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German Pages [239] Year 2017
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand
Band 15
Herausgegeben vom Vorstand der Konferenz für Geschichtsdidaktik: Thomas Sandkühler, Charlotte Bühl-Gramer, Anke John und Astrid Schwabe
Uwe Danker (Hg.)
Geschichtsunterricht – Geschichtsschulbücher – Geschichtskultur Aktuelle geschichtsdidaktische Forschungen des wissenschaftlichen Nachwuchses
Mit einem Vorwort von Thomas Sandkühler Mit 5 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5391 ISBN 978-3-7370-0765-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de 2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Inhalt
Thomas Sandkühler Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Uwe Danker Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Uwe Danker Das Flensburger Modell des Lehramtsstudiums im Fach Geschichte: Schulischer Geschichtsunterricht als Sonderfall historischen Lernens? . .
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I. Geschichtsunterricht und Geschichtslehrkräfte im Fokus didaktischer Forschung Christian Spieß Historisches Lernen im Fächerverbund. Konzeption und Zwischenergebnisse eines empirischen Projekts . . . . . . . . . . . . . .
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Sebastian Bracke »Ich find das ein bisschen seltsam« – Werturteile im Unterrichtsgespräch am Beispiel der Erziehung in Sparta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Philipp McLean Förderung der »historischen Mündigkeit« durch ideologiekritische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Martin Nitsche Geschichtstheoretische und -didaktische Beliefs angehender und erfahrener Lehrpersonen – Einblicke in den Forschungsstand, die Entwicklung der Erhebungsinstrumente und erste Ergebnisse . . . . . .
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Inhalt
II. Geschichtsschulbücher in der Analyse Etienne Schinkel Ein lernwürdiges Thema? Die Darstellung der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde an körperlich und geistig behinderten Menschen 1939–1945 in aktuellen Geschichtsschulbüchern . . . . . . . . . . . . . . 109 Johannes Jansen Schulbücher als Erzählungen eigenen Formats. Perspektiven narratologischer Geschichtsschulbuchforschung . . . . . . . . . . . . . . 129 Johannes Scharr Schulbücher im Zeichen von Geschichtspolitik? Zum Umgang mit dem Holocaust in schwedischen Schulgeschichtsbüchern . . . . . . . . . . . . 153
III. Geschichtskultur und Erinnerungskultur als Gegenstände geschichtsdidaktischer Forschung Daniel Münch Geschichtskultur als Thema des Geschichtsunterrichts. Wie stehen Lehrkräfte zu dieser Idee? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Regina Göschl Re-Präsentationen des DDR-Alltags im Museum . . . . . . . . . . . . . . 197 Hannes Burkhardt Erinnerungskulturen im Social Web. Auschwitz und der Europäische Holocaustgedenktag auf Twitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Autor*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Thomas Sandkühler
Vorwort
Die Flensburger Nachwuchstagung der KGD hat eindrucksvoll gezeigt, wie vielfältig die gegenwärtigen geschichtsdidaktischen Qualifikationsschriften thematisch, inhaltlich und methodisch sind. Der Dank der Konferenz für Geschichtsdidaktik geht daher an den Ausrichter der Tagung und Herausgeber des Tagungsbandes, Uwe Danker, und an die Autorinnen und Autoren, die sich der Mühe unterzogen haben, ihre Manuskripte zu überarbeiten und zur Druckreife zu bringen. Die so entstandene Sammlung von Aufsätzen bestätigt den Eindruck während der Tagung, dass viele jüngere Kolleginnen und Kollegen auf hohem begrifflichem Niveau forschen und argumentieren. Sie sind zudem in der Lage, ihre Thesen und Befunde in einer ansprechenden Form zu präsentieren, ohne die Wissenschaft hinter die Medien ihrer Vermittlung zurücktreten zu lassen. Es hat sich einiges getan in Sachen Präsentationsfähigkeit, das dem Fach nur gut tun kann. Natürlich können gedruckte Beiträge die Lebendigkeit des Vortrags nur bedingt bewahren, aber es fällt doch auf, dass die in diesem Band enthaltenen Beiträge ganz überwiegend gut lesbar sind und auch dem nicht eingeweihten Leser eine Orientierung darüber bieten, was Nachwuchsforschung derzeit ist und möglicherweise künftig sein wird. Die seit einigen Jahren im Gang befindliche Forschung über die Professionalisierung von Geschichtslehrkräften hat erfreulicherweise deutliche Spuren hinterlassen und wird auf hohem methodischem Niveau vertieft. Aber auch der Geschichtsunterricht wird als zentrales Handlungs- und Erfahrungsfeld von Lehrerinnen und Lehrern in den Blick genommen. Handelt es sich um einen »Sonderfall« historischen Lernens, wie Uwe Danker eingangs argumentiert, um gelebte Normalität oder um beides zugleich? Die Autorinnen und Autoren scheuen sich jedenfalls auch nicht, ›heiße Eisen‹ wie die Werturteilsbildung anzufassen, die als Ziel des Geschichtsunterrichts keineswegs unumstritten, im praktischen Vollzug indes noch kaum erforscht ist. Dem Geschichtsschulbuch, nach wie vor (gedrucktes) Leitmedium des Schulfaches, widmen sich ebenfalls mehrere Beiträge unterschiedlicher Provenienz und
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Thomas Sandkühler
Ausrichtung. Das Spektrum reicht von ›klassischen‹ thematischen Analysen über erzähltheoretische Untersuchungen bis zur Frage, ob sich Schulbücher unter Vorzeichen einer allgegenwärtigen Medienkonkurrenz überhaupt von der Geschichtsgegenwart außerschulischer Kultur abgrenzen lassen. Nicht zufällig ist die Schnittmenge von Schulbuch und Geschichtskultur, bis hin zur Geschichtspolitik, bei der Holocaust-Thematik besonders groß. Hier lassen sich auch hochinteressante Beobachtungen im weiten Feld der Social Media machen. Es wäre eine reizvolle Aufgabe, narrative Muster in Schulbüchern und Sozialen Medien vergleichend zu analysieren, um Lehrkräften die oftmals dokumentierte Scheu vor einem erzähltheoretisch angeleiteten Geschichtsunterricht zu nehmen. Dass Geschichtskultur in den Unterricht gehört, ist unter Lehrerinnen und Lehrern wenig umstritten, im Unterschied zu den bezeichnenden Begriffen, über die möglicherweise kein Konsens besteht. »Geschichtsbilder«, lange Zeit vergessen oder als zu überwindende Vorstufe historischer Kritik marginalisiert, müssen jedenfalls analytisch ernst genommen werden, zumal das Museum als Institution nicht selten solche Bilder vor die Augen der Besucher stellt – oftmals Schulklassen und ihre pädagogischen Begleiter. Ich wünsche diesem zum Nachdenken anregenden Tagungsband weite Beachtung in der Geschichtsdidaktik und über sie hinaus.
Uwe Danker
Einführung
Die VIII. Nachwuchstagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik fand am 15. und 16. Juli 2016 an der Europa-Universität Flensburg statt. Zehn junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellten ihre – unterschiedlich weit fortgeschrittenen – Forschungsprojekte vor. Fragestellungen, Methodik, Zwischenergebnisse und Probleme wurden eingehend in wertschätzend offener Arbeitsatmosphäre zwischen den Referent*innen und teilnehmenden erfahrenen Fachkolleg*innen diskutiert. Dieser Band enthält die überarbeiteten Vorträge. Er gibt die inhaltliche wie methodische Bandbreite laufender geschichtsdidaktischer Qualifizierungsvorhaben wieder. Bewusst wird der Werkstattcharakter der Konferenz auch im Buch aufrechterhalten. Einiges ist noch unfertig, manches mag gewiss strittig erscheinen, wer genau liest, wird hie und da den Elan oder auch die Vorsicht des wissenschaftlichen Anfangens erkennen. All das spiegelt den Grundsatz von Konferenz und Buch: Nachwuchswissenschaftler_innen sollen Forschungen vorstellen, Konzepte entwickeln, Überlegungen, offene Fragen, auch Unsicherheiten benennen. Drei große Arbeitsfelder, die als Sektionen die Konferenz gliederten und als strukturierende Abschnitte dieser Publikation beibehalten werden konnten, lassen sich festmachen: Geschichtsunterricht und Geschichtslehrkräfte im Fokus didaktischer Forschung, Geschichtsschulbücher in der Analyse sowie Geschichtskultur und Erinnerungskultur als Gegenstände geschichtsdidaktischer Forschung. Um den Leser*innen dieses Bandes eine schnelle und klare Orientierung zu bieten, haben wir vereinbart, dass alle Autor*innen ihren Beitrag um eine einseitige Kurzvorstellung ergänzen. Normiert liefert sie jeweils Erstinformationen zu Konzept, Fragestellungen, Problemen und Projektstand. Diese Eigenpräsentation ist dem Beitrag jeweils vorangestellt. Deshalb sollen hier nur skizzenhafte Hinweise erfolgen.
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Teil I: Geschichtsunterricht und Geschichtslehrkräfte im Fokus didaktischer Forschung Unter dem Titel »Historisches Lernen im Fächerverbund. Konzeption und Zwischenergebnisse eines empirischen Projekts« stellt Christian Spieß (Osnabrück) seine theoretischen und methodischen Überlegungen vor, das bisher in der geschichtsdidaktischen Forschung unterbelichtete Feld des in der Schullandschaft sehr verbreiteten Falles von Geschichtsvermittlung in Integrationsfächern der Sekundarstufe I in den Fokus zu nehmen und ihren potentiellen Mehrwert sowie denkbare einzelfachbezogene Verluste zu beleuchten. In der Praxis zwischen fachadditiven und integrativen Ansätzen sowie zwischen Fachkompetenz und Fachfremdheit aufgespannt soll aufgezeichneter Unterricht mit Hilfe der dokumentarischen Methode empirisch darauf untersucht werden, ob und wie sich historische Kompetenzen von Lernenden in konkreten unterrichtlichen Situationen ausdrücken. Werturteilsbildung im Geschichtsunterricht steht im Fokus des Projektes von Sebastian Bracke (Osnabrück): »›Ich find das ein bisschen seltsam‹ – Werturteile im Unterrichtsgespräch am Beispiel der Erziehung in Sparta«. Auf der Basis videographierten Geschichtsunterrichts erfasst und analysiert der Autor die Entwicklung und die Artikulation vergangenheitsbezogener Werturteile. Die Komplexität von Kommunikationssituation und -praxis schafft dabei erhebliche Herausforderungen für normierende Kodierung und systematisierende Analyse. An plastischen Äußerungen von Schüler*innen und Lehrkräften führt der Autor Beispiele aus seiner analytischen Praxis vor. »Förderung der ›historischen Mündigkeit‹ durch ideologiekritische Überlegungen« stellt Philipp McLean (Frankfurt am Main) in den Mittelpunkt seines theoretisch ausgerichteten Vorhabens, das in einem fächerübergreifenden Forschungsverbund zum klassischen Bildungsziel der Mündigkeit verankert ist. Historische Mündigkeit versteht er in seinem ersten Definitionsversuch als die Fähigkeit, bewusst und reflexiv an der Geschichtskultur teilzuhaben. Insbesondere durch fortgesetzt praktizierte Ideologiekritik könnten Institutionen organisierter historischer Bildung Beiträge zur Erlangung dieser Autonomie leisten. Perspektivisch möchte der Autor das Konzept historischer Mündigkeit in die Ausbildung von Geschichtslehrenden integrieren. »Beliefs« – Überzeugungen – als Einflussfaktoren für lehrendes und lernendes Handeln finden zunehmend Beachtung in der didaktischen Forschung. Martin Nitsche (Aarau) liefert hier den Beitrag »Geschichtstheoretische und -didaktische Beliefs angehender und erfahrener Lehrpersonen – Einblicke in den Forschungsstand, die Entwicklung der Erhebungsinstrumente und erste Ergebnisse«. In quantitativen Befragungen von Lehrpersonen erfasst der Autor deren
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(bewusste) Beliefs, reichert den Befund personenbezogen durch soziologische Daten an und untersucht durch quantitativ sowie qualitativ ausgerichtete Unterrichtsauswertungen, ob und wie sich geschichtstheoretische und -didaktische Überzeugungen in unterrichtlichen Strukturen ausdrücken.
Teil II: Geschichtsschulbücher in der Analyse Im klassischen Feld der Schulbuchanalyse sind drei Beiträge angesiedelt. Etienne Schinkel (Göttingen) betitelt seinen Beitrag: »Ein lernwürdiges Thema? Die Darstellung der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹-Morde an körperlich und geistig behinderten Menschen 1939–1945 in aktuellen Geschichtsschulbüchern«. Ausgehend von der Präsenz des NS-Behindertenmordes in der Fachwissenschaft und in der Geschichtskultur fragt der Autor nach den Platzbudgets und inhaltlichen Schwerpunktsetzungen des Themas sowie der Realisation des geschichtsdidaktischen Anspruchs an Multiperspektivität in sechs ausgewählten Schulbuchwerken für Niedersachsen. Seine Ergebnisse zeigen eine erhebliche Varianz in den Umfängen sowie Übereinstimmungen in der inhaltlichen Konzentration und der überwiegenden Täter*innenperspektive. »Schulbücher als Erzählungen eigenen Formats. Perspektiven narratologischer Geschichtsschulbuchforschung« behandelt Johannes Jansen (Köln). Seine aus erzähltheoretischer Perspektive methodisch entwickelte qualitativ-empirische Schulbuchanalyse untersucht deutsche, französische und britische Schulbuchdarstellungen des Ersten Weltkriegs aus dem gesamten Zeitraum seit 1918. Vergleichsmomente bilden sowohl die nationenspezifischen Darstellungen als auch deren Wandel innerhalb eines Jahrhunderts. Erste Ergebnisse begreift der Autor als sehr ermutigend für den Ansatz narratologischer Schulbuchanalyse. Johannes Scharr (Heidelberg) bearbeitet das dritte laufende Projekt zur geschichtsdidaktischen Schulbuchforschung. Sein Interesse gilt europäischen Erinnerungskulturen im Spiegelbild des Schulbuchs. Im vorliegenden Beitrag konzentriert er sich auf »Schulbücher im Zeichen von Geschichtspolitik? Zum Umgang mit dem Holocaust in schwedischen Schulgeschichtsbüchern«. Den geschichtspolitischen Hintergrund liefern die schwedische Regierungskampagne »Lebendige Geschichte« aus dem Jahr 1997 und die resultierende »International Holocaust Remembrance Alliance«. Die Frage, ob dieser massive geschichtskulturelle Impuls Wirkungen auf einschlägige Schulbuchnarrative zeitigte, bejaht der Autor, verweist auch auf nachweisbare spätere regierungsamtliche Einwirkungen, obgleich schwedische Schulbücher keine administrative Zulassung (mehr) benötigen.
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Teil III: Geschichtskultur und Erinnerungskultur als Gegenstände geschichtsdidaktischer Forschung Weitere drei Beiträge widmen sich den Forschungsfeldern Geschichts- und Erinnerungskultur. Der Aufsatz von Daniel Münch (Jena) geht aus vom schulischen Geschichtsunterricht: »Geschichtskultur als Thema des Geschichtsunterrichts. Wie stehen Lehrkräfte zu dieser Idee?«. Mit einem Ansatz, der sowohl quantitative als auch qualitative Methodik nutzt, untersucht der Autor, mit welchen Überzeugungen und Intentionen Lehrkräfte der verbreiteten Forderung nachkommen, Geschichtskultur zum geschichtsunterrichtlichen Gegenstand zu erheben, dabei Dekonstruktions- und Reflexionskonzepte anzuwenden. Ein erstaunliches Zwischenergebnis bildet die Tatsache, dass viele Lehrkräfte nur über einen diffusen Begriff von Geschichtskultur verfügen, sie mit ihrer institutionellen Perspektive als Summe außerschulischer Lernorte begreifen. Mit »Re-Präsentationen des DDR-Alltags im Museum« befasst sich Regina Göschl (Münster). Mit diskursanalytischer und kultursemiotischer Methodik analysiert sie alltagsbezogene Anteile in den Ausstellungen dreier ausgewählter Museen zur DDR-Geschichte. Sie fragt unter anderem nach der Relation von Herrschaft und Alltag sowie Bezügen zwischen musealer Institution und produziertem Geschichtsbild in den einzelnen Häusern. Bezogen auf die produzierten Bilder im DDR-Museum in Berlin, im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt sowie in der Ausstellung des Hauses der Geschichte in der Kulturbrauerei Berlin kommt die Autorin zur markanten Typisierung für ein Alltagsleben trotz, mit oder in der Diktatur. Im Kontext massiven kommunikativen Wandels sind die Sozialen Medien in den Fokus geschichtsdidaktischer Forschungsprojekte zu rücken, ja teilweise sind Pionierarbeiten gefragt. Hannes Burkhardt (Erlangen-Nürnberg) befasst sich mit »Erinnerungskulturen im Social Web. Auschwitz und der Europäische Holocaustgedenktag auf Twitter«. Mit Methodik der Diskursanalyse und des Social-Media-Monitoring untersucht er die interaktiven Äußerungen auf dem Twitterkanal des Museums Auschwitz-Birkenau am 27. 01. 2016, dem europäischen Holocaustgedenktag. Zum einen stehen das medienspezifische narrative Konzept des Museums, zum anderen die Wahrnehmungswelten der (reagierenden) User*innen im Zentrum. Abgesehen davon, dass in der Twitter-Kommunikation Elemente vieler einschlägiger Diskurse auftauchen, präsentiert der Autor als Zwischenergebnis, dass jedenfalls verbreitete Sorgen um eine (weitere) Entortung des Holocaust als unbegründet erscheinen. Traditionell steht es Herausgeber*innen der Tagungsbände von Nachwuchstagungen frei, einen eigenen Beitrag einzubringen. Im Anschluss an diese Ein-
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führung findet sich mein die Konferenz eröffnender Vortrag zum Thema »Das Flensburger Modell des Lehramtsstudiums im Fach Geschichte: Schulischer Geschichtsunterricht als Sonderfall historischen Lernens?«. Damit nutze ich die Chance, das stark von geschichtsdidaktischen Überlegungen getragene Konzept des aktuellen Lehramtsstudiums im Fach Geschichte an Deutschlands nördlichster Universität, die sich in den vergangenen Jahrzehnten aus einer ehemaligen Pädagogischen Hochschule entwickelt hat, vorzustellen.
Uwe Danker
Das Flensburger Modell des Lehramtsstudiums im Fach Geschichte: Schulischer Geschichtsunterricht als Sonderfall historischen Lernens?
In der Tradition, als Ausrichter von KGD-Nachwuchstagungen das Wort zu ergreifen, stelle ich das aktuelle Konzept des Studienangebots am Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik der Europa-Universität Flensburg vor. Ich werde erstens Napoleon erwähnen, zweitens Schule zum Sonderfall historischen Lernens erklären und gerade daraus drittens Forderungen an schulischen Geschichtsunterricht ableiten, viertens unsere Position zum Bologna-Prozess markieren, fünftens den Handlungsrahmen für Studiengangsgestaltung benennen und schließlich sechstens einen kursorischen Blick auf unsere Studiengänge werfen.1
1.
Napoleon und die Fachkonferenz
Ich beginne mit einer »wahren Geschichte«: Ein Gymnasium in Kiel 2016, die Fachkonferenz Geschichte soll beginnen, eine Kollegin betritt den Raum und deklariert gehetzt: »Ich bin bei Napoleon!« – Das ist ein Satz, den wir alle verstehen! – Verstehen den Direkttext: Es geht um Napoleon, Teil unserer europäischen, unserer deutschen Geschichte. – Verstehen den Kontext: Es ist das von Lehrplan, Kanon und chronologischem Durchgang geprägte Arbeitsfeld dieser Geschichtslehrkraft, das uns bedeutet, was jeweils »dran«, »wie weit man ist«. 1 Der Beitrag behält den essayistischen Charakter bei und operiert insbesondere sehr sparsam mit Fußnoten, die nur die nötigsten Verweise bieten. Wer bezogen auf den tangierten geschichtsdidaktischen Diskurs Verweise in die einschlägige Literatur oder in Handbücher sucht, blicke auf meinen Diskussionsbeitrag: Ziele des Geschichtsunterrichts und die Bedeutung der Zeitgeschichte. In: Die neuen Fachanforderungen Geschichte in der Diskussion. »Lehrpläne« für einen zeitgemäßen, kompetenzorientierten Geschichtsunterricht in Schleswig-Holstein? (Beiträge von Astrid Schwabe, Benjamin Stelle, Karl Heinrich Pohl und Uwe Danker), Demokratische Geschichte 26 (2015), S. 271–310, insb. 301–310 (Download-Link: http://www.beirat-fuer-geschichte.de/fileadmin/pdf/band_26/10_Forum_c_korr.pdf).
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– Verstehen den Subtext: Es ist die Mitteilung, dass Napoleon von der gehetzten Kollegin zurzeit unterrichtlich behandelt wird, aber eigentlich wohl früher »dran« war ; es ist ihre Hoffnung auf Verständigung mit den Kolleg*innen des Jahrgangs, dass auch sie (wieder einmal) nicht soweit sind, wie der Lehrplan wünscht, dass mal wieder der Gesamtdurchgang kollektiv vorzeitig – sagen wir : 1957 mit der Gründung der EWG – enden wird. Das alles nehmen wir wahr in Bruchteilen einer Sekunde, wenn wir hören »Ich bin bei Napoleon!« Es ist die Binnenperspektive tradierten Geschichtsunterrichts. Sie weist drei seiner Kennzeichen auf: – die Wissensorientierung, nämlich den Charakter des Faches als »Arbeitsfach« oder auch als (innerschulisch gern so verortetes) bloßes »Lernfach« (»… in dem man nun wirklich keine Fünf haben muss«), – den – am Gymnasium in der Regel gleich zweimal zelebrierten – chronologischen Durchgang, der als »genetisch-chronologischer« Ansatz so vielen als gottgegeben oder jedenfalls natürlich erscheint, – den Kanon, nämlich das so starre und als verbindlich wie selbstverständlich erachtete historische Überblickswissen. Diese drei tradierten Säulen, gegen die man gewichtige Einwände formulieren kann, tragen modernen Geschichtsunterricht nicht mehr allein, das zu behaupten wäre denunziatorisch und falsch. Aber sie sind ihm nicht fremd, ja sie zählen bis heute meist zu seiner charakteristischen Struktur.
2.
Geschichtsunterricht als Sonderfall historischen Lernens
Ist das zeitgemäß oder ein Anachronismus? Welche gesellschaftlichen Aufgaben hat teurer schulischer Geschichtsunterricht heute eigentlich? Wir müssen an diesem Ort nicht erörtern, was unter historischem Lernen verstanden wird, wenn nach Jörn Rüsen »Sinnbildung über Zeiterfahrung« gesucht,2 das individuelle Geschichtsbewusstsein gefördert werden soll: – Aufgrund fraglos berechtigter Orientierungsbedürfnisse im Universum der Vergangenheit geht es zunächst und auch um den Erwerb reflektierten historischen Wissens. – Bei der immer neu zu beantwortenden Frage »Welches Wissen soll es denn sein?« wird es bekanntlich schon schwieriger. Es geht um den Kanon, jenes so problematische Konstrukt, das immer kulturell, national, herrschaftlich und 2 Vgl. Jörn Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden. Köln 1994.
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gesellschaftlich geprägt ist. Deshalb sind – eigentlich seit langem – Repräsentativität, Exemplarität der Themen und Stoffe auswahlbestimmend, stehen – inzwischen – Transfer, Methoden, Prozeduren zunehmend im Fokus. Der geschichtsdidaktische Konsens in Wissenschaft, Studium, Aus- und Fortbildung sowie engagierter Schulpraxis beinhaltet die ausdrückliche, also auch immer wieder ins Bewusstsein gerufene Verständigung über den Konstruktionscharakter von Geschichte, die immer ein – wie auch immer begründetes – retrospektiv angelegtes, in unseren Köpfen geschaffenes Konstrukt von Vergangenheit bildet, eine Narration, ein Bild, eine Anmutung usw. Tiefgreifende Folgerungen lauten: Derart reflektierte Geschichte ist kontrovers, sollte Perspektivität mitteilen oder bewusst multiperspektivisch daherkommen, wird nicht antiquarisch, sondern fragenstrukturiert sein, wird »mit mir zu tun« haben,3 tangiert deshalb immer auch die Zeitdimensionen Gegenwart und Zukunft, enthält Angebote zur Orientierung und Identitätsbildung. Auch der mühsame Weg zu Fähigkeiten und Fertigkeiten, historisches Wissen selbst individuell, also selbstwirksam auszubauen, zählt heute unstrittig zum historischen Lernen. Erwerb von historischer Urteilsfähigkeit, von narrativen Kompetenzen sind die Schlagworte. Überhaupt dürfen wir die Kompetenzorientierung auch für unser Fach als einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel erkennen, trotz recht unterschiedlicher und weiterhin konkurrierender Modelle, auch trotz defizitärer Praxis.
So purzeln sie, die geschichtsdidaktischen Begriffe und Konzepte, uns allen wohlbekannt. In dieser Generalität spiegeln sie den geschichtsdidaktischen Konsens, sind gewiss auch konstitutiver Teil reflektierter unterrichtlicher Konzepte, der Schulwirklichkeit. – Aber wie ist es eigentlich um Reichweite und Ort schulischen Unterrichts bestellt? Wer fragt, wann, wo und wie wir historisch lernen, wird nach einiger Überlegung erkennen, dass – bei aller Wertschätzung – schulischer Geschichtsunterricht nur eine Ausnahmesituation darstellt. Geschichte begegnet uns überwiegend anderswo. Ihre Omnipräsenz in unserer Kultur beachtet weder Curricula noch Klingelzeichen. Bereits vor und parallel zum Geschichtsunterricht sind Kinder und Heranwachsende ungesteuert und unbegleitet Vergangenheitskonstruktionen vielfältiger Art ausgesetzt, ja oft ausgeliefert. Damit verbundene Lernprozesse möchte man im Einzelfall gar nicht kennen! Hinzu kommt, und das ist noch wichtiger, weil Intervention nicht mehr möglich ist: Die Phase schulischer Begleitung durch Geschichtsunterricht ist auf eine gesamte 3 Susanne Thun: »… und was hat das mit mir zu tun?« Geschichtsdidaktische Positionen. Pfaffenweiler 1993.
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Biografie bezogen kurz. Spätestens danach ist man auf sich selbst gestellt. Die Vorstellung einer abgesicherten Grundausstattung historischen Wissens für ein ganzes Leben trägt nicht. Das ist trivial, sollte uns aber stets vor Augen sein.
3.
Aktualisierte Aufgaben schulischen Geschichtsunterrichts
Wenn Schule nicht (mehr) der zentrale Ort historischer Wissensvermittlung ist und auch nicht (mehr) für ein Leben mit Wissen ausstatten kann, zugleich aber außerhalb der Schule und biografisch nach dem Schulbesuch ein unreflektierter Geschichtskonsum mit dem Transport von Halbwissen, Versatzstücken, Formeln und Vorurteilen droht, so stellt dies eine enorme Herausforderung dar, so wachsen dem schulischen Geschichtsunterricht veränderte Aufgaben und Zielperspektiven zu. In Gesellschaften stark beschleunigten Wandels, medialer Überflutung, sozialer Medien als Ersatz bürgerlicher Öffentlichkeit und Präsenz alter und neuer Fundamentalismen sollte die Grundforderung an engagierten Geschichtsunterricht lauten, hinreichende historische Mündigkeit für das unbegleitete Leben während und nach der Schulzeit anzustreben. Derartige Autonomie meint im Idealfall: selbstgesteuert und methodensicher historisch denken zu können, selbst Geschichte konstruieren und begründen zu können, zudem mit historischen Narrationen anderer und jeder Art kritisch umgehen, also dekonstruieren zu können. Angestrebt wird also ein Portfolio an Fertigkeiten und Fähigkeiten, im Alltag, nämlich »draußen« im wirklichen Leben, vielfältig kommunizierter Geschichte mündig und kritisch zu begegnen, sich in der gegenwärtigen Geschichtskultur zu behaupten. Es sind Prozesse der Konstruktion und Dekonstruktion, wir sprechen von narrativen Kompetenzen. Um dieses Autonomieziel näher zu fassen, will ich zwei Räume der Orientierung unterscheiden, einen inhaltlich-kognitiven und einen kulturellen respektive kommunikativen. Den inhaltlich-kognitiven Raum eines vernetzten historischen Wissens zur (Erst-)Orientierung im Universum der Vergangenheit habe ich bereits tangiert. Vorrangig liefert schulischer Unterricht das angestrebte strukturierte historische Wissen. Seine grundsätzliche Relevanz bleibt ebenso unstrittig wie der jeweils angemessen erscheinende Kanon kontrovers. Zu Letzterem kurze Andeutungen: – Zeithistorische Entwicklungen sind meist noch unmittelbarer Teil unserer Realität. Gegenwartsprobleme wurzeln in mehr oder weniger aktuellen Prozessen, weisen jedenfalls fast immer auch in die jüngste Vergangenheit, die so zum erklärungsbedürftigen Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit wird. Resultierende Orientierungsbedürfnisse sind ernst zu nehmen. Können wir
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uns beispielsweise erlauben, die abgeschlossene DDR-Vergangenheit als unterrichtliches Stiefkind zu behandeln, obwohl Millionen, oft inzwischen geografisch verstreute Familienbiografien mit ihr verbunden sind, mit mannigfaltigen gegenwärtigen Implikationen? Sollen historisches Scheitern und gewaltsame SED-Stasiherrschaft ihre Biografien und Identitäten als irrelevant oder verloren markieren, ohne dass weitere differenziertere Orientierungsangebote entwickelt werden? Wollen wir sie dem ostalgischen Angebot des MDR ausliefern? – Wir begegnen im Bildungssystem ethnisch und biographisch zunehmend heterogenen Gruppen, die auch sehr differierende historische Identitäten aufweisen, manchmal bündeln. Darf die Antwort darin bestehen, unbeirrt eine deutsche historische Leitkultur zu transportieren? Sollten wir neue, etwa europäische Perspektiven suchen, vielleicht sogar weltbürgerliche? Oder sollten wir pragmatisch handeln, die konkreten Zielgruppen unserer Lerngruppen im Auge haben? Man denke an die jüngsten europäischen (Bürger-)Kriege, die Balkankriege. Sie vertrieben in den 1990er Jahren viele Familien in die deutsche Gesellschaft, deren Kinder und Enkel heute deutsche Schulen besuchen oder an Universitäten studieren: Wäre es nicht angemessen, diese Konflikte und bis heute labilen Lösungen auch in einer spezifischen, nämlich historischen Perspektive zu betrachten und innergesellschaftliche kulturelle Brücken zu bauen? Schließlich verändert die aktuelle Flüchtlingswelle aus Kriegen und Bürgerkriegen in Nahost heute unsere Schulen. Legt die Fürsorge für diese geflohenen Heranwachsenden nicht auch nahe, dass wir aktuellen Raum finden für erweiterte Behandlung der Konflikte in Nahost unter unserem spezifischen, nämlich historischen Blickwinkel? Geschichtsunterricht darf die einschlägigen, sich schnell wandelnden inhaltlichen Orientierungsbedürfnisse der zunehmend heterogenen Gruppen von Schüler*innen nicht einfach an die Nachbarfächer delegieren, sondern muss sie auch mit unserer Methodik, unserer Kraft und unseren Perspektiven bedienen. Eine zentrale Voraussetzung für eine derartige und flexible zielgruppengerechte Hereinnahme zusätzlicher aktueller Probleme sind Zeitbudgets im Unterricht, die man nur durch massive Entrümpelung des tradierten Kanons schaffen kann, in der konkreten Schule, im Lehrplan, übertragen auch in der Universität. Der zweite Raum der Orientierung ist jener der ebenfalls bereits benannten omnipräsenten Geschichtskultur, der Begegnung mit Geschichte in Medien, mit Geschichte in allen möglichen Erscheinungsformen, Argumentationen, als Konsumartikel, als kulturelle Auflage, als Ritual, als Herausforderung. Orientierung in diesem stark wachsenden, veränderlichen und bunten, damit herausfordernden Feld ist überlebensnotwendig. Mündiges Bewegen in der Geschichtskultur setzt voraus, dass ich sie wahrzunehmen gelernt habe, dass ich
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ihre Äußerungen hinterfragen kann, dass ich spezifische Sprachen beherrsche. In diesem Sinne verstandene geschichtskulturelle Kompetenz meint in erster Linie exemplarisch erworbene und immer wieder ausdrücklich reflektierte Dekonstruktionserfahrungen (und wo immer möglich auch Konstruktionserfahrungen) mit Geschichtsnarrativen all jener Arten, denen wir im Alltag und im Lebenslauf begegnen. Die notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten stellen sich sukzessive und anwachsend ein. Im Kern geht es darum, im schulischen Geschichtsunterricht relevante Fähigkeiten und Fertigkeiten für sowie erlebte Reflektionen und exemplarische Erfahrungen mit Ausdrucksformen der Geschichtskultur zu vermitteln: – Wer unterrichtlich begleitet und mit dicken Forscherbacken einmal eine historische Ausstellung konsequent dekonstruiert hat, also die thematische Auswahl, Interpretationslinien, deren ausstellerische Umsetzung, die geheimen Laufwege, die Intentionen der Macher*innen reflektiert hat, wer zudem Besucher*innen einer Ausstellung, ihre Verweildauern und Wahrnehmungsformen beobachtet hat, wird so leicht nicht wieder im halbwachen unkritischen Zustand durch Museen schlendern, sondern hinterfragen, aufnehmen, historisch lernen können. – Wo, wenn nicht im schulischen Geschichtsunterricht, sollte man TV-Geschichte dekonstruieren lernen, filmische Dramaturgie, die Zerschnipselung von Zeitzeugenaussagen zur Belegstruktur für Filmaussagen, die Rolle von Musik, die Auswahl von Bildern, Reinszenierungen usw. kritisch thematisieren, Kameraperspektiven, Bildausschnitte und Schnittrhythmen usw. analysieren? – Und dann das Internet, das zwar in den Unterricht integriert wird, aber gewiss nicht nur einen Rechercheraum darstellt, sondern auch ein Raum der Vermittlung und Beeinflussung ist, der stärker noch als andere der kritischen Nutzung bedarf. Gerade das Fach Geschichte mit seiner spezifischen Historisch-Kritischen Methode kann inhaltlich angereicherte und methodisch übertragene Medienkompetenz vermitteln. Auch mündlich tradierte Geschichte, Geschichte in historischer Belletristik (nicht nur im Historischen Roman), Geschichte als Argument usw. wären zu thematisieren. – Intensiv in der Schule erfahren und reflektiert, werden Lernende im weiteren Leben oft so perfekten medialen Inszenierungen mündiger begegnen können und ihnen nicht ausgeliefert sein. Auf unterschiedlichen Feldern geschichtskulturelle Kompetenz anzubahnen, auszubauen und zu verfestigen: Darin sehen wir aus der Perspektive universitärer Fachdidaktik zentrale Aufgaben des Geschichtsunterrichts heute. Daraus folgt: Der postulierte Wandel unseres Abnehmersystems Schule ist nur realisierbar, wenn diese Aufgaben und Phänomene auch in universitärer Lehre fest
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verankert sind, vermittelt und reflektiert werden. Beide Institutionen – Schule und Hochschule – müssen dafür curriculare Freiräume schaffen, bereit sein zur (weiteren) Entrümpelung ihres jeweiligen Kanons. Autonomieziel und Orientierungsangebot gelten, das sei nachdrücklich betont, selbstverständlich für alle Schüler*innen. Unabhängig vom schließlich erzielten Schulabschluss respektive von der Schulbesuchsdauer oder Schulart, unabhängig vom (kulturellen, religiösen, geografischen) Herkommen geht es darum, relevantes Orientierungswissen und Kompetenzen zum eigenständigen Umgang mit Geschichte zu vermitteln. Alle haben auf dieses dem Humanismus und der Aufklärung verpflichtete Bildungsideal einen Anspruch. – Und auch dieser Aspekt ist auf universitäre Lehramtsbildung zu übertragen, gerade an einer Universität, die erst neuerdings auch das Gymnasium im Blick hat.
4.
Zum Bologna-Prozess
Als jemand, der vor zwei Jahrzehnten noch an die Pädagogische Hochschule Flensburg berufen wurde, kann ich auf tiefgreifenden Wandel zurückblicken, dabei auch als Veränderung identifizieren, was jungen Nachwuchswissenschaftler*innen vielleicht bereits als normal erscheint. Meine persönliche Retrospektive lautet: Früher war nichts besser, auch die Studierenden waren es nicht; im Gegenteil. Heute ist Manches besser, übrigens sind es auch die Studierenden. Der Subtext ist klar : So drückt sich eine in unserer Berufsgruppe minderheitliche Anhängerschaft des die Hochschulen seit einem guten Jahrzehnt beschäftigenden Bologna-Prozesses, der europaweiten Umstellung auf modularisierte Studiengänge, aus. Uns überzeugte die dem Reformprozess immanente »Outcome-Orientierung«, also die Perspektive des Abnehmersystems Geschichtsunterricht respektive der die Institution Schule finanzierenden Gesellschaft. »Outcome-Orientierung« von Studienangeboten heißt seither also Herleitung und Begründung der Studieninhalte aus Fähigkeiten, Fertigkeiten sowie Ansprüchen des späteren Berufs, in unserem Fall des Geschichtslehramts. Das war und ist eine Revolution für Deutschlands Universität: – Die Situation zwingt Lehrende erstmals zur organisierten Verständigung darüber, was ein überzeugendes Studium für das Lehramt Geschichte sei. Studienordnungen gab es auch vorher, jetzt aber müssen Modulkataloge konzeptionell begründet, publiziert und fremden Kommissionen vorgelegt werden; das ist etwas anderes. Man glaubt es heute schon noch kaum: Meine Generation begriff das anfangs oft als Zumutung. – Entwicklung und Struktur von Studiengängen orientieren sich erstmals an den konkreten Anforderungen der angestrebten Berufsfelder. Lehre enthält ein deutliches Mehr an Begründung und Verbindlichkeit, wird in geregelte,
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also »verschulte« Abläufe eingepasst, was häufig beklagt wird, aber im Schnitt ein deutliches Mehr an zielgerichteten Leistungen Studierender ergibt. – Hochschullehrende müssen den Arbeitsaufwand der Studierenden für ihre Lehrveranstaltungen erstmals wahrnehmen und taxieren. – Universitäre Lehre wird zunehmend sogar hochschuldidaktisch abgesichert, regelmäßig evaluiert, damit auch kritisiert. – Parallel entsteht der Zwang zu Organisationsverbesserungen. Studierende sind nicht mehr universitäre Gäste, die an Erkenntnis- und Forschungsinteressen Lehrender partizipieren durften, sondern sind Subjekte, deren Rechte erheblich zugenommen haben: transparente und tragende Studienorganisation, Ansprüche auf Lehrangebote, Betreuungsverbindlichkeit und kodifizierte Leistungs- und Bewertungsfristen sind Stichworte. Insgesamt handelt es sich um den Paradigmenwechsel von einer durch Vorlesungen oder Seminare gewährten Teilhabe an der wissenschaftlichen Betätigung von Dozent*innen hin zur vom Berufsziel der Klient*innen abgeleiteten, programmatisch begründeten, transparenten und überprüfbaren Zielorientierung universitärer Lehre, die zudem qualitativ abgesichert wird. Lehrkonzepte und Lehrinhalte sind daraus abzuleiten, nicht aus den spezifischen Forschungsinteressen der Lehrenden. Das mag man bedauern, aber es dient fraglos einer Verbreiterung des Studiums. Unsere übergeordnete Zielvorgabe für das Studienkonzept lautet: Heutige Studierende als zukünftige Lehrkräfte durch wissenschaftlich fundierte und hochschuldidaktisch abgesicherte Lehre dazu zu befähigen, später ihre Zielgruppe, die Schüler*innen, in die gekennzeichnete Autonomie zu leiten. Das bedeutet offensive Kompetenzorientierung und ein klarer geschichtskultureller Schwerpunkt im Studium.
5.
Spielräume der Studiengangsgestaltung
Drei Handlungsmuster, die Hochschulinstitute im Reformprozess verfolgten, deuten die Bandbreite seiner Realisierung an: – Konsequente Beharrung, indem die tradierte epochale Gliederung Alte Geschichte / Mittelalter / Neuzeit / Zeitgeschichte in der hierarchischen Form Repetitorium / Proseminar / Vorlesung / Hauptseminar wie alter Wein in neue Schläuche in Module überführt wird und traditionelle Personalkörper abbildet. – Offensive Reform, indem beispielsweise methodische, fragen- oder themenbezogene, epochenübergreifende oder geschichtskulturellen Phänomenen gewidmete Module als Bausteine eines Konzeptes dienen, das ein ortsspezifisches, mit den personellen Kapazitäten abgestimmtes Profil begründet.
Das Flensburger Modell des Lehramtsstudiums im Fach Geschichte
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– Defensives »muddling through« als pragmatisches Konzept der Anpassung an den Zeitgeist, um zugleich zu bewahren, was als bewahrenswert erscheinen mag. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat sich wiederholt mit Reformzielen und Normierungen der Ausbildung der Lehramtsstudierenden befasst. Jene – universitäre und schulische Vermittlung tangierende – Debatte um fachbezogene Bildungsstandards und Kompetenzen findet nicht zufällig auch im Kontext dieser Gesamtreform statt: Kompetenzorientierung bildet die inhaltlich gefüllte Analogie zum Studienbezug auf spätere Berufsfelder. Im Sommer 2008 formulierte die »Ad-hoc-Arbeitsgruppe« der KMK »ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung«, nach Stellungnahmen der Fachverbände – auch des Vorstands der Konferenz für Geschichtsdidaktik –4 stand die bis heute weitgehend noch aktuelle Fassung vom Dezember 2008.5 Für das Fach Geschichte trägt der Normierungsversuch einen klaren Kompromisscharakter zwischen konservativer Fachbezogenheit und aktuellem Stand der Geschichtsdidaktik. Er repräsentiert das, was derzeit im Konsens innerhalb der Geschichtswissenschaft und in Kooperation mit ministeriellen wie schulischen Repräsentanten erreichbar scheint. Das fachspezifische »Kompetenzprofil« rettet den traditionellen, epochalen inhaltlichen Vermittlungskanon, ergänzt ihn allerdings um wesentliche Aspekte des aktuellen Diskurses. Es enthält geschichtsdidaktische Begriffe und Ansätze, wenn auch in konkreter Vermittlungszielrichtung. Und es bekennt sich zur Kompetenzorientierung. Damit ist Spielraum für vieles gegeben. Aber : Eine nachdrückliche Entrümpelung des universitären – und schulischen – Kanons stellt das Konzept nicht dar. Da es eine unabweisbare Akkreditierungsgrundlage für Studiengänge bildet, definiert es auch den curricularen Handlungsrahmen, über den wir an den Hochschulstandorten jeweils verfügen. Es gibt zudem institutionelle Bedingungen, die bei Studiengangsentwicklungen zu berücksichtigen sind. Die »Terhart-Kommission« kam in ihrem 2000 publizierten Bericht zu einer vernichtenden Kritik der Lehramtsausbildung in Deutschland: Sowohl die Koordination der Hochschullehre als auch die Ko4 Vgl. Susanne Popp/Bettina Alavi: Rückmeldung zum Entwurf der Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Anlage 2 des Rundbriefs der Konferenz für Geschichtsdidaktik (18. 06. 2008). 5 Vgl. KMK (Hrsg.): Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. (Beschluss der KMK vom 16. 10. 2008 i. d. F. vom 16. 03. 2017). Berlin/Bonn 2017. Die Fachanforderungen Geschichte finden sich auf S. 32ff.
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operation in den unterschiedlichen Phasen der Lehrerbildung seien absolut mangelhaft ausgeprägt. Das Studium werde oft nicht auf den späteren Beruf ausgerichtet, die Fachdidaktiken seien nicht hinreichend institutionalisiert, universitäre Lehre für zukünftige Lehrkräfte werde geringgeschätzt, das Angebot der Bildungswissenschaften gerate oft beliebig.6 Vielerorts gelten derzeit »Bildungswissenschaften«, die Erziehungswissenschaften und gesammelte Fachdidaktiken in »Lehrerbildungszentren« konzentrieren, als Kern des Zukunftsmodells für Lehramtsstudien. Das mag Ressourcen bündeln und Brücken in die Praxis bauen. Aber aus unserer Perspektive ist auch Vorsicht geboten: Wo sind in derartigen Segmentierungskonzepten Ort und Rolle der Geschichtsdidaktik zu finden, einer Disziplin, die sich – anders als andere Fachdidaktiken, aber auch nicht alleinstehend – als aus der Fachwissenschaft abgeleitet begreift? Ihre Forschungsorientierung, Begrifflichkeit und Tragweite erfassen als Gegenstandsbereich das historische Lernen im Allgemeinen, und eben nicht allein in der Institution Schule. Schon das, und zudem die skizzierte doppelte Kompetenzorientierung weisen aus jedenfalls eng definierten Lehramtsbildungszentren heraus hin zur vielfältigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Rolle von Geschichte. Aus Schleswig-Holstein lässt sich institutionell berichten, dass die beiden Universitäten in Kiel (ursprünglich Gymnasiallehramt) und Flensburg (ursprünglich Lehramt an Grund-, Gemeinschafts- und Regionalschulen) seit 2015 ohne relevante Unterschiede das Studium für Sekundarlehrkräfte der Sek I und SEK II (in einzelnen Fachausnahmen nur Sek I) anbieten, die Europa-Universität Flensburg zusätzlich in einem eigenständigen Studiengang das Primarstufenlehramt. Curricular ist die regionale Situation ermutigend. Im Sommer 2016 publizierte neue »Fachanforderungen Geschichte« für die Sekundarstufen I und II sind durchaus auf der Höhe der Zeit, bilden einen tragfähigen Kompromiss aus Tradition und Neuerung, geben sich konsequent kompetenzorientiert und dem Autonomieziel verpflichtet, verabschieden sich vom zweiten chronologischen Durchgang in der Sekundarstufe II, schaffen insgesamt erhebliche Freiräume für schulinterne Curricula.7 Eine Kooperation mit Studienseminaren des Instituts für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holsteins (IQSH) gelingt in der Regel nur, wenn Claims der Zuständigkeiten abgesteckt und deckungsfrei bleiben. Verstärkt wird – jedenfalls bis zum Regierungswechsel 2017 – die Beharrungskraft dadurch, dass zwei gegenläufig interessierte Landesministerien (Wissenschaft/Soziales sowie Bildung) sich neutralisieren. Eine phasenübergreifende Kooperation gibt 6 Vgl. Ewald Terhart: Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland. Weinheim 2000. 7 Download-Link: http://lehrplan.lernnetz.de/index.php?wahl=199 (aufgerufen am 05. 05. 2017). Siehe auch Fußnote 1.
Das Flensburger Modell des Lehramtsstudiums im Fach Geschichte
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es fast nicht. Aber als neue Einrichtung, die zunehmend zu funktionieren scheint, wurde das Praxissemester geschaffen, (zwangsweise) in Teilen gemeinsam verantwortet von IQSH und Lehrerinnen- und Lehrerbildungszentrum der Europa-Universität Flensburg, als Veranstaltung der I. Phase in der Hauptverantwortung der Universität liegend. In Flensburg sind die Fachdidaktiken – bisher jedenfalls unstrittig – bei den Fächern verblieben. Insbesondere im Praxissemester kooperieren wir allerdings mit dem federführenden Zentrum für Lehrerinnen- und Lehrerbildung.
6.
Flensburger Studiengänge
Zugespitzt lautet für uns die Rolle des schulischen Geschichtsunterrichts: Im Sonderfall Schule erworbene Kompetenzen des historischen Lernens (oder Denkens) werden ausdrücklich und programmatisch transferiert in geschichtskulturelle Kompetenzen der letzten (oder eigentlichen) Adressaten, der Schüler*innen. Das ist ein Prozess, der nur funktionieren kann, wenn Geschichtslehrkräfte ihr Handeln auch wirklich einzuordnen und auszurichten wissen, es also im Studium intensiv reflektiert haben. Diesem Anspruch versuchen wir mit unseren Studienangeboten8 sowie einer durch das eigens im Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik eingerichtete »Forum gute Lehre« abgesicherten hochschuldidaktischen Vielfalt gerecht zu werden. Abschließend also der kursorische Blick auf unsere Studienverlaufspläne: 20 Creditpoints (CPs), folglich zwei komplette Fachsemester der insgesamt sechs im Bachelorstudiengang, sind im Modulplan ausschließlich als geschichtsdidaktisch ausgelegt respektive als Public History ausgewiesen. Geschichte in der Gesellschaft steht im Zentrum. Fokussiert wird das allgemeine, das nichtschulische historische Lernen – außerschulisch würde einen falschen Mittelpunkt der Welt behaupten. Dieser Ansatz begegnet Studierenden in einzelnen integrativ, nämlich fachwissenschaftlich und fachdidaktisch ausgelegten Veranstaltungen der anderen Module wieder. Zudem sind 5 Leistungspunkte, also ein halbes Fachsemester, für eine geschichtsdidaktische Begleitveranstaltung des einschlägigen Fachpraktikums in der Schule vorgesehen; da darf es dann auch um schulischen Geschichtsunterricht gehen.
8 Links zu den Modulplänen: https://www.uni-flensburg.de/fileadmin/content/portale/studium_ und_lehre/dokumente/po-studiengaenge/bachelor-of-arts/bildungswissenschaften/2015/mo dulkataloge/mk-babw-po2015-geschichte.pdf; https://www.uni-flensburg.de/fileadmin/con tent/portale/studium_und_lehre/dokumente/po-studiengaenge/master-of-education/sekundar schulen/2015/modulkataloge/mk–masek-po2015-geschichte.pdf (aufgerufen am 05. 05. 2015).
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Empfohlener Studienverlauf: 1 2
Pädagogik und Bildung Pädagogik und Bildung
3
Pädagogik und Bildung
4
Pädagogik und Bildung
M 1: Geschichte als Wissenschaft
Fach B
M 2: Geschichte als Kommunikation
Fach B
M 4: Kultur – Gesellschaft – Herrschaft II: Zeitgeschichte
M 5: Theorie-PraxisModul III: Fachdidaktisches Praktikum mit fachdidaktischem Seminar
M 3: Kultur – Gesellschaft – Herrschaft I: Vormoderne und Moderne
Fach B
Fach B
Spezialisierungsoption für Master of Education für das Lehramt an Sekundarschulen: 5
Pädagogik und Bildung
M 6: Europäische Geschichte im globalen Zusammenhang
M 7: Public History
Fach B
6
BA Päd. u. Bi. Thesis (A/B /E)
M 8: Geschichte und Erinnerung I
M 10: Das Jahrhundert der Extreme
Fach B
Abbildung 1: BA Bildungswissenschaften Geschichte Europa-Universität Flensburg Verlauf 2017 (Teilstudiengänge). Empfohlener Studienverlauf:
1
Pädagogik und Bildung
M 1: Geschichte in der Schule
M 2: Kultur, Gesellschaft, Herrschaft I: Mittelalter und Frühe Neuzeit in europäischer und globaler Perspektive
Fach B
2
Pädagogik und Bildung
M 3: Kultur, Gesellschaft, Herrschaft II: Der antike Mittelmeerraum
M 4: Kultur, Gesellschaft, Herrschaft III: Europa im 19. und 20. Jahrhundert
Fach B
3
Pädagogik und Bildung
M 5: Theorie-Praxis-Modul IV: Begleitseminar
Praxissemester
Fach B
4
Master Thesis (Fach A, Fach B oder Erzwiss.)
M 6: Kultur, Gesellschaft, Herrschaft IV: Historiografische Kontroversen
Fach B
Abbildung 2: MA Lehramt Sekundarschulen Geschichte Europa-Universität Flensburg Verlauf 2017.
Der Masterstudiengang »Lehramt an Sekundarschulen« sieht im ersten Studiensemester ein 5-CP-Modul »Geschichte in der Schule« vor, hier soll der Brückenschlag in die Berufspraxis angebahnt werden. Im eigentlichen dritten, dem Praxissemester leisten die am Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik tätigen erfahrenen abgeordneten Lehrkräfte (die auch andere Lehre aus dem
Das Flensburger Modell des Lehramtsstudiums im Fach Geschichte
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fachwissenschaftlichen wie fachdidaktischen Spektrum anbieten und – nicht zuletzt durch das facheigene Hochschuldidaktische Forum – voll in unseren spezifischen Ansatz integriert sind) im Rahmen ihrer intensiven Begleitveranstaltungen den eigentlichen Transfer in Methodik und Praxis eines (neu ausgerichteten) Geschichtsunterrichts. Gemeinsam wollen wir auf diese Weise unsere Studierenden (und späteren Referendare) für die Abwehr der üblichen Begrüßungsformel der Studienreferendare in der Schule wappnen: »Vergesst alles, was bisher war ; jetzt beginnt eure Ausbildung!«. Abschlussarbeiten im Bachelorstudiengang sind prinzipiell nicht schulbezogen, aber wahlweise fachwissenschaftlich oder geschichtsdidaktisch ausgerichtet. Eine Masterthesis kann ein schulbezogenes Thema bearbeiten, muss aber immer den allgemeinen geschichtsdidaktischen Rahmen aufweisen. Auf diese Weise versuchen wir, eine nachhaltige Brücke von geschichtsdidaktischer Theorie und Einbettung zu methodischer Reflexion zu bauen. So schwer das in einem der beharrungsstärksten Milieus unseres Bildungssystems auch erscheinen mag, wir wollen so auch Geschichtsunterricht verändern. Wenigstens ein bisschen. Natürlich ist unser Studienangebot ansonsten streng und ausgreifend fachwissenschaftlich ausgerichtet, genügt es auch epochal den Ländergemeinsamen Anforderungen. Ansonsten wäre eine Akkreditierung derzeit nicht denkbar. Ja, es gibt inzwischen auch fachwissenschaftliche und fachdidaktische Repetitorien, frisch im Angebot und ausdrücklich auf Wunsch der Fachschaft geschaffen, aber ungewöhnlich durchgeführt, nämlich hochschuldidaktisch innovativ angelegt. Der grundlegende Wandel des Bildungssystems findet statt, mit uns oder ohne uns Historiker*innen. Schule – oder Universität – scheinen zu oft immer noch zu sehr Mittelpunkt des Lebens; es ist die Falle der Ichzentriertheit von uns Lehrenden. Kompetenzorientierung, Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur, Public History, historische Narrativität, Konstruktionscharakter von Geschichte: alle zentralen Begriffe der gegenwärtigen Geschichtsdidaktik weisen nach außen, in die weite Welt, in der unsere End-Adressaten, die Schüler*innen, sich später behaupten müssen. Sie erwartet eine Biografie außerhalb der Schule. Geschichtskulturelle und fachliche Kompetenzen bilden das Wertvollste, das wir ihnen mitgeben können. Denn für das »wahre Leben« muss das Bildungssystem sie stärken und ausrüsten. Alles andere ist nachrangig.
I. Geschichtsunterricht und Geschichtslehrkräfte im Fokus didaktischer Forschung
Christian Spieß
Historisches Lernen im Fächerverbund. Konzeption und Zwischenergebnisse eines empirischen Projekts
Konzept Fächerverbünde von Geschichte und mindestens einem weiteren Fach sind für viele Schüler*innen der Sekundarstufe I der Regelfall schulischer Geschichtsvermittlung. Inwieweit diese für die Vermittlung fachspezifischer Inhalte und Kompetenzen einen Verlust oder einen Mehrwert bieten, ist bisher wenig erforscht, für alle Beteiligten jedoch von alltäglicher Relevanz.
Fragestellung Das Projekt widmet sich der explorativen Frage, welche Kompetenzen historischen Lernens Schüler*innen in Fächerverbünden bzw. Verbundfächern performativ zeigen. Um dieser Frage nachzugehen, werden im Rahmen einer Vorstudie zunächst Lehrkräfte in Expert*inneninterviews zu ihren professionellen Orientierungen bezüglich des historischen Lernens im Fächerverbund befragt. In der Hauptstudie sollen ausgehend von den in der Vorstudie geknüpften Kontakten Unterrichtsvideografien angefertigt werden und mit Hilfe der dokumentarischen Methode untersucht werden, welche fachlichen Kompetenzen Schüler*innen im Unterricht situativ zeigen.
Probleme Auf der Grundlage der zurzeit laufenden Vorstudie und den damit verbundenen Felderkundungen zeichnet sich ab, dass den Lehrkräften zufolge additive Ansätze für die Unterrichtsplanung bzw. -konzeption dominieren. Es findet demnach unter dem Dach des Fächerverbunds mehr oder weniger herkömmlicher Fachunterricht statt, der nicht per se fächerverbindend angelegt ist. Für ein kontrastreiches Sample wäre es sinnvoll, Unterricht zu filmen, der dem integrativen Anspruch des fächerverbindenden Lernens stärker gerecht wird. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern eigens konzipierte (integrative) Unterrichtseinheiten in Kooperation mit Lehrkräften ins Sample übernommen werden sollten.
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Stand Es zeichnet sich eine gemeinhin große Akzeptanz des Fächerverbunds Gesellschaftslehre ab – sowohl bei Lehrkräften, die Geschichte fachfremd unterrichten, als auch bei denen, die Geschichte studiert haben. Wie bereits beschrieben deuten die bisherigen Interviews darauf hin, dass die Teilfächer des Verbunds Gesellschaftslehre als solche weiter bestehen und integrative Ansätze – wenn überhaupt – punktuell realisiert werden.
1.
Gegenstand
Historisches Lernen findet – zumindest dem Anspruch nach – nicht nur im Geschichtsunterricht statt. In allen deutschen Bundesländern gibt es mittlerweile zunehmend andere Fächer, unter deren Dach Geschichtsunterricht stattfinden soll. Dies gilt meist für nicht-gymnasiale Schulformen, wobei Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern, Klassen- bzw. Jahrgangsstufen wie auch den Schulformen existieren. Die enorme Vielfalt wird dabei bereits durch die Vielzahl der Namen der Fächerverbünde suggeriert: Welt-Umweltkunde, Welt- und Umweltkunde, Gesellschaftslehre, Geschichte und Politik, Gemeinschaftskunde, Geschichte und Sozialkunde, Erdkunde-Wirtschaftskunde-Gemeinschaftskunde (EWG) usw. Hier findet Geschichtsunterricht nicht – wie in der Regel an Gymnasien noch der Fall – im Rahmen eines eigenständigen Fachs statt, sondern innerhalb von Fächerverbünden, in denen Geschichte neben anderen meist geistes-, aber auch wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fächern unterrichtet wird. Nicht nur die Namen, auch die didaktischen Konzepte unterscheiden sich mitunter stark voneinander.1 Fächerintegration bedeutet in der Praxis, dass Lehrkräfte, die Geschichte studiert haben, dann z. B. auch Erdkunde und Politik unterrichten müssen bzw. dass die historischen Anteile des Fachs oftmals von Lehrkräften unterrichtet werden, die keine Ausbildung als Geschichtslehrer bzw. Geschichtslehrerin haben. Es ist ebenfalls möglich, dass Lehrkräfte alle Teilfächer des Verbunds fachfremd unterrichten. Interdisziplinär ausgerichtete Studiengänge, die speziell auf das Unterrichten in einem solchen Fach vorbereiten, gibt es momentan nur in Bremen und im Saarland, wobei einschränkend angemerkt werden muss, dass es 1 Siehe Wolfgang Sander : Soziale Studien 2.0? Politische Bildung im Fächerverbund. In: kursiv. Journal für politische Bildung (2010), H.1, S. 14–26, S. 16; Thomas Brühne: Bestandsaufnahme gesellschaftswissenschaftlicher Fächerverbünde in Deutschland und Überlegungen zu einer stärker integrativ ausgerichteten Organisationsform. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 5 (2014), H.1, S. 100–115, S. 103f.
Historisches Lernen im Fächerverbund. Konzeption und Zwischenergebnisse
33
sich dabei nicht um ganze Studiengänge handelt, sondern um Pflichtmodule, die während des Studiums eines Bezugsfachs belegt werden müssen.2 In Fächerverbünden soll – das ist in der Regel der Anspruch und die bildungstheoretische Begründung – fächerverbindendes Lernen stattfinden. Das bedeutet im Kern, dass eine komplexe Problemstellung durch sich ergänzende und verbindende Fragestellungen aus unterschiedlichen fachlichen Blickwinkeln beleuchtet wird.3 Auf dieses Potenzial wird seit Längerem als zentralem Vorteil fächerverbindenden Lernens verwiesen. Komplexe Themen ließen sich so umfassender und sachgerechter beleuchten, als es im Fachunterricht möglich sei.4 Die Bearbeitung komplexer Problemstellungen ist damit anschlussfähig an die seit einigen Jahren geforderte Kompetenzorientierung, die darauf abzielt, anhand lebensweltlich relevanter Probleme Kompetenzen als domänenspezifische Problemlösefähigkeiten in den Mittelpunkt schulischen Lehrens und Lernens zu stellen.5 Die beschriebene Art von Interdisziplinarität6 ist im Fächerverbund institutionalisiert, jedoch curricular höchst unterschiedlich verankert, wobei dem »integrativen« Ansatz – ein Thema wird aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven beleuchtet – die vermutlich gängigere »additive« Verfahrensweise gegenübersteht. Als »additiv« wird Unterricht bezeichnet, in dessen Rahmen unterschiedliche Themen nacheinander behandelt werden und sich die disziplinären Perspektiven nicht ergänzen. Beides ist curricular vorgesehen,7 wobei
2 Siehe für Bremen: http://www.uni-bremen.de/zedis/lehre-und-studium/schulformen-und-mo dule/la-gymos/zedis-lehrmodul-fachdidaktik-im-sozialwissenschaftlichen-kontext/modul beschreibung-fd3.html, aufgerufen am 02. 01. 2017. 3 Peter Labudde: Fachunterricht und fächerübergreifender Unterricht: Grundlagen. In: KarlHeinz Arnold/Uwe Sandfuchs/Jürgen Wiechmann (Hrsg.): Handbuch Unterricht. 2. Aufl. Bad Heilbrunn 2009, S. 331–336. Siehe auch Bettina Alavi: Das Verhältnis von Disziplinarität und Interdisziplinarität in Fächerverbünden der Hauptschule am Beispiel von Geschichte. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Lehrplanforschung. Methoden – Analysen – Perspektiven. Münster 2004, S. 137–149, S. 138. 4 Günter Sämmer/Andrea Wagener: Projektorientierter und fächerverbindender Unterricht auf der gymnasialen Oberstufe. Das Bergheimer Modell. In: Pädagogik 9 (1997), S. 44–50; Herbert Gudjons: Verbinden. Koordinieren. Übergreifen. Qualifizierter Fachunterricht oder fächerübergreifendes Dillettieren? In: Pädagogik 9 (1997), S. 40–43, S. 41; Johannes Bastian u. a.: Profile in der Oberstufe. Fächerübergreifender Projektunterricht in der Max-BrauerSchule Hamburg. Hamburg 2000, S. 125. 5 Eckhard Klieme: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Berlin 2003; Franz E. Weinert: Concepts of Competence: A Conceptual Clarification. In: Dominique S. Rychen/Laura H. Salganik (Hrsg.): Defining and Selecting Key Competencies. Seattle u. a. 2001, S. 45–56. 6 Vgl. zum Begriff der Interdisziplinarität Tobias Arand: Fächerverbindender Geschichtsunterricht. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 2. Schwalbach/Ts. 2012, S. 308–324, hier S. 309f. 7 Siehe dazu Alavi (Anm. 3) sowie Oliver Plessow: »Geschichte mit Gemeinschaftskunde« in
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letztlich nur der integrative Ansatz der Definition fächerverbindenden Lernens gerecht wird. Diese zielt nicht nur darauf ab, dass komplexe Fragestellungen interdisziplinär bearbeitet werden, sondern – und diese Ergänzung ist entscheidend – dass das Zusammenwirken der Fächerperspektiven mindestens an einer Stelle im Unterrichtsverlauf explizit zum Thema wird und es zu einer Reflexion der unterschiedlichen, sich im Idealfall ergänzenden fachlichen Zugänge kommt.8 Die Geschichtsdidaktik hat sich lange Zeit kaum mit Fächerverbünden auseinandergesetzt. Dietmar von Reeken sieht den Grund für dieses Versäumnis in den Nachwirkungen des Streits um die hessischen Rahmenrichtlinien.9 Die aus seiner Sicht traumatischen Züge der Debatte hätten ein ernsthaftes Nachdenken über die Möglichkeiten der Fächerintegration auf Jahre behindert.10 In aktuelleren geschichtsdidaktischen Publikationen sind Fächerverbünde durchaus umstritten. Während Franziska Conrad in ihnen die »ideale Organisationsform, um fächerübergreifendes und fächerverbindendes Lernen zu ermöglichen«11 sieht, warnt Hans-Jürgen Pandel davor, dass die wissenschaftlichen Frage- und Arbeitsweisen der im Verbund integrierten Fächer – also das, was die Einzelfächer eigentlich im Kern ausmacht – verloren gehen und die Gefahr eines »radikalen Erkenntnisverlust[s]« aufgrund der Aufhebung fachlicher Verfahrensweisen und Forschungstechniken drohe.12 Zu einer ähnlich negativen Einschätzung kommt Waldemar Grosch, der neben den Herausforderungen fachfremden Unterrichtens auch die Verschiebung des
8
9
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baden-württembergischen Berufsgymnasien – ein Beispiel für eine gelungene Fächerintegration? In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 5 (2014), H. 1, S. 60–80. Petra Herzmann/Michaela Artmann/Kerstin Rabenstein: Forschungen zum fächerübergreifenden Unterricht der Sekundarstufe I und II: Ausgangspunkte, Befunde und Perspektiven. In: Michaela Artmann u. a. (Hrsg.): Das Zusammenspiel der Fächer beim Lernen. Fächerübergreifender Unterricht in den Sekundarstufen I und II: Forschung, Didaktik, Praxis. Kassel 2011, S. 23–44, hier S. 24. Vgl. Klaus Bergmann/Annette Kuhn: Abschied vom Aufbruch. Hessen 1972–1982: Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre. Zum Erscheinen der 6.,7.,8. Fassung. In: Geschichtsdidaktik. Probleme – Projekte – Perspektiven 7 (1982), H. 3, S. 273–282 sowie Hans Mommsen: Die hessischen Rahmenrichtlinien für das Fach »Gesellschaftslehre« in der Sicht des Fachhistorikers. In: Gerd Köhler/Ernst Reuter (Hrsg.): Was sollen Schüler lernen? Die Kontroverse um die hessischen Rahmenrichtlinien für die Unterrichtsfächer Deutsch und Gesellschaftslehre. Frankfurt a. M. 1973, S. 88–96. Dietmar von Reeken: Wer hat Angst vor Wolfgang Klafki? Der Geschichtsunterricht und die »Schlüsselprobleme«. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 50 (1999), H. 5/ 6, S. 298. Franziska Conrad: Fächerübergreifender und fächerverbindender Unterricht. Ein Weg zur Förderung von historischem Denken? In: GWU 57 (2006), H. 11, S. 650–664, hier S. 658. Hans-Jürgen Pandel: Fachübergreifendes Lernen. Artefakt oder Notwendigkeit. In: sowionline 1/2001, o.S.
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thematischen Fokus auf bestimmte instrumentalisierte historische Inhalte bemängelt.13 Empirische Erkenntnisse speziell zum historischen Lernen in Fächerverbünden liegen bis dato jedoch quasi nicht vor.14 Verweise auf die britische ChataStudie von 1996, wonach die Integration von Geschichte in ein anderes Fach in Bezug auf historische Lernleistungen von Nachteil sei, sind – wie auch Bodo von Borries zu bedenken gibt –15 mit Vorsicht zu tätigen, zumal sich die Studie auf englische Verhältnisse bezieht und mittlerweile über zwanzig Jahre alt ist. Ebenso sind empirische Befunde zum fächerverbindenden Lernen generell relativ rar.16 Insbesondere die größtenteils überfachlichen Befunde aus der Begleitung und Evaluation der Hamburger Profiloberstufe stellen jedoch das Potenzial fächerverbindenden Lernens in den Mittelpunkt. So seien die Schüler*innen im fächerverbindenden Projektunterricht in der Lage gewesen, ihre eigene Lernsituation zu reflektieren. Metakognitive Aktivierung sei dabei vor allem durch die Wahl eines »Problemkontextes« gefördert worden, was wiederum zu einer reflektierten Selbsteinschätzung der eigenen Kompetenzen und der Erfolgsaussichten der anstehenden Problemlösebemühungen geführt habe.17 In der Reflexion der unterschiedlichen Fachzugänge – wie oben erwähnt einem Konstitutivum fächerverbindenden Lernens –18 sehen die Autor*innen großes Potenzial: »Gerade die Anwendung und Reflexion unterschiedlicher Fachzugänge und fachlicher Denk- und Arbeitsweisen im Rahmen eines übergreifenden Themas kann nicht nur kognitive, sondern auch motivationale Einstellungen fördern, die für ein wissenschaftspropädeutisches Arbeiten unverzichtbar sind.«19
Inwiefern diese Prämissen auch für die Arbeit in der Sekundarstufe I – dem eigentlichen Ort des Fächerverbunds – gelten können, ist dabei unklar. Bisherige empirische Untersuchungen deuten jedoch an, dass hier eine stärkere Produktorientierung für die Reflexion der fachlichen Perspektiven notwendig sein könnte.20 Grundsätzlich jedoch stehen hier mit kognitiven, motivationalen und 13 Waldemar Grosch: Geschichte im Fächerverbund. In: Hilke Günther-Arndt/Meik ZülsdorfKersting (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2014, S. 67–73. 14 Arand (Anm. 6). 15 Vgl. Bodo von Borries: Lehr-/Lernforschung in den europäischen Nachbarländern – ein Stimulus für die deutsche Geschichtsdidaktik? In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. Münster 2002, S. 13–49, hier S. 26. 16 Labudde (Anm. 3); Herzmann/Artmann/Rabenstein (Anm. 8), S. 25. 17 Bastian u. a. (Anm. 4), S. 130. 18 Herzmann/Artmann/Rabenstein (Anm. 8), S. 24. 19 Bastian u. a. (Anm. 4), S. 131. 20 Uwe Maier: Formen und Probleme von fächerübergreifendem Unterricht an baden-württembergischen Hauptschulen. Online Journal: Forum Qualitative Sozialforschung 7 (2006), H.1
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metakognitiven Faktoren Aspekte im Mittelpunkt, die Bedingungen fachlichen Kompetenzerwerbs sind und insofern das Potenzial auch für historische Denkleistungen zumindest andeuten.
2.
Fragestellung
Aus diesem Grund geht das hier skizzierte Forschungsprojekt der Frage nach, inwiefern sich im Unterricht in Fächerverbünden fachlicher Kompetenzerwerb in Form von historischem Lernen ereignet. Dazu stehen im Rahmen einer Vorstudie zunächst Lehrkräfte im Vordergrund, die in Expert*inneninterviews zu ihren professionellen Orientierungen bezüglich historischen Lernens im Fächerverbund befragt werden. Darüber hinaus dient die Vorstudie der Felderkundung, da sie Zugriff auf die spezifischen Organisationsformen der Fächerintegration ermöglicht und so neben Feldkontakten auch die Voraussetzung für ein vielfältiges Sample schafft. Im Rahmen der Hauptstudie rücken demgegenüber die Schüler*innen in den Fokus. Es soll erforscht werden, wie Unterricht in Fächerverbünden gestaltet wird und welche Kompetenzen historischen Lernens Schüler*innen im Umgang mit ausgewählten Themen zeigen. Ziel ist es, mit den Mitteln qualitativ-rekonstruktiver Unterrichtsforschung zu bestimmen, welche Merkmale der videografierten Unterrichtsreihen fachlichen Kompetenzerwerb begünstigen und den Mehrwert der fachspezifischen Perspektiven aus Sicht der Lernenden deutlich werden lassen. Vor- und Hauptstudie werden im Folgenden in Konzeption und Design näher erläutert, um davon ausgehend erste Ergebnisse der Vorstudie zu präsentieren.
3.
Vorstudie
Die Vorstudie hat das Ziel, die professionellen Orientierungen von in Fächerverbünden unterrichtenden Lehrkräften zu erforschen. Damit steht ein Teilaspekt der Fragestellung der Hauptstudie im Mittelpunkt. Außerdem dient die Vorstudie der Felderkundung und damit der Vorbereitung der Hauptstudie, da Kontakte zu Lehrkräften hergestellt werden, deren Unterricht später videografiert wird. Ausgehend von der zentralen Rolle, die Lehrkräften im Bildungssystem zukommt,21 werden Lehrkräfte auch als Schlüsselfaktoren für effektiven Ge(http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/rt/printerFriendly/77/157, aufgerufen am 26. 03. 2016). 21 Jürgen Baumert/Mareike Kunter : Das Kompetenzmodell von COACTIV. In: Mareike Kunter
Historisches Lernen im Fächerverbund. Konzeption und Zwischenergebnisse
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schichtsunterricht angesehen.22 In Bezug auf fächerverbindenden Unterricht allgemein und Fächerintegration im Speziellen liegen bereits empirische Studien vor, die sich den Vorstellungen von Lehrkräften widmen. So können vernetztes Denken, der Erwerb komplexer Problemstrategien und Perspektivenwechsel hessischen Lehrkräften zufolge im fächerübergreifenden Unterricht besser erreicht werden, ohne dass darunter die Fachkompetenz leide.23 Für fächerverbindendes Lernen an Hauptschulen in Baden-Württemberg kommt Uwe Maier hingegen zu dem Befund, dass die Vernetzung fachlicher Perspektiven in den Erzählungen von Lehrkräften letztlich keine Rolle spiele.24 Bedeutsam scheint in dieser Hinsicht die Akzeptanz der jeweiligen Fächerverbünde auf Seiten der Lehrkräfte, die offenbar eng mit der Auswahl der Fachinhalte und der Affinität mit den fachlichen Methoden zusammenhängt.25 Dieser Befund legt zumindest nahe, dass fachspezifische Zugriffsweisen für Lehrkräfte ein zentraler Wertmaßstab bei der Beurteilung von Fächerverbünden sind. Generalisierbare Befunde zu professionellen Orientierungen von Lehrkräften und der Umsetzung von Fächerintegration, insbesondere zum Verhältnis von Fachlichkeit und Interdisziplinarität liegen jedoch bisher nicht vor. Daraus ergibt sich die Frage, über welche handlungsleitenden Vorstellungen Lehrkräfte verfügen, die in Fächerverbünden unterrichten. Inwiefern unterscheiden sich die Orientierungen in Bezug auf historisches Lernen zwischen Lehrkräften mit fachlicher Ausbildung und solchen, die fachfremd unterrichten? Welche Rollen spielen regionale oder schul(form)-spezifische Unterschiede? Um diesen explorativen Fragen nachzugehen, sollen Expert*inneninterviews mit ca. 30 Lehrkräften in Bremen, Niedersachen und Hessen sowie in der Schweiz und Kanada durchgeführt und mit der dokumentarischen Methode26 ausgewertet werden. Ziel des theoretischen Samplings ist ein möglichst kontrastreiches Sample, das vielfältige Fallvergleiche ermöglicht. Dies soll u. a. damit erreicht werden, dass pro Schule sowohl fachfremd unterrichtende als auch
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u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster 2011, S. 29–53, hier S. 29. Helmut Messner/Alex Buff: Lehrerwissen und Lehrerhandeln im Geschichtsunterricht – didaktische Überzeugungen und Unterrichtsgestaltung. In: Peter Gautschi u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Zürich 2007, S. 143–175, hier S. 144. Frauke Stübig/Peter H. Ludwig/Dorit Bosse: Problemorientierte Lehr-Lern-Arrangements in der Praxis. Eine empirische Untersuchung zur Organisation und Gestaltung fächerübergreifenden Unterrichts. In: Zeitschrift für Pädagogik (2008), H. 3, S. 376–395, hier S. 391f. Maier (Anm. 20). Uwe Maier/Udo Rauin/Joachim Kraft: Fächerverbünde in der Sekundarstufe. Wie beurteilen Lehrkräfte neue curriculare Vernetzungen? In: Die Deutsche Schule 99 (2007), H. 3, S. 316–329, hier S. 327. Ralf Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. Opladen 2007; ders.: Qualitative Bild- und Videointerpretation. Opladen 2009.
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Lehrer*innen mit fachlicher Ausbildung interviewt werden sollen. Mit der Schweiz und Kanada sollen zudem Länder ins Sample aufgenommen werden, in denen Fächerverbünde – auch in der Ausbildung – weit verbreiteter sind als in Deutschland.27 Am Ende der Vorstudie sollen neben Erkenntnissen zu den professionellen Orientierungen der Lehrkräfte Feldkontakte für die Hauptstudie geknüpft werden. Dabei ermöglicht die Erhebung des handlungsleitenden Wissens der Akteur*innen Erkenntnisse zur spezifischen Umsetzung der Fächerintegration, die über Programmatik und Selbstdarstellung der Schulen hinausgehen und so eine solide Basis für ein kontrastreiches Sample bilden. Ausgehend von den Ergebnissen soll auch geklärt werden, inwiefern sich ein internationaler Vergleich im Rahmen des Drittmittelprojekts lohnt.
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Hauptstudie
Auf der Grundlage der Feldkontakte aus der Vorstudie und der von den Lehrkräften beschriebenen Umsetzung der Fächerintegration vor Ort soll im Rahmen der Hauptstudie sodann der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich im Unterricht in Fächerverbünden fachlicher Kompetenzerwerb in Form von historischem Lernen ereignet. Es handelt sich um Grundlagenforschung mit dem Ziel einer methodisch kontrollierten Sichtung von Unterricht der Sekundarstufe I und der genauen Beschreibung seiner Gestaltungs- und Konstruktionsprinzipien als Bedingungen von Kompetenzerwerb. Dazu soll Unterricht in Fächerverbünden der Sekundarstufe I gefilmt und mit der dokumentarischen Methode analysiert werden. Nicht nur aus forschungspraktischen Gründen liegt dabei der Fokus auf Unterrichtseinheiten zu den Themenbereichen Migration und Globalisierung. Die Themenbereiche wurden auch gewählt, da sie zum einen curricular verankert sind, zum anderen seit Längerem als Beispiele für Themen herangezogen werden, die sich für integrative Zugänge anbieten. Da die dokumentarische Interpretation auf dem empirischen Fallvergleich aufbaut, ist ein kontrastreiches Sample nötig. Dies soll dadurch erreicht werden, dass erstens im Rahmen der Vorstudie Felderkundungen durchgeführt werden, zweitens auch eigens konzipierte integrative Unterrichtsmaterialien in Kooperation mit den Lehrkräften zum Einsatz kommen, drittens sowohl fachfremde als auch Lehrkräfte mit fachlicher Ausbildung gefilmt werden sollen und viertens in verschiedenen Bundesländern – und ggf. Ländern – unterschiedliche Fächerverbünde Teil des Samples sind. 27 Labudde (Anm. 3), S. 335.
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Kompetenzen historischen Denkens sind zum jetzigen Stand der Forschung nicht messbar. Es ist nicht möglich, die Effekte von Unterrichtseinheiten in Form von Kompetenzniveaus zu quantifizieren.28 Mit der dokumentarischen Methode liegt jedoch ein Verfahren vor, mit dem kompetentes Verhalten qualitativ-empirisch anhand von Handlungen rekonstruiert werden kann.29 Das Verfahren ist bereits im Rahmen einiger fachdidaktischer Studien zum Einsatz gekommen und wurde jüngst für die Analyse von Unterrichtsvideos weiterentwickelt.30 Für die Kompetenzforschung eignet sich die Methode insbesondere deshalb, weil über die für die Methode charakteristische Differenzierung von kommunikativem und konjunktivem Wissen Aussagen darüber getroffen werden können, inwiefern Handlungen habitualisiert sind – und damit als kompetent angesehen werden können – oder nicht. Über den empirischen Fallvergleich lassen sich in einem weiteren Schritt Aussagen darüber treffen, welche strukturellen und/oder situativen Gegebenheiten (z. B. Schulform oder Aspekte des Lehr-/Lernarrangements) für den Kompetenzerwerb relevant sind. Ziel des Vorhabens ist es, die Bedingungen fachlichen Kompetenzerwerbs in Fächerverbünden empirisch zu erfassen und zu rekonstruieren, welche Rolle strukturelle Aspekte wie die fachliche Ausbildung, unterschiedliche Schulformen oder regionale Unterschiede auf der einen und situative Aspekte wie additive oder integrative Unterrichtseinheiten auf der anderen Seite spielen. Auf der Grundlage der Befunde ist es möglich, in einem Folgeprojekt ein Messinstrument zu entwickeln, mit dem sich die Effekte der Unterrichtseinheiten über Prä- und Post-Tests quantifizieren lassen.
28 Olaf Köller : Bildungsstandards – Verfahren und Kriterien bei der Entwicklung von Messinstrumenten. In: Zeitschrift für Pädagogik 54 (2008), H. 2, S. 163–173, hier S. 169f.; Andreas Körber : Sind Kompetenzen historischen Denkens messbar? In: Volker Frederking (Hrsg.): Schwer messbare Kompetenzen. Herausforderungen für die empirische Fachdidaktik. Baltmannsweiler 2008, S. 65–84. 29 Matthias Martens/Barbara Asbrand: Rekonstruktion von Handlungswissen und Handlungskompetenz. Auf dem Weg zu einer qualitativen Kompetenzforschung. In: Zeitschrift für qualitative Forschung 10 (2009), H. 2, S. 201–217. 30 Matthias Martens/Dorthe Petersen/Barbara Asbrand: Die Materialität von Lernkultur. Methodische Überlegungen zur dokumentarischen Analyse von Unterrichtsvideografien. In: Ralf Bohnsack/Bettina Fritzsche/Monika Wagner-Willi (Hrsg): Dokumentarische Film- und Videointerpretation. Methodologie und Forschungspraxis. 2. durchgesehene Aufl. Opladen 2015, S. 179–203; Matthias Martens/Christian Spieß/Barbara Asbrand: Rekonstruktive Geschichtsunterrichtsforschung. Zur Analyse von Unterrichtsvideografien. In: Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung. Schwalbach/Ts. 2015, S. 177–205.
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Zwischenergebnisse
Abschließend sollen Zwischenergebnisse der derzeit laufenden Vorstudie anhand einzelner Aspekte vorgestellt werden. Ausgehend von zwei ausgewerteten offenen Leitfadeninterviews haben die hier geschilderten Befunde keinerlei Anspruch auf Generalisierbarkeit; es scheinen sich jedoch einige Tendenzen abzuzeichnen, die interessant genug sind, um sie an dieser Stelle zu erwähnen. Die anonymisiert wiedergegebenen Interviewpassagen dienen an dieser Stelle mehr der Illustration als dem Nachvollzug der Befunde. Zunächst zeigte sich bei allen interviewten Lehrkräften eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber dem von ihnen unterrichteten Verbundfach. Da es sich bei den bisher befragten Lehrkräften ausnahmslos um Gesellschaftslehrkräfte an niedersächsischen Integrierten Gesamtschulen handelte, kann nur der Fallvergleich beleuchten, inwiefern es sich um ein Spezifikum des Faches handelt. Mit Blick auf die Herausforderungen des fachfremden Unterrichtens, die sich den Lehrkräften insbesondere beim Berufseinstieg stellten, berichten die Befragten von Arbeitsteilung als konstruktivem Ansatz der Bewältigung: So sei es üblich, dass Unterrichtseinheiten mit Fokus auf das Fach Geschichte von Kolleg*innen mit einem entsprechenden Studium geplant und dem Kollegium zur Verfügung gestellt würden. Dies weist auf einen zentralen Punkt hin: Hinweise auf integrative Unterrichtseinheiten, in denen ein und dasselbe Thema aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven beleuchtet würde, geschweige denn Gelegenheiten, die Chancen und Grenzen bestimmte fachlicher Zugänge zu reflektieren, spielen in den Erzählungen der Lehrkräfte bisher keine Rolle. Dieser Befund ist anschlussfähig an bisherige Erkenntnisse31 und zeigt, dass die Trennung der im Wechsel unterrichteten Fächer Geschichte, Politik und Erdkunde den Erzählungen der Lehrkräfte nach bestehen bleibt. Fächerübergriffe ereignen sich demnach eher punktuell und sind nicht strukturell angelegt. So berichtet Herr Schmidt von einer Unterrichtseinheit zum Thema Globalisierung: »Ähm (2) da habe ich dann beispielsweise eben nicht nur geguckt […] wie kommt die Jeans zu uns? Ne, so so klassische Sachen, (.) sondern dann kann man natürlich auch mal gucken, okay was sind die Ursachen für Globalisierung; Wie fing Globalisierung überhaupt an? (.) Ne, und dann kommt man relativ (.) schnell dann dazu okay Globalisierung gab es eigentlich schon immer, nur nicht in der Form, und äh da hat man diesen geschichtlichen Aspekt eben mit drinne; Ne, also wenn man bei den Seefahrern ist, (.) im äh:: (.) vierzehnten fünftzehnten Jahrhundert, Ne, aber so (.) kriegt man dann so geschichtliche Aspekte mit rein; (.) Ne, also welche Aspekte in der Geschichte gibt es (.) die Globalisierung beschleunigten; (.) Ne, oder : (.) ähm (2) dann andersrum gut da kann man dann mit dieser Jeans arbeiten, ne? Aus welchen Teilen kommt die […] Da 31 Maier (Anm. 20).
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kann man natürlich eine Atlasarbeit mit einbauen. (.) Ne, und so kriegt man so Methoden aus dem erdkundlichen Bereich mit rein.«
Für Herrn Schmidt, der Geschichte im Rahmen von Gesellschaftslehre fachfremd unterrichtet, bietet der Rückgriff auf »geschichtliche Aspekte« demnach Erklärungen, wie es zu bestimmten Phänomenen kommen konnte, sowie die Erkenntnis, dass die Phänomene möglicherweise älter sind als gedacht. Für Geschichte typische Arbeitsweisen – bzw. »Methoden« wie die hier erwähnte erdkundliche Atlasarbeit – spielen in seinen Schilderungen kaum eine Rolle. Die einzige Ausnahme bildet ein Verweis auf die Arbeit mit einem Zeitstrahl. Stattdessen geht es ihm um die Vermittlung von Überblickswissen: »Ich lege darauf Wert, dass (.) sie insgesamt einen Überblick vor allem bekommen; Ne, also ich glau- die die Schüler=ähm (2) ich ich möchte ja keine Geschichtler aus ihnen machen, also kein- keine Geschichtsstudenten, sondern die sollen ein ein gutes Allgemeinwissen (.) mit auf den Weg bekommen«.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich Herr Schmidt von Frau Müller, die Geschichte an derselben Schule nicht fachfremd unterrichtet. Auch sie legt Wert darauf, »Zusammenhänge« zu vermitteln, wenngleich das Nebeneinander der Fächer dies ihrer Einschätzung nach erschwert: »Schon die groben Zusammenhänge, und au- also; Es ist halt schon ein bisschen schwierig weil ähm: (.) hm::: eventuell das was dann historisch davor passierte, schon relativ länger her ist dass man es unterrichtet hat? Ne, also weil am Gymnasium würdest du ja dur- durchgehen; und dadurch dass wir dann ja zwischendurch Sachen machen die wirklich jetzt auch nichts richtig mit dem historischen Durchgang zu tun haben, also wo du auch irgendwie keine Verbindungen ziehen kannst.«
Wenngleich auch Frau Müller dem Fach generell positiv gegenübersteht, nimmt sie Probleme wahr, was die Vereinbarkeit der didaktischen Ansätze der Teilfächer angeht: »Also die, ähm finden das ganz normal, auch in den Büchern, dass dann, äh einfach so (.) Quellen, ne, einfach äh fingiert werden. Wo dann irgendein Kind irgendwas berichtet aus; ne, von seinem Leben in Somalia oder so; Also, wo da-, wo irgendwie klar ist, das ist einfach schreibt einfach irgend jemand mal auf. Ist jetzt aber keine echte Quelle und das hat auch auf gar keinen Fall irgendein Kind in Somalia geschrieben; und das finden die in ähm die äh=Erdkunde (.) Erdkundler (.) gar nicht (.) schwierig, wir wiederru- also das (.) wir würden ja nicht auf die Idee kommen, in einem Buch eine Quelle selbst zu schreiben. So; Aber das machen die.«
Ausgehend von den Prinzipien des Fachs Geschichte – in diesem Fall von einem bestimmten Quellenbegriff – findet es Frau Müller problematisch, wenn fiktionale Texte, die sie ebenfalls als Quellen rahmt, zum Einsatz kommen. Es zeigt sich dabei erneut, dass das Fach nicht als ein Fach gesehen, sondern Fächerin-
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tegration rein additiv gedacht wird und die Trennung auch anhand fachlicher Grundprinzipien konstruiert wird, die sich wie eine Trennlinie durch das Kollegium (»wir« und »die«) zu ziehen scheint. Die Frage, inwiefern es in anderen lokalen oder strukturellen Kontexten Ansätze gibt, die die Teilfächer stärker vernetzen, ist bedeutsam und wird vermutlich den weiteren Verlauf der Studie bestimmen – insbesondere mit Blick auf die Erhebungen der Hauptstudie. Ausgehend von den hier vorgestellten Befunden stellen sich in erster Linie die Fragen, ob und in welcher Hinsicht sich der konkrete Unterricht von Lehrkräften mit unterschiedlichen Ausbildungen in Bezug auf fachliche Kriterien unterscheidet und inwiefern es nötig sein wird, integrative Unterrichtseinheiten oder auch Unterrichtsmaterial, das auf Fächerübergriffen aufbaut methodisch kontrolliert ins Sample einfließen zu lassen.
Sebastian Bracke
»Ich find das ein bisschen seltsam« – Werturteile im Unterrichtsgespräch am Beispiel der Erziehung in Sparta
Konzept Im Zentrum der Studie steht die Analyse von Geschichtsunterricht mit dem Ziel, Werturteilsbildung im Geschichtsunterricht kategorienbasiert zu beschreiben. Damit leistet die Studie einen Beitrag zur geschichtsdidaktischen Phänomenforschung. Für den vorliegenden Beitrag wurde eine Geschichtsunterrichtsstunde der Jahrgangsstufe 5 bezogen auf die Strukturen von Werturteilen und die Sprache von Werturteilsbildung ausgewertet.
Fragestellung Die beiden zentralen Fragestellungen der Studie zielen auf das sprachliche Produkt »Werturteil« sowie auf den kommunikativen Prozess, in dem mit Werturteilen umgegangen wird. Konkret: Wie sehen von Schüler*innen und Lehrer*innen im alltäglichen Geschichtsunterricht artikulierte Werturteile aus (Fokus Produkt)? Wie werden sie angebahnt und kommunikativ verfertigt (Fokus Prozess)?
Probleme Als Herausforderung erwies sich die Entwicklung von Kodierrastern, die die Ebene der Unterrichtsstunde, der kommunikativen Bezüge und die große Bandbreite von Werturteilen und ihrer Strukturen auf der Ebene der Beiträge erfassen. Ebenfalls herausfordernd für die Kodierung stellt sich die sprachliche Verschmelzung von Werturteilen mit anderen Denkleistungen dar.
Stand / (Zwischen-)Ergebnisse Das Projekt befindet sich derzeit in der Auswertungsphase. Die präsentierten Befunde und Einblicke in die Kodierdimensionen sind also noch vorläufig. Erste Tendenzen werden im Beitrag anhand der Analyse eines Beispiels erläutert. So zeichnet sich für die frühe Sekundarstufe I im vorliegenden Sample ab, dass Werturteile von Schüler*innen in sehr unterschiedlichen Modi und sprachlicher Gestalt zur Performanz gebracht werden.
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Einleitung
Im Sommer 2016 antwortete der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich in einem Zeitungsinterview auf die Frage »Was unternehmen Sie zur Vorbeugung gegen rechte Gewalt?« unter anderem mit dem Satz »Wir machen ab dem kommenden Schuljahr den Geschichtsunterricht verpflichtend.«1 Tillichs Aussage steht beispielhaft für die Erwartungen, die von öffentlicher Seite an den Geschichtsunterricht herangetragen werden. Häufig steht dahinter die Annahme, dass bereits die Kenntnis historischer Sachverhalte zu gewünschtem Handeln in der Gegenwart führt oder zumindest unerwünschtes Handeln verhindert. Dass dies jedoch allein durch die »Vermittlung« von Kenntnissen über die Vergangenheit gelingen kann, lässt sich vor dem Hintergrund eines narrativitätstheoretischen und gemäßigt-konstruktivistischen Geschichtsverständnisses nicht halten. Ein solches Geschichtsverständnis geht vielmehr davon aus, dass Geschichte ein gegenwärtiges narratives Konstrukt sei. Demzufolge werden auch gegenwärtige Wertvorstellungen an historische Phänomene herangetragen und modifizieren sich – wenn überhaupt – in der diskursiven Auseinandersetzung mit ihnen.2 Die Forderung, Geschichtsunterricht solle einen Beitrag zur gegenwärtigen Orientierung leisten, wird auch in der Geschichtsdidaktik prominent vertreten.3 Die Studie von Hollstein u. a. zum Umgang mit Nationalsozialismus zeigt jedoch, dass der Geschichtsunterricht nicht primär ein Ort der moralischen Erziehung ist.4 Allerdings steht laut Rüsen der Anspruch, dass »Geschichtsunterricht die 1 Eva Quadbeck: Stanislaw Tillich im Interview. Kampf gegen Rechts in Sachsen – Geschichte wird Pflichtfach. In: Rheinische Post vom 09. 06. 2016 (http://www.rp-online.de/politik/sta nislaw-tillich-demokratie-nachhilfe-fuer-sachsens-schueler-aid-1.6034662, aufgerufen am 30. 11. 2016). 2 »Der ›Gegenstand‹ konstituiert sich also erst im Prozeß des Ergreifens, wird vom Bewußtsein geschaffen als eine gegenwärtige Vorstellung.« Karl-Ernst Jeismann: Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. In: Gerhard Schneider (Hrsg.): Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen. Pfaffenweiler 1988, S. 1–24, hier S. 9. Dass sich ein solches Verständnis allerdings in der Praxis des Geschichtsunterrichts durchgesetzt habe, bezweifelt von Bodo von Borries. Vgl. etwa ders.: »Subjektorientiertes« Geschichtslernen ist nur als »identitätsreflektierendes« wünschenswert! In: Heinrich Ammerer/Thomas Hellmuth/Christoph Kühberger (Hrsg.): Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2015, S. 93–129, hier S. 93. 3 Zuletzt besonders vehement von Bodo von Borries: Geschichtslernen und Menschenrechtsbildung. Auswege aus einem Missverhältnis? Normative Überlegungen und praktische Beispiele. Schwalbach/Ts. 2011. 4 Oliver Hollstein u. a.: Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht. Beobachtungen unterrichtlicher Kommunikation. Bericht zu einer Pilotstudie. Frankfurt a. M. 2002 (Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft Forschungsberichte, Bd. 3). Vgl. auch Matthias Proske: Moralerziehung im Geschichtsunterricht. Zwischen expliziter Vermeidung und impliziter Unvermeidlichkeit. In: Jan Hodel/B8atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichts-
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Schülerinnen und Schüler zur wertenden historischen Urteilsbildung befähigen muß«, außer Frage.5 Ausgehend von der Prämisse, dass jedes historische Wissen eine wertende Dimension habe, sei das Vorkommen von Werturteilen im Geschichtsunterricht eine Tatsache.6 Dies wird in den staatlichen Vorgaben für Geschichtsunterricht zudem dezidiert eingefordert.7 Welchen faktischen Stellenwert Werturteilsbildung im Geschichtsunterricht hat, ist nur in Ansätzen bekannt. So hat Thünemanns Analyse von Schulgeschichtsbüchern eine »Marginalisierung historischer Werturteilsbildung« ergeben,8 und die Befunde einer Studie zum Zentralabitur in NRW belegen, dass den meisten Schüler*innen am Ende ihrer Schullaufbahn nicht bewusst sei, »wie man gute historische Sach- und vor allem Werturteile bildet«.9 Insgesamt lässt die bisherige geschichtsdidaktische empirische Forschung auf einen problematischen Status von Werturteilen im Geschichtsunterricht schließen.10 Werturteile scheinen aber aus geschichtstheoretischer Perspektive omnipräsent zu sein und werden zugleich aus normativer Perspektive explizit für den Geschichtsunterricht eingefordert. Vor dem Hintergrund dieses Spannungsverhältnisses ergeben sich folgende Fragen: Welche Arten von Werturteilen werden im alltäglichen Geschichtsunterricht artikuliert (Fokus Produkt)? Wie werden sie kommunikativ verfertigt (Fokus Prozess)?11
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didaktik 07. Beiträge zur Tagung »Geschichtsdidaktik Empirisch 07«. Bern 2009 (Geschichtsdidaktik heute, Bd. 2), S. 44–53, hier S. 51f. Vgl. Jörn Rüsen: Werturteile im Geschichtsunterricht. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch Geschichtsdidaktik. 5. Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 304–308, hier S. 307. Ebd., S. 304. Etwa in den bundesweit gültigen einheitlichen Prüfungsanforderungen für das Abitur : »Darüber hinaus werden beim Werturteil ethische, moralische und normative Kategorien auf historische Sachverhalte angewendet und eigene Wertmaßstäbe reflektiert. Es werden Zeitbedingtheit bzw. Dauerhaftigkeit von Wertmaßstäben berücksichtigt.« Kultusministerkonferenz (Hrsg.): Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung GESCHICHTE, S. 4 (http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/ 1989/1989_12_ 01-EPA-Geschichte.pdf, aufgerufen am 30. 11. 2016). Holger Thünemann: Fragen im Geschichtsunterricht. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (ZfGD) 8 (2009), S. 115–124, hier S. 116. Bernd Schönemann/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. 2. Aufl. Berlin u. a. 2011, S. 98. So folgert Henke-Bockschatz aus der Analyse einer videographierten Unterrichtsstunde einer zwölften Jahrgangsstufe, dass offenbar nur wenige Schüler*innen wüssten, was ein Werturteil sei. Vgl. Gerhard Henke-Bockschatz: Guter Geschichtsunterricht aus fachdidaktischer Perspektive. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 62 (2011), H. 5/6, S. 298–311, hier S. 307. Diese Fragen verfolge ich im Rahmen meines laufenden Dissertationsprojekts. Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Vortrag im Rahmen der KGD-Nachwuchstagung in Flensburg am 15. 07. 2016. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen. Es handelt sich hier um einen Zwischenstand der Auswertung.
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Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die erste Frage. Er bietet einen Einblick in die Phänomenologie der Werturteilsbildung in der frühen Sekundarstufe I. Die Fokussierung auf das Produkt bietet die Chance, zugleich Erkenntnisse über die (Unterrichts-)Sprache der Werturteilsbildung zu gewinnen. Hierbei werden Werturteile und ihre Strukturelemente in den Blick genommen, die Schüler*innen im Unterrichtsgespräch artikulieren. Anhand einer Unterrichtsstunde zur Erziehung im antiken Sparta aus der Jahrgangsstufe 5 wird die Gestalt von Werturteilen im alltäglichen Geschichtsunterricht exemplarisch analysiert. Zuvor wird (in Teil 2.) erläutert, von welchem begrifflichen und theoretischen Verständnis von »Werturteilsbildung« die nachfolgenden Ausführungen ausgehen. Dann (3.) werden die kommunikativen Rahmenbedingungen für Werturteilsbildung im Geschichtsunterricht in den Blick genommen. Daran anschließend werden (4.) das methodische Vorgehen umrissen und einige Kategorien für die Analyse der Strukturelemente erläutert, bevor (5.) exemplarisch erste Befunde präsentiert werden können und (6.) ein Fazit erfolgt.
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Historische Werturteile und historisches Denken
Theoretisch lässt sich historisches Denken in Anlehnung an Jeismann und Rüsen als »Tätigkeit des Bewußtseins« (Jeismann) und »Sinnbildung über Zeiterfahrung« (Rüsen) verstehen, bei der die Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen.12 Der Mensch denke historisch, da er sich angesichts prinzipieller Zukunftsoffenheit mit dem Blick in die Vergangenheit orientieren möchte. Für Rüsen fungieren Orientierungsbedürfnisse und Orientierungsleistungen als Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Lebenswelt.13 Dabei kommt der Orientierung im Prozess des historischen Denkens eine besondere Bedeutung zu, denn sie ist zugleich Teiloperation historischen Denkens und ihr Ziel.14 Konkret vollzieht sich historisches Denken nach Rüsen in den drei Teiloperationen »Erfahrung«, »Deutung« und »Orientierung«. Diese integriert Rüsen in seine Narrativitätstheorie und setzt dabei auch begrifflich einen etwas anderen Akzent als Jeismann,15 der Weymars Typisierung historischer Aussagen als 12 Jeismann (Anm. 2), S. 9; Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik. Bd. 1. Göttingen 1983, S. 51. 13 Vgl. ebd., S. 24. 14 Vgl. ebd., S. 28f. 15 Rüsen konstatiert, dass seine Unterscheidung »der bekannten Gliederung der Operation des Geschichtbewußtseins, die K.-E. Jeismann vorgeschlagen hat: Analyse, Sachurteil, Wertung« entspreche; er glaube »allerdings, daß ›Erfahrung, Deutung und Orientierung‹ umfassender und fundamentaler sind, also auch nicht nur engere kognitive Bereiche des Geschichtsbewußtseins ansprechen«. Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2008, S. 65.
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»Sachverhalte«, »Sachurteile« und »Werturteile« adaptiert.16 Für Jeismann stellen Sachanalyse, Sachurteilsbildung und Werturteilsbildung die »drei Dimensionen historischen Denkens« dar, die sich durch eine jeweils bestimmte »Akzentuierung der Beziehung zum historischen Faktum«17 unterscheiden. So stelle die Sachanalyse die mentale Teiloperation dar, in der ein historischer Sachverhalt auf der Basis von Quellen und Darstellungen gebildet oder rekonstruiert werde. Dies führe zur »Beschreibung und Strukturierung der in ihm zusammentreffenden Bedingungen, Tendenzen, Ereignisse usw.« Bei der Sachurteilsbildung geschehe die »Abwägung und Beurteilung der historischen Bedeutung einer geschichtlichen Tatsache in ihrer Zeit und für die Folgezeit«. Die Wertung entstehe durch das Verhalten »in Zustimmung, Abwehr oder auch Indifferenz«.18 Letzteres erfolge, indem gegenwärtige, normative Maßstäbe an historische Phänomene angelegt werden.19 So setzten sich Menschen in Beziehung zu historischen Phänomenen und orientierten sich, da Urteile auch »immer sachlogisch Orientierungsfunktion« haben.20 Beide Begriffe »Orientierung« und »Werturteil« haben sich in der Geschichtsdidaktik durchgesetzt. Auf der Begriffsebene scheint der Unterschied vor allem in der Blickrichtung zu liegen, dass Menschen etwas bewerten und sich orientieren.21 Jeismann macht deutlich, dass historisches Denken kein linear ablaufender Prozess sei.22 Die Modellierung historischen Denkens in Teiloperationen habe lediglich »analytischen« Charakter, da die Teiloperationen in einem »unge16 Ernst Weymar : Werturteile im Geschichtsunterricht. In: GWU 21 (1970), S. 198–215. 17 Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Das spezifische Bedingungsfeld des Geschichtsunterrichts. In: Günter Behrmann/Ders./Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn 1978 (Geschichte, Politik. Studien zur Didaktik, Bd. 1), S. 50–107, hier S. 58. 18 Ebd. 19 Vgl. Karl-Ernst Jeismann: »Geschichtsbewußtsein«. Überlegungen zur zentralen Kategorie eines neuen Ansatzes der Geschichtsdidaktik. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung. Paderborn 1980, S. 179–222, hier S. 208. 20 Andreas Körber : Die Dimensionen des Kompetenzmodells »Historisches Denken«. In: Ders./Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 89–154, hier S. 149. 21 Theoretisch gehen sie wohl ineinander über bzw. auf, da nach Körber Werturteile auch immer Orientierungsleistungen sind. Im Weiteren wird vorläufig der Begriff des Werturteils verwendet, auch weil er in den niedersächsischen Kerncurricula und den EPA eindeutig verwendet wird. »Orientierung« wird dagegen auch im Sinne eines »chronologischen und räumlichen Orientierungswissen« verstanden. Vgl. Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e.V. (Hrsg.): Bildungsstandards Geschichte. Rahmenmodell. Gymnasium. 5.–10. Jahrgangsstufe. O.O. 2006, S. 7 (www.vgd-nds.de/docs/Bildungsstandards_Geschichte_16. 06.06.pdf, aufgerufen am 30. 11. 2016). 22 Jeismann (Anm. 17), S. 58.
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schiedenen Miteinander« aufträten.23 So bestimme etwa die Wertung bereits die Wahrnehmung des historischen Sachverhaltes mit.24 Wenn sich die Teiloperationen schon auf der mentalen Ebene nur idealtypisch unterscheiden lassen, bedeutet dies für die versprachlichten Produkte erst recht, dass sie sich nicht präzise trennen lassen.25 In Äußerungen und Lernmaterialien treten die Denkleistungen also in verschmolzenem Zustand auf. Die Analyse von Werturteilsbildung im Geschichtsunterricht muss deshalb im Zusammenhang mit den weiteren Denkleistungen erfolgen. Eberl hat für Werturteile folgende Arbeitsdefinition vorgeschlagen: »Ein Werturteil liegt vor, wenn etwas, das benannt, gedacht oder wahrgenommen werden kann (z. B. eine Person, ein Lebewesen, ein Ding, etwas Abstraktes oder eine Handlung) mit Zustimmung oder Ablehnung verbunden wird. Erkennbar werden Werturteile von anderen im Kommunikationsakt.«26 Die Tatsache, dass sich das Werturteil nicht aus dem bewerteten »Etwas«, sondern aus der Verbindung zum wertenden Subjekt ergibt, führt zu einem weiteren Merkmal von Werturteilen. Sie können nicht »wahr« oder »falsch«, sondern allenfalls »gültig« sein.27 Rüsen hat den Aspekt der Zustimmungsfähigkeit zu den zugrundeliegenden Wertmaßstäben als »normative Triftigkeit« bezeichnet.28 Daraus folgt, dass nur mit transparenten Wertmaßstäben eine wirkliche argumentative Auseinandersetzung über ihre Gültigkeit erfolgen kann. Menschen stehen außerdem vor der Herausforderung, mit den bereits vorliegenden Werturteilen anderer umzugehen. Um dies zu erfassen, hat die Forschungsgruppe »FUER Geschichtsbewusstsein« die Unterscheidung von ReKonstruktion und De-Konstruktion historischer Denkleistungen bei den Teiloperationen historischen Denkens etabliert.29 Unter Re-Konstruktion werden 23 Jeismann (Anm. 19), S. 209. 24 Karl-Ernst Jeismann: »Geschichtsbewußtsein« als zentrale Kategorie der Didaktik des Geschichtsunterrichts. In: Ders./Wolfgang Jacobmeyer/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Bildung. Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zur historischen Bildungsforschung. Paderborn 2000, S. 46–72, hier S. 65f. 25 Vgl. Axel Becker : (Konstruierte) Urteile im Geschichtsunterricht. In: Jan Hodel/B8atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung »Geschichtsdidaktik Empirisch 09«. Bern 2011 (Geschichtsdidaktik heute, Bd. 3), S. 272–281, hier S. 275. 26 Matthias Eberl: Die Entstehung von Werturteilen. Individualperspektivische Theorie & praktische Analyse von Martin Gusindes »Die Feuerland-Indianer I«. Univ. Diss. München 2007, S. 15 (http://edoc.ub.uni-muenchen.de/7645/1/Eberl_Matthias.pdf, aufgerufen am 10. 07. 2016). 27 Vgl. Viktor Kraft: Wertbegriffe und Werturteile. In: Hans Albert/Ernst Topitsch (Hrsg.): Werturteilsstreit. Darmstadt 1979 (Wege der Forschung, Bd. 175), S. 44–65, hier S. 57ff. 28 Rüsen (Anm. 12), S. 82f. 29 Die Begriffe haben z. B. Eingang in die 2015 erschienenen Kerncurricula Geschichte für das Gymnasium in Niedersachsen gefunden. Niedersächsisches Kultusministerium: Kerncur-
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idealtypisch synthetische Denkoperationen verstanden, bei denen Sachverhalte, Sachurteile und Werturteile gebildet werden, während De-Konstruktion die analytische Auseinandersetzung mit vorgefundenen Sachverhalten, Sachurteilen und Werturteilen fasst.30 Wenn im Folgenden vom Umgang mit Werturteilsbildung die Rede ist, sind stets Analyse und Synthese gemeint. Um die Werturteilsbildung im Geschichtsunterricht analysieren zu können, ist neben der Definition von Werturteilen auch zu erörtern, welchen Status Werturteile im spezifischen Zusammenhang unterrichtlicher Kommunikation haben.
3.
Geschichtsunterricht als kommunikativer Prozess
Historisches Denken ist das Proprium des Unterrichtsfaches Geschichte. Auch wenn historisches Denken als anthropologische Universalie nicht auf den Geschichtsunterricht beschränkt ist, bleibt der Geschichtsunterricht der Ort, an dem historisches Denken und damit auch der Umgang mit Werturteilen systematisch eingeübt und reflektiert – also gelernt – werden soll.31 Hierzu ist der Hinweis Körbers zu beachten, dass historisches Denken im Geschichtsunterricht nicht in einer lebensweltlichen Situation, sondern in einer spezifischen Kommunikationssituation stattfinde.32 Die dominierende Kommunikationsform im Geschichtsunterricht ist dabei das Unterrichtsgespräch.33 Es bestimmt maß-
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riculum für das Gymnasium Schuljahrgänge 5–10. Geschichte. Hannover 2015 (http://www. nibis.de/nibis.php?menid=3790, aufgerufen am 15. 11. 2016). Waltraud Schreiber u. a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell. Basisbeitrag. In: Körber/Dies./Schöner (Anm. 20), S. 17–53, hier S. 27ff. Hilke Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb. In: Dies./Meik ZülsdorfKersting (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2014, S. 24–49, hier S. 25. Vgl. Andreas Körber : Hinreichende Transparenz der Operationen und Modi des historischen Denkens im Unterricht? Erste Befunde einer Einzelfallanalyse im Projekt »FUER Geschichtsbewusstsein«. In: Hilke Günther-Arndt/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen. Berlin 2006 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 14), S. 189–214, hier S. 192. Für das Phänomen sind verschiedene Begriffe im Gebrauch. Hodel/Waldis unterscheiden auf der oberen Ebene zwischen »klassenöffentlichem Unterricht« und »selbstständiger Schülerarbeit«. Sie weisen einen durchschnittlichen Anteil von ca. 70 % klassenöffentlichen Unterrichts aus. Vgl. Jan Hodel/Monika Waldis: Sichtstrukturen im Geschichtsunterricht – die Ergebnisse der Videoanalyse. In: Peter Gautschi (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 91–142, hier S. 106. Diese können noch weiter differenziert werden, wobei der klassenöffentliche Unterricht vom Klassen- oder Unterrichtsgespräch dominiert wird. Vgl. ebd., S. 113f. Breidenstein verwendet für seine Studie den Begriff des »Frontalunterrichts« und erklärt, der Frontalunterricht habe »seinen beherrschenden Stellenwert im Unterrichtsalltag behauptet«, und geht
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geblich den kommunikativen Rahmen, in dem fachspezifische Denkleistungen klassenöffentlich zur Performanz gebracht werden können. Um sich dem Phänomen »Werturteil im Geschichtsunterricht« zu nähern, bedarf es daher einer knappen Vorstellung von Unterricht als spezifischem Kommunikationsprozess. Pandel hat auch aus geschichtsdidaktischer Perspektive Kommunikation als weitreichendes Definitionsmerkmal von Geschichtsunterricht bezeichnet: »Unterricht in Geschichte besteht im diskursiven Durchsprechen des Wissens über die Vergangenheit und sucht Orientierung für Gegenwart und Zukunft der Kommunikationsteilnehmer.«34 Ob die hier ins Zentrum gerückte Orientierungssuche den unterrichtlichen Alltag beschreibt, kann aufgrund der bereits vorliegenden empirischen Befunde in Frage gestellt werden. »Echte« Orientierungsbedürfnisse im Sinne Rüsens stellen für Schüler*innen vermutlich eher selten den Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit Vergangenheit und Geschichte im Unterricht dar. In diesem Zusammenhang sieht es von Borries als problematisch an, dass im Geschichtsunterricht die Beschäftigung mit Vergangenem in der Regel eher vom Lehrplan als von den (individuellen) Orientierungsbedürfnissen der Lernenden ausgehe.35 Damit fokussiert er sich – im Rahmen eines Unterrichtsverständnisses, das von einem Modell von Angebot und Nutzung ausgeht – auf die Angebotsseite. Die Modellierung von Unterricht als Verhältnis von Angebot und Nutzung stellt derzeit den state of the art der Unterrichtsforschung dar. Diese u. a. von Helmke vertretene Logik sieht Lernleistungen nicht als direkte Wirkung von Handlungen der Lehrer*innen an. Vielmehr werde ein Lernangebot bereitgestellt, das Schüler*innen nutzen können, um einen Ertrag (Lernen) zu erreichen.36 Wird Unterricht mit Angebot-Nutzung-Modellen beschrieben, ergeben sich Konsequenzen für das Verständnis unterrichtlicher Kommunikation. Diese kann dann als Abfolge kommunikativer Angebote und deren Nutzung verstanden werden: Jeder Redebeitrag stellt demzufolge eine kommunizierte Nutzung des Angebots dar ; zugleich schafft jeder Beitrag ein neues, verändertes Angebot mit neuen Nutzungsoptionen. Der Verlauf unterrichtlicher Kommunikation ist vor diesem Hintergrund prinzipiell nicht vorhersehbar. In der Unterrichtskommunikation hat sich ein prägendes Muster herausgebildet, das auch dazu dienen könnte, kommunikative Unwägbarkeiten zu begrenzen. Hollstein u. a. bezeichnen dieses dreischrittige Muster als »Basissevon einem Anteil von ca. 70–80 % aus. Vgl. Georg Breidenstein: Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden 2006, S. 94. 34 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013, S. 109. 35 Von Borries (Anm. 2), S. 96. 36 Vgl. Andreas Helmke: Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. 5. Aufl. Seelze-Velber 2014.
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quenz jeglicher Unterrichtskommunikation«.37 Es besteht aus einem eröffnenden Akt durch die Lehrperson (E), gefolgt von der Schüler*innenantwort bzw. -reaktion (R), worauf eine Rückmeldung (Feedback) der Lehrperson (F) erfolgt.38 Die Lehrperson delegiert dabei das Rederecht und erhält es nach dem Schüler*innenbeitrag zurück. Die Lehrperson evaluiert abschließend die Schüler*innenäußerung.39 Dieses wirkungsmächtige Grundmuster begrenzt so die Unwägbarkeiten unterrichtlicher Kommunikation und beschränkt zugleich die Diskursivität. Dadurch wird die ohnehin strukturell bestehende asymmetrische Kommunikationssituation verstärkt:40 Schüler*innen richten ihre Antworten danach aus, ob sie für »passend« befunden werden.41 Es ist zu erwarten, dass sich diese Form der Kommunikation auch auf den Umgang mit Werturteilen auswirkt. Es kommt hinzu, dass Werturteile – die ja nicht richtig oder falsch, sondern lediglich gültig sein können – auch eine besondere Herausforderung für das Feedback darstellen.42 Damit steht die von Pandel definitorisch gesetzte Diskursivität in Frage. Diskursivität erfordert unterschiedliche Positionen und lässt sich nach Massing nur durch die Bereitschaft realisieren, das eigene Urteil öffentlich zu rechtfertigen, etwa durch die Offenlegung von (abweichenden) Wertmaßstäben.43 Damit würde die Lehrperson im Rahmen ihrer Rolle als Feedbackgeber*in unweigerlich zugleich in die Rolle einer moralischen Instanz geraten.
4.
Methode und Fokus der Analyse
Im Fokus der Analyse steht die Unterrichtssprache der Werturteilsbildung. Um Werturteilsbildung in alltäglicher Unterrichtskommunikation zu erfassen und zu analysieren,44 wurden Geschichtsunterrichtsstunden videographiert.45 Das 37 Hollstein u. a. (Anm. 4), S. 19. 38 John Sinclair/Malcolm Coulthard: Analyse der Unterrichtssprache. Ansätze zu einer Diskursanalyse dargestellt am Sprachverhalten englischer Lehrer und Schüler. Heidelberg 1977, S. 50. 39 Vgl. Breidenstein (Anm. 33), S. 99. 40 Vgl. auch Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2002, S. 108. 41 Vgl. Breidenstein (Anm. 33), S. 99. 42 Vgl. Kraft (Anm. 27), S. 57ff. und Becker (Anm. 25). 43 Vgl. Peter Massing: Kategoriale politische Urteilsbildung. In: Hans W. Kuhn (Hrsg.): Urteilsbildung im Politikunterricht. Ein multimediales Projekt. Schwalbach/Ts. 2003, S. 91–108, hier S. 100. Vgl. auch Karl-Ernst Jeismann u. a.: Die Teilung Deutschlands als Problem des Geschichtsbewußtseins. Eine empirische Untersuchung über Wirkungen von Geschichtsunterricht auf historische Vorstellungen und politische Urteile. Paderborn 1987 (Geschichte, Politik. Studien zur Didaktik, Bd. 4), S. 42f. 44 Waldis u. a. weisen darauf hin, dass es zwar wahrscheinlich sei, mit dieser Erhebungsme-
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Datenmaterial wurde zunächst transkribiert und wird in einem mehrschrittigen Verfahren mittels qualitativer Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring, Kuckartz und Körber ausgewertet.46 Grundlage der im vorliegenden Text präsentierten Auswertungsergebnisse bilden Unterrichtsvideographien und Transkripte aus der fünften Jahrgangsstufe. Zunächst wird der Unterricht nach formalen Kriterien bzw. Sichtstrukturen eingeschätzt.47 Im Anschluss wird er nach Phasen strukturiert, die hinsichtlich der zentralen von der Lehrperson eingeforderten (historischen) Denkleistungen bestimmt werden. In einem weiteren Schritt werden einzelne Beiträge (turns) kodiert, die im Hinblick auf den Umgang mit Werturteilen einschlägig sind.48 Um möglichst alle Formen versprachlichter Werturteilsbildung zu erfassen, liegt der Untersuchung ein weites Verständnis von »Werturteil« zugrunde. Zunächst werden alle werthaltigen Formulierungen und Äußerungen erfasst und analysiert. Auf der Basis der Kodes können die Fundstellen im Hinblick auf die Fragestellung ausgewertet und interpretiert werden. Dabei geraten zwei Ebenen in den Blick, die durch die folgenden zwei Fragen angesteuert werden können: Welche historischen Phänomene werden bewertet? Auf welche Weise erfolgen die Bewertungen und wie sind sie sprachlich gefasst? Bei genauerem Hinsehen setzt sich ein Werturteil aus den Komponenten der Wertung, einem bewerteten Objekt, einem wertenden Subjekt und schließlich aus der so entstehenden Beziehung zwischen Subjekt und Objekt zusammen. Zur
45
46
47 48
thode tendenziell besseren Unterricht zu erfassen, die Methodeneffekte durch Unterrichtsvideographie in der Summe aber deutlich geringer ausfielen, als vielfach befürchtet. Vgl. Monika Waldis u. a.: Die Erfassung von Sichtstrukturen und Qualitätsmerkmalen im Geschichtsunterricht. Methodologische Überlegungen am Beispiel der Videostudie »Geschichte und Politik im Unterricht«. In: Günther-Arndt/Sauer (Anm. 32), S. 155–188, hier S. 165f. Der Studie liegt ein Sample von 20 Unterrichtsstunden aus den Doppeljahrgangsstufen 5/6 und 11/12 zugrunde. Es gab für die Lehrkräfte keine Vorgaben (außer der Bitte, ganz alltäglichen Unterricht durchzuführen; die Fokussierung auf Werturteilsbildung war den Proband*innen nicht bekannt). Um die Perspektive der Akteur*innen in der weiteren Auswertung miteinbeziehen zu können, wurden im Anschluss einzelne Schüler*innen und die Lehrpersonen zu ausgewählten und vorgeführten Sequenzen befragt. Die Auswertungen zu diesem Material stehen noch aus. Daneben wurden weitere Daten aus dem Unterricht erfasst, wie das Unterrichtsmaterial, OHP-Folien, die Tafelbilder usw. Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 11. Aufl. Weinheim u. a. 2010; Udo Kuckartz: Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 2. Aufl. Weinheim 2014; Andreas Körber : Analyse von Geschichtsunterrichtsstunden im Projekt »FUER Geschichtsbewusstsein«. In: ZfGD 2 (2003), S. 89–101; vgl. ders. (Anm. 32). Vgl. Hodel/Waldis (Anm. 33); Körber (Anm. 46), S. 98. Grundlage der Kodierung ist ein Leitfaden, der aus der Kombination von theoriegeleiteten deduktiven Oberkategorien und induktiv gewonnenen Kategorien und Unterkategorien besteht. Auf dieser Basis erfolgt MAXQDA-gestützt die Kodierung und Strukturierung des Materials.
Werturteile im Unterrichtsgespräch am Beispiel der Erziehung in Sparta
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Analyse von Werturteilen werden daher folgende Kategorien in den Blick genommen: Das Referenzobjekt, die Beziehung zwischen Subjekt und Referenzobjekt, die Valenz dieser Beziehung sowie die zugrundeliegenden Maßstäbe und das Ausmaß der Transparenz der Werturteilsäußerung. Werturteile lassen sich weiterhin danach analysieren, ob sie begründet werden, aus welcher Perspektive sie erfolgen und welche Reichweite das wertende Subjekt für sie beansprucht. Dazu muss notwendigerweise das Referenzobjekt, also das bewertete historische Phänomen, erfasst werden. Dieses wird kodiert und damit zugleich auch klassifiziert. Hier kann auf der obersten Ebene zunächst zwischen Handlung, Ereignis, Person/Objekt und Abstraktem unterschieden werden.49 Bei der Analyse wird auch die Benennung des Referenzobjekts genauer in den Blick genommen. Zugleich wird untersucht, inwiefern sich die Art der Beziehung zwischen Subjekt und Referenzobjekt in verschiedenen Modi kategorisieren lässt. Außerdem werden die dem Werturteil zugrundeliegenden Maßstäbe kodiert, anhand derer die Zustimmung oder Ablehnung zum Referenzobjekt erfolgt. Dabei kann unterschieden werden, ob die Maßstäbe explizit offengelegt, erkennbar oder nicht erkennbar sind. Die sprachliche Markierung von Zustimmung bzw. Ablehnung geschieht über eine Valenzzuweisung.50 Die Valenz gibt Auskunft, ob der Bezug zwischen dem wertenden Subjekt und dem Referenzobjekt positiv, negativ oder indifferent ist. Valenzen können dabei implizit oder explizit sein. Explizite Valenzen sind z. B. »gut« oder »schlecht«. In diesen Fällen ist die Beziehung zum Referenzobjekt eindeutig positiv oder negativ. Explizite Valenzen geben aber selbst keine weiteren Auskünfte über die angelegten Maßstäbe oder über das Referenzobjekt. Implizite Valenzzuweisungen haben hingegen einen deskriptiven Gehalt, d. h. sie beschreiben die Sache, die Art der Beziehung oder die Wertmaßstäbe. Damit kann zum Beispiel ein negativ bewertetes Verhalten genauer charakterisiert werden. Wenn dieses z. B. als »betrügerisch« bezeichnet wird, so impliziert dies die Art des Verstoßes gegen Wertmaßstäbe. Dafür verwendet Kraft den Begriff des »Wertprädikats«.51 Valenzen würden häufig über »Wertprädikate« verliehen, die dann meist als Adjektiv (»x ist betrügerisch«), aber auch als Substantiv (»x ist Betrug«) oder in verbaler Form (»x betrügt«) auftreten.
49 Zusätzlich existiert eine Residualkategorie, in die eingeordnet wird, was sich nicht eindeutig zuordnen lässt. 50 Der Begriff »Valenz« wird hier in Anlehnung an die kognitive Emotionstheorie verwendet. Dieser bezeichnet die Wertigkeit, also ob zu einem kognitiv repräsentierten Gegenstand positive oder negative Emotionen bestehen. Vgl. Rainer Reisenzein/Wulf-Uwe Meyer/Achim Schützwohl: Kognitive Emotionstheorien. Bern 2003 (Psychologie-Lehrtexte, Bd. 3), S. 137ff. 51 Vgl. Viktor Kraft: Wertbegriffe und Werturteile. In: Hans Albert/Ernst Topitsch (Hrsg.): Werturteilsstreit. Darmstadt 1979 (Wege der Forschung, Bd. 175), S. 44–65, hier S. 44.
54
5.
Sebastian Bracke
Erziehung im Militärstaat Sparta – Befunde einer Unterrichtsstunde
Bevor die Befunde exemplarisch präsentiert werden, wird als Kontext die Unterrichtsstunde profiliert. Dazu werden »Sichtstrukturen« und der Ablauf skizziert. Im Anschluss wird die Werturteilsbildung im Kontext einer Unterrichtsequenz entlang der oben beschriebenen Kategorien genauer vorgestellt und analysiert. Es handelt sich um eine Doppelstunde in einer Klasse der fünften Jahrgangsstufe eines Gymnasiums. Sie war Teil einer Unterrichtsreihe zum antiken Griechenland. In den gut 86 Minuten Lernzeit setzte sich die Lerngruppe mit dem »Militärstaat Sparta«,52 insbesondere mit den überlieferten Erziehungsmethoden, auseinander. Ausgerichtet war die Lektion auf die Re-Konstruktion von Geschichte. Den größten Anteil nahmen Sachverhaltsklärungen ein. Als Material diente das Schulgeschichtsbuch »Geschichte und Geschehen«. Konkret wurden zwei Texte Plutarchs (Q5 »›Spartanische‹ Erziehung für die Jungen nach Plutarch«; Q4 »›Spartanische‹ Erziehung für Mädchen«), der Verfassertext über den »Militärstaat Sparta« und ein Absatz über »Erziehung und Schulbildung« in Athen eingesetzt.53 Durchgeführt wurde die Stunde überwiegend lehrpersonenzentriert als Klassenunterricht mit größeren Anteilen von Einzelarbeitsphasen.54 Insgesamt lässt sich die Stunde in Anlehnung an GüntherArndt als erarbeitender Geschichtsunterricht klassifizieren.55 In den knapp 47 Minuten, in denen klassenöffentlich kommuniziert wurde, beteiligten sich von den 32 anwesenden Schüler*innen mindestens 24 mit Wortbeiträgen.56 Insgesamt bestand die Unterrichtkommunikation aus 102 Schüler*innenbeiträgen und 109 Beiträgen der Lehrperson (turns). Sie erfolgten ausnahmslos im 52 Bereits vor Beginn der Stunde hat die Lehrperson »Der Militärstaat Sparta« an die Tafel geschrieben. 53 Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Geschehen 1/2. Ausgabe HB, MV, NI Gymnasium ab 2008. 5. Aufl. Stuttgart 2012, S. 126ff. Das Schulbuch bezeichnet Plutarchs übersetzte und bearbeitete Darstellungen der »Spartanischen Erziehung« als Quelle, so wird sie auch im Unterricht eingesetzt. Das Schulbuch unterscheidet zwischen »Q« (Quellen), »die aus vergangener Zeit erhalten geblieben sind«, und »D« (Darstellungen), »die von heutigen Menschen geschaffen wurden«. Vgl. ebd., S. 8. 54 Etwa 47 Minuten fand klassenöffentliche fachorientierte Kommunikation statt, etwa 39 Minuten arbeiteten die Schüler*innen selbstständig. Damit liegt der klassenöffentliche Anteil unterhalb dessen, was Hodel/Waldis als Durchschnitt erhoben haben (70 zu 30). Vgl. Hodel/Waldis (Anm. 33), S. 106. 55 Vgl. Hilke Günther-Arndt: Methodik des Geschichtsunterrichts. In: Dies./Saskia Handro (Hrsg.): Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2015, S. 158–204, hier S. 184–188. 56 Einige Schüler*innen sind aufgrund der räumlichen Situation nicht durchgehend zu erkennen. Auch wenn die Kameraführung bemüht war, stets die sprechende Person im Bild zu haben, sind einzelne Beiträge nicht eindeutig zuzuordnen.
55
Werturteile im Unterrichtsgespräch am Beispiel der Erziehung in Sparta
kommunikativen Grundmuster der Lehrer*innen-Eröffnung, der Schüler*innen-Reaktion und des Lehrer*innen-Feedbacks. Davon konnten insgesamt 39 turns als im weitesten Sinne einschlägig für den Umgang mit Werturteilen kodiert werden; 26 davon traten in zwei Phasen zu Beginn und am Ende auf. Sie bildeten somit den Rahmen der Stunde, allerdings ohne dass ihnen für den gesamten Stundenverlauf eine zentrale Rolle zukam. Gliedert man den Unterricht im Hinblick auf dominierende Dimensionen der Denkleistungen entlang der leitenden Impulse durch die Lehrperson nach Phasen, ergibt sich für die Stunde folgendes Bild: Tabelle 1: Stundenverlauf. Phasen57 1 Vorlesen des Plutarchtext »Q 5« (Fokus RES) Offener Impuls (»Kommentare«) 2 (Fokus offen) 3 4 5 6 7
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9 10 11 12 13
SF58 Dauer turns HWU KÖ 3:34 9 KÖ 4:20
30
14
1
-
11
1
KÖ 2:15
13
-
EA
3
-
19
-
5
-
KÖ 5:17
29
-
KÖ 6:50
30
-
EA
6
-
12
1
5
1
Erarbeitung der Phasen des Heranwachsens spartaEA 11:47 nischer Jungen (Fokus Re-Konstruktion HSV) Vortrag der Ergebnisse (Fokus Rekonstruktion HSV) KÖ 3:25 Erklärung, warum die Spartaner diese Erziehung verfolgt haben (Fokus Re-Konstruktion HSU) Absatz des Verfassertexts lesen (Fokus RES)
2:38
Zusammenfassung Verfassertext KÖ 3:55 (Fokus Re-Konstruktion HSV, HSU) (a) Beschreibung von Heranwachsen/Lebensweise spartanischer Mädchen (Fokus Re-Konstruktion HSV) (b) Beschreibung der Lebensweise Spartaner, Heloten, EA 17:58 Periöken; Begriffsklärung (Fokus Re-Konstruktion HSV) (a) Vortrag Lebensweise/Heranwachsen spartanischer Mädchen (Fokus Re-Konstruktion HSV) (b) Vortrag zu Spartiaten, Periöken, Heloten (Fokus Re-Konstruktion HSV) Erarbeitung Gegenüberstellung Erziehung in Athen und Sparta (Fokus Re-Konstruktion HSV) Vortrag der Ergebnisse: Erziehung und Bildung in Sparta und Athen (Fokus Re-Konstruktion HSV)
5:49
KÖ 2:43
Exkurs zur Frage, warum die Spartaner keinen Kontakt KÖ 3:35 zu Fremden wollten (Fokus Re-Konstruktion HSU)
57 RES bezeichnet die Residualkategorie, in die Phasen einsortiert werden, die keine der Denkleistungen eindeutig ansteuern. Die weiteren Abkürzungen: Historischer Sachverhalt (HSV), Historisches Sachurteil (HSU), Historisches Werturteil (HWU). 58 Bei der Sozialform (SF) wird zwischen klassenöffentlichem Unterricht (KÖ) und selbstständiger Schüler*innenarbeit (EA) unterschieden.
56
Sebastian Bracke
(Fortsetzung) Phasen57 SF58 Dauer turns HWU Fortsetzung: Vortrag der Ergebnisse Vergleich Athen KÖ 1:57 15 14 und Sparta (Fokus Re-Konstruktion HSV) Erarbeitung und Begründung einer Meinung zu den 15 EA 7:47 7 1 Spartanern (Fokus Re-Konstruktion HWU) 16
Vortrag der Meinungen bzw. Stellungnahmen (Fokus Re-Konstruktion HWU)
KÖ 4:45
21
11
Die Doppelstunde wurde durch insgesamt sechzehn markante Impulse strukturiert. Es dominierten Phasen, in denen die Rekonstruktion historischer Sachverhalte im Zentrum stand. Der Stundenverlauf zeigt, dass sich für die Analyse der Werturteilsbildung zwei Phasen besonders anbieten. Eine Sequenz aus Phase 2 wird nun eingehender untersucht. Im Folgenden wird dabei zunächst ein in dieser Stunde mehrmals auftretender Modus von Werturteilsbildung vorgestellt, der hier als Stellungnahme bezeichnet wird. Mit dieser Art der Äußerung ist für die anderen Akteur*innen erkennbar, dass es sich um eine eindeutig perspektivierte Aussage mit Wertungsfunktion handelt. Stellungnahmen bedürfen in den Augen der Schüler*innen nicht notwendigerweise eines expliziten Wertmaßstabs, da als offenkundig hinreichender Maßstab die stellungbeziehende Person fungiert. Gleichwohl kommt es vor, dass zusätzlich Wertmaßstäbe transparent gemacht werden. Stellungnahmen treten sowohl mit expliziten als auch mit impliziten Wertprädikaten auf. Das wird nun exemplarisch am Transkript59 verdeutlicht. Das Beispiel stammt aus der zweiten Phase der Doppelstunde. Zunächst haben vier Schüler*innen das Lernmaterial Q5 »›Spartanische‹ Erziehung für die Jungen nach Plutarch« aus dem Schulgeschichtsbuch abschnittsweise laut vorgelesen. Dann beginnt das Unterrichtsgespräch:
59 Hinweise zur Transkription: Handlungen und nonverbale Kommunikation wie [nicken], [zeigen] oder [an die Tafel schreiben] oder andere werden in eckigen Klammern transkribiert. Ebenfalls in eckigen Klammern werden Beiträge ohne turn-Wechsel angeben, die in einen anderen Beitrag hineingesprochen werden. Mikropausen bis zu einer Sekunde werden mit (.), längere Pausen mit der Sekundenzahl in den Klammern angegeben (3). Der Kommunikationslaut »Mmh« wird – wenn eindeutig erkennbar – mit »+« für Zustimmung, »-« für Ablehnung oder »?« für fragend ergänzt. Fehlt eine Ergänzung, dann handelt es sich um einen Laut, der zumindest die Kenntnisnahme ausdrückt.
Werturteile im Unterrichtsgespräch am Beispiel der Erziehung in Sparta
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»L.: Okay. (3) Äh, Kommentare dazu? (4) Sw5.60 Sw5: In dem Film wurde gesagt, dass die mit acht Jahren weggehen. [L: Mhm+, hier mit sieben.] Da stand mit sieben. L.: Mhm+, kommt manchmal vor, dass unterschiedliche Quellen ähm unterschiedliche Aussagen haben. Sw6. Sw6: Also ich find das ein bisschen äh seltsam, dass die dann die Kinder, die so klein oder so sind, einfach da auf diese Ablage bringen [L.: Mhm+ nickt] und da verhungern lassen. L.: Mhm+, inwiefern seltsam? Sw6: Ja das, das würde ich niemals, also das würde heutzutage niemand so machen [L.: Mhm+, nickt], das find ich total komisch irgendwie [L. nickt] (.) so das einfach wegzuschieben, nur weil es nicht kräftig ist. L.: [nickt] Mhm+, Sw7.«
Die Lehrperson eröffnet das Unterrichtsgespräch mit einem offenen Impuls (»Kommentare dazu?«). Der Impuls wird als offen kodiert, weil damit keine historische Denkleistung gezielt angesteuert wird. Die Nutzung des Angebots fällt im Anschluss hinsichtlich der fokussierten Denkleistung unterschiedlich aus. Die erste Schülerin verweist auf eine Diskrepanz zwischen einem offenbar in der Unterrichtsstunde zuvor gesehenen Film und der Plutarch-Darstellung auf der Sachverhaltsebene. Die Lehrperson bestätigt die Schülerin, geht darauf aber nicht weiter ein. Sw6 fokussiert mit ihrer Äußerung eine andere Denkleistung und artikuliert ein erstes vorsichtiges Werturteil im Modus der Stellungnahme. Diese Kategorisierung erfolgt, weil die Schülerin deutlich macht, dass sie sich selbst mit dem historischen Phänomen in Beziehung setzt. Sie macht dies gleich zu Beginn ihrer Äußerung mit »ich finde« transparent. Das Wertprädikat »seltsam« wird in diesem Fall als explizite Valenzzuschreibung klassifiziert, weil es zwar eine Irritation beschreibt, aber die Funktion von »seltsam« vor dem Hintergrund der gesamten Äußerung der Schülerin hier eine negative Valenzzuschreibung ist. Die Schülerin schreibt also mit »seltsam« dem historischen Phänomen vorsichtig eine negative Valenz zu. Die geäußerte Stellungnahme beruht dabei auf drei Elementen: (1) Dem Referenzobjekt (dem historischen Sachverhalt) (2) wird mittels eines Wertprädikats eine Valenz (»seltsam«) verliehen, dabei (3) wird transparent gemacht, dass es sich um die Perspektive des Sprechenden handelt (»ich finde«). Die Schülerin schwächt ihre insgesamt zurückhaltende Stellungnahme mit der Graduierungspartikel »bisschen« zusätzlich ab. Den Maßstab ihrer Wertung expliziert sie nicht. Sie beschreibt – als weiteres Strukturelement des Wertur60 Die Anonymisierung erfolgt durch die Vergabe von Nummern nach der Reihenfolge der Beiträge in der Stunde, dabei werden die Beiträge von Schülern (Sm) und Schülerinnen (Sw) durchnummeriert (Sw1, Sw2, Sm3, Sw4 usw.), damit trotz Anonymisierung nachvollziehbar ist, wenn Äußerungen von denselben Schüler*innen stammen.
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teils – das Referenzobjekt, zu dem sie sich in Beziehung setzt. Sie lässt über die Beschreibung, des als »seltsam« befundenen Sachverhalts Rückschlüsse auf ihre Maßstäbe zu. Für die Beschreibung des Sachverhalts nutzt die Schülerin eine Modalpartikel (»einfach«), die sich hier als Wertungsmarker verstehen lässt. Sie wird für einen Modus genutzt, der als distanzierendes Sprechen bezeichnet wird: Dabei kann insbesondere mit Hilfe von Partikeln eine distanzierte Position zum Phänomen sprachlich markiert bzw. angedeutet werden, ohne diese zu explizieren oder ein Wertprädikat gebrauchen zu müssen. Bei der Benennung des Referenzobjekts (Handlung) ihrer Stellungnahme lässt sich dieser Modus zeigen: »dass die dann die Kinder, die so klein oder so sind, einfach da auf diese Ablage bringen und da verhungern lassen«. Zusätzlich fällt hier auf, dass die handelnde Gruppe als Referenzobjekt in der gesamten Sequenz nicht einmal explizit erwähnt wird. In insgesamt 20 turns, in denen sich Schüler*innen oder die Lehrperson in dieser Sequenz mit der spartanischen Erziehung auseinandersetzen, werden weder die Urheber*innen der Erziehungsmethoden noch die betroffenen spartanischen Jungen konkret benannt. Beide werden nur mit Pronomen bezeichnet (»die«, »denen«, »sie« oder »man«) oder es werden Passivkonstruktionen verwendet, in denen gar keine handelnden Akteur*innen sichtbar sind. Die Lehrperson evaluiert die Äußerung grundsätzlich positiv (mit mehreren zustimmenden »Mmh+«, bereits während die Schülerin spricht und durch Nicken).61 Dann bittet sie mit einer erneuten Eröffnung in Form einer Nachfrage (»Inwiefern seltsam?«) um eine Präzisierung der Bewertung. Darauf reagiert die Schülerin mit der Erweiterung ihrer Aussage, die bestätigt, dass es sich bei ihrem Beitrag zuvor um eine wertende Stellungnahme gehandelt hat. Der Beitrag der Schülerin ist zweigeteilt. Die Schülerin verwendet für ihre Stellungnahme sowohl ein Werturteil als auch ein präskriptives Urteil; sie stellt damit jeweils ihre Beziehung zum Referenzobjekt eindeutig her. Sie beginnt mit einem präskriptiven Werturteil (»das würde ich niemals, also das würde heutzutage niemand so machen«), mit dem sie zunächst sich (»ich«) und dann alle heutigen Menschen (»heutzutage niemand«) von der bereits im Beitrag zuvor bewerteten Handlung (»Kinder verhungern lassen«) abgrenzt. Die Aussage ist präskriptiv, weil mit ihr eine Handlungsvorgabe, -absicht oder hier der Ausschluss einer bestimmten Handlung formuliert wird. Diese basiert auf einer Beziehung zum Referenzobjekt und darauf, dass die Handlung von ihr negativ bewertet wird. Dies erfolgt hier in Abgrenzung zum Referenzobjekt. Dass es sich bei ihrer Aussage nicht lediglich um die Feststellung von Alterität oder Zeitdif61 Hier zeigt sich, dass es für die Analyse von unterrichtlicher Kommunikation lohnenswert ist, nicht nur das Transkript, sondern auch das Video zur Auswertung heranziehen zu können. MAXQDA ermöglicht dies.
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ferenz handelt, legt der zweite Teil des Beitrags nahe, der erneut im Modus der Stellungnahme formuliert ist. Aus dem vorsichtigen »bisschen seltsam« wird ein »total komisch«. Zwar verstärkt die Schülerin den Grad ihrer Bewertung, doch verwendet sie erneut ein explizites, aber vages Wertprädikat zur Valenzzuweisung. Die Schülerin behält ihre vage und zugleich distanzierende Sprechweise bei der Benennung des Referenzobjekts bei (»irgendwie«). Dieses modifiziert sie ebenfalls leicht. Die Bewertung bezieht sich nicht mehr nur auf die eigentliche Handlung »irgendwie so das einfach wegzuschieben«, sondern auch auf deren Begründung und Motive »nur weil es nicht kräftig ist«. Die Schülerin beschreibt das Referenzobjekt diesmal in Form einer Passivkonstruktion vollständig ohne Verweis auf die Verantwortlichen für die beschriebene Handlung. Die ihrer Bewertung zugrundeliegenden Wertmaßstäbe präzisiert sie dagegen nicht. Das Wertprädikat »komisch« lässt wie »seltsam« keinen Rückschluss zu, außer der Tatsache, dass die Handlung von einer Norm abweicht. Die Schülerin macht durch den Modus der Stellungnahme erneut deutlich, dass es sich um ihre persönliche Wertung handelt. Zusätzlich verwendet sie bei der Benennung des Referenzobjekts die Modalpartikel »einfach« und »nur« als Marker für distanzierendes Sprechen. Die Lehrkraft akzeptiert die Vagheit, allerdings mit einem positiven und ebenfalls vagen Feedback (»Mmh+«) und erteilt der nächsten Schülerin das Wort. »L: [nickt] Mhm+, Sw7. Sw7: Ich find das ein bisschen komisch, dass die sich nicht waschen durften, und dann [L. nickt] einfach so, also so schmutzig da durch die Straßen und so. L.: [nickt] Mhm, Sm8.«
Die zweite Schülerin bewertet mit ihrer Stellungnahme ein anderes Phänomen, das im Material erwähnt wurde. Sie nutzt dafür das bereits von Sw6 gebrauchte explizite aber vage Wertprädikat »komisch« und verwendet für ihre Benennung des Referenzobjekts ebenfalls distanzierendes Sprechen. Als Marker fungieren hier »einfach so«, »so« und »da«. Die Lehrkraft nickt und gibt das Rederecht an Sm8 weiter, der ebenfalls eine Stellungnahme artikuliert. »Sm8: Also ich fand das auch irgendwie ziemlich brutal, dass die ähm jetzt ähm die Kinder dann einfach alleine gelassen haben und ich glaube, die Kinder wurden dann auch von der Klippe geschmissen, das stand hier jetzt gar nicht dabei. L.: Also hier im Text steht, ich glaube in Anführungsstrichen, ›zur sogenannten Ablage‹, das kann man dann eben interpretieren. Sm8: Ja, aber dass das dann auch behinderte Kinder [L. nickt deutlich] sag ich jetzt mal oder ähm Missgeburten, dass die ähm ja, wie soll ich sagen, so behandelt wurden, als ob sie nichts mehr im Leben schaffen könnten [L. nickt] und dass sie dann halt einfach irgendwo abgelagert werden, das find ich schon son bisschen
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plump und ähm, dass sie irgendwie denken, dass so welche Kinder oder Leute in ihrem Staat ähm über- irgendwie nicht würdig [L. nickt] sind in ihrem Staat zu sein und dass sie halt so welche Leute nicht akzeptieren, find ich halt irgendwie auch nicht so super. Aber ich meine, wenn man halt ein gutes Militär haben will, dann muss man auf sowas ja auch achten [L. nickt], aber (3) [L.: Mhm+ dreht seinen Kopf weg] also wenn es ein bisschen-. L.:
Gucken wir mal. Sw1.«
Auch Sm8 beginnt seinen ersten Beitrag mit der bereits bekannten Stellungnahmeformel. Anders als zuvor (»komisch« und »seltsam«), verwendet er mit »brutal« ein implizites Wertprädikat mit deutlich deskriptivem Gehalt. Aufgrund der Stellungnahme und des distanzierenden Sprechens (»einfach«) lässt sich »brutal« dabei nicht als rein deskriptiv, sondern auch als negative Valenzzuschreibung kategorisieren. Hierdurch lassen sich Rückschlüsse auf seine Wertmaßstäbe ziehen, er expliziert diese jedoch nicht. Auch Sm8 formuliert sehr zurückhaltend und tönt seine Wertung mit »irgendwie ziemlich« deutlich ab. Nachdem die Lehrperson bei der Aufbereitung des historischen Sachverhalts assistiert hat, führt Sm8 in einem zweiten Beitrag weiter aus. Dabei bietet er ein komplexer formuliertes Werturteil an, das sprachlich auf zwei Stellungnahmen hinausläuft: »Das find ich schon son bisschen plump« und »find ich halt irgendwie auch nicht so super«. Auch Sm8 führt seine Bewertung nach der Kritik an den distanzierend referierten Handlungen »einfach irgendwo abgelagert« weiter aus. Das abgetönte vage Wertprädikat »bisschen plump« gibt ebenfalls wenig Aufschluss über die Wertmaßstäbe, hier liefert der Sprecher aber nach. Er kritisiert das Denken, das hinter diesen Handlungen stehe. Mit »super« setzt der Schüler ein Wertprädikat mit eindeutig expliziter Valenz ein; er verwendet es allerdings in Form einer abgetönten Negierung (»nicht so super«). Er expliziert erneut keine Wertmaßstäbe, durch die ausführlichere Benennung der Referenzobjekte (Handlung, Denken) deutet er sie aber an. Dabei belässt es Sm8 nicht; er schränkt sein Werturteil ein bzw. er setzt dazu an. Unter der Prämisse, dass »man halt ein gutes Militär haben« wolle, »[müsse] man auf sowas ja auch achten«. Zwar bleibt unklar, was mit »sowas« konkret gemeint ist, der Schüler verweist hier jedoch erkennbar auf den Maßstab der Zweckrationalität, der auch Sachurteilen zugrunde liegt. Die mit der Einleitung »aber ich meine« eingebrachte Einschränkung seines Werturteils eröffnet den Widerspruch zwischen wert- und zweckorientierter Haltung. Sm8 führt dies jedoch nicht weiter aus und lässt so die Konsequenzen dieser Überlegungen für seine Bewertung offen. Nun erhält Sw1 das Rederecht. Sie greift mit ihrem Wortbeitrag explizit den
Werturteile im Unterrichtsgespräch am Beispiel der Erziehung in Sparta
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Beitrag der Schülerin Sw7 auf62 und beleuchtet das dort bewertete historische Phänomen (»sich nicht waschen dürfen«) nun ebenfalls erkennbar mit dem Maßstab von Zweckrationalität auf der Sachurteilsebene – allerdings auch ohne ihn zu explizieren. »L.: Gucken wir mal. Sw1. Sw1: Irgendwie das, was Sw7 gesagt hat, das find ich auch ein bisschen komisch, weil ähm das bringt denen ja nichts, wenn die Krieger, wenn die sich nicht waschen dürfen, dass die krank werden, weil früher gab es ja auch noch nicht so gute Medizin dann und dann haben die ja nur weniger Krieger als wenn die sich jetzt waschen.«
Sie nutzt also den Maßstab des vorangegangenen Beitrags und greift zugleich auf das historische Phänomen und das Wertprädikat aus dem vorvergangenen Beitrag zurück.63 Ihre Stellungnahme – mit der mittlerweile etablierten Formel »komisch finden« – bezieht sich nicht mehr auf die Bewertung des Sachverhalts selbst. Das Referenzobjekt stellt in diesem Fall vielmehr die Beziehung zwischen der rekonstruierten Handlung und deren Ziel dar. Die Schülerin zeigt sich irritiert über die angenommenen Folgen (»weniger Krieger«). Sie nutzt ihre Alltagstheorien, um »denen« einen Verstoß gegen zweckrationales Handeln vorzuhalten (»weil es denen nichts bringt«). Die Verwunderung über dieses scheinbar irrationale Verhalten führt dazu, dass im weiteren Verlauf des Unterrichtsgesprächs – auch von anderen Schüler*innen – nach möglichen rationalen Erklärungen gesucht wird. An diesem Beispiel zeigt sich die enge Verknüpfung der Dimensionen historischen Denkens in der Unterrichtsrealität.
6.
Fazit
Zu Beginn wurde das Spannungsverhältnis umrissen, in dem sich Werturteilsbildung im Geschichtsunterricht offenbar befindet. Grundlage der Untersuchung waren die Definition von Werturteilsbildung im Rahmen einer Theorie historischen Denkens sowie eine Einordnung des kommunikativen Rahmens von Geschichtsunterricht. Anhand vorgestellter Kategorien wurden Werturteile aus einer Unterrichtssequenz einer Doppelstunde der Jahrgangsstufe fünf beispielhaft analysiert. 62 Eine solch explizite Bezugnahme auf einen vorherigen Schüler*innenbeitrag ist ein eher seltenes Phänomen im Unterricht. In dieser Form kommt es in der hier analysierten Doppelstunde nur zweimal vor. 63 Das Wertprädikat »komisch« wurde, nach der positiven Evaluation durch die Lehrperson, noch in drei weiteren Schüler*innenbeiträgen genutzt.
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Sebastian Bracke
Auf dieser Grundlage konnten dann folgende Befunde ermittelt werden: Grundsätzlich tendierten die Schüler*innen dazu, die Erziehung und Lebensweise der Spartaner, die sie auf Basis der Plutarch-Texte rekonstruierten, abzulehnen. Insbesondere die Selektion der Neugeborenen, der frühe Kriegsdienst, aber auch die als mangelhaft empfundene Hygiene sowie die insgesamt als zu hart empfundene Lebensweise und ein wahrgenommener Mangel an Autonomie wurden kritisiert. Allerdings erfolgt die Kritik vage, eher zurückhaltend und sie wird sprachlich durch den Gebrauch von Modalpartikeln zudem abgeschwächt. Offenbar können oder wollen viele Schüler*innen ihre ablehnende Haltung zur spartanischen Erziehung nicht deutlicher zum Ausdruck bringen. Es lassen sich auf Basis der bisherigen Auswertung vorsichtige Tendenzen im Hinblick auf die sprachliche Verfasstheit von Werturteilen im Unterricht erkennen. So können die hier als Modus präsentierte Stellungnahme (sowohl in der Form als Werturteil als auch als präskriptives Urteil) und der Modus des distanzierenden Sprechens auch im weiteren Sample rekonstruiert werden. Auf der Beziehungsseite scheinen sich die beiden Formen Werturteil und präskriptives Urteil (welches Konsequenzen formuliert) zu unterscheiden. Letzteres basiert ebenfalls auf der Bewertung des historischen Phänomens, geht aber bei der Formulierung darüber hinaus. Möglicherweise lassen sich präskriptive Aussagen als explizite Orientierungsaussagen verstehen. Hier zeigt sich, dass Schüler*innen durchaus bereit sind, sich explizit zu historischen Phänomenen in Beziehung zu setzen. Der Modus des distanzierenden Sprechens scheint als Marker für Werturteile auch in Phasen zu fungieren, in denen diese nicht explizit eingefordert sind bzw. die Re-Konstruktion von Sachurteilen oder Sachverhalten im Vordergrund steht. Die hier vorgestellte Kombination von Modalpartikeln (»einfach« und »nur«) tritt in der unterrichtlichen Kommunikation des Samples mehrmals auf, um als negativ bewertete Handlungen historischer Akteur*innen zu beschreiben. Dabei kommt Modalpartikeln offenbar eine doppelte Funktion zu. Neben der Markierung von distanzierendem Sprechen dienen sie der Abtönung von Werturteilen, indem Wertprädikate eingeschränkt werden. Die Valenzzuweisung erfolgt – wie auch im Beispiel gezeigt – dann durch zum Teil mehrfach abgetönte Wertprädikate ohne deskriptiven Gehalt, so dass die zugrundeliegenden Wertmaßstäbe nicht eindeutig zu erkennen sind. Beim Modus Stellungnahme erfolgt die Bewertung bzw. die Mitteilung der Handlungsabsicht auf der Basis eigener, gegenwärtiger Maßstäbe – dies wird von den Schüler*innen auch transparent gemacht. Welche Maßstäbe zugrunde liegen, muss dabei in den Augen der Schüler*innen offenbar nicht explizit erwähnt werden. Der vorgestellte Modus der Stellungnahme enthält dabei eine explizite Reichweitenbegrenzung (»ich finde«, »meine Meinung ist«). Auch dass die Schüler*innen die Maßstäbe ihrer Bewertung nicht explizieren, kann mit diesem
Werturteile im Unterrichtsgespräch am Beispiel der Erziehung in Sparta
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Modus zusammenhängen. Offenbar muss ein Geschichtsunterricht, der Wertmaßstäbe transparent diskutieren möchte, diese explizit einfordern. Es zeigt sich, dass Werturteile Teil alltäglicher unterrichtlicher Kommunikation über Vergangenheit und Geschichte sind – auch wenn sie im Sample gegenüber der Re-Konstruktion historischer Sachverhalte deutlich seltener zu finden sind. Schüler*innen verfügen über unterschiedliche sprachliche Optionen, ihre Beziehung zum Referenzpunkt auszudrücken. Gleichzeitig scheint Werturteilsbildung für die Schüler*innen eine gleichermaßen komplexe wie prekäre Herausforderung zu sein. Sie werden gerade zu Beginn unterrichtlicher Diskurse offenbar mit großer Vorsicht artikuliert. Diese Vorsicht wird in der sprachlichen Verfasstheit von Werturteilen gut sichtbar. Zugleich prägt das Unterrichtsgespräch mit seinen kommunikativen Mustern auch die Werturteilsbildung: offenbar kann die Lehrperson über ihr Feedback ermutigend wirken. Auf der anderen Seite können bereits positiv evaluierte Werturteile die weiteren Äußerungen beeinflussen, wie es der mehrfache Gebrauch des Wertprädikats »komisch« andeutet. Das Forschungsprojekt verfolgt explorativ den Ansatz, verschiedene Arten von Werturteilen im Geschichtsunterricht ausfindig zu machen sowie die jeweilige kommunikative Verfertigung zu untersuchen. Mit Blick auf das Untersuchungsdesign lässt sich bereits sagen, dass es sich für diese Analysen von Kommunikation historischer Denkleistungen als gewinnbringend erweist. Die verwendete mehrschrittige Kodierung ermöglicht es, sowohl die gesamte Stunde zu erfassen, als auch, wie hier demonstriert, eine detaillierte Analyse von Beiträgen im Kommunikationszusammenhang durchzuführen. Die noch ausstehende Auswertung des gesamten Samples wird zeigen, ob sich die Strukturelemente zu weiteren Modi und gegebenenfalls Typen verdichten lassen. Im weiteren Verlauf soll deshalb neben intensiven Einzelfallanalysen versucht werden, durch das Sample hinweg verbreitete Strukturen und Modi aufzudecken, um so präzisere Aussagen darüber machen zu können, (1) wie Werturteilsbildung und (2) der kommunikative Umgang mit ihr im alltäglichen Unterricht stattfindet. Damit soll weiter geklärt werden, welchen Status Werturteile im alltäglichen Unterricht haben und welche expliziten oder impliziten Angebote zur Werturteilsbildung Schüler*innen wie nutzen.
Philipp McLean
Förderung der »historischen Mündigkeit« durch ideologiekritische Überlegungen
Konzept Dieser Beitrag möchte aufzeigen, dass das in der Fragestellung formulierte Verhältnis von Mündigkeit und historischer Bildung einer eingehenden Analyse bedarf. Dabei soll der Begriff der Mündigkeit, ausgehend von einer genealogischen Betrachtung, durch fachspezifische Überlegungen auf die Orientierung in der Geschichtskultur bezogen werden. An dem daraus resultierenden vorläufigen Begriff der »historischen Mündigkeit« soll die Bedeutung der Ideologiekritik beleuchtet werden. Abschließend sollen erste Überlegungen zur Nutzung dieses Konzeptes in der Lehrer*innenausbildung angestellt werden.
Fragestellung In dem Artikel wird die Frage thematisiert, welchen Beitrag die historische Bildung, vorrangig die schulische und lehrer*innenbildende, zu einer an fachlichen Prinzipien orientierten Mündigkeit leisten kann. Im Rahmen einer ersten Annäherung an den Begriff der »historischen Mündigkeit« soll der fachspezifische Anteil der Ideologiekritik an derselben erkennbar werden. Hintergründig geht es zudem darum, was die Formulierung einer »historischen Mündigkeit« für die professionelle Wahrnehmung und für die historische Bildung im Umgang mit der Geschichtskultur bedeuten könnte.
Probleme Der Begriff der Mündigkeit ist konzeptuell schwer zu fassen. Dadurch bleibt die Übertragung des Begriffes in den Bereich der historischen Bildung zunächst provisorisch. Auch das Konzept der immanenten Ideologiekritik ist sehr voraussetzungsreich, sodass viele Implikationen, vor allem die praktischen, im Zusammenhang mit diesem zunächst nur angedeutet werden können. Zudem weisen weitere Überlegungen darauf hin, dass sich das Konzept der »historischen Mündigkeit« möglicherweise nur bedingt operationalisieren lässt, was eine empirische Überprüfbarkeit erheblich erschweren würde.
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Philipp McLean
Stand / (Zwischen-)Ergebnisse In einer vorläufigen Definition der »historischen Mündigkeit« zeigt der Artikel, dass es sich bei ihr um die Fähigkeit handelt, autonom, (selbst-)bewusst und (selbst-)reflexiv an der Geschichtskultur zu partizipieren. Außerdem wird aufgezeigt, dass die Methode der Ideologiekritik einen fachspezifischen Beitrag zur Mündigkeit darstellen kann. Sie eröffnet durch die immanente Kritik an krisenhaften historischen Phänomenen den Blick auf vergangene und gegenwärtige Verhältnisse und ermöglicht so bessere Orientierung in der Geschichtskultur, der gegenwärtigen Lebenspraxis und im »Universum des Historischen«.
1.
Einleitung »Ich weiß nicht, ob wir jemals mündig werden.« – Michel Foucault1
Mündigkeit ist in Deutschland seit den 1950er Jahren ein bedeutendes, wenn nicht das zentrale Bildungsziel. Eine demokratische Gesellschaft muss nach ihrem Selbstverständnis sowie im Interesse ihres eigenen Erhalts mündige Gesellschaftsmitglieder voraussetzen. Erst die Fähigkeit zur freien und autonomen Selbstbestimmung ermöglicht es den Mitgliedern dieser Gesellschaft, an sozialen und politischen Entscheidungen zu partizipieren. Negativ gewendet: Staaten, die die Erziehung zur Mündigkeit nicht ernst nehmen, nehmen die Demokratie nicht ernst.2 Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Bildungspolitik die Forderung nach Mündigkeit nicht erst seit den Zeiten des »fächerübergreifenden« Unterrichtes als ein Ziel an die historische Bildung heranträgt. Auch wenn der Begriff der Mündigkeit keine prominente Stellung in der Geschichtsdidaktik einnimmt,3 ist man sich im geschichtsdidaktischen Diskurs dennoch weitgehend einig darüber, dass die historische Bildung bzw. ein reflektiertes Geschichtsbe1 Daniel Defert (Hrsg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV. Frankfurt a. M. 2005, S. 706. 2 Vgl. Heinz Eidam: Erziehung zur Mündigkeit. Vom Mittel und Zweck der Erziehung im Ausgang von Kant und Adorno. In: Ders. (Hrsg.): Erziehung und Mündigkeit. Bildungsphilosophische Studien. Berlin 2006 (Ethik und Pädagogik im Dialog, Bd. 4), S. 99–122, hier S. 106f.; Markus Speidel: Erziehung zur Mündigkeit und Kants Idee der Freiheit. Frankfurt a. M. 2014, S. 58. 3 Es ist mir kein aktuelles geschichtsdidaktisches Werk bekannt, in dem der Begriff »Mündigkeit« im Sachwortregister zu finden ist. Die Vermeidung des Begriffes liegt zum Teil in der Abgrenzung gegenüber der Allgemeindidaktik in den 1970er Jahren begründet. Dazu: Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft. In: Hilke Günther-Arndt/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 6. überarb. Neuaufl. Berlin 2014, S. 11–23, hier S. 21.
Förderung der »historischen Mündigkeit« durch ideologiekritische Überlegungen
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wusstsein zur Mündigkeit einer Person beitragen.4 Es wäre jedoch zu explizieren, welchen Beitrag die historische Bildung zu einer, an fachlichen Prinzipien orientierten, »Teilmündigkeit« leisten kann und soll. Dieser Artikel skizziert erste Überlegungen zur Relevanz, Problematik und möglichen Konsequenzen einer näheren Bestimmung dieser »historischen Mündigkeit«.5 Dazu soll zunächst die Verwendung des Begriffes der Mündigkeit in schulischen sowie die Lehrer*innenausbildung betreffenden curricularen Dokumenten kritisch nachgezeichnet werden. Anschließend wird mittels einer knappen genealogischen Analyse des Begriffes der Mündigkeit sowie daran anknüpfender geschichtsdidaktischer Überlegungen die »historische Mündigkeit« vorläufig als die Fähigkeit, autonom, (selbst-)bewusst und (selbst-)reflexiv an der Geschichtskultur zu partizipieren, bestimmt. Aus dieser Präzisierung des Begriffes heraus soll für eine Erneuerung des ideologiekritischen Prinzips in der Geschichtsdidaktik plädiert werden und dessen Implikationen für den Geschichtsunterricht und die Lehrer*innenausbildung diskutiert werden.
2.
Zur Relevanz von Mündigkeit in curricularen Dokumenten der Geschichtslehrer*innenausbildung
Auch wenn alle Schulfächer die Entwicklung der Schüler*innen hin zu mündigen Gesellschaftsmitgliedern fördern sollen,6 wird häufig den sozialwissenschaftlich-historischen Fächern eine besondere Verantwortung bei der Ausbildung der Mündigkeit zugeschrieben. So findet sich beispielsweise im »neuen Kerncurri-
4 Beispielsweise bei Waltraud Schreiber u. a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell (Basisbeitrag). In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 17–53, hier S. 18; Klaus Bergmann: Multiperspektivität. Geschichte selber denken. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2008, S. 85. Oder als ideelle Grundlage des Faches bei Axel Becker/Christian Heuer : Erkenntnistheoretische Grundlagen historischen Lehrens und Lernens. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 77–88, hier S. 78 oder als die Aufgabe des Humanismus in der Geschichtswissenschaft bzw. dem -unterricht bei Karl-Ernst Jeismann: »Geschichtsbewußtsein«. Überlegungen zur zentralen Kategorie eines neuen Ansatzes der Geschichtsdidaktik. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung. Paderborn 1980, S. 179–222, hier S. 200 sowie bei Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln 2013, S. 249f. 5 Die theoretische Fundierung dieser Überlegungen ist das Thema meiner Dissertation. 6 Vgl. Deutscher Bildungsrat: Empfehlung der Bildungskommission. Zur Neuordnung der Sekundarstufe II, Konzept zur Verbindung von allgemeinem und beruflichen Lernen. Stuttgart 1974. Zur Stellung des Schülers in der Schule – Erklärung der Kultusministerkonferenz. Beschlossen 25. 05. 1973 (Erl. d. MKv. 18. 6. 1973 – 301 – 403/1/1 – 5/73 [SVBl. 7/1973 S.191 und 10/1973 S.282]). Auf diesen Beschluss wird nach wie vor Bezug genommen.
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Philipp McLean
culum für Hessen«7 der Hinweis, dass die Fächer »Erdkunde«, »Geschichte« und »Politik und Wirtschaft« sich unter »fachspezifischen Perspektiven« den »Fragen und Problemen des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen« zu widmen haben. Durch das Ausbilden einer (multiperspektivischen) Handlungskompetenz in diesen Fächern sollen die Schüler*innen zu mündigen Bürger*innen werden.8 Im Rahmen der Analyse der curricularen Dokumente werden die Geschichtslehrer*innen in den Fokus gerückt, da sie diejenigen Personen sind, die Herausbildung der Mündigkeit ermöglichen sollen. Nach ersten, vorläufigen Ergebnissen einer qualitativen Inhaltsanalyse curricularer Dokumente der Geschichtslehrer*innenausbildung9 ist zu vermuten, dass eine These von Dorsch et al.10 verifiziert werden kann: Mündigkeit wird im Allgemeinen eine zentrale Stellung in der Lehrer*innenausbildung – hier vor allem in den Fächern Geschichte, Geographie und Politik – eingeräumt. Es klafft jedoch eine »Leerstelle« hinsichtlich dieses Begriffes zwischen der ersten und zweiten Phase der Lehrer*innenausbildung. In den universitären Curricula finden sich, vor allem dort, wo es praktisch wird – in den Modulbeschreibungen –, nur Teilaspekte der Mündigkeit, etwa Autonomie und Reflexivität. Die bisher untersuchten Curricula legen die Schwerpunkte deutlich auf die Beurteilung historischer Sachverhalte und die (Quellen-)Kritik. In den bisher untersuchten Modulbeschreibungen findet sich keine Formulierung, die sich direkt auf die Mündigkeit bezieht. Allein dieser Befund ist aufgrund der zentralen Stellung des Begriffes in den sozialwissenschaftlich-historischen Fächern erstaunlich. Die Teilaspekte der Mündigkeit adressieren zudem nur die Ausbildung der Mündigkeit bei den Studierenden und nicht die Vermittlung oder die Wahrnehmung derselben im Unterricht. In den schulpraktischen Modulen 7 Hessisches Kultusminsterium (Hrsg.): Bildungsstandards und Inhaltsfelder. Das neue Kerncurriculum für Hessen. Sekundarstufe I – Gymnasium. Geschichte. O.O., o. J., S. 11f. 8 Entsprechend gehen wir im Level-Projekt (»Lehrerbildung vernetzt entwickeln«), welches im Rahmen des BMBF-Programmes »Qualitätsoffensive Lehrerbildung« an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. gefördert wird, als ein sozialwissenschaftlich-historischer Fächerverbund (bestehend aus der Geographie- und Geschichtsdidaktik sowie der Didaktik der Sozialwissenschaft) der Frage nach der Mündigkeit in der gesellschaftswissenschaftlichen Bildung nach. 9 Die Analyse folgt dabei der qualitativen Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz: Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 3. überarb. Aufl. Weinheim/ Basel 2016. Geplant ist deutschlandweit die Analyse der Modulbeschreibungen der ersten Phase der Geschichtslehrer*innenausbildung sowie der gesetzlichen Vorgaben der Länder zur Lehrerausbildung in der zweiten Phase. Bis jetzt wurden nur die Modulbeschreibungen hessischer Hochschulen analysiert. 10 Vgl. Christian Dorsch u. a.: Mündigkeit und Lehrerbildung in fächer- und phasenübergreifender Perspektive. Eine curriculare Fallanalyse der Fächer Erdkunde, Geschichte und Politik/Wirtschaft. In: Alexandra Budke/Miriam Kuckuck (Hrsg.): Politische Bildung im Geographieunterricht. Stuttgart 2016, S. 177–186.
Förderung der »historischen Mündigkeit« durch ideologiekritische Überlegungen
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werden zwar die Vermittlungsaspekte angesprochen, Verweise auf die Vermittlung von Mündigkeit oder deren Teilaspekte sind jedoch nicht zu finden. In der zweiten Phase der Lehrer*innenausbildung liegt der Fokus nur auf der Vermittlung der Mündigkeit durch die zukünftigen Lehrpersonen. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass die Lehrkräfte bereits nicht nur selbst mündig sind, sondern darüber hinaus die Fähigkeit besitzen, Mündigkeit bei anderen Personen erkennen und fördern zu können. Die »Leerstelle« besteht also in der unklaren Adressierung des Mündigkeitsbegriffes. Hier zeigt sich die Relevanz dieser Untersuchung für die Geschichtsdidaktik. Es bedarf zunächst der Klärung dessen, was ein historisches Urteil als »mündig« qualifiziert. Erst dann kann das Phänomen im Unterricht oder in der Lehramtsausbildung wahrgenommen und entsprechend gefördert werden.11 Bei den qualitativ-inhaltlichen Auswertungen besteht noch starker weiterer Analysebedarf. Zum einen sind die Curricula weiterer Hochschulen auszuwerten, zum anderen sind die jeweiligen Vorgaben der Bundesländer hinsichtlich der Lehramtsausbildung in den Blick zu nehmen. Von besonderem Interesse dürften hier die Ländergemeinsamen Anforderungen für die Lehrer*innenbildung sein.
3.
Der Begriff der Mündigkeit
Zur präziseren Bestimmung des Mündigkeitsbegriffs kann die begriffsgeschichtliche Entflechtung seiner juristischen und intrinsischen Bedeutungsinhalte beitragen. Der Begriff der Mündigkeit entwickelte sich zunächst aus einer Vermischung verschiedener juristischer Begriffe. Er lässt sich aus dem westgermanischen Rechtsbegriff »Munt« ableiten, welcher nach innen Herrschaft und Fürsorge, nach außen Haftung und Schutz bedeutet. Bei seiner juristischen Verschmelzung mit dem römischen Recht fehlte ein genaues Äquivalent. Durch die Übersetzung in »majorennis«, die Volljährigkeit, erhielt der Begriff eine formalrechtliche Wendung. Daneben wurde die »Munt« auch mit »emancipatio« übersetzt, um der Konnotation mit Macht und Selbstständigkeit Rechnung zu tragen. Die »emancipatio« meint zunächst den Rechtsakt des Austrittes aus einer »Munt« und damit die Begründung einer eigenen oder den Übergang in eine andere. Diese juristische, einer bivalenten Logik folgende Implikation hat »mündig« weitestgehend bis heute im deutschen Recht behalten. Demnach kann ein Individuum nur entweder »mündig« oder »unmündig« sein. Viele Schwie11 Insofern versteht sich die theoretische Ausarbeitung meines Dissertationsprojektes als ein Beitrag zur professionellen Wahrnehmung des Phänomens der Mündigkeit im Kontext der historischen Bildung. Grundlegend dazu: Charles Goodwin: Professional Vision. In: American Anthropologist 96 (3) (1994), S. 606–633.
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rigkeiten mit dem Begriff der Mündigkeit resultieren aus dieser historischen Entwicklung: Im römischen Recht wird Mündigkeit in beiden Fällen als ein klarer Rechtsakt verstanden.12 Dieser ist durch eine äußerliche, formale Handlung erkennbar. Im germanischen Recht konnte man sich im Zustand der »Munt« befinden, dieser Zustand war aber nicht durch einen klar definierten Rechtsakt begrenzt. Vielmehr entsprang die »Munt« dem Verhältnis gegenüber anderen Gesellschaftsmitgliedern. Die Folge dieser Verschmelzung war (und ist) sowohl eine mangelnde Trennschärfe zwischen »mündigen« und »unmündigen« Personen als auch die Unklarheit darüber, wann genau eine Person als emanzipiert gelten kann. Die Trennung der »Munt« in zwei separate Rechtsbegriffe, einen passiv eintretenden (majorennis) und einen aktiven (emancipatio) Terminus, verweist ebenfalls auf ein Spannungsverhältnis, welches im Begriff der Mündigkeit angelegt ist.13 Im Bildungskontext wird, spätestens seit Kants negativer Bestimmung des Begriffs, Mündigkeit im Sinne eines Bündels von Eigenschaften und Fähigkeiten verwendet.14 Diese umfassen zumindest das Vermögen zur vernunftgeleiteten Urteilsbildung und Selbstreflexion. Hinzu kommt neben dem Autonomievermögen auch die Volition,15 die gefällten Urteile handlungswirksam werden zu lassen. Dabei zielt die so bestimmte Mündigkeit in einem aufklärerischen Sinn nicht mehr nur auf das juristische Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft, sondern auf eine die gesamte Gesellschaft umfassende Mündigkeit ab. In der Linie von Hegel bis Adorno erfuhr der zunächst nur für das politische bzw. öffentliche Feld formulierte Mündigkeitsbegriff eine Erweiterung auf andere gesellschaftliche Bereiche. Diese Erweiterung erfolgte hauptsächlich auf der Grundlage des philosophischen Arbeitsbegriffes. In diesem wird der Doppelcharakter der Arbeit, der sich zwischen Freiheit und Notwendigkeit im Prozess der Aneignung und Entwicklung von Lebensbedingungen und Entfaltungsmöglichkeiten bewegt, diskutiert. Da die ökonomische Sphäre auf andere Bereiche wie etwa die Kultur übergreift, sind diese ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Mündigkeit bzw. Un-
12 Sowohl im Fall der »emancipatio«, in welcher der pater familias seinen Sohn oder einen Sklaven ausdrücklich freigibt, als auch in der »majorennis«, die mit einem bestimmten Alter eintritt. 13 Die Ausführungen folgen Manfred Sommer : Mündigkeit. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Völlig neubearb. Ausg. d. »Wörterbuchs der philosophischen Begriffe« von Rudolf Eisler. Bd. 6: Mo-O. Basel 2001, Sp. 225–235, hier Sp. 225f. und Eugen Haberkern/Joseph F. Wallach: Hilfswörterbuch für Historiker. Mittelalter und Neuzeit. 9. Aufl. 2 Bde. Tübingen/Basel 2001, S. 437. 14 Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, mit einem Text zur Einführung von Ernst Cassirer. Hamburg 1999, S. 20. 15 Gemeint ist damit unter anderem die Kantsche Forderung nach dem »Mut, dich deines Verstandes zu bedienen« (ebd.).
Förderung der »historischen Mündigkeit« durch ideologiekritische Überlegungen
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mündigkeit zu betrachten.16 Der Terminus der Mündigkeit wandelte sich also von einem rechtlich formalen zu einem intrinsisch motivierten Handlungsbegriff. Damit zielt die Mündigkeit nicht mehr nur auf eine abstrakte (rechtliche) Kategorie, sondern auf ihre Verwirklichung in der Praxis. Die Adaption des bivalenten, juristischen Konzepts für den Erziehungskontext ist jedoch problematisch. Die Verwendung der Mündigkeit im Sinne einer ideellen Abgrenzung kann im Erziehungskontext zur paradoxen Verkehrung der Begriffsbedeutung führen. Ein Extrembeispiel17 kann dies verdeutlichen: Beharrt man im Rahmen des Erziehungsprozesses auf der klaren Unterscheidung von mündigen und unmündigen Personen, dann kann Mündigkeit, als Verwirklichung des Ideales von Autonomie und Selbstreflexion, nicht realisiert werden. Die historische Bedingtheit der Gesellschaft und die Perspektivität der Menschen verhindern die absolute Autonomie, welche eine notwendige Bedingung für das Gegensatzpaar wäre. Da Erziehungsprozesse intrinsische Vorgänge zu initiieren suchen, gibt es, im Unterschied zu einem juristischen Verfahren, keine Person oder Institution, die Mündigkeit extrinsisch zusprechen könnte. Der Mensch befände sich in einem nie endenden heteronomen Verhältnis zu diesem Erziehungsprozess, da ein Ende des Erziehungsprozesses, im Sinne der Verwirklichung des Ideals der Mündigkeit, nicht erreichbar wäre. Die eigentlich aufklärerische, emanzipatorische Intention des Begriffes würde sich in ihr Gegenteil verkehren. Um diesem Problem des bivalenten Begriffsverständnisses zu entgehen, soll, im Anschluss an Rieger-Ladich,18 im Folgenden Mündigkeit als ein im Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie oszillierender, relationaler und prozessualer Begriff verstanden werden. Denn eine Erziehung zur Mündigkeit findet in einem untrennbaren Geflecht von historisch bedingten, feldspezifischen Zwängen statt. Diese wirken sich auch auf die habituellen Prägungen und inkorporierten subjektivierten Praktiken aus. Somit ist sie stets auch relational, da in ihr die Momente Freiheit und Unfreiheit sowie Abhängigkeit und Widerstand gleichzeitig wirkungsmächtig sind. Mündigkeit verliert 16 Vgl. Wulf D. Hund: Arbeit. In: Hans J. Sandkühler (Hrsg.): Bd. 1: Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden. Neuaufl. Hamburg 2010, S. 143–151; Georg W. F. Hegel: Hauptwerke. In sechs Bänden [Sonderausgabe auf der Grundlage der historisch-kritischen Gesamtausgabe der GW]. 6 Bde. Hamburg 2015 (Bd. 2: Phänomenologie des Geistes), S. 109–116; Ralf Ludwig: Hegel für Anfänger – Phänomenologie des Geistes. Eine Lese-Einführung. 5. Aufl. München 2006, S. 192–194; Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 1. Aufl. Frankfurt a. M. 1997 (Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Bd. 3), S. 141. 17 Dieses Beispiel ist an Robert Spaemann: Autonomie, Mündigkeit, Emanzipation. Zur Ideologisierung von Rechtsbegriffen. In: Kontext (1971), H. 7, S. 94–102, angelehnt. 18 Vgl. Markus Rieger-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädagogischen Semantik. Konstanz 2002, v. a. S. 439–453. Rieger-Ladich entwickelt sein Mündigkeitsverständnis stark in Anlehnung an Bourdieu und Foucault.
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Philipp McLean
dabei ihr »makelloses« ideelles Bild, weil sie sich jeweils in spezifischen, nicht idealen Kontexten abspielt. Prozessual ist sie, weil Mündigkeit nicht mit dem Erreichen eines bestimmten Zustands oder mit dem Fällen eines bestimmten Urteils erreicht ist. Vielmehr muss mündiges Verhalten in verschiedenen Kontexten immer wieder aufs Neue überprüft bzw. realisiert werden. Es kann in einem Erziehungsprozess also nur darum gehen, eine Disposition zu mündigem Verhalten zu fördern.19 Nach Adorno kann mündiges Verhalten als »die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen« verstanden werden.20 Diese Widerständigkeit bedeutet die Kritik21 des Vorgefundenen und kann bereits darin bestehen, dass überhaupt ein Vernunftinteresse für einen Sachverhalt oder ein Phänomen aufkommt. Bei einem mündigen Verhalten geht es demnach zum einen darum, sich den Vorbedingungen und Vor-Urteilen des Feldes – des Diskurses, der Praktiken etc. – zu widersetzen (sich ihrer bewusst zu werden), und zum anderen die Realität als ein Gewordenes (und damit als ein Veränderbares) zu erkennen. An diesen Erkenntnisprozess kann sich dann eine begründete Handlung anschließen.22
3.1
Vorläufiges Verständnis von »historischer Mündigkeit«
Ausgehend von diesen Überlegungen soll nun eine vorläufige Definition dessen, was ein Urteil oder eine Handlung bezüglich der Geschichte als »mündig« qualifiziert, unternommen werden. Geschichtskultur bezeichnet dasjenige soziale System, in dem auf »eine spezifische Weise Geschichte als Bedeutung erzeugt« wird;23 damit umfasst sie jenen Bereich, in dem die geäußerten historischen Urteile in die Praxis übergehen und in der die geschichtskulturelle Praxis auf die Urteilskraft des erkennenden Subjektes trifft. Sie ist also derjenige Bereich, in dem die »historische Mündigkeit« real und konkret wird. Das Spezifi19 »Dispositionen sind eher Tendenzen als Festlegungen. Bestimmte Optionen werden aber wahrscheinlicher ausgewählt als andere.« Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 2015, S. 168. Aus Bourdieus Habitusbegriff, als einer der zwischen den objektiven Strukturen der Gesellschaft und den subjektiven Strukturen der Handelnden vermittelnden Praxis, folgt, dass eine einzelne Person weder ganz mündig noch vollständig unmündig sein kann. RiegerLadich (Anm. 18), S. 285–358. 20 Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. 24. Aufl. Frankfurt a. M. 2013, S. 93. 21 Kritik ist hier und im Folgenden als sachangemessene Beurteilung gemeint. 22 Vgl. ebd., S. 93; Dirk Braunstein/Stefan Müller-Doohm: Zeitdiagnose. In: Richard Klein/ Johann Kreuzer/Stefan Müller-Doohm (Hrsg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 248–252, hier S. 251f.; Tilo Wesche: Negative Dialektik. Kritik an Hegel. In: Ebd., S. 317–325, hier S. 322f. 23 Schönemann (Anm. 3), S. 18.
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kum, welches die Geschichtswissenschaft in das geschichtskulturelle Feld einbringt, ist die Möglichkeit der (historischen) Kritik, welche zur (Selbst-)Reflexion führen kann. Die historische Kritik macht es einem Individuum erst möglich, sich seiner eigenen historischen Standortgebundenheit bewusst zu werden und sich ihr gegenüber verhalten zu können. Nach Rüsen dienen geschichtswissenschaftliche Urteile über die Äußerungen der Geschichtskultur grundsätzlich der menschlichen Lebenspraxis, indem sie brauchbares Wissen für die Orientierung liefern.24 Die »historische Mündigkeit« könnte also als die individuelle Fähigkeit, autonom, (selbst-)bewusst und (selbst-)reflexiv an der Geschichtskultur zu partizipieren, beschrieben werden. Sie ist dann auf das Verhalten gegenüber den in der Gesellschaft erscheinenden historischen Sachverhalten und Phänomenen bezogen. Aufgrund des relationalen und prozessualen Charakters der Mündigkeit beziehen sich die Urteile und Handlungen auf die jeweils vorliegende (kollektive) geschichtskulturelle Praxis. Im Sinne der »Widerständigkeit« zielt ihre Kritik allerdings auf das Bestehende, »so daß schon die Voraussetzung der Mündigkeit, von der eine freie Gesellschaft abhängt, von der Unfreiheit der Gesellschaft determiniert ist«.25 Diese Urteile finden dadurch statt, dass die in der Geschichtskultur angegebenen Wissensbestände und ihre Voraussetzungen kritisch auf ihre Plausibilität hin überprüft werden. Die wichtigste lebenspraktische Funktion dieser historischen Kritik ist die der »Ideologiekritik«.26 Die spezifische Leistung einer »historischen Mündigkeit« wäre es demnach, sich mit den verschiedenen Einflüssen, die in und auf die Gesichtskultur wirken, kritisch auseinanderzusetzen; oder wie Rüsen es zugespitzt für die Funktion der Geschichtswissenschaft in der Geschichtskultur formuliert: »Sie konfrontiert Macht mit Wahrheit.«27
3.2
Das Messproblem von Mündigkeit
Es ist davon auszugehen, dass die Operationalisierung einer solchen »historischen Mündigkeit« mit einigen Schwierigkeiten verbunden wäre. Der Begriff »Mündigkeit« ist aufgrund seiner Disposivität und dadurch, dass er aus einem Bündel individueller, relationaler Fähigkeiten besteht, nur schwer »outcome24 Vgl. Rüsen (Anm. 4), S. 41. 25 Adorno (Anm. 20), S. 135; vgl. Bodo von Borries: Historische Bildung als Voraussetzung für Politische Mündigkeit?! Vortrag auf dem Jahreskongress der Landeszentrale für Politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern 14. 11. 2009, S. 3 (http://www.lpb-mv.de/cms2/LfpB_ prod/LfpB/_downloads/Jahreskongress_LpB_M-V_2009_Bodo_von_Borries.pdf, aufgerufen am 08.03.17). 26 Vgl. Rüsen (Anm. 4), S. 246–250. 27 Ebd., S. 247.
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freundlich« zu formulieren. Damit ist der Begriff der »historischen Mündigkeit«, ähnlich wie das »reflektierte Geschichtsbewusstsein«, kaum dazu geeignet, standardisiert betrachtet zu werden.28 Es ist daher zu vermuten, dass die »historische Mündigkeit« für stark quantifizierende, funktionalistische und kognitionspsychologische Kompetenzmessungen nicht geeignet ist, welche modellhafte Kompetenzskalierungen benötigen.29 Diese Messschwierigkeiten könnten zudem auf eine normative Paradoxie im Zusammenhang mit der Verwendung des Begriffes der Mündigkeit hinweisen. Normative Paradoxien bestehen darin, dass mit bestimmten Begriffen und Praktiken weiterhin einer normativen Leitidee Gültigkeit zugesprochen wird, die Begriffe selbst aber gegenläufig zu ihren emanzipatorischen Bedeutungen nur noch dazu dienen, autoritäre Strukturen zu legitimieren. Die Idee der Paradoxien meint hier also die »eigentümliche Tatsache, dass heute viele der erfolgreich institutionalisierten Prinzipien […] eine nahezu entgegengesetzte Bedeutung annehmen […]«.30 Die starke Orientierung an dem messbaren »Outcome« zielt auf ein überprüfbares Können der Schüler*innen in Problemlösesituationen ab. Dies ist sicherlich – auch im Hinblick auf die Mündigkeit – sinnvoll, da es dabei ebenfalls um eine Orientierung an praxisrelevanten, volitionalen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schüler*innen geht. Die der Logik der technischen Funktionalität folgende Konstruktion der Messmethode verändert jedoch nicht nur das wahrgenomme »Outcome«, sondern durch die Eigenlogik der Messung auch das an ihr ausgerichtete »Input« und schließlich das Verständnis des Gemessenen selbst. Die Mündigkeit wird in diesem Sinne gewissermaßen bedroht durch eine parasitäre Verwendung ihrer eigenen Prinzipien.31 Mündigkeit wird so gemessen, als könne am Ende des Beurteilungs- und Reflexionsprozesses nur ein spezifisches »richtiges« Urteil stehen oder als müsse der Reflexionsprozess in einer bestimmten Art 28 Vgl. Bernd Schönemann: Geschichtsbewusstsein – Theorie. In: Barricelli/Lücke (Anm. 4), S. 98–111, hier S. 110; Andreas Gruschka: Schulpädagogik. In: Armin Bernhard/Lutz Rothermel/Paulo Freire (Hrsg.): Handbuch kritische Pädagogik. Eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft. 2. Aufl. Weinheim 2001, S. 256–270, hier S. 265. 29 Auch in der Politikdidaktik schwelt ein Streit über die Möglichkeit, die politische Mündigkeit als eine messbare Kompetenz zu formulieren. Exemplarisch zwischen Joachim Detjen/Peter Massing/Dagmar Richter : Politikkompetenz – ein Modell. Wiesbaden 2012, S. 8ff. und Wolfgang Sander u. a.: Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. Schwalbach/Ts. 2016 (Wochenschau Politik), S. 18. Dabei lehnen Detjen et al. die Mündigkeit als ein nicht empirisch auf »Outcome« hin überprüfbares normatives Bild des Bürgers/der Bürgerin ab. 30 Axel Honneth/Ferdinand Sutterlüty : Normative Paradoxien der Gegenwart – eine Forschungsperspektive. In: WestEnd. Neue Zeitung für Sozialforschung 8 (2011), H. 1, S. 67–85, hier S. 69. 31 Vgl. Axel Honneth: Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus. Frankfurt a. M. 2002 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie, Bd. 1), S. 10.
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und Weise stattfinden. Der für die Mündigkeit wesentliche Bestandteil der Autonomie des jeweils handelnden Subjektes wandelt sich so zur Heteronomie. Es verwundert daher nicht, dass Rieger-Ladich Mündigkeit als »Pathosformel« identifiziert32 und Dorsch et al. exemplarisch nachweisen können, dass im Falle von universitären Curricula eine »Leerstelle« vorliegt. Schwer wiegt des Weiteren, dass die paradoxe Veränderung der »Mündigkeit« einen starken Zwang zur Affirmation und Anpassung auch für den Geschichtsunterricht erzeugen kann. Eine »historische Mündigkeit«, die sich auf die Logik der Fachwissenschaft bezieht, könnte möglicherweise gegen solche paradoxen Verwendungen des Begriffs einen normativen Orientierungspunkt bilden. Sinnvoller und gewinnbringender als eine Messung scheint es daher, die »historische Mündigkeit« als eine regulative Haltung, als ein »Ethos« im Umgang mit der Geschichtskultur zu betrachten.33 Dieser Gedanke wäre zudem für den nicht standardisierbaren, situativen Umgang mit der Geschichtskultur angemessener.34
3.3
Anknüpfung der »historischen Mündigkeit« an bestehende fachdidaktische Konzepte
Im Verhältnis zum Geschichtsbewusstsein, welches sich zwischen einer analytischen »Fundamentalkategorie« der Geschichtsdidaktik und der Zielvorstellung des Geschichtsunterrichts bewegt,35 könnten die Überlegungen zur »historischen Mündigkeit« mindestens hinsichtlich des Umgangs mit der Geschichtskultur eine Präzisierung bewirken. Durch die stärkere Betonung des normativen Anteils in der Zielvorstellung des reflektierten Geschichtsbewusstseins könnte das analytische Verständnis des Geschichtsbewusstseins gefördert werden. Weiterhin würde die schwierige Aufgabe der Selbstaufklärung und Selbstreflexion, welche im »aufgeklärten« oder »reflektierten« Geschichtsbewusstsein impliziert wird, theoretisch besser fassbar und damit wahrnehmbarer gemacht werden. Diese theoretische Arbeit an dem Begriff scheint schon deswegen lohnend, weil im geschichtsdidaktischen Diskurs ein impliziter Konsens darüber zu herrschen scheint, dass die historische Bildung und der Geschichtsunterricht einen nicht unerheblichen Beitrag zur Mündigkeit leisten.36 Bei den theoretischen Überlegungen zur »his32 Rieger-Ladich (Anm. 18), S. 88. 33 Foucault (Anm. 1), S. 707; vgl. Bergmann (Anm. 4), S. 85. 34 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. 3. Aufl. Schwalbach/Ts. 2012, S. 41. 35 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013, S. 133f.; Schönemann (Anm. 3). 36 Siehe Anmerkung 4.
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torischen Mündigkeit« geht es also um die Explikation eines im Begriff der historischen Bildung bereits mitgedachten Ziels. Ein weiterer Anknüpfungspunkt an bestehende geschichtsdidaktische Modelle könnte die »Orientierungskompetenz für Zeiterfahrung« sein.37 In dieser soll nicht nur die Reflexion des historischen Lernens, sondern auch die daraus resultierende sinnvolle Orientierung für die gegenwärtige Lebenspraxis stattfinden. Dort wäre demnach die Fähigkeit zur Partizipation an der gegenwärtigen Geschichtskultur zu verorten. Dafür soll die »Bedingtheit gegenwärtiger Sachverhalte und Phänomene«38 erkannt werden. Auf diese Erkenntnis soll dann (selbst-) reflexiv, in der Form von Werturteilen, Bezug genommen werden. Dadurch sollen die eigenen Handlungsspielräume in der Gegenwart erkannt und genutzt werden. Damit stellt die Orientierungskompetenz sicherlich einen zentralen Aspekt zur Förderung der Mündigkeit in der historischen Bildung dar. Zu klären bliebe allerdings, inwieweit eine gesonderte »geschichtskulturelle Kompetenz«39 in diese Überlegungen einfließen müsste. Zudem stellt sich die Frage, wie genau historische Werturteile beschaffen sein müssten, um als mündige Urteile gelten zu können, und ob diese Selbstreflexionen tatsächlich »zu ethisch verantwortlichem Handeln«40 führen.
4.
Ideologiekritik als immanente Kritik
Als »eine der wichtigsten lebenspraktischen Funktionen des wissenschaftlichen Denkens im Bereich der Geschichtskultur« bietet das Prinzip der Ideologiekritik einen weiteren Anknüpfungspunkt zur »historischen Mündigkeit«: Ideologiekritik versucht, die historische Bedingtheit offenzulegen und so »Möglichkeitsspielräume« zu eröffnen.41 Sie könnte eine Methode oder ein Prinzip der Geschichtsdidaktik bzw. -wissenschaft zur Förderung der Orientierungskompetenz darstellen, welches spezifisch die »historische Mündigkeit« fördert. Sie bedarf allerdings einer Aktualisierung. Denn zum einen sind jene Ansätze problematisch, die Ideologie in der Form einer pejorativen, externen Kritik zwischen einem »falschen« und einem »richtigen« Bewusstsein unterscheiden. Sie schotten sich selbst gegen Kritik ab, indem sie sich jeweils im Besitz des 37 Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2011 (Wochenschau Geschichte), S. 52; Hessisches Kultusminsterium (Anm. 7), S. 15; Jörn Rüsen/Ingetraud Rüsen: Historisches Lernen. Grundlage und Paradigmen. 2. überarb. u. erw. Aufl. Schwalbach/Ts. 2008, S. 67f. 38 Hessisches Kultusminsterium (Anm. 7), S. 15. 39 Pandel (Anm. 35), S. 232f. 40 Hessisches Kultusminsterium (Anm. 7), S. 15. 41 Rüsen (Anm. 4), S. 248.
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»richtigen« Bewusstseins wähnen. Zum anderen fehlt den Ansätzen, die jeglichen Bewusstseinsinhalt als ideologisch beschreiben, die Möglichkeit zur Differenzierung der verschiedenen Bewusstseinsinhalte. Dies lässt Aussagen über Ideologien nichtssagend werden und macht eine Kritik an ihnen unmöglich.42 Es stellt sich also die Frage, was Ideologien sind und von welchem Standpunkt aus sie kritisiert werden können: »Ideologien sind Ideen […], die (notwendig oder jedenfalls systematisch) in bestimmten sozialen Zusammenhängen stehen und entstehen. Sie sind dabei Überzeugungssysteme, die praktische Konsequenzen haben. […] Behauptet man von etwas, es sei ›ideologisch‹, so meint man nicht nur, es sei falsch oder ein Irrtum; andererseits gehört der Irrtumscharakter dennoch zur Ideologie dazu. […] Wer unter dem Einfluss einer Ideologie steht, ist nicht nur einem falschen Zustand ausgeliefert, sondern auch ›im Griff‹ einer falschen Deutung des Zustandes.«43
Ein derartiger Zustand ist gewissermaßen wahr und falsch zugleich: »Wahr in seinen empirischen Inhalten, aber irreführend in seiner Stoßrichtung – oder wahr in seiner oberflächlichen Bedeutung und falsch in den zugrundeliegenden Annahmen.«44 Es gehört zu der Eigenart von »Ideologie«, dass sie einen Bezugsrahmen für die Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit bietet, der die Machtansprüche von Gruppen im politischen und gesellschaftlichen Leben legitimiert. Somit »verdecken« Ideologien die Machtstrukturen der Gesellschaft. Die Kritik einer so verstandenen Ideologie kann nicht nur auf epistemischer Ebene stattfinden, sondern muss sich ebenso auf die Ebene der Praxis beziehen. Insofern zielt sie nicht auf die Korrektur der epistemischen Irrtümer alleine, sondern auch auf eine emanzipatorische Veränderung der Situation im Rahmen eines praktischen Transformationsprozesses.45 Wenn Ideologiekritik in dieser Form stattfinden soll, dann handelt es sich um die Form einer immanenten Kritik. Diese geht davon aus, dass »die Normativität sozialer Praktiken in den Vollzugsbedingungen dieser Praktik selbst«46 zu suchen ist. Es sind also nicht die Werte, die kontingent oder traditionell in einer Situation vorzufinden sind, sondern es ist die »implizite Normativität sozialer Praktiken«,47 auf die sich die Kritik richtet. Im Gegensatz zur internen Kritik, die der Vorstellung folgt, dass 42 Aktuelle Ansätze bspw. in: Rahel Jaeggi: Was ist Ideologiekritik. In: Dies./Tilo Wesche (Hrsg.): Was ist Kritik? 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2013, S. 266–295 und eine Beschreibung verschiedener Typen der Ideologie in: Terry Eagleton: Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart 2000. Vor allem Eagleton macht stark, dass es sich bei Ideologie nicht bloß um sachlich unzutreffende Aussagen handelt, sondern eher der gesamte Deutungshorizont einer Person betroffen ist. 43 Jaeggi (Anm. 42), S. 268. 44 Eagleton (Anm. 42), S. 25. 45 Jaeggi (Anm. 42), S. 277. 46 Dies.: Kritik von Lebensformen. Berlin 2014, S. 277. 47 Ebd., S. 289.
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eine Gemeinschaft »nur« den Kontakt zu ihren Idealen und Werten verloren habe und diese wiederherstellen müsse, hält immanente Kritik das Verhältnis von Norm und Realität für paradox. Es geht nicht nur darum aufzuzeigen, an welchen Stellen die Normen falsch gedeutet werden, es soll vor allem aufgezeigt werden, dass die »aufgewiesenen Widersprüche für die Existenz der entsprechenden Praktiken konstitutiv sind«.48 Die immanenten Widersprüche sind dabei nicht logischer, sondern praktischer Art. Das hat zur Folge, dass sie anders als logische Widersprüche nicht »denkunmöglich« sind, sondern in der Praxis Krisen erzeugen. Die Werte sind demnach wirksam, aber als wirksame Werte widersprüchlich und damit krisenhaft bzw. paradox. Eine solche, von einer Krise bestimmte soziale Realität wird nicht nur durch moralische Widersprüche bestimmt, sondern auch durch ihre »Funktionsprobleme«. Diese Krisen bzw. Paradoxien sind es, die den externen Anlass zur Kritik geben. Die Normen werden »nicht zufällig nicht verwirklicht, sondern sind von einem systematischen Problem gezeichnet«.49 Die Gründe, die dazu führen, dass sich die die Realität konstituierenden Normen nicht widerspruchsfrei verwirklichen lassen, arbeitet die immanente Kritik theoriegeleitet heraus und orientiert ihre Kritik an ihnen. Sie findet mit anspruchsvollen theoretischen Mitteln Zusammenhänge nicht einfach auf, sondern stellt sie her.50 »In dieser Hinsicht hat immanente Kritik auch ein erschließendes Moment, das Aspekte dieser Wirklichkeit neu sichtbar werden lässt.«51 Die immanente Kritik zielt nicht, wie es die interne Kritik tun würde, auf die Wiederherstellung einer bereits bestehenden Ordnung, sondern versucht durch ihre Analyse eine widersprüchliche Situation transformativ in eine neue zu überführen. Hierbei soll im Hegelschen Sinne das Richtige konstruktiv und affirmativ aus der aufhebenden (dialektischen) Überwindung des Falschen entwickelt werden. Dies bedeutet, dass sich im Prozess der Analyse die Normen wandeln. Die immanente Kritik unterzieht nicht nur die Praxis anhand von als paradox erkannter Normen einer Kritik, sondern auch die paradoxalen Normen selbst werden einer Kritik unterzogen. Damit ist bereits die Analyse ein Bestandteil des kritischen Prozesses. »Der Maßstab der Kritik hätte sich dann im Prozess der Kritik selbst verändert.«52 48 Ebd., S. 291. 49 Ebd., S. 277. 50 Ebd., S. 286, S. 300. Der Begriff des »Zusammenhangs« ist in der Hegelschen Terminologie die Kennzeichnung für ein Reflexionsverhältnis. 51 Ebd., S. 301. 52 Jaeggi (Anm. 42), S. 288. Die gesamten Ausführungen folgen sehr eng ebd., S. 283–290 und Jaeggi (Anm. 46), S. 278–301. Anders als Jaeggi habe ich teilweise den Begriff der Paradoxie, welcher durch das gegenwärtige Forschungsprogramm des IfS Frankfurt geprägt ist, verwendet. Dieses Konzept erhebt den Anspruch, dass mit ihm krisenhafte Phänomene zu beschreiben sind: »Für die Diagnose einer Paradoxie muss sich demnach der Geltungsüberhang, den normative Leitideen stets gegenüber ihren historisch-konkreten Realisierungen besitzen, unter
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4.1
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Beitrag des ideologiekritischen Verfahrens zur »historischen Mündigkeit«
Was kann ein immanent ideologiekritisches Verfahren im Rahmen des Konzepts der »historischen Mündigkeit« leisten? Zum einen kann die Ideologiekritik »im Spiegel der historischen Erfahrung […] die Sachverhalte und Deutungen ins Bedingungsgefüge der aktuellen Lebenspraxis einbringen, die sonst ideologisch ausgeblendet und durch den Schein der anderen Wirklichkeit verdeckt würden«.53 Ideologiekritik kann also dazu dienen, verborgene, unausgesprochene und verhüllte Strukturen, Motive und Widersprüche in der Geschichte und in der Geschichtskultur zu erschließen. Durch diese Offenlegung werden diese Phänomene der eigenen Wahrnehmung, Sinnbildung und Praxis erst zugänglich gemacht. Zudem »kann die Geschichtswissenschaft in die Geschichtskultur eine diskursive Dynamik einbringen«, welche den jeweiligen subjektiven Sinnzusammenhang, in dessen Rahmen man geschichtskulturelle Phänomene interpretiert und begreift, transformativ verändert.54 Dieser durch die Ideologiekritik ausgelöste Transformationsprozess kann zur Selbstreflexion führen. Daraus wiederum können Konsequenzen für die Orientierung in der eigenen Lebenspraxis und die Entwicklung der eigenen Identität erwachsen. Der Spielraum im Rahmen einer relativen Autonomie würde größer werden. Beides geschieht durch die Offenlegung normativer Strukturen und Paradoxien, die ihnen ihre zwingende Kraft nehmen. Die immanente Kritik legt dabei keine fremde bzw. externe, »objektive« bzw. »richtige« Perspektive an das historische Phänomen an – was für die epistemologisch notwendige Multiperspektivität auch problematisch wäre.55 Stattdessen entwickelt sie aus den Selbstwidersprüchen der aufgefundenen Normen und Realitäten den Maßstab zu deren Überwindung. Es lässt sich aus dem jeweils krisenhaften historischen Kontext der Versuch einer Entwicklung hin zu einem »Besseren« beschreiben. Es findet keine Beurteilung oder Analyse auf der Grundlage zwingender letzter Begründungen oder unabhängig von der kontextuellen sozialen Realität statt.56 Das heißt, dass Ideologie immer nur aus ihrer historischen Bedingtheit heraus begriffen werden sollte und damit Ideologiekritik immer ein historisches Verfahren ist. Ideologie kann also nicht ohne eine Analyse der gesellschaftlich-
53 54 55 56
Rekurs auf das normative Vokabular von Akteuren in Anschlag bringen lassen zur Bewertung von Veränderungsprozessen, die sich ihrerseits in Entstehung und Verlauf wesentlich diesem Vokabular verdanken.« Honneth/Sutterlüty (Anm. 30), S. 74. Im Folgenden ist unter der Bezeichnung »Ideologiekritik« die immanente Form derselben gemeint. Rüsen (Anm. 4), S. 248. Ebd., S. 249. Vgl. Bergmann (Anm. 4). Jaeggi (Anm. 42), S. 276f., S. 281, S. 283f., S. 292; Jaeggi (Anm. 46), S. 309.
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historischen Prozesse verstanden werden, die sie zustande gebracht haben.57 In dieser Tatsache könnte ein wesentlicher Beitrag der »historischen Mündigkeit« zu einer »allgemeinen Mündigkeit« liegen.
4.2
Praktische Folgen für die historische Bildung
Für immanente ideologiekritische Verfahren sind, wie ausgeführt, vor allem krisenhafte58 bzw. paradoxe (historische) Phänomene interessant. Dies gibt einen Hinweis darauf, welche Inhalte und Materialien in der historischen Bildung geeignet sein könnten, um die fachspezifische Form der Mündigkeit zu fördern. Ideologiekritik ist daher vermutlich nicht an jedem beliebigen historischen Inhalt durchführbar. Darüber hinaus geht immanente Ideologiekritik theoriegeleitet vor. Die Fähigkeit zur Ideologiekritik steigt also mit der Kenntnis von (historischen) Theorien. Um historische Krisen erkennen, beschreiben und analysieren zu können, sind somit Fähigkeiten und Fertigkeiten gefragt, die es ermöglichen, Wissen bzw. Theorie flexibel auf unterschiedliche historische Phänomene und Narrative anzuwenden. Es soll verdeutlicht werden, dass »falsche« oder »inkonsistente« narrative Konstrukte häufig nicht einfach auf zufällige Irrtümer der Menschen zurückzuführen sind, sondern dass es für sie Gründe gibt, die mit der Stellung der Menschen in der Gesellschaft zusammenhängen. Damit sind die Erkenntnisse über die Geschichtskultur immer auch Erkenntnisse über die Gesellschaft der Gegenwart. An dieser Stelle muss erneut auf den Aspekt der Lehramtsausbildung eingegangen werden. Denn die Fähigkeit des »Wissens um die historische Prägung der Gegenwart als Beitrag zur politischen Bildung und politischen Partizipationsfähigkeit«59 vermitteln zu können, ist Teil des fachspezifischen Kompetenzprofils am Ende des Geschichtslehrer*innenstudiums. Dabei ist allerdings die Perspektive der Lehrperson konstitutiv für den Diskurs, der im Unterricht stattfindet. Sie ist diejenige, die die Materialien und Themen für den Unterricht 57 Klaus Bergmann : Ideologiekritik. In: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. 4. Aufl. Schwalbach/Ts. 2013, S. 137–151, hier S. 139. 58 Zum Begriff der Krise: Reinhart Koselleck: Krise. In: Otto Brunner/Werner Conze/Ders. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart 2004, S. 617–650. Zum Zusammenhang von Kritik und Krise: Ders: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M. 1973; Seyla Benhabib: Critique, norm, and utopia. A study of the foundations of critical theory. New York 1986 sowie Honneth/Sutterlüty (Anm. 30), S. 74. 59 Kultusministerkonferenz (KMK): Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung. Neufassung v. 16. 10. 2008 u.i.d.F. vom 16. 3. 2017, S. 32.
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auswählt. Zugespitzt könnte man formulieren, dass die subjektiven Theorien und Annahmen der Lehrperson, auch wenn sie begründet sind, folgenschwer für die wahrnehmbaren Perspektiven im Unterricht sind. Gerade die »Erkenntnis und Erfahrung der Perspektivität […] sind wesentliche Momente eines in der Schule gelernten eigenen historischen Denkens. […] Sie machen wachsam, skeptisch und kritisch gegenüber Verlautbarungen jeder Art, weil sie zum ideologiekritischen ›Hinterfragen‹ anstiften«.60
In der theoretischen Betrachtung des Geschichtsunterrichts werden die Interessen oder die individuellen Konstrukte der Lehrpersonen (oder der Institution) selten als handlungsleitende oder -beeinflussende Faktoren systematisch erfasst. Dies wäre jedoch gerade für Überlegungen hinsichtlich der Ausbildung von Mündigkeit, sowohl für die Schüler*innen als auch für die der Lehrpersonen, wichtig. Stattdessen wird häufig von einer »Neutralität« der Lehrperson ausgegangen. Selbstverständlich unterliegen die Lehrpersonen ebenfalls der Perspektivität.61 Perspektiven sind nicht willkürlich und begründbar, aber sie sind eben nicht zwingend und damit relativierbar. Im Sinne eines mündigen Verhältnisses zur Geschichte wäre es umso wichtiger, dass Lehrpersonen in der Lage sind, die eigene Perspektive offen zu legen, zu reflektieren und diese so begründen zu können. Erst in einer Selbstreflexion kommt »eine Erkenntnis um der Erkenntnis willen mit dem Interesse an Mündigkeit zur Deckung«.62 Es wäre allerdings noch zu untersuchen, ob die Selbstreflexionsfähigkeit bei Geschichtslehrpersonen eine Relevanz für die Ausbildung der »historischen Mündigkeit« bei Schüler*innen besitzt und wie diese konkret angeregt werden kann. Mündigkeit bedeutet eben auch die permanente Kritik seiner selbst.63 Es ist nicht notwendig, stetig die eigene Perspektive und die Auswahl von Material für den Unterricht zu hinterfragen. Doch die Disposition zum Hinterfragen und das kritische Bewusstsein darüber, dass ein großer Teil der eigenen Position fremdbestimmt und bedingt ist, erhöht nicht nur die Fähigkeit zur Selbstreflexion und damit die individuelle historische Mündigkeit der Lehrperson, sondern sie erweitert außerdem die Möglichkeit dieser, die Schüler*innen in die Richtung der Mündigkeit zu bewegen. Ein solcher Begriff der Mündigkeit betont die eigenen »Verflechtungen und Verstrickungen, in denen der Mensch seine Existenz 60 Bergmann (Anm. 4), S. 85. 61 Klaus Bergmann: Multiperspektivität. In: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. 4. Aufl. Schwalbach/Ts. 2013, S. 65–77, hier S. 65. Selbst wenn die Lehrperson eine möglichst neutrale Quellenauswahl vornimmt, benötigen die Schüler*innen eine Hintergrundnarration für diese. 62 Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft, als ,Ideologie’. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1973, S. 157, S. 159–161, S. 164; Zitat: ebd., S. 164. 63 Foucault (Anm. 1), S. 700.
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führt«.64 Die Kritik der Geschichtskultur ist immer auch eine Kritik der Gesellschaft, die sie hervorbringt. Findet diese Selbstreflexion nicht statt, droht zumindest die Gefahr, dass implizite und explizite Forderungen – etwa durch das soziale Umfeld, die Politik, die Ausbildung, die Curricula etc. – an die eigene Perspektive unbemerkt herangetragen werden und sie davon vereinnahmt wird. Dieses Spannungsverhältnis kann leicht dazu führen, dass die eingenommene Perspektive des Geschichtslehrenden nicht dem regulativen Ideal der Wahrheit folgt65 und damit das (Erkenntnis-)Interesse der Lehrperson unwissentlich (oder wissentlich) »verdeckt« geäußert wird. Es werden dann zwar vordergründig multiperspektivische und kontroverse Ansätze verfolgt, die Lehrperson arrangiert den Unterricht aber so, dass ihre Perspektive zwingend wird. So würde gewissermaßen die Gefahr bestehen, dass die Lehrperson in der Geschichtskultur vorherrschende Ideologien reproduziert.
5.
Implikationen und Ausblicke
Eine demokratische Gesellschaft setzt mündige Bürger*innen voraus. Dies bedeutet auch, dass sie an der Geschichtskultur mündig partizipieren können sollen. Gerade weil Geschichtsdidaktik mehr als eine Unterrichtsfachdidaktik ist, ist es wichtig, die Instrumente für die sinnvolle Beschäftigung mit der Geschichtskultur zu fördern.66 Wenn man die daraus folgende Implikation der Beschäftigung mit der Geschichtskultur im Geschichtsunterricht ernst nimmt, dann sollten Schüler*innen als zukünftig Bürger*innen in die Lage versetzt werden, Geschichtskultur kritisch zu bewerten und zu beurteilen, um sich ihr gegenüber kritisch und relativ autonom verhalten zu können. Durch die theoretische Explizierung der »historischen Mündigkeit« könnte sie in die professionelle Wahrnehmung des Geschichtsunterrichtes, aber auch in die historische Bildung konkreter einfließen. Selbst dann, wenn sich Mündigkeit nicht in einem instrumentellen, funktionalen Sinne pädagogisch herstellen lassen sollte,67 könnte man dennoch empirisch geeignete Rahmenbedingungen für die Förderung »historischer Mündigkeit« untersuchen.68 Ein Vorhaben könnte es sein, die 64 65 66 67
Rieger-Ladich (Anm. 18), S. 445. Zum Wahrheitsbegriff in der Geschichtswissenschaft: Rüsen (Anm. 4), S. 55–64. Vgl. Schönemann (Anm. 3), S. 20; Pandel (Anm. 34), S. 130ff. Vgl. Karl-Heinz Dammer/Elmar Wortmann: Mündigkeit. Didaktische, bildungstheoretische und politische Überlegungen zu einem schwierigen Begriff. Baltmannsweiler 2014, S. 90–94. Diesem Gedanken liegt der Kantsche Autonomiegedanke zugrunde. 68 Für solche Untersuchungen scheinen mir Videostudien in besonderem Maße geeignet, denn in ihnen kann anders als bei einem Transkript nicht nur die Aussage, sondern auch das praktische, nonverbale Verhalten beobachtet werden. Kritisch bleibt die Frage, ob und wie eine gute empirische Messung des Phänomens der Mündigkeit gelingen kann.
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Ausbildungsziele der ersten und der zweiten Phase der Lehrer*innenausbildung stärker miteinander abzugleichen und sich die gezielte Förderung einer konkreten »historischen Mündigkeit« zum Ziel zu setzen, damit Mündigkeit in der historischen Bildung kein »Pathos« bleibt. Gerade die historische Erkenntnis der Bedingtheit der eigenen Position und eine Selbstaufklärung über dieselbe scheint mir, hinsichtlich der lebenspraktischen Orientierung, einer Betrachtung wert. Der Weg einer theoriegeleiteten immanenten Ideologiekritik krisenhafter historischer Phänomene könnte dabei, nicht nur in der Geschichtslehrer*innenausbildung, ein gangbarer Ansatz sein. Diesen Gedanken zu vertiefen und aus ihm konkrete Ansätze für die historische Bildung zu entwickeln, wäre das Ziel weiterer Forschungsarbeit. Für den Ansatz einer »historischen Mündigkeit« bleiben zur Zeit noch viele Fragen offen. Es ist neben den bereits angeklungenen Fragen zu klären, welche Auswirkung die narrativen Strukturen, in denen Geschichte gedeutet wird, auf den Begriff der »historischen Mündigkeit« haben. Zudem kommen in der Geschichtskultur und der daraus resultierenden Lebenspraxis moralischen und ästhetischen Urteilen eine entscheidende Bedeutung zu.69 Außerdem wären eine schlüssige Abgrenzung bzw. ein Abgleich zwischen der Ideologiekritik und der De-Konstruktionskompetenz wie auch zwischen der Orientierungskompetenz und der »historischen Mündigkeit« notwendig. Selbst wenn sich abschließend keine spezifische »historische Mündigkeit« formulieren lassen sollte, könnten die Überlegungen einen theoretischen Gewinn für die Zielvorstellung des »aufgeklärten«, »reflektierten« und »selbst-reflexiven« Geschichtsbewusstseins darstellen. Verbunden mit den Überlegungen zu einer »historischen Mündigkeit« ist auch die Abgrenzung gegenüber unberechtigten und unrealistischen Erwartungen, die an die historische Bildung gestellt werden.70
69 Vor allem im Hinblick auf das Konzept der Narrativität, das einen starken Zugang zur kulturellen Praxis, den Strukturmerkmalen von Geschichte überhaupt und deren Kritik bietet. Rüsen (Anm. 4), S. 43–48, S. 75–77. Michele Barricelli: Narrativität. In: Ders./Lücke (Anm. 4), S. 255–280. Im Hinblick auf Urteile über Geschichtspolitik und -kultur wäre sicherlich auch eine politische Urteilskraft notwendig. Borries (Anm. 25), S. 10. Diese könnte wiederum auch eher ästhetischer Natur sein. Pandel (Anm. 34), S. 134; ders. (Anm. 35), S. 232f. 70 Gemeint sind die Wünsche, die aus der Allgemeindidaktik, Bildungs- und Erziehungswissenschaft sowie der Politikdidaktik fachunspezifisch an die Geschichtsdidaktik herangetragen werden. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtskultur. In: Barricelli/Lücke (Anm. 4), S. 147–159, hier S. 158. Ebenso sind damit aber auch Erwartungen, die seitens der Politik an das Fach Geschichte gestellt werden gemeint. Etwa Stanislaw Tillichs Hoffnungen, dass der Geschichtsunterricht zur Vorbeugung rechter Gewalt geeignet ist. (Interview von Stanislav Tillich, veröffentlicht am 09. 06. 2016 auf http://www.rp-online.de/politik/stanislaw-tillich-demokratie-nachhilfe-fuersachsens-schueler-aid-1.6034662, aufgerufen am 05. 12. 2016).
Martin Nitsche
Geschichtstheoretische und -didaktische Beliefs angehender und erfahrener Lehrpersonen – Einblicke in den Forschungsstand, die Entwicklung der Erhebungsinstrumente und erste Ergebnisse
Konzept Beliefs werden in letzter Zeit verstärkt in lernpsychologischen und bildungswissenschaftlichen Arbeiten sowie in internationalen und deutschsprachigen geschichtsdidaktischen Studien als relevante Aspekte für (historisches) Denken, Lehren und Lernen beachtet. Im Beitrag fasse ich den bisherigen Ertrag meines Doktoratsprojektes zusammen. Dabei stehen geschichtstheoretische (epistemologische) und geschichtsdidaktische (lehr-lerntheoretische) Überzeugungen von (angehenden) Geschichtslehrkräften im Zentrum.
Fragestellung Konkret frage ich unter anderem, welche geschichtstheoretischen und -didaktischen Beliefs (angehende) Geschichtslehrpersonen in der Deutschschweiz und Deutschland angeben, wenn sie quantitativ befragt werden, inwiefern personelle Merkmale (wie Geschlecht, Alter) und Kontextfaktoren (z. B. sozioökonomischer Hintergrund der Eltern, Semesterzahl usw.) als Einfluss auf das Antwortverhalten interpretiert werden können und wie es methodisch gelingen kann, Geschichtslektionen beteiligter Lehrkräfte qualitativ so auszuwerten, dass ein konzeptioneller Zusammenhang mit den zuvor quantitativ erhobenen Überzeugungen hergestellt werden kann.
Probleme Die Entwicklung der quantitativen Instrumente für die Erhebung der geschichtstheoretischen Überzeugungen stellte eine Herausforderung dar, da deutschsprachige Fragebögen bisher nicht vorlagen. Deshalb war eine mehrstufige Pilotierung notwendig. Zudem ist z. B. die methodische Verknüpfung zwischen quantitativen und qualitativen Daten aus Unterrichtsbesuchen noch eine offene Forschungsaufgabe.
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Bisherige Ergebnisse Eine qualitative Fallanalyse verdeutlicht unter anderem, dass sich die Überzeugungen der untersuchten Lehrperson auch in der Unterrichtsstruktur zeigen lassen. Quantitative Analysen verweisen darauf, dass Deutschschweizer und deutsche Geschichtslehramtsstudierende tendenziell narrativ-konstruktivistischen geschichtstheoretischen, jedoch verschiedenen geschichtsdidaktischen Beliefs zustimmen. Außerdem können verschiedene personelle und soziokulturelle Merkmale, die durch die Befragten angeben wurden, als bedeutsame Aspekte für die gegebenen Antworten interpretiert werden.
1.
Einleitung
Als Schüler und später als Geschichtslehrer habe ich mich häufig gefragt, warum Geschichtslehrpersonen ihren Unterricht so unterschiedlich gestalten. Während eine Lehrkraft etwa anregte mitzudenken, forderte die andere dazu auf, Geschichte(n) nachzuvollziehen. Wineburg hat für den US-amerikanischen Kontext darauf aufmerksam gemacht, dass neben anderen Aspekten persönliche epistemologische und lerntheoretische Konzepte der Geschichtslehrkräfte ursächlich sein können.1 Diese Beobachtung regt dazu an, Geschichtslehrpersonen als Subjekte in Lehr-Lern-Settings wahrzunehmen.2 Die Ausprägungen ihrer epistemologischen Konzepte wurden in den USA bereits in den Blick genommen.3 Gegenwärtig arbeiten niederländische Kolleg*innen daran, deren Bedeutung für die Ausbildung fachspezifischer Fähigkeiten von Schüler*innen zu untersuchen.4 In der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik wurden erkenntnistheoretische Aspekte lange Zeit als Grundlagen der Geschichtsdidaktik5 oder Kompetenzbereiche thematisiert,6 kaum jedoch als Konstrukte, die individuell
1 Vgl. Sam Wineburg: Historical thinking and other unnatural acts. Charting the future of teaching the past. Philadelphia 2001, S. 155–172. 2 Eine ähnliche Forderung ist z. B. zu finden bei Peter Schulz-Hageleit: Alternativen der historisch-politischen Bildung. Mainstream der Geschichte: Erkundungen – Kritik – Unterricht. Schwalbach/Ts. 2014, S. 191–210. 3 Vgl. Liliane Maggioni/Bruce VanSledright/Patricia A. Alexander : Walking on the Borders. A Messure of epistemic cognition in history. In: The Journal of Experimental Education 77 (2009), H. 3, S. 187–214. 4 Gerhard Stoel/Jeanette P. van Drie/Carla A. M. van Boxtel: Teaching towards historical expertise. Developing a pedagogy for fostering causal reasoning in history. In: Journal of Curriculum Studies 47 (2015), H. 1, S. 49–76. 5 Vgl. z. B. Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2010. 6 Vgl. Alexander Schöner : Kompetenzbereich Historische Sachkompetenz. In: Andreas Körber
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ausgeprägt sind.7 Ähnlich entfalteten beispielsweise Rüsen oder van Norden historisches Lernen und Lehren theoretisch.8 Hingegen sind diese Aspekte bisher selten als persönliche Überlegungen von Lehrpersonen untersucht worden.9 Epistemologische und lehr-lerntheoretische Überzeugungen von Geschichtslehrkräften wurden bisher anscheinend weder im deutsch- noch im englischsprachigen Raum gemeinsam in einer quantitativen Studie erhoben. In den Bildungswissenschaften wurde im Zuge der Professionalisierungsdebatte seit den 1980er Jahren erörtert, welche Formen des Wissens,10 der Kompetenzen11 oder von zu erreichenden Standards12 für erfolgreiches Unterrichten notwendig sind. Einen Schub erhielt die Forschung vor allem durch die COACTIVStudie, in der Zusammenhänge zwischen Kompetenzen der Mathematiklehrpersonen und Leistungen von Schüler*innen im Fokus standen. In dem Strukturmodell »professioneller Handlungskompetenz«, das der Forschung zugrunde liegt, beachten die Autor*innen neben intersubjektiv verhandelbaren Wissensaspekten auch individuelle Konzepte wie »epistemologische Überzeugungen« und »subjektive Theorien zum Lehren und Lernen«.13 Diese Entwicklung wird gegenwärtig in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik aufgegriffen. So nennen Kanert und Resch den Bereich der »Überzeugungen« als Bestandteil der Geschichtslehrerkompetenzen.14 Waldis u. a. differenzieren darüber hinaus zwischen
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u. a. (Hrsg.): Kompetenzen Historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 265–314, S. 281–284. Vgl. z. B. Manfred Seidenfuß: Ein Anwendungsfeld qualitativer Empirie in der Geschichtsdidaktik. Geschichtslehrer entwickeln ihre Taktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2 (2003), S. 245–262. Vgl. Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. Schwalbach/Ts. 2008; Jörg van Norden: Was machst du für Geschichten? Didaktik eines narrativen Konstruktivismus. Freiburg i. Br. 2011. Vgl. Helmut Messner/Alex Buff: Lehrerwissen und Lehrerhandeln im Geschichtsunterricht – didaktische Überzeugungen und Unterrichtsgestaltung. In: Peter Gautschi u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 143–175. Monika Fenn: Vom instruktionalen zum problemorientierten Unterrichtsstil. Modifikation der Handlungsroutinen von Studierenden. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Nationale und internationale Perspektiven. Göttingen 2013, S. 327–342. Vgl. z. B. Lee S. Shulman: Those who understand: Knowledge growth in teaching. In: Educational Researcher 15 (1986), S. 4–14. Vgl. z. B. Rainer Bromme: Kompetenzen, Funktionen und unterrichtliches Handeln des Lehrers. In: Franz E. Weinert (Hrsg.): Psychologie des Unterrichts und der Schule. Göttingen 1997 (Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 3), S. 177–212. Vgl. z. B. Fritz Oser : Standards in der Lehrerbildung. Teil 1: Berufliche Kompetenzen, die hohen Qualitätsmerkmalen entsprechen. In: Beiträge zur Lehrerbildung 15 (1997), H. 1, S. 26–37. Vgl. Jürgen Baumert/Mareike Kunter : Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9 (2006), H. 4, S. 469–520. Vgl. Georg Kanert/Mario Resch: Erfassung geschichtsdidaktischer Wissensstrukturen von
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epistemologischen und Lehr-Lern-Überzeugungen.15 Daran anknüpfend stehen im Rahmen meines Doktoratsprojektes »Beliefs von Geschichtslehrpersonen« epistemologische und lehr-lerntheoretische Überzeugungen angehender und erfahrener Geschichtslehrkräfte im Zentrum. Die Herausforderung besteht darin, die Konstrukte, welche bisher vor allem aus fachunspezifischer Perspektive untersucht wurden, theoretisch an den deutschsprachigen geschichtsdidaktischen Diskurs anzubinden und so zu entfalten, dass sie empirisch tragfähig erhoben werden können. In diesem Aufsatz stelle ich zuerst fachunspezifische sowie fachbezogene Studien vor und leite daraus meine Forschungsfragen ab. Anschließend werden die theoretischen Modelle skizziert, die als Heuristiken für die Erhebungen und Auswertungen dienen. Daraufhin stelle ich das Forschungsdesign und die -methoden sowie erste Ergebnisse vor, bevor eine Diskussion und ein Ausblick erfolgen.
2.
Forschungsstand und Fragestellung
Im Rahmen der Pädagogischen Psychologie liegen verschiedene Forschungen vor. Bereits seit den 1970er Jahren wurden epistemologische Konzepte als wichtige Faktoren für die Weltwahrnehmung von Personen diskutiert. Zunächst stand deren Entwicklung im Zentrum. Analog zu linearen Vorstellungen Piaget’scher Prägung ging man von einem drei- bis fünfstufigen Fortschritt von naiven zu reflektierten Konzepten aus. Aufgrund einer Review von Hofer und Pintrich wird in Erweiterung der linearen Modellierung eine dimensionale Progression, etwa der Überzeugungen zur »Herkunft« oder »Sicherheit des Wissens«, diskutiert.16 Seit Beginn des neuen Jahrtausends rückt, angestoßen durch Hammer und Elby, zudem die Kontextabhängigkeit in den Blick.17 So gehen Buehl und Alexander davon aus, dass der soziokulturelle Kontext (Alltagswelt, Schule usw.) und epistemologische Beliefs in einem Wechselverhältnis Geschichtslehrpersonen anhand eines vignettengestützten Testverfahrens. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13 (2014), S. 15–31. 15 Vgl. Monika Waldis u. a.: »Der Unterricht wird fachlich korrekt geleitet« – theoretische Grundlagen und empirische Erkundungen zur videobasierten Unterrichtsreflexion angehender Geschichtslehrpersonen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13 (2014), S. 32–49, hier S. 33. 16 Vgl. Barbara K. Hofer/Paul R. Pintich: The Development of Epistemological Theories: Beliefs about Knowledge and Knowing and their relation to Learning. In: Review of Educational Research 67 (1997), H. 1, S. 88–140. 17 Vgl. David Hammer/Andrew Elby : On the Form of Personal Epistemology. In: Barbara K. Hofer/Paul R. Pintich (Hrsg.): Personal Epistemology : The Psychology of Beliefs about Knowledge and Knowing. Mahwah u. a. 2002, S. 169–190.
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stehen.18 Bromme u. a. diskutieren daran anschließend, wie Personen diese bei der Lösung von Aufgaben kontextangemessen aktivieren.19 Auf die Bedeutung im Unterricht hat Hofer hingewiesen. Sie geht in einem Modell davon aus, dass die Konstrukte der Lehrkräfte ihr eigenes Unterrichtshandeln und die Leistungen der Schüler*innen beeinflussen.20 Während quantitative Untersuchungen dies zu bestätigen scheinen,21 differenzieren qualitative Untersuchungen, in denen der Unterricht beobachtet wurde, das Bild aus. So zeigten Lederman und Zeidler für den Biologieunterricht auf, dass sich das Unterrichtshandeln von Lehrpersonen mit naiven und reflektierten Konzepten kaum unterscheidet.22 Hingegen weisen Johnston u. a. für den Sprachunterricht auf die Komplexität des Konstruktes hin. Während Lehrpersonen mit kohärenten Überzeugungen den Unterricht entsprechend gestalteten, nutzten andere ihre Konzepte variabel und unterschieden ihre Ansichten sogar nach Bezugsfach.23 Parallel geriet auch die Bedeutung für die Ausbildung von Lehrpersonwissen in den Blick. So legen Schmotz und Blömeke für deutsche Mathematiklehramtsstudierende24 sowie Weißeno u. a. für solche der Politischen Bildung einen Zusammenhang zwischen der Zunahme von Fachwissen und der Reflektiertheit epistemologischer Überzeugungen nahe.25 Für die Lehr-Lern-Überzeugungen liegen keine entfalteten Systematisierungen vor. Kember und Schlichter zufolge ist eher von einem Kontinuum zwischen 18 Vgl. Michelle M. Buehl/Patricia A. Alexander: Examining the dual nature of epistemological beliefs. In: International Journal of Educational Research 45 (2006), H. 1, S. 28–42, hier S. 32f. 19 Vgl. Rainer Bromme u. a.: Epistemological beliefs are standards for adaptive learning: A functional theory about epistemological beliefs and metacognition. In: Metacognition and Learning, 5 (2010), H. 1, S. 7–26. 20 Vgl. Barbara K. Hofer : Personal Epistemology Research: Implications for Learning and Teaching. In: Journal of Educational Psychology Review 13 (2001), H. 4, S. 353–383. 21 Vgl. z. B. Krista R. Muis/Michael J. Foy : The effects of teachers’ beliefs on elementary students’ beliefs, motivation, and achievement in mathematics. In: Lisa D. Bendixen/Florian C. Feucht (Hrsg.): Personal Epistemology in the Classroom. Theory, Research, and Implications for Practice, Cambridge 2010, S. 435–469; Chin-Chung Tsai: Teachers’ Scientific Epistemological Views: The Coherence with Instruction and Students’ Views. In: Science Education 91 (2006), S. 222–243. 22 Vgl. Norman G. Lederman/Dana L. Zeidler : Science Teachers’ Conceptions of the Nature of Science: Do They Really Influence Teaching Behavior? In: Science Education 71 (1997), H. 5, S. 721–734. 23 Vgl. Peter Johnston u. a.: Teaching and Learning Literate Epistemologies. In: Journal of Educational Psychology 93 (2001), H. 1, S. 223–233. 24 Vgl. Christiane Schmotz/Sigrid Blömeke: Zum Bereich von fachbezogenem Wissen und epistemologischen Überzeugungen von angehenden Lehrkräften. In: Lehrerbildung auf dem Prüfstand 2 (2009), H. 1, S. 148–165. 25 Vgl. Georg Weißeno u. a.: Überzeugungen, Fachinteresse und professionelles Wissen von Studierenden des Lehramtes Politik. In: Ders./Carla Schelle (Hrsg.): Empirische Forschung in gesellschaftswissenschaftlichen Fachdidaktiken. Ergebnisse und Perspektiven. Wiesbaden 2015, S. 139–154.
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lehrer*innenzentrierten (transmissiven) sowie schüler*innenorientierten (konstruktivistischen) Überzeugungen auszugehen.26 Bei der Ausprägung scheint wiederum der Ausbildungskontext bedeutsam zu sein, wie zwei Studien verdeutlichen. In beiden zeigen die Autor*innen, dass transmissive Überzeugungen durch konstruktivistische im Studium verdrängt werden, jedoch durch Schulerfahrungen wieder an Wichtigkeit gewinnen.27 Auf die Bedeutung des kulturellen Umfeldes als Kontext verweisen die quantitativen Studien »TALIS« sowie »TEDS-M«. Demnach stimmen Lehrpersonen in Westeuropa und Nordamerika eher konstruktivistischen Überzeugungen zu als osteuropäische und asiatische.28 Den Einfluss konstruktivistischer Beliefs von Lehrpersonen auf die Schüler*innenleistungen haben vor allem Staub und Stern sowie die Autor*innen der COACTIV-Studie für den Mathematikunterricht aufzeigen können.29 Wird der Unterricht beobachtet, berichten zwei Studien aus den USA sowie Deutschland von schüler*innenorientierteren Methoden bei Mathematiklehrpersonen, die über konstruktivistische Konzepte verfügen.30 Beachten naturwissenschaftsdidaktische Untersuchungen jedoch die fachliche Tiefenstruktur
26 Vgl. David Kember : A reconceptualisation of the research into university academics’ conceptions of teaching. In: Learning and instruction 7 (1997), H. 3, S. 255–275. Natalia Schlichter : Lehrerüberzeugungen zum Lehren und Lernen. Dissertation. Göttingen 2012, S. 14 (https://ediss.uni-goettingen.de/bitstream/handle/11858/00-1735-0000-000D-F0A6-8/ schlichter.pdf ?sequence=1, aufgerufen am 07. 07. 2016). 27 Vgl. Christiana L. Alger : Secondary teachers’ conceptual metaphors of teaching and learning: Changes over the career span. In: Teaching and Teacher Education 25 (2009), S. 743–751; Schlichter (Anm. 26), S. 74–126. 28 Vgl. OECD: Creating Effective Teaching and Learning Environments: First Results from TALIS. Paris 2009, S. 92–113 (DOI: http://dx.doi.org/10.1787/9789264068780-en); Christiane Schmotz/Anja Feibrich/Gabriele Kaiser : Überzeugungen angehender Mathematiklehrkräfte für die Sekundarstufe I im internationalen Vergleich. In: Sigrid Blömeke/Gabriele Kaiser/Rainer Lehmann (Hrsg.): TEDS-M 2008. Professionelle Kompetenz und Lernangelegenheiten angehender Mathematiklehrkräfte für die Sekundarstufe I im internationalen Vergleich. München u. a., S. 277–305. OECD: TALIS 2013 Results: An International Perspective on Teaching and Learning. Paris 2014, S. 164f. (DOI: http://dx.doi.org/10.1787/ 9789264196261-en). 29 Vgl. Fritz C. Staub/Elsbeth Stern: The Nature of Teachers’ Pedagogical Content Beliefs Matters for Students’ Achievement Gains: Quasi-Experimental Evidence From Elementary Mathematics. In: Journal of Educational Psychology 94 (2002), H. 2, S. 344–355; Thamar Voss u. a.: Überzeugungen von Mathematiklehrkräften. In: Mareike Kunter u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster u. a., S. 235–258. 30 Vgl. Elizabeth Fennema u. a.: A Longitudinal Study of Learning to Use Children’s Thinking in Mathematics Instruction. In: Journal for Research in Mathematics Education 27 (1996), H. 4, S. 403–434; Andreas Hartinger u. a.: Der Einfluss von Lehrervorstellungen zum Lernen und Lehren auf die Gestaltung des Unterrichts und auf motivationale Schülervariablen. In: Zeitschrift der Erziehungswissenschaft 9 (2006), H. 1, S. 110–126.
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des Unterrichts mittels qualitativer Verfahren, können nur wenige Unterschiede festgestellt werden.31 Für die Zusammenhänge zwischen epistemologischen und Lehr-Lern-Überzeugungen liegen ähnlich disparate Befunde vor. Werden beide Konstrukte bipolar in zwei Positionen unterschieden, lassen sich diese gemeinsam als transmissive und konstruktivistische Position statistisch modellieren.32 Folgen die Autor*innen der dimensionalen Theorie epistemologischer Beliefs, zeigt sich hingegen, dass nur für bestimmte epistemologische Dimensionen Zusammenhänge mit Lehr-Lern-Konzepten nachweisbar sind.33 Für das Fach Geschichte liegen bisher wenige Studien vor. Früh hat Wineburg auf die Bedeutung der Beliefs für historisches Denken hingewiesen.34 Fast zeitgleich deutete Evans (1990) in einer qualitativen Studie den Einfluss geschichtstheoretischer Konzepte von US-Lehrpersonen auf den Unterricht und die Fachkonzepte der Schüler*innen an. Er legt zudem nahe, dass Lehren ohne klare Fachkonzepte bei Jugendlichen zu diffusen Vorstellungen führt.35 Quantitativ haben Maggioni u. a. in den USA epistemologische Beliefs bei Geschichtslehrpersonen untersucht. Sie differenzieren das Konstrukt in drei Stufen zwischen naiv und reflektiert. Ihnen gelingt es, zwei Faktoren nachzuweisen. Während sie den ersten als naive Stufe interpretieren, wird der zweite Faktor als Nachweis sowohl der reflektierten Überzeugungen als auch der Zwischenstufe gedeutet.36 Die befragten Lehrpersonen in einer weiteren Studie stimmten dabei etwa je zur Hälfte den reflektierten und der Zwischenstufe zu, lehnten die naive Sichtweise aber mehrheitlich ab.37 Mit Blick auf Schüler*innen haben daran in
31 Vgl. Christoph Th. Müller : Subjektive Theorien und handlungsleitende Kognitionen von Lehrern als Determinanten schulischer Lehr-Lernprozesse im Physikunterricht. Berlin 2004; Miriam Leuchter : Die Rolle der Lehrperson bei der Aufgabenbearbeitung. Unterrichtsbezogene Kognitionen von Lehrpersonen. Münster u. a. 2009 (Empirische Erziehungswissenschaft 13). 32 Vgl. Sigrid Blömeke u. a.: Epistemologische Überzeugungen zur Mathematik. In: Dies. u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern. Wissen, Überzeugungen und Lerngelegenheiten deutscher Mathematikstudierender und -referendare. Münster u. a. 2008, S. 221–246; Voss u. a. (wie Anm. 29). 33 Vgl. May M.H. Cheng u. a.: Pre-service teacher education students’ epistemological beliefs and their conceptions of teaching. In: Teaching and Teacher Education 25 (2009), S. 319–327. 34 Vgl. Sam Wineburg: Historical Problem Solving: A Study of the Cognitive Processes Used in the Evaluation of Documentary and Pictorial Evidence. In: Journal of Educational Psychology 83 (1991), H. 1, S. 73–87; vgl. Wineburg (Anm. 1). 35 Vgl. Ronald W. Evans: Teacher Conceptions of History Revisited: Ideology, Curriculum, and Student Belief. In: Theory & Research in Social Education 18 (1990), H. 2, S. 101–138. 36 Vgl. Maggioni u. a. (Anm. 3). 37 Vgl. Liliana Maggioni/Patricia Alexander/Bruce VanSledright: At a crossroads? The development of epistemological beliefs and historical thinking. In: European Journal of School Psychology 2 (2004), H. 1/2, S. 169–197, S. 186–189.
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Europa als erstes niederländische Forschende angeknüpft.38 Gegenwärtig versuchen sie die Bedeutung epistemologischer Überzeugungen von Schüler*innen bei der Ausbildung des »historical reasoning« zu ergründen.39 Im deutschsprachigen Raum liegen Studien vor, die überwiegend andere Konzepte fokussieren, jedoch Ableitungen zulassen. So legen sowohl quantitative40 als auch qualitative Befunde nahe,41 dass Lehrende über keine geschlossenen Geschichtskonzepte verfügen. Meyer-Hammes Untersuchung stützt die Annahme, geschichtstheoretische Konzepte seien für historisches Denken von Lehramtsstudierenden bedeutsam.42 Daumüllers Forschung verdeutlicht, wie unterschiedlich Lehrende in der Praxis über Geschichtskonzepte nachdenken.43 Die »didaktischen Überzeugungen« wurden als erstes von Messner und Buff bei Deutschschweizer Geschichtslehrpersonen quantitativ erhoben, ohne aber an den internationalen Forschungsdiskurs anzuknüpfen. Sie zeigen, dass die Befragten eher schüler*innenorientierte oder verschiedene Sichtweisen angeben.44 Fenns Interventionsstudie unterstreicht die Bedeutung konstruktivistischer Lehr-Lernkonzepte für die Geschichtslehrer*innenbildung, da sie für Studierende unter anderem verdeutlicht, dass nur konstruktivistisch unterrichtete Proband*innen auch selbst konstruktivistischen Unterricht umsetzen.45 Schröer zeigt in seiner qualitativen Studie z. B., dass deutsche Geschichtsreferendar*innen über vielfältige Konzepte verfügen und einerseits konstruktivistische »wissenschaftstheoretische Beliefs« angeben, diese jedoch kaum auf ihre »fachdidaktischen Beliefs« übertragen.46 Kanert beleuchtet in seiner Arbeit 38 Vgl. Harry Havekes u. a.: Knowing and doing history : a conceptual framework and pedagogy for teaching historical contextualization. In: International Journal of Historical Learning, Teaching and Research 11 (2012), H. 1, S. 72–93, hier S. 75. 39 Vgl. z. B. Stoel u. a. (Anm. 4). 40 Vgl. z. B. Bodo von Borries: Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Eine repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen von Schülerinnen und Schülern in Ost- und Westdeutschland. Weinheim u. a. 1995, S. 307–312. 41 Vgl. Holger Thünemann: »Ganz, ganz historisch gedacht«. Merkmale guten Geschichtsunterrichts aus Lehrerperspektive. In: Johannes Meyer-Hamme/Ders./Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/ Ts. 2012, S. 39–54. 42 Vgl. Johannes Meyer-Hamme: Konzepte von Geschichtslernen und Geschichtsdenken. Empirische Befunde von Schülern und Studierenden (2002). In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 6 (2007), S. 84–106. 43 Vgl. Markus Daumüller : Lehrgeschichten. Lerngeschichten. Lebenskonstruktionen. Wie Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer ihre Berufserfahrungen organisieren. Bd. 1. Neuried 2014, z. B. S. 434, S. 493. 44 Vgl. Messner/Buff (Anm. 9). 45 Vgl. z. B. Fenn (Anm. 9). 46 Vgl. Ludger Schröer: Individuelle didaktische Theorien und Professionswissen. Subjektive Konzepte gelingenden Geschichtsunterrichts während der schulpraktischen Ausbildung. Berlin 2015 (Geschichtskultur und historisches Lernen 14), S. 311–330.
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schließlich die Bedeutung der Schulpraxis, indem er veranschaulicht, wie fachspezifische Überlegungen mit zunehmender Unterrichtserfahrung durch allgemein-methodische verdrängt werden.47 Zusammenfassend ist zunächst die Diversität der theoretischen Grundlagen und Forschungszugänge festzustellen, die einen Vergleich erschweren. Fachliche quantitative Studien deuten an, dass Lehrpersonen kaum zu naiven epistemologischen Beliefs neigen und eher schüler*innenorientierte oder verschiedene »didaktische Überzeugungen« angeben. Mit Blick auf die Ausbildung der Konstrukte verdeutlichen fachunspezifische Arbeiten sowohl für die epistemologischen als auch lehr-lerntheoretischen Beliefs einerseits eine Entwicklungslogik im Verlauf des Studiums, machen jedoch andererseits die Kontextgebundenheit etwa im Rahmen des Schulumfeldes deutlich. Kanert unterstreicht die Bedeutung der Schulpraxis fachbezogen. Fachunspezifische Studien, in denen sowohl epistemologische als auch lehr-lerntheoretische Beliefs erfasst wurden, weisen je nach Forschungsrichtung unterschiedliche Zusammenhänge aus. Geschichtsdidaktische Studien legen nahe, dass Geschichtslehrkräfte über verschiedene Fachkonzepte verfügen, die zudem als inkohärent eingeschätzt werden. Disparate Befunde sind auch festgestellt worden, wenn neben den Überzeugungen die Unterrichtspraxis untersucht wurde. Insgesamt wird deutlich, dass epistemologische und lehr-lerntheoretische Überzeugungen angehender und erfahrener Geschichtslehrkräfte nicht systematisch quantitativ erhoben und miteinander verglichen wurden. Außerdem gibt es weder eine Diskussion über Begrifflichkeiten, mit denen die Konzepte fachbezogen erfasst werden könnten, noch ist erkennbar, inwiefern beide Konstrukte für die Gestaltung von Geschichtsunterricht bedeutsam sind. Daher untersuche ich in meinem Forschungsvorhaben unter anderem, 1. wie beide Konstrukte theoretisch gefasst werden können, damit sie quantitativ und qualitativ erhoben werden können und die Studienergebnisse an den internationalen bildungswissenschaftlichen und geschichtsdidaktischen Diskurs anschlussfähig sind, 2. welche epistemologische und Lehr-Lern-Beliefs angehende und erfahrene Geschichtslehrpersonen in der Deutschschweiz angeben, wenn sie quantitativ befragt werden, 3. inwiefern weitere Einflussfaktoren, die zum Teil als Kontextbezug interpretiert werden können (wie sozioökonomischer Hintergrund der Eltern, Semesterzahl usw.), das Antwortverhalten beeinflussen, 4. wie die epistemologischen und lehr-lerntheoretischen Konstrukte zusammenhängen und 47 Vgl. Georg Kanert: Geschichtslehrerausbildung auf dem Prüfstand. Eine Längsschnittstudie zum Professionalisierungsprozess. Göttingen 2014, S. 366.
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5. wie Geschichtslektionen beteiligter erfahrener Geschichtslehrpersonen qualitativ so ausgewertet werden können, dass ein konzeptioneller Zusammenhang mit den zuvor quantitativ erhobenen Überzeugungen hergestellt werden kann.
3.
Theoretische Rahmung
Im Forschungsüberblick wurden bereits die unterschiedlichen Begriffe für beide Konzepte angedeutet. Ich spreche, der Pädagogischen Psychologie folgend, analog von »Beliefs« und »Überzeugungen« und verstehe darunter individuelle, domänenübergreifende und -spezifische Konstruktionen von Personen, die stets wie Wissen auf etwas gerichtet sind, jedoch nicht ebenso wissenschaftsförmig, widerspruchsfrei sowie intersubjektiv valide sein müssen.48 Sie können als eigenlogische und bedeutsame Theorien ausgebildet sein,49 eine Filterfunktion für die Wahrnehmung und Motivation übernehmen und so Entscheidungen zu handeln beeinflussen.50 Epistemologische Überzeugungen sind auf die Erkenntnisweisen gerichtet. Da wir uns auf die Domäne »Geschichte« beziehen und die Geschichtstheorie hier die Reflexionsinstanz der Erkenntnisweisen ist,51 spreche ich von geschichtstheoretischen Überzeugungen. Lehr-lerntheoretische Beliefs beziehen sich auf die Ausgestaltung von Lehr-Lernprozessen.52 Da sich damit in »Geschichte« die Geschichtsdidaktik beschäftigt,53 bezeichne ich diese als geschichtsdidaktische Beliefs. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf eine verknappte theoretische Entfaltung der Konstrukte, da deren fachspezifische Anschlussfähigkeit in einer Publikation ausführlich diskutiert wurde.54 Anknüpfend an die Lernpsychologie modelliere ich, Maggioni u. a. folgend,55 die geschichtstheoretischen Beliefs als drei unterscheidbare Konzepte, spreche aber von Positionen, nicht von Stufen, 48 Vgl. Kurt Reusser/Christine Pauli/Anneliese Elmer : Berufsbezogene Überzeugungen von Lehrerinnen und Lehrern. In: Ewald Terhart/Hedda Bennewitz/Martin Rothland (Hrsg.): Handbuch der Forschung zum Lehrberuf. Münster u. a. 2011, S. 478–495, hier S. 480. 49 Vgl. Hofer/Pintrich (Anm. 16), S. 117. 50 Vgl. Mareike Kunter/Britta Pohlmann: Lehrer. In: Elke Wild/Jens Möller (Hrsg.): Pädagogische Psychologie. Heidelberg 2009, S. 261–282, hier S. 268. 51 Vgl. z. B. Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln u. a. 1997, S. 1f. 52 Vgl. Schlichter (Anm. 26), S. 9. 53 Vgl. z. B. Rüsen (Anm. 8), S. 9. 54 Vgl. Martin Nitsche: Geschichtstheoretische und -didaktische Überzeugungen von Lehrpersonen. Begriffliche und empirische Annäherungen an ein Fallbeispiel. In: Martin Buchsteiner/Ders. (Hrsg.): Historisches Erzählen und Lernen. Wiesbaden 2016, S. 159–196, hier S. 168–180. 55 Vgl. Maggioni u. a. (Anm. 3), S. 196f.
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da die Entwicklungslogik in Stufen für die Domäne »Geschichte« noch nicht eingehender untersucht wurde. Für die Konkretisierung bediene ich mich der Dimensionen von Hofer und Pintrich.56 Für die begriffliche Entfaltung folge ich schließlich geschichtstheoretischen Überlegungen:57 Personen mit einer »positivistischen Position« gehen u. a. von der unmittelbaren Zugänglichkeit zur Vergangenheit in Quellen aus und betonen den Abbildcharakter historischer Erkenntnis. Solche, die eine »skeptische Position« einnehmen, bezweifeln z. B. die Möglichkeit, Aussagen über Vergangenes zu generieren, weil Erkenntnis an die Gegenwart des fragenden Subjektes gebunden ist. Diese Einschränkungen anerkennend, sehen Subjekte, die eine »narrativkonstruktivistische Position« einnehmen, die Möglichkeit, Aussagen über Vergangenes zu entwickeln, indem sie diese u. a. im Rahmen des zeitgenössischen Quellenkontextes herleiten, durch den Forschungsdiskurs absichern sowie als historische Erzählung darstellen, ohne überzeitliche Wahrheit zu beanspruchen. Tabelle 1: Modell der Positionen geschichtstheoretischer Überzeugungen (vgl. Nitsche (Anm. 54), S. 174). Bezugsdisziplinen Pädagogische Psychologie & Positionen Copier Borrower
Dimensionen Geschichtsbegriff Herkunft
Begründung
Struktur Sicherheit Anwendung
Geschichtstheorie Positivismus Skeptizismus Verg. = Geschichte Quellen machen Vergangenheit zugänglich kausale Erklärung (Ursache, Wirkung) Darstellung als Abbildung
Geschichte = Gegenwart keine Aussage außerhalb von Texten
Criterialist Narr. Konstruktivismus Verg. ¼ 6 Geschichte Quellen sind Grundlage einer historischen Erzählung (Vetorecht)
Individuelle Textlesart argumentativ begründete = Ansichtssache Rekonstruktion durch Verstehen und Erklären Darstellung als individuelle Erzählung Unsicher
Aussagen objektiv erklären, wie es individuelle gewesen ist Meinungsbildung
Darstellung als historische Erzählung intersubjektiv geprüfte Perspektive Orientierung in Zeit
56 Vgl. Hofer/Pintrich (Anm. 16), S. 118f. 57 Vgl. z. B. Lorenz (Anm. 51); Hans-Jürgen Goertz: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität. Stuttgart 2001; Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u. a. 2013.
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Analog dazu lassen sich, bildungswissenschaftlichen Autor*innen wie z. B. Schlichter und Kember folgend,58 drei geschichtsdidaktische Positionen konstruieren und geschichtsdidaktisch konkretisieren:59 Die »transmissive Position« ist u. a. durch das Lehrkonzept Vermittlung historischen Wissens und das Lernkonzept Inhaltsrezeption zu kennzeichnen. Eine »individuell-konstruktivistische Sichtweise« dürfte durch einen Fokus auf selbstorganisiertes Lernen und die individuelle Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Geschichte(n) durch die Lernenden charakterisiert sein. Die Bedeutung gemeinsamer Tätigkeiten wird schließlich aus »sozial-konstruktivistischer Perspektive« betont. Historisches Lehren meint hier die Herausforderung durch Lehrende zur Aushandlung von Geschichte(n) und historisches Lernen die ko-konstruierte historische Sinnbildung durch die Lernenden und Lehrenden. Eingerahmt durch beide theoretische Konzeptionen wird es möglich, sich mit verschiedenen Verfahren den genannten Konzepten von Geschichtslehrpersonen zu nähern. Die dazu verwendeten Vorgehensweisen werden im folgenden Abschnitt entfaltet. Tabelle 2: Modell der Positionen geschichtsdidaktischer Überzeugungen (vgl. Nitsche (Anm. 54), S. 177). Bezugsdisziplinen Bildungswissenschaften und Geschichtsdidaktik & Positionen Transmission individueller sozialer Konstruktivismus Konstruktivismus Dimensionen Lehrkonzept Lernkonzept
Ziel(e)
anschauliche Darstellung und Erklärung Rezeption der Geschichte durch Wiederholung und Übung Beherrschen der Geschichte durch Überprüfung
selbstorganisiertes Lernen der Schüler*innen selbstständige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit individuelles, emanzipatorisches Denken und genetisches Lernen
Herausforderung zur Aushandlung gemeinsame und individuelle historische Sinnbildung historisches Denken, Kompetenzen, Teilhabe an Geschichtskultur
58 Vgl. Kember (Anm. 26), S. 264; Schlichter (Anm. 26), S. 155f. 59 Vgl. z. B. Rüsen (Anm. 8), S. 61–80; Bärbel Völkel: Wie kann man Geschichte lehren. Die Bedeutung des Konstruktivismus für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2014, S. 226f.; Bruce VanSledright: The challenge of rethinking history education: on practices, theories and policy. New York 2011, S. 53–66; van Norden (Anm. 8), S. 139f.
Geschichtstheoretische und -didaktische Beliefs von Lehrpersonen
4.
97
Forschungsdesign und Methoden
Für die Untersuchung werden sowohl qualitative als auch quantitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren herangezogen. Die skizzierten Modelle nutze ich als theoretischen Rahmen, der die Vorgehensweisen verbindet und eine Datentriangulation anbahnt.60
4.1
Qualitative Voruntersuchungen
Bereits im Mai 2013 wurde eine qualitative Vorstudie als Fallanalyse mit Expert*inneninterview mit einer Lehrperson,61 Videoaufnahme einer Geschichtslektion, dem vorgeschlagenen Vorgehen von Waldis u. a. folgend,62 und Nachinterview zur Lektion durchgeführt, um die technischen Voraussetzungen, qualitativen Instrumente und die heuristische Qualität der Theorien zu erproben.63 Seit Oktober 2013 ist die Studie in den größeren Kontext des Forschungsprojektes »VisuHist« an der Pädagogischen Hochschule (PH) FHNW in Aarau eingebunden.64 Im Herbstsemester 2013 erfolgte eine qualitative Erhebung geschichtstheoretischer Beliefs bei angehenden Geschichtslehrpersonen an verschiedenen Pädagogischen Hochschulen der Deutschschweiz (n=105) mittels offener Aufgabenstellung, die inhaltsanalytisch durch inhaltliche Strukturierung im Sinne Mayrings ausgewertet wurden65 und das analytische Potential der Konzeption geschichtstheoretischer Beliefs verdeutlichte.
4.2
Quantitative Untersuchungen
Die Erfahrungen der qualitativen Voruntersuchungen einbeziehend erfolgte die Entwicklung zweier Fragebögen mit vierstufiger Likert-Skala für die quantitative 60 Vgl. Philipp Mayring: Kombination und Integration qualitativer und quantitativer Analyse. In: Forum Qualitative Social Research 2 (2001), H. 1, Ab. 25 (http://nbn-resolving.de/urn: nbn:de:0114-fqs010162, aufgerufen am 12.02.16). 61 Vgl. Uwe Flick: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Reinbek 2010, S. 139–141. 62 Vgl. Monika Waldis/Kurt Reusser/Daniel V. Moser : Ein mehrperspektivischer Forschungszugang – unter spezieller Berücksichtigung der Videomethodologie. In: Peter Gautschi u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 61–90, hier S. 72f. 63 Vgl. Nitsche (Anm. 54), S. 180–194. 64 Vgl. Waldis u. a. (Anm. 15); für Projektinformationen vgl. http://www.fhnw.ch/ppt/content/ prj/T999–0450, aufgerufen am 26.10.16. 65 Vgl. Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim/ Basel 2010, S. 98.
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Erhebung der beiden Konstrukte. Für den geschichtstheoretischen Fragebogen wurden einige Items von Maggioni u. a. adaptiert,66 die meisten jedoch selbst entwickelt. Hier lauten Beispielitems zur Dimension »Herkunft historischen Wissens« etwa: a) »Historische Aussagen werden aus Quellen direkt erschlossen« (Positivismus), b) »Historische Aussagen werden einer Quelle so entnommen, wie es der/dem Einzelnen passt« (Skeptizismus) sowie c) »Historische Aussagen sind das Ergebnis systematischer Quellenbefragung und Absicherung durch den aktuellen Forschungsstand« (narrativer Konstruktivismus). Für den geschichtsdidaktischen Fragebogen sind bestehende Instrumente von Messner und Buff sowie Schlichter abgewandelt und ergänzt worden.67 Dabei erfolgt nach der Einleitung »Schülerinnen und Schüler lernen am besten Geschichte, …« die Fortsetzung etwa durch: a) »…wenn sie Schritt für Schritt durch ein Thema geführt werden« (Transmission), b) »… wenn sie selbstständig Quellen und Darstellungen zu einer Frage auswerten« (individueller Konstruktivismus), c) »…wenn sie gemeinsam historische Fragen entwickeln und diese beantworten« (sozialer Konstruktivismus). Beide Instrumente wurden in einer ersten Pilotierung im Frühjahrsemester 2014 bei Deutschschweizer Geschichtslehrer*innenstudierenden an einer PH eingesetzt (n=49). Um zu untersuchen, ob die Fragebögen tragfähige Aussagen über beide Konstrukte ermöglichen, wurde mittels Explorativer Faktorenanalyse (EFA), einem dimensionsreduzierenden statistischen Verfahren,68 geprüft, ob in den Daten die theoretisch angenommenen drei Positionen zu finden sind. Zudem erfolgten Reliabilitätsanalysen, um die Konsistenz der Aussagen zu prüfen, und davon ausgehend wurden die Items, die mittels Faktorenanalyse einer Position zugeordnet werden konnten und aufgrund der Skalenanalyse eine akzeptable Konsistenz aufwiesen, intervallskaliert.69 Während die angenommene Struktur der geschichtsdidaktischen Beliefs nachweisbar war und die Antworten in den Dimensionen reliabel ausfielen (a+ .67), ergab die Analyse zum zweiten Konstrukt kein interpretierbares Ergebnis. Beide Fragebögen wurden daher mit Blick auf die Verständlichkeit überarbeitet. Zwischen September 2014 und März 2015 erfolgte der erneute Einsatz. Neben Deutschschweizer Proband*innen (n=194) von vier Pädagogischen Hochschulen 66 Vgl. Liliana Maggioni: Studying epistemic cognition in the history classroom. Cases of teaching and learning to think historically. Maryland 2010, S. 356 (http://drum.lib.umd.edu/ bitstream/handle/1903/10797/Maggioni_umd_0117E_11443.pdf ?sequence=1& isAllowed=y, aufgerufen am 22. 10. 2016). 67 Vgl. Messner/Buff (Anm. 9); Schlichter (Anm. 26), S. 229–231. 68 Vgl. Sabine Krolak-Schwerdt/Frank M. Spinath: Exploratorische Faktorenanalysen. In: Heinz Holling/Bernhard Schmitz (Hrsg.): Handbuch Statistik Methoden und Evaluation. Göttingen 2010 (Handbuch der Psychologie, Bd. 13), S. 591–599. 69 Vgl. Helfried Moosbrugger/Augustin Kelava: Testtheorie und Fragebogenkonstruktion. Berlin/Heidelberg 2012, S. 130–133.
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nahmen, um die Kontextabhängigkeit zu prüfen, Studierende einer deutschen Universität (n=88) teil. Während die Dreierstruktur und Reliabilität für die geschichtsdidaktischen Beliefs mittels EFA und Reliabilitätsanalyse erneut bestätigt werden konnten, gelang dies für die geschichtstheoretischen nur zum Teil, da die Reliabilitätswerte zweier Skalen noch ungenügend (a,.65) ausfielen.70 Außerdem erfolgten Korrelationsanalysen zur Überprüfung der Zusammenhänge zwischen den als Skalen repräsentierten Beliefs-Positionen sowie Tests auf Unterschiede der Mittelwerte,71 um Gruppendifferenzen im Antwortverhalten der Deutschschweizer und deutschen Befragten zu ergründen. Um sich schließlich der Frage nach dem Einfluss von Personenmerkmalen (z. B. Geschlecht) und Rahmenbedingungen (z. B. sozioökonomischer und kultureller Hintergrund der Eltern) auf die Antworten zu nähern, wurden lineare Regressionen berechnet, in denen die genannten Aspekte als unabhängige Variablen, die Überzeugungsskalen als abhängige Konstrukte definiert wurden. Solche Berechnungen haben den Vorteil, die verschiedenen Einflussmerkmale als Variablen gemeinsam im Modell so hinsichtlich ihres Zusammenhangs mit den Zustimmungen statistisch zu behandeln, dass die Einflussfaktoren gegenseitig kontrolliert werden und eine Bestimmung des bedeutsameren Merkmales möglich wird.72 Mit Blick auf die Haupterhebung erfolgte aufgrund der problematischen Reliabilitätswerte eine erneute Überarbeitung des geschichtstheoretischen Fragebogens. Beide Instrumente wurden schließlich zwischen dem Herbstsemester 2015 und dem Frühjahrssemester 2016 bei angehenden (n=186) und erfahrenen (n=12) Geschichtslehrpersonen eingesetzt. Die Auswertung der Daten wird im Rahmen der Doktorarbeit erfolgen.
4.3
Qualitative Hauptuntersuchungen
Um die Frage nach den Unterrichtsausprägungen der Überzeugungen von Geschichtslehrpersonen zu untersuchen, kommen qualitative Methoden zum Einsatz. Dazu konnten zwei Lehrpersonen, die sich auch an der quantitativen Erhebung beteiligt haben und auf erweitertem Niveau unterrichten, besucht werden. Die Beteiligten wurden in zwei Geschichtslektionen in unterschiedlichen Klassenstufen, welche videografiert wurden, beobachtet. Das Thema blieb 70 Vgl. Martin Nitsche/Monika Waldis: Geschichtstheoretische und -didaktische Beliefs von Deutschschweizer und deutschen Geschichtslehrerstudierenden. Erste Ergebnisse quantitativer Erhebungen. In: Dies./B8atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 15. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 15«. Bern 2017, S. 136–150. 71 Vgl. Jürgen Bortz/Christof Schuster : Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler. Berlin/ Heidelberg 2010, S. 120–123, S. 153–156. 72 Vgl. ebd., S. 183–197.
100
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freigestellt. Die Wahl dieses Setting erfolgte, da Praetorius u. a. darauf hinweisen, dass mehr als eine Lektion pro Lehrperson erhoben werden muss, um typische Vorgehensweisen zu erfassen.73 Sollten sich diese darüber hinaus auch bei unterschiedlichen Themen und Klassenstufen als vergleichbar erweisen, steigt die Möglichkeit, dass stabiles Vorgehen beobachtet werden kann. Nach den Lektionen erfolgte jeweils ein Stimulated-Recall-Interview mit den Lehrenden anhand der videografierten Lektionen.74 Die Proband*innen wurden darin mittels halbstandardisierter Fragen gebeten, ihr Vorgehen anhand von Videoausschnitten etwa zum Einstieg zu erläutern. Ein solches Vorgehen ermöglicht es nach Erkmen, auch Überzeugungsaspekte verbalisieren zu können, die nicht direkt – etwa durch Fragebögen – zugänglich sind, da die Erhebung sehr praxisnah erfolgt.75 Die Daten dienen zugleich der Validierung für die eigenen Lektionsanalysen und können außerdem erste Anzeichen dafür liefern, inwiefern die quantitativen Instrumente die anvisierten Beliefs valide erfassen und welche Überzeugungsbereiche nicht berücksichtigt sind. Sowohl die Unterrichtsvideos als auch die Interviews wurden nach einem einheitlichen Schema transkribiert.76 Die Transkripte sollen anknüpfend an die Vorstudie mit Hilfe von Kategorien, die aus der skizzierten Theorie abgeleitet werden, inhaltsanalytisch im Sinne Mayrings so ausgewertet werden,77 dass die analysierten Aspekte begrifflich mit der Theorie, die auch den Fragebögen zugrunde liegt, verbunden sind. Indem theoriegebundene Kategorien dabei durch induktive, aus dem Material gebildete, ergänzt werden können (z. B. historische Fokusse in den Lektionen), ist es außerdem möglich, die Ausgangstheorien zu erweitern. Die Kategorien dienen einerseits der Auswahl von Ausschnitten aus den Transkripten und andererseits als Rahmen, in dem die Unterrichtsauschnitte hermeneutisch interpretiert werden können.78 Zusammenfassend lässt sich das Forschungskonzept mit Mayring als »Vertiefungsmodell« bezeichnen. Dabei geht es darum, quantitative Analysen durch qualitative zu ergänzen, um durch Fallanalysen die Interpretationen der quan73 Vgl. Anna-Katharina Praetorius u. a.: One lesson is all you need? Stability of instructional quality across lessons. In: Learning and Instruction 31 (2014), S. 2–12. 74 Vgl. Diethelm Wahl: Methoden zur Erfassung handlungssteuernder Kognitionen von Lehrern. In: Manfred Hofer (Hrsg.): Informationsverarbeitung und Entscheidungsverhalten von Lehrern. Wien 1981, S. 49–76. 75 Vgl. Besime Erkmen: Ways to uncover teachers’ beliefs. In: Procedia – Social and Behavioral Sciences 47 (2012), S. 141–146 (DOI: 10.1016/j.sbspro.2012.06.628, aufgerufen am 22. 10. 2016). 76 Antje Langer : Transkribieren – Grundlagen und Regeln. In: Barbara Friebertshäuser u. a. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München 2010, S. 515–528. 77 Vgl. Mayring (Anm. 65), S. 98–101. 78 Vgl. Ren8 Tuma/Bernt Schnettler/Hubert Knoblauch: Videographie. Einführung in die interpretative Videoanalyse sozialer Situationen. Wiesbaden 2013, S. 43–61.
Geschichtstheoretische und -didaktische Beliefs von Lehrpersonen
101
titativen Daten zu stützen und zu erweitern. Es geht darüber hinaus in Richtung einer Datentriangulation, wenn anhand der Nachinterviewdaten die Validität der quantitativen Fragbogenerhebung in den Blick gerät.79
5.
Erste Ergebnisse
5.1
Qualitative Ergebnisse
In der qualitativen Vorstudie von 2013 war es möglich, theoretische Verbindungen zwischen den skizzierten Positionen und bestimmten Unterrichtsvorgehensweisen herzustellen und auf ein Fallbeispiel anzuwenden. Die Inhaltsanalysen der Interviews zeigten, dass die beteiligte Lehrperson überwiegend über narrativ-konstruktive geschichtstheoretische, jedoch sowohl über transmissive als auch konstruktivistische geschichtsdidaktische Beliefs verfügt. Die narrativ-konstruktivistischen Überzeugungen waren durch die Unterrichtsanalyse sowohl in der Themenwahl als auch der Aufgabenkonstruktion erkennbar. Die verschiedenen geschichtsdidaktischen Konstrukte sind vor allem in der Wahl der Sozialformen und Gesprächsführung deutlich geworden. Dabei dominierten transmissive Konzepte, die die Lehrperson im Nachinterview durch die situative Verortung der Lektion, z. B. die Einbettung in die Unterrichtseinheit und die Erhebungssituation, begründete.80 Die Inhaltsanalysen der Antworten auf die offene Frage nach den geschichtstheoretischen Überzeugungen der Deutschschweizer Studierenden von 2013 zeigten vor allem, dass nur wenige Befragte aufeinander abgestimmte, theorieförmige Konzepte schriftlich entfalteten.
5.2
Quantitative Ergebnisse81
Im Folgenden werden die quantitativen Befunde aus dem zweiten Einsatz der Instrumente (2014–2015) bei Deutschschweizer und deutschen Studierenden dargestellt.
79 Mayring (Anm. 60), Ab. 24f. 80 Vgl. Nitsche (Anm. 54), S. 194f. 81 Bei der Ergebnisdarstellung handelt es sich um eine veränderte Fassung aus Nitsche/Waldis (Anm. 70).
102
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Struktur der Konstrukte Wie oben bereits verdeutlicht war es möglich, die theoretisch angenommene Dreierstruktur für die geschichtsdidaktischen Beliefs mittels EFA aufzuzeigen. Für die geschichtstheoretischen gelang dies nur eingeschränkt und war zudem mit noch zu geringen Reliabilitätswerten verbunden. Dies ist entweder durch zu tiefe Korrelation der einzelnen Items untereinander bedingt, was auf eine (noch) zu wenig stringente Operationalisierung des Konstrukts hinweisen könnte. Oder es kann als ein Anzeichen für inkonsistentes Antwortverhalten der Beteiligten verstanden werden, wie es auch in anderen quantitativen Studien zu Überzeugungen berichtet wird.82 Um erste Einblicke in Zusammenhänge, Zustimmungen usw. zu erhalten, wurden dennoch Skalen gebildet. Zusammenhänge zwischen den Skalen Die Korrelationsanalysen ergeben insgesamt zwischen und innerhalb der beiden Konzepte schwache bis mittlere Zusammenhänge. Die geschichtstheoretischen Beliefs sind nicht systematisch verbunden. Bei den geschichtsdidaktischen Beliefs besteht ein Zusammenhang zwischen dem sozialen und individuellen Konstruktivismus (Pearson r =.45; p , .01). Außerdem korreliert erstere Position mit transmissiven Überzeugungen (r =.28; p , .01). Zwischen den geschichtstheoretischen und -didaktischen Beliefs ist ein Zusammenhang der positivistischen mit der transmissiven Position festzustellen (r =.23; p , .01). Gleichzeitig besteht ein negativer Zusammenhang zwischen Positivismus und den individuell-konstruktivistischen Beliefs (r =-.22; p , .01). Zudem liegen Zusammenhänge zwischen den narrativ-konstruktivistischen geschichtstheoretischen Beliefs und den sozial- (r =.17; p , .05) und individuell-konstruktivistischen geschichtsdidaktischen Überzeugungen vor (r =.34; p , .01). Zustimmungen der Beteiligten Die Zustimmungen zu den Positionen der beiden Beliefs-Konstrukte werden über die Mittelwerte der Skalen erfasst. Um Zustimmungsunterschiede statistisch abzusichern, wurden Mittelwertvergleiche mittels t-Tests für abhängige Stichproben berechnet. Die Analysen der geschichtstheoretischen Skalen verdeutlichen, dass die Befragten den Aussagen des narrativen Konstruktivismus signifikant deutlicher zustimmten (M=3.26; SD=.38) als der positivistischen Position (M=2.13; SD=.45; t=137.84, df=248, p=.00), während skeptische Be82 Vgl. z. B. May M. H. Cheng u. a.: Pre-service teacher education students’ epistemological beliefs and their conceptions of teaching. In: Teaching and Teacher Education 25 (2009), H. 2, S. 319–327, hier S. 321.
Geschichtstheoretische und -didaktische Beliefs von Lehrpersonen
103
liefs (M=1.91; SD=.43) signifikant niedriger als positivistische angegeben wurden (t=70.03, df=249, p=.00). Die geschichtsdidaktischen Mittelwerte zeigen eine tendenzielle Zustimmung zu allen Positionen. Dabei stimmten die Proband*innen den individuell-konstruktivistischen Aussagen (M= 3.43; SD=.40) deutlicher zu als den sozialkonstruktivistischen (M=3.11; SD=.47; t=135.02, df=249, p=.00). Letztere erhielten aber gegenüber transmissiven Sichtweisen (M=2.71; SD=.48), die allerdings immer noch im Zustimmungsbereich über dem Skalenmittel (M=2.5) liegen, einen wesentlich höheren Zuspruch (t=105.12, df=249, p=.00). Gruppenunterschiede Die Analyse der Gruppenunterschiede erfolgte durch Vergleiche der Gruppenmittelwerte mittels t-Tests für unabhängige Stichproben. Für die geschichtstheoretischen Beliefs zeigten diese eine signifikant höhere Zustimmung der Deutschschweizer Befragten (M = 2.18; SD = .43) zu positivistischen Aussagen im Vergleich mit den deutschen Studierenden (M = 2.02; SD = .49; t = 2.77, df = 248, p