Geschichtsunterricht.
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Christian Heuer / Mario Resch
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Inga Kahlcke (Georg-August-Universität Göttingen)
Berufsbezogene Überzeugungen in der schriftlichen Leistungsbeurteilung durch Geschichtslehrkräfte – ein Fallbeispiel
Neben der Planung und Durchführung von Geschichtsunterricht zählen auch die Diagnose und Beurteilung von Leistungen zu den zentralen Aufgaben von Geschichtslehrkräften. In der pädagogisch-psychologischen sowie der allgemeindidaktischen Forschung ist die Leistungsbeurteilung in letzter Zeit umso stärker in den Vordergrund gerückt, als empirische Ergebnisse zeigen, dass die diagnostische Kompetenz von Lehrkräften sich positiv auf die Unterrichtsqualität und die Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler auswirken kann.1 Entsprechende Ergebnisse aus der Geschichtsdidaktik sind bisher jedoch rar ; neben wenigen pragmatischen Veröffentlichungen zur Leistungsbeurteilung2 liegen hauptsächlich Untersuchungen dazu vor, wie die Leistungen von Schülerinnen und Schülern im Forschungskontext erhoben werden können.3 Dagegen ist kaum bekannt, wie Lehrkräfte vorgehen, wenn sie Leistungen von Schülerinnen und Schülern im Fach Geschichte beurteilen, welche Arten von Aufgaben sie dafür verwenden und welche Kriterien sie anlegen. Zur Untersuchung dieser Fragestellungen bieten sich qualitative Untersuchungsmethoden an, die es erlauben, individuelle Praktiken in ihrer Komplexität zu beleuchten. Zudem ermöglicht es ein qualitativer Ansatz, diese Praktiken in ihrer Eigenlogik zu verstehen und ihre Bezüge zu anderen Aspekten der professionellen Kompetenz von Lehrkräften zu untersuchen. Die hier vorgestellte Studie strebt daher nicht nur eine Beschreibung von Leistungsbeurteilungspraktiken an, sondern untersucht zusätzlich, wie diese mit den individuellen Überzeugungen von Geschichtslehrkräften zusammenhängen.
1 Vgl. Anders 2010, S. 175–193; Karing/Pfost/Artelt 2011, S. 119–147; Bürgermeister 2014, S. 178–185; Karing et al. fanden indirekte, Bürgermeister sowie Anders et al. auch direkte Effekte diagnostischer Fähigkeiten von Lehrkräften auf Merkmale von Lernenden und Unterricht. 2 Adamski 2014; Kühberger 2014; für Konzepte aus dem englischsprachigen Raum s. etwa VanSledright 2014; Lazer 2015, S. 145–158. 3 Siehe etwa Trautwein et al. 2017.
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Inga Kahlcke
Fragestellung
Das Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Frage, welche Kriterien Geschichtslehrkräfte bei der Beurteilung der Leistungen von Lernenden heranziehen und wie dies mit ihren berufsbezogenen Überzeugungen zum Fach Geschichte zusammenhängt. Dabei erfolgt eine Konzentration auf schriftliche Leistungen in Form von Klassenarbeiten: Zwar gilt Geschichte allgemein als mündliches Fach4, doch machen schriftliche Klassenarbeiten zumeist die größte Einzelleistung aus.5 Zudem haben schriftliche Leistungen den pragmatischen Vorteil, dass sie dauerhaft vorliegen und so von der Lehrkraft ausführlich und gegebenenfalls wiederholt zur Kenntnis genommen werden können, was die Datenerhebung erleichtert. Die Untersuchung stützt sich auf die Begriffe »schriftliche Leistungsbeurteilung«, »Kriterien« und »berufsbezogene Überzeugungen«, die hier kurz erläutert werden sollen. Der Begriff »schriftliche Leistungsbeurteilung« wird in der Studie für den gesamten Prozess der Konzeption, Beschreibung, Bewertung und Benotung von Klassenarbeiten verwendet. Die zusammenfassende Bezeichnung der Tätigkeit als »Leistungsbeurteilung« wird von den empirischen Ergebnissen insofern gestützt, als die befragten Lehrkräfte die Schritte der Leistungsbeschreibung, -bewertung und -benotung entgegen normativen Modellen6 meist nicht getrennt voneinander durchführen, sondern diese miteinander verschränken. Die Studie geht ferner davon aus, dass Lehrkräfte bei der Leistungsbeurteilung Kriterien für die Beurteilung anlegen. Dabei wird der Begriff »Kriterium« nicht in einem normativen Sinne ausschließlich als vorher festgelegter, schriftlich fixierter und für die Schülerinnen und Schüler transparenter Bewertungsmaßstab verstanden. Vielmehr wird mit dem Begriff jeglicher Aspekt einer schriftlichen Leistungen von Schülerinnen und Schülern bezeichnet, den Lehrkräfte bei der Beurteilung heranziehen – dies schließt auch solche Aspekte ein, die Lehrkräfte möglicherweise nur unbewusst und implizit berücksichtigen.7
4 Dies zeigt sich in der vorliegenden Studie darin, dass die Lehrkräfte in der Mehrheit die mündliche Mitarbeit als wichtigstes Kriterium für die Notengebung im Fach Geschichte angaben. In einem Fall wurden Klassenarbeiten jedoch als ebenso wichtig und in zwei Fällen sogar als wichtiger als die mündliche Mitarbeit eingeschätzt. 5 Die Lehrkräfte in der vorliegenden Studie gaben an, dass die Klassenarbeiten 30–40 % der Endnote in Geschichte ausmachen. 6 Vgl. Kühberger 2014 (Anm. 2), S. 11; Paradies/Wester/Greving 2009, S. 31. 7 Dies entspricht den Ergebnissen von Wyatt-Smith und Klenowski zur Leistungsbeurteilung von Englisch- und Mathematiklehrkräften. Sie verweisen darauf, dass die Lehrpersonen neben expliziten auch »latente« und »Metakriterien« anwenden. Wyatt-Smith/Klenowski 2013, S. 35–52.
Berufsbezogene Überzeugungen in der schriftlichen Leistungsbeurteilung
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Der Terminus »berufsbezogene Überzeugungen« hat sich in der deutschsprachigen Forschung als Übersetzung des englischen Begriffs »beliefs« durchgesetzt. In der vorliegenden Studie werden darunter mit Kurt Reusser und Christine Pauli »affektiv aufgeladene, eine Bewertungskomponente beinhaltende Vorstellungen über das Wesen und die Natur von Lehr-Lernprozessen, Lerninhalten […]« verstanden, die »für wahr und wertvoll gehalten werden und [dem] berufsbezogenen Denken und Handeln [von Lehrkräften] Struktur, Halt, Sicherheit und Orientierung geben«.8 Dabei stehen hier solche Überzeugungen im Fokus, die sich auf das Fach Geschichte sowie den Unterricht in diesem Fach beziehen.9 Diese können noch weiter spezifiziert werden als einerseits epistemologische Überzeugungen zur Domäne Geschichte, also Überzeugungen über die »Herkunft, Gewissheit, Struktur und Rechtfertigung«10 historischen Wissens, und andererseits als Überzeugungen zu Zielen des Geschichtsunterrichts. Damit weist das Verständnis von fachspezifischen Überzeugungen in der vorliegenden Studie deutliche Überschneidungen mit dem von Rainer Bromme geprägten Begriff »Philosophie des Schulfaches« auf.11 Insbesondere wird hier die Annahme Brommes aufgegriffen, dass die »Philosophie des Schulfaches […] auch impliziter Unterrichtsinhalt«12 sei. Diese Annahme wird insofern erweitert, als vermutet wird, dass Lehrkräfte ihre fachspezifischen Überzeugungen nicht nur durch den Unterricht, sondern auch durch die Beurteilung von Leistungen implizit an die Lernenden vermitteln.
8 Reusser/Pauli 2014, S. 642f. 9 Daneben führen Reusser und Pauli auch »Personenbezogene Überzeugungen zu Lehrkräften und Schülern« sowie »Kontextbezogene Überzeugungen zu Schule und Gesellschaft« an. Beide sind sicherlich auch für die Leistungsbeurteilung relevant, werden hier jedoch aufgrund des fachspezifischen Fokus der Untersuchung nicht detailliert untersucht. Ebd., S. 650. 10 Wegner/Nückles 2018. 11 Bromme 1992, S. 97. Bromme entwickelt in Anlehnung an Lee Shulman eine »Topologie professionellen Lehrerwissens«, zu dem neben der »Philosophie des Schulfaches« fachliches Wissen, curriculares Wissen, pädagogisches Wissen und fachspezifisch-pädagogisches Wissen zählen. Im Gegensatz zu den anderen Aspekten des Lehrerwissens enthält die »Philosophie des Schulfaches« nach Bromme auch bewertende Elemente, was eine Bedeutungsähnlichkeit zum Begriff der Überzeugungen nahelegt. Bromme erläutert den Begriff »Philosophie des Schulfaches« als »Auffassungen darüber, wofür der Fachinhalt nützlich ist und in welcher Beziehung [er] zu anderen Bereichen menschlichen Lebens und Wissens steht«. Ebd. 12 Ebd.
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Inga Kahlcke
Forschungsstand und Kontextualisierung
Für die Studie sind empirische Ergebnisse zur Leistungsbeurteilung sowie zu den Überzeugungen von Geschichtslehrkräften relevant. Wie oben bereits erwähnt, ist die Leistungsbeurteilung von Geschichtslehrkräften bisher jedoch kaum Gegenstand der empirischen Forschung geworden. Verschiedene Studien beschäftigen sich mit Aufgabenstellung in schriftlichen Prüfungen,13 können jedoch keine Aussagen zu den von Geschichtslehrkräften tatsächlich angewandten Kriterien treffen. Auf letztere gibt es in der Forschung eher indirekte Hinweise: Bernd Schönemann, Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting berichten in ihrer Studie zu Abiturklausuren, dass »Klausurleistung und tatsächlich vergebene Noten in manchen Fällen schwächer korrelieren als erwünscht«,14 was auf eine Diskrepanz zwischen geschichtsdidaktisch erwünschten und tatsächlich angewandten Beurteilungskriterien hindeutet. Es erscheint aufgrund der dünnen Forschungslage naheliegend, einen Blick auf die weitaus umfangreichere pädagogische und psychologische Literatur zur Leistungsbeurteilung zu werfen. Normative Studien zur sogenannten »Diagnosegenauigkeit« untersuchen, inwiefern die Leistungsbeurteilung von Lehrkräften den Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität entsprechen. Insgesamt kommen aktuelle Studien zu dem Ergebnis, dass Lehrkräfte in zufriedenstellendem Maße in der Lage sind, Leistungen von Lernenden in eine zutreffende Rangreihe zu bringen;15 jedoch scheinen sie insgesamt dazu zu neigen, das Leistungsniveau ihrer Schülerinnen und Schüler zu überschätzen.16 Derartige Untersuchungen geben jedoch keinen Aufschluss darüber, wie Lehrkräfte zu diesen Urteilen gelangen. Relevanter für das vorliegende Projekt sind daher deskriptive Studien, die den Prozess der Leistungsbeurteilung und die dabei ablaufenden kognitiven Vorgänge in den Blick nehmen. Die vorhandenen Ergebnisse sind bisher allerdings eher disparat. Verschiedene Studien fanden, dass Experten- und Novizenlehrkräfte jeweils unterschiedliche Strategien anwenden, wenn sie zur Formulierung diagnostischer Urteile aufgefordert werden.17 Weitere Untersuchungen verweisen auf die Komplexität der angewandten Praktiken18 und diskutieren den Einfluss verschiedener kognitiver und nicht-kognitiver Merkmale von Lehr-
Alavi 2008, S. 231–245; Fuchs/Ritzer 2009, S. 268–276; Schröer 2015, S. 242–244. Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2010, S. 98. Vgl. Südkamp/Kaiser/Möller 2012, S. 743–762. Vgl. etwa Südkamp/Möller/Pohlmann 2008, S. 261–276; Rjosk et al. 2011, S. 92–105. Vgl. Ophuysen 2006, S. 154–161; Krolak-Schwerdt/Böhmer/Gräsel 2012, S. 111–122; Böhmer et al. 2017, S. 131–147. 18 Cooksey/Freebody/Wyatt-Smith 2007, S. 401–434; Wyatt-Smith/Klenowski 2013 (Anm. 7).
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Berufsbezogene Überzeugungen in der schriftlichen Leistungsbeurteilung
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kräften auf die Leistungsbeurteilung.19 Mitunter wird zudem auf die Relevanz des jeweils unterrichteten Fachs und der fachbezogenen Überzeugungen der Lehrkräfte verwiesen.20 Berufsbezogene Überzeugungen von Geschichtslehrkräften21 werden in der englischsprachigen Forschung schon seit längerer Zeit und seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum thematisiert. Bezüglich epistemologischer Überzeugungen wird dabei häufig zwischen »positivistischen«, »skeptizistischen« und »konstruktivistischen« Überzeugungen unterschieden.22 Die Ergebnisse zu Zielen von Geschichtslehrkräften fallen disparater aus; zu den in der Forschung genannten Zielen zählen Wissensvermittlung,23 Gegenwartserklärung,24 fachspezifische Methodenschulung25 sowie Werteerziehung bzw. politische Bildung.26 Häufig wird darauf verwiesen, dass berufsbezogene Überzeugungen über die gesamte Lebensspanne hinweg erworben werden und daher nur schwer durch Interventionen veränderbar sind,27 dass sie handlungsleitend sein können,28 aber nicht unbedingt widerspruchsfrei sein müssen.29
3
Methodischer Ansatz
Das Untersuchungsdesign soll dem Anspruch der Studie gerecht werden, die Leistungsbeurteilungspraktiken von Geschichtslehrkräften und ihre komplexen Zusammenhänge mit berufsbezogenen Überzeugungen möglichst ökologisch 19 Wyatt-Smith/Castleton 2005, S. 131–154; Elliott 2013, S. 266–280; Herman et al. 2015, S. 344– 367. 20 Wyatt-Smith und Klenowski weisen in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von »epistemological choices« der Lehrkräfte hin, d. h. Überzeugungen der Lehrkräfte darüber, welche Konstrukte des Fachs überprüft und beurteilt werden sollten. Vgl. Wyatt-Smith/ Klenowski 2013 (Anm. 7). 21 Neben den hier genannten epistemologischen und Zielüberzeugungen werden in letzter Zeit auch lerntheoretische Überzeugungen von Geschichtslehrkräften verstärkt in den Blick genommen, die mit epistemologischen Überzeugungen zu korrelieren scheinen. Vgl. etwa Fenn 2015, S. 524–528; Nitsche 2017, S. 85–106. In der vorliegenden Studie stehen lerntheoretische Überzeugungen jedoch nicht im Fokus. 22 Maggioni/VanSledright/Alexander 2009, S. 187–213; Nitsche 2017 (Anm. 21), S. 95. Maggioni et al. konnten allerdings statt der ursprünglich vermuteten drei nur zwei Faktoren nachweisen. 23 Von Borries 1995, S. 327; Messner/Buff: 2007, S. 155f.; Fenn 2015 (Anm. 21), S. 528f. 24 Evans 1989, S. 224–229; Messner/Buff 2007 (Anm. 23), S. 155f. 25 Evans 1989 (Anm. 24), S. 217–224; Messner/Buff 2007 (Anm. 23); Fenn 2015 (Anm. 21), S. 530f. 26 Litten 2017, S. 360. 27 Vgl. Reusser/Pauli 2014 (Anm. 8), S. 645f.; Kunter/Pohlmann 22015, S. 272. 28 Reusser/Pauli 2014 (Anm. 8), S. 652f. 29 Ebd., S. 478.
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valide zu erheben. Dafür bietet sich das Verfahren des Lauten Denkens30 an, das in der Vergangenheit bereits sowohl in Studien zur Leistungsbeurteilung31 als auch in geschichtsdidaktischen Studien32 zum Einsatz gekommen ist. Geschichtslehrkräfte von zehnten Klassen wurden gebeten, zwei Exemplare einer von ihnen selbst durchgeführten Klassenarbeit zu korrigieren und dabei alles auszusprechen, was ihnen durch den Kopf ging. Zusätzlich wurden die Aufgaben, die Lösungen von Schülerinnen und Schülern, die Erwartungshorizonte sowie etwaige weitere Notizen der Lehrkräfte untersucht. Ergänzt wurden diese Daten durch ein leitfadengestütztes Interview mit den Lehrkräften, in dem ihre Leistungsbeurteilungspraktiken und ihre berufsbezogenen Überzeugungen thematisiert wurden. Die Erhebungen fanden in Niedersachsen an insgesamt 14 verschiedenen Gymnasien und Gesamtschulen statt. Entsprechend den Ergebnissen zum Einfluss der Berufserfahrung auf Leistungsbeurteilungspraktiken33 wurde bei der Konstruktion der Stichprobe auf den Experten-Novizen-Ansatz zurückgegriffen.34 Daher wurden Lehrkräfte mit mindestens 10 Jahren Erfahrung (n=6), Lehrkräfte mit bis zu 5 Jahren Erfahrung (n=5) sowie Referendarinnen und Referendare (n=5) befragt. Die erfahrenen Lehrkräfte zeichneten sich außerdem durch weitere Expertisemerkmale35 aus.36 Die Datenauswertung erfolgt hauptsächlich mithilfe von Kategoriensystemen, die in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz37 entwickelt werden. Dabei werden zum einen für verschiedene Aufgabentypen (zum Beispiel »Aufgabe zur Auseinandersetzung mit Quellen«, »Aufgabe zur Wiedergabe von Sachwissen«) Kategoriensysteme mit Ober- und Unterkategorien entwickelt, in denen die von den Lehrkräften angewandten Kriterien (zum Beispiel »Sachverhalt: Datum«) abgebildet werden. Zum anderen wird ein Kategoriensystem entwickelt, das die verschiedenen Modi, in denen die Lehrkräfte die Leistungen von Schülerinnen und Schülern kommentieren, abbildet (zum Beispiel »Bewertung: Korrektheit«). 30 31 32 33 34 35
Klaus 2010, S. 476–490. Herbert 1996, S. 106–124; Wyatt-Smith/Castleton 2005 (Anm. 19), Elliott 2013 (Anm. 19). Litten 2017 (Anm. 26). vgl. Anm. 17. Krauss/Bruckmaier 22014, S. 241–261. Die Kriterien für Expertise waren eine fachwissenschaftliche oder -didaktische Promotion, der Posten der Fachobperson für Geschichte oder eine Tätigkeit in der Ausbildung von Referendarinnen und Referendaren. 36 In der bisherigen Auswertung zeigt sich jedoch – gemessen an geschichsdidaktischen Normen – keine auffällige geschichtsdidaktische Expertise dieser Gruppe, sodass sie nicht in jedem Fall als Beispiele für »best practice« im Sinne der Geschichtsdidaktik herangezogen werden können. Die Berufserfahrung wird daher nun lediglich als weitere mögliche Hintergrundvariable neben etwa dem Geschlecht und dem Zweitfach der Lehrkraft betrachtet. 37 Kuckartz 42018.
Berufsbezogene Überzeugungen in der schriftlichen Leistungsbeurteilung
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Dieses Verfahren hat allerdings den Nachteil, dass dabei nur solche Aspekte erfasst werden, die von den Lehrkräften explizit artikuliert werden; Kriterien und Prämissen, die implizit bleiben, sind mit der inhaltsanalytischen Methode dagegen schwer zu erfassen. Zur Erhebung des impliziten Gehalts eignet sich dagegen die dokumentarische Methode. Diese verlangt allerdings nach einer bestimmten Datenqualität: So gelten hier insbesondere selbstläufig entstandene Erzählungen und Beschreibungen als wertvolle Datensorten.38 Das Vorgehen kann insofern mit der qualitativen Inhaltsanalyse verbunden werden, als in der dokumentarischen Methode zunächst die Erfassung der Themenstruktur in Ober- und Unterthemen erfolgt.39 Dies wird hier durch die Erfassung mittels der Ober- und Unterkategorien vorbereitet. Ist eine mit dem Kategoriensystem ausgewertete Passage inhaltlich relevant und weist sie zudem eine entsprechende Datenqualität auf, werden zusätzlich die Schritte der formulierenden und der reflektierenden Interpretation nach dokumentarischer Methode durchgeführt. Dieses kombinierte Verfahren zeichnet sich dadurch aus, dass die explizit angewandten Kriterien der Lehrkräfte sehr systematisch und detailliert erfasst werden, dass aber implizite Überzeugungen ebenfalls methodisch kontrolliert berücksichtigt werden können. Das sehr aufwendige Auswertungsverfahren der dokumentarischen Methode wird allerdings nur selektiv herangezogen, falls die zusätzliche Auswertung impliziten Wissens relevante Erkenntnisse verspricht; der Schwerpunkt liegt auf der Auswertung des expliziten Wissens der Lehrkräfte mittels Kategoriensystem.40
4
Erste Ergebnisse: ein Fallbeispiel
Das Vorgehen sowie erste Ergebnisse sollen hier an einem Fallbeispiel vorgestellt werden. Die folgenden Ausschnitte stammen aus dem Laut-Denk-Protokoll und dem Interviewtranskript einer weiblichen Lehrkraft eines städtischen Gymnasiums, die mit mehr als zehn Jahren Berufspraxis zur Gruppe der erfahrenen Lehrpersonen gehört. Das Beispiel wurde ausgewählt, weil darin Strukturen, die für das Sample insgesamt typisch sind, besonders deutlich zum Ausdruck kommen. 38 Nohl 52017, S. 32–35. 39 Ebd., S. 31. 40 Damit steht das explizite (kommunikative) Wissen der Lehrkräfte hier stärker im Fokus, als es bei der Anwendung der dokumentarischen Methode normalerweise der Fall ist. Dies erscheint sinnvoll, da die geschichtsdidaktische Fragestellung der Studie zunächst auf explizites Wissen bezogen ist und es sich beim geschichtsdidaktischen Handeln studierter Geschichtslehrkräfte um ein Feld handelt, in dem von einer vergleichsweise wichtigen Rolle theoretischen Wissens ausgegangen werden kann.
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Die von der Lehrkraft gestellte Klassenarbeit behandelt die Anfangszeit des Nationalsozialismus und besteht aus einem Textausschnitt mit drei Aufgaben. Bei dem als »Quelle«41 bezeichneten Textausschnitt handelt es sich um einen Zeitzeugenbericht einer damaligen Schülerin, die im Jahr 2006 von Ereignissen im Zeitraum 1932/33 berichtet. Neben weiteren, hier nicht näher betrachteten Aufgaben stellte die Lehrkraft dazu folgenden Arbeitsauftrag: »Erläutere – ausgehend von der Quelle M1 – die zentralen politischen Ereignisse zu Beginn des Jahres 1933.« Hier steht also die Wiedergabe von Sachwissen mit der dimensionalen Einschränkung auf politische Ereignisse im Zentrum. Der Zeitzeugenbericht dient dabei zwar als Ausgangspunkt, es sollen laut Erwartungshorizont jedoch auch Ereignisse genannt werden, die im Text nicht vorkommen oder nur vage angedeutet werden. Während des Lauten Denken zeigte sich die Lehrerin enttäuscht von der kommentierten Leistung der Schülerin. Daraufhin zog sie eine weitere Arbeit hervor, von der sie eine bessere Leistung erwartete. Die folgende Passage zu dieser zweiten Arbeit drückt besonders deutlich aus, wie sich die Lehrkraft eine ideale Bearbeitung der Aufgabe vorstellt: »Äh, die hat jede, die verplempert nichts mit irgendwas, die schreibt gleich äh, nachdem, stärkste Fraktion im Reichstag war, kandidierte der Kanzler, Reichskanzler, ne, […] wurde ernannt, von Hindenburg, Tag der Machtergreifung, erste Unruhen, als der Reichstag brannte äh wurden äh wurden Kommunisten verhaftet, Marinus von der Lubbe, äh, äh, Verordnung, also, Reichstagsbrandverordnung äh mmm Reichstagswahl ähm, Reichsveranstaltung, Tag von Potsdam, Ermächtigungsgesetz äh Gleichschaltung von äh Ländern. […] Gleich-, erfolgte die Gleichschaltung, die Ausschaltung der Gewerkschaften, bap, bap, bap, bap, das war alles, ratz, ratz, ratz, ratz //mhm// […] Sie schreibt das zack, zack, zack, zack runter. //(lacht)// Und äh ja. Aber sie, sie, das wird dann ihr, Zwei plus sein. //mhm mhm// Eins nicht, weil mir dann die Verweise fehlen. //ja// Oder das fehlt mir dann. Aber zack, zack, zack.« (Lehrkraft E2, Lautes Denken, Z. 732–748)
Die Lehrkraft beginnt ihren Kommentar mit einer Aufzählung verschiedener Aspekte, die in dem Text der Schülerin genannt wurden. Die meisten dieser Aspekte können in die Oberkategorie »Sachverhalt«42, zumeist mit der Unter41 Geschichtstheoretisch sind Zeitzeugenberichte insofern komplex, als die unmittelbare Erfahrung des Zeitzeugen eine Quelle, die nachträgliche Erzählung über diese Erfahrung jedoch eine Darstellung ist. Schreiber 2009, S. 22. Diese Ambivalenz spielt in der vorliegenden Klassenarbeit jedoch keine Rolle. Auch die Perspektive der Zeitzeugin, mögliche Erinnerungsverzerrungen oder Darstellungsabsichten werden nicht thematisiert. 42 Dieser Kategorienbildung liegt die Unterscheidung von Sachverhalt, Sach- und Werturteil nach Ernst Weymar zugrunde, die von Karl-Ernst Jeismann in die Unterscheidung von Sachanalyse, Sach- und Werturteil überführt wurde. Während »Sachverhalt« einen Typ von historischen Aussagen bzw. das Ergebnis eines Denkprozesses beschreibt, bezeichnet »Sachanalyse« den historischen Denkprozess selbst. Da in den Klassenarbeiten zumeist das
Berufsbezogene Überzeugungen in der schriftlichen Leistungsbeurteilung
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kategorie »Ereignis« (z. B. »Tag der Machtergreifung«), eingeordnet werden. Nur einmal findet sich auch eine Andeutung eines Sachurteils, in dem zwei Ereignisse zeitlich verknüpft werden (»als der Reichstag äh brannte äh wurden äh wurden Kommunisten verhaftet«); in den anderen Fällen findet keine explizite Verknüpfung in Form von Sach- oder Werturteilen statt. Die Aufzählung wirkt auf den ersten Blick wie eine bloße Inhaltsbeschreibung des Schülerinnentexts, zugleich stellt sie jedoch auch eine Bewertung der Vollständigkeit der genannten Ereignisse dar.43 Gegen Ende der Passage wird ein weiteres Kriterium erwähnt: Hier geht es darum, dass Schülerinnen und Schüler in ihren Text »Verweise« auf den Zeitzeugenbericht mittels Zeilenangaben einfügen, also angeben sollen, welche der aufgezählten Ereignisse an welcher Stelle im Zeitzeugenbericht erwähnt werden. Neben der Vollständigkeit der inhaltlichen Aspekte wird somit auch ein methodisches Kriterium zur Notenfindung herangezogen (Kategorie: »Methodik: Quellenbezug«). Auffällig ist, dass die Lehrkraft nicht kommentiert, wie die Schülerin die Ereignisse verknüpft oder ihre Auswahl begründet hat. Dies deutet darauf hin, dass sie sich hier vermutlich auf eine im Rahmen ihres Geschichtsunterrichts konventionalisierte Erzählung bezieht: Die Aufgabe für die Schülerinnen und Schülern besteht nicht darin, eine eigene Narration unter Offenlegung einer Fragestellung zu konstruieren, sondern darin, die aus dem Unterricht bekannte Erzählung mit möglichst vielen Details zu reproduzieren. Die Fragestellung und die Konstruktionslogik dieser Narration bleiben dabei implizit und werden weder von der Lehrkraft reflektiert, noch erwartet sie eine solche Reflexion von den Lernenden. Weiterhin zeigt sich, dass ein Umgang mit dem Zeitzeugenbericht hier zwar auf der Ebene der Textoberfläche eingefordert wird, für die inhaltliche Aufgabenbearbeitung aber nicht notwendig ist: Die Schülerin hat alle geforderten Ereignisse genannt, ohne dabei Rekurs auf den Zeitzeugenbericht nehmen zu müssen. Dieser tritt also nicht als notwendiger »Rohstoff« für die Rekonstruktion von Geschichte auf, sondern dient lediglich als Anlass, bereits aus dem Unterricht bekannte Inhalte zu reproduzieren. Es geht hier daher nicht um die
Ergebnis – die Kenntnis des Sachverhalts – und nicht der Prozess – die Rekonstruktion des Sachverhalts in Form einer Sachanalyse – bewertet wird, wird hier die Terminologie Weymars verwendet. Vgl. Weymar 1970, S. 202f.; Jeismann 1978, S. 58. 43 Dies ist insbesondere daran zu erkennen, dass die Lehrerin gegen Ende der Passage unmittelbar zur Benotung übergeht (»das wird dann ihr, Zwei plus sein«). Dies wäre nicht möglich, wenn vorher nicht implizit eine Bewertung stattgefunden hätte.
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fachspezifische Methodik der Rekonstruktion von Geschichte aus Quellen, sondern um die allgemeine Technik des Textverweises.44 Dass eine Reflexion der selbst erstellten Narration hier nicht gefordert ist, spiegelt sich auch in der Wortwahl der Lehrkraft wieder. Positiv hebt sie hervor, dass die Schülerin nichts »verplempert«, also keine Zeit mit als unnötig erachteten Überlegungen oder Themenausführungen verbringt. Ebenso wie die wiederholten lautmalerischen Sequenzen wie »bap, bap, bap, bap« unterstreicht dies ihren Anspruch, dass die Aufgabe schnell und konzentriert abgearbeitet – »gleich runter« geschrieben – werden soll. Insgesamt tritt in dieser Sequenz ein positivistisches Verständnis von Geschichte zutage. Diese erscheint als eine abgeschlossene, feststehende Abfolge vergangener Ereignisse, die auswendiggelernt und wiedergegeben werden kann. Die Fragestellungen und Konstruktionsmechanismen der implizit von der Lehrkraft vorgegebenen Narration erscheinen nicht reflexionsbedürftig und werden nicht offengelegt. Im Interview berichtete die Lehrkraft dagegen von einem Fall aus einer Oberstufenklausur, in dem ein anderes Verständnis deutlich wird: »Und das find ich eben auch wichtig, dass jemand – ich weiß, dass wir mal ne Veranstaltung hatten (2) das war n – kam zum Eklat bei dieser Veranstaltung, es ging nämlich genau um (.) der lange Schatten von 1933 und //ja//, es tat natür-, trat natürlich einer auf, der randaliert hat auf der Veranstaltung //ja// und dann schrieb die Schülerin so wunderbar in ihrem, passte auch zum Thema, also, so, Erinnerungskultur, sie hat ja gedacht, dass das, ich sag’s mal ganz äh salopp, dass dieses Thema nun abgefrühstückt ist //mhm// und jeder es weiß //ja//, aber diese Zeitzeugenveranstaltung die hätte sie, und dann schrieb sie auch dadrüber, und was sie erschüttert hat //mhm// und dann denk ich ja, //ja// sie hat’s ja genau erfasst, es ist genau das. //ja// Warum sollst du ihr jetzt nicht 15 Punkte geben?« (Lehrkraft E2, Interview, Z. 158–168)
Die Lehrerin berichtet hier von einer Schülerin, die in der Klausur ein persönliches, emotional geprägtes Erlebnis (»was sie erschüttert hat«) aufgriff. Zwar betont die Lehrkraft, dass die Ausführungen der Schülerin »zum Thema« »passte[n]«, dennoch wird deutlich, dass das Aufgreifen der »Zeitzeugenveranstaltung« in der Klausur nicht antizipiert oder erwartet worden war. Diesen eigenständigen Bezug zu einem geschichtskulturellen Ereignis, an dem die Schülerin teilgenommen hat, bewertet die Lehrkraft als besonders positiv und vergibt letztendlich die Bestnote (»15 Punkte«).
44 Darauf verweist auch die Tatsache, dass Textverweise lediglich als Unterschied von einer Zwei zu einer Eins, nicht jedoch als unabdingbar für eine angemessene Aufgabenbearbeitung dargestellt werden.
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Die Lehrerin wendet hier deutlich andere Kriterien an als im ersten Fall. Geht es im ersten Fall darum, sich möglichst genau an die Beschränkungen der Aufgabenstellung zu halten, gilt es im zweiten Fall als Qualitätsmerkmal, dass eigenständige und von der Lehrerin unerwartete Bezüge hergestellt werden. Wird im ersten Fall erwartet, dass Ereigniswissen reproduziert wird, geht es hier darum, eigene Erkenntnisse und Emotionen zu reflektieren. Damit wird im zweiten Fall ein anderes Geschichtsverständnis deutlich. Als positiv bewertet wird hier gerade die Erkenntnis, dass Geschichte nicht »abgefrühstückt« ist, dass die Deutung historischer Ereignisse also auch in der Gegenwart kontrovers ist – ganz im Gegensatz zum ersten Fall, in dem Geschichte als abgeschlossen und nicht reflexionsbedürftig erscheint. Im ersten Fall liegt den Erwartungen der Lehrkraft also ein positivistisches Geschichtsverständnis zugrunde, während sie im zweiten Fall gerade konstruktivistische Einsichten bei der Schülerin lobt. Wie kann man erklären, dass ein und dieselbe Lehrkraft in ihrer Leistungsbeurteilungspraxis so unterschiedliche Überzeugungen erkennen lässt? Neben den analysierten Abschnitten selbst werden zur Beantwortung dieser Frage auch Passagen aus dem Interview mit der Lehrkraft herangezogen. Es zeigt sich im Interview, dass die Lehrerin in ihren Anforderungen und Zielen zwischen Sekundarstufe I und Sekundarstufe II unterscheidet. Im Bezug auf ein konstruktivistisches Verständnis von Geschichte äußert sie sich folgendermaßen: »inner Oberstufe möcht ich schon, dass sie erkennen, dass Geschichte ein Konstrukt ist, oder Geschichtsschreibung ein Konstrukt ist //mhm// Das find ich aber sehr abstrakt, //ja// das würd ich nicht von ner achten, neunten oder zehnten erwarten.« (Lehrkraft E2, Interview, Z. 363–366)
Die Lehrerin gibt hier also explizit an, dass sie es in der Oberstufe, nicht jedoch in der Mittelstufe anstrebt, den Konstruktcharakter von Geschichte zu vermitteln. Dies kann erklären, wieso sie im ersten, in der Sekundarstufe I angesiedelten Fall die Abfrage eines eher geschlossenen Geschichtsbilds vorzieht. Ihre berichtete Leistungsbeurteilungspraxis kann also als Umsetzung ihrer hier explizit geäußerten Überzeugung verstanden werden, dass ein konstruktivistisches Geschichtsbild für jüngere Schülerinnen und Schüler zu »abstrakt« sei. Zugleich zeigt sich an dem oben präsentierten zweiten Fall aber, dass auch in der Oberstufe die Herstellung eigenständiger Bezüge zur Geschichtskultur aus Sicht der Lehrerin eher eine Ausnahme darstellt. Die Erzählung entstand als Reaktion auf eine Frage zu Beurteilungskriterien und dient der Lehrerin dazu, zu illustrieren, dass sie bei der Korrektur nicht immer streng nach dem Erwartungshorizont vorgehe, sondern den Lernenden gewisse Freiheiten ließe. Auch aus der Erzählung selbst geht hervor, dass eine Reflexion, wie die Schülerin sie vornahm, nicht erwartet worden war ; eher erscheint sie als »wunderbar[er]«
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Glücksfall. Historisches Denken erscheint somit als etwas, das von der Lehrkraft nicht eingefordert oder zuvor vermittelt, sondern lediglich entdeckt und honoriert werden kann, und stellt somit den »Sonderfall« bei der Leistungsbeurteilung dar. Schließlich ist zu konstatieren, dass die zwei oben präsentierten Fälle auch Gemeinsamkeiten aufweisen, insbesondere wenn man die Ziele der Lehrkraft für ihren Geschichtsunterricht in Betracht zieht. Hierzu äußerte die Lehrerin unter anderem: »Naja, sagen wir mal, so die essentials, was will ich mit meinem Geschichtsunterricht, ich denke, ach, das klingt natürlich jetzt vielleicht sehr obrigkeitshörig, ich finde schon unsere Staatsform gut. //ja// Möchte die erhalten. Möchte die weiterentwickeln. Möchte die Schüler schon ähm zum kritischen Umgang mit Geschichtsereignissen //mhm// anregen« (Lehrkraft E2, Interview, Z. 359–363)
Es geht ihr darum, dass Schülerinnen und Schüler durch den Unterricht eine positive Haltung zu »unsere[r] Staatsform« entwickeln, diese »erhalten« und »weiterentwickeln«. Ihr Ziel besteht also in der Vermittlung politischer Werte, die sogar mit Handlungsaufträgen verbunden sind. Unter dieser Perspektive können auch die beiden oben präsentierten Fälle betrachtet werden. Im ersten Fall geht es darum, dass die Schülerinnen und Schüler Wissen dazu reproduzieren, wie im Nationalsozialismus Rechtsstaat und Demokratie abgebaut wurden, auch wenn diese Fragestellung implizit bleibt. Im zweiten Fall formuliert die Schülerin selbst die Erkenntnis, dass es auch in der Gegenwart noch Menschen gibt, die »randalier[en]«, die gesellschaftlich akzeptierte Deutung des Nationalsozialismus also nicht teilen, und somit eine Gefahr für die Demokratie darstellen. Die Kontroversität von Geschichte erscheint in diesem Fall also eher als Ärgernis bzw. als Gefahr – als positiv wertet die Lehrerin vor allem, dass die Schülerin dies »genau erfasst« und darauf mit der gesellschaftlich anerkannten Emotion (»erschüttert«) reagiert habe. Sowohl die Reproduktion von Sachwissen als auch die eigenständige Reflexion von Geschichtskultur dienen hier letztlich dem von der Lehrerin gesetzten Ziel, politische Werte zu vermitteln. Insgesamt illustriert der Fall also erstens, dass Lehrkräfte durchaus heterogene geschichtstheoretische Überzeugungen vertreten und in ihre Leistungsbeurteilungspraxis einfließen lassen können. Zweitens zeigt sich, dass Lehrkräfte administrative Vorgaben zur Leistungsbeurteilung nicht einfach nur umsetzen, sondern diese im Lichte ihrer individuellen Zielüberzeugungen interpretieren45 und entsprechend in ihre Praxis umsetzen.46 45 Dies wird auch als »Filtereffekt« von Überzeugungen bezeichnet. Kunter/Pohlmann 2015 (Anm. 27), S. 268.
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Perspektiven
Das hier dargestellte Fallbeispiel illustriert verschiedene Phänomene, die für das Gesamtprojekt relevant sind und die bei der weiteren Auswertung daher besonders berücksichtigt werden. Die Annahme, die dem Projekt zugrunde liegt, lautet, dass berufsbezogene Überzeugungen und Leistungsbeurteilungspraktiken Zusammenhänge aufweisen. Dies bestätigt sich an diesem wie auch an weiteren Fällen des Samples. Zugleich zeigt sich aber, dass die Zusammenhänge vielschichtiger sind als zunächst angenommen. Die folgende Auswertung wird sich daher darauf konzentrieren, die verschiedenen Einzelfälle jeweils in ihrer Komplexität zu erfassen. Hier zeigt sich der besondere Vorteil des gewählten qualitativen Untersuchungsdesigns. Die Praxis der Lehrkraft, trotz entgegenstehender geschichsdidaktischer Normen fertige Narrationen abzufragen, anstatt Schülerinnen und Schüler eigene Deutungen verfassen zu lassen, ist kein Einzelfall, sondern zeigt sich bei fast allen Lehrkräften des Samples. Die weitere Auswertung wird sich vor allem auf die Gründe für diese Praxis konzentrieren, insbesondere weil die Lehrkräfte die Abfrage von Sachwissen explizit eher ablehnen. Zugleich stellen auch fast alle Lehrkräfte Aufgaben, in denen es – wie hier im zweiten Fall – um das Fällen von Urteilen geht. Damit einhergehend ist es also kein Einzelfall, dass Lehrkräfte zugleich positivistische und konstruktivistische geschichtstheoretische Überzeugungen vertreten. In Bezug auf das Fällen von Urteilen stellt der von der Lehrerin geschilderte Fall allerdings eine Ausnahme dar, weil es hier um die Reflexion eigener Erlebnisse und damit verknüpfter Emotionen geht. Die meisten Lehrkräfte fordern dagegen eher abstrakte, rein kognitive Urteile mit wenig direktem Bezug zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler ein. Es ist weiter zu untersuchen, was genau aus Sicht der Lehrkräfte ein gutes Urteil ausmacht und inwiefern es an geschichtsdidaktische Konzepte wie etwa Kompetenzmodelle anschlussfähig ist.
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46 Dies wird auch als »motivierender Effekt« von Überzeugungen bezeichnet. Ebd.
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III. Unterrichtsmedien
Benjamin Bauer (Universität Bamberg)
»Die Entscheidung für ein Geschichtsbuch ist auch ein politischer Akt« – Geschichtskulturelle Hegemonie und Schulgeschichtsbücher im Zulassungsverfahren1
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Einleitung
Dem abschließenden Urteil zum didaktisch so innovativen wie konstruktivistisch ausgerichteten Lehrwerk ›Fragen an die Geschichte‹2 setzte ein Münchner Gymnasialprofessor folgende Feststellung voran: »Die Entscheidung für ein Geschichtsbuch ist auch ein politischer Akt.«3 Der Gutachter sprach sich gegen eine Zulassung des vierten Bandes der Reihe aus, da er neben unterrichtsmethodischen Bedenken auch befürchtete, dass die Autoren des Bandes weniger den »freiheitlichen Rechtsstaat der parlamentarischen Demokratie« als vielmehr »die Revolution« im Sinn hatten. Das Kultusministerium schloss sich dem Gutachter vollumfänglich an und teilte dem Verlag mit, dass eine inhaltliche Überarbeitung des vierten Bandes vorgenommen werden müsse, »damit ein ausgewogenes, wirklich ideologiefreies Geschichtsbild gesichert ist.«4 Diese kurze Anekdote offenbart dreierlei: Erstens zeigt sie auf, dass »das Wissen in Schulbüchern von unterschiedlichen sozialen Akteuren konstruiert wird.«5 Zweitens unterstreicht diese Anekdote die Bedeutung der Schulgeschichtsbücher als ›nationale Autobiographien‹, die in Zulassungsverfahren »durch das Nadelöhr der Selektion«6 gehen müssen. Schließlich zeigt der Ausschnitt, dass die Selektion der Zwecksetzung des Schulgeschichtsbuchs als »Informatorium,
1 Diesem Beitrag liegt ein Promotionsvorhaben zugrunde, das in das Bamberger Lehrerbildungsprojekt WegE (Wegweisende Lehrerbildung) eingebettet ist. Dieses Vorhaben wurde im Rahmen der gemeinsamen »Qualitätsoffensive Lehrerbildung« von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JA1615 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor. 2 Schmid et. al. 1979. 3 BayHStA MK 63831 Gutachten vom 27. Januar 1974, S. 12. 4 BayHStA MK 63831 Briefentwurf vom 17. April 1974. 5 Höhne 2005, S. 67. 6 Jacobmeyer 1998, S. 31.
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Pädagogicum und Politicum«7 folgt, Schulbücher also didaktischen, fachwissenschaftlichen und politischen Ursprungs sind. Darin liegt auch der besondere Wert von Schulgeschichtsbüchern als geschichtskulturellen Quellen, denn diese Medien geben Aufschluss über das Verhältnis von Geschichtskultur und dem nationalen Selbstverständnis ihrer Entstehungszeit. Dementsprechend schlägt Jacobmeyer vor, Schulgeschichtsbücher als »Quellen sowohl für den staatlichen Willen als auch für das Geschichtsverständnis und die Politikrezeption der Autoren«8 zu nutzen. Vor diesem Hintergrund fragt das diesem Aufsatz zugrundeliegende Promotionsvorhaben, wie sich die Konflikte um die Deutungshoheit und Repräsentation der Zeit des Nationalsozialismus in Schulgeschichtsbüchern zwischen den am Zulassungsverfahren beteiligten Akteuren ausdrückten und wie sich die Akteure in die Lehrwerke einzuschreiben vermochten.9 Zu diesem Zweck wurden die im Bayerischen Hauptstaatsarchiv gelisteten Akten zu über sechzig Zulassungsverfahren von Lehrwerken aller Regelschulen sowie die Personalakten zentraler Akteure des Verfahrens gesichtet.10 Außerdem wurden Geschäftsverteilungspläne, Dienstanweisungen und interne Korrespondenzen des Kultusministeriums in die Analyse einbezogen, wenn sie Rückschlüsse auf die Tektonik des Zulassungsverfahrens ermöglicht. Schließlich wurden auch Schulgeschichtsbücher, Lehrpläne und weitere Verordnungen des Kultusministeriums zur historisch-politischen Bildung in die Untersuchung integriert. Der erforschte Zeitraum erstreckt sich von 1949 bis 1974, also von dem Zeitpunkt der Übernahme der Schulbuchpolitik durch die bayerische Verwaltung bis zum jüngsten im Archiv gelisteten Zulassungsverfahren. Dieser Zeitraum erlaubt vor dem Hintergrund der Fragestellung zweierlei: Zum einen ermöglicht er quellengestützte Einblicke in die Entwicklung vom ›nationalapologetischen Geschichtsbild‹11 der frühen 1950er Jahren bis hin zur Diversifizierung des Geschichtsbildes in den 1970er Jahren.12 Außerdem ermöglicht der Forschungszeitraum Einblicke in die Phase vom stofforientierten Unterricht hin zum konstruktivistischen, lernzielorientieren Unterricht,13 der sich medial im Wandel vom Leitfaden hin zum Lern- und Arbeitsbuch ausdrückte.14 7 Stein 1977, S. 231–241. 8 Jacobmeyer 1998 (Anm. 6), S. 32. 9 Forschungen zum Zusammenhang von Schulgeschichtsbüchern und Geschichtskultur sind Legion. Stellvertretend für viele Arbeiten zur Darstellung des Nationalsozialismus im Schulgeschichtsbuch siehe Schinkel 2018; Popp 2010. 10 Gesichtet werden Personalakten von allen Lehrkräften, die mindestens an vier Prüfverfahren zur Zulassung von Schulgeschichtsbüchern, die den Nationalsozialismus behandelten, beteiligt waren. 11 Wolfrum 1999, S. 66. 12 Steinbach 2009; Herbert 1992. 13 Von Borries 2016.
Geschichtskulturelle Hegemonie & Schulgeschichtsbücher im Zulassungsverfahren
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Methodischer Ansatz
Im Folgenden wird die Methode zur Analyse der Konflikte um Repräsentation und Deutung der Zeit des Nationalsozialismus begründet. Dazu wird ausgehend von Schönemanns Konzept der Geschichtskultur als soziale Konstruktion und Antonio Gramscis Begriff der kulturellen Hegemonie vorgeschlagen, das Zulassungsverfahren als geschichtskulturelle Wiederholungsstruktur zu verstehen, in der die Akteure anhand von Schulgeschichtsbüchern geschichtskulturelle Hegemonie aushandeln. Davon ausgehend wird eine zweiphasige Prozessanalyse vorgeschlagen. Dieses Verfahren analysiert sowohl das institutionelle Regime, in dem die Akteure des Zulassungsverfahrens handelten, als auch die argumentativen Kommunikationsmuster, mit denen die Akteure ihre historischen Deutungen durchzusetzen versuchten. Im Anschluss daran wird die Reichweite der Methode exemplarisch aufgezeigt.
2.1
Geschichtskultur und Hegemonie
Geschichtskultur ist laut Schönemann die Geltungsanspruch erhebende Externalisierung des Geschichtsbewusstseins,15 das als System aus spezifisch geformter Kommunikation, »auf eine spezifische Weise Geschichte erzeugt«16. Den dieser Kommunikation zugrunde liegenden Denkakt bezeichnet Jörn Rüsen als historische Erinnerung, die zwei Funktionen besitze. Zum einen verknüpfen Subjekte durch historische Erinnerung die außerhalb ihrer eigenen Erfahrung liegende Vergangenheit mit der gegenwärtigen Lebenssituation und entwickeln daraus Perspektiven für die Zukunft.17 An zentraler Stelle des Systems stehen laut Schönemann geschichtskulturelle Institutionen, die als ›Wiederholungsstruktur‹ in einem stabilen Modus immer wieder spezifische geschichtskulturelle Artikulationen und Objektivationen produzieren, ermöglichen und beschränken.18 Das Konzept der Wiederholungsstruktur erlaubt, die spezifische Qualität geschichtskultureller Artikulationen zu fassen, ohne die Funktion von sozialen Einrichtungen außer Acht zu lassen. Außerdem ermöglicht dieses Konzept, die unterschiedliche Zeitlichkeit von Ereignis und Struktur herauszustellen. Der Begriff der Wiederholungsstruktur geht auf Reinhard Koselleck zurück, der damit die Ungleichzeitigkeit von Ereignis und Struktur fasst, da die »einmalige 14 15 16 17 18
Schönemann und Thünemann 2010, S. 55–75. Vgl. Schönemann, 2000, S. 44. Schönemann, 2014, S. 18. Rüsen 1994, S. 6–7. Zur sozialen Funktion von Institutionen siehe Gukenbiehl 2016, S. 178–180.
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Zeit der Ereignisse in sich wiederholbare Strukturen birgt, deren Veränderungsgeschwindigkeiten andere sind als die der Ereignisse selbst.«19 Um dem Problem der ungewollten Vereinheitlichung von individuellem Geschichtsbewusstsein und kollektiver Geschichtskultur zu entgehen, sollten Forschungen zur Geschichtskultur laut van Norden ideologiekritisch ausgerichtet sein, indem Macht und Herrschaft in die Analyse einbezogen und bei der kommunikativen Aushandlung von Geschichtskultur aufgezeigt werden.20 Deshalb schlägt van Norden einen kritischen Konstruktivismus vor, der die materiellen Bedingungen und den hierarchisch gestuften Zugang zu Kultur in die Analyse integriert und den Fokus auf die Analyse von Herrschaft richtet.21 Dazu wird vorgeschlagen, Antonio Gramscis22 Begriff der kulturellen Hegemonie als heuristisches Konzept in die Forschung zur Geschichtskultur einzubinden.23 Der Begriff der kulturellen Hegemonie stellt eine Schlüsselkategorie in Gramscis Verständnis zur Wirkung staatlicher Macht sowie zur Reichweite des Staates dar. Die Basisformel der politischen Theorie Antonio Gramscis lautet: »Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt, Hegemonie, gepanzert mit Zwang.«24 Gramsci eröffnet damit zwei spezifische Perspektiven auf den Staat. Zum einen erweitert er den Begriff des Staates, da er neben den staatlichen Institutionen im engeren Sinne auch Akteure und Institutionen der Zivilgesellschaft einbindet. Diese Erweiterung der Reichweite ermöglicht zum anderen eine neue Konzeptualisierung der Wirkweise staatlichen Handelns, da neben den repressiven Herrschaftsmitteln, die Gramsci unter den Begriff des Zwangs subsumiert, auch die »kulturelle und moralische Führung«25 der Bürger tritt. Hegemonie ist somit kulturell, wenn die Führung kulturelle und moralische Fragen – also die Art und Weise, in der sich Menschen in der Welt verorten und ihr Leben führen – betrifft. Kulturelle Hegemonie stiftet kollektive Identität und bietet Orientierung, indem sie Deutungsangebote verknappt, reguliert, erzeugt und reformiert und damit gesellschaftliche Lebensweisen normiert. Hegemonial ist Kultur dann, wenn ihre Legitimationsgrundlage ein »aktiver und freiwilliger 19 Koselleck et al. 2006, S. 30. 20 Vgl. van Norden 2017, S. 23. Zur Problematik der Naturalisierung gesellschaftlicher Prozesse, wenn Herrschaft als Faktor der Geschichtskultur nicht reflektiert und in die Forschung einbezogen wird, siehe auch Siebeck 2013; Ziegler 2014, S. 82–83. 21 Van Norden 2017, S. 21. Seybold skizziert diese Kritik exemplarisch am Konzept des kollektiven Gedächtnisses von Jan und Aleida Assmann. Vgl. Seybold 2005, S. 162–163. 22 Zur Biographie Antionio Gramscis siehe Fiori 2013. 23 Einführend zum Staatsverständnis Antonio Gramscis vgl. Voigt 2015; Demirovic 2007. Gramscis Staatstheorie wurde bereits früh in der britischen Kulturwissenschaft aufgenommen. Vgl. z. B. Hall 2004. Zu zentralen Begriffen der Staatstheorie in den Cultural Studies siehe Langemeyer 2009. Zur theoretischen Weiterentwicklung der Staatstheorie siehe Jessop 2007. 24 Gramsci 1992, H. 6, § 88, S. 783. 25 Gramsci 1994, H. 10, § 7, S. 1239.
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(freier) Konsens«26 von Zivilgesellschaft und politischer Gesellschaft ist. Um diesen Konsens zu erzeugen, werden die Einstellungen und Forderungen innerhalb der Zivilgesellschaft in den staatlichen Entscheidungsprozess und staatliches Handeln integriert. Dies trägt zur Stabilität demokratischer Systeme bei, bedingt aber auch deren Flexibilität, insofern sich die Führung den dominanten Positionen innerhalb der Zivilgesellschaft anpassen muss. Weil Hegemonie fragil ist, benötigt sie die permanente kommunikative Aushandlung legitimer Deutungsmuster und Lebensweisen. Als Hegemonieapparate bezeichnet Gramsci gesellschaftliche Einrichtungen, die im Rahmen dieses Aushandlungsprozesses »eine Reform der Bewusstseine und der Erkenntnismethoden« anstreben, um eine »entsprechende neue Moral« durchzusetzen,27 wozu beispielsweise Vereine und Gewerkschaften, Medien, Kirchen, aber auch Schulen und Universitäten zählen.28 Kulturelle Hegemonie auszuüben bedeutet laut Stuart Hall dementsprechend, »eine ganze Reihe von ›gesellschaftlichen Positionen‹ gleichzeitig zu besetzen.« Sie ruht in einer Demokratie nur selten auf unmittelbarem Zwang, denn erst wenn durch diese kommunikative Aushandlung kein Konsens hergestellt werden kann bzw. die strukturellen Rahmenvorgaben des Aushandlungsprozesses nicht beachtet werden,29 greift der Staat zu repressiven Mitteln. Stattdessen beruht kulturelle Hegemonie auf einem Prozess, »in dem ein beträchtliches Maß an Zustimmung im Volk gewonnen wurde. Sie ist also ein Zeichen für einen hohen Grad an sozialer und moralischer Autorität […] in der Gesellschaft als Ganzes.«30 Übertragen auf die Geschichtskultur als soziales System kann die Produktion und Regulation von historischen Darstellungen und Deutungen als ein spezifischer Bereich kultureller Hegemonie aufgefasst werden, wenn Geschichtskultur nach Rüsen und Schönemann die Verortung von Subjekten in der Zeit ermöglicht und reguliert sowie aus der Verknüpfung der drei Zeitschichten zu einer bestimmten Lebensweise anhält. Als heuristisches Konzept erlaubt der Begriff kultureller Hegemonie zudem, die Objektivation von Geschichtsbewusstsein und ihre Überführung in Geschichtskultur zu erklären, indem manifestierte Geschichtskultur als Folge kultureller Hegemonie verstanden wird. Dies bedeutet zweierlei: Zum einen konkurrieren verschiedene historische Deutungen 26 Gramsci 1992, H. 6, § 10, S. 718. 27 Gramsci 1994, H. 10. II, § 12, S. 1264. 28 Als ›Hegemonieapparate‹ bezeichnet Althusser ›ideologische Staatsapparate‹. Vgl. Althusser 1977, S. 120. Zu den Funktionen der Schule im Staat siehe auch z. B. Wiater 2009. 29 In der Regel teilen Kontrahenten bei gesellschaftlichen Konflikten bestimmte Konsense, um überhaupt in Konflikt treten zu können. So stimmten demokratische Parteien trotz inhaltlicher Differenzen darin überein, dass erst Wahlen die Bildung von Regierungen legitimieren. Ebenso ist die Deutung von (historischen) Ereignissen in einen durch Konsens strukturierten Rahmen eingebettet. Vgl. Hall 2012a, S. 142–149. 30 Beide Zitate Hall 2012b, S. 72.
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darum, hegemonialen Status innerhalb einer Gesellschaft zu erlangen. Zum anderen setzen sich historische Erinnerungen dann gesellschaftlich durch und werden in geschichtskulturellen Objektivationen stabilisiert, wenn sie innerhalb der politischen und der zivilen Gesellschaft breite Zustimmung erhalten. Da hegemoniale Geschichtskultur jedoch nicht auf reinem Zwang gründet, sondern auf einem aktiven und freiwilligen Konsens, müssen geschichtskulturelle Artikulationen verschiedene Anforderungen erfüllen, um Zustimmung zu erhalten. Einen Ansatz zur Identifikation dieser Anforderungen bieten die von Rüsen eingebrachten geschichtskulturellen Dimensionen Herrschaft, Schönheit und Wahrheit, wonach Geschichtskultur zur (De-)Legitimation des staatlichen Systems dient, durch ihre Gestaltung eingängig ist und breit rezipiert werden kann und schließlich rationalen Maßstäben entspricht, indem sie historische Triftigkeit besitzt und nachvollziehbar ist.31 Neben diesen inhaltlichen Anforderungen, müssen historische Deutungen auch von bedeutsamen gesellschaftlichen Akteuren und Institutionen getragen werden, um hegemonialen Status zu erlangen. Analog zur kulturellen Hegemonie wird vorgeschlagen, von geschichtskultureller Hegemonie dann zu sprechen, wenn konfligierende geschichtskulturelle Artikulationen zwischen Parteien der Zivilgesellschaft und der politischen Gesellschaft ausgehandelt und in einen Konsens überführt werden, der sich in Gesetzen, Objekten, Ritualen und Institutionen niederschlägt, stabilisiert und die weitere Entwicklung der Geschichtskultur beeinflusst. Geschichtskulturelle Hegemonie verhindert dadurch die Proliferation geschichtskultureller Aussagen, indem der Rahmen der legitimen historischen Deutungsleistung eingeschränkt wird. Es wird angenommen, dass sich Konflikte um geschichtskulturelle Hegemonie im Feld der Geschichtskultur an Fragen der historischen Selektion (Welche Vergangenheit soll erinnert werden?), der historischen Haltung (Wie soll der Vergangenheit erinnert werden?) und schließlich der lebenspraktischen Orientierung (Welche Lehre soll an/aus der Geschichte für die Gegenwart abgeleitet werden?) orientieren, die als historische Deutungskonflikte zusammengefasst werden. Umgekehrt weist gerade die Wucherung geschichtskultureller Aussagen auf die Fragilität geschichtskultureller Hegemonie hin. Da geschichtskulturelle Hegemonie von der positionalen wie der argumentativen Macht der Akteure und Institutionen des geschichtskulturellen Systems abhängig ist, benötigt Geschichtskultur, um hegemonial zu werden, nicht die Gesamtheit aller im System agierenden Kräfte. Deshalb repräsentiert hegemoniale Geschichtskultur nur die im Konsens integrierten geschichtskulturellen Positionen und wird reformiert, wenn neue Akteure und Institutionen mit hoher positionialer und argumentativer Macht im System auftreten oder herkömmliche Akteure und Institutionen neue Deutungen produzieren. Geschichtskultu31 Siehe zu den Dimensionen der Geschichtskultur Rüsen 1994 (Anm. 17), S. 11–21.
Geschichtskulturelle Hegemonie & Schulgeschichtsbücher im Zulassungsverfahren
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relle Hegemonie ist also von Kämpfen um Deutungshoheit geprägt, weshalb Geschichtskultur in diesem Kontext als Prozess um Deutungskonflikte zu verstehen ist.
2.2
Zulassungsverfahren und geschichtskulturelle Hegemonie
Überträgt man das heuristische Konzept der geschichtskulturellen Hegemonie auf die Zulassung von Schulgeschichtsbüchern, lässt sich das Zulassungsverfahren als geschichtskultureller Hegemonieapparat verstehen, in dem verschiedene Vertreterinnen und Vertreter der zivilen und der politischen Gesellschaft – Autorinnen und Autoren, Verlage, Gutachterinnen und Gutachter sowie Ministerialreferentinnen und -referenten – in Form von historischen Deutungskonflikten geschichtskulturelle Hegemonie in Schulgeschichtsbüchern aushandeln.32 Demnach sind kontingente Schulbuchinhalte auch abhängig von der Deutungsmacht der direkt am Zulassungsverfahren beteiligten Akteure. Die Relevanz dieser Aushandlung ergibt sich aus der doppelten Funktion von Schulbüchern. Sie sind nämlich Mittel der staatlichen Kontrolle von Unterrichtsinhalten33 und Repräsentation der Gesellschaft.34 Die staatliche Kontrolle von Schulgeschichtsbüchern kann insgesamt als geschichtskulturelle Wiederholungsstruktur konzeptualisiert werden, in der die beteiligten Akteure um geschichtskulturelle Hegemonie ringen, wobei jedes einzelne Zulassungsverfahren ein einmaliges Ereignis innerhalb der Kontrollinstanz darstellt. Während in Schulgeschichtsbüchern geschichtskulturelle Hegemonie ihren Ausdruck findet, ist ihre Durchsetzung in der Deutungsmacht der an der Aushandlung beteiligten Akteure begründet, die ihre Deutungen durch das Zulassungsverfahren in das Schulbuch einschreiben. Insofern (historische) Deutungen nach Stuart Hall dann hegemonial werden können, wenn ihre Träger einflussreiche gesellschaftliche Positionen bekleiden und ihre Deutungen anschlussfähig zu konkurrierenden Deutungen formulieren, ist geschichtskulturelle Hegemonie abhängig von der positionalen und argumentativen Macht der Akteure. Eine Analyse des Zulassungsverfahrens im Hinblick auf die Frage, 32 Quellengestützte Analysen des Zulassungsverfahrens stellen ein Desiderat der Forschung dar. Zwei Fallbeispiele kontroverser staatlicher Interventionen bei der Zulassung von Schulgeschichtsbüchern schildert Müller 1977. Zur Geschichte der Schulbuchsteuerung siehe Sauer 1998. Gisela Teistler legte 2017 eine umfassende Arbeit zur Schulbuchpolitik der alliierten Besatzungsmächte im Deutschland der Nachkriegszeit vor, siehe Teistler 2017. Die Intervention religiöser Institutionen im Rahmen von Zulassungsverfahren in RheinlandPfalz analysierte Schmitz-Zerres 2018. 33 Siehe Wiater 2005. 34 Siehe Bascio und Hoffmann-Ocon 2010. Lässig 2010. Fuchs et al. 2014, S. 15–16.
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welche historischen Deutungen zum Nationalsozialismus sich durchsetzen, muss deshalb die positionale und die argumentative Kraft der an der Zulassung beteiligten Akteure herausarbeiten. Im Folgenden wird dazu eine prozessanalytische Methode vorgeschlagen. Um »den Konsenscharakter sowie die Selektionsprozesse des Schulbuchwissens herauszustellen«35 nutzt Höhne die Metapher der ›Diskursarena‹. Bleibt man im Bild der Diskursarena, muss eine Analyse des Zulassungsverfahrens zweierlei leisten. Sie muss erstens eine Blaupause der Arena nachzeichnen können, um zu bestimmen, wo die geeigneten Kampfplätze bei Deutungskonflikten liegen. Zweitens muss die Analyse die konkreten Kämpfe nachvollziehen können, indem sie die Themen erkennt, an denen sich die Konflikte entzünden und die Taktiken, mit denen Deutungskonflikte gelöst und spezifische Deutungen siegreich aus der Arena ziehen können.36 Zur Analyse des Zulassungsverfahrens wird eine Prozessanalyse vorgeschlagen, deren Methode im Folgenden skizziert wird.
2.3
Prozessanalyse
Es ist anzunehmen, dass Zulassungsverfahren in abstrakter Weise den Entscheidungsprozessen in Gremien folgen, zu deren Analyse Nullmeier et. al. ein Schema in drei Akten vorschlagen: Proposal-Confirmation-Acceptance.37 Das Proposal als Initiation des Entscheidungsprozesses entspricht den eingereichten Manuskripten, die im Confirmation-Akt von den Sachverständigen und Referentinnen und Referenten begutachtet und bewertet werden, was im AcceptanceAkt zu einem Beschluss über das Manuskript zusammengeführt wird. Auf Grundlage der Gutachten muss gegebenenfalls ein neues oder umgearbeitetes Manuskript als erneutes Proposal innerhalb des gleichen Entscheidungsprozesses eingereicht werden. Mit Stellungnahmen und Gegengutachten können Verlage zudem in den Acceptance-Akt intervenieren. Zentrales Erkenntnisinteresse der Prozessanalyse ist das Aufzeigen von Kräfteverhältnissen und ihre Wirkung auf die historische Dynamik.38 Macht 35 Höhne 2005 (Anm. 5), S. 80. Diese Austarierung begleitet den gesamten Produktionsprozess, siehe Klemenz 1997. Opfer 2007. MacGilchrist 2011. Zur Kritik an Höhnes Absage an ideologiekritische Forschungsprogramme siehe Fey 2015. 36 Höhne schlägt im Kontext seiner Schulbuchtheorie zwar eine thematische Diskursanalyse vor, die allerdings nicht die konkreten Deutungskonflikte und deren Lösungen bei der Produktion von Schulgeschichtsbüchern fassen kann, da der Prozess aus dem Produkt und dessen weitem Entstehungskontext extrapoliert wird, selbst aber kein Untersuchungsgegenstand ist. Vgl. Höhne 2008, S. 67–68. 37 Nullmeier et al. 2008, S. 28–32. 38 »Ohne Zweifel interessiert an Entscheidungsprozessen insbesondere, ob und wie sich Macht in ihnen zur Geltung bringt«. Nullmeier et al. 2008 (Anm. 37), S. 85.
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wird von den Autorinnen und Autoren als eine dem Prozess inhärente Größe gefasst, die u. a. durch die Asymmetrie der Beteiligten entsteht, wenn die Akteure unterschiedliche Positionen einnehmen.39 Für das Zulassungsverfahren können diese Positionen beispielsweise dadurch bestimmt sein, dass Akteure bestimmte Ämter bekleiden (Staatssekretär vs. Studienrat), unterschiedliche Institutionen vertreten (geschichtswissenschaftliche Forschungseinrichtungen vs. Lehrerbildungszentren) und unterschiedlich lange dem Entscheidungsprozess angehören (Referent des Kultusministeriums vs. Gutachter). Der Prozessanalyse kommt es folglich darauf an, Personen zu identifizieren, »die das Gremiengeschehen in eine bestimmte Richtung gelenkt haben.«40 Von dieser personalen Macht unterscheiden Nullmeier et. al. die Argumentationsmacht, weshalb auch zu fragen ist, »welche inhaltlichen Verweise zur Durchsetzung eines Vorschlages beigetragen haben.«41 In Bezug auf das Zulassungsverfahren als geschichtskultureller Hegemonieapparat ist die Durchsetzungskraft der inhaltlichen Verweise davon abhängig, wie die transportierte historische Deutung anschlussfähig an dominante Deutungen ist bzw. konkurrierende Deutungen integrieren kann. Die Prozessanalyse besteht aus zwei Schritten. Zunächst wird die Form analysiert, in der ein Entscheidungsprozess über das Zulassungsverfahren ausgehandelt wird. Dazu werden die institutionellen Rahmenbedingungen, also die Form des Zulassungsverfahrens, untersucht: Wer ist wie an der Zulassung von Schulgeschichtsbüchern beteiligt? Inwiefern wird das Zulassungsverfahren reguliert? Nach welchen Kriterien wurden Gutachterinnen und Gutachter ausgewählt? Welche unterschiedlichen Interessen formen das Zulassungsverfahren? Neben der Formanalyse wird im zweiten Schritt der inhaltliche Entscheidungsprozess analysiert, indem die Themenfelder, an denen sich Konflikte um die Deutung des Nationalsozialismus in Schulgeschichtsbüchern entzünden, die Argumentationen zur Lösung dieser Deutungskonflikte und schließlich die direkte Wirkung auf das Schulbuch herausgearbeitet werden. Neben den gesammelten Gutachten werden auch die Stellungnahmen der Verlage und Referate nach inhaltlichen Kriterien analysiert, wozu die Quellen nach dem oben beschrieben PAC-Modell geordnet und mittels der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz (ISQI) ausgewertet werden.42 Die codierten Aussagen werden im Rahmen der Studie zu Konfliktfeldern aggregiert, um die sich konkurrierende Deutungsmuster gruppieren. Um die Aussagen der 39 40 41 42
Nullmeier et al. 2008 (Anm. 37), S. 85. Nullmeier et al. 2008 (Anm. 37), S. 88. Nullmeier et al. 2008 (Anm. 37), S. 90. Kuckartz 2016, S. 97–121. Grundsätzlich zur qualitativen Inhaltsanalyse siehe auch Mayring 2010, bzw. zur qualitativen Inhaltsanalyse im Rahmen der Schulbuchforschung Lamnek 2000.
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Akteure zu interpretieren, werden zu deren Kontextualisierung auch Schulgeschichtsbücher in die Analyse einbezogen und die Aussagen ergänzend auch vor dem Hintergrund der Forschung zur Geschichtskultur interpretiert. Indem die betreffenden Schulgeschichtsbücher mit den Anmerkungen der Sachverständigen und der Beamten im Ministerium abgeglichen werden, kann durch die Analyse der Schulgeschichtsbücher als Endprodukte eines erfolgreichen Zulassungsverfahrens zudem an geeigneten Stellen die Wirkung der Zulassungsverfahren auf die Manuskripte herausgearbeitet werden.43 Die thematische Prozessanalyse des Zulassungsverfahrens ermöglicht zum einen, die Deutungsmacht der Akteure herauszuarbeiten, indem die personale Macht anhand der Formanalyse und die argumentative Macht anhand der Inhaltsanalyse herausgearbeitet wird. Zum anderen ermöglicht die Prozessanalyse die Identifikation konfligierender Deutungsmuster, was Rückschlüsse auf die zeitgebundene Fragilität geschichtskultureller Hegemonie erlaubt und entgegen einem telelogischen Geschichtsbild die Vielfalt der Entwicklungsmöglichkeiten der Geschichtskultur aufzeigt. Im Folgenden soll ein Ausschnitt aus dem Quellenkorps dargestellt werden. Das Beispiel beschränkt sich auf ein konkretes Zulassungsverfahren und bezieht weder die Formanalyse noch den Kontext mit ein, der sich aus der Analyse der Schulbücher ergibt, sondern dient dazu, die geschichtskulturellen Konflikte um Hegemonie im Rahmen des Zulassungsverfahrens zu veranschaulichen.
3
Erste Ergebnisse – Zulassungsverfahren: Kontinuität des »deutschen Geistes«?
Im Sommer 1963 reichte der Verlag C.C. Buchners das Manuskript des damals noch dritten Oberstufenbandes der Reihe ›Geschichtliches Werden‹ im bayrischen Kultusministerium mit dem Antrag auf lernmittelfreie Genehmigung ein. Das Zulassungsverfahren dauerte insgesamt fünf Jahre, was zum einen an einer Lehrplanreform lag,44 die einen neuen Zuschnitt des Manuskripts erforderte,45 und zum anderen an der im Verfahren hitzig geführten Debatte um den historischen Ort des NS-Antisemitismus in der deutschen Geschichte. Insgesamt fünf Prüfgänge beanspruchte die Auseinandersetzung zwischen dem C.C. Buchners
43 Die eingereichten Manuskripte sind im Bayerischen Hauptstaatsarchiv nicht archiviert. 44 Der bayrische Lehrplan für Gymnasien erschien im September 1965 und sah nun eine vierstufige statt einer dreistufigen Oberstufe vor, siehe: KMBL 1965, S. 260. 45 Siehe BayHStA MK 63825 Brief des Kultusministeriums an die Gutachter vom 19. August 1965.
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Verlag bzw. dem Erstautor Dr. Hermann Glaser, und dem Gutachter Dr. W. K.,46 weshalb der Band erst 1968 zugelassen wurde.47 In diesem Abschnitt wird der Deutungskonflikt dokumentiert und anschließend im Kontext des Forschungsansatzes interpretiert. Im ersten Gutachten von 1963 beanstandete der Oberstudienrat W. K. das Manuskript wegen dessen soziologischer Ausrichtung, die in vergleichbaren Schulgeschichtsbüchern nicht zu erkennen sei. Das Manuskript biete wegen dieser Ausrichtung auch keinen schulbuchnotwendigen Stoff und behandele ausschließlich die deutsche Geistesgeschichte im Hinblick auf den Nationalsozialismus. Dagegen schlug W. K. vor, drei Kapitel im Umfang von 45 Seiten zu streichen.48 Insgesamt sei die inhaltliche Gestaltung des Manuskripts »sehr stark von der Fragestellung determiniert: Wie läßt sich der Nationalsozialismus hinreichend erklären. Das Dritte Reich ist gleichsam der Brennpunkt, auf den alle Strahlen zustreben.«49 Dies berge laut W. K. insgesamt drei Probleme: Die breite Darstellung der historischen Herleitung der NS-Weltanschauung führe erstens zu einer »bedenkliche[n] Kürzung des herkömmlichen Stoffes.« So monierte W. K., dass Bismarcks Außenpolitik nur »auf drei Schreibmaschinenseiten abgehandelt« wurde.50 Aus dieser falschen Stoffverteilung könne aber kein »verantwortbares Geschichtsbewusstsein« erwachsen. Statt einer breiten Darlegung der »forschungsmäßig sehr umstrittene[n] Frage, ob der Nationalsozialismus kontinuierlich aus geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts entsteht«, solle ein Schulgeschichtsbuch zum Aufbau verantwortbaren Geschichtsbewusstseins den geschichtswissenschaftlich Konsens darlegen, etwa »die von der ausländischen Geschichtsschreibung anerkannte Bewahrung des Friedens Europas durch Bismarck«. Zweitens sah W. K. den »Eigenwert jeder Geschichtsepoche« als Grundlage historischen Urteilens und zum Aufbau eines verantwortbaren Geschichtsbewusstsein an, weshalb er eine »exakte Darlegung des Vergangenen erwartet«, die durch »eine solche Ausschaltung und Verkürzung ganzer Stoffbereiche« konterkariert werde.51 Drittens bergen die im Manuskript angelegten Längsschnitte die »Gefahr des Verlusts jedes Epochengefühls«52, da mit der »Überbetonung der Kontinuität […] zwangsläufig eine Unterbewertung der
46 Die Namen aller Gutachterinnen und Gutachter werden aus Datenschutzgründen anonymisiert. 47 Altrichter und Glaser 1960. 48 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963, S. 1. 49 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963 (Anm. 48), S. 6. 50 Zitate BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963 (Anm. 48), S. 1. Hervorhebung im Original durch Sperrung. 51 Zitate BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963 (Anm. 48), S. 2. 52 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963 (Anm. 48), S. 4. Hervorhebung im Original durch Sperrung.
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besonderen Umstände der Zeit von 1918-1933«53 einhergehe. Den Historiker Theodor Schieder zitierend54 hält W. K. dem Autor vor, »›daß der Kontinuitätsbegriff gar nicht mehr ausreicht, um ein die Kontinuität durchbrechendes revolutionäres Phänomen wie die nationalsozialistische Revolution in seiner historischen Bedeutung zu verstehen‹.«55 Die Eigenständigkeit der historischen Epoche sowie die positivistische Urteilsbildung auf dem Boden eines breiten, geschichtswissenschaftlichen Konsenses hielt W. K. gegen die dem Buch attestierte Kontinutitätsthese, wonach sich der Nationalsozialismus aus der deutschen Geistesgeschichte erklären ließe. Zudem zitierte W. K. den ehemals deutschnationalen Historiker Hans Herzfeld56, laut dem eine tiefe Kluft zwischen den Irrtürmern der Generation vor dem Ersten Weltkrieg und dem ahistorischen, vollkommen von der Persönlichkeit Adolf Hitlers erfassten Nationalsozialismus liege. Analog zu der für W. K. nicht vertretbaren These Fritz Fischers, derzufolge eine Kontinuität zwischen dem Imperialismus Wilhelms II. und dem Imperialismus Hitlers bestanden habe, sei auch Glasers These von der Kontinuität der Geisteshaltung des 19. Jahrhunderts zum Nationalsozialismus nicht haltbar.57 Der zuständige Ministerialreferent stützte in einem internen Bericht die Ausführungen W. K.s58 und reichte das Manuskript mit den Gutachten zurück an den Verlag, der den Nürnberger Gymnasiallehrer Dr. Helmut Altrichter zur Überarbeitung des Manuskripts hinzuzog. Den Monita wurde anscheinend weitgehend versucht zu entsprechen, denn W. K. hatte im zweiten Prüfgang nicht mehr »das Gefühl [..], die Autoren interessiere der Geschichtsstoff des 19. Jahrhunderts vornehmlich dann, wenn gefährliche Strömungen, welche zum Aufkommen des Nationalsozialismus beigetragen haben könnten, zu erörtern
53 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963 (Anm. 48), S. 9. 54 Schieder 1963. Theodor Schieder war ein einflussreicher Sozialhistoriker der jungen Bundesrepublik. Er sah den Kontinuitätsbruch als Wesensmerkmal der Moderne an, vgl. Chun 2000, S. 64–65. Erst nach seinem Tod wurde Schieders Beteiligung an der Vorbereitung des Völkermords im Nationalsozialismus zur Kontroverse, siehe Aly 2000, S. 177. 55 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963 (Anm. 48), S. 8. Hervorhebung durch Sperrung im Original. 56 Hans Herzfeld war in der Weimarer Republik Mitglied des Stahlhelms und versuchte in seinen Forschungen u. a. die Dolchstoßlegende wissenschaftlich zu untermauern, vgl. Herzfeld 1928. Da Herzfeld einen jüdischen Großvater besaß, war er dem Terror des NSRegimes ausgesetzt. In der Bundesrepublik wurde er zum Professor an der Freien Universität Berlin berufen und schrieb auch Schulgeschichtsbücher, vgl. Dittrich et al. 1958. Mit seinem Widerspruch zu den Forschungen Fritz Fischers bezüglich der deutschen Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs löste Herzfeld die sog. Fischer-Kontroverse aus. Vgl. Große Kracht 2014. 57 Vgl. BayHStA MK 63825 Gutachten vom 11. September 1963 (Anm. 48), S. 8–9. 58 BayHStA MK 63825 Interner Bericht vom 6. April 1964.
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sind.«59 Bedenken trug der Gutachter noch zu dem Kapitel »Die geistige Situation in der spätbürgerlichen Epoche«, da die aus W. K.s Sicht angebliche »Deformation des deutschen Bürgers zum manipulierbaren Spießbürger Hauptthema« bleibe, wenn auch die Formulierungen weniger aufsässig seien. Wie bereits im ersten Prüfgang sprach sich W. K. deutlich dagegen aus, den NS-Antisemitismus in einer deutschen Kontinuitätslinie zu verorten, da der deutsche Antisemitismus vor dem Ende des Kaiserreichs keine Spezifika im Vergleich zu anderen Ländern aufweise und es im Kaiserreich entgegen der Darstellung im Manuskript keinesfalls zu einer »Ausformung eines ›ganzen antisemitischen Gedankensystems‹ mit ›gefährlicher Fernwirkung‹« gekommen sei. Stattdessen war »Hitlers verhängnisvolle Einstellung zu den Juden […] nur ein Niederschlag aus den antisemitischen Zeitschriften und Broschüren, die er vor 1914 in Wien gelesen hat.«60 W. K. plädierte erneut, die Kontinuitätsthese fallen zu lassen, und zwar »nicht aus Halsstarrigkeit, sondern aus Verantwortungsbewusstsein den Schülern, aber auch dem Verlag gegenüber.« Die pädagogische Verantwortung und geschichtswissenschaftliche Haltung erhielt zudem geschichtspolitische Tiefe, da W. K. ein »Aufbegehren gegen das weitere Tragen des Büßerhemdes« erwartete, dessen Rechtmäßigkeit er nicht einschätzen wollte, es aber »für unklug« hielt, dass in dieser Darstellung »das Büßerhemd gleichsam noch verlängert werden soll, wenn Bismarckzeit, Romantik und Klassik schließlich auch noch Mitverantwortung am Nationalsozialismus aufgebürdet erhalten.«61 Die Abwehr der Kontinuitätsthese fußte dementsprechend auf der Abwehr historischer Schuld, der eine positive Identifikation mit der Nationalgeschichte und folglich der Formierung eines nationalen Kollektivs zuwiderläuft. Komplementär dazu vermisste E. R. im ersten Prüfgang die Identifikationsfiguren in der deutschen Geschichte,62 die W. K. anscheinend vor allem in Bismarck sah. Die Frage nach der Darstellung der Verortung des Antisemitismus spitzte sich im dritten Prüfgang zu, da W. K. wegen der weiterhin aufrechtgehaltenen Kontinuitätsthese eine längere Gegenargumentation anführte63 Der Verlag revidierte das Manuskrip gemäß den Einwänden W.K.s, was er im vierten Gutachten zu-
59 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 2. Mai 1965. 60 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 2. Mai 1965 (Anm. 59). W. K. bezog sich vermutlich in seiner Erörterung auf Bullock 1959. Bullock zeichnete Hitler in dieser zum zeitgenössischen Standardwerk gewordenen Biographie als opportunistischen Machtpolitiker. Diese Deutung revidierte er später. 61 BayHStA MK 63825 Gutachten vom 2. Mai 1965 (Anm. 59). 62 Vgl. BayHStA MK 63825 Gutachten vom 1. April 1964, S. 2–3. E. R. wurde nur beim ersten Prüfgang um ein Gutachten ersucht. Im den weiteren Prüfgängen beteiligte sich der Oberstudienrat Dr. P. E. 63 BaHStA MK 63825 Gutachten vom 8. September 1965.
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frieden anerkannte, wenn nun »der Antisemitismus der Wilhelminischen Zeit eine weitaus zutreffendere Beurteilung«64 erhielt. Im veröffentlichten Lehrwerk schloss das im Zulassungsverfahren strittige Kapitel die Ausführungen zum Antisemitismus im Kaiserreich mit der von W. K. vorgeschlagenen Wendung ab, demnach »[g]ewaltsame Aggressionen gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsteil, wie sie sich in anderen Ländern ereigneten, […] in Deutschland nicht vorgekommen« sind. Allerdings fügten die Autoren noch den Zusatz an, dass »hier eine besonders umfangreiche ›antisemitische‹ Literatur, die jahrzehntelang ein Zerrbild ›des Juden‹ zeichnete« entstand, zu deren Umfang auch von den Autoren nicht näher benannte »Verkünder des germanischen Ideals […] ihren Beitrag geleistet«65 haben. Vorgriffe auf den NS-Antisemitismus oder weitere Hervorhebung eines im Kaiserreich besonders grassierenden Antisemitismus unterblieben im Kapitel. Das Lehrwerk leitete die Skizze des Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert damit ein, dass der »ins Politische gewendete Irrationalismus« in Deutschland eine »besondere Form« annahm, die mit antirepublikanischen und antisemitischen Haltungen einherging.66 Damit konnten die Autoren zwar weiterhin die Deutung einer deutschen Kontinuitätslinie des Antisemitismus’ vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus formulieren, mussten diese aber in den Nebensätzen des Kapitels verstecken.
4
Ausblick
Das Zulassungsverfahren zum Oberstufenband ›Geschichtliches Werden‹ offenbart dreierlei: Auf formaler Ebene zeigt sich die positionale Macht der zuständigen Ministerialreferenten u. a. durch die Möglichkeit zur Auswahl der Sachverständigen. Der zweite Gutachter, E. R., verfasste nur zum ersten Prüfgang ein Gutachten und wurde in den weiteren Prüfgängen ohne Angabe von Gründen vom Referenten durch P. E. ersetzt.67 Zudem bekundete der Referent in einem internen Bericht vom April 1964 seine Übereinstimmung mit der Deutung W. K.s, worauf vermutlich auch die Zurückhaltung des Referenten innerhalb des Deutungskonflikts zurückzuführen ist. Zweitens zeigt das Zulassungsverfahren die Fragilität geschichtskultureller Hegemonie, als deren Wahrer sich W. K. anscheinend verstand. Denn er kritisierte zum einen die Darstellung des 64 65 66 67
BayHStA MK 63826 Gutachten vom 28. Juni 1967. Altrichter und Glaser 1968, S. 28. Altrichter und Glaser 1968 (Anm. 65), S. 26. P.E. beschränkte sich allerdings fast ausschließlich auf unterrichtsmethodische und stilistische Fragen. BayHStA MK 63825 Gutachten 26. April 1965. BayHStA MK 63826 Gutachten vom 20. Juli 1967. BayHStA MK 63826 Gutachten vom 24. Februar 1968.
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19. Jahrhunderts im Manuskript als Normabweichung, wogegen er eine konsensuale Repräsentation des Kaiserreichs einforderte, zu deren Begründung er sich vor allem auf konservative Historiker bezog. Außerdem hypostasierte W. K. eine gegen das Schulgeschichtsbuch aufbegehrende Öffentlichkeit, wenn das Manuskript nicht einer hegemonialen Deutung angepasst werde. Drittens zeigt sich im Zulassungsverfahren ein hohes Niveau der fachlichen Argumentation, da W. K. führende konservative Historiker als Autoritätsargumente einbezog und zu einer geschichtstheoretischen Reflexion des Epochenbegriffs anhob, um seine Position zu untermauern. Während W. K. offenbar ein Vertreter des Historismus war, folgen die Autoren anscheinend einer mit dem Vokabular und Ansätzen der jungen Soziologie reformierten Geschichtstheorie, weshalb der Deutungskonflikt um die Verortung des Nationalsozialismus auch in den konfligierenden fachlichen Einstellungen der Akteure gründete. Auf Basis der vorgestellten Hegemonietheorie lassen sich Entwicklung und Ausgang des Deutungskonflikts insoweit erklären, als dass W. K. sich mit seiner Deutung durchsetzen konnte, weil er a) argumentativ seine Deutung an die hegemoniale Geschichtskultur zu knüpfen wusste und b) die entscheidende positionale Macht des Referenten auf seiner Seite hatte. Dennoch unterstreicht das Zulassungsverfahren die Fragilität dieser Hegemonie, da enormer argumentativer Aufwand nötig war, um die hegemoniale Position zu verfechten und es den Autoren dennoch – wenn auch in deutlich reduzierter Form – gelang, eine alternative historische Deutung im veröffentlichten Lehrwerk zu platzieren. Aufgrund der lückenhaften Quellenlage kann die Wirkung der geschichtskulturellen Interventionen auf das Produkt Schulgeschichtsbuch nur durch den Abgleich von Gutachten und veröffentlichtem Lehrwerk extrapoliert werden, wenn die betroffenen Textstellen im Rahmen der Analyse verortbar sind: Streichungen können nur dann registriert werden, wenn die deletierte Passage im Zulassungsverfahren zitiert wurde. Deshalb erlaubt dieser Forschungsansatz nur Näherungswerte hinsichtlich der Wirkung des Zulassungsverfahrens auf das Schulgeschichtsbuch. Dennoch bietet das heuristische Konzept der geschichtskulturellen Hegemonie einen vielversprechenden Ansatz zur quellengestützten Analyse der staatlichen Regulierung von Schulbuchinhalten. Das Schulgeschichtsbuch ist vor diesem Hintergrund ein Kompromiss konfligierender Deutungen im Kampf um Deutungshoheit und erscheint insgesamt als geschichtspolitisches Medium im doppelten Sinn. Denn das Produkt hält auf symbolischer Ebene historische Deutungsangebote mit politischer Tiefendimension bereit, deren Inhalte auf administrativer Ebene zu diesem Zweck geprüft und reguliert werden.68 Die Analyse der Zulassungsverfahren gestattet 68 Mit dem Begriff Geschichtspolitik bzw. Vergangenheitspolitik als zeitlich auf die frühen 1950er Jahre eingeschränkte Geschichtspolitik wird häufig entweder die »symbolisch-öf-
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Einblicke in den Zusammenhang von Schulbuchgestaltung, der fachlichen Einstellungen der am Zulassungsverfahren beteiligten Akteure und den Wandel geschichtskultureller Hegemonie.
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Christoph Wilfert (Universität Köln)
Schulbuchbilder als Teil multimodaler historischer Narrationen. Überlegungen zu einer diskurstheoretischen Betrachtung und Analyse von Bildern in Geschichtsschulbüchern
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Einleitung: Forschungsstand und Fragestellung
Der pictorial turn oder iconic turn, wie die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung von Bildern im Anschluss an William J. T. Mitchell und Gottfried Boehm häufig bezeichnet wird, hat auch vor Schulbüchern für den Geschichtsunterricht nicht haltgemacht.1 Schulbücher offerieren ihren Lesern inzwischen regelrechte »Bilderwelten«2, die Geschichte lebendig, bunt und anschaulich präsentieren. Die geschichtsdidaktische Forschung hat sich mit Bildern in Geschichtsschulbüchern lange Zeit vor allem im Hinblick auf ihre Potenziale für das historische Lernen auseinandergesetzt. In Anknüpfung an die in den 1980er Jahren entstandene Historische Bildkunde3 und darauf aufbauende Überlegungen zum unterrichtlichen Einsatz von Bildern als historischen Quellen4, wurde und wird in zahlreichen Publikationen die Verwendung von Bildern in Geschichtsschulbüchern zumeist kritisch-konstruktiv analysiert.5 Stellen Bilder in einer solchen Perspektive in erster Linie ein Mittel zur methodisch regulierten Rekonstruktion der Vergangenheit dar, so hat sich die Geschichtsdidaktik in den vergangenen Jahren zunehmend auch für Fragestellungen aus dem Bereich der Visual History geöffnet.6 Das entscheidende Charakteristikum der Visual History ist ein, im Vergleich zur Historischen Bildkunde, erweitertes Bildverständnis.7 In Anlehnung 1 Vgl. Mitchell 1992, S. 89–95; Boehm 1994, S. 13. War Mitchell und Boehm mit ihren Aufrufen zu einer »Wende zum Bild« vor allem daran gelegen, die in den Geisteswissenschaften vorherrschende Leitvorstellung von »Kultur als Text« um die Vorstellung von »Kultur als Bild« zu ergänzen, so werden die Begriffe inzwischen häufig gebraucht, um ganz allgemein auf die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung von Bildern hinzuweisen. 2 Halder 2014, S. 63–83. 3 Vgl. grundlegend hierzu: Tolkemitt/Wohlfeil 1991. 4 Vgl. insbesondere Pandel 2011; Sauer 2016. 5 Vgl. z. B. zuletzt Eigler/ Kühberger 2018, S. 160–180. 6 Visual History stellte u. a. den Themenschwerpunkt der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013) dar. Vgl. zudem auch Handro/Schönemann 2011. 7 Vgl. Paul 2006, S. 14ff.
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an neuere Bildtheorien8 geraten Bilder nicht allein als Quellen in den Blick, die auf historische Sachverhalte oder Ereignisse außerhalb ihrer eigenen Existenz verweisen, sondern sie werden zusätzlich als kommunikative Medien und soziale Gebrauchsgegenstände ernst genommen, die unter Nutzung ihres spezifischen semantischen Potenzials Sinn generieren und Deutungen transportieren.9 Für die geschichtsdidaktische Schulbuchforschung bedeutet dies einerseits, dass Bilder in Geschichtsschulbüchern als »Aktiva« (Horst Bredekamp) zu betrachten sind, die an der Konstruktion der dort präsentierten Vergangenheitsdeutungen maßgeblich beteiligt sind. Christoph Kühberger charakterisiert Geschichtsschulbücher vor diesem Hintergrund treffend als »multimodale historische Narrationen«, deren Sinngehalt sich gerade auch durch das Zusammenwirken bildlicher und textlicher Schulbuchelemente konstituiert.10 Und andererseits eröffnet sich eine (geschichtskulturell orientierte) Forschungsperspektive, die Schulbuchbilder nicht nur medienintern, sondern darüber hinaus in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen und Wirkungsweisen thematisiert. Wie gewinnbringend eine solche Perspektivenerweiterung für die Geschichtsdidaktik insgesamt sein kann, wird deutlich, wenn man sich den besonderen gesellschaftlichen Status von Schulbüchern vor Augen führt. Angesichts der Vielzahl von Akteuren und Institutionen, die an ihrer Produktion beteiligt sind oder darauf Einfluss nehmen11, können Schulbücher als Träger eines »spezifischen, kontrollierten, dominanten und sozial-institutionell approbierten Wissens einer nationalsprachlich organisierten Gesellschaft«12 gelten. Diskurstheoretisch13 betrachtet stellen sie somit wichtige Indikatoren für die »Sagbarkeitsrahmen« einer Gesellschaft dar oder anders ausgedrückt: Unabhängig davon, ob und wie häufig einzelne Schulbücher tatsächlich im Gebrauch sind, können ihre Inhalte als Indikatoren dafür gelten, was und wie etwas zu einem bestimmten Thema innerhalb einer Gesellschaft gesagt bzw. nicht gesagt werden kann. Zugleich bieten sie – und das ist mit Blick auf die nachfolgenden Ausführungen entscheidend – aber auch Hinweise darauf, was und wie etwas zu einem bestimmten Thema gezeigt bzw. nicht gezeigt werden kann.14 Die Analyse 8 9 10 11
Vgl. insbesondere Mitchell 1994; Bredekamp 2015. Vgl. Paul 2006 (Anm. 7), S. 18. Kühberger 2014, S. 43–55. Vgl. zudem van Leeuwen 1992, S. 35–58. Darunter z. B. Fachwissenschaftler, Fachdidaktiker, Schulbuchverlage, Lehrplankommissionen, Elternverbände, Lehrerverbände, Bildungspolitiker und Journalisten. Vgl. Lässig 2010, insb. S. 207. 12 Höhne 2003, S. 61. 13 Diskurs wird hierbei im Sinne Foucaults als »sozial geregelte Kommunikation zur Herstellung bestimmter gesellschaftlicher Wissensordnungen verstanden«. Meier 2014, S. 36. 14 Grundlegend zu den Erkenntnispotenzialen einer diskurstheoretischen Betrachtung von Bildern vgl. Maasen/ Mayerhauser/Renggli 2006, S. 7–26. Für das Fach Geschichte vgl. Eder/ Kühschelm 2014, S. 3–44.
Schulbuchbilder als Teil multimodaler historischer Narrationen
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von Bildern in Geschichtsschulbüchern ermöglicht somit Rückschlüsse auf die »Zeigbarkeitsrahmen«, die für bestimmte historische Themen und Inhalte innerhalb einer Gesellschaft existieren.15 Als gesellschaftlich ausgehandelte Muster der Visualisierung von Geschichte definieren diese, wie historische Ereignisse, Personen, Orte etc. in der gegenwärtigen Geschichtskultur sichtbar gemacht werden können, d. h. sie legen fest, wie Bilder im Zusammenspiel mit Texten und anderen Kommunikationsmedien an bestimmte historische Ereignisse, Personen und Gegenstände »Sichtbarkeiten« verteilen und auf diese Weise Vergangenheitsdeutungen (mit-)konstruieren und transportieren. Der vorliegende Beitrag geht vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen zunächst der Frage nach, wie sich das aktive und bedeutungsschaffende Potenzial von Bildern im Rahmen von Schulbuchnarrationen theoretisch beschreiben und analysieren lässt. Mit der bildzentrierten multimodalen Diskursanalyse wird im Anschluss daran ein Verfahren vorgestellt, das es erlaubt, über den Vergleich von Einzelbildanalysen in verschiedenen Geschichtsschulbüchern geschichtskulturell dominante Visualisierungsmuster und Bildverwendungsstrategien zu identifizieren.
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Bilder als Teil multimodaler historischer Narrationen
2.1
(Schulbuch-)Bilder und Geschichte
Befördert durch die Entwicklung neuer (digitaler) Produktions-, Reproduktionsund Bearbeitungsmöglichkeiten nimmt die Bebilderung von Schulbüchern seit Jahren stetig zu. »Immer mehr Bilder«, so der Medienwissenschaftler Erich Straßner, »stehen auf einer Schulbuchseite immer weniger komplexen Texten gegenüber.«16 Die Bilder, so Straßner weiter, rückten dabei bisweilen so sehr in den Vordergrund, dass sie »allein die Wissensvermittlung übernehmen«17. Kann man Geschichte im Schulbuch also nicht nur nachlesen sondern auch sehen? Eine Antwort auf diese Frage ist vergleichsweise schnell gefunden. Denn folgt man dem in der Geschichtswissenschaft heute allgemein akzeptierten narrativistischen Paradigma, dann gilt: »Geschichte als vergegenwärtigte Vergangenheit hat grundsätzlich die Form einer Erzählung«18. Der Begriff Geschichte erscheint vor diesem Hintergrund als ein Kollektivsingular, mit dem die ganze Fülle von Geschichten bezeichnet ist, in denen Menschen ausgehend von gegenwärtigen Ori15 16 17 18
Vgl. Halder 2014 (Anm. 2), S. 81. Straßner 2002, S. 40. Ebd. Rüsen 2001, S. 44.
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Christoph Wilfert
entierungsbedürfnissen vergangene Geschehnisse sinnhaft miteinander verknüpfen und zu Zeitverlaufsvorstellungen in der Form von Erzählungen verbinden.19 Eben diese, für die Darstellung von Geschichte konstitutive Verknüpfung vergangener Geschehnisse zu Zeitverläufen ist es aber, die einzelne Bilder nicht sichtbar machen können; zeichentheoretisch betrachtet mangelt es ihnen hierzu im Vergleich zur Sprache an den notwendigen semiotischen Ressourcen. Eine vergleichende Gegenüberstellung grundlegender Charakteristika der beiden semiotischen Modi20 »Sprache« und »Bild« macht dies deutlich (Tab. 1).
Semiotische Struktur
Semantik (Bedeutungspotenzial)
Pragmatik (kommunikative Funktionalität)
Sprache Bild – symbolische Zeichen ! arbi- – ikonische Zeichen ! Zeichen träres, auf Konventionen beberuhen auf der Ähnlichkeit ruhendes Verhältnis von Zeimit dem Bezeichneten (wahrchen und Bezeichnetem nehmungsnahe Zeichen) (wahrnehmungsferne Zeichen) – eher eindeutig: Man erfährt Neues – Möglichkeit zur temporalen Ordnung von Sachverhalten – tendenziell unbeschränkter semantischer Spielraum
– hochgradig polysem: Man erkennt nur das, was man schon weiß – zeigen Sachverhalte stets gleichzeitig an – beschränkter semantischer Spielraum (z. B. keine Negation, vorwiegend »und-Aussagen« etc.)
– Darstellung von Sachverhalten in ihrer zeitlichen Entwicklung bzw. Darstellung von Zeitverläufen – Erklärung logischer Bezüge zwischen einzelnen Sachverhalten
– Zeigen merkmalsreicher Objekte und Sachverhalte im Raum – Anzeigen der Lage von Objekten zueinander im Raum
Tab. 1: Vergleich der Zeichenmodalitäten Bild und Sprache (in Anlehnung an Stöckl 2011)21
Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass sich Sprache als eine auf Konventionen beruhende Zeichenmodalität gegenüber Bildern durch eine überlegene seman19 Vgl. ebd., S. 44ff. 20 Der im Rahmen der (visuellen) Kommunikations- und Multimodalitätsforschung verwendete »mode«-Begriff unterscheidet sich vom gängigeren Begriff des Zeichensystems insofern, als er stärker auf die sozialen Kommunikationspraktiken verweist, in denen und durch die Zeichensysteme bzw. -modalitäten hergestellt und verändert werden. Darüber hinaus bezieht der Begriff »mode« neben dem Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem (dem Kode) auch stärker die materielle und sinnlich wahrnehmbare Dimension von Zeichen mit ein. Vgl. Schneider/Stöckl 2011, S. 10–38. 21 Vgl. Stöckl 2010, S. 48f.
Schulbuchbilder als Teil multimodaler historischer Narrationen
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tische Flexibilität auszeichnet. Vermittels Sprache lässt sich nicht nur über alles und jedes kommunizieren, sie ist dabei zugleich auch weniger vage und deutungsoffen als Bilder. Effizient bewältigt Sprache vor allem die Sequenzierung von Ereignissen und Handlungen in ihrer zeitlichen Entwicklung sowie die Darstellung logischer Beziehungen zwischen Sachverhalten. Bilder hingegen zeichnet aus, dass sie aufgrund der Tatsache, dass sie Ähnlichkeit mit den von ihnen repräsentierten realen oder fiktiven Dingen zeigen, eine eher natürliche und unmittelbare Zeichenmodalität darstellen und somit analog zum natürlichen bzw. ökologischen Sehen rezipiert werden können.22 Entsprechend eignen sie sich vor allem dazu, merkmalsreiche Objekte in Raum und Situation zu präsentieren bzw. zu zeigen.23 Ihr Potenzial zur Darstellung von Zeitverläufen ist, insbesondere was das Einzelbild betrifft, allerdings stark begrenzt, so dass sie in der Forschung gemeinhin als atemporal charakterisiert werden.24 Bilder, stellt entsprechend auch Hans Jürgen Pandel fest, sind »aus der Sicht des Historikers zeitlos. In ihnen sind alle dargestellten Situationen und Ereignisse gleichzeitig und keiner Veränderung unterworfen«.25 Vermögen Bilder folglich zwar Objekte, Personen und Ereignisse aus der Vergangenheit zu zeigen, so sind sie aber gleichzeitig nicht dazu in der Lage, diese in einen sinnhaften Zusammenhang mit anderen zeitungleichen, d. h. früheren und späteren Sachverhalten aus der Vergangenheit zu bringen.26 Vor diesem Hintergrund kommt auch Jörn Rüsen zu dem Schluss, dass Bilder selbst »nicht genuin narrativ sind«. Zugleich betont er allerdings, dass sie »genuin narrative Funktionen« übernehmen können, da sie sich »bruch- und zwanglos« in das Erzählen von Geschichte integrieren lassen.27 Der »historische Sinn«, der Bildern eigentlich äußerlich ist, so Rüsen, werde ihnen dabei durch die sprachlichen Kontexte, in denen sie stehen, »meta-ästhetisch« zugeschrieben.28 Werden Bilder mit Hilfe von Sprache schließlich erst einmal in sinnhafte Zeitverlaufsvorstellungen integriert, dann können sie an genau dieser Stelle ihr spezifisches semantisches Potenzial für die Darstellung von Geschichte zur Geltung bringen.29 22 Ähnlichkeit meint in diesem Zusammenhang nicht, dass Bilder eine physikalische Ähnlichkeit mit den von ihnen dargestellten Gegenständen aufweisen. Vielmehr geht es darum, dass sie in der Lage sind, bei Rezipienten ähnliche bzw. funktionsanaloge mentale Modelle aufzurufen wie die Gegenstände, die sie abbilden. Allgemein zur Diskussion um das Kriterium der »Ähnlichkeit« als wesentliche Eigenschaft von Bildern vgl. Schulz 2005, S. 79–83. 23 Zum »Akt des Zeigens« als Wesenskern des Bildes vgl. Boehm 2008. 24 Vgl. Nöth 2000, S. 482. 25 Pandel 2011 (Anm. 4), S. 14 (Hervorhebung im Original). 26 Vgl. Rüsen 2001 (Anm. 18), S. 111. 27 Rüsen 1994, S. 9. 28 Rüsen 2001 (Anm. 18), S. 113. Vgl. darüber hinaus Pandel 2009, S. 17. 29 Bilder können also eigenständige Bedeutungsträger im Rahmen von Geschichtsdarstellungen sein, ohne selbst über das Potenzial zu verfügen, Geschichte darzustellen. Sie lassen sich
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Christoph Wilfert
2.2
Das semantische Potenzial von Bildern im Hinblick auf die Darstellung von Geschichte
Aufschluss darüber, worin dieses spezifische semantische Potenzial von Bildern im Hinblick auf die Darstellung von Geschichte genau besteht, bietet vor allem die Sozialsemiotik, die Bilder als eine Zeichenmodalität neben anderen (z. B. Sprache, Töne, Grafik etc.) erkennt. In Anlehnung an die funktionale Grammatik Hallidays gehen Vertreter der Sozialsemiotik davon aus, dass sich der kommunikative Sinn eines Bildes immer über drei sogenannte Metafunktionen realisiert.30 Bilder repräsentieren erstens Weltausschnitte, d. h. eine außersemiotische Realität, indem sie Objekte und/oder Situationen darstellen (ideationale Metafunktion). Zweitens gestalten sie eine Interaktion zwischen Bild und Betrachter (interpersonale Metafunktion). Und schließlich komponieren Bilder drittens verschiedene visuelle Elemente zu einer formal kohäsiven und inhaltlich kohärenten Struktur (kompositionale Metafunktion).31 Analysiert man diese drei Metafunktionen von Bildern im Hinblick auf ihren Beitrag zur Darstellung von Geschichte, dann lässt sich feststellen, dass Bilder (1) auf der ideationalen Ebene Ereignisse, Personen und Objekte aus der Vergangenheit sichtbar machen können. Sie liefern dem Betrachter »auf einen Blick« eine detaillierte und emotional ansprechende Vorstellung des Aussehens von historischen Objekten, Umgebungen und Personen (mit samt ihrer Mimik, Gestik, Körperhaltung etc.) zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ohne sprachliche Kontextualisierung bleiben Bilder in ihrer »Botschaft« allerdings vage, da der Rezipient auf ihnen in der Regel nur solche Ereignisse, Personen und Objekte identifizieren kann, die er bereits kennt. Ihre volle Wirkmacht entwickeln Bilder auf der ideationalen Ebene somit erst in Kombination mit Sprache.32 Auf der interpersonalen Ebene (2) können Bilder eine bestimmte Art und Weise der Interaktion des Betrachters mit den von ihnen dargestellten historischen Ereignissen, Personen und Objekten gestalten. Die durch das Bild organisierte Positionierung des Betrachters zu den Bildinhalten (Distanz, Perspektive) kann z. B. die Identifikation mit bestimmten historischen Gruppen oder Personen oder auch analytische Distanz bzw. Neutralität gegenüber den dargestellten Sachverhalten nahelegen. Zudem können über eine mehr oder weniger realistische Darstellung des Gezeigten (z. B. durch Farbgebung und Detailreichtum) unterschiedliche Grade der Immersion in die Vergangenheit suggeriert werden. Die kompositionale Metafunktion von Bildern daher auch als »Semiophoren« bezeichnen. Mit diesem Begriff werden in der Museumskunde ausgestellte Objekte bezeichnet, deren Bedeutung erst durch den Museumskontext entsteht. Vgl. Pomian1988. 30 Grundlegend für die sozialsemiotische Bildanalyse vgl. Kress/van Leeuwen 2006. 31 Vgl. Stöckl 2014, S. 394. 32 Vgl. hierzu Pandel 2009 (Anm. 28).
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(3) ermöglicht es schließlich, dargestellte historische Personen und Gegenstände in ihrem Verhältnis zueinander zu gewichten und ihre Beziehungen zueinander auszudrücken. So können z. B. durch die Positionierung einzelner historischer Akteure innerhalb eines Bildes soziale Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zum Ausdruck gebracht werden oder bestimmte Personen durch auffällige Farbgebung und/oder Größe in ihrer Bedeutung für die gezeigte historische Situation hervorgehoben werden (Tab. 2).
Metafunktion des Bildes
Ideational Repräsentation von Weltausschnitten
Bildsprachliche Mittel (realisiert über semiotische Ressourcen der Zeichenmodalität »Bild«) – wahrnehmungsnahe Darstellung des Aussehens von Personen und Gegenständen – wahrnehmungsnahe Darstellung von Umgebungen
Beitrag zur Darstellung von Geschichte (Beispiele) – detaillierte und emotional ansprechende Darstellung des Aussehens historischer Personen und Gegenstände zu einem bestimmten Zeitpunkt – zugleich aber vage und undeterminierte Darstellung
Interpersonal Gestaltung einer Interaktionsbeziehung zwischen Bild bzw. Bildinhalt und Betrachter
– Vorgabe einer Perspekti- – Identifikation mit histove (von unten/von oben/ rischen Gruppen und/ frontal) oder Personen – Herstellung von Distanz/ – Analytische Distanz zum Nähe dargestellten historischen Geschehen – Kodierungsorientierung (realitätsnahe/realitäts- – Immersion/Emersion in ferne Darstellung) die/aus der Vergangenheit
Kompositional Komposition einer bestimmten Struktur, die einzelne Bildelemente zueinander in Beziehung setzt
– Positionierung einzelner – Darstellung sozialer UnBildelemente auf der terschiede/GemeinsamFläche keiten – Prägnanz einzelner Bild- – Hervorhebung einzelner elemente historischer Akteure – Rahmungen (Abgrenzungen/Verbindungen)
Tab. 2: Semantisches Potenzial von Bildern im Hinblick auf die Darstellung von Geschichte
Auf welche Art und Weise Bilder auf der Basis ihres beschriebenen semantischen Potenzials an der Konstruktion von Vergangenheitsdeutungen beteiligt sind, d. h. worin ihre »genuin narrative Funktion« (Rüsen) im Hinblick auf die Darstellung von Geschichte besteht, lässt sich wie unter 2.1 dargestellt nicht allein vom Gegenstand Bild her bestimmen, sondern hängt immer davon ab, wie einzelne Bilder in konkreten Verwendungssituationen in eine historische Narration eingebunden sind. Gerät vor diesem Hintergrund die Frage nach der
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»Vernähung«33 von Bild und Sprache im Rahmen von Schulbuchnarrationen in den Blick, dann lässt sich auch diesbezüglich auf Überlegungen aus der Sozialsemiotik zurückgreifen. Die Sozialsemiotik thematisiert das Zusammenwirken von Bild und Sprache unter dem Begriff des Designs. Design lässt sich dabei wie »Sprache« und »Bild« als eine Zeichenmodalität betrachten, die auf bestimmte semiotische Ressourcen zurückgreift, um die Komposition verschiedener bedeutungstragender Elemente in multimodalen Kommunikaten zu organisieren. Nach Gunter Kress und Theo van Leeuwen besitzt das Design drei bedeutungsschaffende Potenziale, um diese Funktion zu erfüllen: Die Platzierung (information value), die Prägnanz (salience) und die Rahmung (frame).34 Mit Blick auf Bilder in Schulbüchern bedeutet dies, dass diesen über ihre Prägnanz und ihre Platzierung auf einer Schulbuchseite eine bestimmte Bedeutung für die dargestellte Geschichte zugewiesen wird. Über ihre Rahmung wird schließlich die Zusammengehörigkeit oder Abgrenzung gegenüber anderen Elementen der Schulbuchseite und somit ihre Zuordnung zu bestimmten Aspekten der dargestellten Geschichte deutlich gemacht.
3
Die bildliche Darstellung der Akropolis von Athen in aktuellen Geschichtsschulbüchern – eine Beispielanalyse
Aufbauend auf den bisher vorgestellten theoretischen Überlegungen wird im Folgenden anhand eines konkreten Beispiels vorgestellt, wie sich Bilder in Geschichtsschulbüchern in einer diskurstheoretischen Perspektive als Bestandteile multimodaler Schulbuchnarrationen analysieren lassen. Ausgewählt wurde hierzu eine Doppelseite aus »Das waren Zeiten 1«, einem aktuell in NordrheinWestfalen zugelassenen Schulbuch für den Geschichtsunterricht.35 Zu sehen ist darauf unter anderem ein Bild, das die Akropolis von Athen zeigt. In Anlehnung an die von Stefan Meier vorgeschlagene Methode der bildzentrierten multimodalen Diskursanalyse36 gliedert sich die Untersuchung in zwei Schritte: In einem ersten Schritt, der Einzelbildanalyse, wird das betrachtete Bild zunächst hinsichtlich der drei vorgestellten Metafunktionen (ideationale, interpersonale, kompositionale) untersucht, mit Hilfe derer es sein spezifisches semantisches Potenzial in die Vergangenheitsdarstellung der Schulbuchseite einbringt. Entscheidend ist dabei, dass der Kontext des Bildes 33 Mitchell 2008, S. 148 und 151. 34 Grundlegend hierzu: Van Leeuwen/Kress 1995, S. 25–43. Vgl. darüber hinaus Bucher 2010, S. 54ff. 35 Brückner/ Focke 2010, S. 80/81. 36 Vgl. Meier 2014, S. 229–236 und Ders. 2011, S. 499–532.
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konsequent in die Analyse dieser Metafunktionen mit einbezogen wird. Um dies zu gewährleisten, ist es zunächst notwendig, das Design der betrachteten Schulbuchseite systematisch zu beschreiben. In Anlehnung an die bereits vorgestellten bedeutungsschaffenden Funktionen des Designs werden dabei sowohl die Prägnanz und Platzierung des Bildes auf der Schulbuchseite beurteilt als auch die mehr oder weniger stark ausgeprägten Verbindungen und Abgrenzungen zu den anderen Elementen der Schulbuchseite aufgedeckt. Darauf aufbauend können die durch das Bild und mit dem Bild generierten historischen Sinnbildungsangebote der Schulbuchseite ermittelt werden. In einem zweiten Schritt, dem Bild- bzw. Schulbuchseitenvergleich, wird schließlich skizziert, wie sich über den Vergleich von Einzelbildanalysen in verschiedenen Geschichtsschulbüchern geschichtskulturelle Visualisierungsmuster und damit verbundene Deutungskonventionen offenlegen lassen (Abb. 1).
3.1
Einzelbildanalyse
3.1.1 Analyse des Designs der Schulbuchdoppelseite bzw. der Kontextualisierung des Bildes Die bildliche Darstellung der Akropolis erstreckt sich über die gesamte obere Hälfte des rechten Teils der betrachteten Schulbuchdoppelseite (Platzierung). Neben der Größe des Bildes verleiht ihm vor allem auch seine Farbigkeit eine besondere Prägnanz. Der Abbildung der Akropolis ist auf der unteren Hälfte der rechten Schulbuchseite eine Bildunterschrift mit zugehörigem Begleittext (M1) zugeordnet. Ergänzt und konkretisiert wird die über das Design geleistete Kontextualisierung des Bildes durch sogenannte indexikalische Verweisrelationen.37 Hierbei handelt es sich um sprachliche Verweise auf das Bild, wie z. B. deiktische Wörter oder die Wiederaufnahme von Begriffen aus der Bildunterschrift an verschiedenen Stellen der Schulbuchseite. Auf diese Weise werden sowohl im Darstellungstext »Wohnhäuser für die Götter« auf der linken Schulbuchseite als auch in den Aufgabenstellungen 1 und 2 in der unteren Ecke der rechten Schulbuchseite Bezüge zum Bild hergestellt (Abb. 2). 3.1.2 Analyse der ideationalen Metafunktion des Bildes Das Bild zeigt ein großes, elfenbeinfarbenes, auf einem Felsplateau gelegenes Gebäude umgeben von mehreren deutlich kleineren und tiefer liegenden Bauwerken. Sämtliche Gebäude sind von einer am Rande des Felsplateaus errich37 Vgl. hierzu Nöth 2016, S. 211f.
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Abb. 1: Schulbuchdoppelseite aus »Das waren Zeiten 1« mit einem Bild der Akropolis von Athen
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Abb. 2: Sprachliche Kontextualisierung der bildlichen Darstellungen der Akropolis in »Das waren Zeiten 1«
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teten Steinmauer umschlossen. Vor und neben den Gebäuden sind vereinzelt Menschen zu erkennen, die sich einzeln oder in kleineren Gruppen auf die verschiedenen Gebäude zu bzw. von ihnen weg bewegen. Unter Hinzunahme der Bildunterschrift sowie des zugehörigen Begleittextes (M1) lässt sich der dargestellte Gesamtkomplex als die Akropolis (»Burgstadt«) von Athen um 437 v. Chr. identifizieren. Über Zahlen, die den einzelnen Bauwerken im Bild zugeordnet sind, werden im Begleittext weitere Bestimmungen getroffen. Bei dem großen weißen Gebäude im Zentrum des Komplexes handelt es sich demnach z. B. um den Parthenon, einen Tempel für Athene, die Schutzgöttin der Stadt. Weitere Gebäude werden als das Erechtheion, der Nike-Tempel und die Propyläen identifiziert. Die Gesamtüberschrift der Schulbuchdoppelseite (»Hervorragende Künstler«) legt im Zusammenhang mit dem ersten Abschnitt des zugehörigen Verfassertextes (»Wohnhäuser für die Götter«) nahe, den Bildinhalt (insbesondere den Parthenon und die weiteren Tempelbauten auf der Akropolis) metonymisch für die Baukunst und die allgemeine Kunstfertigkeit der Griechen zu begreifen. So heißt es zu Beginn des Textes: »Die Griechen waren begabte Künstler. Das zeigen ihre Tempel, Skulpturen, Reliefs und viele Vasen.«38 Im Begleittext zur Bildunterschrift werden die auf dem Bild dargestellten Tempel dann auch entsprechend als »prächtig« und die Propyläen als »mächtig« bezeichnet.39 Im zweiten Abschnitt des bereits erwähnten Verfassertextes wird zudem der Begriff »klassisch« in einem normativen Sinne als Bezeichnung für Kunstwerke eingeführt, die sich durch »besondere Harmonie« auszeichnen.40 3.1.3 Analyse der interpersonalen Metafunktion des Bildes Das Bild zeigt die Akropolis von Athen aus der Vogelperspektive, d. h. der Betrachter blickt aus großer Distanz und von schräg oben auf den Parthenon und die umliegenden Gebäude. Die Perspektive ermöglicht es dem Betrachter, den Parthenon in seiner gesamten Größe und Ausdehnung zu erfassen. Im Begleittext M1 wird die Größe des Parthenon dann auch noch einmal besonders betont. Hier heißt es: »Der Tempel hat eine Grundfläche von rund 31 x 70 m und ist einschließlich des Gebälks fast 18 m hoch«41 und in Aufgabe 1 werden die Schülerinnen und Schüler aufgefordert: »In M1 erfährst du, wie groß der Parthenon-Tempel war. Vergleiche die Größe mit einem Gebäude in deinem Heimatort (z. B. mit der Kirche, dem Rathaus oder der Schule).«42 Über die differenzierte Farbgebung, die Illustration des Wechselspiels von Licht und Schatten, 38 39 40 41 42
Das waren Zeiten (Anm. 35), S. 80. Ebd., S. 81. Ebd., S. 80. Ebd., S. 81. Ebd.
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den insgesamt großen Detailreichtum des Bildes sowie die Darstellung handelnder Menschen suggeriert das Bild dem Betrachter schließlich einen realistischen Einblick in das alltägliche Leben auf der Akropolis im Athen der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Aufgabe 2 nimmt auf diesen Aspekt der interpersonalen Funktion des Bildes direkten Bezug, indem die Schülerinnen und Schüler aufgefordert werden: »Stell dir vor, wie beeindruckt die Athener Bürger waren, wenn sie den Burgberg hinaufgestiegen waren und vor dem großen Tempel standen.«43 3.1.4 Analyse der kompositionalen Metafunktion des Bildes Zentrales Element des Bildes ist der Parthenon-Tempel, der relativ frei auf dem höchsten Punkt des abgebildeten Felsplateaus zu sehen ist. Die restlichen Tempel und Gebäude gruppieren sich mit einigem Abstand eng zusammenstehend um diesen herum und gehen zum Teil in den Mauerring über, der den Abschluss des Felsplateaus bildet und auf der linken Bildseite zugleich als Bildgrenze fungiert. Über die angedeuteten Felsformationen auf der linken und rechten unteren Bildhälfte werden jeweils Strukturlinien initiiert, die diagonal nach rechts bzw. links oben auf den Parthenon zulaufen und sich ungefähr auf diesem kreuzen. Die vereinzelte Darstellung von Menschen auf der Akropolis verdeutlicht schließlich ein weiteres Mal die Größe des Parthenon und der umliegenden Gebäude. 3.1.5 Zusammenfassung Vor dem Hintergrund dieser unvollständigen Kurzanalyse lässt sich zunächst zusammenfassend feststellen, dass die betrachtete Schulbuchdoppelseite das Athen des späten 5. Jahrhunderts als einen Ort präsentiert, an dem »die Griechen« eine damals wie heute als beeindruckend und vorbildhaft erachtete Kunstfertigkeit erreicht haben. Die bildliche Präsentation der Akropolis dient in diesem Zusammenhang vor allem dazu, dass sich die Betrachter der Schulbuchseite selbst von eben dieser Kunstfertigkeit überzeugen können. Der Parthenon wird dabei geradezu als Inbegriff athenischer bzw. griechischer Baukunst präsentiert.
43 Ebd.
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Bild- bzw. Schulbuchseitenvergleich
Wie zu Beginn der Analyse bereits angedeutet, lassen sich geschichtskulturelle Visualisierungsmuster und damit verbundene Deutungsangebote gemäß der bildzentrierten Diskursanalyse anhand des Vergleichs einzelner Diskursfragmente (hier : Schulbuchseiten) ermitteln.44 Durch das »Wiederauftauchen« bestimmter Formen der Visualisierung vergangener Ereignisse, Personen oder Objekte und ihrer Kontextualisierung in verschiedenen Geschichtsschulbüchern zeigen sich entsprechende Regelhaftigkeiten und Konventionen, die sich im geschichtskulturellen Diskurs konstituiert haben. Allerdings zeigen sich in den einzelnen Geschichtsschulbüchern auch Abweichungen von solchen Visualisierungs- und Kontextualisierungsmustern, die als bedeutungsmodifizierende Varianten Innovationen in den geschichtskulturellen Diskurs einbringen.45 Vor diesem Hintergrund soll exemplarisch auf zwei weitere Doppelseiten aus aktuell in Nordrhein-Westfalen zugelassenen Geschichtsschulbüchern hingewiesen werden, die ebenfalls ein Bild enthalten, das die Akropolis von Athen zeigt.46 Bei einer vergleichenden Betrachtung der Schulbücher fällt auf, dass die Akropolis jeweils nahezu identisch bildlich dargestellt wird. Alle Bilder zeigen sie in ihrer baulichen Ausgestaltung zur Zeit des späten 5. Jahrhunderts v. Chr., und die Perspektive ermöglicht es, den Parthenon als jeweils zentrales Bildelement, in seiner gesamten Größe und Ausdehnung zu erfassen. Die farbliche Gestaltung und der Detailreichtum der Bilder suggerieren in allen Fällen einen mehr oder weniger unmittelbaren Einblick in die vergangene Realität. Bringen die betrachteten Bilder demzufolge jeweils ein ähnliches Bedeutungspotenzial in die auf den Schulbuchseiten präsentierten Vergangenheitsdarstellungen ein, so lässt sich zugleich auch ein gemeinsames historisches Kontextualisierungsmuster erkennen: Die »Schönheit« der Akropolisbauten und insbesondere des Parthenon werden in allen Fällen als ein Beispiel für die außerordentlichen kulturellen Leistungen der antiken Griechen präsentiert, von denen sich die Schülerinnen und Schüler mittels der Visualisierung selbst überzeugen können. Berücksichtigt man bei der Analyse schließlich nicht nur einzelne Schulbuchdoppelseiten, sondern darüber hinaus auch den weiteren Kontext der betrachteten Schulbücher (wie z. B. die Einbettung der betrachteten Seiten in übergeordnete Kapitel, vorgeschaltete Auftaktseiten etc.), dann fügt sich die visuelle Darstellung und sprachliche Kontextualisierung der Akropolisbauten in ein historisches Deutungsmuster ein, das über die Herstellung von »Ursprungsbezügen« eine kulturelle Verwandtschaft zwischen dem Athen des späten 5. Jahr44 Vgl. Meier 2008, S. 282ff. 45 Vgl. ebd. S. 282. 46 Lendzian 2015, S. 126–127; Bühler/Mayer/Onken 2014, S. 100–101.
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hundert vor Chr. und »unserer« heutigen Gegenwart nahelegt.47 Die vorgestellten Bilder von der Akropolis sind an der Vermittlung dieses Deutungsmusters insofern beteiligt, als in ihrem engeren oder weiteren Kontext fast immer Bilder bekannter klassizistischer oder neoklassizistischer Bauwerke gezeigt werden, die gegenwärtig noch vielerorts das Stadt- und Landschaftsbild prägen und die leicht ersichtlich an den Formenkanon des griechischen Tempelbaus anknüpfen (z. B. das Brandenburger Tor).48 Oder aber es finden sich Aufgaben, die die Schülerinnen und Schüler dazu auffordern, ausgehend von der Betrachtung der Akropolis bzw. des Parthenon selbst nach Gebäuden in ihrer Umgebung zu suchen, in denen sich antike griechische Architekturformen wiederfinden.49 Die von den Schulbuchtexten jeweils behauptete und durch die Bilder veranschaulichte »beeindruckende Schönheit« der Akropolisbauten trägt in beiden Fällen dazu bei, »uns« bzw. ein in der Regel stark europäisch konnotiertes »wir« als Erben einer durch künstlerische Höchstleistungen gekennzeichneten griechischen Antike darzustellen. Wird hinter einem solchen Sinnbildungsangebot der geschichtskulturell weit verbreitete Topos von den »Wurzeln Europas in der griechischen Antike« erkennbar, dann scheint dies insofern beachtenswert, als sich der althistorischen Forschung zu Folge vom antiken Griechenland des 5. Jahrhundert v. Chr. bis zu den Staaten des heutigen Europa keine gesellschaftlich-strukturelle Kontinuität nachweisen lässt, durch die eine solche Tradition hätte vermittelt sein können.50 Die Spuren antiker griechischer Kunst und Architektur, die uns in der Gegenwart begegnen, sind vielmehr das Ergebnis bzw. die Folge einer »Wiederentdeckung« Griechenlands im 18. und 19. Jahrhundert, die mit der (insbesonders in Deutschland weit verbreiteten) Bewegung des Philhellenismus ihren Höhepunkt erreichte.51 Ausgehend von den Bedürfnissen der Gegenwart wurde in dieser Zeit eine idealisierte und zum Vorbild verklärte griechische Antike als eigene Vorgeschichte konstruiert, die darüber hinwegtäuschte, dass die antike griechische Kultur zuvor über Jahrhunderte hinweg allenfalls eine untergeordnete Rolle für das mittelalterliche Europa gespielt hatte. Eben diese gebrochene und für das Verständnis der gegenwärtigen Präsenz der Antike bedeutsame Rezeptionsge-
47 Neben dem Bereich der Architektur werden solche »Ursprungsbezüge« zumeist auch in den Bereichen Theater und Philosophie bzw. Wissenschaft hergestellt. Vgl. hierzu bereits Gorbahn 2011, S. 262ff. 48 Vgl. z. B. Geschichte entdecken (Anm. 46), S. 102–103.; Geschichte und Gegenwart (Anm. 46), S. 118–119. 49 Vgl. z. B. Aufgabe 3 in »Das waren Zeiten 1« (Anm. 35), S. 81: »Auch in neuerer Zeit wurden Gebäude mit griechischen Säulen gebaut […] Suche nach solchen Bauten und überlege, warum noch Jahrhunderte später diese Formen verwendet wurden.« 50 Vgl. hierzu Winterling 2003, S. 403–419. 51 Vgl. Heß/Agazzi/D8cultot 2009.
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schichte wird in den betrachteten Geschichtsschulbüchern allerdings nicht thematisiert.
4
Fazit
Die vielzitierte Macht der Bilder besteht nicht zuletzt darin, dass sie an der Herstellung und Verbreitung von »Geschichte« maßgeblich beteiligt sind. Bilder legen nicht nur fest, was aus der Vergangenheit in der gegenwärtigen Geschichtskultur sichtbar gemacht wird, sondern sie entscheiden zugleich auch darüber, wie diese Vergangenheit sichtbar gemacht wird. Hans Jürgen Pandel hat vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung, die Bilder für die Darstellung und Verbreitung von Geschichtsvorstellungen besitzen, bereits 2008 dazu aufgefordert, das Bildrepertoire von Schulbüchern verstärkt als Gegenstand geschichtsdidaktischer Forschung in den Blick zu nehmen.52 Die vorliegende Beispieluntersuchung zur bildlichen Darstellung der Akropolis von Athen in aktuellen Geschichtsschulbüchern hat gezeigt, wie sich theoretische Ansätze und Analysemethoden aus dem Bereich der Sozialsemiotik und der medienwissenschaftlichen Diskursforschung für die Identifikation geschichtskulturell dominanter Visualisierungsmuster und damit verbundener Sinnbildungsangebote nutzbar machen lassen. Dabei ist deutlich geworden, dass eine geschichtskulturell orientierte Analyse von Schulbuchbildern immer eine Analyse von Multimodalität sein muss, das heißt eine Analyse des Zusammenwirkens von Bildern mit anderen Elementen einer Schulbuchseite bzw. eines Schulbuchs. Denn auch wenn Bilder – wie unter 2.1 ausgeführt – über ein spezifisches semantisches Potenzial zur Repräsentation vergangener Ereignisse, Personen oder Gegenstände verfügen, so erhalten sie doch erst durch die (sprachlichen) Kontexte, in denen sie stehen, eine kommunikative Richtung und die für die Darstellung von Geschichte konstitutive narrative Rahmung.
52 Vgl. Pandel 2011 (Anm. 4), S. 8 und S. 159. Veröffentlichungen in diesem Bereich hat bislang vor allem Susanne Popp vorgelegt (vgl. Popp 2004, S. 23–31). Nachdem sie im Rahmen einer 2003 durchgeführten Analyse des Bildrepertoires von aktuellen europäischen Geschichtsschulbüchern einen konvergierenden Bestand von 15 Bildern beschreiben konnte, gilt ihr Interesse dabei vor allem der Frage, welche Potentiale dieser »europäische Bilderkanon« für das historische Lernen von Schülerinnen und Schülern bietet. Die Einbindung der Bilder in die jeweiligen Schulbuchnarrationen stehen dabei nicht im Fokus. Vgl. Wobring/Popp 2014.
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5
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IV. Konzepte des Geschichtsunterrichts
Johanna Sachse (Universität Bremen)
»Dann war das doch was ganz anderes als wir dachten« – Konzeptveränderungen bei Schülerinnen und Schülern im Rahmen der Durchführung einer archäologischen Ausgrabung
1
Faszination Archäologie und ihre Nutzbarmachung
Archäologie ist omnipräsent. Fast täglich gibt es Nachrichten über Ausgrabungen vor Ort oder Dokumentationen über spannende internationale Entdeckungen im Fernsehen. Die Wissenschaft der gegenständlichen Quellen vergangener Kulturen löst seit jeher eine Faszination bei Menschen aus, was die immense Anzahl an Besucherinnen und Besuchern aller Altersgruppen archäologischer Museen auf der ganzen Welt bestätigt.1 Inken Jensen vermutet, dass die Ursache des Interesses im Wunsch des Menschen einerseits nach dem Ursprünglichen, andererseits auch nach dem Exotischen und Mystisch-Geheimnisvollen sowie in der Begeisterung für das Abenteuer liegt.2 Die genannten Aspekte machen deutlich: Archäologie besitzt in der Gesellschaft ein globales und zugleich generationenübergreifendes Faszinosum. Doch wie kann dieses beim historischen Lernen von Schülerinnen und Schülern im Rahmen des Geschichtsunterrichts an Schulen genutzt werden? Der Schule ist bei der Vermittlung historischen Wissens eine bedeutsame Rolle beizumessen, da die Schülerinnen und Schüler hier meist den ersten intensiveren Kontakt mit Geschichte als Disziplin erleben. Der angesprochene Wunsch nach Orientierung in der (eigenen) Geschichte soll im Sinne eines kompetenzorientierten Unterrichts zum Tragen kommen.3 »Archäologische Themen leisten im Geschichtsunterricht einen wichtigen Beitrag, besonders dann, wenn es um die sinnlich-emotionale Erfahrung von Geschichte oder die Förderung des Geschichtsbewusstseins geht«.4 Dieses Zitat beschreibt das Potenzial der Archäologie für den Geschichtsunterricht treffend, wenngleich gegenständlichen Quellen im Allgemeinen auf Grund ihrer Haptik, Ästhetik, Au1 2 3 4
Vgl. Samida 2010a, S. 31f. Vgl. Jensen 2002, S. 13. Vgl. Sauer 2013, S. 21–26. Samida 2010b, S. 218.
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Johanna Sachse
thentizität und Emotionalität wachsende Beachtung in der Forschung geschenkt wird.5 Mit dieser Entwicklung einhergehend müssen die Strukturen, in denen die Kinder und Jugendlichen lernen, stets optimiert werden. Der Einbezug archäologischer Befunde und Funde kann den gängigen Quellenbegriff im Geschichtsunterricht um nicht-textuelle Quellen erweitern. Gleichzeitig besteht die Chance, das bereits angesprochene Faszinosum Archäologie und die damit verbundene Motivation für Lehr-Lernprozesse positiv zu nutzen. Doch um diese Möglichkeiten für die Förderung des historischen Lernens als primäres didaktisches Ziel des Geschichtsunterrichts voll ausschöpfen zu können, muss vorerst eine Studie Klarheit über den Ablauf des Lernprozesses von Schülerinnen und Schülern beim Umgang mit dieser Quellengattung schaffen. Demnach soll meine interdisziplinäre Studie zuerst einmal die grundsätzliche Fragestellung beantworten, was und wie Schülerinnen und Schüler beim Durchführen einer archäologischen Ausgrabung lernen, um basierend auf diesen Ergebnissen Reflexionen über zukünftige Formen der Einbindung von archäologischen Themen und Quellen in den Geschichtsunterricht an Schulen anzustellen.
2
Archäologie im Geschichtsunterricht als Gegenstand didaktischer Untersuchungen
Dem Potenzial der Archäologie im Bereich der Bildung wurde bisher relativ wenig Beachtung geschenkt. 2006 publizierte Miriam S8n8cheau in ihrer Dissertation die Ergebnisse ihrer umfassenden Untersuchung zu der Darstellung von Archäologie in Schulbüchern, Unterrichtsfilmen sowie Kinder- und Jugendliteratur mit dem Fokus auf ur- und frühgeschichtlichen Themen. Dabei deckte sie eine immense Anzahl an falschen Informationen auf und plädierte infolgedessen unter anderem für einen stärkeren Einbezug von Archäologinnen und Archäologen in Schulbuchverlagen.6 Stefanie Samida, ebenfalls Archäologin der Ur- und Frühgeschichte, widmete sich überdies in mehreren Artikeln der öffentlichen Präsentation von Archäologie. Einen Schwerpunkt legte sie in ihrem Artikel von 2010 auf die Medien, in denen das Klischee der Archäologinnen und Archäologen als »Schatzsucherinnen und Schatzsucher« beziehungsweise »Abenteurerinnen und Abenteurer« gefördert werde.7 Bereits im November 2004 entstand auf Initiative der Gesellschaft für Archäologie in Bayern und unter Einbeziehung verschiedener Didaktikerinnen 5 Vgl. Heese 2007, S. 11–26. 6 Vgl. S8n8cheau 2006, S. 811. 7 Vgl. Samida 2010a (Anm. 1), S. 40f.
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und Didaktiker die Weißenburger Erklärung. Diese betont den Wert archäologischer Themen für den Geschichtsunterricht und macht Vorschläge dazu, wie die Archäologie in Schulen gestärkt werden könne. Zwölf Jahre nach der Verabschiedung des Dokumentes zieht S8n8cheau eine zwiespältige Bilanz, da die Bemühungen um die Integration von Archäologie in Schulen lediglich in einem von 16 Bundesländern in Angriff genommen wurden.8 2012 brachte eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte (DGUF) in Dresden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Fachwissenschaft und Fachdidaktik zusammen, die sich erneut dem Thema »Archäologie und Schule« näherten. Wolfgang Hasberg verfasste dazu einen wegweisenden Artikel zum historischen Lernen mit archäologischen Quellen. Gleichzeitig griff der Autor die langjährige Forderung Samidas nach der Etablierung einer eigenständigen sogenannten »Archäologiedidaktik« neben der Geschichtsdidaktik auf. Laut Samida soll diese sich »die Vermittlung und die Wirkungsweise ihrer Wissenschaft und der von ihr erforschten Vergangenheit in der Gesellschaft zur Aufgabe machen und eine fachübergreifende archäologischdidaktische Methodik entwickeln«9. Hasbergs Reaktion auf diese Forderung ist unmissverständlich. Er verwirft die Idee mit folgender Begründung: »Wenn es […] um eine spezifische Weise historischer Erkenntnis geht, dann kann dafür keine eigenständige Didaktik begründet werden«10. Eine Methodik allein benötige demnach keine eigene didaktische Grundlage. Dadurch wird deutlich, dass die Positionen der Archäologinnen und Archäologen und der Didaktikerinnen und Didaktiker teilweise sehr weit auseinander liegen. Hasberg ist eine der wenigen Personen, die sich dieser Thematik aus einer geschichtsdidaktischen Perspektive intensiv angenommen haben, wenn auch seine kurzen Beiträge im allgemeinen theoretischen Rahmen angesiedelt sind. Die Abwesenheit von Geschichtsdidaktikerinnen und –didaktikern in diesem Diskurs ist mit Blick auf die gängige Forschungsliteratur bemerkenswert, sodass Samida unter anderem der Geschichtsdidaktik sogar ein »offensichtliches Desinteresse«11 an einer interdisziplinären Zusammenarbeit vorwirft. Den Ursprung dieses Missverhältnisses sieht sie in der mangelnden Integration der Archäologie in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern und fordert daher mit Bezug auf die Weißenburger Erklärung eine umfassende Reform. Die Unterschiede der Methodiken der historischen Forschung (Rückgriff auf Schriftquellen) und der archäologischen Forschung (Rückgriff auf materielle Hinterlassenschaften) sollen mit Hilfe bestimmter Inhalte erlernt 8 9 10 11
Vgl. S8n8chau 2016, S. 253–255. Samida 2010b (Anm. 4), S. 226. Hasberg 2012, S. 131. Samida 2010b (Anm. 4), S. 224.
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werden, um eine entsprechende Kompetenz bei der Vermittlung im Lehrberuf zu gewährleisten.12 Mit Blick auf die aktuellen Lehrpläne für die Schulen ist überdies festzustellen, dass der Ur- und Frühgeschichte zugunsten anderer Epochen immer weniger Platz eingeräumt wird.13 Dies macht eine Einbindung der Archäologie auf Grund zeitlicher Engpässe schwierig. Demzufolge muss in Anbetracht der Stoffreduzierung in Erwägung gezogen werden, auch bei der Behandlung anderer Zeitabschnitte im Geschichtsunterricht diese Methodik zum Einsatz zu bringen und entsprechende Kompetenzen zu fördern, zumal die älteren archäologischen Fächer wie das der Ur- und Frühgeschichte kein Monopol mehr besitzen. Vielmehr hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Entwicklung innerhalb der archäologischen Fächer vollzogen, indem nun die Archäologie der Moderne in der Forschung Berücksichtigung findet. Um die Relevanz des Fachgebietes zu betonen, hat der Deutsche Verband für Archäologie im Jahr 2017 Leitlinien verabschiedet, die zu einer Festigung bzw. Anerkennung der Teildisziplin beigetragen haben und den Wert archäologischer Quellen für den Zeitraum ab der zunehmenden Industrialisierung in Europa herausstellen.14 Eine Subkategorie stellt hierbei die Zeitgeschichtliche Archäologie mit dem Schwerpunkt auf der archäologischen Aufarbeitung von Orten dar, an denen nationalsozialistische Verbrechen stattgefunden haben.15 Im Hinblick auf das zunehmende Verschwinden von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, kann dieser Quellengattung eine kompensatorische Funktion bei der Vermittlungsarbeit beigemessen werden. Insbesondere aus geschichtsdidaktischer Sicht sind diese Entwicklungen innerhalb der wissenschaftlichen Archäologie nur zu begrüßen, weil sich hierdurch neue Forschungsperspektiven und Einsatzmöglichkeiten für den Geschichtsunterricht eröffnen, die es auszuloten gilt. Da die an dem Diskurs um eine potenzielle »Archäologiedidaktik« teilnehmenden Forscherinnen und Forscher meist als Expertinnen und Experten der Ur- und Frühgeschichte gelten, ist es notwendig, dass die Problematik aus einer geschichtsdidaktischen Perspektive angegangen wird, da hier eine epochenunabhängige Betrachtung möglich ist und dies gleichzeitig dem Wunsch nach einer engeren Zusammenarbeit zwischen Archäologie und Geschichtsdidaktik entgegenkommt. Infolgedessen setzt meine Studie ihren Schwerpunkt auf in Lehrplänen gängige Themenbereiche der mitteleuropäischen Frühgeschichte (»Varusschlacht«) und der Zeitgeschichte (NS-Herrschaft), mit dem Ziel, den
12 13 14 15
Vgl. ebd., S. 221. Vgl. u. a. Die Senatorin für Bildung und Wissenschaft 2010, S. 7. Vgl. Arndt et al. 2017, S. 236–245. Vgl. Theune 2014.
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Horizont der Einsatzmöglichkeiten der epochenspezifischen Archäologie im Geschichtsunterricht zu erweitern. Mit Blick auf den Forschungsstand zum Themenkomplex Archäologie und Gesellschaft zeigt Samida in ihrem Artikel eine Tabelle auf, die sich mit verschiedenen Aspekten der Erforschung von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur befasst16 (Tab. 1). Professioneller Aspekt
Fragestellung Welche Aspekte von Geschichte werden zur Rezeption angeboten und warum?
Beispiel Kampagne der Europäischen Union von 1994 »Archäologisches Erbe: Die Bronzezeit – Das erste goldene Zeitalter Europas«
Institutioneller Aspekt Einfluß von Schule, Museum etc. auf das historische Bewußtsein
Schulbuchforschung
Medialer Aspekt
Text- und bildorientierte Forschung
Darstellung von Archäologie/ Archäologen sowie der ur- und frühgeschichtlichen Vergangenheit im Film, Fernsehen, Presse, WWW etc.
Publikumsspezifischer Aspekt
Rezipientenforschung
Empirische Besucherforschung im Museum mittels qualitativer und quantitativer Methoden
Tab. 1: Aspekte der Erforschung von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur in Bezug auf Archäologie (Eigene Darstellung nach Samida 2006, S. 225).
Bei näherer Betrachtung der Tabelle fällt auf, dass zum institutionellen Aspekt im Bereich der Schulbuchforschung und zum medialen Aspekt in Bezug zur Darstellung von Archäologie mit Blick auf die Dissertation und Herausgeberschaften von S8n8cheau bereits umfassende Untersuchungen vorhanden sind. Der publikumsspezifische Aspekt blieb dagegen bisher gänzlich unbeachtet, sodass die Forderung nach vermehrter Rezeptionsforschung mehr als aktuell ist. In jedem Fall besteht ein dringendes Forschungsdesiderat im Bereich der Rezipienten- bzw. empirischen Sozialforschung, wenn Hasberg in seinem Artikel konstatiert: »Eine systematische Befassung mit dem Potenzial der Archäologie zur Beförderung des historischen Lernens existiert bislang nicht«17. Meine 16 Vgl. Samida 2006, S. 225. 17 Hasberg 2012, S. 129. Hasberg greift in diesem Zusammenhang eine weitere Forschungslücke auf, wenn er sagt, dass mangels »empirischer Untersuchungen in diesem Bereich niemand weiß, ob sie [die Motivationskraft] tatsächlich existiert oder gar im Rahmen des Geschichtsunterrichts vorausgesetzt werden kann«. Ebd., S. 130. Ebenso prangern Beiträge in archäologischen und geschichtsdidaktischen Werken das Fehlen empirischer Untersuchungen des Umgangs von Schülerinnen und Schülern mit archäologischen Quellen an:
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Studie versucht diese Forschungslücke zu füllen, indem sie bisher unbeachtet gelassene Felder der Geschichtsdidaktik beleuchtet und damit neue Möglichkeiten beim historischen Lernen eröffnet. Parallel dazu kann der Forschungsbeitrag die noch offene Frage nach der Legitimität einer »Archäologiedidaktik« diskutieren und neue Aspekte durch weitere Erkenntnisse in diese Meinungsverschiedenheit einbringen. Den theoretischen Bezugsrahmen für die Interpretation der Untersuchungsergebnisse stellt der Conceptual Change-Ansatz dar, wobei die Begriffsbezeichnung in der aktuellen Forschung sehr umstritten ist. Grundlage der ursprünglich in den naturwissenschaftsdidaktischen Fächern entwickelten Theorie ist die Annahme, dass Schülerinnen und Schüler ihr »naives« Alltagswissen zu einer bestimmten Thematik im Zuge einer geleiteten Intervention hin zu einem wissenschaftlicheren Verständnis modifizieren.18 Allerdings ist der Begriff »Change« in diesem Kontext eine unpassende Bezeichnung und sollte vielmehr durch »Enrichment« ersetzt werden, da die Jugendlichen ihre Konzepte nicht immer einem harten Wechsel unterziehen. Vielmehr kann von einer Konzepterweiterung bzw. -bereicherung gesprochen werden, die beispielsweise durch den Geschichtsunterricht initiiert wird. Im Folgenden soll daher konsequenterweise stets vom in der neueren Forschung aufgekommenen »Conceptual Enrichment«19 gesprochen werden. Bei der Anordnung von kognitiven Konzepten unterscheidet Limjn zwischen verschiedenen Formen, die Mathis in seinem Werk aufgreift und in insgesamt vier Ebenen darstellt: Begriffe, Konzepte, Erklärungsmuster erster Ordnung (substantive concecpts) und Erklärungsmuster zweiter Ordnung (second-order concepts).20 Bei jedem dieser Unterpunkte variiert das Verständnis von Schülerinnen und Schülern von Geschichte bzw. historischen Gegenständen zwischen auf der einen Seite alltagsweltlichen und auf der anderen Seite geschichtswissenschaftlichen Vorstellungen.21 Während Begriffe die »›Benennung‹ oder ›Bezeichnung‹ von Objekten, Sachverhalten, Ereignissen oder Einrichtungen aus der Vergangenheit oder Gegenwart«22 beschreiben, handelt es sich auf der Konzeptebene um eine Verknüpfung dieser zu Sinneinheiten, die Aussagen oder
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»Bislang liegen […] keine konkreten Untersuchungen vor, was und wie die Schüler [mithilfe der Archäologie] wirklich lernen«. Gutsmiedl-Schümann/Engelien-Schmidt 2012, S. 168 und vgl. Engelien-Schmidt 2012, S. 135. Vgl. Günther-Arndt 2006, S. 251–277. Vertreterinnen und Vertreter des radikalen Konstruktivismus unterstreichen in diesem Kontext, dass alle Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern bei der Lösung von historischen Problemstellungen als angemessen gesehen werden müssen. Vgl. ebd., S. 256. Vgl. Limjn 2002, S. 260. Vgl. ebd., S. 261ff. Vgl. Mathis 2015, S. 37. Ebd., S. 33.
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Behauptungen repräsentieren. Erklärungsmuster erster Ordnung dienen als theoretische Konstrukte zur Interpretation historischer Ereignisse, die sowohl wissenschaftsadäquat als auch alltagsweltlich sein können. Erklärungsmuster zweiter Ordnung werden auch als Meta-Konzepte betitelt, da sie sich auf Vorstellungen über den Erkenntnisgewinn von Geschichte beziehen und auf jeden Inhalt anwendbar sind wie zum Beispiel das Verständnis von Quellen.23
3
Methodischer Ansatz
Die qualitative Studie verfolgt den Ansatz einer möglichst dichten Beschreibung des zu untersuchenden Feldes, wobei das Verstehen individueller Perspektiven der Probandinnen und Probanden im Zentrum steht. Ziel des Verfahrens ist die Schilderung vorfindbarer Regelmäßigkeiten zur Formulierung allgemein gültiger Aussagen.24 Im Folgenden sollen daher aus Gründen der Transparenz kurz die Rahmenbedingungen in Form der Grabungsorte und des Samplings sowie die Vorgehensweise erläutert werden.
3.1
Grabungsorte und Sampling
Eine qualitativ-rekonstruktiv angelegte Interventionsstudie in Kombination mit der autofotografischen Methode erlaubt einen Einblick in die Reflexions- und Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern, die archäologische Ausgrabungen durchführen. Für dieses dreischrittige Datenerhebungsverfahren sollen insgesamt vier verschiedene Lerngruppen Angebote außerschulischer Lernorte wahrnehmen. Die Ausgrabungen finden zum einen im Museum und Park Kalkriese zur »Varusschlacht« statt, in dem seit kurzem pädagogisch aufbereitete Grabungscamps für Schulklassen angeboten werden, und zum anderen auf dem Gelände eines ehemaligen Außenlagers des Konzentrationslagers Neuengamme mit dem Namen »Schützenhof«, das sich im Bremer Stadtteil Gröpelingen befindet. Die »Varusschlacht« gilt als eines der wichtigsten Ereignisse der europäischen Geschichte und leistet(e) bei der Bildung einer nationalen Identität in Deutschland einen erheblichen Beitrag.25 Der Sieg der in Mitteleuropa ansässigen Stammesverbände im Jahr 9 n. Chr. unter der Führung des Cheruskers Arminius gegen die 23 Vgl. ebd., S. 36–40. Weitere Teilbereiche sind beispielsweise das Verständnis von Zeit, Raum, Wandel sowie die Aspekte Ursache, Erklärung, Beschreibung, Erzählung und Empathie, wobei nicht alle in jedem geschichtsdidaktischen Ansatz vertreten sind. Vgl. ebd., S. 39. 24 Vgl. Köster 2016, S. 9 und 30ff. 25 Vgl. Schnapp 2008, S. 11.
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von Publius Quinctilius Varus befehligten Legionen beendete die römischen Bemühungen, das Gebiet östlich des Rheins als eine römische Provinz zu vereinnahmen und fügte dem römischen Militär erhebliche Verluste zu. Die Entdeckungen von Tony Clunn im Jahr 1987 legten nahe, dass sich dieser Konflikt auf dem »Oberesch« bei Kalkriese ereignet haben könnte. Die archäologischen Untersuchungen dauern bis heute an, da der entscheidende Beweis für diese Theorie bisher noch ausgeblieben ist. Dass sich an diesem Ort eine militärische Auseinandersetzung zugetragen hat, wird hingegen nicht bezweifelt, denn entsprechende Funde, wie zum Beispiel die in diesem Zusammenhang oft präsentierte römische Helmmaske, können dies belegen. Das 2001 eröffnete Museum versucht die Authentizität der archäologischen Spurensuche vor Ort in seine pädagogischen Angebote mit einzubinden und ist daher mit seinen Dauer- und Sonderausstellungen gut besucht.26 Die Ausgrabung am ehemaligen Außenlager »Schützenhof« steht exemplarisch für die neueste Tendenz in der archäologischen Forschung, die im Zuge der Archäologie der Moderne auch verstärkt zeitgeschichtliche Plätze untersucht. Das Barackenlager auf dem sogenannten »Schützenhof«-Gelände bestand wenige Monate gegen Kriegende. Hier waren ca. 700 ausländische Zwangsarbeiter aus verschiedenen europäischen Ländern inhaftiert, die an der nahegelegenen Bremer Werft AG Weser Zwangsarbeit leisten mussten.27 Das in einem Wohngebiet befindliche Lager war bis vor Kurzem noch unerforscht, da es kaum Schrift- oder Bildquellen gibt. Um dem entgegenzuwirken, sollen archäologische Ausgrabungen Teile des Lagers oder auch des Lagerlebens rekonstruieren und auf diese Weise für die Bevölkerung sichtbar machen. Mit zwei Schulklassen wurde unter der Leitung der Bremer Landesarchäologin Prof. Dr. Uta Halle im Zuge meiner Studie vor Ort gegraben und dabei konnten neben einer Vielzahl an Funden unter anderem auch die Fundamente einer ehemaligen Häftlingsbaracke zu Tage gefördert werden. Im Anschluss an die Grabungen erfolgte die Präsentation und Auswertung der Fundstücke in der darauffolgenden Geschichtsstunde. Die thematische Varianz ist durch die ähnlichen curricularen Vorgaben der Bundesländer begründet, in denen der Ur- und Frühgeschichte auf Grund der Stoffreduzierung immer weniger Platz eingeräumt wird. Infolgedessen setzt meine Studie ihren Schwerpunkt auf in Lehrplänen gängige Themenbereiche der mitteleuropäischen Frühgeschichte (»Varusschlacht«) und der Zeitgeschichte (NS-Herrschaft), mit dem Ziel, den Horizont der Einsatzmöglichkeiten der epochenspezifischen Archäologie im Geschichtsunterricht zu erweitern. Da es sich bei den vom Museum und Park Kalkriese angebotenen Grabungscamps um 26 Vgl. Hanel/Wilbers-Rost/Willer 2016. 27 Vgl. Buggeln 2007, S. 376–378.
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nachgestellte Ausgrabungen handelt, die in eigens hierfür gebauten Holzhütten stattfinden, soll eine authentische Grabung in Bremen als Referenz dienen. Während die Schülerinnen und Schüler in Kalkriese unter museumspädagogischer Anleitung in nachempfundenen, mit Sand gefüllten Grabungsschnitten einbetonierte Funde freilegen und anschließend Repliken der Originale, die vor Ort in den letzten Jahrzehnten ausgegraben wurden, zum Analysieren und Bestimmen überreicht bekommen, durchlaufen die Jugendlichen in Kooperation mit der Landesarchäologie Bremen einen ähnlichen Prozess anhand authentischer Funde. Das Sampling der Studie erfolgt unter der Berücksichtigung altersspezifischer Aspekte. Um dem qualitativen Charakter gerecht zu werden, beschränkt sie sich auf vier Lerngruppen. Sowohl eine 9. bzw. 10. Klasse als auch ein Kurs der Sekundarstufe II nehmen am Grabungscamp in Kalkriese teil. Gleiches gilt für die Ausgrabung in Bremen. Von diesen Schulklassen sind jeweils sechs Schülerinnen und Schüler in die Befragung eingebunden, sodass sich die Zahl der Probandinnen und Probanden auf ca. 24 summiert. Die Wahl der Altersstufe ist darin begründet, dass Jugendliche des 9. und 10. Jahrgangs noch kein eigenständig ausgereiftes Geschichtsbild haben, sich jedoch bereits, auch in verbaler Hinsicht, reflektiert mit dem Gegenstand auseinandersetzen können. Im Kontrast dazu besitzen die jungen Erwachsenen bereits teilweise ein wissenschaftspropädeutisches Verständnis von Geschichte. Des Weiteren bestätigt Christian Noacks Stufenmodell der Entwicklung des Geschichtsbewusstseins, dass bei der Auseinandersetzung mit Geschichte in höheren Altersstufen, das heißt ab Ende der Sekundarstufe I, auf kognitiver Ebene tiefgreifende Schwerpunktsetzungen möglich sind.28 Bei der Erforschung der hier relevanten Fragestellung kommen demnach die unteren Klassenstufen nicht in Betracht, zumal auch das Potenzial der Archäologie für höhere Jahrgänge untersucht werden soll und eine Ausgrabung am ehemaligen Außenlager des Konzentrationslagers mit jüngeren Schülerinnen und Schülern unter anderem aus sicherheitstechnischen Gründen nicht durchführbar ist.
3.2
Datenerhebung und Auswertungsmethoden
Der Ablauf der Datenerhebung ist bei allen vier Ausgrabungen identisch. Bei der Pilotstudie wurde etwa eine Woche vor der Intervention/Ausgrabung die erste Gruppendiskussion mit den sechs Probandinnen und Probanden in der Schule geführt und ihre Präkonzepte im Hinblick auf Archäologie festgehalten. Die Gruppendiskussion gilt als ein bewährtes Verfahren in der empirischen Sozial28 Vgl. Noack 1994, S. 29ff.
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forschung, das vor allem auf Ralf Bohnsacks Modell kollektiver Orientierungsmuster basiert und seinen Ursprung Mitte der 1980er Jahre hat. Im gemeinsamen Gespräch sollte der Methodologie entsprechend die grobe Orientierung der Schülerinnen und Schüler abgelichtet und verschiedenste Erfahrungen, aber auch Meinungen zusammengetragen und diskutiert werden.29 Die Auswertung der Gespräche erfolgt mithilfe der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring, indem induktiv Kategorien gebildet werden, die bestimmte inhaltliche Aspekte näher beleuchten.30 Diese Methode bietet sich an, weil der Inhalt des Gesagten im Vordergrund der Analyse steht und dies bei der Beantwortung der Fragestellung zielführend ist. Am außerschulischen Lernort bekommen die Schülerinnen und Schüler Einwegkameras ausgeteilt, mit denen sie während des Aufenthaltes für sie interessante oder (emotional) ansprechende Motive festhalten sollen. Der Auftrag ist bewusst sehr offen formuliert, um den Probandinnen und Probanden eigene Schwerpunktsetzungen zu ermöglichen. Dieser Ansatz ist an die animative Methode der Autofotografie angelehnt, die im erziehungswissenschaftlichen Kontext bei sozialräumlichen Untersuchungen mit subjektiven Landkarten von Kindern und Jugendlichen Verwendung findet. Ziel ist es, dass die Probandinnen und Probanden ihre alltägliche Umgebung fotografieren und anschließend kommentieren, um als Forscherinnen und Forscher dadurch eine subjektive Perspektive auf den zuvor bestimmten Gegenstand zu bekommen.31 Mit dem Einbezug dieser Methode im Bereich der empirischen Forschung der Geschichtsdidaktik wird ein neuer Ansatz verfolgt, der die Möglichkeiten der Erforschung von Lernprozessen erweitern soll. Der Sozialraum wird im Zusammenhang mit der Studie auf die geografischen Gegebenheiten der außerschulischen Lernorte beschränkt. Die Fotografien sind durch ihre Perspektivität sehr persönlich geprägt, was einerseits einen tiefen Einblick in die Wahrnehmung der Ereignisse aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler erlaubt und andererseits eine erzählgenerierende Funktion während des Postinterviews bieten kann. Überdies ist es ein Vorteil, dass das Fotografieren im Zuge der Etablierung von Smartphones bei Jugendlichen eine alltagsnahe Tätigkeit ist, sodass diese im Umgang damit bereits vertraut sind. Dabei ist jedoch die Einschränkung gegeben, dass auf dem Film der Einwegkamera selbst lediglich Platz für 25 Fotografien ist, sodass sich die Jugendlichen auf das für sie Wesentliche fokussieren müssen. Die Auswertung dieser Fotografien geschieht in Anlehnung an die Lebensweltbezogene Bildhermeneutik nach Horst Niesyto, bei der die Interpretation 29 Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010, S. 7f. 30 Vgl. Mayring 2012, S. 468–475. 31 Vgl. Kirsch 2009, S. 115ff.
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der Fotografien hermeneutisch durchlaufen wird. Die Forscherinnen und Forscher stellen zuerst eigene Überlegungen an, bevor im Gespräch mit den Produzentinnen und Produzenten neue Lesarten zum Vorschein kommen.32 In der zweiten Gruppendiskussion nach der Ausgrabung berichten die Probandinnen und Probanden von ihren Eindrücken und erklären sich gegenseitig, was sie warum und wie mit der Kamera abgelichtet haben. Dabei stellen sie auch untereinander Nachfragen. Dies gibt wiederum auf der Grundlage der übergeordneten Themenkomplexe im Vergleich mit den Präinterviews einen Einblick in die Prozesse des historischen Lernens sowie der möglichen Modifikation von Präkonzepten. Des Weiteren dient das Abschlussgespräch als Reflexion über die mögliche Konzeptveränderung bezüglich der Archäologie. Folglich bietet diese Triangulation innerhalb der qualitativen Methode den Mehrwert, das (historische) Lernen aus geschichtsdidaktischer Perspektive prozessbegleitend zu beobachten. Dies gibt letztendlich Aufschluss über die Orientierung Jugendlicher unterschiedlicher Altersstufen im Hinblick auf Geschichte und Archäologie.
4
Erste Ergebnisse der Pilotstudie
Die Pilotstudie fand im Mai 2018 statt und diente zur Überprüfung der Realisierbarkeit der geplanten Studie, vor allem in Bezug auf die Einwegkameras. Eine Schulklasse besuchte hierfür das pädagogische Programm des Museum und Park Kalkriese in Form des Grabungscamps. Aus organisatorischen Gründen diente eine 6. Klasse als Sampling, wobei der Altersunterschied zu den angestrebten Klassenstufen für die Datenerhebung des ersten Durchlaufes unerheblich war, da die Überprüfung der anzuwendenden Methoden im Fokus des Interesses stand. Dennoch lieferten die Interviews einige interessante altersspezifische inhaltliche Ergebnisse über die Konzepte der Schülerinnen und Schüler zu Archäologie. Die erste Gruppendiskussion hat ergeben, dass das Präkonzept der Schülerinnen und Schüler sehr vielseitig ist. Für sie besteht Archäologie vorwiegend aus der Suche nach Funden – Befunde bleiben dabei allerdings außen vor : »Also um ehrlich zu sagen, am Anfang wusste ich gar nicht, was Archäologie ist, bloß mir ist es dann halt wieder eingefallen: ›ah, was mit Ausgraben und mit Knochen finden‹«33. Immer wieder werden Funde mit Knochen von Lebewesen gleichgesetzt, sodass hier eine gewisse Faszination deutlich wird, wenn es um derartige Überreste geht. Die Suche nach Objekten beinhaltet dabei das Lösen von Rätseln und die Verifizierung oder Falsifizierung von Legenden wie beispielsweise die um »Loch Ness«. Im Gespräch stellte sich heraus, dass die Kinder den Bergbau 32 Vgl. Niesyto 2006, S. 280–284. 33 Gruppendiskussion 1, Z. 871–874.
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ebenfalls als eine Form archäologischer Grabung erwähnten oder auch das Sammeln von Regenwürmern aus dem Boden: »Da sind wir auch mal in ein Museum gefahren. Da kann man halt auch was ausgraben und so. […] Ich glaube, das war Bergbau oder irgendwie sowas«34. Dadurch lässt sich feststellen, dass jedwedes Bergen von Gegenständen aus dem Boden als ein archäologischer Vorgang gesehen wird. Die Archäologinnen und Archäologen selbst genießen bei den Kindern ein sehr hohes Ansehen. Das zeichnet sich unter anderem darin aus, dass sie, wie im Gespräch vermutet wurde, auf Grund ihrer vielen Arbeit nur sehr wenig schlafen. Außerdem haben sie gute Noten in den vermeintlich wichtigen Fächern wie den Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Andere Fächer wie Englisch oder Deutsch sind laut Aussage der Probandinnen und Probanden aber irrelevant, um später als Archäologin oder Archäologe arbeiten zu können. Dieses Wissen über Archäologie haben die Kinder vorwiegend über ihre Familien und gängige Medien wie Bücher, Dokumentationen oder auch Hörspiele. Hierbei wurden Sendungen wie »Galileo«, »Wissen macht Ah!« oder auch »Bibi Blocksberg« genannt. Sowohl die Medien als auch die Eltern und Großeltern tradieren somit ein bestimmtes Bild von Archäologie, das die Kinder aufnehmen und übernehmen. Es zeichnet sich folglich ein sehr differenziertes, aber auch teilweise klischeeträchtiges Konzept ab, das die Kinder im Vorfeld von Archäologie besitzen und mit dem sie die Exkursion nach Kalkriese angetreten haben. Bei den Fotografien der Schülerinnen und Schülern gab es einige Komplikationen. Zum einen ist die Qualität der Einwegkameras ungenügend und zum anderen ist das Entwickeln der Bilder leider nicht problemlos vonstatten gegangen, sodass diese nicht rechtzeitig zur darauffolgenden Gruppendiskussion vorlagen. Daher können sie nicht im Rahmen der Pilotstudie in die Auswertung mit einbezogen werden. Das Foto auf Abbildung 1 habe ich selbst während des Aufenthaltes aufgenommen und den Schülerinnen und Schülern im zweiten Gespräch als Diskussionsgrundlage vorgelegt. Nichtsdestotrotz fand eine zweite Gruppendiskussion in improvisierter Form ohne die Bilder statt und lieferte ebenfalls richtungsweisende Ergebnisse. Erste Assoziationen zu dem vergangenen Besuch im Museum und Park Kalkriese bezogen sich direkt auf die gefundenen Objekte oder die Ausgrabung selbst, möglicherweise weil die Kinder durch die individuellen Erlebnisse einen persönlicheren Bezug hierzu hatten. Im Gespräch erzählten die Schülerinnen und Schüler auch von ihren Eindrücken während der Ausgrabung. Die Reflexion über die Funde anhand der vorgelegten Fotografie führte sogar soweit, dass eine Schülerin meinte, dass
34 Gruppendiskussion 1, Z. 216f. u. Z. 240.
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Abb. 1: Schülerinnen und Schüler beim Freilegen von Funden im Grabungscamp in Kalkriese
nicht nur Knochen, sondern alle Funde auf ihre »eigene Art«35 wertvoll seien. Darüber hinaus hat sich das Bild von Archäologie in manchen Punkten bestätigt, etwa die Annahme, dass präzise gearbeitet werden muss. In anderen hat es sich wiederum verändert, wenn eine Schülerin davon sprach, dass sie eigentlich Knochen erwartet hätte bei der Ausgrabung und nicht unbedingt Artefakte. »Aber war die archäologische Ausgrabung wie du dir das vorgestellt hast vorher? – Nein, eigentlich nicht. Also ich dachte wirklich, da wären Knochen oder so«.36 Eine andere Teilnehmerin war sehr fasziniert davon, dass man die Objekte doch nicht direkt nach der Freilegung bestimmen konnte, da sie in kultureller Hinsicht 35 Gruppendiskussion 2, Z. 441. 36 Gruppendiskussion 2, Z. 523–526.
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teilweise doch sehr fremd waren. Wiederum ein anderer Schüler war darüber erstaunt, dass der zu untersuchende Bereich doch nicht erst abgesteckt werden muss, so wie er sich das immer vorgestellt hatte. Da es laut der Kinder keine Nachbereitung des Grabungscamps im Unterricht gab, musste der Mehrwert individuell erschlossen werden, wobei die Schüler davon sprachen, dass sie sich für die Klassenarbeit in der Schule dank der Exkursion »Eselsbrücken« bauen konnten: »›Der Feldherr Varus‹ stand da. Nur ich wusste nicht, was ein Feldherr ist und dann hatte ich überlegt, überlegt: ›Was ist denn das?‹ und dann: ›aha! Museum, Varusschlacht!‹«37. Bei der Einordnung dieser Ergebnisse in den theoretischen Bezugsrahmen nach Mathis werden unter anderem drei Aspekte sichtbar, bei denen eine Konzeptveränderung zur Archäologie bei den Schülerinnen und Schüler stattgefunden hat. Im ersten Gespräch wurden die Bezeichnungen »Funde« und »Knochen« von Lebewesen analog zueinander verwendet. Nach der Exkursion kam dieses Missverhältnis zur Sprache, indem eine Schülerin offenlegte, dass sie eigentlich der Überzeugung gewesen war, vor Ort ausschließlich Knochen auszugraben. Für einige Kinder hat die Durchführung der Ausgrabung dementsprechend eine Konzepterweiterung auf der von Mathis definierten »Begriffsebene« bewirkt, da ihnen bewusst geworden ist, dass verschiedenstes Material gleichwertig unter der Bezeichnung »Fund« betrachtet werden kann.38 Darüber hinaus bestand im Präinterview noch die Auffassung, dass beim Freilegen von archäologischen Quellen direkt eine Interpretation erfolgen kann. Mit der Durchführung der Ausgrabung wurde den Kindern hingegen in Bezug auf Quellen teilweise bewusst, dass jede Art von Objekt früherer Zeiten, der sie begegnen, ihnen sehr fremd sein kann und aus ihrer Zeit heraus verstanden werden muss, weil sie zum einen mit heutigen Gegenständen nicht zu vergleichen ist und zum anderen einer näheren Analyse bedarf, bevor Interpretationen dazu getätigt werden können. Diese neue Erkenntnis werden sie vielleicht bei der kommenden Betrachtung von (archäologischen) Quellen berücksichtigen, sodass hier eine Veränderung auf der metakonzeptuellen Ebene zu Geschichte stattgefunden hat.39 Allerdings gab es auch einen Aspekt, der möglicherweise zu einer Konzeptveränderung geführt hat, die von den Museumspädagoginnen und –pädagogen so wohl nicht beabsichtigt ist. Im Grunde genommen hatte ein Schüler vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen die »richtige« Vermutung, dass das Ausgrabungsgebiet zuerst abgesteckt werden müsse. Durch die Simplifizierung 37 Gruppendiskussion 2, Z. 821f. 38 Vgl. Mathis 2015 (Anm. 21), S. 33. 39 Vgl. ebd., S. 36ff.
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der Ausgrabung im Rahmen des pädagogischen Programms fiel dieser Punkt jedoch weg, was die Vorstellungen des Schülers auf der Konzeptebene in diesem Punkt zwar eventuell nicht veränderte, aber zumindest etwas verunsicherte.40 Letztendlich lässt sich festhalten, dass sich mit der Durchführung der archäologischen Grabung die Präkonzepte der Schüler teilweise verändert haben. Es liegt auf der Hand, dass die Pilotstudie die Konzeptveränderungen nicht lückenlos abbilden kann, weil die Ergebnisse ausschließlich auf den explizierten Äußerungen der Schülerinnen und Schüler basieren. Trotzdem wurde mithilfe der Beiträge ersichtlich, dass die Kinder ihre Vorstellungen von Archäologie sowohl auf der Begriffs- als auch auf der metakonzeptuellen und konzeptuellen Ebene unterschiedlich stark modifiziert haben, sodass hieraus ein Lernerfolg sichtbar wird.
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Forschungsperspektiven
Auf der Grundlage der gesammelten Erfahrungen bei der Durchführung der Pilotstudie wurden inzwischen verschiedene Gesichtspunkte des Projektdesigns im Hinblick auf die Hauptuntersuchung optimiert. Mit dem Ziel, die Wahrscheinlichkeit des Datenverlustes zu verringern, werden beispielsweise die Schülerinnen und Schülern bei den folgenden Ausgrabungen mit Digitalkameras ausgestattet. Damit kann auf pragmatischer Ebene das rechtzeitige Vorliegen der aufgenommenen Fotografien für das zweite Gespräch gewährleistet werden. Darüber hinaus ist vorgesehen, zukünftig Einzelinterviews an Stelle der Gruppendiskussionen zu führen, denn in der neuesten geschichtsdidaktischen Forschung zum Conceptual Enrichment-Ansatz hat es sich bereits bewährt, die Schülerinnen und Schüler isoliert zu betrachten, um mit Blick auf den theoretischen Bezugsrahmen individuelle Konzeptveränderungen besser sichtbar werden zu lassen.41 In jedem Fall hat meine Pilotstudie bereits deutlich werden lassen, wie immens wichtig es ist, mit den Schülerinnen und Schülern im Anschluss an die archäologische Ausgrabung ein Gespräch über die Exkursion zu führen, damit diese das Erlebte reflektieren bzw. in die bestehenden Konzepte besser einordnen können und auf diese Weise der Lerneffekt im Sinne eines Conceptual Enrichments gesteigert werden kann. In der vorliegenden Pilotstudie mussten die Kinder den Mehrwert für sich selbst und damit ohne unterstützende Hinweise durch die Lehrkraft erschließen, wodurch leider einiges Potenzial der Exkursion verloren ging.
40 Vgl. ebd., S. 34. 41 Vgl. Fenn 2018, S. 157ff.
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Offen bleiben nun noch die Fragen, inwiefern derartige Konzeptveränderungen bei älteren Schülerinnen und Schülern vollzogen werden und welchen Mehrwert die Fotografien sowohl bei der Gesprächsführung als auch bei der Auswertung bieten. In Bezug auf die Ausgrabungen am ehemaligen Konzentrations-Außenlager »Schützenhof« in Bremen wurden im Rahmen der Hauptstudie sowohl die Gespräche als auch die Exkursionen selbst bereits durchgeführt. Die erste Sichtung der Daten hat ergeben, dass beispielsweise die Fotografien unter anderem ihrem erzählgenerierenden Anspruch gerecht werden konnten, indem es den Schülerinnen und Schülern leichter fiel, auf der Basis ihrer Bilder ihre persönlichen Eindrücke näher zu erläutern. Darüber hinaus konnten in den Einzelinterviews die Prä- und Postkonzepte isoliert abgebildet werden, sodass durchaus individuelle Veränderungen sichtbar wurden, was die Vorstellungen von archäologischem Arbeiten oder auch das Verständnis von Quellen betrifft. Insgesamt betrachtet wird es zudem die zukünftige Aufgabe meines Dissertationsprojektes sein, die Untersuchungsergebnisse noch stärker in den geschichtsdidaktischen Forschungskontext einzuordnen, um hieraus weiterführende Befunde in die Diskussion um eine potenzielle »Archäologiedidaktik« einbringen zu können. Damit sollen sie einen Anstoß geben, die Potenziale der Archäologie für den Geschichtsunterricht im Hinblick auf die noch erstaunlich leere Forschungslandschaft in diesem geschichtsdidaktischen Bereich endlich zu eruieren und nutzbar zu machen.
6
Literaturverzeichnis
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Johanna Sachse
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Bildnachweis Abbildung 1: Fotografie am 9. Mai 2018 im Museum und Park Kalkriese von Johanna Sachse aufgenommen.
Corinna Link (Georg-August-Universität Göttingen)
»Der deutsche« und »der englische« Blick auf »Imperialismus/Imperialism«: Concept Mapping als Methode zur Erfassung kultureller Geschichtsbilder im bilingualen Unterricht
1
Fragestellung
Geschichte ist eines der am häufigsten bilingual unterrichteten Fächer. Dass diese Form des Unterrichtens Vorteile für die Fremdsprache mit sich bringt, ist inzwischen in diversen und breit angelegten Studien belegt.1 Fragt man aus geschichtsdidaktischer Perspektive nach einem möglichen Mehrwert bilingualen Unterrichts, rückt in der Regel die Förderung des Umgangs mit interkultureller Perspektivität in den Fokus.2 Sowohl für Unterricht, der diese interkulturelle Perspektivität anstrebt, als auch für Forschung, die einen Lernerfolg in diesem Kompetenzbereich untersucht, ist zunächst eine klare Definition der kulturellen Perspektiven vonnöten. Für den deutsch-englischen bilingualen Unterricht hieße das, »die deutsche« und »die englische« Perspektive zu kennen, um dann interkulturell damit arbeiten zu können. In diesem Beitrag möchte ich mich auf die Frage konzentrieren, wie diese Perspektiven fassbar gemacht werden können. Einzuordnen sind die beiden kulturellen Perspektiven in das Raster zeitgebundener Perspektivität, die Klaus Bergmann durch die Unterscheidung von »Multiperspektivität« und »Kontroversität« für den Geschichtsunterricht methodisch fassbar gemacht hat:3 Der Begriff der »Multiperspektivität« steht für die zeitgenössischen Perspektiven auf Quellenebene, »Kontroversität« bezeichnet die heutigen Perspektiven auf die Vergangenheit. Im bilingualen Geschichtsunterricht nun werden diese beiden zeitlichen Ebenen ergänzt durch die kulturbedingten Perspektiven, zum einen auf Quellenebene, zum anderen auf der Ebene von heutigen Darstellungen. Damit kann die Förderung des Umgangs mit 1 Vgl. etwa Zydatiß 2007. 2 Andere Begrifflichkeiten in diesem Zusammenhang sind: »Fremdverstehen«, »Multiperspektivität«, »Perspektivenwechsel«, »Perspektivenübernahme«, »Perspektivendifferenzierung«, »Alterität«, »Transkulturalität« u.v.m. Beispielhaft: Beetz et al. 2005, S. 15–50; Clemen 2007, S. 708–723; Kollenrott 2008; Lamsfuß-Schenk 2008; Christ 2000. 3 Bergmann 2004, S. 66.
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»interkultureller Multiperspektivität« und mit »interkultureller Kontroversität« als spezifisches Ziel von bilingualem Geschichtsunterricht ausgemacht werden. Kritisch kann man nun einwenden, dass es im bilingualen Geschichtsunterricht zwar näherliegen mag, verschiedensprachige Quellen in einem interkulturellen Quellenarrangement miteinander zu vergleichen, dass dies aber ebenso gut im monolingualen Unterricht möglich ist:4 Auch hier können selbstverständlich englische Quellen im Original besprochen werden. Auf Englisch besprochen werden sie aber nur im bilingualen Unterricht. Das Spezifikum des bilingualen Geschichtsunterrichts ist also der sich in der Fremdsprache formende Blick auf die Geschichte. Das besondere Potenzial des Geschichtsunterrichts in der Fremdsprache liegt somit weniger in der Multiperspektivität als vielmehr in der womöglich entstehenden interkulturellen Kontroversität. Empirische Untersuchungen zu der Frage, ob die Kompetenz, mit interkultureller Kontroversität umzugehen, im bilingualen Unterricht besonders gefördert wird, fehlen bislang. Diesem Desiderat widmet sich daher mein Forschungsprojekt. Dafür ist es zunächst notwendig, interkulturelle Kontroversität ausfindig zu machen: Es gilt, »den deutschen« und »den englischen« Blick auf Vergangenheit zu erschließen.
2
Forschungsstand und Kontextualisierung
Perspektiven fassbar machen – das wird in der geschichtsdidaktischen Forschung zum bilingualen Unterricht auf unterschiedliche Weise versucht. Angenommen wird etwa, dass das Formulieren eines eigenen Textes durch Schülerinnen und Schüler, das sprachlich nah am Quellen- oder Darstellungstext orientiert ist, erfolgreiche Perspektivenübernahme anzeige.5 Diese Annahme impliziert, dass die zu übernehmende Perspektive im Ausgangstext vorliege.6 Diese im Text implizite Perspektivität, die sich in vom Autor geschaffenen Sinnzusammenhängen verbirgt, sichtbar und prägnant zu machen, ist ein aktuelles Anliegen in der Forschung zum bilingualen Unterricht. Das ist nicht nur nötig, um ein handhabbares Prozedere für interkulturelle Perspektivenvergleiche im bilingualen Unterricht anzubieten, sondern auch, um Perspektiven so vollständig wie möglich zu erfassen. Denn wie Michael Maset zu Recht anmerkt, ist das Gegenüberstellen von »zwei Sichtweisen« im bilingualen Unterricht problematisch, wenn »aus dem Urteil eines einzelnen historischen 4 So z. B. Hasberg 2004, S. 232. Ähnlich Maset 2015, S. 31f. 5 Clemen 2007 (Anm: 2). Entsprechend aus der Fremdsprachendidaktik: Lamsfuß-Schenk 2008 (Anm. 2). Kritisch zu Lamsfuß-Schenk: Hasberg 2004 (Anm. 4), S. 119–139. 6 So auch die grundsätzliche Annahme für Perspektivenübernahme im Geschichtsunterricht. Etwa: Dehne 2008, S. 132.
»Der deutsche« und »der englische« Blick auf »Imperialismus/Imperialism«
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Akteurs […] eine landesspezifische bzw. kulturelle Sichtweise konstruiert [wird]. Damit kann der Unterricht zur Stereotypisierung führen.«7 In der geschichtsdidaktischen Literatur überwiegt der Verweis auf Begriffe als »handliche sprachliche Symbole«8. In ihnen sei Perspektivität prägnant sichtbar. Vielversprechend scheint daher der Vergleich von »Völkerwanderung/barbarian invasion«9, »Wettlauf um die Kolonien/scramble for Africa«10 usw; ein Vergleich von Begriffen also, die sich zwar auf dieselben historischen Sachverhalte beziehen, die aber unterschiedliche Deutungen schon durch die sprachlich ausgelöste Konnotation nahelegen. Bei einer solchen Beschränkung auf einen Begriffsvergleich als Methode zur Erfassung von Perspektivität ergeben sich jedoch zwei Vorbehalte. Zum ersten ein unterrichtspragmatischer : Für eine Arbeit mit Perspektiven kann nur punktuell auf Begriffsvergleiche zurückgegriffen werden, denn nicht immer ergeben sich solche Begriffspaare. In weiten Teilen ist es die Arbeit am Quellen- und Darstellungstext, die die Grundlage des Geschichtsunterrichts bildet. Zum zweiten ist in theoretischer Hinsicht anzumerken, dass Vorsicht dabei geboten ist, die Arbeit mit Begriffen auf eine Arbeit mit den sprachlich ausgelösten Empfindungen, d. h. mit vordergründigen Wertungen zu beschränken. Stets gilt es, »das jeweils [hinter dem Begriff] stehende Konzept, auch die […] Rahmenbedingungen, Intentionen«11 und die komplexe Struktur12 des symbolhaft im Begriff Verkürzten zu berücksichtigen. Fruchtbarer als eine Arbeit mit Begriffen erscheint daher eine Untersuchung von Konzepten. So schlägt etwa Bärbel Diehr vor, Konzeptäquivalenzen und -unterschiede im bilingualen Unterricht zu untersuchen, um kulturelle Perspektiven nutzbar zu machen,13 und auch Christine Pflüger verweist unter Rückgriff auf Peter J. Lees substantive und second order concepts im geschichtsdidaktischen Sinne vertiefend darauf, dass sowohl historische als auch historiographische Konzepte zu untersuchen seien.14 Begreift man ein Konzept nun mit Diehr als »mentale Repräsentation eines umfassenden und vielschichtigen, aber in sich geschlossenen und strukturierten Wissensbestandteils«15, kann über die Konzeptstruktur Perspektivität aufgedeckt werden. Sowohl Sinnzusammenhänge, wie sie in den Quellen- und Darstellungstexten vorliegen,
7 8 9 10 11 12
Maset 2018, S. 463. Rohlfes 1997, S. 68. Barricelli 2009, S. 211; Wildhage/Otten 2009, S. 81. Schlutow 2016, S. 46ff. Gruner 2009, 8, S. 47. Für einen Überblick über die Forschung zu Konzepten und deren Struktur : Wolff 2002, S. 48ff. 13 Diehr 2016, S. 57–84; Lindemann et al. 2016, S. 261–274. 14 Pflüger 2016, S. 233–252. 15 Diehr 2016 (Anm. 13), S. 68.
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als auch konkret greifbare kulturelle Vergleiche, wie punktuelle Begriffsarbeit sie verspricht, können so berücksichtigt werden. Um Konzeptstrukturen aufzudecken, eignen sich Concept Maps.16 Sie erlauben es, Perspektivität aus einer Fülle von Texten zu erschließen, sichtbar und prägnant zu machen. Interkulturelle Perspektivenvergleiche werden so im Unterricht sowohl handhabbar als auch sehr umfassend, denn Concept Maps ermöglichen es, bei einer starken Reduktion von Text doch die Sinnzusammenhänge zu bewahren und so viele Deutungen zu integrieren. Eine Verkürzung auf das »Urteil eines einzelnen historischen Akteurs« ist durch die Möglichkeit der Aggregation vieler Quellen- oder Darstellungstexte in der Concept Map nicht mehr nötig, um kulturelle Konzepte zu benennen.
3
Methodischer Ansatz und Arbeitshypothesen
Concept Maps17 – so meine Arbeitshypothese – eignen sich, um in Texten repräsentierte Perspektiven sichtbar und prägnant zu machen. Hierbei handelt es sich um ein in anderen Fachkulturen bereits etabliertes Verfahren,18 das zum ersten Mal für geschichtsdidaktische empirische Forschung angewandt wird. Die Methode ermöglicht es, textuell verfasste Sinnzusammenhänge in Form von Propositionen, d. h. »kleinsten relationalen Wissenseinheiten«19, zu erfassen und auszuwerten. Über die Analyse der Propositionen hinaus erlaubt es die Concept Map-Methode durch die Unterteilung der abgebildeten Sinnzusammenhänge in sogenannte Knoten (Wörter in Vierecken) und Kanten (Pfeile) auch, einzelne Begriffe zu untersuchen. Anhand der Analyse von Knoten und Kanten kann die in der Geschichtsdidaktik bisher für den bilingualen Unterricht nahegelegte Methode der punktuellen Begriffsvergleiche in den Vergleich kulturell unterschiedlicher Konzepte integriert werden. So ermöglichen Concept Maps auf einer breiten Textbasis einen Vergleich sehr vollständiger kultureller Konzepte, die sich in Sinnzusammenhängen und Begriffen offenbaren. Mit ihnen kann also auch »der deutsche« und »der englische« Blick auf Vergangenheit erfasst werden. Besonders ergiebig ist ein interkultureller Vergleich dann, wenn perspektivenbedingte Unterschiede auftreten. Zu vermuten ist das etwa beim Konzept des
16 Novak 1990. 17 Grundlegende Literatur und Einsatzformen unter : https://cmap.ihmc.us/docs/learn.php [05. 12. 2018]. 18 Z. B. Psychologie, Biologiedidaktik, zunehmend werden Concept Maps auch als Lernmethode in Schulbüchern verschiedenster Fächer (u. a. Geschichte) insbesondere in England (teils in Abwandlung) genutzt: Edexcel GCSE History B, S. 187. 19 Wolff 2002 (Anm. 12), S. 51.
»Der deutsche« und »der englische« Blick auf »Imperialismus/Imperialism«
195
deutschen »Imperialismus« im Vergleich zum englischen »Imperialism«.20 Ein sehr umfassendes Bild des deutschen und des englischen historiographischen Konzepts ergibt sich durch eine breit angelegte Schulbuchanalyse. In Schulbüchern nämlich wird sowohl in der Quellenauswahl als auch im Darstellungstext die jeweils vorherrschende Vergangenheitsdeutung besonders deutlich.21 Die Materialgrundlage für meine Untersuchung bilden deshalb alle sechs im Jahr 2016 in Niedersachsen zugelassenen thematisch einschlägigen Gymnasialbände und die 2016 von den GCSE boards in Großbritannien empfohlenen entsprechenden Themenhefte. Um die historiographischen Konzepte von »Imperialismus/Imperialism« zu erschließen, wurden die Darstellungstexte in den diesbezüglichen Schulbuchkapiteln in Concept Maps übertragen. Aus jedem Schulbuch ergab sich so eine eigene, sprachlich aus dem Darstellungstext entnommene Map. Anschließend wurden diese Einzelschulbuchkonzepte zu je einem deutschen und einem englischen Großkonzept verbunden. Dabei wurden inhaltlich deckungsgleiche Bezüge vereinheitlicht; Propositionen, die in nur einem Schulbuch vorkamen, wurden ebenfalls integriert. Die Auswertung der Concept Maps ist insbesondere dort von Interesse, wo sich Unterschiede zwischen deutschem und englischem Konzept auftun. Diese Unterschiede offenbaren sich anhand bestimmter Propositionsnetze, die entweder nur im einen oder nur im anderen Konzept vorhanden sind oder die in beiden Konzepten vorhanden sind, aber je verschieden erzählt werden. Ich nenne solche Propositionsnetze neuralgische Teilkonzepte. In ihnen – so meine These – offenbaren sich im Detail die strukturellen Unterschiede zwischen dem deutschen »Imperialismus« und dem englischen »Imperialism«. Am Beispiel der neuralgischen Teilkonzepte »Britisch Indien/British India, the Raj« (vgl. Abb. 1 und 2) soll hier exemplarisch erörtert werden, wie diese strukturellen Unterschiede sich mit der Concept Map-Methode erschließen lassen. Ziel der Untersuchung wird es sein, den Nachweis zu führen, dass die Methode der Concept Map tatsächlich strukturelle Deutungsmuster und Differenzen zwischen ihnen erfasst. Das wird durch Analysen der Schulbuchtexte nachzuweisen sein, die sich im Folgenden jeweils an die Auswertungen der Propositionen anschließen. Um die Gefahr von Zirkelschlüssen auszuschließen, werde ich dabei auf solches Textmaterial aus den Schulbüchern zurückgreifen, das nicht bereits Eingang in die Concept Maps gefunden hat. 20 Vermutet wurde das z. B. von Wildhage 2009 (Anm. 9), S. 86, Maset 2015 (Anm. 7), S. 163, Schlutow 2016 (Anm. 10), S. 33ff. 21 Zur kulturell repräsentativen Rolle von Schulbüchern und der damit hier ebenfalls gültigen Begründung für die Auswahl der Materialgrundlage s. z. B.: Kahlert 2010, S. 41–56. Zur »Normierung von Basiswissen« im und durch das Schulbuch vgl. prägnant auch Besand 2005, S. 189–200; Jacobmeyer 2005, 4, S. 196–209.
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4
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Erste Exemplarische Ergebnisse
»Britisch Indien/British India, the Raj« ist sowohl im deutschen als auch im englischen Konzept von »Imperialismus/Imperialism« enthalten.22 Das neuralgische Teilkonzept wird jedoch jeweils unterschiedlich erzählt. East India Company East India Company
entstanden durch resulted from
A
Britisch Indien British India, the Raj
es gab there was
es gab there were
Indische Soldaten im 1. WK Indian soldiers in WWI
B
es gab there was
C
entstanden durch resulted from
D
E Beliebige Provinzeinteilung randomly partitioned provinces Hoffnung auf indische Unabhängigkeit hope for Indian independence verwirklicht durch realised through
Politische Beteiligung der Inder Indian participation in government
F
M. Gandhis passiver Widerstand M. Gandhi’s passive resistance
Abb. 1: Das deutsche neuralgische Teilkonzept zu »Britisch Indien«.23
Britisch Indien Bri!sh India, the Raj es gab there was C
es gab there were
B
Indische Soldaten im 1. WK Indian soldiers in WWI
es gab there was
entstanden durch resulted from
G
Beliebige Provinzeinteilung randomly partitioned provinces
Keine Politische Beteiligung der Inder no Indian participation in government
dann then
dann then
I
J
Kultursensible Provinzeinteilung Partition of provinces according to affected peoples’ will
Politische Beteiligung der Inder Indian participation in government
H Dankbarkeit für das britische Bemühen um ein besseres Verhältnis zum indischen Volk thankfulness for British efforts to improve relations with the Indian people
Abb. 2: Das englische neuralgische Teilkonzept zu »British India, the Raj«.24
22 Im Deutschen in den Schulbüchern: Das waren Zeiten, Horizonte, Mosaik, Zeiten und Menschen; im Englischen in den Schulbüchern: OCR und Edexcel GCSE (9–1). 23 Proposition A: Mosaik, S. 46; Zeiten und Menschen, S. 231; Proposition B: Horizonte, S. 51; Proposition C: Horizonte S. 50; Zeiten und Menschen, S. 231; Proposition D: Horizonte, S. 50, 51; Zeiten und Menschen, S. 231, 232; Proposition E: Horizonte, S. 51; Proposition F: Horizonte, S. 51, 53. 24 Proposition B: OCR, S. 73; Proposition C: OCR, S. 71; Proposition G: OCR, S. 70, 71; Proposition H: OCR, S. 73; Proposition I: OCR, S. 73; Proposition J: OCR, S. 72.
»Der deutsche« und »der englische« Blick auf »Imperialismus/Imperialism«
4.1
197
Deutung der neuralgischen Teilkonzepte
Die Konzentration auf die wesentlichen Unterschiede – grundsätzlich und hier beispielhaft auf die neuralgischen Teilkonzepte »Britisch Indien/ British India, the Raj« angewendet – ermöglicht es, die sich im Detail offenbarenden strukturellen Unterschiede des deutschen und des englischen Konzepts von »Imperialismus/Imperialism« zu benennen.
4.2
Britisch Indien: Genese oder Existenz?
Der zunächst offensichtlichste Unterschied zwischen den beiden Concept Maps ist die Erwähnung der »East India Company« nur im Deutschen (Abb.1 A): Sie hat Britisch Indien gegründet.25 Im Deutschen wird also der Zusammenhang zwischen Kolonialmacht und Kolonie untersucht; die britische Herrschaft in Indien wird von ihrer Genese her betrachtet. Im Englischen dagegen fehlt – wie die Concept Map deutlich zeigt – die »East India Company«; ein geradezu klassisches Indiz im Sinne der Concept Map-Methode. Und tatsächlich: Die inhaltliche Analyse der weiteren Schulbuchtexte zeigt, dass die Frage nach der Gründung und damit der Genese Britisch Indiens im Englischen grundsätzlich nicht behandelt wird. Sämtliche englischen Schulbücher verzichten in dieser Rahmenerzählung auf jeden chronologisch vorgelagerten Zusammenhang zwischen Kolonialmacht und Kolonie; im Fokus steht ausschließlich die Situation in den existierenden Kolonien. Dass und wie es zu all dem kam, wird – wenn überhaupt – in einem Nebensatz erwähnt.26 Ähnlich konsequent erweist sich übrigens auch das deutsche Deutungsmuster : Nicht nur im Falle der britischen Kolonialisierung, sondern bei allen kolonialen Unternehmungen (einschließlich der deutschen) wird das Bild eines von seiner Genese her zu begreifenden Herrschaftsaufbaus gezeichnet.27 Bereits die Auswertung der ersten propositionalen Differenz zwischen deutschem und englischem Teilkonzept offenbart so anhand einer scheinbaren Kleinigkeit – dem Fehlen einer Proposition – die Aussagekraft der Teilkonzepte und belegt damit die Wirksamkeit der Methode.
25 Mosaik, S. 46; Zeiten und Menschen, S. 231. 26 Vgl. OCR, S. 70: »As a result of the piece-by-piece way in which the British took over South East Asia, British India (or »the Raj« as it was often called) was a jumble of different states and provinces.« Ebenso in: Edexcel GCSE (9–1), S. 78. 27 Beispielhaft: Horizonte, S. 54ff.; Mosaik, S. 44ff.
198 4.3
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Die Präsenz in der Kolonie: Statik oder Prozess?
Die britische Herrschaft in Indien findet sich als Sinnzusammenhang sowohl im deutschen als auch im englischen Teilkonzept. Thematisiert werden jeweils die Landeinteilung in Britisch Indien (Abb. 1 C, Abb. 2 C und I) und die Art der politischen Herrschaft (Abb. 1 D, Abb. 2 G und J). Während diese Themen in der deutschen Concept Map jedoch nur in je einer Proposition Niederschlag finden, ergeben sich im Englischen pro Themenfeld je zwei aufeinanderfolgende Propositionen. Offenbar unterscheiden sich die Erzählungen hinsichtlich der Informationsdichte. Beide Maps enthalten die zustandsbeschreibenden Kanten »es gab/there was« (Abb. 1 C und D; Abb. 2 C und G). Nur in der englischen Map aber werden diese ergänzt durch die Kanten »dann/then« (Abb. 2 I und J), die einen zeitlichen Verlauf ausdrücken. Während also im Deutschen nur ein Zustand beschrieben wird, entwickelt sich nach der englischen Concept Map ein zweiter Zustand aus einem ersten. Wie die inhaltliche Analyse der übrigen Schulbuchtextstellen zeigt, entspricht der formal fassbaren Darstellung in den Concept Maps auch in diesem Fall ein je unterschiedliches strukturelles Deutungsmuster : Im deutschen Schulbuch wird das Bild einer Kolonialmacht gezeichnet, die »Britsch Indien als unmittelbar unterworfenes Gebiet« »unter ihre Herrschaft«28 – sei es auch eine »Herrschaft an der langen Leine« – bringt.29 Das britische Schulbuch dagegen legt Wert auf die Entwicklung, nach der sich das anfänglich ebenfalls negativ konnotierte Bild zum Positiven wandelt.30 Hier wird die Geschichte einzelner Vizekönige erzählt, die unterschiedliche Einstellungen zu ihrem Kolonialreich haben, unterschiedliche Herrschaftsformen praktizieren31 und schließlich eine Entwicklung befördern, die darin endet, dass der Vizekönig demokratische Reformen erlässt, die die Bevölkerung (in Delhi) begrüßt.32 Während also im Deutschen der Prozess der Entstehung der Kolonie eine Rolle spielt, aber nicht der Prozess der Herrschaftsentwicklung, ist es im Englischen genau umgekehrt.
28 29 30 31
Horizonte, S. 50. Zeiten und Menschen, S. 225. OCR, S. 70–73. Auf diese Entwicklung wird durch die direkte Schüleransprache zu Beginn des Kapitels auch noch einmal explizit hingewiesen: »In this section you will discover how three different Viceroys represented changing attitudes towards the Raj.«, OCR S. 70. 32 »This was hugely popular in Delhi«. OCR, S. 73.
»Der deutsche« und »der englische« Blick auf »Imperialismus/Imperialism«
4.4
199
Die indische Beteiligung am Ersten Weltkrieg: Hoffnung oder Dankbarkeit?
Es ist – wie auch die Concept Map zeigt – dieser Prozesscharakter, der der englischen Erklärung für die Beteiligung indischer Soldaten im Ersten Weltkrieg zugrundeliegt. Im Englischen nämlich nehmen sie aus »Dankbarkeit für das britische Bemühen um ein besseres Verhältnis zum indischen Volk« an dem Krieg teil (Abb. 2 H).33 Diese aus bereits Vergangenem sich ergebende Motivation kann es im Deutschen nicht geben, wo ein sich indischen Bedürfnissen annähernder Prozess britischer Herrschaft nicht erzählt wird. Die indische Motivation für eine Beteiligung am Ersten Weltkrieg wird stattdessen in der Nachkriegszukunft verortet: Im Deutschen beteiligen sich die Inder aus »Hoffnung auf Unabhängigkeit« (Abb. 1 E). Diese beiden geradezu konträren Motivationen werden in der Zusammenschau der Propositionen pointiert veranschaulicht. Strukturell unterschiedliche Perspektiven auf das Verhältnis von britischer Herrschaft und indischem Volk werden so sichtbar und prägnant. Um aufzuzeigen, inwiefern diese Unterschiede mit strukturellen Deutungsmustern zusammenhängen, sei auch hier unter Rückgriff auf weitere Schulbuchtexte exemplarisch auf zwei weitere Schilderungen der Beziehung von Briten und Indern verwiesen. So heißt es im englischen Schulbuch: »Concessions were made towards more Indian participation in government through the ›Morley-Minto Reforms‹ of 1909.«34 Im Englischen erkennt man auch in dieser Schilderung in den Indern Angehörige des Empire, die in einem gewissen Maße an diesem Empire – hier : an seinen Regierungsgeschäften – beteiligt sein möchten. Das schreibt dem Empire eine Bedeutung zu, die sich erst in diesem Wunsch der Kolonisierten, selbst Teilnehmer am Kolonialisierungsprozess zu sein, voll entfaltet: Der Wunsch nach Teilhabe an dem Neuen legitimiert das Neue selbst. Auch im deutschen Schulbuch heißt es: »Gebildete Vertreter der Mittelschicht verlangten mehr Einfluss auf die Regierung.«35 Während dieser Einfluss im englischen Schulbuch aber Ziel und Selbstzweck der indischen Bestrebungen ist, stellt er im deutschen Schulbuchabsatz einen Schritt im Zuge des »indische[n] Freiheitskampf[es]« gegen die »Fremdherrschaft« dar.36 Im Deutschen stellt man sich also offensichtlich vor, dass die Inder als vormals Unterdrückte nun frei sein wollten.
33 34 35 36
OCR, 73. OCR, 72. Horizonte, S. 51. Ebd. Vgl. auch die Rahmenerzählung des indischen Widerstands in Mosaik, S. 46, 47.
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Die inhaltliche Analyse dieses Materials aus dem weiteren Schulbuchkontext spiegelt also erneut die strukturelle, methodisch auch zuvor schon durch Propositionen erfasste Konzeptdifferenz: Im englischen Schulbuch ist der Inder ein Angehöriger des Empire, der im Ersten Weltkrieg als Teil dieses Empire kämpft. Im deutschen Konzept ist der Inder ein Kolonisierter, der kämpft, weil er diesen Krieg als Teil seines Befreiungskampfes vom Empire begreift.
4.5
Das Ziel von Imperialismus: Herrschaft oder Integration?
Die Analyse der unterschiedlichen Motivationen für die indische Beteiligung am Ersten Weltkrieg verweist auf unterschiedliche Vorstellungen darüber, was das Ziel imperialistischen Strebens sei. In Deutschland wird angenommen, dass Kolonialmächte herrschen wollen. So heißt es im deutschen Schulbuch ganz selbstverständlich: »Damit schien England seinem Ziel vom Aufbau einer britischen Weltordnung (»Pax Britannica«) einen Schritt nähergekommen zu sein.«37 Die deutende Übersetzung des Ausdrucks Pax Britannica nicht etwa als »britischer Frieden«, sondern als »britische Weltordnung« entfernt sich von der originären Konnotation dieses Begriffs, der, an das historische Schlagwort von der Pax Romana angelehnt, eigentlich ganz auf die friedensstiftende Macht des Großreiches abhebt.38 An die Stelle dieser Vorstellung tritt mit dem Begriff der »britischen Weltordnung« die Vorstellung einer allein im nationalen Interesse zu sichernden Ordnung. Damit zielt das deutsche Schulbuch aber nicht etwa auf eine Verunglimpfung speziell der Briten. Tatsächlich entspricht es mit dieser »Übersetzung« nur der grundsätzlichen deutschen Deutung der hinter jedem imperialistischen Streben stehenden Intention: Herrschaft. Ganz konsequent wird daher auch das entsprechende Streben aller anderen Großmächte – inklusive des Deutschen Reiches – mit eben diesem Wunsch nach Herrschaft begründet.39 Im Englischen dagegen ist offenbar nicht die Herrschaft selbst Ziel von Imperialismus, sondern die Akzeptanz dieser Herrschaft(sform) durch die sich hierein Integrierenden. Ein Blick auf die englische Beschreibung des (in diesem Sinne nicht erfolgreichen) deutschen »imperialen« Strebens andernorts verdeutlicht dies. So heißt es etwa: »Bismarck also attempted to assimilate ethnic minority groups within the new empire, such as the Poles in the east, the Danes in 37 Zeiten und Menschen, S. 231. 38 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Ausdruck Commonwealth. Begriffsarbeit, wie sie in der Geschichtsdidaktik zum interkulturellen Vergleich im bilingualen Unterricht vorgeschlagen wird, ist hier möglich. 39 Z. B. Horizonte, S. 46, Mosaik, S. 42, Forum, S. 38, 41, Geschichte und Geschehen, S. 174, Das waren Zeiten, S. 38.
»Der deutsche« und »der englische« Blick auf »Imperialismus/Imperialism«
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the north and the French in Alsace-Lorraine in the west. However, he was less successful in making these other nationalities adopt German imperial ambitions.«40 Dem »imperialen« Streben Bismarcks müsste also das Ziel zugrunde gelegen haben, die Angehörigen dieser »anderen Nationen« »deutsche Ambitionen« annehmen zu lassen – eine Vorstellung, die sich zwar im deutschen Schulbuch nirgends, dafür aber wiederholt im englischen Schulbuch findet. Dasselbe gilt auch für die Vorstellung des deutschen Schulbuchs, nach der stets zwischen der (imperialen) Errichtung des Kaiserreichs und dem imperialistischen Kolonialisierungsprozess zu unterscheiden ist41, während diese beiden Vorstellungen im Englischen ebenso konsequent zusammenfließen; eine Unterscheidung zwischen »imperial« und »imperialistisch« ist hier müßig oder sogar unmöglich. Unmittelbar anschließend an das vorherige Zitat etwa heißt es im britischen Schulbuch: »Germany wanted an empire, like Britain, and therefore wanted to expand its territory in Europe and in other continents.«42 Solche in den Schulbüchern immer wieder und in verschiedenen Sinnzusammenhängen anzutreffenden, sehr unterschiedlichen Vorstellungen vom Ziel imperial(istisch)en Strebens weisen also auf eine strukturelle Differenz zwischen deutschem und englischem Konzept hin. In diesem Fall zeigt sich das im Text so nachzuweisende strukturelle Deutungsmuster in den Concept Maps nicht so sehr durch den Vergleich der Propositionen als vielmehr anhand der Knoten, womit die Concept Map also auch für den traditionellen Begriffsvergleich Raum bietet. Während »Britisch Indien« im Deutschen ebenso verwendet wird wie »British India« im Englischen, erweitert allein das englische Konzept diesen Ausdruck um »the Raj« und gelangt so zu: »British India (or ›The Raj‹ as it was often called)«.43 Im englischen Schulbuch gibt es also einen zweiten Begriff, der in seiner Bezugnahme auf das »eingeenglischte« Maharaja originär indisch klingt. Im Deutschen dagegen unterbleibt die Einführung des englischen Zweitbegriffs. Und auch die naheliegende Vermutung, dass es im Deutschen vielleicht nicht in Bezug auf die englische Geschichte, sehr wohl aber in Bezug auf die deutsche womöglich zweite Bezeichnungen geben könne, erweist sich als falsch. »Deutsch-Südwestafrika« etwa bleibt stets »Deutsch-Südwestafrika«.44 Auch die Analyse der unterschiedlichen deutschen und englischen Begriffe gibt also Antworten auf die Frage nach dem Ziel von Imperialismus: Im Deutschen wird durch Possesivpronomina stets Besitz, stets eine »umfassende […] 40 AQA GCSE History, S. 55. 41 Diese Trennung findet sich bereits im Inhaltsverzeichnis: Forum, S. 2; Geschichte und Geschehen, S. 5, 6.; Horizonte, S. 3; Mosaik, S. 7; Zeiten und Menschen, S. 5, 6. 42 AQA GCSE History, S. 55. So auch in OCR, S. 11, 67, 68. 43 OCR, 70. 44 Z. B. Mosaik, S. 50. Genauso ebd.: »Deutsch-Ostafrika«.
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Beherrschung fremder Gebiete«45 veranschaulicht. Im englischen »Raj« dagegen konzeptualisiert sich die Idee einer Integration der bereits per se existierenden Welt hinein in ein englisches Ganzes. Methodisch bleibt festzuhalten: Auch der Begriffsvergleich findet in der Concept Map seinen Platz.
4.6
Imperialismus: Kann er funktionieren?
Das koloniale Streben mit dem Ziel der »umfassenden Beherrschung fremder Gebiete« ist natürlich mit deutlich negativeren impliziten Bewertungen verbunden als das koloniale Streben mit dem Ziel der Akzeptanz dieser Herrschaft(sform) durch die sich in sie hinein Integrierenden. Eben dies bringen auch die Concept Maps klar zum Ausdruck: Im Rahmen des englischen Konzepts von British India findet die Geschichte mit der vollständigen Integration der Inder im Ersten Weltkrieg ihr Ende. Von dieser letzten Proposition (Abb. 2 H) aus ergibt sich kein weiterer Sinnzusammenhang. Anders in der deutschen Map: Der Verweis auf Gandhis passiven Widerstand erscheint hier als logische Fortsetzung einer Geschichte, die sich von Anfang an und unveränderlich als »Freiheitskampf« dargestellt hatte. Dass diese Proposition im englischen Konzept fehlt, verweist klar genug auf eine strukturelle Konzeptdifferenz, die sich auch anhand weiterer rückbindender Schulbuchzitate noch einmal verdeutlichen lässt: Während im deutschen Konzept »die Inder« und »viele Inder« stets gegen Großbritannien eingenommen sind46, sind »many Indian soldiers […] for Britain«.47 Die Geschichten unterscheiden sich also fundamental, sachlich wie auch grafisch.
5
Perspektiven
Inhaltlich lassen sich, wie gezeigt, ausgehend von den neuralgischen Teilkonzepten »Britisch Indien/British India, the Raj« fünf strukturell unterschiedliche Deutungsmuster festhalten. So ist erstens in den deutschen Schulbuchdarstellungen der Zusammenhang zwischen Kolonialmacht und Kolonie als entscheidendes Moment für die Erzählung des Imperialismus eruiert worden. Daraus ergibt sich die Frage danach, wie es zur Kolonie kam. In den englischen Darstellungen wird dagegen die Kolonie selbst untersucht; die Frage danach, wie es 45 Horizonte, S. 46. 46 Horizonte, S. 51; Mosaik, S. 46, 47. 47 »Hardinge’s efforts to improve relations with the Indian people paid off in the First World War when many Indian soldiers fought for Britain.« OCR, S. 73.
»Der deutsche« und »der englische« Blick auf »Imperialismus/Imperialism«
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zur Kolonie kam, stellt sich nicht. Zweitens unterscheiden sich die Konzepte zum britisch-indischen Verhältnis in den Kolonien insofern, als in den deutschen Darstellungen von einem gegebenen Status hinsichtlich der Landeinteilung und der politischen Beteiligung, in den englischen dagegen von einer sich den indischen Bedürfnissen in diesen Punkten annähernden Entwicklung ausgegangen wird. Daraus resultieren drittens unterschiedliche Begründungszusammenhänge für die Teilnahme der Inder am Ersten Weltkrieg, die in den deutschen Darstellungen auf Freiheit hoffen, in den englischen mit der schrittweise erhaltenen Teilhabe am Empire zufrieden sind. Unter anderem hierin kommt viertens zum Ausdruck, dass dem imperialen Streben im deutschen Konzept das Ziel der Herrschaft, im englischen das einer integrativen Pax Britannica zugeschrieben wird. Je nach Zielvorstellung wird eine andere Geschichte zum Umgang mit den Indern und zur indischen Reaktion hierauf erzählt, die dann – und das ist die fünfte strukturelle Differenz zwischen deutschem und englischem Konzept – zu unterschiedlichen Lehren führt, die aus »Imperialismus« bzw. »Imperialism« gezogen werden: Imperialismus funktioniert aus Sicht der deutschen Schulgeschichtsbücher nicht; in den englischen Darstellungen unter bestimmten Bedingungen aber durchaus. So ist, um es auf den Begriff zu bringen, »Britisch Indien« nachweislich nicht dasselbe wie »the Raj«. Methodisch ist festzuhalten, dass sich Concept Maps eignen, um in Texten repräsentierte Perspektiven sichtbar und prägnant zu machen. Sie ermöglichen den Vergleich kulturell sehr vollständiger Konzepte dadurch, dass sie eine breite Textbasis pointiert visualisieren. So können in Concept Maps Gemeinsamkeiten und Unterschiede sicht- und nutzbar gemacht werden. Die zutage tretenden konzeptuellen Unterschiede können etwa in Form von neuralgischen Teilkonzepten interkulturelle Kontroversität aufzeigen. Und wie die exemplarische Analyse von »Britisch Indien/British India, the Raj« zeigen konnte, ermöglichen diese neuralgischen Teilkonzepte ein Verständnis struktureller Deutungsunterschiede. In ihnen offenbart sich Strukturelles im Detail. Sie stellen damit eine solide Grundlage für (z. B. interkulturelle) Vergleiche von Perspektiven dar. Für meine weiteren Untersuchungen zum Umgang bi- und monolingual unterrichteter Schülerinnen und Schüler mit interkultureller Kontroversität nutze ich sie deshalb als Ausdruck »des deutschen« und »des englischen« Blicks auf Vergangenheit.
204
6
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»Der deutsche« und »der englische« Blick auf »Imperialismus/Imperialism«
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Philipp McLean (Universität Frankfurt)
Normative Ansprüche an den Geschichtsunterricht – Mündigkeit als Zielvorstellung der historischen Bildung?1
1
Fragestellung
In den vergangenen Jahren wurde – vor allem im Nachgang des »PISA-Schocks« und der daran anschließenden Kompetenzdebatte – nach vorwiegend empirischen Kriterien für guten Geschichtsunterricht gesucht. Die bisher gefundenen Kriterien leiten sich mehrheitlich aus der Wirkungsforschung und der BestPractice-Forschung her. Sie wurden oft mit Triangulationsmethoden ermittelt, die die subjektiven Einstellungen verschiedener, am Unterricht beteiligter Gruppen erfassen sollen.2 Den Ansätzen ist gemeinsam, dass sie versuchen, die Gütekriterien für Unterricht funktional zu bestimmen. Qualitätskriterien für soziale Praktiken und Institutionen (wie den Geschichtsunterricht) lassen sich jedoch nicht rein funktional erfassen. Die Frage, ob eine Funktion angemessen, d. h. gut erfüllt wird, kann nur mit Bezug auf einen Referenzwert – eine Norm – beantwortet werden. Die Normenbegründung liegt dabei außerhalb der Funktionsmessung.3 Damit hängt die Frage, ob eine Norm funktional, d. h. gut ist, substanziell von den Zielen der entsprechenden Praxis ab. Dementsprechend stellt sich in der Debatte über den guten Geschichtsunterricht die Frage, welche Normen es sind, die als Referenzwert für die Bewertung herangezogen werden. Um die Antwort auf die Frage nach dem guten Geschichtsunterricht wird dabei im spannungsgeladenen öffentlichen, politischen 1 Die in diesem Aufsatz dargelegten Überlegungen entstanden im Zusammenhang mit meinem Dissertationsprojekt »Historische Mündigkeit? (Kritische) Analysen zur Bedeutung eines fachdidaktischen Begriffs«, welches ich innerhalb des Level-Projekt an der Goethe-Universität Frankfurt/M. verfolge. Das Projekt »Level – Lehrerbildung vernetzt entwickeln« wird im Rahmen der gemeinsamen »Qualita¨ tsoffensive Lehrerbildung« von Bund und La¨ ndern aus Mitteln des Bundesministeriums fu¨ r Bildung und Forschung gefo¨ rdert. An der Goethe-Universität Frankfurt am Main ist es in mehrere Fachverbünde aufgeteilt. Der Verfasser wirkten in dem sozialwissenschaftlich-historischen Fachverbund mit, der sich fachübergreifend insbesondere dem Leitziel der Förderung von Mündigkeit verpflichtet sieht. 2 Vgl. Pandel 2013, S. 419ff. 3 Vgl. Russell 2010; Jaeggi 2014, S. 165–177.
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und wissenschaftlichen Diskurs gerungen. Ziel dieses Beitrages ist es, einerseits theoretische Überlegungen vorzustellen, wie Aspekte dieses Spannungsverhältnisses systematisch in den Blick genommen werden können, und andererseits erste Ergebnisse einer solchen Analyse vorzustellen. Um den Fokus zu verengen und gleichzeitig ein konkretes Ziel der historischen Bildung in den Blick zu nehmen, wird die hier vorgestellte Analyse exemplarisch der Frage nachgehen, ob und wie – das heißt, mit welchen Ansprüchen und Vorstellungen – das Ziel der Mündigkeit an die historische Bildung herangetragen wird. Bei diesem Ziel handelt es sich seit den 1970er Jahren um ein zentrales Bildungsziel von Schule und Unterricht im Allgemeinen.4 Üblicherweise wird in den Curricula und Lehrplänen den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern eine besondere Verantwortung für die Ausbildung eines mündigen Verhaltens zugeschrieben.5 Die erste These ist daher : Die Relevanz der Forderung nach Mündigkeit im Diskurs über die historische Bildung ist so groß, dass die Diskursteilnehmer und -teilnehmerinnen um den Topos der Mündigkeit oder zumindest ihrer Teilaspekte, nicht herumkommen, wenn sie über die Zielsetzung der historischen Bildung diskutieren. Da die Verwendung des Begriffs der Mündigkeit in zahlreichen pädagogischen und nicht-pädagogischen Zusammenhängen oft mit einem Verlust an Bedeutungsschärfe einhergeht, kann der Begriff mit paradoxen normativen Inhalten gefüllt werden.6 Daher ist die zweite Forschungsfrage darauf zu richten, welche Ansprüche tatsächlich im Rahmen der Forderung nach Mündigkeit bzw. deren Teilaspekten erhoben werden. Es ist davon auszugehen, dass bei der Beantwortung dieser Frage zumindest einige wesentliche Aspekte der unterschiedlichen normativen Ziele der historischen Bildung in den Fokus der Untersuchung geraten. Entsprechend stellen sich die folgenden zwei Forschungsfragen: 1. Welche Relevanz besitzt das Bildungsziel der Mündigkeit im Diskurs über die historische Bildung? 2. Welche Ansprüche werden hinsichtlich der Mündigkeit an die historische Bildung gestellt? Beide Fragen werden zunächst vor dem Hintergrund eines deskriptiven Erkenntnisinteresses gestellt. Im weiteren Verlauf der Untersuchung geht dieses bei der zweiten Frage aber in ein kritisches Erkenntnisinteresse über. Die verschiedenen Forderungen und Ansprüche an den Geschichtsunterricht sollen, 4 Zentral: Beschluss der Kultusministerkonferenz 25. 05. 1973. Auf den auch in aktuellen Publikationen der KMK verwiesen wird. 5 In Hessen bspw. den Fächern Erdkunde, Geschichte, Politik und Wirtschaft sowie Ethik. 6 Vgl. Rieger-Ladich 2002; Honneth 2002; Bünger 2013.
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vor dem Hintergrund geschichtsdidaktischer Theorie und dem Konzept einer emanzipativ ausgerichteten Mündigkeit, mit den unterrichtlichen Möglichkeiten und Grenzen abgeglichen werden. Dieser Schritt ist allerdings nicht im Rahmen dieses Beitrages zu leisten, sondern Bestandteil meines Dissertationsprojekts. Um die beiden Fragen beantworten zu können, bedarf es einer qualitativen Forschungsperspektive und -methode, die den Diskurs über die historische Bildung effektiv, systematisch und nachvollziehbar in den Blick nehmen kann. Bei der Diskursanalyse handelt es sich um einen solchen Forschungsansatz. Bevor die Überlegungen zur Anwendungsmöglichkeit der Diskursanalyse in Abschnitt (3.) ausführlicher diskutiert werden, wird unter (2.) ein Blick auf die Anbindung der Überlegungen an bisherige geschichtsdidaktische und politikdidaktische Forschung geworfen, um danach (4.) erste Ergebnisse der Diskursanalyse vorzustellen und (5.) weitere Perspektiven der Untersuchung aufzuzeigen. Im Zentrum dieses Beitrages stehen also vor allem die Explikation der Relevanz für geschichtsdidaktische Forschung und die Diskussion des methodischen Vorgehens.
2
Kontextualisierung des Projekts in der geschichtsdidaktischen und politikwissenschaftlichen Forschung
Die Frage, ob und was die historische Bildung zur Mündigkeit einer Person beiträgt, wird im geschichtsdidaktischen Diskurs selten direkt adressiert. So lässt sich der Begriff der Mündigkeit in fast keinem aktuellen geschichtsdidaktischen Standardwerk, Handbuch oder Lexikon im Sachregister finden. Einzig in der »Geschichtsdidaktik« von Nicola Brauch wird eine »historische Mündigkeit« in einem kurzen Abschnitt als Ziel des Geschichtsunterrichtes erwähnt. Geschichtsunterricht in Demokratien soll demnach eine »im Sinne der Aufklärung mündige Haltung gegenüber historischen Erzählungen und darin enthaltenen Sinnbildungen […]« erzeugen.7 Neben dieser einen konkreten Erwähnung einer »historischen Mündigkeit« finden sich jedoch in geschichtsdidaktischen Werken zahlreiche ähnliche Ausführungen und Andeutungen zu »Mündigkeit« an weniger prominenten Stellen. Überwiegend, so lässt sich schlussfolgern, wird in der Geschichtsdidaktik davon ausgegangen, dass historische Bildung einen Beitrag zur Mündigkeit leisten kann und soll.8 Mehrheitlich bleibt dieser pro7 Brauch 2015, S. 21. Ob sich dieser Konsens nur auf die Geschichtsdidaktik oder auf die gesamte Gesellschaft bezieht, wird an der erwähnten Stelle nicht ganz klar. 8 Einige wenige Beispiele: Schreiber et al. 2007, S. 18; Bergmann 2008, S. 85; Borries 2011, 284ff.
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klamierte Beitrag aber auf ein mündiges Verhältnis gegenüber der Geschichte bzw. der Geschichtskultur beschränkt und bezieht sich nicht auf eine gesamtgesellschaftliche Mündigkeit. Zudem ist die konkrete Frage und Diskussion nach einer tieferen normativen Fundierung des Geschichtsunterrichtes in der Geschichtsdidaktik eine ganze Weile9 zugunsten der Empirie, Pragmatik und anderer theoretischer Diskussionen zurückgestellt worden. In den letzten Jahren kommt allerdings wieder etwas Bewegung in die Diskussion über die nicht abzuschließende Frage nach den normativen Grundlagen des Geschichtsunterrichtes: Hierzu trägt zum einen die Diskussion um das Verhältnis zwischen Menschenrechtsbildung und historischem Lernen bei.10 Zum anderen bedarf die gegenwärtig zunehmende Bedrängung von geschichts- und erinnerungspolitischen Themen durch rechte Parteien und Interessengemeinschaften einer Antwort auf die Frage nach den grundsätzlichen Normvorstellungen und Zielen der historischen Bildung.11 Hinsichtlich der vorherrschenden Vorstellungen des Beitrags der historischen Bildung zur Mündigkeit spielt der reziproke Legitimationszusammenhang zwischen politischer und diskursiver Praxis bei der Erstellung von Curricula und Richtlinien eine entscheidende Rolle. Zwischen der diskursiven (d. h. unter anderem dem wissenschaftlichen, aber auch dem öffentlichen Diskurs über die historische Bildung) und der politischen Praxis bildet das Erlassen von Richtlinien oder Curricula einen Kristallisationspunkt. Dass die Diskurse die bildungspolitische Praxis legitimieren, ist naheliegend, wird doch ein guter Teil des Diskurses überhaupt nur geführt, um zu klären, welche Ziele der historischen Bildung legitim sind und vor allem, wie die bereits festgelegten Ziele umgesetzt werden können. Nichtsdestoweniger verläuft die Legitimation nicht einseitig von der diskursiven zur politischen Praxis. Denn die politischen Praktiken (gemeint ist damit unter anderem das Verabschieden von Lehrplänen und Curricula) legitimieren bestimmte Deutungsangebote, die in der diskursiven Praxis vorgebracht werden. Erst durch die politische Praxis werden diese umgesetzt und setzen sich damit als hegemoniale Deutungen (zeitweilig) durch. Daher bietet es sich an, Diskurse, die zur Verabschiedung von Curricula und
9 Soweit ich dies überblicken kann, geschah dies in den 1980er Jahren, mit der Einführung des Konsensbegriffs des »reflektierten Geschichtsbewusstseins«. 10 Bspw.: Borries 2011(Anm. 8); Lücke et al. 2016. 11 So nennt etwa Joachim Paul, bildungspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz, patriotische Identitätsstiftung als Ziel von Geschichtsunterricht. (https:// afdkompakt.de/2016/11/08/geschichtsunterricht-sollte-zu-demokraten-und-patrioten-er ziehen/ abgerufen am 23. 11. 2018). In diesem Zusammenhang ist auch die Stellungnahme »Resolution des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie« des VHD zu sehen.
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Richtlinien führen, in den Fokus zu rücken, wenn man die Normen und die Normproduktion in den Blick nehmen möchte.12 Die geschichtsdidaktische Forschung ist der Frage nach Curricula und ihrer Entstehung vielfältig nachgegangen.13 Horst Kuss hat in diesem Zusammenhang die Felder der Politik, der Pädagogik und der Wissenschaft als die drei wesentlichen »Determinanten des Geschichtsunterrichtes« identifiziert. Er bezeichnet den Staat und die Gesellschaft – also das Feld des Politischen – als dasjenige Feld, welches den Geschichtsunterricht am stärksten determiniert.14 Dieses Feld wird, laut Pandel, überwiegend durch Interessenpolitik dominiert. Verschiedenste Gruppen, etwa die Mitglieder der Richtlinienkommission, die Kultusadministration, Elternvertreter, aber vor allem Interessenverbände, versuchen bei der Festsetzung der Richtlinien ihre Position durchzusetzen. Eine weitere zentrale Interessensgruppe in diesem Diskurs nennt Pandel hingegen nicht – vermutlich, weil er selbst dieser Gruppe angehört –, die der Geschichtsdidaktiker und -didaktikerinnen.15 Die geschichtsdidaktische Forschung verweist also darauf, dass der Geschichtsunterricht schwerlich ohne Berücksichtigung seiner gesellschaftspolitischen Grundlagen beforscht werden kann. Entsprechend verlangt Pandel eine »Bedingungsanalyse von Richtlinienarbeit, die die Zwänge und Handlungsspielräume aufzeigt. In dieser müssten die geschichtstheoretischen Grundlagen diskutiert werden, die staatlich-ideologischen Auflagen aufgezeigt, der Einfluss der harten Fakten der sozialen Ungleichheit zur Kenntnis genommen und die Einflussversuche von Interessengruppen aufgedeckt werden.«16 Pandel sieht in einer solchen Analyse der politischen Dimension der Geschichtskultur (d. h. der gezielten Steuerung der Entwicklung des kollektiven historischen Bewusstseins im Rahmen des Geschichtsunterrichts) ein weitgehendes Forschungsdesiderat.17 Wechselt man von der geschichtsdidaktischen zu einer politikwissenschaftlichen Perspektive, so scheint klar, dass es sich bei den Geschichtsbildern in der Gesellschaft um ein Politikum handelt. Mit dem Begriff der Geschichtspolitik stehen die Deutungskämpfe im Mittelpunkt, die dort stattfinden, wo sich Macht mit Vergangenheit verbindet.18 In der Geschichtspolitik dominieren politische 12 Vgl. Schwab-Trapp 2002, S. 46. 13 An dieser Stelle sei auf die Sammlung auf https://www.historicum.net/service/archiv/lehrenlernen/geschichtsdidaktik/theorie-und-praxis/curriculum/verweisen (zuletzt abgerufen 17. 11. 2018). 14 Kuss 1991, 15f, 22ff, aber auch bei Jeismann/Schönemann 1989. 15 Pandel 2002. 16 Pandel 2002 (Anm. 15), S. 161, Hervorhebung im Original. 17 Vgl. Pandel 2002 (Anm. 15), S. 154ff. Es ist jedoch festzuhalten, dass sich Beiträge des geschichtsdidaktischen Diskurses dieser Leerstelle annehmen, etwa Meyer-Hamme 2009; Alavi/Lücke 2016. 18 Schmid 2009, 61ff, 74f.
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Gegenwartsinteressen gegenüber historischen Erkenntnisinteressen. Hier konkurrieren verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen darum, ihre Deutung von Geschichte durchzusetzen. Nichtsdestoweniger kommt man in der Politikwissenschaft zu einer ähnlichen Einschätzung wie in der Geschichtsdidaktik: Bei der Frage nach der systematischen Berücksichtigung der Geschichtspolitik handelt es sich um ein weitgehendes Desiderat. So betont etwa Heinrich bei seiner Beschäftigung mit dem Einfluss der Geschichtspolitik auf die Geschichtskultur,19 dass »bei der Entwicklung von Modellen politischer Systeme […] Geschichte als Faktor in der Regel kaum eine Rolle«20 spiele. Heinrich arbeitet in diesem Zusammenhang heraus, dass die Geschichtskultur die politische Kultur einer Gesellschaft mindestens mittelbar beeinflusst. Die Sozialisation, zu der auch die Geschichtskultur gehört, leiste nicht nur einen Beitrag zur Legitimität des jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Systems, sondern tradiere zudem einen Fundus von kulturellen Praktiken, deren Gültigkeit erst durch die Geschichtskultur legitimiert werde und die als Normvorlage der Gesellschaft diene.21 Dies bedeutet, dass es bei der Betrachtung von Geschichte in Gesellschaften mindestens zwei interdependente Sichtweisen gibt. Die Deutung von Geschichte wird auf der einen Seite durch die gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Interessen beeinflusst, aber auf der anderen Seite ist Geschichte auch eine wesentliche Determinante des gegenwärtigen Interesses. Insofern verweist der Politikdidaktiker Dirk Lange darauf, dass es sich bei der Trennung zwischen Politik- und Geschichtsunterricht weitestgehend um eine analytische Trennung handelt. Denn historisches Lernen hat immer eine politische Dimension, so wie das politische Lernen immer auch eine historische Dimension hat. In beiden Disziplinen werde, so Lange, diese Verflechtung jedoch zu wenig berücksichtigt. Im Überschneidungsbereich zwischen der historischen und der politischen Perspektive finden sich die Politikgeschichte und die Geschichtspolitik.22 Sowohl die geschichts- wie auch die politikdidaktische Forschung verweisen auf die Bedeutung der Geschichtspolitik und kommen gleichzeitig nicht umhin, dieses Feld als noch nicht hinreichend beforscht zu beschreiben. Bei der Untersuchung des Diskurses über die historische Bildung ist es daher geboten nicht nur die wissenschaftliche Diskursebene, die überwiegend von den Geschichtsdidaktikern und -didaktikerinnen dominiert wird, zu berücksichtigen, sondern ebenso den (geschichts-)politischen und den öffentlichen Teil des Diskurses einzubeziehen. 19 Heinrich schreibt von der Makroebene bzw. kollektiven Ebene des Geschichtsbewusstseins. Diese wird von Schönemann 2002, S. 79 unter dem Begriff der Geschichtskultur gefasst. 20 Heinrich 2009, S. 79. 21 Heinrich 2009 (Anm. 20), S. 83ff. 22 Lange 2014, S. 325.
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3
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Methodischer Ansatz und Arbeitshypothesen
Um die Forschungsfragen beantworten zu können, ist eine Forschungsperspektive notwendig, die dazu geeignet ist, das überwiegend implizit verhandelte Mündigkeitsverständnis im Diskurs über die historische Bildung zu explizieren und die um Legitimität ringenden Positionen darzustellen. Eine für die Aufgabe geeignete Perspektive ist die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bei ihr handelt es sich um eine Perspektive der empirischen Sozialforschung, deren Fokus – sich am Foucaultschen Verständnis von Diskursen orientierend – auf der Analyse diskursiver und damit konflikthafter Aushandlungsprozesse liegt. In ihr geht es darum, die »Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn-, d. h. Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. (kollektiven) Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftliche Wirkung dieser Prozesse zu analysieren«.23 Da es sich bei der Diskursanalyse um eine Forschungsperspektive und nicht um eine konkrete Forschungsmethode handelt, besitzt sie kein feststehendes Methodenset für die Analyse diskursiver Prozesse und Praktiken.24 Die Methode ist entsprechend den Anforderungen des Diskursthemas und –feldes zu wählen. Da die Zahl der Diskursbeiträge im betrachteten Diskurs relativ hoch ist, besteht der Bedarf für ein »Entdeckungsverfahren«.25 Dieses soll sowohl die Heterogenität des Feldes erfassen als auch die Zahl der Fälle für eine Feinanalyse auf eine überschaubare Zahl reduzieren, um daraus die »typischen« Argumente der Debatte extrahieren zu können. Als nahe liegende Antwort auf diese Herausforderung empfiehlt SchwabTrapp die Verwendung eines inhaltsanalytischen Verfahrens.26 Das »klassische« qualitativ-inhaltsanalytische Verfahren nach Mayring27 ist allerdings nicht geeignet, da die Diskursfragmente schwerlich mit rein deduktiv abgeleiteten Kategorien sinnvoll geordnet werden können und vor allem ein textstrukturierendes Verfahren hier nicht zum Erfolg führt. Die feinen Nuancen der politischen Argumentation würden durch das »grobe« Raster der deduktiven Kategorien fallen, weil dieses schon vor der Betrachtung des Materials festlegt, welche Argumentationstypen zu finden sind. Zudem macht es eine auf Zusammenfassungen angelegte Inhaltsanalyse schwierig »zwischen den Zeilen« zu lesen, gerade dann, wenn sich Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Diskursbeiträgen auftun. Es empfiehlt sich daher nach Schwab-Trapp das Ka23 24 25 26 27
Keller 2011b, S. 125; vgl. auch Keller 1997, S. 319. Keller 1997 (Anm. 23), S. 325, 2011a, S. 58; Schwab-Trapp 2002 (Anm. 12), S. 71. Vgl. Kleining 1995. Schwab-Trapp 2002 (Anm. 12), 72f. Mayring 2015.
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tegoriensystem induktiv im Zuge der Datenauswertung zu entwickeln. Als bewährtestes methodisches Instrument würde dies die Ansätze der grounded theory28 nahelegen. Aber auch diese Methode scheint für die Forschungsfragen nicht zielführend, wird doch explizit nach den unterschiedlichen Argumentationen hinsichtlich der Mündigkeit gefragt. Als Kompromiss bietet sich die qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz an. Diese legt einen Schwerpunkt auf ein deduktiv-induktives Vorgehen und ist daher geeignet, mit Blick auf die Fragestellung zunächst deduktiv Kategorien zu entwickeln und diese dann um induktiv gewonnene Subkategorien zu den jeweiligen Argumentationen zu erweitern. Das geplante Vorgehen sieht vor, dass zunächst eine inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse durchgeführt wird, um die Argumente thematisch zu erfassen. Auf deren Grundlage werden induktiv argumentative Subkategorien am Material gebildet, um dann mithilfe einer Typenbildung Argumentationsmuster innerhalb des Diskurses identifizieren zu können.29 Die Auseinandersetzung um die legitime Deutung der Ziele der historischen Bildung erfolgt zwar mit jedem Diskursbeitrag, doch gibt es Ereignisse, die sich durch eine größere Konflikthaftigkeit und Bedeutung für den gesamten Diskurs auszeichnen. Diese Ereignisse können als Orientierungspunkte im Gesamtdiskurs dienen.30 Wie im vorherigen Kapitel verdeutlicht, bieten sich dafür besonders die Diskussionen an, die einer neuen Richtlinie oder Curriculum vorausgehen. Bei der Diskussion um das »Neue Kerncurriculum für Hessen«31 handelt es sich um ein solches diskursives Ereignis in jüngerer Vergangenheit. Der Verabschiedung des Curriculums ging ein öffentlicher und fachwissenschaftlicher Diskurs voraus; 2010 kam es zur Veröffentlichung eines ersten Entwurfs, der aber stark kritisiert wurde. Die abgeänderte Fassung wurde 2011 verabschiedet. Die Diskussion hat den Vorzug, dass sie klar abgegrenzt werden kann, konflikthaft verlief und im Gegensatz zu anderen aktuellen Diskursen abgeschlossen ist. In den Fokus der Untersuchung rücken die oben angesprochenen Diskursfelder : Das politische Feld (repräsentiert durch die zwei Entwürfe des Kerncurriculums sowie entsprechende Dokumente zur Ausbildung von Geschichtslehrerinnen und –lehrern in der 1. und 2. Phase, die aus dem neuen Curriculum resultieren), das öffentliche Feld (repräsentiert durch Zeitungsbeiträge, die sich direkt auf das »Neue Kerncurriculum für Hessen« beziehen) sowie das wissenschaftliche Feld (überwiegend Beiträge aus der Geschichtsdidaktik).
28 29 30 31
Vgl. Glaser/Strauss 1967; Strauss/Corbin 1996. Kuckartz 2016; vgl. Schreier 2014. Vgl. Schwab-Trapp 2002 (Anm. 12), 64, 76. Hessisches Kultusministerium o. J. [2011].
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Die Auswahl der Debattenbeiträge gestaltet sich damit relativ klar. Die Debatte um das »neue Kerncurriculum für Hessen« fand in den Jahren 2010–2013 statt. Es handelt sich um eine übersichtliche Zahl von Beiträgen (17 Dokumente), die von politischer Seite zum Kerncurriculum veröffentlicht wurden, auch blieb die öffentliche Debatte überschaubar (14 Dokumente). Die Bestimmung der zu analysierenden wissenschaftlichen Literatur gestaltete sich hingegen herausfordernder. Die Diskursfragmente im Rahmen der Geschichtsdidaktik gehen in der Regel nicht konkret auf das Kerncurriculum ein.32 Die Szientometrie stellt an dieser Stelle eine Möglichkeit dar, auf nachvollziehbare Art und Weise bedeutsame bzw. wirkungsmächtige Fragmente des Diskurses ausfindig zu machen. In der modernen Szientometrie werden dazu üblicherweise Publikations- und Zitationsdatenbanken genutzt. Mithilfe der Zitationen und teilweise der Gewichtung der Zitationen soll eingeschätzt werden, wie wirkungsmächtig die einzelnen Werke im wissenschaftlichen Spezialdiskurs sind.33 Auf dem Feld dieser wissenschaftlichen Suchmaschinen gibt es einige Anbieter. Etwa das Web of Science, Scopus oder Google Scholar, um einige, bekanntere Vertreter zu nennen. Im Rahmen dieser Analyse bietet sich für die Auswahl der didaktischen Literatur Google Scholar aus mehreren Gründen an: Erstens bezieht Google Scholar, im Gegensatz zu den anderen genannten Suchmaschinen, eine große Bandbreite von unterschiedlichen Literaturformen ein und besitzt damit eine vergleichsweise hohe Reichweite. Im »Web of Science« finden sich z. B. keine kompletten Monographien, sondern nur einzelne Kapitel aus diesen. Außerdem werden, zweitens, Artikel, die in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht wurden, bei Google Scholar in der Gewichtung der Ratings nicht bevorzugt.34 Diese beiden Gründe spielen eine große Rolle für die Suche nach geschichtsdidaktischer Literatur, in der Monographien nach wie vor wesentlicher Bestandteil des Diskurses sind. Zudem werden, drittens, in den anderen Suchmaschinen überwiegend englischsprachige Artikel verarbeitet, was für den deutschsprachigen Diskurs der Geschichtsdidaktik schlicht ungeeignet ist.35 Mit der Hilfe von Google Scholar konnten neun geschichtsdidaktische Dokumente ausgemacht werden, die den größten Einfluss im geschichtsdidaktischen Diskurs im betrachteten Zeitraum hatten.
32 33 34 35
Mit der Ausnahme der Expertise von Bernhardt et al. 2011. Vgl. Schui/Krampen 2010; Ortega 2014. Vgl. Martin-Martin et al. 2017. Vgl. Harzing/Alakangas 2016; Martin-Martin et al. 2017 (Anm. 34). Es handelt sich nicht nur um wissenschaftliche Literatur, die in diesem Zeitraum erschienen ist, sondern um Literatur, die vor 2013 erschienen ist und einen maßgeblichen Einfluss auf den wissenschaftlichen Diskurs in diesem Zeitraum ausüben konnte.
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Der Diskurs über das »Neue Kerncurriculum« für Hessen und die Frage nach dem Status der Mündigkeit in der historischen Bildung – Erste Analyseergebnisse
Da die Codierung und die Analyse noch nicht abgeschlossen sind, handelt es sich bei den folgenden Ausführungen um vorläufige Ergebnisse. Zunächst einmal soll an dieser Stelle knapp auf das Kategoriensystem eingegangen werden, welches im Laufe der qualitativen Inhaltsanalyse der Dokumente erstellt wurde. Kategoriensysteme bilden ein zentrales Ergebnis qualitativer Inhaltsanalysen.36 Die größte Schwierigkeit bei der Bildung der Kategorien bestand darin, dass es sich bei den analysierten Textdokumenten um sehr unterschiedliche Dokumententypen handelt (von polemisierenden Pressestatements über fachwissenschaftliche Texte bis hin zu Gesetzestexten). Deswegen mussten die thematischen Hauptkategorien mit einem sehr hohen Abstraktionsgrad gewählt werden, um sie auf die verschiedenen Texttypen anwenden zu können. Die ersten drei thematischen Kategorien wurden anhand der theoretischen Literatur zur Mündigkeit deduktiv entwickelt, vor allem anhand von Dorsch et al., die Curricula der Fächer Geschichte, Politik und Erdkunde hinsichtlich der Ausbildung von Mündigkeit untersuchten.37 Als wesentliche Dimensionen der Mündigkeit erweisen sich dabei die drei Kategorien Autonomie38, Reflexivität39 und Selbst/Identität40. Hinzu kommt eine weitere deduktive Kategorie, die der Praxis der Mündigkeit41; mit dieser soll erfasst werden, wann und wie Praktiken auf der Grundlage der Mündigkeit oder mündiges Verhalten als Thema im Diskurs aufkommen. Diese Kategorie wurde allerdings nur von wenigen Diskursteilnehmern angesprochen. Darüber hinaus konstituierte sich eine induktive Hauptkategorie, die der Bildung. Unter dieser wurden im Diskurs häufig die drei erst genannten Kategorien subsumiert und gefordert. Von der bisherigen Häufigkeit her wurde am meisten die Reflexivität gefordert, dann die Bildung eines Selbst und am seltensten wurde die Autonomie adressiert. Quer zu diesen fünf Dimensionen von Mündigkeit wurde ein weiteres, induktives Kategoriensystem eingeführt, welches sich auf den Adressaten der Mündigkeit bezieht. So kann das Individuum als Adressat auftreten, die Gesellschaft oder es geht darum, dass eine Dimension von Mündigkeit durch Vermittlung jemandem beigebracht werden soll. Durch dieses zweite Raster kann 36 37 38 39
Schreier 2014 (Anm. 29), 170ff; Kuckartz 2016 (Anm. 29), 83ff. Dorsch et al. 2016. Vgl. Kant [1784] 1999; Adorno 2015; Blankertz 1982; Gruschka 1994; Eis 2013; Speidel 2014. Vgl. Dewey 1951; Blankertz 1982 (Anm. 38); Adorno 2013; Jaeggi 2014 (Anm. 3); Müller 2018. 40 Vgl. Roth 1971; Klafki 2007; Denschlag 2017. 41 Vgl. Rieger-Ladich 2002 (Anm. 6); Bünger 2013 (Anm. 6).
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verdeutlicht werden, wer mit welcher Dimension von Mündigkeit adressiert wird. Wenn also beispielsweise gefordert wird, dass eine zukünftige Lehrkraft während ihres Studiums die Fähigkeit zur Quellenkritik erwerben soll, so handelt es sich um die Dimension der Reflexivität mit dem Individuum als Adressaten. Die Kombination der beiden Raster soll die anschließende Typenbildung vereinfachen. Als Ergebnis der bisherigen Analyse kann eine Antwort auf die erste der beiden Forschungsfragen gegeben werden. Hinsichtlich der Relevanz der Mündigkeit für den Diskurs über die historische Bildung kann festgestellt werden, dass sich in jedem Dokument mehrere Stellen zu Dimensionen der Mündigkeit finden. Auf der einen Seite ist dies nicht verwunderlich, handelt es sich doch bei der Mündigkeit, spätestens seit Kants negativer Bestimmung derselben, um eine zentrale Zielvorstellung von Aufklärungs- bzw. Bildungsprozessen.42 Auf der anderen Seite zeigt dieses Ergebnis, dass das Thema Mündigkeit im Diskurs über die historische Bildung eine Rolle spielt, auch wenn es wörtlich kaum adressiert wird. In allen untersuchten Dokumenten finden sich gerade einmal sechs Textstellen, an denen »mündig« oder »Mündigkeit« direkt adressiert wird: Drei davon in den wissenschaftlichen Texten, zwei in den curricularen Dokumenten und einer in einem Dokument der Debatte. Darüber hinaus verweist das unterschiedliche Adressieren der Teildimensionen der Mündigkeit darauf, dass hier um die Deutung des Beitrags der historischen Bildung zur Mündigkeit gerungen wird. Ebenso kann ein von Pandel unterstelltes »Kartell« bestehend aus Geschichtslehrerverband und »Epochenlobbyisten« im Verband der Historiker beim jetzigen Stand der Analyse zum Teil bestätigt werden:43 In der Debatte über die Richtlinien und Curricula unterstützen sich die Fachwissenschaftler (organisiert im Verband der Historiker) und der Verband der Geschichtslehrer gegenseitig und treten relativ dominant in der öffentlichen Debatte auf. Die Geschichtsdidaktiker und -didaktikerinnen werden von diesen Verbänden in ihrer Argumentation, nicht aber als Gruppe berücksichtigt, die ebenfalls an dem Diskurs über die Curricula zu beteiligen sind bzw. von deren Deutung sich abgegrenzt wird. Damit kann der Zusammenschluss des Geschichtslehrerverbandes mit Teilen des Verbandes der Historiker als eine Diskursgemeinschaft bezeichnet werden.44 Insofern kann gerade das »neue Kerncurriculum für Hessen« als ein Ringen zwischen den Diskursgemeinschaften der Geschichtsdidaktiker und -didaktikerinnen und denen des Geschichtslehrerverbandes und der »Epochenlobbyisten« beschrieben werden. 42 Vgl. Kant [1784] 1999 (Anm. 38), 1923, S. 447ff; Benner und Brüggen 2010, S. 691. 43 Pandel 2002 (Anm. 15), S. 157. 44 Vgl. Schwab-Trapp 2002 (Anm. 12), S. 55ff.
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Perspektiven
Zunächst einmal bleibt zu hoffen, dass die Analyse des Diskurses über die Einführung des »Neuen Kerncurriculums für Hessen« anhand einer Typenbildung exemplarisch verdeutlichen können wird, welche verschiedenen Ansprüche hinsichtlich der Mündigkeit gegenwärtig an die historische Bildung herangetragen werden. Diese Analyse des beinahe noch aktuellen Diskurses soll um ein diachrones Fenster erweitert werden. Durch diesen Kontrast soll der Blick auf den Diskurs weiter geschärft werden. Für den diachronen Einblick bietet sich die Debatte über die hessischen Rahmenrichtlinien (1972) und die anschließende Debatte in der Geschichtsdidaktik (bis 1976) an, da es in diesem Kontext zu einer offenen Normendiskussion des Geschichtsunterrichtes kam. Durch die Analyse und die damit verbundene Explikation der normativen Ansprüche sollen verfestigte und verdeckte Normenbegründungen wieder verflüssigt und der Kritik und Diskussion verfügbar gemacht werden. Die damit verbundene Hoffnung ist, dass die Geschichtsdidaktik nicht davor zurückschreckt, die erhobenen normativen Ansprüche unter ihrem Blickwinkel – nämlich dem einer historischen Bildung, die Schüler und Schülerinnen dazu befähigt, sich emanzipiert gegenüber der Geschichtskultur zu verhalten und mündig mit ihr umzugehen45 – zu bewerten und eigene normative Positionen im politischen Handgemenge zu vertreten. Geschichtspolitik ist eines jener Themen, welches sowohl in der geschichtsdidaktischen Forschung als auch im Rahmen einer schulischen historisch-politischen Bildung stärker in den Fokus gerückt werden könnte. Bei der Betrachtung dieses Themenfeldes haben beide Perspektiven – die politische und die historische – als eigenständige Perspektiven ihre Berechtigung. Gleichwohl können aber, nicht nur bei diesem Thema, durch die Korrelation beider Perspektiven erhebliche Synergieeffekte erzielt werden. In diesem Bereich könnte aufgezeigt werden, wie Geschichte in der öffentlichen Auseinandersetzung interessengebunden gedeutet und in den Diskurs eingebracht wird. Die historische Perspektive kann dabei zur Entflechtung und Verdeutlichung der interdependenten Beziehungen von Politik und Geschichte ihre ideologiekritische Perspektive einbringen und so zu einer Aufklärung über diese Phänomene beitragen.
45 Vgl. Pandel 2002 (Anm. 15), S. 156.
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Autorinnen und Autoren
Benjamin Bauer (Otto-Friedrich-Universität Bamberg) Benjamin Bauer Otto-Friedrich-Universität Bamberg Luisenstraße 5 D-96047 Bamberg Christian Heuer und Mario Resch (PH Heidelberg) Dr. Christian Heuer Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Gesellschaftswissenschaften Abt. Geschichte, Hr. Dr. Heuer Postfach 10 42 40 D-69032 Heidelberg Dr. Mario Resch Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Gesellschaftswissenschaften Abt. Geschichte, Hr. Dr. Resch Postfach 10 42 40 D-69032 Heidelberg Inga Kahlcke (Georg-August-Universität Göttingen) Inga Kahlcke Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 D-37073 Göttingen
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Autorinnen und Autoren
Autorinnen und Autoren
Johanna Sachse (Uni Bremen) Johanna Sachse Universität Bremen, FB8 Institut für Geschichtswissenschaft Didaktik der Geschichte Postfach 330 440 D-28334 Bremen Jan Scheller (Fachhochschule Nordwestschweiz) Jan Scheller Zentrum für Demokratie Aarau ZDA Küttigerstrasse 21 CH-5000 Aarau Viola Schrader (Uni Münster) Viola Schrader Universität Münster Institut für Didaktik der Geschichte Domplatz 20–22 D-48143 Münster Christoph Wilfert (Uni Köln) Christoph Wilfert Historisches Institut Abteilung für Didaktik der Geschichte Albertus-Magnus-Platz D-50923 Köln
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