Neue Autorität - Das Handbuch: Konzeptionelle Grundlagen, aktuelle Arbeitsfelder und neue Anwendungsgebiete 3525404905, 9783525404904

Seit Entstehen des Konzeptes Ende der 1990er-Jahre hat die Neue Autorität in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern ihre An

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German Pages 594 Year 2019

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Table of contents :
Grundlagen
1.1 Das Konzept der Neuen Autorität oder: »Stärke statt (Ohn-)Macht«
(Bruno Körner, Martin Lemme, Stefan Ofner, Claudia Seefeldt,
Tobias von der Recke und Herwig Thelen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
1.2 Systemische Grundlagen (Tobias von der Recke) . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
1.3 Skizze einer Systemtheorie der Neuen Autorität – Was können
wir von Unternehmerfamilien lernen? (Arist von Schlippe) . . . . . . . . 86
1.4 Zur Aggression im Kontext der Neuen Autorität
(Tobias von der Recke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
1.5 Gedanken zur Achtsamkeit und Selbststärkung (Herwig Thelen) . . . 127
1.6 Neue Autorität, Neurobiologie und Bindung oder: Was genau wirkt
da eigentlich wie? (Alexandra Zimmermann und Martin Lemme) 137
2 Arbeitsfelder in der Praxis
2.1 Elterncoaching (Martin A. Fellacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
2.2 Wachsame Sorge in der Jugendhilfe (Martin Lemme und
Bruno Körner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
2.3 Neue Autorität in der Schule (Claudia Seefeldt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
2.4 Auf den Anfang kommt es an! Neue Autorität in der frühkindlichen
Entwicklung (Martin Lemme und Silvia Lemme) . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
2.5 Elterncoaching in Gruppen in einer kinderund jugendpsychiatrischen Institutsambulanz (Franziska Bieda) . . . . 289
2.6 Neue Autorität in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit
geistiger Behinderung und psychischen Störungen
(Markus Bernard) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
2.7 Psychotherapie und Verantwortung und Autorität (Martin Lemme) 321
2.8 Präsenz und Resonanz in Supervision (Martin Lemme und
Bruno Körner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
2.9 Neue Autorität und Führung in Unternehmen
(Frank Baumann-Habersack) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
2.10 Neue Autorität in der Gemeinde (Katharina Barandun, Harald Ebert,
Burkhard Hose, Stefan Lutz-Simon, Stefan Ofner) . . . . . . . . . . . . . . . . 385
3 Vertiefende Aspekte
3.1 Das Announcement – Von jetzt an wird es anders (Petra Girolstein) 416
3.2 Fokus Sit-In (Claudia Seefeldt und Uri Weinblatt) . . . . . . . . . . . . . . . . 438
3.3 Fokus Wiedergutmachung (Stefan Ofner und Stefan Fischer) . . . . . . . 453
3.4 Neue Autorität und psychische Störungen (Herwig Thelen) . . . . . . . . 475
3.5 Vom Verlust zum Gewinn – Posttraumatisches Wachstum und
Neue Autorität in der Jugendhilfe (Angela Eberding) . . . . . . . . . . . . . . 489
3.6 Neue Autorität interkulturell – Menschen aus patriarchalen
Systemen mit Neuer Autorität begegnen (Angela Eberding und
Martin A. Fellacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
3.7 Die Kraft der Klarheit – Auswege aus der Rechtfertigungsfalle
(Ruth Tillner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
3.8 Das Autoritätsdreieck – Neue Autorität mit alten Wurzeln in
Organisation und Führung (Harald Kurp und Dagmar Hoefs) . . . . . . 526
3.9 Kluge Netzwerke (Claudia Seefeldt und Tobias von der Recke) . . . . . . 539
4 Evaluationen und Forschungsergebnisse
4.1 Weiterbildung »Coach für Neue Autorität« (Sarah Lemme) . . . . . . . . 556
4.2 Auf dem Weg vom Superhelden zur kooperativen Teamkultur
(Harald Kurp, Marieke Brandt und Michael Kleiske) . . . . . . . . . . . . . . 567
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589
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Neue Autorität - Das Handbuch: Konzeptionelle Grundlagen, aktuelle Arbeitsfelder und neue Anwendungsgebiete
 3525404905, 9783525404904

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Bruno Körner/Martin Lemme/Stefan Ofner/ Tobias von der Recke/Claudia Seefeldt/ Herwig Thelen (Hg.)

Neue Autorität – Das Handbuch Konzeptionelle Grundlagen, aktuelle Arbeitsfelder und neue Anwendungsgebiete

Mit einem Vorwort von Haim Omer und Arist von Schlippe

Mit 25 Abbildungen und 16 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Lightspring/Shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40490-0

Inhalt

Vorwort von Haim Omer und Arist von Schlippe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1 Grundlagen

1.1 Das Konzept der Neuen Autorität oder: »Stärke statt (Ohn-)Macht« (Bruno Körner, Martin Lemme, Stefan Ofner, Claudia Seefeldt, Tobias von der Recke und Herwig Thelen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.2 Systemische Grundlagen (Tobias von der Recke) . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1.3 Skizze einer Systemtheorie der Neuen Autorität – Was können wir von Unternehmerfamilien lernen? (Arist von Schlippe) . . . . . . . . 86 1.4 Zur Aggression im Kontext der Neuen Autorität (Tobias von der Recke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1.5 Gedanken zur Achtsamkeit und Selbststärkung (Herwig Thelen) . . . 127 1.6 Neue Autorität, Neurobiologie und Bindung oder: Was genau wirkt da eigentlich wie? (Alexandra Zimmermann und Martin Lemme) . 137

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Arbeitsfelder in der Praxis

2.1 Elterncoaching (Martin A. Fellacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2.2 Wachsame Sorge in der Jugendhilfe (Martin Lemme und Bruno Körner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2.3 Neue Autorität in der Schule (Claudia Seefeldt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2.4 Auf den Anfang kommt es an! Neue Autorität in der früh­kindlichen Entwicklung (Martin Lemme und Silvia Lemme) . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 2.5 Elterncoaching in Gruppen in einer kinderund jugendpsychiatrischen Institutsambulanz (Franziska Bieda) . . . . 289 2.6 Neue Autorität in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit ­geistiger Behinderung und psychischen Störungen (Markus Bernard) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

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Inhalt

2.7 Psychotherapie und Verantwortung und Autorität (Martin Lemme) . 321 2.8 Präsenz und Resonanz in Supervision (Martin Lemme und Bruno Körner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 2.9 Neue Autorität und Führung in Unternehmen (Frank Baumann-­Habersack) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 2.10 Neue Autorität in der Gemeinde (Katharina Barandun, Harald Ebert, Burkhard Hose, Stefan Lutz-Simon, Stefan Ofner) . . . . . . . . . . . . . . . . 385

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3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Vertiefende Aspekte

3.9

Das Announcement – Von jetzt an wird es anders (Petra Girolstein) . 416 Fokus Sit-In (Claudia Seefeldt und Uri Weinblatt) . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Fokus Wiedergutmachung (Stefan Ofner und Stefan Fischer) . . . . . . . 453 Neue Autorität und psychische Störungen (Herwig Thelen) . . . . . . . . 475 Vom Verlust zum Gewinn – Posttraumatisches Wachstum und Neue Autorität in der Jugendhilfe (Angela Eberding) . . . . . . . . . . . . . . 489 Neue Autorität interkulturell – Menschen aus patriarchalen Systemen mit Neuer Autorität begegnen (Angela Eberding und Martin A. Fellacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Die Kraft der Klarheit – Auswege aus der Rechtfertigungsfalle (Ruth Tillner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Das Autoritätsdreieck – Neue Autorität mit alten Wurzeln in ­Organisation und Führung (Harald Kurp und Dagmar Hoefs) . . . . . . 526 Kluge Netzwerke (Claudia Seefeldt und Tobias von der Recke) . . . . . . 539

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Evaluationen und Forschungsergebnisse

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4.1 Weiterbildung »Coach für Neue Autorität« (Sarah Lemme) . . . . . . . . 556 4.2 Auf dem Weg vom Superhelden zur kooperativen Teamkultur (Harald Kurp, Marieke Brandt und Michael Kleiske) . . . . . . . . . . . . . . 567 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589

Vorwort

Es ist für uns eine Freude und Ehre, ein Vorwort zu diesem Buch zu schreiben, markiert es doch einen besonderen Meilenstein in der Entwicklung des Ansatzes, der in unserem Sprachraum mit den Namen von uns beiden eng verbunden ist: die Einführung der Ideen und Praktiken des gewaltlosen Widerstands in die Beratungsarbeit mit Menschen, die sich in der Falle der scheinbaren Alternativlosigkeit zwischen Eskalation und Nachgiebigkeit bewegen. Es berührt und bewegt uns, in welch kurzer Zeit dieser Ansatz eine derart große Resonanz nicht nur hierzulande gewonnen hat. Denn es ist noch nicht einmal zwanzig Jahre her, dass wir beide uns kennenlernten. 1999 hatte Haim Omer einen Brief an die deutschsprachigen Ausbildungsinstitute für systemische Therapie und Beratung geschickt und seine Überlegungen und ersten Erfahrungen vorgestellt. Das Buch »Parental Presence« (später erschien es 2002 unter unserer gemeinsamen Co-Autorenschaft als »Autorität ohne Gewalt«) war schon herausgebracht worden und hatte in Israel ein erhebliches Echo ausgelöst. Die erste Ausschreibung mit dem Ziel, eine Stichprobe von Eltern zu gewinnen, die sich in ihrer Familie hilflos und machtlos gegenüber ihren Kindern erlebten und bereit waren, diesen Beratungsansatz umzusetzen, führte dazu, dass sich statt der angestrebten hundert Elternpaare über zweitausend Eltern meldeten. Das Team an der Universität Tel Aviv musste aufgestockt werden, und natürlich waren die Basis und die Legitimation dieser Art des Vorgehens damit wesentlich breiter und stabiler – und das von Anfang an! Unter den wenigen Personen, die auf den Brief von Haim Omer reagierten, war Arist von Schlippe – eine Einladung zum Vortrag und Workshop legte schnell den Grundstein für eine enge Freundschaft. Die Gedanken von Haim Omer verbreiteten sich im deutschsprachigen Bereich schnell. Inzwischen kann man sagen, die Dynamik gleicht einer Lawine. Ein langsamer Start, doch schon 2004 erschien unser nächstes gemeinsames Buch »Autorität durch Beziehung«, sozusagen eine Antwort auf die Frage, die das erste Buch »Autorität ohne Gewalt« offengelassen hatte: wie denn, wenn nicht mit Gewalt? Langsam entstand dann

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Vorwort

in unseren Diskussionen vor allem über das Thema »Macht« das Bild, dass wir mit unseren Überlegungen eine Dynamik begleiten, die durchaus größere Dimensionen hatte. Wir bewegten und bewegen uns an den Prämissen zentraler Punkte, über die eine Gesellschaft das Zusammenleben der in ihr lebenden Menschen organisiert. Zunehmend werden neue Antworten gesucht auf die Fragen danach, wie das Verhältnis von gesellschaftlichen Instanzen – Verwaltung, Militär, Schule, Kirche, Eltern usw. – zu den ihnen anvertrauten Personen aussieht, und danach, welchen Stellenwert in diesem Zusammenhang Über- und Unterordnung haben, also Macht, Gewalt, Gehorsam und Autorität. Bis heute ist eine Diskussion nicht zum Ende gekommen, die begann, nachdem das verbrecherische Versagen der Autoritäten in den großen Kriegen des letzten Jahrhunderts offenbar wurde. Die Versuche, über antiautoritäre Bewegungen Alternativen zu finden, blieben oft im »anti« stecken. Ein anderer Ansatz, durch den Befreiung möglich werden sollte, die Psychologisierung und Pädagogisierung der Gesellschaft, hat das Bewusstsein für die Rahmenbedingungen eines guten Aufwachsens von Kindern und für ein gutes gesellschaftliches Zusammenleben deutlich erhöht. Zugleich steigt jedoch auch der Anteil an Eltern, die sich von der Aufgabe, ihre Kinder nun gut und ganz richtig zu erziehen, überfordert erleben. Sie möchten gern beste Freunde ihrer Kinder sein und ihnen auf Augenhöhe gegenüberstehen. Sie erleben, dass, je mehr sie sich bemühen, alles richtig zu machen und als »Helikoptereltern« ihren Kindern alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, diese nicht unbedingt glücklicher aufwachsen. Vielmehr sehen sich die Kinder und Jugendlichen mit neuen Ansprüchen konfrontiert, mit – für sie völlig selbstverständlichen – Forderungen, gegenüber denen die Erwachsenen dann mit Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen reagieren. Denn dass sie irgendetwas »falsch gemacht« haben, wird ihnen von allen Seiten zurückgemeldet. Schuldgefühle und kritische Blicke auf die Eltern, das wissen wir heute, verringern die elterliche Präsenz und steigern die elterliche Hilflosigkeit. Die gesellschaftliche Situation droht umzuschlagen, Rufe nach Autorität und Disziplin werden lauter, drastische Erziehungsmethoden werden eingefordert und praktiziert – das Karussell dreht sich weiter. Die Gedanken des gewaltlosen Widerstands, so scheint uns, bieten genau auf dieser Ebene der Prämissen eine interessante Alternative. Zwischen den Polen »Durchsetzung« (Autorität und damit eher klare Orientierung, aber auch der Einsatz von Machtmitteln) und »Nachgeben« (Antiautorität und damit eher Partnerschaftlichkeit, aber auch Ohnmacht) entwickeln sich schnell Teufelskreise der Eskalation. Schon Gregory Bateson hatte am Beispiel der Papua-Stämme auf Neuguinea die Gefahr des Zerbrechens aller sozialer Zusammenhänge aufgezeigt, die besteht, wenn eine Gemeinschaft nicht Strukturen entwickelt hat, um die

Vorwort

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Eskalationsdynamiken von Symmetrie (Durchsetzung) und Komplementarität (Nachgeben) zu balancieren. Die andere Definition elterlicher Stärke, wie wir sie in dem Buch »Stärke statt Macht« (2010) angeboten haben, wird von vielen betroffenen Eltern als sehr hilfreich erlebt: Zwischen Eltern und Kindern – und vielleicht auch auf anderen Ebenen gesellschaftlicher Diskussionen – geht es nicht um die Stärke der Faust, die den anderen besiegen und kleinmachen will (sei es physisch oder verbal). Es geht um die Stärke des Ankers, der beharrlich bleibt, der nicht aus dem Feld geht und doch eine andere Dimension anbietet: Es geht nicht um Siegen und Verlieren, es geht um ein beharrliches Beziehungsangebot, eine Einladung zum »Re-Attachment« da, wo eine Beziehung belastet ist und ein Bruch droht. Damit bietet das Denken in Kategorien von Gewaltlosigkeit ein neues Bild von Autorität an. Es geht nicht mehr um die »große« Autorität, nichts Absolutes mehr, kein Anspruch auf universelle Gültigkeit. Eher sprechen wir von einer Art »kleiner« Autorität, die niederländischen Kollegen sprechen von »connective authority«, also von bezogener Autorität, die sich aus der jeweiligen Beziehung heraus ergibt. Auch »systemische« (Kurp und Hoefs, siehe Kapitel 3.8) und »horizontale« Autorität sind Beschreibungen, die diese Anstrengungen unterstreichen – mehr dazu findet sich in diesem Buch. Viel hat sich verändert in den Jahren seit 1999. Heute ist der Ansatz europaweit bekannt und auch in internationalen Zeitschriften präsent. Schon lange geht es nicht mehr nur um hilflose Eltern, die Angst vor ihren Kindern haben, schon lange ist der Schwerpunkt nicht nur auf Erziehung ausgerichtet. Man kann fast sagen, in konzentrischen Kreisen hat sich das Feld von der Familie aus auf die Schule, auf Jugendhilfe und auf andere Einrichtungen ausgedehnt. Die Zusammenarbeit verschiedener gesellschaftlicher Institutionen – wie etwa Kliniken, Behörden und Polizei – wurde in den Blick genommen, es wurde mit Gruppen von Eltern und Alleinerziehenden gearbeitet und inzwischen zunehmend auch die Frage gestellt, was diese Art von Denken in Unternehmen und Gesellschaft bedeutet. Zugleich wurden die sich aus diesem Ansatz herleitenden Interventionsmethoden weiter ausgearbeitet und ausdifferenziert. Gerade hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen unseren Kulturen (etwa in der Akzeptanz des Vorgehens beim »Sit-In«). Mit diesem Buch liegt nun ein Werk vor, das die vielen Facetten, in die sich unser Ansatz ausdifferenziert hat, und die vielen Felder, in denen er umgesetzt wurde, eindrücklich beschreibt. Wir sind begeistert von der Bandbreite, die hier eingefangen ist, und überzeugt davon, dass dieser Band über Jahre hinaus eine Zäsur markiert: Das Denken in den Kategorien des gewaltlosen Widerstands ist im Feld psychosozialer Beratung und Psychotherapie, Pädagogik und anderen gesellschaftlichen Kontexten angekommen.

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Vorwort

Der Dank für diese Leistung gilt NeNA, dem Netzwerk Neue Autorität. Die uns eng verbundenen und vertrauten Kollegen und Kolleginnen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland sind über dieses Konzept ebenfalls seit langen Jahren untereinander freundschaftlich verbunden. Sie bringen mit ihrer Kooperation in diesem Buch zum Ausdruck, wie ein Netzwerk klug und innovativ eine gemeinsam getragene Haltung des gewaltlosen Widerstands miteinander leben und zugleich sichtbar machen kann. Wir sind dankbar dafür, dass dies in einem gemeinsamen Geist mit uns geschieht. Wir hoffen, dass Sie, liebe Leserin und lieber Leser, ähnlich begeistert sind und für Ihre konkrete Praxis viel aus diesem Werk mitnehmen können. Tel Aviv/Osnabrück Haim Omer und Arist von Schlippe

Vorwort der Herausgeber

Wir Herausgeber sind im Netzwerk Neue Autorität (NeNA) miteinander mit dem Ziel verbunden, die Konzepte Haim Omers und Arist von Schlippes auf der Basis systemischen Denkens weiterzuentwickeln. Wir bündeln unsere Erfahrungen und stellen sie interessierten Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Familienberatung und -therapie, Schule, Gemeinden und Unternehmen zur Verfügung. Dies geschieht durch Veröffentlichungen, Seminare, Weiterbildungen und die Veranstaltung von Kongressen und Tagungen. Auch die Idee dieses Buches kommt aus unserem Netzwerk, um zum einen den Stand des Wissens sichtbar zu machen und zum anderen Ideen für weitere Entwicklungen anzuregen. Wir sehen in unserem Netzwerk eine politische Dimension im Sinne gewaltfreier Kommunikation und Konfliktlösung und gewaltfreien Widerstands an den Stellen, an denen Macht, destruktive Autorität und ihre Folgen menschliche Entwicklung und friedliche Interaktion behindern. Wir sind den Ideen der Gewaltfreiheit und Neuen Autorität persönlich verpflichtet und haben sie auch als Grundlage für unsere Zusammenarbeit festgelegt. Wir wollen den Konzepten, von denen wir überzeugt sind, gern zu ihrer Realisierung in Familien, Schulen, Gemeinden, Organisationen und Unternehmen verhelfen. Durch unsere Weiterbildungsangebote wollen wir unseren Kunden Standards vermitteln, die sie formal (Zertifikat) und vor allem inhaltlich und methodisch in die Lage versetzen, die Konzepte zu praktizieren und ihrerseits zur Verbreitung beizutragen. Das Vorleben der zugrunde liegenden Haltung ist uns dabei besonders wichtig. Und wir erheben, wenn dies notwendig ist, unsere Stimme und leisten damit einen Beitrag zu mehr gesellschaftlicher Wertschätzung und Achtsamkeit. Wir möchten mit diesem Handbuch auch unseres allzu früh verstorbenen Freundes und Wegbegleiters Hans Steinkellner gedenken. Er war ein prägender Teil unserer Gruppe und hat uns durch seine warmherzige und feine, reflektierte Art in vielen Diskussionen bereichert. Bei vielen Fragen verhalf er uns

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Vorwort der Herausgeber

zu respektvolleren, weitsichtigeren und nachhaltigeren Antworten. Für ihn war die Neue Autorität nicht nur ein Konzept. Für ihn war sie berufliche Heimat, Auftrag und Berufung. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Hans für die Sache »brannte«. Bei der Vorbereitung und Gestaltung dieses Buches war er uns allen sehr präsent. Dieses Buch soll vor allem Mut machen. Warum so viel Gerede über Autorität? Weil wir aus unserer Sicht an innerer Führung eingebüßt haben. Weil wir das Gefühl haben, als befreite Individuen oft allein vor den ethischen Fragen des Lebens zu stehen. Wir brauchen Mut, sie immer neu zu beantworten. Es braucht Mut, sich auf Werte wie Gewaltlosigkeit, Gemeinschaft, Solidarität oder Transparenz festzulegen, in der Erziehung ebenso wie in allen Lebensbereichen. Es braucht Mut, sich hinzustellen und »Nein« zu sagen, auch wenn es zugleich ein »Ja« zu sich selbst und zur Beziehung darstellt. Es braucht Mut, die sichere Distanz der Neutralität zu verlassen. Die meisten von uns sind in Zeiten groß geworden, in denen sowohl linksals auch rechtsradikale Entwürfe als schreckliche Irrtümer entlarvt waren. Dazu herrschte ein kurzes Zeitfenster lang relativer sozialer Frieden. Es war also legitim, außer »ein bisschen öko und gegen Nazis«, politisch neutral zu sein. Die Werte waren ja unausgesprochen klar. Die Welt ist seitdem anders geworden. Ohne klare Verankerung laufen wir Gefahr, in einen Strudel aus Angst, Egozentrik, Populismus oder Eigennutz hineingezogen zu werden. Wir wollen uns mutig verankern. Wir selbst sind eine kleine Gruppe von viel beschäftigten Frauen und Männern, durchaus mit eigenen Interessen, die sich entschieden haben, sich regelmäßig verbindlich zu treffen. Wir können nur sagen: Es lohnt sich! Wir stellen uns selbst infrage und bringen uns mit unterschiedlichen Auslegungen oft an unsere Grenzen. Was uns verbindet, ist der Glaube an Frieden, Reifung, Gleichwürdigkeit, Vergebung und Zuversicht. Charta der NVR Founders Group

»We commit to the principles of NVR (non-violent resistance) in our life and work. In the spirit of Gandhi, Martin Luther King and others we support each other in the promotion and the dissemination of the NVR attitude in ourselves, in families, schools, communities, organizations and in the political sphere. We raise our voice and take a stand for a responsible leadership in an open and transparent manner.« Folgenden Personen möchten wir für das Zustandekommen dieses Buches ganz besonders danken:

Vorwort der Herausgeber

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Unseren Partnerinnen und Partnern sowie unseren Familien, die uns gerade während der intensiven Schreibphasen entbehren mussten und gleichwohl unermüdlich unterstützt haben. Unseren Klientinnen und Kunden, die uns immer wieder neu in unserer Kreativität anregen. Sandra Englisch, Johanna Mohrmann und Günter Presting für die Unterstützung und Realisierung des Buches seitens des Verlags sowie David Lemme für die Hilfe bei der Formatierung und Strukturierung. Zudem danken wir allen Autorinnen und Autoren für das Mitwirken an diesem ersten Handbuch zum Konzept der Neuen Autorität. Wir möchten an dieser Stelle ein ganz besonders intensives Danke an Haim Omer und Arist von Schlippe für ihre Inspiration, Initiative und Ideen aussprechen, die uns alle so bereichert haben. Ohne sie gäbe es wohl weder unser Netzwerk NeNA noch dieses Buch. Und wir möchten auch allen Personen danken, die uns in dem bisherigen Prozess begleitet und inspiriert haben: Uri Weinblatt, Idan Amiel, Michael Grabbe und viele, viele andere, die wir hier nicht alle nennen können. Wir sehen uns als Verbindungspunkte eines umfangreichen Netzwerkes, welches das Konzept der Neuen Autorität weiter- und fortentwickelt. Wir freuen uns, dieses Verständnis weitertragen zu können. Bruno Körner, Martin Lemme, Stefan Ofner, Claudia Seefeldt, Herwig Thelen, Tobias von der Recke



1 Grundlagen

1.1 Das Konzept der Neuen Autorität oder: »Stärke statt (Ohn-)Macht« Bruno Körner, Martin Lemme, Stefan Ofner, Claudia Seefeldt, Tobias von der Recke und Herwig Thelen

»Neue Autorität«, »Gewaltfreier Widerstand in der Erziehung«, »Autorität durch Beziehung«, »Autorität ohne Gewalt« oder »Stärke statt Macht« sind Überschriften für ein Konzept, das von Haim Omer in Tel Aviv in Anlehnung an die Philosophie und Praxis des gewaltlosen Widerstands nach Mahatma ­Gandhi und Martin Luther King sowie Gene Sharp entwickelt und von Arist von Schlippe nach Deutschland gebracht wurde. Wichtigstes Ziel des Konzepts war und ist es, Erziehende darin zu unterstützen, »präsent« zu bleiben (oder auch wieder zu werden), also weder ihre Position aufzugeben noch sich in Droh- und Sanktionshandlungen zu verfangen. »Wir geben dir nicht nach, und wir geben dich auch nicht auf!«, ist die zentrale Aussage. Ausgehend von den hilfreichen Ideen zur Unter­stützung von Eltern im Umgang mit schweren Verhaltensauf­fällig­keiten ihrer Kinder hat sich ein handlungsleitendes Konzept für die Beziehungsgestaltung zwischen Erziehenden und Kindern herausgebildet. Die Konzepte Haim Omers – bestärkt von anderen, verwandten Konzepten und Ideen von Jesper Juul, Joachim Bauer u. a. – finden mittlerweile auch in größeren Systemen, wie beispielsweise Kindertagesstätten, Horten, Schulen, Kinder- und Jugendheimen oder Gemeinden, Anwendung. Die ursprünglich für den familiären Kontext entwickelten Interventionen wurden an die Notwendigkeiten und Bedingungen der verschiedenen pädagogischen Settings angepasst und erweitert (Seefeldt u. Frey, 2018; Lemme u. Körner, 2018). In den letzten Jahren hat sich das Konzept darüber hinaus zu einer Grundlage für Führungsmodelle in Institutionen und Unternehmen entwickelt und wird auch in neuen Zusammenhängen wie Polizeiarbeit diskutiert. »Autorität« ist ein besonders im deutschsprachigen Raum ambivalent besetzter Begriff. Auch »neu« ist wiederholt intensiv diskutiert worden. Daher wird allgemein nach einer konsensfähigeren Bezeichnung gesucht. In der Diskussion sind Formulierungen wie »horizontale Autorität« (Verhaeghe, 2016), »kleine, nächste Autorität« (von Schlippe, Kapitel 1.3), »verbindende oder menschliche

Das Konzept der Neuen Autorität

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Autorität« (von der Recke, mündliche Mitteilung, 2018), »systemische Autorität« (Hoefs u. Kurp, Kapitel 3.8) und »komplexe Autorität« (Baumann-Habersack, 2018). Als Herausgeberinnen haben wir uns an die »Neue Autorität« gewöhnt, zumal wir eine gemeinsame Vorstellung davon haben, was gemeint ist, sind allerdings neugierig und aufgeschlossen für eine Formulierung mit breitem Konsens.

Rahmenbedingungen von Erziehung Gesamtgesellschaftliche Entwicklungen (wachsende Armut bzw. eine wachsende Schere zwischen Arm und Reich, zunehmende populistische Tendenzen, heterogene Führungsmodelle in Politik und Wirtschaft, die »Migrationsdebatte u. a.), eine tiefgreifende Bildungskrise und eine an vielen Stellen festzustellende Angst vor dem Anschluss- und Statusverlust des Einzelnen innerhalb der sozialen Entwicklung verunsichern Erziehende. Zudem führt eine unseres Erachtens heterogene und an verschiedenen Stellen stark widersprüchlich erscheinende Diskussion von Erziehungsmodellen bei vielen Eltern und Profis zu einer großen Unsicherheit und viel (Leistungs-)Druck in der Erziehung. Bei anderen Familien ist durch die zunehmende Mobilität und erhöhte Anpassungsnotwendigkeit an sich häufig verändernde Arbeitskontexte sowie intensive Berufstätigkeit beider Elternteile nicht selten eine zunehmende Isolierung von Erziehenden wahrzunehmen. Das Verschwinden von Großfamilien und die räumliche Distanz zu anderen Familienmitgliedern bewirken, dass die Erziehung der Kinder nicht auf viele Schultern verteilt ist, sondern einzig bei den Eltern oder sogar nur einem Elternteil liegt. Die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte eröffnen Eltern heute unzählige Möglichkeiten, die Beziehung zu ihren Kindern zu gestalten. Der mit den Veränderungen einhergehende Umbruch im Verständnis von Autorität führt bei vielen Erziehenden zu einer gewissen Orientierungslosigkeit und Unsicherheit. Vielen Eltern fällt es schwer, ihren Kindern und Jugendlichen Grenzen aufzuzeigen, aus Angst, dies könnte die Beziehungen nachhaltig belasten. Die Antworten und Optionen, die sie in ihrer Unsicherheit erhalten, sind häufig sehr widersprüchlich. Die Fülle von Bildern von Elternschaft in Elternzeitschriften, Erziehungsratgebern, Elternprogrammen und TV-Serien scheint Eltern letztlich eher zu verunsichern als zu stärken. Auch in vielen päda­gogischen Einrichtungen erleben wir eine große Verunsicherung und oft zu wenig Absprachen bezüglich eines gemeinsam und besser abgestimmten Vorgehens.

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Grundlagen

Außerdem hat sich offensichtlich der Anspruch an Elternschaft erhöht, sowohl durch gesellschaftlichen Druck von außen als auch durch hohe Erwartungen, die Eltern an sich selbst richten. Wir beobachten durchaus, dass manches Kind nicht um seiner selbst willen geliebt wird, sondern zu einem »Projekt« wird, um nicht zu sagen einem »Produkt«. »Helikoptereltern«, die ihre Kinder rund um die Uhr verplanen und mittels Handyortung überwachen, stehen auf der einen Seite der Bandbreite. Auf der anderen Seite stehen »U-Boot-Eltern«, die aus Hilflosigkeit und Erschöpfung abgetaucht und für ihre Kinder nicht mehr spürbar sind. Elterliche Hilflosigkeit wird denn auch als Phänomen bei Eltern von Kindern mit massiven Verhaltensproblemen wie z. B. aggressivem oder selbstverletzendem Verhalten erkannt. Gleichwohl wollen wir hier auch einer möglichen negativen Tendenz von Experten widerstehen, die durch das alltägliche Erleben vor allem negative Beobachtungen fokussieren: Zwischen den beiden zuvor genannten Extremen gibt es natürlich auch viele engagierte Eltern, die eine gute und tragfähige Beziehung zu ihren Kindern entwickelt haben (Seefeldt u. Frey, 2018). Es erscheint heute nicht mehr selbst­verständlich, dass Eltern ihren Platz im Zentrum der Familie einnehmen, der ihnen und den Kindern Sicherheit und Orientierung gibt. Diese möglicherweise verloren gegangene Position wird u. a. bestärkt durch eine zunehmende außerfamiliäre Tageserziehung in Horten und Schulen. Sowohl die familiär gemeinsame Zeit wie auch die möglicherweise unterschiedlichen Erziehungsansätze führen vielfach zu Konfliktlagen. In der Schweiz, Österreich und Deutschland gibt es zwar ein großes Angebot professioneller Unterstützung (Beratungsstellen, Coaches, Psychotherapeuten, Jugendhilfe u. a.), die Begleitung durch Experten führt allerdings nicht selten zu einer Schwächung der Eltern – teils weil diese sich durch gut gemeinte Ratschläge unfähig erleben, teils weil sie bereits so erschöpft sind, dass sie bereitwillig die Verantwortung abgeben. Außerdem erleben wir Beratende und Helfende nicht selten in einer eigenen Hilflosigkeit dem Verhalten von Kindern und Jugendlichen in ihren Familien gegenüber. Auch im Bildungsbereich lassen sich ähnliche Entwicklungen beobachten. Die steigenden Erwartungen an Pädagoginnen (z. B. Individualisierung, zunehmende Administration) und der hohe Qualitätsanspruch an die eigene Arbeit sowie der deutlich erlebte Anstieg unterschiedlichster Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen werden zunehmend zur Quelle von Frustration und Resignation. Lehrpersonen erleben sich häufig als Einzelkämpfer und sind nicht selten offenen Feindseligkeiten wie z. B. Aggressionen, Beleidigungen und Drohungen ausgesetzt. Vielfach wird die mangelnde Unterstützung durch die Eltern beklagt, und oft entwickelt sich ein konkurrenzähnliches Verhältnis zwi-

Das Konzept der Neuen Autorität

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schen Pädagogen, Lehrpersonen und Eltern. Dies schwächt alle Seiten in ihrer erzieherischen Rolle.

Entwicklung und Anwendungsfelder Ursprünglich wurde der Ansatz der Neuen Autorität für Eltern entwickelt, die sich über einen längeren Zeitraum aufgrund der Gewalttätigkeit ihres Kindes ohnmächtig und bedroht erlebten. In Anlehnung an Mahatma Gandhis gewaltfreien Widerstand entwickelten Haim Omer und sein Team eine Reihe von Interventionen, die dem Kind mitteilen: »Wir können so nicht weiterleben, und wir haben vor, alles uns Mögliche zu tun, um die Situation zu verändern – außer, dich verbal oder körperlich zu attackieren, zu beleidigen oder zu demütigen.« Diese Interventionen des gewaltfreien Widerstands unterstützen Eltern, ihre Handlungsfähigkeit in Fällen wiederzuerlangen, in denen sich im Kontext von langfristigem Problemverhalten von Kindern und Jugendlichen bereits heftige Eskalationsdynamiken in der Familie entwickelt haben und das Zusammenleben massiv belastet sowie kein konstruktiver Dialog mehr mit dem Kind möglich ist. Ausgehend von den Ideen der Präsenz und des gewaltfreien Widerstands hat sich dieser Ansatz über die Jahre zum haltgebenden Konzept der Neuen Autorität und dem Konzept der »Wachsamen Sorge« weiterentwickelt. Über die gesamte Entwicklung wurde klar und deutlich, dass mit diesen Ideen auch eine sehr grundsätzliche Haltung verbunden ist. Oder, wie es uns eine Kollegin beschrieben hat: »Früher habe ich es für ein Coaching-Konzept gehalten, heute ist es für mich eine Lebensphilosophie geworden.«

Zentrale Haltung und Ziele Menschliches Verhalten lässt sich aus systemischer Perspektive nur im Kontext verstehen, in dem dieses Verhalten auftritt. Eigene Bedürfnisse und Gefühle und die anderer in diesem Kontext beteiligter Menschen wirken dabei in ständiger Wechselwirkung und zirkulären Abhängigkeiten. Verhaltensauffälligkeiten werden also nicht primär als Symptom eines tiefsitzenden innerpsychischen Problems verstanden (was damit allerdings nicht ausgeschlossen ist), sondern als Reaktion auf den Kontext, in dem das Verhalten stattfindet. Problematisch und destruktiv erlebtes Verhalten von Kindern und Jugendlichen kann insofern als eine Reaktion auf den erlebten Kontext und damit als Eskalationsmuster in diesem Kontext verstanden werden.

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Grundlagen

Diese Sichtweise hat im praktischen Vorgehen zwei weitreichende Konsequenzen. Zum einen wird unterschieden zwischen problematischem Verhalten und der Person, die sich problematisch verhält. Dieses grundlegende humanistische Prinzip ermöglicht Handlungen von Widerstand und Protest gegenüber einem Verhalten und zugleich eine zugewandte Vorgehensweise über Angebote und Beziehungsgesten der Person gegenüber. Zum anderen wird der verständliche Wunsch nach einer direkten Intervention zur Veränderung des problematischen Verhaltens vorerst gegenüber einer Änderung des eigenen Verhaltens zurückgestellt. Zunächst einmal wird also der Kontext, in dem problematisches Verhalten stattfindet, dadurch beeinflusst, dass die Erziehenden ihr eigenes Vorgehen ändern. Ändert sich auf diese Weise der Kontext, so die Überlegung, kann sich in der Folge auch das problematische Verhalten ändern. Der nicht zu unterschätzende Einfluss, den Erziehende diesbezüglich haben, wird in diesem Konzept »Präsenz« genannt. Der Ansatz konzentriert sich damit auf die Wiedergewinnung von Handlungsmöglichkeiten der Erziehenden und auf deren Verantwortung für die Beziehungsgestaltung. Tragfähige Beziehungs- und Kooperationsmuster verringern nachweislich die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation und erhöhen den Einfluss auf günstigere Entwicklungen. Indem Erziehende sich auf die Darstellung der eigenen Position konzentrieren, klar und deutlich in ihrem Vorgehen sind, fortwährend unabhängig vom kindlichen Verhalten Kooperations- und Beziehungsangebote machen und gleichzeitig transparent und nachvollziehbar vorgehen, können sie Bedingungen schaffen, unter denen Begegnung und Entwicklung wieder möglich werden. »Wir geben dir nicht nach, und wir geben dich auch nicht auf!«, ist die zentrale Aussage.

Die Grundlagen im Einzelnen Das Konzept der Neuen Autorität ist in allen Modellen der Herausgeber (Seefeldt u. Frey, 2018; Ofner u. Steinkellner, 2011; Lemme u. Körner, 2018) mit einer starken Orientierung am Aspekt »Werte und Haltung« verbunden. Die formale Beschreibung und die Struktur der Vorgehensweisen in den Modellen unterscheiden sich an Punkten – wie das eben ist, wenn an verschiedenen Orten über eine gute Idee nach- und weitergedacht wird. Die gemeinsame Basis und die zugrunde liegende Haltung sind uns dabei aber nie verloren gegangen. Allen Modellen gleich ist die zentrale Rolle der Präsenz. Im Folgenden stellen wir kurz die Modelle dar und gehen anschließend auf die einzelnen Themen und Aspekte genauer ein.

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Die »7 Säulen der Neuen Autorität« (siehe Abbildung 1) beschreiben die wesentlichen Voraussetzungen, die für Eltern, Lehrerinnen und Pädagogen wichtig sind, um in ihrer Autorität gestärkt und wirksam zu sein. Präsenz (Säule 1) meint dabei die wachsame Anwesenheit und Entschiedenheit im Vorgehen. Säule 2 wird als Selbstkontrolle zum Ausstieg aus Machtkämpfen beschrieben. Um Autorität breiter und fester zu machen, kommt die Bildung eines Netzwerkes von Unterstützern hinzu (Säule 3). Darunter wird auch eine Haltung von Kooperation und Partizipation verstanden. Als weiterer Aspekt werden Interventionen auf der Basis des gewaltlosen Widerstands (Säule 4) beschrieben. Parallel dazu sind Beziehungsangebote durch Gesten der Wertschätzung (Säule 5) zu verstärken, um die Trennung zwischen der Ablehnung unakzeptablen Verhaltens und dem Wunsch nach besserem Kontakt zur Person sichtbar zu machen. Darüber hinaus wird die Notwendigkeit von Transparenz und mindestens partieller Öffentlichkeit (Säule 6) beschrieben. Ergänzt wird diese Vorgehensweise durch die Möglichkeit der Initiierung von Wiedergutmachungsprozessen (Säule 7).

Abbildung 1: Die »7 Säulen der Neuen Autorität« (Steinkellner u. Ofner, 2017; Schön­angerer u. Steinkellner, 2017)

Im Schweizer »Fischernetz«-Modell (siehe Abbildung 2) steht Präsenz im Mittelpunkt. Sie wird gestärkt und gehalten von sechs »Netzpunkten«. Werte und Haltung meint damit die Reflexion der eigenen Werte und die Übernahme der Verantwortung, die Rolle einer Autorität wieder einzunehmen und dabei auf bindungstheoretische Grundsätze zu achten.

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Grundlagen

Unter Gewaltfreier Widerstand werden die Maßnahmen verstanden, die es möglich machen, gegen ein Verhalten bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung von Beziehung zu protestieren.

Gewaltfreier Widerstand

Entschiedenheit Führung

Werte und Haltung

Wachsame Sorge

Transparenz und Öffentlichkeit

Beharrlichkeit

Präsenz

Versöhnung

Wiedergutmachung

Deeskalation und Selbstkontrolle

Schamregulierung

Beziehung

Unterstützung und Netzwerk

Abbildung 2: Netz der Neuen Autorität (Seefeldt u. Frey, 2018; entwickelt vom Schweizer Fachpersonennetzwerk isi-netz24)

Deeskalation und Selbstkontrolle sind dafür wichtige Voraussetzungen. Die Gesten der Beziehung und die Angebote zur besseren Kooperation werden unter dem Begriff Beziehung als Netzpunkt dargestellt. Auch Unterstützung und Netzwerk sowie Transparenz und Öffentlichkeit decken sich mit dem Modell der »7 Säulen«. Darüber hinaus gibt es kleinere Netzpunkte wie Entschiedenheit und Führung, Beharrlichkeit, Versöhnung, Wiedergutmachung und Schamregulierung. Das Netz soll Erweiterungsmöglichkeiten und die Flexibilität eines offenen Modells darstellen – es können weitere Knoten in das Netz hinzugefügt werden, und der Einstieg in einen Prozess kann über verschiedene Netzpunkte erfolgen, in dem Bewusstsein, dass alle miteinander verknüpft sind. Lemme und Körner (2018) beschreiben das Modell anhand einer zirkulären Logik (siehe Abbildung 3) und erläutern darin »Haltungs- und Handlungsaspekte« (siehe Abbildung 4).

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Das Konzept der Neuen Autorität

Abbildung 3: Logik im Konzept der Neuen Autorität (Lemme u. ­Körner, 2018)

Hier steht ebenfalls die Präsenz im Mittelpunkt und wird zunächst als das eigene Erleben der (Selbst-)Wirksamkeit innerhalb eines Kontextes dargestellt. Annähernd deckungsgleich zu den beiden anderen Modellen werden auch hier Transparenz/Öffentlichkeit, Unterstützung/Netzwerke sowie Gesten der Beziehung genannt. Bei letztgenanntem Aspekt finden sich die Wiedergutmachung und die Gesten des Verzeihens und Versöhnens wieder. Außerdem sehen die Verfasser dieses Modells einen wesentlichen Aspekt in der Auseinandersetzung mit den eigenen Haltungen und Werten und den daraus entstehenden Entscheidungen. Der Aspekt der Selbstführung/Deeskalation ist inhaltlich deckungsgleich mit den vorstehenden Modellen. Unter Protest/Gegenüber/Widerstand versteht dieses Modell über die Maßnahmen des Widerstands hinaus auch die Haltung, frühzeitig in aller Klarheit den Kindern und Jugendlichen gegenüberzutreten. Lemme und Körner betonen, dass diese Handlungsaspekte für die Vermittlung an Eltern, Lehrer und andere Führungspersonen ebenso bedeutend sind wie für Coaches oder Trainerinnen – jeweils dem Kontext angepasst.

Abbildung 4: Haltungs- und Handlungsaspekte der Neuen Autorität (Lemme u. Körner, 2018)

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Grundlagen

Präsenz und wachsame Sorge – die zentralen Schlüsselbegriffe Präsenz Der Begriff Präsenz beschreibt ursprünglich die entschiedene Bereitschaft von Erziehenden, im Leben der ihnen anvertrauten Kinder eine zentrale Rolle zu spielen. Er drückt damit eine grundsätzliche Haltung aus, die es Eltern und anderen Erziehenden möglich macht, im Leben ihrer Kinder auf unterstützende, begleitende und wachsame Weise wirksam sein zu können. Ist diese innere Haltung stabil und stark, so kann sie auch in kritischen Situationen Eltern befähigen, nicht aufzugeben, sondern an die Stabilität der Beziehung zu glauben. Ungünstige Entwicklungen in den Beziehungen, Eskalationsdynamiken wie auch heftig erlebte Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen führen nicht selten dazu, dass die innere Sicherheit, die eigene Überzeugung, die eigene Handlungsfähigkeit und die Selbstführung verloren gegangen sind. Dies bedeutet dann einen Verlust an Selbstkontrolle. Omer und von Schlippe (2002/2017, 2004/2016) sprechen von Präsenz, wenn Eltern etwa folgende Botschaften übermitteln: •• Ich bin hier! •• Ich bleibe hier, auch wenn es schwierig wird! •• Ich werde nicht nachgeben, aber ich werde dich auch nicht aufgeben! •• Ich kämpfe um dich und um meine Beziehung zu dir, nicht gegen dich! •• Ich bleibe nicht allein! Daraus sind sechs Aspekte (Dimensionen) der Präsenz formuliert worden (Lemme u. Körner, 2016a, 2018; Omer u. von Schlippe, 2010; Köllner, Ollefs u. von Schlippe, 2004): •• Physische Präsenz meint die räumliche, geistige und zeitliche Anwesenheit von Erziehenden im Leben und im Alltag ihrer Anvertrauten. Viele kritische Situationen entstehen in Zeiten und an Orten, in und an denen Erwachsene abwesend sind; manchmal meiden Eltern regelrecht die Orte, an denen kritische Ereignisse stattfinden. Entsprechend bedeutet eine Erhöhung der körperlichen Präsenz mehr und intensivere Anwesenheit. Auch die Art und Weise der Anwesenheit hat wesentlichen Einfluss auf die Präsenz von Erziehenden. Je klarer und entschiedener diese auftreten und gleichzeitig Zuwendung ausdrücken, desto stärker werden sie präsent erlebt – aus der Außenperspektive wie auch in der inneren Wahrnehmung. Lemme und Körner (2018) betonen, dass der Einfluss auf eine Situation und das eigene innere Erleben in einem zirkulären Zusammenhang ständiger Wechsel-

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wirkungen stehen. In der Analyse von Situationen reflektieren sie daher zunächst das eigene Erleben der Erziehenden bezüglich ihrer physischen Präsenz. So haben sie sich auch mit der Art und Weise der körperlichen Präsenz beschäftigt und beschreiben die Auswirkungen von Blick, Mimik, Gestik und Distanz sowie gesundheitlichen Aspekten auf die Präsenz. Dabei beziehen sie neurophysiologische und neurobiologische Hintergründe mit ein. •• Emotional-moralische Präsenz meint das Ausmaß der inneren Überzeugung der Erziehenden. Steinkellner und Ofner (2017) nennen dies »ein Bewusstsein für eigenes moralisches und persönliches Selbstvertrauen«. Diese Präsenzdimension kann als Kongruenz zwischen Handeln und eigener Haltung beschrieben werden. Es geht dabei um die innere Überzeugung, dass das eigene Handeln angemessen und aus der inneren Perspektive »richtig« ist. Dies führt zur Wahrnehmung eines gestärkten Selbstwerterlebens. Zudem werden aus der äußeren Perspektive in der Regel Klarheit und Eindeutigkeit wahrgenommen. Diese Überzeugung führt häufig zu Handlungsenergie, deutlichem Antrieb und klarem Handeln. Insofern hängt diese auch ab von der transparenten und kritischen Reflexion. Die eigene Überzeugung kann zu einer Gestaltung der Beziehungen führen, diese sogar wieder korrigieren. Ein Praxisbeispiel: Eine alleinerziehende Mutter hat ihrer Tochter, die von zu Hause fortgelaufen war und über ein Jahr jeden Kontakt zur Mutter abgebrochen hatte, wöchentlich am gleichen Tag und gleichen Ort einen Brief über ihren Alltag und ihr Erleben geschrieben. Sie hätte nicht anders können, da, egal was ihre Tochter in der Zwischenzeit machte, sie diese doch immer lieben würde. Die Tochter berichtete nach der Wiederbegegnung, dass sie sich nach und nach den nächsten Brief gewünscht habe und sie auf diese Weise letztlich auch wieder habe Kontakt aufnehmen können.

 berzeugung führt zur Möglichkeit von beharrlicher Präsenz. Diese wiedeÜ rum wird vor allem dann zu Veränderungen führen, wenn sie als authentisch wahrgenommen wird. •• Intentionale Präsenz verstehen Lemme und Körner (2018) als moralische Stimme der emotional-moralischen Präsenz. Sie beinhaltet die Absicht, aus der heraus Erziehende handeln. Sie wird stärker erlebt, wenn deutlich ist, ob das Ziel bzw. das Vorgehen an beziehungsverbessernden oder an machtund durchsetzungsorientierten Zielen orientiert sind. Neben der Verbalisierung der eigenen Absichten drückt sich die intentionale Präsenz in der Mimik und Gestik sowie im Verhalten aus. Die zentrale Frage dabei: Wem oder was dient das, was wir gerade tun?

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Grundlagen

•• Pragmatische Präsenz (Lemme u. Körner, 2016a, 2016b, 2018) meint die Fähigkeit, auch in kritischen Situationen wirksame Handlungen ausführen zu können. Das Erleben und Wissen darum ermöglicht ein höheres Selbstwirksamkeitserleben. Das Gefühl der Hilflosigkeit entsteht vor allem dann, wenn die Erziehenden über keine weiteren Handlungsoptionen zu verfügen scheinen, sich stattdessen immer wieder in die gleichen Handlungsmuster von Streit, Reden und Schreien, Strafen oder auch Rückzug verlieren. Vor allem das Beharren auf einer allein gültigen Vorgehensweise (z. B. »Jetzt sofort das Zimmer aufräumen!« …) führt nicht selten zu Verweigerung der Kinder und folgender Hilflosigkeit der Eltern. Diese müssten dann in den Strafen aufrüsten und noch heftigere Drohungen aussprechen als zuvor. Wenn sich das Gefühl von Hilflosigkeit ausbreitet, führt dies eher zur Suche nach Sanktionskatalogen und Bestrafungsmöglichkeiten, die sich allerdings schnell als ineffektiv und eskalierend erweisen. Mit dem inneren Wissen, dass in der Regel die Umstände und das Verhalten anderer nicht verändert werden können, löst sich die Hilflosigkeit auf, wenn Eltern ihren Erfolg nicht von Reaktionen der Kinder abhängig machen, sondern beharrlich und schweigend anwesend bleiben oder die Klärung der Situation vertagen. Gestärkt wird die pragmatische Präsenz natürlich durch die im Konzept enthaltenen praktischen Schritte. •• Grundsätzlich ist die Handlungsfähigkeit größer, wenn das Handeln der Erziehenden nicht von inneren emotionalen Zuständen oder äußeren Umständen kontrolliert, sondern von der eigenen Selbstkontrolle und dem reflektierten Überlegen bestimmt wird. Lemme und Körner (2018) nennen dies die internale Präsenz. Das Wissen um das Handeln aus der eigenen Sicherheit und damit weitgehend unabhängig vom Handeln oder den Reaktionen anderer ist ein starker Wirkfaktor. Erziehende können diese Selbstkontrolle verlieren, wenn sie von einem starken Gefühl beeinflusst sind, in einer Eskalationsdynamik verstrickt sind oder von einer Atmosphäre aus dem Kontext gesteuert werden. Insofern geht es um die emotionale Stabilisierung und Stärkung der Selbstführung der Erziehenden. •• Die systemische Präsenz beschreibt die gegenseitige Unterstützung von Eltern und Teams untereinander, Kooperationsmöglichkeiten mit anderen und Unterstützung durch andere (systemisch: Kontexterweiterung). Steinkellner und Ofner (2017) beschreiben »das Gefühl, dass die eigenen Anstrengungen von anderen unterstützt werden« (S. 53). Gerade in kritischen Situationen ist es hilfreich, um die Unterstützung seitens anderer zu wissen. Allein dieses Wissen ermöglicht uns ein klareres und eindeutigeres Auftreten. Erziehende, die in guter Abstimmung und in sichtbarem Austausch sind, werden als stärker erlebt und erleben sich untereinander auch

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intensiver verbunden. Dies wird dann in besonderen Situationen auch bewusst eingesetzt, sodass sie nicht allein, sondern gemeinsam auftreten. Einzelkämpfertum und Alleingänge wie auch Geheimhaltungen führen häufig zur Entwicklung von Konkurrenz und gegenseitiger Abwertung. Wenn Eltern im Streit miteinander sind und z. B. den jeweils anderen Elternteil vor den Kindern abwerten, führt dies in der Regel zu deutlich irritiertem Verhalten der Kinder beiden Elternteilen gegenüber. Und wenn Erziehende problematische Verhaltensmuster aus Scham oder Angst verschweigen – möglicherweise sogar voreinander und erst recht vor der Öffentlichkeit –, dann erleben sie in der Regel eine Ausweitung des kritischen Verhaltens. Wir kennen diese Muster sowohl aus Familien mit chronischen Erkrankungen wie auch in Zusammenhang mit Zwängen, Essverhalten oder auch Gewalt. Alle diese Verhaltensmuster benötigen das Verschweigen, um ihren Einfluss auf das Familienleben zu entwickeln. Werden diese öffentlich, dann verlieren sie ihre Macht, und andere Möglichkeiten haben eine Chance. Wachsame Sorge Mit der Beschreibung der Wachsamen Sorge (Omer u. von Schlippe, 2016; Omer, 2016) hat sich das Konzept der Neuen Autorität nicht nur in der Praxis, sondern auch theoretisch von einem Krisenmodell zu einem allgemeinen pädagogischen Konzept verändert. Die grundsätzliche Idee ist, dass Erziehungsverantwortliche bereits vor der Entwicklung von Schwierigkeiten in Wachsamkeit vorgehen, um die Wahrscheinlichkeit einer späteren Eskalation zu verringern oder bereits gut auf diese vorbereitet zu sein. Omer beschreibt dies als einen »flexiblen Vorgang« (Omer, 2016, S. 14) und meint damit ein dynamisches Oszillieren zwischen drei Graden von Aufmerksamkeit (siehe Abbildung 5):

Abbildung 5: Drei Grade der Aufmerksamkeit (Seefeldt u. Frey, 2018)

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Grundlagen

1. die offene Aufmerksamkeit mit einer grundsätzlichen Wachsamkeit, 2. die fokussierte Aufmerksamkeit, die bei aufkommenden Schwierigkeiten erhöht und bekannt gemacht wird, sowie 3. den Schutz, wenn es um konkretes Eingreifen und deutliche Hilfestellungen geht (einseitige Maßnahmen). Die offene Aufmerksamkeit

Die Wachsame Sorge relevanter Bezugspersonen ist einer der wichtigsten Schutzfaktoren bei Verhaltensauffälligkeiten. Sie unterstützt die Entwicklung der Selbstfürsorge beim Kind. Der Neurobiologe und Arzt Joachim Bauer postuliert, dass Kinder und Jugendliche während ihrer Entwicklung sowohl das Vorbild handelnder Erwachsener als auch die Spiegelung ihres eigenen Bildes, die sie von ihren Bezugspersonen erhalten, verinnerlichen. Deshalb ist es so wichtig, dass Erwachsene als authentische, spürbare und verantwortungsvoll handelnde Modelle zur Verfügung stehen. Viele Untersuchungen und das eigene Erleben legen nahe, dass Familien, die regelmäßig in Kontakt miteinander sind, alltägliche Treffpunkte haben und gemeinsam etwas unternehmen, in kritischen Zeiten mehr Ressourcen im Beziehungszusammenhalt finden als Familien, die untereinander eher isoliert sind. In stationären Einrichtungen der Jugendhilfe kann sich ein Team auf diese Weise schon bei Aufnahme eines Kindes oder Jugendlichen so organisieren, dass ein mögliches Vorgehen erkannt, ein Unterstützungsnetzwerk gebildet und dies alles auch den Beteiligten bekannt gemacht wird. Beispiele dazu sind im Kapitel zur Jugendhilfe zu lesen (siehe Kapitel 2.2). Die fokussierte Aufmerksamkeit

Sobald erste Änderungen, Entwicklungen oder sogar Schwierigkeiten auftauchen, Stimmungen sich ändern oder ein Erleben sich so verändert, dass Erziehende aufmerksam werden oder sogar in Sorge geraten, dann bezeichnet dies im Konzept der Wachsamen Sorge den Übergang zur zweiten Stufe. Kinder und Jugendliche werden direkt angesprochen oder besonders versorgt. Es werden also Maßnahmen der direkten Veränderung angestrebt, was einen Unterschied zum sonstigen Alltag ausmacht. Demnach erfüllt diese Fokussierung drei zentrale Anliegen: 1. Erziehende bekommen mit, wenn es Änderungen, neue Interessen oder Aktivitäten bzw. Entwicklungen gibt. 2. Erziehende behalten sich das Recht (und die Pflicht) vor, Einfluss und Anteil an der Entwicklung von Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiraum der Kinder zu nehmen.

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3. Erziehende können so ihren Einfluss leichter und schneller, gleichzeitig auch dynamischer verstärken, wenn es Warnzeichen für eine kritische Entwicklung gibt. Das Ziel dieser direkten Ansprachen und Vorgehensweisen ist die Rückkehr zu einer Beziehung, die wieder durch die Merkmale der ersten Stufe der Wachsamen Sorge geprägt ist. Eltern sind manchmal unsicher im Umgang mit Veränderungen im Verhalten ihrer Kinder, Pädagogen und Lehrerinnen warten nicht selten aus Zeitgründen länger mit ihrem Eingreifen, sodass an dieser Stelle kleinere Probleme sich auch zu größeren Krisen ausweiten können. Insofern empfiehlt es sich, empathisch und neugierig bei Veränderungen zu sein. Dies setzt eine gewisse Flexibilität voraus, die aufgrund der persönlichen Umstände nicht immer gegeben ist. Zu diesem Vorgehen gehört auch die entsprechend intensivierte Kontaktaufnahme zu den anderen an der Erziehung der Kinder und Jugendlichen beteiligten Personen. Dabei werden diese Absprachen bekannt gemacht. Eine frühzeitige Intensivierung der Kooperation schafft schnellere Bezüge und mehr Aufmerksamkeit. Außerdem bilden die Erwachsenen auf diese Art und Weise ein Bild von Geschlossenheit und Schutz, an dem sich das Kind bzw. der Jugendliche orientieren kann. Kleinere Ankündigungen, erhöhte Präsenz durch Besuche sowie Ansprache und Absprachen aller Beteiligten gehören entsprechend dazu. Schutz und einseitige Maßnahmen

Reichen die in der zweiten Stufe der Wachsamen Sorge vorgenommenen Interventionen nicht aus bzw. hat die Entwicklung eine kritische Phase erreicht, sodass Schutz bzw. ein intensiveres Vorgehen erforderlich ist, dann werden sogenannte einseitige Maßnahmen ergriffen, die dritte Stufe der Wachsamen Sorge. Diese einseitigen Maßnahmen sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht mehr mit Zustimmung des Kindes bzw. der direkten Absprache mit dem Jugendlichen durchgeführt werden. Die Erziehungsverantwortlichen entscheiden, dass sie besondere Verantwortung übernehmen und daher ihr Verhalten in Bezug auf die kritischen Situationen verändern müssen. Die Maßnahmen der zweiten Stufe entfallen dabei nicht, sondern werden durch die einseitigen Maßnahmen erweitert. Das wird im Vorgehen in der Regel durch eine »Ankündigung« markiert (mehr dazu siehe weiter unten in diesem Kapitel). Wachsame Sorge ist also eine Haltung, in der Erziehende (und letztlich auch andere Verantwortliche in ihren jeweiligen Kontexten) auf aktive, flexible und

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Grundlagen

respektvolle Weise Anteil am Leben ihrer Kinder nehmen. Sie balancieren quasi mit Achtsamkeit und Aufmerksamkeit sowie Vertrauen auf der einen Seite, der klaren Positionierung gegenüber kritischen Umständen sowie Offenheit, Transparenz und Verbindlichkeit auf der anderen Seite. Je besser diese Balance gelingt, desto stabiler und vertrauensvoller ist die gegenseitige Beziehung der Kinder und ihrer Eltern – unabhängig vom Alter der Kinder.

Werte und Haltung Das Konzept der Neuen Autorität ist seit Langem kein Konzept mehr allein für den erzieherischen Umgang in Familien. In den letzten zehn Jahren hat es sich zu einem Konzept entwickelt, das sich in nahezu allen pädagogischen und beraterisch-therapeutischen Bereichen etabliert hat. Gerade auch im Kontext von Führung hat die Haltung dieses Konzepts dazu angeregt, praktische Möglichkeiten zu entwickeln. Im Fokus steht dabei das Verständnis von Autorität an sich. Traditionelle versus Neue Autorität Zur Verdeutlichung hat Haim Omer die Neue Autorität mit einigen grundsätzlichen Aspekten von einer »traditionellen Autorität« abgegrenzt (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Traditionelle versus Neue Autorität (Steinkellner u. Ofner, 2014) Traditionelle Autorität

Neue Autorität

Furcht/Distanz

Präsenz/Beziehung

Kontrolle

Selbstkontrolle

Hierarchie

Netzwerk (Wir)

Vergeltungspflicht/Strafen

Eskalationsvorbeugung

Immunität vor Kritik

Transparenz

Dringlichkeit

Beharrlichkeit

Diese Aspekte werden in der Praxis thematisiert und reflektiert. Sowohl Eltern wie auch Pädagoginnen, Lehrern und Führungskräften wird vermittelt, dass ein Ausstieg aus Eskalationsprozessen eine klare Haltung benötigt. Diese Haltung ist zugleich auch Grundlage für die Vermittlungsarbeit der Trainerinnen und Coaches in Seminaren, Beratungssettings und in den Einrichtungen bei Inhouse-Veranstaltungen.

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Verantwortungsübernahme für die Beziehungs- oder Kooperationsgestaltung Die erziehende Person übernimmt in der Neuen Autorität die Verantwortung sowohl für die Beziehungsaufnahme als auch für die Beziehungsgestaltung, indem sie eine Rahmung und Orientierung ebenso anbietet wie Beiträge zu einer Verbesserung der Beziehung, wenn es kritische Situationen gegeben hat. Entsprechend der Bindungstheorie gelten zwei elterliche Funktionen als zentral für eine gesunde Entwicklung des Kindes und als Voraussetzung für eine stabile, sichere Bindung: Eltern bieten dem Kind einerseits eine verlässliche, sichere Basis, die ihm das Erforschen einer fremden Umgebung und die Entwicklung seiner Selbstständigkeit ermöglichen. Andererseits bieten sie ihm einen sicheren Hafen, wo das Kind Schutz, Trost und Zuspruch erfahren kann. Die Bindungstheorie betont die erzieherische Fürsorge, Sensibilität und Zuwendung. Erzieherische Präsenz erfordert insbesondere in der mittleren Kindheit und in der Adoleszenz auch Fähigkeiten wie Beständigkeit, Entschlossenheit, Aufsicht und Begleitung. Für viele Eltern ist es eine große Herausforderung, diese Haltung wieder einzunehmen, wenn aufgrund der Eskalationsprozesse andere Beziehungsmuster den Alltag bestimmen. Daher benennen Lemme und Körner (2018) den entsprechenden Haltungsund Handlungsaspekt zusätzlich mit dem Begriff »Entscheidung«. Die Entscheidung, sich trotz aller Widrigkeiten und möglicher zwischenzeitlicher Enttäuschungen beharrlich und hoffnungsvoll um Beziehungsverbesserung und entsprechende Kontextänderungen zu bemühen, bedeutet eine innere Kraft, die sich Eltern wie Pädagoginnen und andere Betroffene für ihre jeweilige Situation verdeutlichen müssen. Abbrüche in der Beziehung haben verschiedentlich zu weiteren, manchmal noch heftigeren Eskalationen geführt. Wo immer das schon passiert ist, bedarf es in der professionellen Begleitung auch therapeutischen und beraterischen Geschicks. Im Prozess der Beratung werden zur Ordnung, Ermutigung und zum Finden einer klaren »Entscheidung« unterschiedliche Strategien eingesetzt. Eine Methode, die sich als fester Bestandteil für viele Vorgehensweisen bewährt hat, ist die »3+1-Körbe-Methode« (Greene, 2001; Weinblatt, 2009), häufig auch nur »Körbe-Methode« genannt. Dabei wird anhand von ampelfarbigen Körben differenziert, welchen Verhaltensweisen umgehend und sofort begegnet werden sollte (roter Limit-Korb), welche möglicherweise noch aufzuschieben sind oder zumindest nicht vordringlich erscheinen (gelber Kompromiss-Korb) und welche als »schlechte Angewohnheiten« (wie z. B. Nasebohren) angesehen werden können, um die man sich aktuell nicht wirklich kümmern muss (grüner Akzep-

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tanz-Korb). In einem zusätzlichen Korb wird all das gesammelt, was so bleiben soll bzw. die Ressourcen und positiven Besonderheiten des Kindes sind (weißer Bewahrungs-Korb). Genauer wird dieses Vorgehen bei Omer und von Schlippe (2016) sowie Lemme und Körner (2018) beschrieben. Darüber hinaus arbeiten viele Kolleginnen mit hypnosystemischen oder kurzzeit- sowie lösungsorientierten Ansätzen. Überzeugung, Entschiedenheit und Sicherheit des Therapeuten oder Coaches haben einen großen Einfluss auf die Sicherheit und Entschiedenheit der Klientinnen. Präsenz und Wachsame Sorge in der Praxis In der Praxis der Neuen Autorität steht die Intensivierung der Qualität und der Quantität von Präsenz im Fokus. Während bei Schwierigkeiten in pädagogischen Kontexten nicht selten Distanzlösungen (wie Kontaktabbruch, Auszeit- oder Trainingsräume, Stille Treppe oder Stuhl, Zimmerarrest u. a. m.) gewählt werden, ist das Vorgehen im Konzept der Neuen Autorität von einer Intensivierung von Präsenz geprägt. Dabei heißt dies nicht automatisch, dass die Quantität der vor allem körperlichen Präsenz gesteigert wird (durch noch mehr Reden oder Gespräche), sondern dass vor allem die Qualität der Präsenz intensiviert wird. Dies meint den Ausstieg aus bisher aufrechterhaltenen Eskalationsprozessen und je nach Grad der Notwendigkeit mehr Schweigen, klare Angebote und auch deutliche Widerstandsbekundungen gegenüber ungewolltem Verhalten. Die Maßnahmen dazu sind z. B. die Ankündigung, Besuche, das Schweigende Gespräch, Sit-Ins oder die Präsenz an den Orten, wo dies notwendig erscheint (mehr dazu weiter unten in diesem Kapitel). Mittlerweile gibt es eine Reihe an Praxiserfahrungen, die in verschiedenen Publikationen veranschaulicht worden sind. Wird dies auf die Überlegungen der Wachsamen Sorge umgesetzt, so bedeutet es, dass in Familien wie auch in Institutionen die Zeitressource für gute Begegnungen erhöht wird und somit auch ein häufig früherer und tragfähigerer Einfluss auf Situationen möglich ist, der ohne wachsame Anwesenheit sonst nicht möglich gewesen wäre. Illusion der Kontrolle und die »tragische Sicht« Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist der Abschied von dem Wunsch, den anderen durch eigene Anstrengungen verändern zu wollen. Viele Eskalationsmuster entstehen vor dem Hintergrund, dass Eltern oder andere Erziehungsverantwortliche durch ihre Maßnahmen das Verhalten und die Einstellungen der Personen verändern möchten, deren Verhalten sie nicht mehr dulden.

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Das führt nicht selten zum Einsatz von erzieherischen Zwangs- und Machtmethoden, die wiederum seitens der Betroffenen mit Gegenwehr und Verweigerung beantwortet werden. Das eigene Verhalten am Verhalten des anderen auszurichten, erhöht auch die eigene emotionale Abhängigkeit vom anderen, da je nach Zustimmung oder Ablehnung des anderen sich die eigene Stimmungslage verändert. Mit der Akzeptanz der Illusion der Kontrolle entwickelt sich innerlich die Freiheit, wieder handeln zu können, da jede Person ihr eigenes Verhalten ihren inneren Überzeugungen entsprechend ausrichten kann, unabhängig vom Verhalten des anderen. Insofern fokussiert die Neue Autorität in besonderem Maße auf die Selbstkontrolle bzw. Selbstführung der jeweils handelnden Person. Dazu gehört auch die Akzeptanz einer »tragischen Sicht« (Omer, Alon u. von Schlippe, 2007). In dieser Haltung gehört das Leiden zum Leben dazu und muss ggf. mindestens eine Zeit lang ausgehalten werden. Für den Prozess bedeutet dies, dass der Coach für Neue Autorität sich mit Lösungs- und Heilsversprechen zurückhält, stattdessen auf bereits eingetretene sowie mögliche weitere Verbesserungen hinweist. Außerdem wird in dieser Haltung die Vergangenheit als nicht veränderbar dargestellt, somit der Fokus auf Gegenwart und Zukunft einer Beziehungsgestaltung gerichtet. Dies ist verbunden mit einem Verzicht auf Schuldzuweisungen und dem Wissen, dass schnelle und radikale Änderungen in der Regel instabil sind und nicht selten das Leiden sogar noch vergrößern. Die Kraft der Veränderung dabei ergibt sich aus der Beharrlichkeit und Verbindlichkeit. Humanistische Grundannahme Menschen handeln aus ihren Bedürfnissen heraus und versuchen, diese zu befriedigen. Insofern ist ihr Handeln primär nicht gegen jemanden gerichtet. Es ist sinnvoll in dem Kontext, in dem die betroffene Person handelt. Das Verhalten sagt also mehr über das Bedürfnis von jemandem aus als über die Person und die jeweilige Persönlichkeit selbst. In der Sprache drückt sich dies so aus, dass Zuschreibungen vermieden werden und über das jeweilige beobachtbare Verhalten gesprochen wird. Insofern wird unterschieden zwischen der Person, die durch die gewaltfreien Maßnahmen wieder erreicht werden soll, dem Verhalten, welches eine Positionierung der Erziehungsverantwortlichen benötigt, und dem Bedürfnis, aus dem heraus die betroffene Person handelt. Diese von Lemme und Körner (2018) beschriebene Grundannahme erinnert sehr an die Arbeit Virginia Satirs, einer Pionierin der systemischen Familientherapie (vgl. Kapitel 1.2 »Systemische Grundlagen«).

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Deeskalation, Selbstkontrolle und Eskalationsvorbeugung Die Handlungsfähigkeit von Menschen erhöht sich deutlich, wenn sie in der Lage sind, ihre eigenen Handlungen zu reflektieren und zu überdenken. Daher geht es in der Arbeit mit Eltern oder auch anderen Erziehenden (analog in anderen Kontexten) darum, Selbstkontrolle und Selbstführung (Lemme u. Körner, 2018) zu entwickeln bzw. wiederherzustellen. Zudem ermöglicht Selbstkontrolle dem Gegenüber, ebenfalls in eine emotionale Beruhigung zu kommen, die dann wieder Begegnung möglich machen kann. Insofern fokussiert die Arbeit mit Eltern und anderen Erziehenden darauf, Strategien zu entwickeln, um aus eigener persönlicher Betroffenheit, aus Eskalationskreisläufen (symmetrisch wie komplementär) oder dem Einfluss von kontextbedingten Zusammenhängen auszusteigen. Zunächst ist sicher zu beachten, dass in einer eskalierten Situation im günstigsten Fall Deeskalation möglich ist, allerdings wohl keine sofortige Klärung. Insofern gilt zunächst, dass alle Beteiligten geschützt und entsprechende Vorgehensweisen überlegt werden. Hilfreich dafür sind folgende Ideen: •• Verzicht auf jede Art von Predigen, Drohen und Debattieren. Hilfreich sind kurze, einfache und klare, aber vorwurfsfreie Sätze. •• Die eigenen »Knöpfe« (Auslöser) kennenlernen, die starke Emotionen hervorrufen und zu quasi automatischen schnellen Handlungen führen. Dazu dann Strategien der Beruhigung und Entspannung kennenlernen, Tempo verzögern, Stimme beruhigen, Atmung und Achtsamkeit einkehren lassen. Oft spielen hier Vorwurfshaltungen gegeneinander oder sich selbst gegenüber sowie überhöhte Erwartungen oder regressive Phänomene (Eltern fühlen sich plötzlich selbst wieder klein und bedürftig) eine Rolle. Entsprechend braucht es Strategien, die den Betroffenen helfen, sich wieder selbst zu organisieren und wieder in einen Zustand erwachsener Souveränität zu kommen. •• Provokationen und Beschimpfungen seitens des Kindes oder anderen gewohnten Auslösern der Eskalation mit einem inneren Mantra (z. B. »Ich bleibe bei mir und lasse mich nicht in Eskalationen hineinziehen!« oder »Ich muss nicht gewinnen, sondern beharrlich sein!«) widerstehen. Hilfreich ist beruhigendes Schweigen bei bleibender Anwesenheit und Beobachtung dessen, was geschieht. •• Prinzip der verzögerten Reaktion (»Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist«, Omer u. von Schlippe, 2016) statt Beschimpfungen oder Drohungen auszusprechen. Das heißt, in der akuten Situation reagieren wir nur kurz, ohne

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die Situation schon lösen zu wollen: »Ich bin ärgerlich! Ich werde mich beruhigen, und dann komme ich darauf zurück!« So wird die Situation unterbrochen, zugleich wird eine weitere Eskalation vermieden. Nach einer Beruhigungszeit ist eine gute Lösung viel wahrscheinlicher. •• Eine erste Entspannung entsteht auch schon in dem Moment, in dem eine Öffentlichkeit in einer eskalierenden Situation hergestellt wird. Gewalt benötigt die Geheimhaltung. Sobald diese durchbrochen werden kann, ist ein Zugriff und damit Einflussnahme möglich.

Transparenz und Öffentlichkeit Wir verstehen eine transparente Haltung und die Einbeziehung der Öffentlichkeit als entscheidende Grundhaltungen bei der Arbeit mit Klienten. Dabei ist grundsätzlich eine wohlwollende Haltung gemeint, die Entwicklung fördern will und die Schutz- und Persönlichkeitsrechte aller Beteiligten beachtet. Der Umgang mit Veröffentlichung ist in der Regel mit Gefühlen von Angst, Scham und Schuld verbunden, die gemeinsam besprochen werden müssen, damit sie kleiner werden können. Dabei ist es immer wichtig, die Würde aller Beteiligten zu beachten. Lemme und Körner (2018) differenzieren drei Aufgaben dieses Aspektes: 1. Öffentlichkeit vergrößert den Schutz Wenn Beobachtungen von Störungen den betroffenen Personen mitgeteilt werden und diese auch wissen, dass das gesamte Team darüber Bescheid weiß, erhöht sich in der Regel die Wachsamkeit aller Beteiligten. Gerade wenn es um Kontrollaufträge geht, ist dies ein notwendiger Schritt, damit die betroffenen Eltern die Möglichkeit haben, ihr Verhalten selbst zu beobachten und zu reflektieren, gegebenenfalls zu verändern. Heimliche Beobachtungen und Kontrollüberprüfungen vergrößern das Misstrauen und reduzieren meist die Kooperationsbereitschaft. Dies bedeutet praktisch: •• Es wird das beobachtete Verhalten benannt; •• klare Übernahme der Verantwortung zur Klärung der Umstände; •• Mitteilung erster Schritte, wenn möglich. Es geht hier stets um eine partielle Öffentlichkeit. Damit ist eine Öffentlichkeit gemeint, die letztlich betroffen und vor allem auch wohlwollend hinsichtlich einer Verbesserung ist. Es soll ausgeschlossen werden, dass eine Bloßstellung oder ein Anprangern stattfindet.

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2. Transparenz ermöglicht die Überprüfbarkeit des weiteren Vorgehens der Verantwortlichen und stärkt die Verbindlichkeit und die Zuverlässigkeit Mit der Aufhebung von Tabus und »geheimer Absprachen« des Helfernetzwerkes können die Beteiligten genauer wahrnehmen, welche Schritte geplant sind und welche Gedanken und Eindrücke dieses über sie hat. Sie können damit zum einen ihr eigenes Verhalten entsprechend orientieren und gegebenenfalls ändern, zum anderen können sie die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der Helferinnen überprüfen. Dies erhöht in der Regel die Kooperationsbereitschaft und eine grundsätzlich positive Entwicklung. Dafür förderlich sind z. B. folgende, bewährte Ideen: •• Öffnung von Teambesprechungen mit Einladung an die Betroffenen. Auch Ton- bzw. Videoaufnahmen oder Protokollaufzeichnungen sind möglich. •• Übergabesituationen und spontane Besprechungen öffnen. •• Einsatz eines »Reflecting Teams« als Möglichkeit der Reflexion. Dabei sprechen die Helferinnen in Anwesenheit der Betroffenen untereinander über ihre Eindrücke, Beobachtungen und Überlegungen, während die Eltern oder die Kinder zunächst zuhören. Anschließend werden sie ihrerseits nach Eindrücken befragt. •• Einsatz von Video zur Rückmeldung von Kontaktaufnahme und Beziehungsverhalten. •• Gruppenbesprechungen, in denen Sondererlaubnisse oder gegenseitige Unterstützungsideen unter den Bewohnerinnen bekannt gemacht und gegebenenfalls auch diskutiert werden. •• Offene Klassenräume in Schulen. So sagte z. B. ein Vater nach einer offenen Teambesprechung: »Es ist ja kaum vorstellbar, wie viele Gedanken die sich über uns gemacht haben …« Auch Mitarbeiter in Teams erleben diese Art der Fallbesprechung oft als äußerst hilfreich. 3. Transparenz ermöglicht die Gestaltung einer öffentlichen Meinung Soziale Regeln und moralische Normen entwickeln sich in der Regel im Sinne eines Kulturgeschehens. Wenn die Mehrheit eines Systems, einer Gesellschaft, bestimmten Normen zustimmt, sie anerkennt, dann wird die Person, die sich nicht an diese Normen hält, quasi durch das Verhalten anderer auf die Überschreitung dieser Normen und Regeln hingewiesen. Je nachdem, ob diese Person in ihrem Vorgehen nicht anders konnte oder nicht anders wollte, wird sie auf die Reaktion der Öffentlichkeit ihrerseits wieder reagieren, orientiert sich allerdings in jedem Fall an diesem geltenden Wert, der moralischen Norm. Das

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Verhalten bleibt dadurch nicht beliebig. So gesehen kann ein Team durch die Wiederholung der eigenen Perspektiven sowie die transparenten Absprachen im Helfersystem die Einschätzungen und Verhaltensweisen der Eltern in Bezug auf die Versorgung ihrer Kinder günstig beeinflussen. Es wird in diesem Vorgehen deutlich, dass ein solcher Prozess ein permanenter ist, also wiederholte Selbstreflexion, Abstimmung und Mitteilung benötigt. Gleichzeitig ist dies im Sinne des Prinzips der Wachsamen Sorge der Umgang mit der Entwicklung eines sozialen Miteinanders, welches weitgehend von allen akzeptiert werden kann und somit schon auf der ersten Stufe der Wachsamen Sorge die Möglichkeit schafft, die Wahrscheinlichkeit von Eskalation und dissozialem Verhalten zu verringern.

Unterstützung und Netzwerke, Bündnisse Ein zentraler Bestandteil der Präsenz ist die Botschaft: »Ich bleibe nicht allein!« Wenn wir uns allein oder auch allein gelassen erleben, schwindet ein großer Teil unserer Wirksamkeit. Erleben wir uns als Teil eines Teams, verstärkt dies unsere Position und stärkt den Anteil selbsterlebter Autorität (Omer u. von Schlippe, 2016). Darüber hinaus gilt es auch als ein Grundbedürfnis, sich zugehörig zu einer Gruppe, einem Team oder einem Netzwerk zu erleben. •• Zwang und Kontrolle durch Kooperationsangebote und Transparenz überwinden: Lemme und Körner (2018; auch Lemme, 2017) sehen im Konzept der Neuen Autorität auch die betroffenen Personen selbst als Unterstützerinnen für einen besseren Umgang miteinander. Dies erscheint in einem Zwangskontext zunächst problematisch, wenn es um Kontrolle geht. Dementsprechend ist es Aufgabe der Verantwortlichen, offensiv Kooperationsbeziehungen anzubieten und anzustreben, d. h., Bündnisse zu schließen. •• Wir-Gefühl im Team stärken und als Modell wirken: Unterstützung wird gerade in der Pädagogik nicht selten gleichgesetzt mit der Idee, Hilfe zu benötigen. Um Unterstützung zu bitten, wird unter Erziehungsverantwortlichen allerdings häufig mit dem Eingeständnis von Schwäche verbunden. Die Haltung dahinter scheint geprägt von der Idee, dass erfolgreiches Handeln automatisch mit isoliertem Handeln und Alleingängen verbunden sei (»Erfolgreich bin ich nur, wenn ich es allein schaffe«). Wenn wir auf erfolgreiche Handlungen schauen oder Umfragen gestalten, was zu einem Erfolg geführt hat, so wird demgegenüber in der Regel auf das Team, die gegenseitige Unterstützung, das Miteinander verwiesen. Insofern gilt es im Team einer Institution und unter Eltern ein gutes Miteinander mit kla-

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ren Absprachen zu ermöglichen. Dazu sind Gesprächs- und Austauschräume nötig, in denen die persönliche Betroffenheit, die eigene innere Ambivalenz und gegebenenfalls auch selbstkritisches Verhalten geschützt und ohne Bedenken geäußert werden können. Entsteht ein Misstrauen oder eine Unsicherheit untereinander, dann wird es zu Störungen auch im alltäglichen Arbeitsablauf kommen. •• Unterstützung anregen: Ein wesentlicher Baustein ist der sukzessive Aufbau eines Unterstützersystems für die betroffene Familie. Dabei können auch betroffene Eltern untereinander eine große Hilfe sein, da sie ähnliche Erfahrungshorizonte haben und nicht selten Empfehlungen und Ratschläge von ihnen eher angenommen werden als von professioneller Seite. Es ist also immer hilfreich, Gruppenprozesse anzuregen. Dies wird ermöglicht durch regelmäßige Elternrunden, gemeinsame Unternehmungen und angebotene Gruppengespräche. Für die Organisation und Aufgabenverteilung sind bei Eltern in diesem Zusammenhang Unterstützertreffen hilfreich, damit alle Beteiligten wissen, was und wie es zu tun ist.

Protest/Gegenüber/Widerstand Die Praxis des gewaltfreien Widerstands und die jeweiligen zu treffenden Maßnahmen sind aus unserer Sicht stark kontextabhängig. Die hier beschriebenen Maßnahmen kommen aus dem Kontext des Elterncoachings. Vieles davon hat auch in jeweils veränderter Form Einzug in schulische Zusammenhänge gefunden. Auch im Kontext von Führung (in Einrichtungen oder Unternehmen) ist es gelegentlich notwendig, Widerstand zu zeigen. Das Grundprinzip des gewaltfreien Widerstands ist für die Pädagogen oder Coaches der flexible Umgang mit ihrer Präsenz gegenüber den Eltern und deren diesbezügliche Anleitung im Umgang mit ihren Kindern (siehe Wachsame Sorge). Das Ziel der Maßnahmen ist einerseits die Darstellung eines klaren Widerstands kritischem Verhalten gegenüber, bei andererseits gleichzeitigen Angeboten an Kooperation und Verbesserung sowie größtmöglicher Transparenz im Umgang damit. In der Regel bedeutet dies einen Prozess der Beharrlichkeit und Wiederholung. Der Widerstand beginnt schon auf der ersten Stufe der Wachsamen Sorge. Daher haben Lemme und Körner (2018; auch Lemme, 2017) den Begriff »Gegenüber« als Ausdruck einer notwendigen Haltung eingeführt. Ein Gegenüber sein

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bedeutet, ein Modell und somit Orientierung für Entwicklung zu sein. In diesem Sinne ist es erforderlich, dass Pädagoginnen frühzeitig ihre Beobachtungen den Eltern als Reflexionsfläche anbieten, sodass diese eine Orientierung in der eigenen Entwicklung eines angemessenen Gegenübers für ihre Kinder haben. Dies zeigt sich sowohl durch Zustimmung als auch durch Kritik in Sprache, Mimik und Gestik. Lemme und Körner weisen ebenfalls darauf hin, dass dieser Prozess auf allen betroffenen Ebenen gilt. So sind Eltern im günstigsten Fall ein Gegenüber für ihre Kinder, die Coaches und Pädagoginnen wiederum ein Modell im Gegenüber für die Eltern, die Leitungskräfte wiederum für ihre Mitarbeitenden und Kolleginnen usw. In einer Kurzform stellen wir hier verschiedene praktische Möglichkeiten des gewaltfreien Widerstands vor. In der Literatur (Omer u. von Schlippe, 2016; Lemme u. Körner, 2016a, 2018; Lemme, 2017) finden sich diese und weitere Möglichkeiten, die zumeist für Eltern oder Pädagoginnen in Bezug auf ihre Kinder beschrieben werden. Die Übertragung auf den Kontext Schule findet sich bei Steinkellner und Ofner (2017) sowie Lemme und Körner (2016a). Die Ankündigung ist im Kern die formulierte Entscheidung für die weiteren Schritte der Erziehungsverantwortlichen sowie ein deeskalierendes und ordnendes Vorgehen. Im Ursprung ist dies ein Brief, der zuvor gemeinsam verfasst worden ist. Dieser Brief wird von den Erziehungsverantwortlichen in der Regel stehend vorgelesen und anschließend überreicht. In dieser Ankündigung werden die Wahrnehmungen beschrieben, die Motivation des eigenen Handelns und der guten Absicht betont und die daraus folgenden nächsten Schritte bekannt gegeben. Sie ist frei von Anklage und Forderung, sondern beschreibt transparent die Reflexion und das Vorgehen der Verantwortlichen. In der Dokumentation werden die weiteren Beobachtungen niedergeschrieben: zum Ersten das kritische Verhalten, wenn es auftaucht, zum Zweiten die Situationen, in denen das kritische Verhalten erwartet worden ist, aber nicht auftauchte, und zum Dritten alle prosozialen Verhaltensweisen. Alle Personen im Helfersystem erhalten regelmäßig diese Dokumentation, somit auch die Betroffenen selbst. Mit dieser Maßnahme soll neben der Transparenz und der beharrlichen Rückmeldung auch die wohlwollende Beobachtung verbunden werden, indem das positive Verhalten ebenfalls fokussiert wird. Die Dokumentation sollte, bevor sie eingesetzt wird, angekündigt werden. Im Mittelpunkt der Praxis im Konzept der Neuen Autorität steht die Präsenz. Diese gilt es in der Logik des Konzepts zu erhöhen, wenn Schutzmaßnahmen oder intensivere Vorgehensweisen notwendig werden. So können Pädagoginnen bei Beobachtungen von ungünstigen Entwicklungen häufigere Besuche bei den Eltern durchführen. Sie kommen zu den normalen Absprachezeiten häu-

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figer vorbei, fragen nach, sind aufmerksam. In jedem Besuch sollte der wohlwollende Hinweis oder auch ein sichtbares Zeichen von Kooperationsbereitschaft mit einem entsprechenden Angebot enthalten sein. Das Ausrufezeichen verstärkt die Sorge um die Entwicklung der Situation, indem die Erziehungsverantwortlichen zu den ihnen Anvertrauten gehen und diese Sorge in einem kurzen Satz ausdrücken. Sie bleiben stehen und schweigen vor und nach dem Satz eine Weile, um die Bedeutung der Sorge oder auch des Protests zu verstärken. Beim Schweigenden Gespräch kommen Erziehungsverantwortliche ebenfalls unangekündigt zu den ihnen Anvertrauten und setzen sich hin. Sie gestehen ihre Grenzen des Handelns ein (»Wir würden gern die Situation verändern, doch allein schaffen wir das nicht!«) und appellieren an die Kooperationsbereitschaft (»Wir fragen dich, was deine Vorschläge zur Änderung der Situation sind!«). Danach schweigen die Pädagogen bis zu drei Minuten (»Wir schweigen jetzt und laden dich ein, Vorschläge zur Änderung der Situation zu machen!«). Am Ende verabschieden sie sich und setzen noch einen Gedanken der Unterstützung hinzu (»Jetzt haben wir noch keine Lösung gefunden, aber wir werden alles in unseren Möglichkeiten Stehende weiter tun!«). Bei einem Sit-In ist das Schweigen länger, wir empfehlen mindestens zehn Minuten. Ein Sit-In wird angekündigt (siehe Ankündigung), allerdings ohne konkrete Zeit- und Ortsangabe. Zwei oder mehr Erziehungsverantwortliche setzen sich zu den Anvertrauten und eröffnen die Situation in ähnlicher Weise wie schon vorstehend für das Schweigende Gespräch beschrieben. Dann schweigen sie so lange, wie sie sich es vorgenommen haben. Gute Vorschläge oder Eskalationsgefahr führen zu einem vorzeitigen Abbruch des Sit-Ins. Ansonsten wird ähnlich wie im Schweigenden Gespräch zum Abschluss weiterhin die Unterstützung angeboten. In der Literatur finden sich als weitere mögliche Maßnahmen auch noch das Aufsuchen und Nachgehen (Kinder/Jugendliche werden dort aufgesucht, wo sie vermutet werden) und die Telefonkette (Unterstützerinnen rufen die gesammelten Nummern aus dem Kreis der betroffenen Kinder und Jugendliche an). Im präsenten Ausschluss wiederum wird beispielsweise ein Schüler aus Schutzgründen vorübergehend von der Schule suspendiert, der Kontakt und der Austausch brechen allerdings nicht ab, sondern werden intensiviert. Außerdem findet gelegentlich auch der »Dienstleistungsstreik« bei Eltern Anwendung, wenn diese vorübergehend bestimmte Vergünstigungen ihren Kindern gegenüber unterlassen.

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Gesten der Beziehung und Wiedergutmachung Unter Streit und Eskalation geraten in der Regel die guten Zeiten im Miteinander in Vergessenheit, und die Beziehung wird stark belastet. Daher benötigt diese eine Stabilisierung. Außerdem wird damit die Absicht fokussiert, nicht in einem Machtkampf siegen, sondern die Beziehung wieder verbessern und stärken zu wollen. Gesten der Beziehung beachten vor allem, dass eine wohlwollende Aufmerksamkeit im Handeln sichtbar wird. Möglichkeiten sind z. B. das zwischenzeitliche Angebot an Zeit, ein gemeinsames Hinsetzen sowie das Angebot des Zuhörens. Auch zwischenzeitliche Spontanbesuche und die Rückfrage, ob alles gut ist, helfen für die Vermittlung von Interesse und Sicherheit. Beziehungsgesten sind unabhängig vom Verhalten oder den Forderungen der betroffenen Personen und werden nach eigener Entscheidung als Geste der Zuwendung verstanden. Insofern sind keine Erwartungen an das Zeigen dieser Geste geknüpft. Beziehungsgesten stärken den Beziehungsfaden. Dies ist dann eine gute und wichtige Grundlage, wenn die Situation sich ungünstig entwickelt hat, und ermöglicht auch dann den Dialog, wenn es richtig schwierig ist oder gar Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen. Beziehungsgesten unterbrechen die Logik von Eskalationsmustern, da es schwieriger ist, sich gegen jemanden zu wenden, der es zugleich offensichtlich wohlwollend mit einem meint. Auf diese Weise werden die positiven Stimmen der Kooperation angeregt. Beziehungs­ gesten können auch Ausdruck einer Entschuldigung für das eigene Fehlverhalten darstellen. In kritischen Phasen bzw. in eskalierenden Prozessen leisten auch Eltern, Lehrer oder Vorgesetze eigene Beiträge zur Eskalation (das ist nur allzu menschlich). Wir alle machen Fehler, und dann ist es gut, wenn wir uns durch Beziehungsgesten um Deeskalation bemühen. Wenn Verletzungen des Miteinanders vorgekommen sind und dadurch womöglich sogar persönlicher oder sozialer Schaden entstanden ist, besteht die Notwendigkeit einer Wiedergutmachung. Bei der Wiedergutmachung werden zwei Aspekte besonders fokussiert: 1. Gemeinsam wird mit der betroffenen Person ein Bericht bzw. ein Brief über das verfasst, was die Person getan hat und worin das Verhalten bedauert wird. Das bedeutet die Übernahme der Verantwortung und ist Voraussetzung für den zweiten Schritt, den der sichtbaren Geste. Wenn dieser Prozess noch mit sehr viel Gegenwehr behaftet ist, dann eignen sich das Schweigende Gespräch oder das Sit-In für ein nachhaltiges Einsetzen. Auch die Erweiterung des Netzwerkes ist in der Regel sehr hilfreich. Das kann auch ein längerer und beharrlicher Prozess werden.

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2. Als sichtbare Wiedergutmachung wird eine Geste des guten Willens, der Entschuldigung bei den Geschädigten durchgeführt. Es soll etwas Konkretes sein, damit für alle am Ende ein gutes Gefühl spürbar bleibt. Dabei ist wichtig, die Fähigkeiten und Talente der Beteiligten zu nutzen. Vielfach sind Vorschläge hilfreich, wobei es aus unserer Sicht wichtig ist, darauf zu achten, dass die Vorschläge nicht zu schnell und vor allem ohne Einsicht angenommen werden. Omer und von Schlippe (2016) sehen in Wiedergutmachungen eine wertvolle Alternative zu Strafen: »Im Gegensatz zur Bestrafung, deren Ziel Vergeltung und Abschreckung ist, besteht das Ziel der Wiedergutmachung darin, die Verinnerlichung der Wertvorstellung gegen Gewalt zu fördern« (Omer u. von Schlippe, 2010, S. 268). Ein wichtiges Ziel der Wiedergutmachung ist immer, dass derjenige, welcher Schaden angerichtet hat, wieder gut Mitglied der Gemeinschaft (Familie, Schulklasse, Wohngruppe, Team oder Belegschaft) werden kann.

Nachgedanken Das Konzept der Neuen Autorität stellt teilweise eine Umkehr der gängigen pädagogischen Haltungen und Handlungen dar. Es verabschiedet sich von Maßnahmen, die Druck ausüben, viele (und lange) auf Einsicht abzielende Gespräche beinhalten oder mit Sanktionen arbeiten. Notwendige Schutzmaßnahmen oder punktuell erforderliche Trennungen werden damit nicht ersetzt, sind aber nach unseren Erfahrungen deutlich weniger notwendig. Im Kern geht es um die Klarheit und Transparenz im Vorgehen bei gleichzeitiger Würdigung aller Beteiligten. Wir haben in unserer Praxisarbeit immer wieder erlebt, dass auch langwierige und verfahrene Hilfeprozesse auf diese Art und Weise noch änderbar wurden, Eltern sich so wieder um ihre Kinder kümmern und Familien weiter zusammenleben konnten. Ähnlich sind unsere Erfahrungen auch mit »schwierigen« Fällen im schulischen Kontext. Insgesamt sind in diesem Kapitel die grundlegenden Haltungen und Handlungen des Konzepts der Neuen Autorität beschrieben worden. Dabei hat die Praxis immer wieder neue Entwicklungen hervorgebracht, die auf der Basis der genannten Grundlagen entstanden sind. Von der gewachsenen Vielfalt an Erfahrungen und Anwendungsmöglichkeiten wird in diesem Buch immer wieder die Rede sein.

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 Omer, H., Lebowitz, E. (2012). Ängstliche Kinder unterstützen. Die elterliche Ankerfunktion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2002/2017). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. »Elterliche Präsenz« als systemisches Konzept (11. Aufl.). Göttingen: Vanden­hoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2004/2016). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schönangerer, W., Steinkellner, H. (Hrsg.) (2017). Neue Autorität macht Schule. Horn: Berger & Söhne. Seefeldt, C. (2017). Anders, als man denkt … Ein systemischer Blick auf lernende Organisationen. Journal für Schulentwicklung, 21 (1), 24–26.

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Grundlagen

Seefeldt, C., Frey, R. (2018). Stärke statt Macht. In R. Schwyter, M. Spillmann (Hrsg.), Grundhaltung der Kooperation (S. 90–97). Aarau/Bern: Schiess. Steinkellner, H., Ofner, S. (2011). Stärke statt Ohnmacht – die 7 Säulen der Neuen Autorität. In U. E. Gamauf-Eberhardt, C. Reumann (Hrsg.), Meine Schule gegen Gewalt. Für Pädagoginnen zur Anwendung in der Schule (S. 54–81). Schlaining: Österreichisches Friedenszentrum. Steinkellner, H., Ofner, S. (2014). Stärke statt Macht. Skriptum für die Trainingsseminare. Linz: PH. Steinkellner, H., Ofner, S. (2017). Die sieben Säulen der »Neuen Autorität«. In W. Schönangerer, H. Steinkellner (Hrsg.), Neue Autorität macht Schule (S. 47–66). Horn: Berger & Söhne. Verhaeghe, P. (2016). Autorität und Verantwortung. München. Kunstmann. Weinblatt, U. (2009). Skriptum für Trainingsseminar. Zürich: institut für systemische impulse.

1.2 Systemische Grundlagen Tobias von der Recke

Alle Herausgeber dieses Bandes haben eine fundierte systemische Ausbildung absolviert und teilen die Meinung, dass, allemal für professionelle Pädagoginnen, Therapeuten und Coaches, systemische Grundlagen eine gute und wichtige Basis sind, um sich den Gedanken der Neuen Autorität zuzuwenden und mit diesem Konzept zu arbeiten. So haben wir entschieden, den systemischen Grundlagen in diesem Buch einen Platz zu geben und die Leserinnen einzuladen, sich ausführlich mit der systemischen Haltung, der systemischen Theorie und ihrer Methodik zu beschäftigen. Gleichzeitig wird immer wieder diskutiert, ob es sich denn bei Haim Omers Konzept »Stärke statt Macht« um ein systemisches Konzept handelt. Wir Herausgeber sind davon sehr überzeugt, weshalb es sinnvoll ist, dieses Konzept vor dem Hintergrund einiger systemischer Zugänge zu diskutieren und zu sehen, wie es in der mittlerweile sehr gewachsenen und bunten systemischen Szene verankert werden kann. Namentlich die Pioniere der erfahrungsorientierten, der strukturellen, der strategischen, der lösungsorientierten und der narrativen Ansätze (Salvador Minuchin, Carl Whitaker, Virginia Satir, Paul Watzlawick, Jay Haley, Steve de Shazer und Michael White) sollen dabei zu Wort kommen. Erwähnen möchte ich an dieser Stelle auch drei bedeutende deutsche Vertreter der systemischen Therapie: Helm Stierlin, Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe. Schweitzer und von Schlippe haben neben vielen anderen Veröffentlichungen das wichtige »Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung« (2013) geschrieben, und Letzterer war es, der maßgeblich für die Bekanntheit Haim Omers im deutschsprachigen Raum verantwortlich ist. 2012 habe ich in Wien in einem Vortrag Haim Omer in die von mir für diesen Zweck erfundene »Hall of Fame« der systemischen Therapie aufgenommen und die oben genannten Pioniere bei dieser Zeremonie zu Wort kommen lassen, deren Kommentare zu Haim Omer ich an den entsprechenden Stellen gern zitieren will; weil sie alle schon gestorben sind, habe ich sie ihnen in den Mund gelegt und glaube, sie hätten es auch so gesagt.

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Grundlagen

Gleichzeitig formuliere ich auch kritische Stimmen, wenn sich die berechtigte Frage ergibt, ob Haim Omer »unsystemisch« denkt und handelt.

Zur Geschichte, zu den Grundlagen und den wichtigsten Schu­len der systemischen Familientherapie und wie sich Haim Omers Konzept im Panorama systemischer Ansätze einordnen lässt Wenn man sich mit der Geschichte der systemischen Familientherapie beschäftigt, stellt man bald fest, dass diese Geschichte selbst schon Züge systemischer Theorie aufweist: Sie hat keinen absoluten Beginn, sie hat nicht einen Gründer oder Erfinder und sie ist alles andere als abgeschlossen. Es scheint eher so, dass etwa ab den 1920er Jahren in der wissenschaftlichen Welt ein kreativer Raum entstanden und gewachsen ist, in dem sich verschiedenste Erfahrungen, Ideen und ihre Vertreter in immer neuen Kombinationen begegneten, sich gegenseitig bereicherten und schließlich eine Art »Revolution« wissenschaftlichen und therapeutischen Denkens und Handelns ermöglichten. Diese Revolution ist bis heute in Bewegung, ihre Ergebnisse sind weit verzweigt und eine alles umfassende systemische Theorie ist bis heute nicht entstanden. Vielleicht ist aber gerade diese Tatsache wesentliches Merkmal des »Systemischen«, dass sie eine ganze Fülle neuer Gedanken und Erfahrungen ermöglicht, ohne allzu sehr dem traditionellen Anspruch verpflichtet zu sein, eine abgeschlossene, für immer gültige Theorie zu schaffen (obwohl es immer wieder Versuche gegeben hat und gibt). Schon dies ist für Anfänger eine neue, ungewohnte Erfahrung. Groß geworden im mechanistischen Weltbild Isaac Newtons und Descartes’, haben wir die Grundzüge linearen Denkens stark verinnerlicht. Wir ertappen uns immer wieder dabei, Probleme auf ihre letzte Ursache hin zu untersuchen und eine Wirklichkeit zu konstruieren, in der die Dinge in klaren Zusammenhängen erklär- und verstehbar werden (aus a folgt b, aus b folgt c usw.; weil die Mutter dies erlebt hat, kann sie heute nur so und so handeln; das Kind ist aggressiv, weil der Vater …). In nahezu allen wissenschaftlichen Gebieten herrschte die Mechanik als erkenntnistheoretische Grundlage, gedacht wurde in UrsacheWirkungs-Kategorien, in Alles-oder-Nichts-Gesetzen. Systemische Theorie, so facettenreich sie ist, liegt die Erfahrung zugrunde, dass naturwissenschaftliche wie gesellschaftliche, chemische, physikalische, aber auch psychiatrische und psychologische Phänomene nicht wirklich in rein linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu erklären und zu verstehen sind. Vielmehr stehen zahlreiche Phänomene in regelkreisartigen Zusammenhängen und werden von mehr oder weniger komplexen Rückkoppelungsprozessen

Systemische Grundlagen

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beeinflusst. Das heißt, die Ursache wird zur Wirkung, und die Wirkung wird zur Ursache, was man einleitend durch folgendes einfaches Beispiel verdeutlichen kann: »Am Anfang stand die einfache Beobachtung, dass etwa die Fuchs- und Hasenpopulation in gegenseitigem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Gibt es in einem Jahr viele Hasen, so wird es im folgenden viele Füchse geben, die sich in der Zwischenzeit gut von den Hasen ernähren können. Wenn nun die zahlreichen Füchse die Hasen dezimieren, wird auch bald die Anzahl der Füchse aus Mangel an Nahrung abnehmen, und der Zirkel kann von vorne beginnen. Dies ist natürlich ein sehr einfaches Modell mit lediglich zwei Variablen« (Weiss, 1988, S. 20 f.), es veranschaulicht aber den zirkulären Zusammenhang sehr anschaulich. Das heißt nicht, dass Ursache und Wirkung in Beliebigkeit verschwimmen. So würde Haim Omer anmerken, dass fehlende elterliche Präsenz natürlich eine Wirkung hat, wenn wir auch im Einzelfall schauen müssten, welche. Die Wurzeln systemischen Denkens gehen zurück in die Mitte des 20. Jahrhunderts, als zunächst in der Mathematik und Physik Zweifel an der Allgemeingültigkeit des mechanistischen Weltbildes angemeldet wurden. Albert Einsteins Relativitätstheorie und Werner Heisenbergs Aussagen zur Unschärferelation sind berühmte Ergebnisse dieser Periode in der Physik. Heisenberg konnte zeigen, dass die Objektivität des Beobachters ihre Grenzen hat, da z. B. für die Beobachtung kleinster Teilchen wie Atome oder Elektronen Energieaufwand erforderlich ist, der seinerseits das Verhalten der zu beobachtenden Teilchen beeinflusst. Damit war die gewohnte und immer geforderte Grenze zwischen Beobachter und Beobachtungsgegenstand aufgehoben, die Wissenschaft musste sich auf ganz neue Weise mit den Beziehungen zwischen Beobachter und Forschungsgegenstand beschäftigen. Diese Erfahrung lässt sich auch auf die systemische Therapie übertragen, auch hier ist es nicht möglich, ein System »objektiv« zu beobachten, auch hier nimmt die Beobachtung selbst zweifelsfrei Einfluss auf das beobachtete System. Systemtheorie ist als Erstes in der Biologie (von Bertalanffy, 1956) und Physiologie (Cannon,1966) entwickelt worden. Zum Durchbruch kam sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Kybernetik, das heißt als Steuerungslehre technischer Systeme. Nicht zufällig hat die systemische Familienforschung ihren Anfang etwa 1950 in Palo Alto im »Silicon Valley« genommen, der Hochburg der amerikanischen Computerindustrie. Kernfrage war damals die nach der Erhaltung von Gleichgewicht (Homöostase), nach der Angleichung eines Ist- an einen Sollzustand, vor allem durch Zuführung von Information, die Abweichungen anzeigt und Korrekturen in Richtung des Sollzustandes einleitet (negatives Feedback). Die Prämisse dieser Forschung war, dass auch komplexe Prozesse

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plan- und steuerbar seien, »sofern man sich von ihnen ein Bild machen kann, das ihre Komplexität realistisch abbildet« (von Schlippe u. Schweitzer, 1996, S. 50). Ein einfaches Beispiel hierfür ist die Funktion eines Thermostaten, der über die Information »Außentemperatur zu niedrig« die Heizung anregt, ihre Leistung zu steigern; Ziel dieses Prozesses ist die Aufrechterhaltung einer Zieltemperatur, Abweichungen werden jeweils korrigiert. Von dieser kybernetischen Theorie waren in den 1960er und 1970er Jahren die strukturellen (Minuchin) und strategischen Konzepte (Haley, Selvini Palazzoli) geleitet. Sie entwickelten bestimmte Vorstellungen darüber, wie eine Familie optimalerweise »funktioniert«; ihre Interventionen zielten darauf ab, Familien von einem »dysfunktionalen« in einen »funktionalen« Zustand zu bringen. Hier verstehen sich Therapeuten noch als starke Planungsmacht, die nur die richtigen Interventionen anwenden müssen, um das System Familie in der gewünschten Richtung zu beeinflussen. Inhaltlich wurde diese Sichtweise bald kritisiert, weil es mehr als fraglich erschien, tatsächlich gültige Normen einer funktionalen Familie zu entwickeln: Wer sollte bestimmen, was »gut«, was »richtig« ist? Das Konzept der Neuen Autorität greift den strukturell-strategischen Faden wieder auf, indem beispielsweise elterliche Präsenz als unverzichtbare Grundlage für die positive Entwicklung von Kindern und der Familie erachtet wird. Systemtheoretisch mag diese Form normativer Autorität streitbar sein, aus unserer Sicht ist sie trotzdem richtig. In der Geschichte systemischer Beratung und Therapie wurde die Beeinflussbarkeit von Systemen durch Interventionen von außen immer fraglicher (vgl. Haim Omers Kernsatz: Wir können das Verhalten anderer nicht kontrollieren). Interessanterweise vollzogen sich auch in anderen Wissenschaften ähnliche Entwicklungen. In der Chemie entdeckte Prigogine sogenannte »dissipative Strukturen«, Ordnungen, die in chemischen Prozessen scheinbar wie von selbst entstehen. Parallele Entdeckungen wurden auch in der Physik gemacht, Synergetik und Chaostheorie zeigten ebenfalls, dass Systeme offensichtlich in der Lage sind, aus sich selbst heraus strukturelle Veränderungen herbeizuführen. Vor diesem Hintergrund begann man sich mehr und mehr für die Veränderung von Systemen, nicht mehr ausschließlich für die Homöostase zu interessieren. Auch persönlich habe ich bei Familiensystemen oft die Erfahrung gemacht, dass sie an bestimmten Punkten (z. B. Krisen) plötzlich in der Lage sind, eine alte Stabilität aufzugeben und sich völlig neu zu strukturieren. Mit solchen Erfahrungen änderte sich auch das Selbstverständnis der Therapeuten, die ihre Aufgabe jetzt mehr darin sahen, ein nicht mehr angemessenes Gleichgewicht in Unruhe, Verwirrung, möglicherweise auch in Chaos zu versetzen und so

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dafür zu sorgen, dass die in der Familie vorhandenen Ressourcen neu organisiert werden und darüber ein neues, angemesseneres Gleichgewicht entsteht. Einschulung, Trennung der Eltern oder Auszug der Kinder von zu Hause sind Situationen, in denen Familien tatsächlich vor der Aufgabe stehen, sich neu zu strukturieren, womit sie aber bekanntermaßen oft große Schwierigkeiten haben. Besonders nachhaltig beeinflussten Anfang der 1980er Jahre die erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Autopoiese (Selbstorganisation) lebender Systeme die Perspektiven der Systemtheoretiker (Maturana u. Varela, 1987; Fischer, 1991). Der Fokus verschob sich mehr und mehr auf die innere, autonome Selbstorganisationslogik lebender Systeme, auf ihre operationale Abgeschlossenheit und damit auch auf die Grenzen externer Einflussnahme. Maturana und Varela haben die wissenschaftliche Entwicklung auch durch erkenntnistheoretische Überlegungen maßgeblich beeinflusst. Kernsatz dieser Überlegungen ist, dass die Welt, so wie sie ist, ohne unsere Wahrnehmung nicht denkbar ist. Das heißt, als Menschen sind wir nicht in der Lage, Aussagen über die Welt zu machen, wie sie wirklich ist; wir können nur über unsere Wahrnehmungen sprechen. Eine von unserer Wahrnehmung unabhängige Wirklichkeit mag es geben, sie entzieht sich aber unseren Möglichkeiten der Erkenntnis. Diese Aussagen treffen sich mit den philosophischen Überlegungen des Konstruktivismus, der davon ausgeht, dass Menschen sich ihre Wirklichkeit durch den Prozess der Beobachtung selbst erschaffen. Was wir Wirklichkeit nennen, sind demnach unsere beobachtungsabhängigen Beschreibungen, also Wirklichkeitskonstruktionen. Eine vom Subjekt unabhängige Theorie gilt somit als unmöglich, oder: »Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners«, wie es Heinz von Foerster so schön formuliert hat. Dies macht plausibel, dass wir es oft ganz offensichtlich mit sehr verschiedenen Wirklichkeiten zu tun haben, entstanden eben aus verschiedenen Beobachtungen und unterschiedlichen der Beobachtung zugrunde liegenden Konzepten und Theorien (Albert Einstein: »Die Theorie bestimmt, was wir beobachten«, oder humorvoll von Salvador Minuchin: »Jeder schafft sich die Diagnose, die er selbst am besten behandeln kann«, wie er in einem Vortrag 1990 in Anaheim, USA formuliert hat). Dabei entstehen rasch große Missverständnisse; einfach ist noch die Unterscheidung zwischen einer Speisekarte und dem Essen, was dann auf den Tisch kommt – niemand, es sei denn, er wäre ziemlich verrückt, wird mit großem Appetit in die Speisekarte beißen. Die Landkarte ist etwas ganz anderes als die Landschaft, durch die wir wandern. Maturanas, Varelas und die konstruktivistischen Überlegungen haben bis heute einen nachhaltigen Einfluss auf die Theorie und Praxis der systemischen

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Beratung und Therapie, zahlreiche Ansätze und Veröffentlichungen berufen sich auf deren erkenntnistheoretische Grundlagen. Im Folgenden will ich einen Überblick über die Geschichte der systemischen Therapie im engeren Sinne geben und die Erfahrungen und Konzepte ihrer wichtigsten Vertreter vorstellen. »Es gibt keinen Vater und keine Mutter der Familientherapie und kein erstes Familientherapiegespräch. Die Bewegung wuchs einfach. Den Hauptanstoß für ihr Wachstum erhielt sie aus der Arbeit von Forschern wie Nathan Ackerman in New York, Murray Bowen in Topeka und Washington, DC, Lyman Wynne und Margaret Singer von den National Institutes of Mental Health in Bethesda, Carl Whitaker in Atlanta, Salvador Minuchin und E. H. Auerswald von der Woltwyck School in New York, Ivan Boszormenyi-Nagy, James Framo und Gerald Zuk in Philadelphia, Theodore Lidz und Stephen Fleck in Yale, Gregory Bateson, Don Jackson, Jay Haley, John Weakland, Paul Watzlawick, John Bell und Virginia Satir in Palo Alto, um nur einige zu nennen« (Hoffman, 1984, S. 15 f.). Im europäischen Raum sind darüber hinaus Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin (Italien) sowie Helm Stierlin (Deutschland) und als weitere Vorläufer Kurt Lewin (Feldtheorie), Jacob L. Moreno (Psychodrama) sowie Alfred Adler und Viktor Frankl (Existenztherapie) zu nennen. Als Überblick lässt sich folgendes Modell (Tabelle 1) übernehmen: Tabelle 1: Systemtheoretische Modelle im Überblick (von Schlippe u. Schweitzer, 1996, S. 24) Name

Quelle

Systembegriff

Zentrale Methoden

I. Klassische Modelle Strukturelle Familientherapie (z. B. Minuchin 1977)

Strukturalismus

Struktur, Grenzen, Hierarchien

Herausfordern der Grenzen, Stabilisierung der Subsysteme

MehrgenerationenModell (z. B. BoszormenyiNagy u. Spark 1981; Stierlin 1978)

Psychoanalyse

Unsichtbare Bindungen über Generationen

Klärung der »Konten« und der Vermächtnisse

Erlebnisorientierte Familientherapie (z. B. Satir 1990; Whitaker 1991)

Humanistische Psychologie

Selbstwert und Kommunikation

Skulptur, Reframing

Strategische Familientherapie (z. B. Haley 1977)

Kybernetik

Familie als kybernetischer Regelkreis

Paradoxie, Ordeals, Hausaufgaben

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Systemische Grundlagen

Name

Quelle

Systembegriff

Zentrale Methoden

Systemischkyber­netische Familientherapie (z. B. Selvini Palazzoli et al. 1977)

Kybernetik

Das Familienspiel

Zirkularität, ­Hypothetisieren, Neutralität, (»Selvini-Paradox«)

II. »Kybernetik 2. Ordnung« Systemisch-konstruktivistische Therapie (z. B. Boscolo et al. 1988; Stierlin 1988)

Konstruktivismus

Familienspiele als Sprachspiele

Zirkuläre Fragen, hypothetische Fragen

Reflecting Team (z. B. Andersen 1990)

Konstruktivismus

Menschen konstruieren multiple Realitäten

Reflecting Team, Kooperation

III. Narrative Ansätze Therapie: konstruktive und hilfreiche Dialoge (z. B. Anderson u. Goolishian 1990, 1992)

Sozialer Konstruktivismus

Soziale Konstruktion sozialer Realitäten durch Sprache

Multiple Dialoge, Kreation kooperativer Kontexte, ­Reflektierendes Team

Therapie als Dekonstruktion (z. B. White 1992)

Postmoderne Philosophie (z. B. ­Derrida, Foucault)

Systeme bestehen aus Geschichten, Menschen sind Erzähler

­Externalisierung, Suche nach Ausnahmen

Lösungsorientierte Kurztherapie (z. B. de Shazer 1989)

Sprachphilosophie (Derrida)

»Aus der S ­ prache gibt es kein Entrinnen«

Solution Talk, »Wunderfrage«, Hausaufgaben

Von Schlippe und Schweitzer (1996, S. 19) zitieren eine Geschichte Virginia Satirs, in der sich die Erfahrungen vieler Therapeuten und Therapeutinnen zu Beginn der familientherapeutischen Entwicklung widerspiegeln: »Ihr war 1951 eine 26jährige Schizophrene überwiesen worden, die bereits von mehreren Therapeuten erfolglos behandelt worden war. Nach sechs Monaten, in der Therapie hatten sich Fortschritte gezeigt, rief plötzlich die Mutter dieser Frau an und drohte Satir mit einer Klage wegen ›entfremdeter Zuneigung‹. Satir: ›Aus irgendeinem Grunde hörte ich an diesem Tag zwei Botschaften in der Stimme der Mutter: eine verbale Drohung und eine nonverbale Bitte. Ich entschied mich auf die Bitte einzugehen und die Drohung zu ignorieren. Ich lud sie ein, zu mir

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zu kommen. Zu dieser Zeit war das eine äußerst ungewöhnliche Sache, die ich tat. Gleichwohl nahm sie meine Einladung an« (zit. nach Jürgens u. Salm, 1984, S. 404). Im ersten gemeinsamen Kontakt, so Satir, sei ihr aufgefallen, dass die Patientin sich wieder so verhielt wie in den ersten Tagen zu Beginn der Therapie, und Satir erarbeitete mit beiden ein neues Gleichgewicht. Die Frage nach dem Vater führte dann zum nächsten Schritt der Ausweitung des Settings. Der Kommentar Satirs mag die seinerzeitige Stimmung in der Fachwelt gut widerspiegeln: »Damals wurden Väter nicht wirklich als Teil des Gefühlslebens einer Familie angesehen, deshalb dachten Therapeuten gewöhnlich gar nicht an sie.« Als der Vater kam, erlebte Satir einen neuen Schock: »Sowohl die Mutter als auch die Tochter waren da, wo wir angefangen hatten.« Hatte sie zu Beginn auf die intrapsychischen Aspekte der Tochter geachtet und im nächsten Schritt an der Kommunikation zwischen Mutter und Tochter wichtige Aspekte der später formulierten Kommunikationstheorie wahrgenommen, so entdeckte sie nun Strukturaspekte des Systems, der Triade »Allianzen, Koalitionen, Einbeziehung eines Dritten in einen verdeckten Konflikt« usw. Nach einiger Zeit zog sie noch den »perfekten Bruder« der Patientin dazu und erarbeitete mit der ganzen Familie ein Gleichgewicht, das erlaubte, die Therapie erfolgreich zu beenden (von Schlippe u. Schweitzer, 1996, S. 19 f.). Die Arbeiten des Anthropologen Gregory Bateson hatten einen maßgeblichen Einfluss auf die Arbeit des Mental Research Instituts (MRI), aber auch auf die gesamte wissenschaftliche (und nicht zuletzt psychotherapeutische) Welt. Das Hauptanliegen seiner Arbeit war die Suche nach dem »verbindenden Muster«. »In mir entstand das vage, geheimnisvolle Gefühl, wir müssten in allen Bereichen der Naturphänomene nach derselben Art von Vorgängen suchen – wir könnten vielleicht damit rechnen, die Wirkung derselben Gesetze in der Struktur eines Kristalls zu finden wie in der Struktur der Gesellschaft, oder entdecken, dass die Segmentierung eines Regenwurms vergleichbar sei dem Prozess, durch den Basaltsäulen gebildet werden« (Bateson, 1972, S. 74, zit. in Hoffman, 1984, S. 37). Bateson war ein sehr engagierter Ethnologe, der neben vielen anderen Projekten die Jatmul von Neuguinea untersuchte, die in Dörfern von zweihundert bis eintausend Einwohnern lebten. In diesem Volk gab es keine Hierarchie, keine Regierung, keinen Häuptling. »Wenn die Rivalitäten zu groß wurden und die Streitereien nicht geschlichtet werden konnten, schien sich einer der befehdeten Clans abzutrennen und ein neues Dorf zu gründen« (Hoffman, 1984, S. 38), die Sitten blieben dann aber auch im neuen Dorf identisch. Bateson wies später darauf hin, dass in hierarchischen Gesellschaften solche Spaltungen anders verliefen und eine Gruppe, die ihre Heimat verließ, dies gerade deshalb tat, um in der neuen Heimat neue Sitten, Regeln etc. zu leben. Hierarchische Gesellschaften

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neigen offenbar dazu, Außenseiter-, Ketzer- und Randgruppen zu schaffen, während symmetrische Gesellschaften bei Trennungen eher zu genauen Abbildern der ursprünglichen Gesellschaft führen. Bateson hat sich ausführlich mit den Mechanismen beschäftigt, die einer Trennung wie in hierarchischen Gesellschaften entgegenwirkten. Im Zusammenhang mit dieser Forschungsarbeit prägte er den Begriff der »Schismogenese«, die er als »Differenzierungsprozess der Normen individuellen Verhaltens« definierte, »die sich aus der sich verstärkenden Interaktion zwischen Individuen ergibt« (Hoffman, 1984, S. 40). Er unterschied dabei in zwei verschiedene Formen, nämlich eine symmetrische und eine komplementäre Schismogenese. Symmetrisch verlaufen Zyklen, in denen die Reaktion der einen Seite eine ähnliche auf der anderen Seite provoziert, etwa bei Wettkämpfen oder dem Wettrüsten. In komplementären Zyklen bewirkt die Reaktion der einen Seite eine ganz andere Reaktion auf der anderen Seite, solche Zyklen lassen sich etwa im Kontext von Dominanz und Unterwerfung oder Hilfe und Abhängigkeit identifizieren. Diese Gedanken Batesons sind für die Psychotherapie, aber auch für soziologische Phänomene nicht unerheblich. Auch für die Postulate Haim Omers, Deeskalation und Gewaltfreiheit, spielen sie theoretisch und praktisch eine wichtige Rolle. Bateson fand zunächst, dass es nur zwei Konsequenzen einer Schismogenese gebe: Entweder das System verfügt über Regeln, Riten oder andere Maßnahmen, die das Ausmaß der Schismogenese begrenzt halten, oder aber das System bricht nach einer zu großen Eskalation zusammen. Für die Möglichkeit, eine gewisse Ordnung stabil zu halten, lässt sich noch einmal das Bild des Thermostaten und der Heizung verwenden: Der Thermostat reagiert auf Abweichungen und gibt dem Heizungssystem somit ausreichend Information, seine Aktivität zu regeln. Nun gibt es aber auch eine dritte Möglichkeit, bei der eine Kettenreaktion oder Eskalation einen Sprung auslöst, der das ganze System umformen könnte. Und genau dies führt zu den oben ausgeführten Überlegungen, nach denen Systeme offensichtlich in der Lage sind, unter gewissen Bedingungen (mit und ohne Einflüsse von außen) Veränderungen durchzumachen, die einem Quantensprung gleichen. Während Reaktionen im System, die seiner Stabilisierung dienen, Veränderungen erster Ordnung darstellen, werden Veränderungen, die das System in eine neue Ordnung versetzen, als Veränderungen zweiter Ordnung bezeichnet. Auch diese Differenzierung hat für die systemische Therapie erhebliche Bedeutung: In vielen Familien können wir beobachten, dass in bestimmten Pro­ blemkonstellationen die Familienmitglieder dazu neigen, ihre alten und gewohnten Strategien noch zu verstärken (mehr vom Gewohnten = Veränderung erster Ordnung), und dadurch die problematische Situation eher noch erschweren. Die Kunst der systemischen Therapie (und anderer Therapien) ließe sich dann gera-

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de darin sehen, der Familie bei einer Veränderung zweiter Ordnung behilflich zu sein. Dazu ein kleines Beispiel: Der fünfzehnjährige Sohn einer fünfköpfigen Familie (die beiden älteren Geschwister sind bereits erwachsen) liegt regel­mäßig in heftigem Streit mit seiner Mutter. Seine Schulleistungen sind mittelmäßig, was die Mutter veranlasst, sich verstärkt um die Hausaufgaben ihres Jüngsten zu bemühen. Ihre zunehmenden Ermahnungen und ihre verstärkte Kontrolle scheinen aber den Trotz des Sohnes noch zu unterstützen, der in der Folgezeit noch weniger für die Schule tut, was seine Leistungen entsprechend verschlechtert. Eine Möglichkeit, diesen Teufelskreis (ein anderes Wort für Schismogenese, hier der komplementäre Typ) zu durchbrechen und eine Veränderung zweiter Ordnung herbeizuführen, könnte beispielsweise darin liegen, die Eltern zu veranlassen, relativ spontan, mitten in der Schulzeit, einen dreiwöchigen Urlaub anzutreten. Der Sohn wäre so mit seinen schulischen Pflichten auf sich allein gestellt und hätte zumindest die Möglichkeit, sich aus eigenem Entschluss für seinen Erfolg zu engagieren (was nach meiner Erfahrung dann auch meistens passiert). Und die Mutter wäre – so die Hoffnung – nach drei Wochen erholt und mehr in der Lage, sich ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen zu widmen, was sich wiederum beruhigend auf die Mutter-Sohn-Beziehung auswirken und die Eigenständigkeit des Jungen zusätzlich fördern dürfte. Mir scheint auch Haim Omers Konzept für Veränderungen zweiter Ordnung sehr zweckmäßig. Damit sind einige Wurzeln der systemischen Therapie kurz skizziert. Im Folgenden werde ich die Erfahrungen und Konzepte der wichtigsten Pioniere systemischer Familientherapie vorstellen. Dabei geht es mir im Wesentlichen um die Zusammenfassung von Methoden, Konzepten und Modellen, die für die Arbeit mit Familien zweckmäßig sind.

Strukturelle Familientherapie (Minuchin) (Zusammenfassung nach von Schlippe, 1984, S. 50 ff.) Der Begriff »strukturelle Familientherapie« wurde von Salvador Minuchin geprägt, dessen direktives Vorgehen an der Struktur der Familie ausgerichtet ist. Seine drei der Systemtheorie entlehnten Axiome sind folgende: 1. Das geistig-seelische Leben ist kein ausschließlich interner Vorgang. Jeder Mensch steht zu seiner Umwelt in einer Wechselwirkungsbeziehung. 2. Veränderungen in der Familienstruktur tragen zu Veränderungen im Verhalten und der innerpsychischen Prozesse der Mitglieder bei. 3. Das Verhalten des Therapeuten, der mit einer Familie arbeitet, wird Teil des Kontextes; Therapeut und Familie bilden ein neues System.

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Minuchin sieht die Familie in ihrer notwendigen Schutzfunktion für ihre Mitglieder und als wesentlichen Kontext für die Entwicklung von Identität. Gerade hierfür ist für ihn das Gleichgewicht zwischen dem Gefühl, dazuzugehören, und dem Erleben von Getrenntsein von maßgeblicher Bedeutung. Folgerichtig spielt für ihn der Begriff der Grenze eine zentrale Rolle. Wichtig ist die gute Abgegrenztheit der Subsysteme (z. B. Subsystem Eltern, Subsystem Geschwister), wobei in einer gesunden Familie gleichzeitig emotionale Nähe, Zugewandtheit etc. vorhanden sein müssen. Sind in einer Familie die Grenzen zu rigide, spricht Minuchin von einer »isolierten« (»disengaged system«), sind die Grenzen zu verschwommen oder fließend, von einer »verstrickten« Familie. In der Mitte dieser Pole bestehen klare Grenzen, die gute Kommunikation über sie hinweg zulassen, ohne sie zu verwischen (vgl. hierzu Tabelle 2). Zur grafischen Darstellung hat Minuchin folgende Zeichen eingeführt, die sich auch heute noch für die Beschreibung von Familien und Systemen empfehlen:   rigide, undurchlässige Grenzen   klare Grenzen   diffuse, verwischte Grenzen Tabelle 2: Die Matrix der Identität nach Minuchin (1977) Isolierung

Klarheit

Verstrickung, Fusion

Rigide, ­undurchlässige Grenzen, Loyalität und Zugehörigkeit sind schlecht ausgeprägt; keine Möglichkeit, um Hilfe zu bitten. Größte Angst: Nähe. Protektive Funktionen behindert.

Flexible, klare Grenzen. Die Mitglieder der Subsysteme vollziehen ihre Funktionen ohne unzulässige Einmischung von außen. Kontakt mit den Mitgliedern anderer Subsysteme ist möglich.

Diffuse, verwischte Grenzen, Autonomie des Einzelnen ist beeinträchtigt. Beschneidung von kognitiv-affektiven Fähigkeiten. Größte Angst: Trennung. Mangelnde Differenzierung der Subsysteme.

Die drei Kategorien sind ein recht brauchbares Muster für die diagnostische Betrachtung von Familien, wobei »reine« Formen kaum anzutreffen sind; in den meisten Familien lassen sich in verschiedenen Phasen verschiedene Muster finden. Ein paar Beispiele: Diffuse Grenzen: Alle Türen im Hause sind immer offen; ein Kind schläft jede Nacht im Bett der Eltern; der Vater flirtet ständig mit seiner ältesten Tochter; in einem Familiengespräch antwortet immer die Mutter für den befragten Sohn. In Familien mit psychosomatischen Problemen finden wir oft diffuse Grenzen. Rigide Grenzen: Die Eltern bemerken über lange Zeit nicht die schwere Störung eines Kindes; der Sohn wird Mitglied einer kriminellen Straßengang. In Familien mit Problemen wie Aggressivität, Kriminalität und Dissozialität finden wir oft rigide Grenzen.

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Triangulation: Damit ist in diesem Zusammenhang das Phänomen gemeint, wenn das Mitglied eines Subsystems (z. B. ein Kind) in ein anderes Subsystem (z. B. die Eltern) verstrickt ist und damit diesem Subsystem zu Stabilität verhilft. Triangulation kann zu einem »perversen Dreieck« (Haley, 1980) werden, wenn folgende Bedingungen gegeben sind: 1. Eine Person ist aus einer anderen Generation als die anderen beiden. 2. Die Person der einen Generation bildet eine Koalition mit einer Person der anderen gegen den Dritten. 3. Die Koalition zwischen den beiden Personen wird geleugnet, d. h., die Grenze zwischen den Generationen wird heimlich durchbrochen. »Perverse Dreiecke« können auch über drei Generationen bestehen (z. B. Großmutter– Tochter gegen Mutter). Familien lassen sich hinsichtlich verschiedenster Dreieckskonstellationen untersuchen; bei vier Personen gibt es bereits vier, nimmt man die vier Großeltern hinzu, sind es schon 56 mögliche Dreiecke. Kompliziert wird es natürlich, wenn die Zugehörigkeit zu einer Koalition in Dreieck a im Widerspruch zur Zugehörigkeit zu einer Koalition in Dreieck b gehört. In einer Familie, in der mehrere Personen untereinander verschiedene »perverse Dreiecke« miteinander unterhalten, lässt sich unschwer nachvollziehen, dass eine Person in dieser Familie »verrückt« werden kann. Für die Prozessdiagnostik einer Familie hat Minuchin eine Reihe von Symbolen vorgeschlagen, mit deren Hilfe sich gut eine »Landkarte« der familiären Beziehungen darstellen lässt (siehe Abbildung 1):

Abbildung 1: Darstellung von familiären Beziehungen

Viel Wert legt Minuchin schließlich auf die Etablierung eines therapeutischen Systems. Dazu gehören die Aufnahme des Therapeuten in die Familie (Therapeut »in«), seine Akzeptanz als fachliche Autorität (Therapeut »up«, also die

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Rolle einer Steuerungskraft), eine systemische Problemdefinition (die oft anders ist als die Definition des Problems, mit der die Familie ankommt), eine systemische Zieldefinition (auch diese mag sich von der unterscheiden, welche die Familie mitgebracht hat) und ein therapeutischer Vertrag (Rahmen, Setting, Bezahlung etc.). Über Haim Omer würde Minuchin etwa sagen, er sei der wichtigste lebende Vertreter der strukturellen Familientherapie: »Mich haben ja immer die Strukturen der Familien, mit denen ich zu tun hatte, interessiert; Hierarchie und klare, also weder permissive noch rigide Grenzen habe ich immer für eine zentrale Bedingung für die gute Entwicklung von Kindern und Jugendlichen erachtet. Dabei habe ich noch nicht so klug über Autorität nachgedacht, wie es Haim Omer in den letzten Jahren getan hat. Auch ich war ein Kind meiner Zeit und habe ziemlich aggressiv reagiert, wenn ich in Familien entdeckte, dass es an guter, von mir aus auch ›neuer‹ Autorität fehlte. Da war mal eine Familie mit einem anorektischen Mädchen; dem habe ich gesagt: ›Deine Mutter liebt dich nicht richtig, was man daran merkt, dass du aussiehst wie eine mickrige Vogelscheuche!‹ So würde ich das heute auch nicht mehr sagen, aber ich meine, ich war auf der richtigen Spur und hatte die Ahnung und Erfahrung, dass Eltern in ihrer Position therapeutisch gestärkt werden müssen, damit Kinder gut groß werden und ihnen eine immer noch wachsende Zahl von Institutionen professioneller Erziehung erspart werden können. Haim Omer hat diese Ahnung und Erfahrung in ein zukunftsweisendes Konzept integriert, von der elterlichen Präsenz über die Wachsame Sorge bis hin zu seinem Konzept der Neuen Autorität, und diese Leistung achte ich sehr. Und ich will Ihnen versichern: Wenn Sie einmal – und sei es in einem Rollenspiel – die Erfahrung eines Sit-Ins machen, sie werden verstehen, warum ich diese Methode als eine der, wenn nicht die mächtigste Intervention der strukturellen Familientherapie erachte.«

Entwicklungsorientierte Familientherapie (Zusammenfassung nach von Schlippe, 1984, S. 60 ff.) Dieser familientherapeutische Ansatz hat seine Wurzeln in der humanistischen Psychologie und gründet auf einem grundsätzlich positiven Menschenbild. Der Mensch verfügt danach über eine »Selbstaktualisierungstendenz«, d. h., den Wunsch, seine Möglichkeiten, Ressourcen und Begabungen im Leben möglichst optimal einzusetzen und dabei in die Umwelt in harmonischer Weise integriert zu sein. Symptome treten danach dort auf, wo Blockaden diese Ten-

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denz behindern; therapeutische Bemühungen verfolgen stets das Ziel, einen behinderten oder unterbrochenen Wachstumsprozess wieder in Fluss zu bringen. Die wichtigste Vertreterin der Familientherapie dieser Philosophie ist Virginia Satir, deren therapeutische Arbeit auf folgenden drei Grundannahmen über die menschliche Natur beruht: 1. »Jeder Mensch trachtet danach, zu überleben, zu wachsen und nahe bei anderen zu sein. Alles Verhalten drückt diese Ziele aus, unabhängig davon, wie gestört es erscheinen mag. Sogar eine extrem gestörte Person wird im tiefsten Kern auf der Seite des Therapeuten stehen. 2. Das, was die Gesellschaft krankes, verrücktes, dummes oder schlechtes Verhalten nennt, ist in Wirklichkeit der Versuch seitens des ge-kränk-ten Menschen, die bestehende Verwirrung zu signalisieren und um Hilfe zu rufen. In diesem Sinn braucht das Verhalten letztlich gar nicht so krank, verrückt, dumm oder schlecht zu sein. 3. Menschen sind nur im Ausmaß ihres Wissens, ihrer Weisen, sich selbst zu verstehen, und ihrer Fähigkeit, sich an anderen zu kontrollieren, beschränkt. Gedanken und Gefühle sind untrennbar miteinander verbunden. Der Mensch braucht kein Gefangener seiner Gefühle zu sein, sondern er kann die kognitiven Komponenten seiner Gefühle dazu benutzen, sich zu befreien. Dies ist die Grundlage für die Annahme, dass ein Mensch lernen kann, was er nicht weiß, und dass er Wege der Stellungnahme oder des Verständnisses ändern kann, wenn sie nicht stimmen« (Satir, 1973, S. 117). Satir spricht von einem Wechsel des Menschenbildes; das alte Bild sei das eines »flachen« Menschen gewesen, in Wirklichkeit sei der Mensch jedoch ein »rundes« Wesen, was sich in vier Dimensionen ausdrücke: 1. »Die Definition von Beziehung 2. Die Definition des Menschen von sich selbst 3. Die Erklärung von Ereignissen 4. Die Sichtweisen von Veränderung« (von Schlippe, 1984, S. 42) Zu 1.: In vertikalen, hierarchischen Beziehungen, die wir als kleine Kinder lernen, entwickeln sich Interaktionsmuster von Macht, Unterdrückung und Bedrohung, verbunden mit Gefühlen von Zorn, Angst und einer Dynamik aus Angriff, Verteidigung und Rückzug. Sprachliche Charakteristika solcher Beziehungen sind Aussagen wie »Ich bin besser«, »Ich bin größer«, »Ich bin wichtiger« etc. Satirs Vision sind horizontale Beziehungen, die von Gleichheit und der Anerkennung der Einzigartigkeit jedes Menschen geprägt sind. Interessant ist diese Vision nicht nur für die Betrachtung und Behandlung von

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Familien, sondern auch für die Analyse und Beratung von Institutionen wie z. B. psychiatrischen Kliniken. Zu 2.: In der »flachen« Sicht des Menschen ist seine Selbstsicht geprägt von Defiziten, Mängeln und Ungenügen. »So wie ich bin, bin ich nicht o. k., weshalb ich immer wieder gezwungen bin, eine Persönlichkeit vorzuspielen, die ich gar nicht bin, und ich lebe in ständiger Angst, als die Persönlichkeit erkannt zu werden, die ich wirklich bin.« Diese Selbstsicht geht mit Verleugnung und großen Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen einher. Satir geht es um ein Menschenbild, »in dem dessen Individualität anerkannt wird, in dem jede Regung, sei sie auch noch so schlimm, wahrzunehmen erlaubt ist. Satir sagt: ›Instead of a box to put it in, we need a pot to let it grow‹ (it = das Kind)« (von Schlippe, 1984, S. 63). Dieses Zitat ist ein gutes Motto auch für alle, die sich in psychiatrischen Kliniken mit »Defiziten«, Symptomen und Störungen von Kindern und Jugendlichen beschäftigen. Zu 3.: Im »flachen« Menschenbild besticht die Unveränderbarkeit und Rigidität von Erklärungsmodellen, die sich häufig als »Ammenmärchen« über lange Zeit halten und wirken. Auch in der Geschichte der Psychotherapie gab und gibt es immer wieder solche »Ammenmärchen«, z. B. auch in den Anfängen der Familientherapie, als stets der Mutter die »Schuld« für psychopathologische Auffälligkeiten ihres Kindes gegeben wurde. Satir ist hier nahe bei konstruktivistischen Vorstellungen, wenn sie sagt, unsere »Ammenmärchen«, unsere Grundüberzeugungen von den Menschen und unsere Weltbilder seien letztlich Ergebnisse der Bilder, die wir uns von den Dingen, von der Wirklichkeit machten. Und diese Bilder treffen die Wirklichkeit eben nie ganz genau, manchmal liegen sie auch sehr daneben. Die Landkarte ist eben etwas anderes als die Landschaft und die Speisekarte etwas anderes als das Essen. In der Geschichte und auch heute sind diese Grundüberzeugungen immer wieder sehr gefährlich (gewesen), sie sind ja die Prämissen unserer Wahrnehmung und unseres (professionellen) Handelns. In der Geschichte der Psychiatrie lassen sich bis in unsere Zeit solche Grundüberzeugungen identifizieren, die die Behandlung psychischer Probleme maßgeblich bestimmt, den Patienten aber nicht immer wirklich genutzt haben. Historisch kann man an das »Ammenmärchen« der Besessenheit erinnern, das Hunderttausenden auf dem Scheiterhaufen das Leben gekostet hat. Satir betont, dass Ursachenzuschreibungen letztlich unmöglich sind; die wesentlichen Fragen heißen deshalb »Wie?« und »Wozu?«, nicht »Warum?«, entscheidend sind der Prozess und die Dynamik. Zu 4.: Im »flachen« Bild des Menschen sind Veränderungen bedrohlich, es geht eher um Manipulation mit dem Ziel der Kontrolle und dem Bewahren des Status quo. Auch dieses Phänomen lässt sich nicht nur in vielen Familien, son-

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Grundlagen

dern gerade auch in Institutionen gehäuft antreffen, denken wir nur daran, wie lange es dauern kann, bis aus einer geschlossenen Station eine offene wird, und wie viel Widerstand diese Anregung in der betreffenden Klinik wahrscheinlich provoziert hat. Im »runden« Menschenbild geht es um Wachstum, Entwicklung und Selbstständigkeit; Veränderungen sind hierfür immer wieder erforderlich, auch wenn sie mit dem riskanten »Sprung ins Wasser« verbunden sind. Zentraler Begriff in Satirs Ansatz ist der Selbstwert oder das Selbstwertgefühl eines Menschen. Selbstwert ist gewissermaßen das Fundament für Wachstum, Autonomie und die Entfaltung des Lebens mit allen Ressourcen und Kräften. Bekanntermaßen kann die Entwicklung des Selbstwertes auf vielfältige Weise gestört werden. Menschen haben häufig ein sehr niedriges Selbstwertgefühl oder fühlen sich in ihrem Selbstwert bedroht. Die Folge ist nach Satir die Entwicklung vier spezifischer Kommunikationsformen, mit denen Menschen versuchen, sich zu schützen. Diese Kommunikationsformen sind quasi Stressreaktionen, die Menschen im Falle von Bedrohung unbewusst mehr oder minder intensiv benutzen. Für die diagnostische Betrachtung von Personen oder Familien, aber auch für die Planung der Behandlung ist die Kenntnis dieser Kommunikationsformen sehr hilfreich. So gibt es die anklagende, die rationalisierende, die beschwichtigende und die ablenkende Kommunikationsform. Gemeinsam ist ihnen die Inkongruenz, d. h., auf verschiedenen Kanälen (verbale Äußerungen, Mimik, Gestik oder Körperhaltung) werden verschiedene Botschaften gesendet. Wünschenswert dagegen ist ein kongruenter Kommunikationsstil, der allerdings nur möglich ist, wenn die Beteiligten in ihrem Selbstwert nicht bedroht sind. Virginia Satir würde Haim Omer insbesondere für seine Arbeit an Beziehungen anerkennen: »Ist das nicht fantastisch, dass wir hier und heute alle versammelt sind? Von so einer Party – so möchte ich es mal nennen – habe ich immer geträumt. Alle Gesichter und alle Teile der systemischen Familientherapie kommen zusammen und verbinden sich miteinander. Sie verbinden sich in der Vision, dass Menschen wachsen, sich verändern und selbst und miteinander glücklich werden können. Und du, Haim, leistest mit deinem Konzept der Familientherapie einen großen Beitrag, dass mein Traum von den fünf Freiheiten im Leben der Menschen weitergeträumt und nicht vergessen wird: •• die Freiheit, zu sehen und zu hören, was ist, statt was sein sollte oder einmal sein wird; •• die Freiheit, zu sagen, was du fühlst und denkst, statt zu sagen, was du solltest; •• die Freiheit, zu fühlen, was du fühlst, statt zu fühlen, was du fühlen sollst;

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•• die Freiheit, um das zu bitten, was du möchtest, statt immer auf die Erlaubnis zu warten; •• und die Freiheit, um der eigenen Interessen willen Risiken einzugehen, statt immer auf Nummer sicher zu gehen.«

Carl Whitaker, alter Haudegen systemischer Therapie und auf seine Weise Mitbegründer der erlebnisorientierten Familientherapie, würde sich Virginia anschließen und betonen: »Ich habe schon immer gesagt, Einsichten allein reichen nicht; unsere therapeutische Arbeit muss bei den Klienten zu emotionalen Erfahrungen führen, die auch tieferliegende Schichten der Persönlichkeit betreffen. Haim Omers Konzept scheint genau diese Maxime sehr beherzigt zu haben. Seine Empfehlung zum Aufbau und zur Arbeit mit Unterstützungssystemen spricht mir aus der Seele, und seine gewaltfreie Haltung in dieser Arbeit ermöglicht genau diese emotionalen Erfahrungen, die letztlich nachhaltige Veränderungen bringen, weil die Menschen gar nicht mehr hinter diese Erfahrungen zurück können. Ich hatte auch immer die Idee, dass es zur systemischen Arbeit möglichst viele Menschen braucht. Aber zu meiner Zeit waren wir alle noch wesentlich aggressiver, Verzeihung, aber das waren auch die historischen Umstände. Und wie Sie alle wissen, ich war ja auch ein ›Verrückter‹. Haim Omer macht das mit seiner Haltung schon hoch professionell, und wie er all die familiären Unterstützer rekrutiert: Da wird jede Familientherapie zu einer kleinen politischen Bewegung, und das finde ich großartig.«

Mehrgenerationen-Familientherapie (Stierlin, BoszormenyiNagy) (nach von Schlippe, 1984, S. 43 ff.) Helm Stierlin, der wichtigste deutsche Pionier der Familientherapie, hat sich von der Psychoanalyse der Familientherapie zugewandt und zu ihrer Verbreitung in Deutschland maßgeblich beigetragen. Bemerkenswert an seiner Karriere ist auch, dass unter seiner Leitung eine ganze Reihe heute sehr bekannter Therapeuten hervorgegangen sind, die systemische Konzepte weiterentwickelt und auf zahlreichen Kongressen sowie in vielen Veröffentlichungen vermittelt haben und weiterhin vermitteln. Insofern ist Stierlins Heidelberger Institut selbst ein gutes Modell für ein entwicklungs- und wachstumsorientiertes System, in dem vorhandene Ressourcen so vielfältig und kreativ genutzt werden und die »Kinder« wirklich groß werden können. Stierlins »System basiert auf zunächst vier grundlegenden Gesichtspunkten:

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die bezogene Individuation, die Interaktionsmodi von Bindung und Ausstoßung, die Delegation, die Mehrgenerationenperspektive von Verdienst und Vermächtnis, denen Stierlin später (1979) noch einen fünften hinzufügte: 5. der Status der Gegenseitigkeit« (von Schlippe, 1984, S. 44).

Zu 1.: Bezogene Individuation umfasst ein dialektisches Konzept menschlicher Beziehungsdynamik: Individuation bedeutet die Ausbildung individueller Eigenschaften und psychologischer Grenzen und damit die Möglichkeit, sich als eigenständige, autonome Person erleben zu können. Bezogenheit meint die Fähigkeit, mit einem Gegenüber, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, wie Individuation eine basale Notwendigkeit menschlichen Lebens. Ziel ist die gute Ausgewogenheit zwischen beiden Prinzipien; in der klinischen Praxis finden sich im Wesentlichen folgende Formen misslungener oder fehlender Individuation: »1. Die symbiotische Fusion […]: Gefühl des eigenen Selbst, die eigene Geschlechts- oder Berufsrolle verschwimmen mit dem Erleben, den Gefühlen und der Rolle einer anderen Person. 2. Die starre, autistische Absonderung, die oft eine paranoide, misstrauische Färbung hat. 3. Das ambivalente Hin- und Herpendeln zwischen den beiden Extremen« (von Schlippe, 1984, S. 45). Zu 2.: Auch Bindung und Ausstoßung sind zwei entgegengesetzte Kräfte, die Stierlin zur Beschreibung der Trennungsdynamik zwischen Eltern und Kindern benutzt: Herrscht in Familien die Kraft der Bindung vor, werden die Kinder länger bleiben, die Autonomieentwicklung verzögert sich oder wird gar blockiert. Umgekehrt bewirkt das Vorherrschen der Kraft der Ausstoßung eine zu frühe (Pseudo-)Autonomie und, aufgrund der erfahrenen Härte und Kälte und des Gefühls, nicht wichtig zu sein, Formen von Beziehungslosigkeit und Bindungsunfähigkeit. Beim Bindungsmodus unterscheidet Stierlin Es-, Ich- und Über-Ich-Bindung. Bei der Es-Bindung geht es um eine affektive Bindung, in der kindliche Abhängigkeitsbedürfnisse manipuliert und ausgebeutet werden, was zu einer abhängigen und ansprüchlichen Haltung führen kann. Die Ich-Bindung drückt dem Kind auf kognitiver Ebene das Ich der Eltern auf, etwa unter dem Motto »Ich weiß besser, was gut für dich ist«. Die Über-Ich-Bindung bewirkt eine überstarke Loyalität des Kindes, verbunden mit dem Gefühl, das psychologische Überleben seiner Eltern hänge von ihm ab. Eigene Autonomiebestre-

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bungen werden dann rasch schuldhaft erlebt, das Kind bleibt in »unsichtbaren Bindungen« (Boszormenyi-Nagy) gefangen. Zu 3.: Das lateinische Wort »delegare« hat zwei, wiederum einander entgegengesetzte Bedeutungen: »aussenden« und »mit einem Auftrag, einer Mission betrauen«. Beide Bedeutungen spielen in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern eine bedeutende Rolle. Delegation ist zunächst ein ganz normaler Prozess, der dann schwierig wird, wenn der Auftrag der Eltern den Möglichkeiten und Grenzen des Kindes nicht gerecht wird (»Mein Sohn soll Arzt werden«). Problematisch wird es auch, wenn die Aufträge der Eltern einander widersprechen und das Kind in einen massiven Loyalitätskonflikt kommt. Hier finden wir dann jene Situation, die mit der oben beschriebenen Triangulation Ähnlichkeiten hat. Zu 4.: »Hier geht es um eine transgenerationale Ausweitung des Delegationsprinzips, eine über mehrere Generationen wirkende Bindung, eine Verpflichtung oder einen Zwang zur Rechenschaft« (von Schlippe, 1984, S. 48). Nach Stierlins Erfahrungen lassen sich gerade in Familien mit einem als schizophren diagnostizierten Mitglied Vermächtnisse beobachten, die zu einer gespaltenen Loyalität führen, weil die über verschiedene Generationen weitergegebenen Aufträge einander widersprechen und der Patient mit jeder Entscheidung in die eine Richtung die Loyalität zur anderen Richtung verletzt. Diese Erfahrung erinnert an die oben beschriebene Double-Bind-Situation. Boszormenyi-Nagy hat diese Mehrgenerationenperspektive in seinen Ansatz integriert und betrachtet familiäre Prozesse unter dem Aspekt des Spannungsverhältnisses zwischen Vermächtnis und Verdienst. Die Erfüllung eines Vermächtnisses erbringt einen Verdienst und damit eine Anspruchsberechtigung, Symptome werden vor dem Hintergrund einer »Verdienstbuchführung«, ihre Wurzeln entsprechend in u. U. Generationen zurückliegenden Versäumnissen oder Schulden gesehen. Ich persönlich halte dieses Konzept auch für die Betrachtung größerer Systeme in ihrem historischen Zusammenhang für sehr bedeutend. Zum Beispiel ist es eine sehr wichtige Frage, wie sich die Schuld der Deutschen im Zweiten Weltkrieg auf die erste, zweite und dritte Nachkriegsgeneration auswirkte und was meine Generation tun kann, um einen Beitrag zum Ausgleich zu leisten. Zu 5.: Mit dem Status der Gegenseitigkeit ist eine Beziehungsform angesprochen, die ähnlich der »symmetrischen Eskalation« (Bateson) ist. »Vor allem die negative Gegenseitigkeit, der sog. maligne Clinch, ist in schweren Beziehungsstörungen häufig zu beobachten. […] In einem solchen Clinch kann es auf die Dauer nur Verlierer geben« (von Schlippe, 1984, S. 49). In der Literatur gibt es mit dem Stück »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« eine großartige, sehr sehenswerte Inszenierung eines malignen Clinchs.

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Strategische Familientherapie Den Begriff »Strategische Familientherapie« prägte der bekannte Familientherapie-Pionier Jay Haley. In der strategischen Familientherapie geht es darum, für die jeweils bestehenden Probleme spezifische Lösungsstrategien (= Interventionen) zu entwickeln. Neben Haley sind die berühmten Mitglieder der Palo-Alto-Gruppe (Weakland, Watzlawick, Fisch) wichtige Vertreter dieser therapeutischen Richtung; insbesondere Watzlawick hat sich dabei zu einem wahren Künstler strategischer Interventionen entwickelt. Er hätte ebenfalls eine – wie immer humorvolle – Meinung zu Haim Omers Arbeit: »Auch ich könnte problemlos einige theoretische Aspekte beitragen, die ich selbst entwickelt und die sich in beeindruckender Weise in der Arbeit Haim Omers wiederfinden. Denken Sie bitte nur an meine fünf Axiome der Kommunikation. Wenn Sie etwa Haim Omers Ideen Announcement, also die Ankündigung, oder das Sit-In, nehmen, können Sie die Wirklichkeit aller fünf Axiome wiederentdecken, wobei der Beziehungsaspekt in der Anwendung dieser Interventionen sicherlich besonders eindrücklich zu Tage tritt. Ich möchte Sie aber nicht unnötigerweise mit theoretischen Ausführungen behelligen, sondern humorvoll unterstreichen, dass ich den Aspekt der Präsenz in Haim Omers Arbeit als besonders bedeutend erachte. Elterliche Präsenz, mit der sich Haim Omer sehr beschäftigt hat, scheint unumstritten ein wesentlicher Aspekt zu sein, wenn die von ihm beschriebene Neue Autorität wirkungsvoll sein soll. Dazu erzähle ich gern eine Geschichte, in der in einem ganz anderen Kontext gut zum Ausdruck kommt, wie Änderungen in der Präsenz große Wirkungen haben können: Zu mir kommt eine attraktive Frau Anfang vierzig und berichtet, sie sei Chef­ sekretärin in einer ärztlichen Gemeinschaftspraxis. Zu zweien der dort tätigen Ärzte habe sie ein sehr gutes Verhältnis, nur mit dem dritten Doktor sei es mittlerweile so unerträglich, dass sie schon über eine Kündigung nachdenke, obwohl sie die Arbeit eigentlich sehr gern mache. Auf meine Nachfrage erzählt sie, dieser dritte Doktor habe es sich zur Gewohnheit gemacht, sie regelmäßig in Anwesenheit von Patienten in erniedrigender Weise abzuwerten und auf ihre Fehler hinzuweisen. Ich höre mir das an und sage, ja, da hätte ich schon eine Idee, aber nein, ich glaube, das ist nichts für Sie. Die Frau wird neugierig und bittet mich immer wieder, ihr doch diese Idee mitzuteilen. Nach längerem Hin und Her stimme ich endlich zu und empfehle ihr Folgendes: ›Das nächste Mal, wenn Sie wieder in so einer Situation waren und von Ihrem Chef vor Patienten abgewertet wurden, gehen Sie kurz aus dem Raum, holen Sie tief Luft, sammeln all Ihre Kräfte und gehen wieder zum Zimmer Ihres

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Chefs. Klopfen Sie, treten ein und sagen Sie Folgendes: »Wissen Sie, Herr Doktor, jedes Mal wenn Sie mich wie gerade eben vor Patienten so runtermachen, erregt mich das wahnsinnig.«‹ Monate später ruft mich die Klientin an und berichtet, seit unserer Sitzung sei es nie wieder zu so einer Situation gekommen, sie behalte aber meinen Vorschlag in guter Erinnerung. Ich bin nicht ganz sicher, ob sich Haim Omer in dieser Szene gestärkter Präsenz wiederfindet, ich bin aber sicher, dass sich auch ihre Kinder über fehlende Präsenz ihrer Mutter nicht beklagt haben dürften.«

Strategische Therapeuten verzichten auf vergleichsweise viele Informationen (Anamnese, Familiengeschichte etc.) und beschränken ihr Interesse auf das geschilderte Problem und die detaillierten Muster, die das Problem aufrechterhalten. Dahinter steckt folgende – häufig begründete – Annahme: Die Versuche, die Menschen (Paare, Familien) unternehmen, um ein bestehendes Problem zu lösen, bewirken gerade das Gegenteil, nämlich die Stabilisierung oder sogar Verschlimmerung des Problems. Oder wie Weakland es formuliert: Die Versuche, das Problem zu lösen, sind problematischer als das ursprüngliche Problem. Nehmen wir als Beispiel ein Ehepaar. Die Ehefrau ist leicht eifersüchtig und neigt deshalb dazu, ihrem Mann immer wieder Fragen zu stellen: »Wo warst du?«, »Was hast du gemacht?«, »Wen hast du getroffen?«, »Warum kommst du so spät?« usw. Die ständige Fragerei bewirkt beim Mann eine zunehmende Verschwiegenheit, weil er sich dadurch belästigt fühlt. Die Verschwiegenheit ihres Mannes gibt der Frau nun neuerlich Nahrung für ihre Eifersucht (»Was hat mein Mann mir zu verschweigen?«). Sie verstärkt also ihre Nachfragen. So kommt ein Teufelskreis in Gang, der zu einer ernsthaften Ehekrise führen kann. Ob die Eifersucht jemals berechtigt war, spielt dafür gar keine Rolle mehr. Angriffsfläche therapeutischer Interventionen ist also das Symptom, nicht die Familie. Für strategische Therapeuten ist es auch nicht wichtig, alle Familienmitglieder auf einmal zu sehen. Im Gegenteil: Oft laden sie bewusst Individuen oder Subgruppen ein, auch um im Sinne therapeutischer Veränderungen die eine Gruppe gegen die andere auszuspielen. Zum Beispiel lassen sich mit Eltern ganz andere Vereinbarungen treffen, wenn die Kinder nicht dabei sind. Wichtige Techniken der strategischen Therapie sind die positive Umdeutung, die Symptomverschreibung sowie paradoxe Verschreibungen. Beispielsweise wird ein Autovertreter ermutigt, sein Stottern in Verkaufsgesprächen noch zu steigern, weil Menschen mit sprachlichen Auffälligkeiten immer höhere Aufmerksamkeit genießen (Symptomverschreibung und positive Umdeutung). Wichtig an den Berichten strategischer Therapeuten (und gleichzeitig eine geniale Eigenschaft) ist die Tatsache, dass sie sich für jeden Fall etwas

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Besonderes einfallen lassen, das für die Veränderung gerade dieser Situation passend erscheint. Selbst wenn sie ihren Fokus ausschließlich auf das Symptom richten, hoffen sie natürlich begründet, dass eine Veränderung an diesem Punkt auch weiterreichende Veränderungen bewirkt. Und tatsächlich verbessert sich ja häufig die eheliche Situation, wenn das symptomatische Verhalten eines Kindes nachlässt oder aufhört: Die Eltern streiten nicht mehr um den richtigen Umgang mit dem Kind. Dabei ist es für »Strategen« unerheblich, ob das symptomatische Verhalten des Kindes Ursache oder Wirkung bestehender ehelicher Probleme war. Und in der Praxis gilt ja ebenfalls oft das Umgekehrte: Wenn Eltern ihre Konflikte besser und friedlicher klären, lassen auch Verhaltensauffälligkeiten von Kindern nach oder verschwinden. Besonders elegant ist auch eine aus der Hypnotherapie stammende Technik, die »Illusion der Alternativen«. Wenn ich z. B. frage: »Wollen Sie eine Veränderung schon in dieser oder besser erst in der nächsten Woche?«, suggeriere ich, dass es an der Veränderung selbst keinen Zweifel gibt. Haley hat diese Technik sehr hoch entwickelt und in seinem Buch »Ordeal-Therapie« eine ganze Reihe schöner Berichte zusammengefasst, wie sich Klienten in der Illusion zweier Alternativen letztlich für die für sie bessere entscheiden. »Ordeal« ist etwa mit »Hausaufgabe« zu übersetzen, die sich Haley für seine Klienten ausdenkt und die häufig mit so viel Aufwand und Leiden verbunden ist, dass es für die Klienten letztlich einfacher ist, das Symptom aufzugeben, als weiter die Hausaufgaben zu erledigen. Zum Beispiel gab Haley einem Mann mit schweren Schlafstörungen die Aufgabe, jede Nacht aufzustehen und mehrere Stunden nach einem genauen Plan die Böden seines Hauses zu schrubben. Verständlicherweise verschlief der Klient nach wenigen Tagen seine Putztermine, und sein Problem war gelöst. Die Erfindung solcher »Ordeals« ist natürlich eine hohe Kunst, weil die Hausaufgaben genau an die Situation, die Fähigkeiten und Eigenheiten der Klienten angepasst sein müssen. Im Gegensatz zur Palo-Alto-Gruppe hat sich Haley schließlich auch intensiv mit Organisationsformen von Familien beschäftigt. Ähnlich wie strukturelle Therapeuten hat er die wichtige Funktion klarer Hierarchien in Familien betont (vgl. sein Buch »Ablösungsprobleme Jugendlicher«). Hier werden z. B. Eltern eines erstmals psychotisch entgleisenden Jugendlichen ermutigt, ihrem Sohn klare Grenzen zu setzen, was Halt und Orientierung stiftet und das psychotische Verhalten letztlich erübrigt. Ähnliches gilt für dissoziale Jugendliche, deren Verhalten sich immer wieder vor dem Hintergrund einer aus den Fugen geratenen Familienstruktur verstehen lässt. Dissoziale Jugendliche reagieren mit ihrem Verhalten häufig auf die Wirklichkeit eines familiären Systems, in dem

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die Grenzen verwischt und häufig generationsübergreifende Koalitionen anzutreffen sind. Haley spricht in diesen Situationen von einem »pervertierten Dreieck« (»perverse triangle«), ähnlich Minuchins Konzept der Triangulierung: Ein Kind ist in die Beziehung der Eltern verstrickt und koaliert mit einem Elternteil gegen den anderen. Es gibt Familien, in denen diese Koalitionen immer wieder wechseln oder sogar gleichzeitig bestehen. Gerade in Familien mit einem psychotischen Jugendlichen ist es immer interessant, solche Koalitionen zu identifizieren. Betroffene Jugendliche sind häufig in Doppelbindungen verstrickt, d. h., immer wenn sie sich im Sinne der einen Koalition verhalten, verstoßen sie gegen die andere. Eine ziemlich aussichtslose und leidvolle Lage, wie man sich vorstellen kann. Im letzten Absatz wurde deutlich, dass Jay Haley in gewisser Weise auch zu den strukturellen Familientherapeuten gerechnet werden kann; mit seinen Arbeiten über das »pervertierte Dreieck« lieferte er auch eine wichtige Grundlage der Gruppe um Mara Selvini Palazzoli, deren Arbeiten im nächsten Abschnitt zusammengefasst werden. Vorher lesen Sie, was Jay Haley über die Arbeit Haim Omers sagen würde: »Sie wissen, dass ich mich in meiner Arbeit sehr mit dem Aspekt der Macht beschäftigt habe. Haim Omer, den ich für einen ausgesprochen guten und erfolgreichen Schüler der strategischen Familientherapie halte, verzichtet ja auf den Begriff der ›Macht‹ und ersetzt ihn durch ›Stärke‹. Darüber hätte ich früher mit ihm leidlich gestritten. In meiner Arbeit zu meiner Zeit habe ich erkannt, dass Macht kein Mythos ist, sondern real. Heute scheint Autorität in einen unguten Ruf gekommen zu sein, und es ist Haim Omers großes Verdienst, dass er einer aus meinen Augen unverzichtbaren Autorität durch einige zentrale, neue Definitionen zu großer Bedeutung verholfen hat – und da bin ich auch mit dem Begriff ›Stärke‹ sehr einverstanden. Er bläst da eigentlich in mein Horn, und das rührt mich, zumal ich mit meiner Forderung nach therapeutischer Autorität sehr viel Gegenwind in der systemischen Szene produziert habe. Die Diskussion über mein Verständnis von Macht begann schon mit Gregory Bateson. Die Kybernetik zweiter Ordnung hat mich dann erst einmal ad acta gelegt, weil ich scheinbar nicht mehr systemisch-konstruktivistisch gedacht und gearbeitet habe. ›Macht‹ war plötzlich eine Sichtweise, deren Nutzung den systemischen Therapeuten in die Irre führte. Lieber Haim Omer, auf einer systemisch-theoretischen Ebene hast du einen großen Beitrag geleistet, dass die Diskussion zwischen Kybernetik erster und Kybernetik zweiter Ordnung wieder konstruktive Fahrt aufgenommen hat. Dafür bin ich dir schon deshalb sehr dankbar, weil ich durch deine Arbeit selbst einen guten Platz in der systemischen Historie behalte.«

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Das Mailänder Modell Die Gedanken und Veröffentlichungen der Palo-Alto-Gruppe fassten etwa 1968 in Europa Fuß. Mara Selvini Palazzoli, eine erfahrene Kinderanalytikerin, hatte sehr viel mit magersüchtigen Mädchen gearbeitet. Von ihren geringen therapeutischen Erfolgen war sie ziemlich enttäuscht. Beeindruckt von den systemischen Gedanken aus Palo Alto gründete sie das Institut für Familienstudien in Mailand (gemeinsam mit Luigi Boscolo, Giuliana Prata und Gianfranco Cecchin). Zusammen entwickelten sie über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren ein Familien-System-Modell für die Arbeit mit Anorexiefällen, aber auch für Familien mit schweren emotionalen und psychotischen Störungen. Die Familie wird als ein regelgeleitetes System gesehen: »Wie bei jeder anderen Gruppe auch entwickeln sich in einer Familie im Laufe der Zeit Regeln, die die Verhaltensspielräume der einzelnen beschreiben und begrenzen. Im Fall einer Familie mit klinischen Problemen ist in diesem Prozess ein System entstanden, das sich über Transaktionen reguliert, die genau auf die jeweilige Symptomatik zugeschnitten sind, die beklagt wird« (von Schlippe u. Schweitzer, 1996, S. 28): »Die Macht liegt in den Spielregeln‹« (Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata, 1977, S. 15). Daher ist jedoch eine Veränderung – so sehr die Familie leidet – nicht im Interesse der Familie, denn das »Spiel« muss weitergehen; dies ist die Paradoxie, mit der die Familie die Therapeuten konfrontiert: »Ändert uns, ohne uns zu ändern!« Diese Paradoxie wird mit dem Gegenparadoxon beantwortet: »Wir können euch nur unter der Bedingung ändern, dass ihr euch nicht ändert!« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 28 f.). Die Familie wird als ein Informationssystem gesehen, die Therapie bemüht sich nicht um den Indexpatienten und nicht um die Frage, welche Person welchen Beitrag zur Symptomatik leistet. Ziel ist einzig, das »Familienspiel« aus dem Gleichgewicht zu bringen. Interventionen sollen dafür sorgen, dass das »Spiel« unter den bisherigen Voraussetzungen nicht mehr durchzuführen ist. Pragmatisch sah das Modell etwa folgendermaßen aus: Meist führte die Gruppe mit Familien nicht mehr als zehn Sitzungen durch, die aber zum Teil in großen Abständen stattfanden. So konnte eine »lange Kurzzeittherapie« durchaus über Monate oder auch Jahre andauern. »Das bekannteste […] Merkmal des Mailänder Ansatzes ist das Setting, also der Aufbau der Sitzung: Zwei Therapeuten (später nur noch einer) arbeiten mit der Familie, zwei andere sitzen hinter der Einwegscheibe und beobachten die Sitzung. Sie unterbrechen die Sitzung sofort […], wenn sie den Eindruck haben, dass die Therapeuten etwas Wichtiges übersehen haben oder von der Systemdynamik gefangengenommen worden sind. Die Sitzung besteht, wenn sie im ›klassischen Stil‹ durchgeführt wird, aus fünf Bestandteilen:

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1. Vorsitzung: Diskussion der Teammitglieder über die bislang vorliegende Information, erste Hypothesen: 5­–20 Minuten. 2. Interview: Der Therapeut interviewt die Familie. Dieser Teil des Gesprächs dient nur dem Ziel, Informationen einzuholen, nicht dazu, Interaktionen in Gang zu bringen. Das Team beobachtet: 50–90 Minuten. 3. Zwischensitzung: Alle Mitglieder des Teams diskutieren in einem separaten Raum ihre Hypothesen und entwickeln eine Schlussintervention: 15–40 Minuten. 4. Schlussintervention: Die Entscheidungen des Teams werden der Familie mitgeteilt, oft verbunden mit einer paradoxen Verschreibung, oder der Verschreibung eines Rituals. Der Rest des Teams beobachtet sehr genau die Reaktionen der Familienmitglieder: 5–15 Minuten. 5. Nachsitzung: Diskussion im Team über die Sitzung und die letzten Reaktionen: 10–20 Minuten. Nach der Schlussintervention wird die Sitzung schnell beendet, eine Diskussion wird nicht gestattet« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 29). Zentrale Techniken der Mailänder Gruppe, die mittlerweile in der systemischen Therapie sehr verbreitet sind, sind die positive Konnotation aller Verhaltensweisen (vgl. Satir und Haley), Familienrituale, ausgedehnte Abstände zwischen den Sitzungen, paradoxe Verschreibungen und die Technik des systemischen Fragens. Nach der Trennung des ursprünglichen Teams entwickelten Selvini Palazzoli und Prata die sogenannte »invariante Intervention«, eine Technik, die wieder sehr an die Erfahrungen der strukturellen Familientherapie anknüpft. Mit der Familie werden zur Sammlung von Informationen und zur Hypothesenbildung zunächst zwei Sitzungen durchgeführt. Dann wird der Familie die Indikation einer Familientherapie unterbreitet, zur nächsten Sitzung werden aber nur die Eltern eingeladen. Nach der Frage nach den Reaktionen der Familienmitglieder und der Eltern wird in dieser Sitzung den Eltern folgende komplexe Verschreibung aufgetragen, die in vier Stufen auszuführen ist: 1. »Der Inhalt der Sitzung muss von dem Paar ausdrücklich geheim gehalten werden, das Paar hat dies jedem, der fragt ausdrücklich mitzuteilen. 2. Etwa nach einer Woche geht das Paar an genau bezeichneten Terminen und in einer genau verordneten Frequenz abends aus, ohne irgendjemandem zu sagen, wohin, vielmehr wird nur ein abwechselnd von dem Vater und der Mutter geschriebener Zettel auf den Küchentisch gelegt mit dem Text: ›Heute Abend werden wir nicht zu Hause sein.‹ Wie die Eltern den Abend verbringen, bleibt ihnen überlassen, die Bedingung ist nur, dass sie gegessen haben, wenn sie nicht vor 23 Uhr nach Hause kommen.

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3. Auf Frage der Kinder, wo sie gewesen seien, antworten die Eltern nur, dass dies Dinge seien, die nur sie etwas angingen. 4. Beide Eltern führen getrennt ein Tagebuch, in dem sie die verbalen und nonverbalen Reaktionen ihrer Kinder auf ihre Unternehmungen notieren. Diese Notizen werden in den Therapiesitzungen durchgesprochen« (von Schlippe u. Schweitzer, 1996, S. 32). Befolgen die Eltern diese Anweisungen, werden in den folgenden Sitzungen weitere, ähnliche Verschreibungen gegeben, wobei die Zeiten elterlicher Abwesenheit von zu Hause verlängert werden; als Letztes wird aufgetragen, ein ganzes Wochenende (oder noch länger) zu verschwinden. Bei kleineren Kindern haben sie dabei für einen Babysitter zu sorgen, der allerdings nicht der Verwandtschaft zugehören darf. Ich selbst habe einige sehr gute Erfahrungen mit dieser Art Intervention gemacht: Ohne lange darüber zu reden, sorgt sie für eine klare Grenze zwischen Eltern und Kindern, ein über die Grenzen der Generationen bestehendes »Spiel« kann nicht mehr einfach weitergespielt werden. Nicht selten reagieren Kinder zunächst mit heftigen Protesten, werden sie doch in ihren Einflussmöglichkeiten empfindlich beschnitten. Nach einiger Zeit reagieren sie aber in der Regel sehr entlastet, verzichten ihrerseits auf symptomatisches Verhalten und sind besser in der Lage, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Mit psychischen Problemen verbundene »Spiele« in der Familie kosten ja eine ganze Menge Kraft und behindern Kinder und Jugendliche meist nachhaltig, erwachsen zu werden. Nach der Trennung des Mailänder Teams gingen Boscolo und Cecchin einen etwas anderen Weg. Sie distanzierten sich insbesondere von der Gleichförmigkeit (Invarianz) von Selvini Palazzolis Interventionen. Sie schlossen sich mehr neueren systemischen Strömungen an, die davon ausgehen, dass sich Systeme nicht instruieren lassen. Es geht eher darum, festgefahrene Muster, Dialoge und Strukturen in Systemen zu verflüssigen und insbesondere durch den Gebrauch der Sprache um verschiedene alternative Perspektiven zu ergänzen. Inwieweit eine Familie solche Angebote annimmt, lässt sich nicht wirklich beeinflussen. Ziel ist zunächst die Konfusion der bestehenden symptomatischen Struktur, verbunden mit der Hoffnung, dass diese Konfusion im System konstruktive Suchprozesse auslöst. Gesetzt wird auf die selbstorganisierenden Kräfte des Systems, die durch verschiedene Interventionen zu wecken, aber eben nicht instruktiv zu beeinflussen sind. Damit schließt sich historisch ein Kreis zurück zur PaloAlto-Gruppe. Auch hier wurde bereits heftig darüber diskutiert, inwieweit der Therapeut »up« sein müsse, um erfolgreich therapieren zu können. Haley, der

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Stratege, vertrat sehr stark diesen Standpunkt, während Bateson bereits damals ein Eingreifen in selbstorganisierende Prozesse in Systemen eher skeptisch beurteilte. In dieser Diskussion geht es letztlich auch um die Frage der Macht des Therapeuten, und die Diskussion ist in vollem Gange, ohne dass sich ein Ende abzeichnete. Ich persönlich glaube, sie sollte auch gar kein Ende haben, weil beide Standpunkte ihre Berechtigung haben und meines Erachtens die Kunst der Familientherapie darin besteht, immer wieder neu einen guten Weg zwischen beiden Positionen zu finden. Wer sich als Therapeut zur Verfügung stellt, suggeriert allein schon dadurch, dass er Einflussmöglichkeiten und damit eine gewisse Macht besitzt. Klienten und Familien hoffen ja auch darauf und kommen deshalb in Therapie. Wenn es um Veränderung geht, soll der Therapeut diese Macht auch nutzen und versuchen, so auf das System einzuwirken, dass gewünschte Veränderungen wahrscheinlicher werden. Dieser Haltung haftet durchaus das Problem der Manipulation an, aber da halte ich es mit Watzlawick, der sagte, am manipulativsten seien jene Therapeuten, die jede Manipulation verleugnen. Und wenn Therapie nicht konstruktiv manipuliert, werden Veränderungen auch kaum möglich. Letztlich geht es sicher um eine ethische Frage, wie und im Dienste welcher Perspektive ich meine Macht und meine manipulativen (»magischen«) Fähigkeiten einsetze. Manche Therapeuten scheinen dabei mehr Wert auf ihre eigene Anerkennung und Reputation zu legen als auf die Frage, was für Klienten und Familien wirklich hilfreich ist. Die andere Seite der Diskussion ist auch eine Frage der persönlichen Bescheidenheit des Therapeuten: Ich weiß in Wirklichkeit natürlich nicht, was für andere gut ist. Was für mich gut war oder ist, muss für andere noch lange nicht erstrebenswert sein. Und im Laufe meiner beruflichen Entwicklung habe ich immer wieder gestaunt, dass Klienten oder Familien ganz eigene, besondere und mir fremde Lösungen gefunden haben, die womöglich nicht meinen Vorstellungen entsprechen. Die Klienten oder Familien konnten damit aber sehr gut leben, und das ist ja die Hauptsache. Gerade wenn wir in Institutionen tätig sind, verschärft sich die Problematik noch einmal auf eigene Weise: In einer Klinik ist die Machtfrage noch deutlicher präsent als in der freien Praxis, weil die institutionellen Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit den alltäglichen Ablauf und die Form der Behandlung nachhaltig prägen. Das habe ich zehn Jahre lang selbst in einer Klinik erlebt. Und gerade hier war ich oft sehr angenehm überrascht, dass Familien ohne Klinik oftmals besser auskamen, auch dann, wenn das Kind gegen ärztlichen Rat aus der Klinik entlassen wurde. Für manche Familien scheint eine solche Entscheidung enorme Kräfte freizusetzen, die, zunächst in Opposition zur Klinik,

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zu ganz beachtlichen Lösungen führen können. Ich habe daraus gelernt, meine Institution und auch mich selbst nicht mehr so ernst zu nehmen und mehr auf die Kräfte zu vertrauen, die in Klienten und Familien stecken. In diese Diskussion gehört auch die Frage, wie ausgeprägt die Distanz des Therapeuten zum System sein soll. Für mich persönlich ist klar: Wenn ich als Familientherapeut mit einer Familie zu arbeiten beginne, gehöre ich zum System; gemeinsam mit der Familie ist ein neues System entstanden, von dem ich mich in Wirklichkeit gar nicht distanzieren kann. Und dieses neue System ist ziemlich komplex, geprägt von vielen Einflussgrößen: die Geschichten der Familienmitglieder, meine eigene Geschichte, die Erwartungen, Hoffnungen und Ängste der Einzelnen, meine Erwartungen und Erfahrungen, die Erfahrungen der Einzelnen mit professionellen Helfern und Therapeuten und all den expliziten und impliziten Konzepten der Beteiligten darüber, was das Problem ist und wie eine Lösung aussehen könnte. Was die nun oft geforderte Distanz vom System betrifft, scheint sie mir insofern erforderlich, dass ich immer wieder reflektieren muss, inwieweit ich die »Spiele« oder das »Spiel« der Familie mitspiele. Und auf diese Gefahr hat die Gruppe um Selvini Palazzoli sehr eindringlich hingewiesen. Wenn ich als Therapeut in die Rolle des unfreiwilligen »Mitspielers« gerate, sind meine Chancen relativ gering, der therapeutische Prozess wird in diesem Fall sehr langwierig und anstrengend. Häufig kommt es zu Abbrüchen, und die Familie geht zum nächsten Therapeuten. Wenn wir z. B. in einer Klinik arbeiten, kommen Familien mit einem verhaltensauffälligen Kind dorthin. Die Familie kommt mit dem verständlichen Konzept, dem Kind fehle etwas und in der Klinik arbeiteten Fachleute, die diese »Krankheit« heilen könnten. Und in der Tat hat auch die Klinik in der Regel das Konzept, dass sie Krankheiten heilen kann. Ich sage gar nicht, dass diese Konzepte falsch sind, aber es liegen auch Gefahren und Beschränkungen darin: Wenn wir das Kind in der Klinik aufnehmen, einigen wir uns mit der Familie auf dieses Konzept und übernehmen implizit oder explizit die Verantwortung für die »Heilung«. Und bei Familien, bei denen es zur Stabilität des Systems gehört, dass ein Mitglied krank, schuldig oder der Sündenbock ist, tragen wir mit der Aufnahme des Kindes zur Stabilisierung dieses Systems bei. Versuche, dieses alte System in Unruhe zu versetzen, um bessere Lösungen zu etablieren, sind erfahrungsgemäß dann ziemlich mühsam, und in Besprechungen und Visiten sprechen wir immer wieder darüber, dass sich so wenig verändert. Die Ressourcen in der Familie werden dann oft wenig genutzt, und die Familie neigt immer wieder dazu, die Verantwortung auf die Klinik zu übertragen. Deshalb scheint es mir so wichtig, die Zeit vor einer Aufnahme so weit wie irgend möglich zu nutzen, wenn die Verantwortung

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noch ganz bei den Eltern liegt. Das Angebot einer Aufnahme lässt sich z. B. mit ganz bestimmten Bedingungen verknüpfen, die die Familie erfüllen muss. Im Idealfall wird die Familie dann so viele Veränderungen erreichen, um die Aufnahme des Kindes zu ermöglichen, dass die Aufnahme letztlich gar nicht mehr erforderlich ist. Noch ein anderer Aspekt der Distanz: In der Behandlung von Familien stoße ich immer wieder auf eigene Erfahrungen und damit zusammenhängende Gefühle; »schwierige« Familien bringen mich immer wieder auch mit den eigenen »Schwierigkeiten« in Kontakt. In der Psychoanalyse mündeten diese Phänomene ins Konzept der Gegenübertragung, deren Bedeutung auch uns systemischen Therapeuten sehr bewusst sein sollte. Die Gegenübertragung kann sehr gut genutzt werden, wenn wir mit unserer eigenen Geschichte in gutem Kontakt sind, auch mit den schmerzhaften Teilen unserer Vergangenheit. Dann können wir uns selbst (unsere Erinnerungen, unsere Gefühle, unsere Erfahrungen etc.) sehr gut nutzen (»Nutze dich selbst als Instrument«). Schwierig wird es, wenn die eigene Beteiligung schwer oder nicht zu ertragen ist und wir deshalb den Kontakt zu uns selbst verlieren. In solchen Situationen werden wir als Therapeuten nervös und hektisch, ratlos oder gelähmt, aggressiv oder ablehnend; wir verlieren die Distanz zwischen der eigenen Geschichte und der Familie, gleichzeitig entsteht im Kontakt zur Familie eine große Distanz, in der eine gute Zusammenarbeit kaum mehr möglich ist. Anzeichen für eine solche Entwicklung sind Magenschmerzen Stunden vor der nächsten Sitzung, unangenehme Träume von der Familie, physiologische Reaktionen wie Schnellatmigkeit, flacher Atem, Schwitzen und anderes. Es ist immer gut, solche Reaktionen aufmerksam wahrzunehmen. Dann können wir uns Zeit nehmen, allein oder mit lieben Kollegen die eigene Beteiligung etwas genauer anzuschauen und wieder eine gewisse Distanz zu schaffen, die den Kontakt zur Familie wieder erleichtert. Nach diesem Exkurs in die eigene Praxis lasse ich Mara Selvini Palazzoli noch selbst mit einem Kommentar zur Neuen Autorität zu Wort kommen: »Mir gefällt vor allem die klare Struktur in Haim Omers Konzept und seine guten Ideen zur Stärkung elterlicher Präsenz. Besonders beeindruckt bin ich davon, dass er in vielen Fällen die Kinder gar nicht kennenlernt, sondern nur mit den Eltern arbeitet, und das in einem kinder- und jugendpsychiatrischen Kontext. Das ist wirklich genial!«

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Lösungsorientierte Kurzzeittherapie (de Shazer u. a.) (nach von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 35 ff.) Das schöne Motto dieses Ansatzes könnte gut der Feder eines Hypnotherapeuten entspringen: »Problem talk creates problems, solution talk creates solutions!«, auch ein denkwürdiger Satz für psychiatrische Kliniken, wie ich finde. Die lösungsorientierte Kurzzeittherapie wurde etwa ab Mitte der 1970er Jahre am Brief Family Center in Milwaukee, USA, von Steve de Shazer, seiner Frau Insoo Kim Berg, Eve Lipchik und anderen Teammitgliedern entwickelt. Eine Kernaussage der Gruppe ist, es sei ein Irrtum in der Psychotherapie zu glauben, dass zwischen einem Problem und der Lösung immer ein Zusammenhang bestehe. Schön umschrieben wird diese Aussage in der Metapher des Türschlosses: »Die Klagen, mit denen Klienten zum Therapeuten kommen, sind wie Türschlösser, hinter denen ein befriedigendes Leben wartet« (de Shazer, 1989, S. 12). Alle Versuche, die Tür zu öffnen, sind bisher gescheitert. Die Therapie besteht nun im Auffinden des richtigen Schlüssels und nicht – wie in vielen anderen Therapien – darin, sich mit dem Türschloss, seinen Eigenheiten, seiner Geschichte etc. zu beschäftigen; die Lösung liegt im Schlüssel, nicht im Schloss. Das Türschloss kann noch so komplex sein, der Schlüssel ist häufig wesentlich einfacher. Die Haltung des Therapeuten setzt Ressourcen als vorhanden voraus, Ziel ist eine rasche Beendigung der Therapie. Deshalb ist hier die Frage sehr bedeutend, woran denn erkennbar wird, dass das Problem gelöst ist. Das Setting der Therapie hat eine einheitliche Struktur: Das Interview wird von Kollegen durch die Scheibe beobachtet, es kommt zu einer Unterbrechung. Nach der Pause wird dem/den Klienten ein Schlusskommentar mitgeteilt, meist verbunden mit einer Aufgabe. Die erste Sitzung hat meist folgenden Ablauf: 1. Einführung in die Arbeitsweise 2. Darlegung der Beschwerde 3. Exploration der Ausnahmen: Wann tritt das Problem nicht auf, wenn man es eigentlich erwartete? 4. Aufstellen von Therapiezielen 5. Definition potenzieller Lösungen 6. Unterbrechung: Konsultationspause 7. Bekanntgabe der Botschaft des Teams an die Klienten Die wesentlichen Techniken der lösungsorientierten Kurzzeittherapie sind: 1. Die Frage nach Veränderungen vor Therapiebeginn, also zwischen Anmeldung und Gesprächstermin (schon hier wird der Fokus auf Ausnahmen, also Lösungsmöglichkeiten gerichtet)

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2. Die »Wunderfrage«: »Wenn Sie heute Abend ins Bett gehen und das Problem durch ein kleines Wunder über Nacht plötzlich weg wäre, woran würden Sie es morgen früh als Erstes merken? Wie würde Ihre Partnerin, Ihre Tochter, Ihr Kollege reagieren? Was würden Sie als Erstes tun? Wer wäre am meisten überrascht? Wie wäre Ihre Beziehung drei Wochen nach dem Wunder? 3. Hausaufgaben: Das wesentliche Ziel rascher Veränderung lässt sich in der Regel nur mit neuen Erfahrungen erreichen, daher sind Hausaufgaben sehr wichtig. Hier zwei Beispiele: »Machen Sie etwas ganz anderes!« Die Überraschungsintervention besteht einfach in der Aufforderung, sich anders zu verhalten als gewohnt. Einem ständig streitenden Paar kann z. B. aufgetragen werden, den Partner einmal am Tag völlig zu überraschen. Diese Hausaufgabe eignet sich besonders bei Problemen, die mit immer wiederkehrenden Interaktionsschleifen zu tun haben. Oder: »In der Zeit von jetzt bis zu unserem nächsten Treffen möchte ich, dass Sie genau beobachten, was in Ihrer Ehe so bleiben soll wie bisher.« Auch hier richtet sich der Fokus ausschließlich auf Lösungen, und in der Tat berichten Klienten in der nächsten Sitzung zu etwa 90 % von positiven Ereignissen, die ansonsten womöglich gar nicht wahrgenommen und schon gar nicht erwähnt worden wären. Die Gruppe um de Shazer unterscheidet noch dreierlei Kategorien von Klienten, die auch die Formen der Interventionen und Hausaufgaben bestimmen: 1. Besucher: keine Freiwilligkeit, keine Veränderungserwartung, kein expliziter Auftrag. Hier werden nur Komplimente gemacht, bisherige Lösungen positiv bewertet, ansonsten keine Therapie(n) angeboten und keine Hausaufgaben gegeben. 2. Klagende: Es gibt konkrete Beschwerden, Veränderungen werden in erster Linie von anderen (Therapeuten, Partnern) erwartet. Hier werden vor allem Verhaltensbeobachtungs- und Denkaufgaben gestellt. 3. Kunden: Sie kommen mit einer Beschwerde und haben auch die Vorstellung, selbst aktiv etwas dagegen unternehmen zu können. Neben Beobachtungskommt es hier auch zu konkreten Verhaltensaufgaben. Wie kreativ und einfallsreich Kommentare in diesem Ansatz sein können, zeigt abschließend folgendes Beispiel: Eine Frau sucht wegen heftiger Streitereien mit ihrem Mann die Beratung auf. Fast täglich streiten sie um eine Schranktür, die sie immer offen lässt, während ihr Mann darauf besteht, dass sie geschlossen ist. Die Frau erhält schließlich den Auftrag, ihrem Mann Folgendes mitzuteilen: Das Auflassen der Schranktür sei eine unbe-

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wusste, ja vorbewusste Geste von ihr, die ihre Bereitschaft, mit ihm zu schlafen, signalisiere. Drei Wochen später berichtet die Frau: Es gebe überhaupt keinen Streit mehr, ihr Mann habe gesagt, das sei das Verrückteste, was er je gehört habe, und mache die Tür nun immer selbst zu.

Zu Haim Omer würde de Shazer sagen: »Das Reden über Probleme schafft Probleme, und das Reden über Lösungen schafft Lösungen. Das war ja immer mein Credo, und wahrscheinlich habe ich es damit gelegentlich auch übertrieben. Aber auch in meinem therapeutischen Leben war es wichtig, mich von alten therapeutischen Traditionen deutlich abzugrenzen, und die Problemorientierung klassischer therapeutischer Schulen war mir da ein willkommener Sparringspartner, um meinen lösungsorientierten Ansatz auszuarbeiten. Im Zuge dieses Prozesses habe ich u. a. die ›Wunderfrage‹ entwickelt, die Sie sicherlich alle kennen. Von meiner jetzigen Warte blicke ich auf Haim Omer und muss mit allem Respekt erkennen: Er schafft immer wieder das Wunder, ohne meine Frage danach zu stellen. Etwas anders formuliert würde ich sagen: Haim Omer versetzt Menschen, die den Glauben an ein Wunder verloren haben, in die Lage, wieder ein Wunder zu vollbringen. Ich denke da an Eltern, die sich hilflos und ohnmächtig fühlen, an Menschen, denen das Leben eher zustößt, als dass sie es gestalten, und an Kinder und Jugendliche, die in Kontexten fehlender Orientierung, Gebundenheit und Selbstwirksamkeit groß werden sollen. Was das bedeutet, habe ich in meiner Arbeit nicht immer in seiner ganzen Wucht berücksichtigt, und ich danke Haim Omer, dass er in der Begegnung mit seinen Klienten das ganze Ausmaß von Ohnmacht noch ernster nimmt, als ich es getan habe. Haim Omer ist für mich ein großer Familientherapeut lösungsorientierter Ausrichtung.«

Das reflektierende Team (Andersen) (nach von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 38 f.) Tom Andersen distanzierte sich vom klassischen Vorgehen der systemischen Therapie (Mailänder Modell), weil er die Diskussion des Teams hinter verschlossenen Türen für die Familien als erniedrigend empfand. Dem Konzept des reflektierenden Teams stand ein technisches Versehen Pate, als eine Familie einmal unbeabsichtigt die Diskussion des Teams mitverfolgen konnte und darauf hoch motiviert (und eben nicht erschüttert) reagierte. So war das Modell erfunden, das auch in puncto Machtfrage die systemische Therapie noch einmal revolutionierte. In diesem Konzept geht es in erster Linie um gute

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Kooperation zwischen Familie und Therapeuten; das Fehlen geheimer Diskussionen hinter der Scheibe und »genialer« Schlussinterventionen reduziert auch das Gefühl und den Nimbus therapeutischer Allmacht. Auf der anderen Seite sind Therapeuten in diesem Konzept auch gezwungen, ihre Sprache dem System der Klienten anzugleichen und stärker als in anderen Ansätzen die eigene emotionale Beteiligung einzubeziehen. Wie wir im Kurs selbst erlebt haben, entsteht daraus mehr eine Atmosphäre der Solidarität und damit im guten Falle ein therapeutisches System, in dem vorhandene Ressourcen auf besondere Weise genutzt werden können. Das hängt auch damit zusammen, dass die sonst relativ klare Grenze zwischen Therapeuten und Klienten eher »verflüssigt« wird. Dies setzt allerdings wiederum voraus, dass die Therapeuten mit ihren eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen in gutem Kontakt sind (s. o.); ist das nicht der Fall, erhöht sich die Gefahr bewertender oder abfälliger Kommentare im »Reflecting Team«, die für die Klienten sicherlich nicht hilfreich sind. Haim Omer hätte Tom Andersen insbesondere mit seinem Postulat der Transparenz überzeugt.

Die narrative Denkrichtung (nach von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 38 ff.) In diesem Ansatz geht es nicht mehr um Systemkonflikte, Grenzen und Hierarchien. Das Interesse geht weg vom persönlichen Verhalten und richtet sich mehr auf Ideen, persönliche wie kollektive, die in Kontexten jeder Art wie Geschichten erzählt werden. Die Wirklichkeit besteht ja aus nichts anderem als aus den Geschichten, die über sie erzählt werden; darüber sprechen Menschen miteinander, nicht über Grenzen, Koalitionen, Subsysteme oder Triangulierung (bei Familientherapeuten ist dies natürlich anders!). Die Familie ist nun ein spezielles System, in dem Geschichten auf sehr intensive Weise erzählt, gehört, entwickelt und weitergegeben werden; und jede Familie hat ihre eigene Tradition, Geschichten zu erzählen. Geschichten werden in der Regel nicht von einem Individuum erfunden, sie entstehen in einem Kontext, der von dieser Tradition stark geprägt wird. Entsprechend dieser Tradition werden Geschichten auch auf bestimmte Weise interpretiert, andere Interpretationen sind ausgeschlossen oder sogar verboten. Dieses Phänomen ist uns ja auch aus größeren Zusammenhängen bekannt, in extremer Form beispielsweise im deutschen Faschismus, aber auch in der Nachkriegszeit, in der die Vergangenheit als spezifische Geschichte erzählt wurde und bestimmte Interpretationen (wie etwa die kollektive Schuld des deutschen Volkes) kaum möglich waren.

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Die Geschichtstradition einer Familie hat also durchaus auch normativen Charakter, sie bestimmt gewissermaßen das »Glaubensbekenntnis« oder das »Familiencredo« (Stierlin) einer Familie. Die Rolle des Therapeuten besteht dann erst einmal darin, neugierig den Geschichten der Familie zuzuhören, sie zu verstehen und in guten Kontakt mit der speziellen Erzähltradition der Familie zu kommen. Die Haltung ist zunächst die des »Nicht-Wissens«, der Klient ist der Experte für seine Geschichten. Ziel ist gewissermaßen die Antwort auf die Fragen: »Welche Geschichten regieren dein/euer Leben? Willst du/wollt ihr, dass diese Geschichten weiterhin das Leben in diesem Ausmaß bestimmen?« Daraus ergibt sich dann die Suche nach neuem Wissen, nach Ausnahmen und letztlich nach Möglichkeiten, die Geschichten neu zu erzählen. Jeder Mensch folgt ja zunächst seiner eigenen Erzähltradition, in der bestimmte Dinge als sehr regelhaft, unveränderlich oder zwingend erforderlich dargestellt werden. »Mich mag sowieso keiner«, »Immer wenn ich etwas anfange, breche ich es wieder ab« oder »Ich bin schon immer zu kurz gekommen« sind beispielhafte Titel solcher Geschichten, die gleichzeitig das Empfinden einer Unausweichlichkeit vermitteln. Geschichten, die Ausnahmen belegen oder ganz andere Erfahrungen, werden in dieser Tradition dann nicht mehr erzählt. In der Therapie kommt es nun darauf an, gemeinsam mit den Klienten Geschichten solcher Ausnahmen zu entdecken und den Versuch zu unternehmen, die Geschichte zu verändern oder auch neu zu erzählen. Ein Klient beklagt etwa, seine Mutter habe die Schwangerschaft mit ihm eigentlich abtreiben wollen, was sein Leben bis heute stark belaste und ihn immer wieder an seiner Lebensberechtigung zweifeln lasse. Nur sein Vater und der Arzt hätten damals dafür gesorgt, dass seine Mutter die Schwangerschaft doch noch ausgetragen habe. Der Beginn einer neuen Geschichte liegt dann in diesem Fall in der Entscheidung der Mutter, das Kind letztlich doch nicht umzubringen, sondern am Leben zu erhalten: »Und das Baby blieb am Leben, immerhin schon 45 Jahre lang.« So ließe sich eine neue Erzähltradition entwickeln, die mehr dem Leben zugewandt ist und am Ende womöglich zu einer ganz neuen Beziehung des Mannes zu seiner Mutter führen könnte. Das »Happy End« der Geschichte könnte dann sein, dass der Mann seiner Mutter dankt, dass sie sich letztlich so entschieden hat, und hinzufügt: »Und jetzt mache ich was aus meinem Leben!« Mir gefällt an diesem Ansatz, dass er die Relativität von Wirklichkeit so schön deutlich macht und uns einlädt, kreativ und einfühlsam neue Geschichten und Interpretationen zu konstruieren, die auch zu neuen Wirklichkeiten führen. Schön ist auch die Bescheidenheit des Therapeuten, der ja nicht weiß, was für den Klienten gut ist. Er begegnet der Erzähltradition des Klienten mit großem

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Respekt und kann dann in der Tradition der alten Märchenerzähler die Kraft von Märchen und Geschichten nutzen, die Erzähltradition des Klienten zu verändern. Damit gibt es wieder eine Verknüpfung mit der Hypnotherapie, in der Geschichten und Metaphern zu den wichtigsten Techniken zählen, deren Wirkung immer dann am größten ist, wenn sie an der Erzähltradition des Klienten ansetzen und davon ausgehend neue Möglichkeiten aufzeigen. Michael White, ein Pionier des narrativen Ansatzes, war ein echter Meister des Erfindens und Erzählens von Geschichten. Auch er hätte sich sicher gern mit Haim Omer verbunden und zu dessen Arbeit etwa Folgendes gesagt: »Das Problem ist das Problem, und nicht die Person ist das Problem! Menschen sind Experten ihres Lebens, und nach meiner Überzeugung müssen wir dazu beitragen, dass Menschen wieder die primären Autoren der Geschichten werden, die sie leben. Und wenn sie wieder die primären Autoren ihrer Geschichten werden, sind sie auf dem besten Weg zur Neuen Autorität, über die Haim Omer so viel geschrieben hat. Probleme werden in kulturellen Kontexten konstruiert. Diese Kontexte beinhalten Machtbeziehungen der Rassen, sozialen Klassen, sexuellen Präferenzen, des Geschlechts, der Benachteiligung usw. Die Probleme, derentwegen Menschen Therapeuten aufsuchen, führen dazu, dass sie eine minderwertige Meinung über ihr Leben und ihre Beziehungen haben. Die Meinungen bewirken, dass Menschen sich selbst in irgendeiner Weise als defizitär sehen; das macht es schwierig, Zugang zu ihrem Wissen, ihren Kompetenzen und Möglichkeiten zu finden. Dieses Wissen, diese Kompetenzen und Fähigkeiten können ihnen zugänglich gemacht werden, sodass ihr Leben vom Einfluss des Problems befreit wird. Dies sind die Grundlagen meiner therapeutischen Arbeit, die ich unter dem Namen ›Narrative Systemische Therapie‹ entwickelt und veröffentlicht habe. Haim Omer ist ein großer narrativer Therapeut, weil er Menschen nachhaltig dabei hilft, neue und schönere Geschichten über sich und ihre Familien zu erzählen. Seine Arbeit zur Neuen Autorität ist ein besonderes Narrativ, das ich gern selbst entwickelt hätte und dem ich mich sehr verbunden fühle.«

Nachdem gerade so viel von Geschichten die Rede war, folgt nun zur Überleitung zum Ansatz von Bert Hellinger die kleine Geschichte vom Eisbären: »Da war einmal ein Eisbär, den haben sie im Zirkus mitgefahren. Die haben ihn aber nicht für die Vorstellung gebraucht, sondern nur zur Ausstellung. Er war also immer in dem Wohnwagen drin. Der war aber so eng, dass er sich nur zwei Schritte vorwärts und zwei Schritte rückwärts bewegen konnte. Dann haben sie Mitleid gehabt mit dem Eisbären und haben sich gesagt: ›Den verkaufen wir jetzt in einen Zoo.‹

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Dort hatte er nun ein großes, freies Areal. Doch auch da ging er immer nur zwei Schritte vor und zwei Schritte zurück. Da fragte ihn ein anderer Eisbär: ›Ja, warum machst du das?‹ Da sagte er: ›Das kommt daher, weil ich so lange im Wohnwagen war‹« (Weber, 1993, S. 45).

Der Ansatz Bert Hellingers (nach von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 42 ff.) Hellingers Ansatz einer »Ultra-Kurztherapie« besteht vor allem aus den sogenannten »Aufstellungen«, einer Art Skulpturarbeit, in der eine Person im Rahmen einer Gruppe ihre Herkunftsfamilie aufstellt. Wesentliche Informationen sind hierfür lediglich Basisdaten äußerer Ereignisse: Ist jemand verstorben oder ausgeklammert, gibt es einen wichtigen früheren Partner etc. Nicht von Interesse sind ausführliche Personenbeschreibungen oder lange Anamnesen. In den Skulpturen sucht Hellinger anschließend nach einem guten Bild für den Betroffenen. Dieses Bild repräsentiert dann eine »gute Ordnung«, ein neues inneres Bild als Ressource. Geleitet wird Hellinger von den Rückmeldungen der Teilnehmer/-innen, ob eine bestimmte Konstellation oder Veränderung in der Aufstellung der Gruppe für sie besser oder schlechter ist. Verblüffend an diesem Ansatz ist, wie schnell er zu sehr existenziellen Themen führt und wie jeweils so oder so aufgestellte Rollenspieler Reaktionen zeigen, die auf fast wundersame Weise zentrale Lebensthemen des Betroffenen berühren (obwohl ja kaum detaillierte Informationen gegeben waren). Das Ende der Aufstellungsarbeit bildet oft ein bestimmtes Ritual, ein Satz oder die Metapher einer Lösung. Dieses Konzept beinhaltet einige zentrale Gedanken: 1. Die Ursprungsordnung: Hellinger geht davon aus, dass zumindest im westlichen Kulturkreis eine »Ursprungsordnung« besteht, die sich nach dem Zeitpunkt des Eintritts in ein System richtet. Ein früheres Mitglied hat einen höheren Rang als ein späteres, die Eltern haben Vorrang vor den Kindern, Erstgeborene vor den später Geborenen. Soweit diese Ursprungsordnung respektiert wird, können Beziehungen gelingen; wenn sie verdreht wird, entstehen Störungen. Das gelte nicht nur für Familien, sondern auch für Organisationen, in denen z. B. ein neuer Abteilungsleiter keine Chance hat, wenn der alte nicht gewürdigt wird. Bei Vorliegen einer psychischen Störung befindet sich die betroffene Person meist in einer Position, die ihr nicht zusteht bzw. ihr nicht gemäß ist. Die Anmaßung ist der zentrale Motor der Verstrickung und die Demut die Lösung. Ein Beispiel hierfür wäre ein Kind, das sich anmaßt, die Beziehung der Eltern in Ordnung zu bringen. Das Kind

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handelt hier der Ursprungsordnung zuwider, und in der Symptombildung lässt sich oft eine Bestrafungsdynamik beschreiben. Therapeutisches Ziel ist, dass das Kind dann demütig vor seine Eltern tritt, damit sich ein innerer Frieden einstellt. Im Sinne dieses Ziels soll der Betroffene z. B. zu seinen Eltern sagen: »Ich danke euch für alles, was ihr für mich getan habt, aber es reicht, den Rest mache ich allein« (Hellinger, 1995, zit. nach von Schlippe u. Schweitzer, S. 44). Auch seinen Eltern zu verzeihen, hält Hellinger für eine Anmaßung, die Kindern nicht zusteht. Respekt und Demut können dann auch bedeuten, eine von den Eltern aufgeladene Schuld bei ihnen zu belassen, etwa in Fällen von Misshandlung. Problematisch wird es auch immer dann, wenn ein Mitglied des Systems ausgeschlossen oder ausgeblendet wird, z. B. ein früherer Partner oder ein früh verstorbenes Kind. Hellinger erklärt die Bedeutung Ausgeklammerter mit dem Konzept der Identifikation: Ein späteres Mitglied im System ist unbewusst mit dem Ausgestoßenen identifiziert und versucht, für diesen etwas gutzumachen. Die Lösung liegt auch hier im Ablegen der Anmaßung, was meist gelingt, indem man den Ausgestoßenen anschaut, ihn würdigt und ihm einen guten Platz zuweist. Eng mit dem Phänomen der Identifikation verknüpft ist die Dynamik der Nachfolge: Ein späteres Mitglied des Systems versucht einem früheren Mitglied nachzufolgen, das z. B. durch Suizid verstorben ist. Dieser begangene Suizid wird schuldhaft erlebt, und der Überlebende kann das Leben nicht wirklich nehmen. In solchen Fällen spricht Hellinger vom Phänomen der systemischen Verstrickung. 2. Ausgleich von Geben und Nehmen: In jedem System geht es darum, dass gegeben und genommen wird. Der, der gibt, ist dabei in einer scheinbar vorteilhaften Position, der, der nimmt, macht sich schuldig. Viele Menschen versuchen vor diesem Hintergrund, »unschuldig« durchs Leben zu gehen. Ihre Weigerung, zu nehmen, oft mit Depressionen verbunden, führt immer zu Störungen. Störungen gibt es auch, wenn Menschen versuchen, nur zu geben (Helfer-Ideal); auch diese Haltung ist beziehungsfeindlich, ein gesunder Ausgleich von Geben und Nehmen kommt nicht zustande. Wo es gelingt, zu nehmen, etwa von den Eltern, erfahren die Betroffenen oft eine enorme Zufuhr an Energie und Kraft. 3. Die unterbrochene Hinbewegung: Die frühe Hinbewegung des Kindes zur Mutter bzw. zu den Eltern ist ein natürlicher körperlicher Vorgang. Wenn dieser Vorgang durch ein Trauma oder eine frühe Trennung nachhaltig unterbrochen wird, blockiert das Kind seine Fähigkeit, zu nehmen. Therapeutisches Ziel ist es, die Hinbewegung wieder möglich zu machen und sie zu ihrem Ziel zu führen: der Erfahrung der Liebe und dem Gefühl der Dank-

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barkeit. In Aufstellungen gelingt dies z. B. durch feste Umarmungen. Dass es sich in der Aufstellung nur um Repräsentanten der Familienmitglieder handelt, spielt hierfür überhaupt keine Rolle. Auch wenn bei Hellinger die Demut eine zentrale Rolle spielt, geht es ihm letztlich darum, einen Menschen aus der Position des Opfers und der Ohnmacht herauszuführen. Ziel ist eine autonome und kraftvolle Position, die jemand eben nicht haben kann, solange er systemisch verstrickt ist und an seiner anmaßenden Haltung festhält. Hellingers Ansatz wurde und wird immer wieder heftig kritisiert, vor allem weil seine Aussagen zum Teil sehr dogmatisch gehalten sind. Dies widerspricht der Auffassung von Wirklichkeit als etwas Relativem, letztlich in unseren Köpfen Konstruiertem. Nachdem ich Hellinger und einige seiner Schüler selbst erlebt habe, bin ich vom Ansatz, der Wirksamkeit und auch der Richtigkeit der im Einzelfall formulierten »Wahrheiten« sehr überzeugt. Durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen und Videoaufzeichnungen ist aber die Gefahr entstanden, Details aus dem Zusammenhang gerissen wahrzunehmen und weiterzugeben. Damit verbunden ist auch die Gefahr, dass sich Therapeuten einer sehr intensiven Methode bedienen, ohne die entsprechende Erfahrung zu haben, mit auftretenden Reaktionen professionell umzugehen. Interessant ist der Erfolg Hellingers gerade vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Situation, in der Orientierungslosigkeit, Werteverfall, auseinanderbrechende Strukturen und nicht zuletzt die starke Beliebigkeit von Wirklichkeitskonstruktionen zu sehr viel Verunsicherung geführt haben. In solch einer Epoche wächst offensichtlich das starke Bedürfnis vieler Menschen, einem »Meister« zu folgen, der über Wahrheit und Strukturen eindeutige Aussagen macht. So gut ich Hellingers Arbeit finde – er ist fraglos ein großer Therapeut –, als so gefährlich beurteile ich die Tendenz vieler Suchender, einem »Guru« zu folgen, dessen Methoden undifferenziert nachzuahmen und damit auch der Verführung scheinbarer Macht aufzusitzen.

Fazit Neben der bündelnden Darstellung systemischer Grundlagen und der wichtigsten systemischen Ansätze habe ich versucht, Haim Omers Konzept der Neuen Autorität als durchaus systemisches Konzept einzuordnen. Mit den Mitherausgebern teile ich die Auffassung, dass »Stärke statt Macht« eine Bereicherung systemischen Denkens und Arbeitens ist, die sich mit verschiedensten systemischen Konzepten hervorragend und zweckmäßig verbinden lässt.

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Im Verzicht auf lange Anamnesen und Hypothesenbildungen zu möglichen Ursachen eines Problems ist das Konzept sehr lösungsorientiert. In seinem Fokus auf die elterliche Präsenz und deren Stärkung ist es durchaus ein Ansatz struktureller Familientherapie. Mit seinem engen Bezug zur Bindungstherapie und seinem Bemühen um das Stärken von Beziehungen ist es auch mit erfahrungsorientierten Ansätzen wie denen Virginia Satirs verwandt. Und in seinem praktischen Vorgehen und den damit verbundenen theoretischen Überlegungen kann es gut als Ansatz strategischer Familientherapie beschrieben werden. Weil in der Arbeit immer wieder sehr klar zwischen Person (Kind, Jugendlicher) und Problem getrennt wird (Widerstand gegen das gefährliche Verhalten und nicht gegen das Kind), findet sich hier auch ein Herzstück der Konzeption Michael Whites wieder. Systemtheoretisch lässt sich zusammenfassen: Wenn es Eltern/Erziehungsverantwortlichen wieder gelingt und wenn sie sich entschieden haben, die Verantwortung für die Beziehungsgestaltung zu übernehmen, geschieht dies aus der Haltung »Ich kann dein Verhalten nicht ändern, ich kann jedoch mein Verhalten und meine Haltung ändern«. Von der Systemtheorie wissen wir: Wenn ein Mitglied eines Systems etwas verändert, hat dies Auswirkungen auf das gesamte System. Die unabhängig vom Verhalten des Kindes bestimmten Handlungen der Eltern (Ausstieg aus der Eskalation, Transparenz oder Gesten der Versöhnung) sind Handlungen, die im systemischen Sinne eine Veränderung im Kontext, in den Rahmenbedingen zur Folge haben sowie eine neue Gestaltung der familiären Beziehungen ermöglichen. Die Wechselwirkungen im System Familie können sich wieder neu gestalten. Gewaltfrei, beziehungsorientiert, unterstützend. Mithin wird mit Haim Omers Konzept ein Rahmen geschaffen, der der Selbstorganisationsdynamik mehr Handlungsoptionen zur Verfügung stellt. Es wird ein Unterschied geschaffen, der einen Unterschied macht. Der Begriff »Autorität« im Konzept hat verschiedentlich kontroverse Diskussionen ausgelöst, zumal »Autorität« in unserem Land immer noch ein problematisches Wort zu sein scheint. Die Diskussionen erinnern auch an frühere Kontroversen über die machtvolle Position des Therapeuten/Beraters. In der Praxis ist sicher immer wieder zu prüfen, ob aus der intendierten Stärke im Einzelfall nicht doch Macht entsteht, die einer systemischen Haltung zuwiderlaufen würde. Wenn etwa die kindliche Entwicklung in hohem Maße den narzisstischen Bedürfnissen der Eltern dienlich sein soll (Stichwort »Adultismus«), könnte die gute Idee der Neuen Autorität missbraucht werden und das systemische Postulat der Neutralität verletzen. Auch vor diesem Hintergrund ist es uns so wichtig, die dem Konzept zugrunde liegende Haltung zu betonen und zu entwickeln.

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1.3 Skizze einer Systemtheorie der Neuen Autorität – Was können wir von Unternehmerfamilien lernen? Arist von Schlippe

Vorbemerkung In diesem Beitrag soll es darum gehen, aus einer systemtheoretischen Perspektive heraus auf das Konzept der Neuen Autorität (NA) zu blicken, das von Haim Omer erarbeitet und von ihm gemeinsam mit mir in Deutschland vorgestellt und weiterentwickelt wurde (Omer u. von Schlippe, 2009, 2010; Omer, Steinmetz, Carthy u. von Schlippe, 2013). Im Zentrum dieses Konzepts stehen Begriffe wie Präsenz (dabei vor allem die elterliche Präsenz gegenüber Kindern), Bindung und Ankerfunktion – Letztere soll es ermöglichen, eine bedrohte Bindungsbeziehung wieder zu stabilisieren, statt diese durch das eskalative Insistieren auf der Durchsetzung von Forderungen weiter zu beschädigen. Da Begriff und Konzept der NA schon verschiedentlich vorgestellt wurden und auch in diesem Buch behandelt werden, wird an dieser Stelle darauf verzichtet, die Entwicklungsgeschichte und die zentralen Bestandteile des Konzepts und seiner Interventionsformen darzustellen, ihre grobe Kenntnis wird hier vorausgesetzt (vertiefend sei auf die bereits angegebene Literatur verwiesen). Stattdessen wird mit diesem Beitrag das Ziel verfolgt, eine explizit systemtheoretische Sicht auf die NA zu entwickeln. Dies soll einführend auf dem Umweg über die Erfahrungen mit Unternehmerfamilien erfolgen. Diese Familien sind insofern besondere Familien, als sie kontinuierlich zwei unvereinbare Kommunikationslogiken, die der Familie und die des Unternehmens, ausbalancieren müssen. Manchmal kommt es dabei zu »schrägen Anschlüssen«, die potenziell konflikthaft sind: An eine Kommunikation in Entscheidungslogik (»Du kommst nicht ins Unternehmen!«) wird kommunikativ in Bindungslogik angeschlossen (»Du hast mich ja noch nie geschätzt!«). Die Akteure erkennen im Allgemeinen nicht, dass die Kommunikation sich hier »verlaufen« hat, sondern rechnen ihre Gefühle von Verletztheit und Verwirrung jeweils dem anderen zu – mit der möglichen Folge weiterer Verschärfung der eskalativ-konflikthaften Dynamik (von Schlippe, 2014).

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Unternehmerfamilien sind damit ein sehr gutes Beispiel, um den Systembegriff der Theorie sozialer Systeme einzuführen, nach dem als Elemente des Systems nicht Menschen, sondern Kommunikationen angesehen werden: Das System »besteht« aus der Art und Weise, wie eine Kommunikation an die andere anschließt. Wie sich dann im weiteren Verlauf des Beitrages zeigen soll, sind die Prozesse in diesen Familien gar nicht so anders als in anderen sozialen Zusammenhängen. Es zeigt sich hier nur wie unter einer Lupe eine Dynamik, die eigentlich auch im Alltag in unzähligen Situationen vorkommt: Personen bewegen sich häufig in mehreren Kontexten gleichzeitig, und nicht immer ist ganz klar, wohin die jeweilige Kommunikation gehört. Die auf diesem Weg neu in das Konzept der NA eingebrachten Begriffe sind: Polykontexturalität, Kontextmarkierung und »symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien«. Was es mit diesen Begriffen genau auf sich hat, soll der Beitrag im weiteren Verlauf zeigen.

Zum Systembegriff Was lernen wir von Unternehmerfamilien? Im Licht der Theorie sozialer Systeme (Luhmann, 1984) sind die Elemente eines sozialen Systems nicht Menschen, sondern Kommunikationen. Für gewöhnlich ist das beim ersten Lesen oder Hören schwer nachzuvollziehen, da es doch der naiven Anschauung widerspricht, nach der die Elemente eines sozialen Systems selbstverständlich »Menschen« seien – eine Familie »besteht« doch schließlich aus Menschen, oder? Doch bei genauerem Hinsehen ist diese Bestimmung unscharf, »handelt man sich eine Komplexität ein, die jede Modellbildung überfordert« (Simon, 2007, S. 86). Zum einen liegt es dann nämlich nahe, Erklärungen für das Verhalten eines Menschen durch Rückgriff auf in ihm ablaufende innere Prozesse zu suchen, also ihr Verhalten durch Zuschreibung von Motiven (»Das hat A gemacht, weil er/sie auf B sauer war!«) oder durch Hypothesen über körperliche oder seelische Zustände (»Sie ist krank!«; »Er ist einfach bösartig!«) zu erklären. Zum anderen muss man sich fragen, wie man etwa ein soziales System wie Familie dann eigentlich genau abgrenzen kann: »… was heißt das? Heißt das, dass die gesamten Lebensprozesse der Mitglieder bis hin zum Molekülaustausch in ihren Zellen Teilprozesse des Familiensystems sind? Oder dass doch wenigstens alles, was an aktueller Gedankenarbeit in den Köpfen der Mitglieder abläuft […] ein Systemprozess ist?« (Luhmann, 2005, S. 189). Eine interessante Frage, was es für die Familie als System heißt, wenn

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ein Familienmitglied in der Straßenbahn mit Freunden sitzt, über die Schule plaudert und gerade noch nicht einmal an Familie denkt. Wo ist dann die Familie? Und ist der Mensch in dem Moment dann Familienmitglied oder Freund oder beides? Und wie kann das sein, dass ein Mensch, der als ganzer Mensch Element des einen Systems ist, zugleich »beides« sein kann? Natürlich, wird man sagen, jetzt sitzt er da mit Freunden, zwar immer noch auch als Familienmitglied, aber eben auch als Mitglied eines Freundschaftssystems. Damit hat man aber implizit bereits einen anderen Systembegriff eingeführt, einen, der auf Mitgliedschaft bzw. auf Rolle beruht. Damit trennt man aber schon den Begriff »Mensch« von dem Begriff »Rolle«. Denn so gesehen sind die Elemente des Systems schon nicht mehr die Menschen, sondern die jeweiligen Rollen, die er oder sie innehaben kann, und in jeder der Rollen ist der Betreffende in unterschiedlichen Systemen Mitglied. Und eigentlich ist der Schritt zum Blick auf Kommunikation als Systemelement dann nicht mehr weit, denn aus der einen Rolle (als Freund) heraus kommuniziert eine Person ja ganz anders als aus der anderen (als Tochter/Sohn). Doch auch der Rollenbegriff könnte noch dazu verleiten, das Verhalten und Sprechen des Einzelnen mit inneren Motiven zu erklären und sich damit eine schwer zu handhabende Komplexität einzuhandeln. Für die Theorie sozialer Systeme ist es daher folgerichtig, darauf zu verzichten, sich soziale Systeme »materiell« vorzustellen, das gilt auch für psychische Systeme, das soll aber an dieser Stelle nicht vertieft werden (genauer hierzu von Schlippe u. Schweitzer, 2019). Die Systemtheorie geht also davon aus, »dass soziale Systeme […] nicht aus festen Partikeln (ganz zu schweigen von ›Individuen‹) bestehen, sondern nur aus Ereignissen, die, indem sie vorkommen, schon wieder verschwinden« (Luhmann, 2000, S. 152). Die Herausforderung besteht dann darin, sich von der Vorstellung von der manifesten Substanz eines »irgendwo da draußen« existierenden Systems und seiner Mitglieder zu lösen. Das soziale System als Sinnsystem »besteht« dann aus der Art und Weise, wie eine Kommunikation an die andere anschließt – und das Kommunikationssystem, das dann entsteht, entwickelt eine eigene Qualität, die sich nicht nur als die Summe der Bewusstseine der Akteure erklären lässt. Was das konkret bedeutet, soll am Beispiel einer Unternehmerfamilie verdeutlicht werden, nennen wir sie Familie Abel (ausführlich in von Schlippe, 2018): Ein junger Mann, Mitte zwanzig, bittet um Beratung. Irgendetwas stimme nicht mit der Familie. Seit die Eltern, beide Inhaber eines kleinen Tagungshotels, ihn eingeladen hätten, in die Nachfolge im Unternehmen zu kommen, sei es unmöglich geworden, miteinander zu reden, ohne dass es sofort knallt.

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Die beginnende Beratung zeigt eine Familie, in der die Kommunikation in Folge eines schon längere Zeit eskalierten Konflikts tatsächlich sehr belastende Formen angenommen hat. Es ist mühsam, mit der Familie zu sprechen. Fast auf jede Aussage des einen reagiert ein anderer mit heftigem, hoch emotional vorgetragenem Widerspruch. So dauert es einige Zeit, bis sich zwei Themen herausschälen, an denen ein Phänomen deutlich wird, was ich »schräge kommunikative Anschlüsse« genannt habe (von Schlippe, 2014, 2018): »das Juwel« und »der Businessplan«. Folgendes ließ sich rekonstruieren: Die Eltern hatten dem Sohn und seiner Freundin zu Weihnachten angeboten, in die Nachfolge einzusteigen. Alle waren sehr gerührt gewesen, man hatte sich gut vertragen. Umso größer war auf beiden Seiten die Enttäuschung, als nach vier Wochen die Junioren wiederkamen, um den Eltern Abel einen Businessplan vorzustellen mit strategischen Optionen für Veränderungen des Unternehmens und mit detaillierten Schritten bis zur Übernahme. Die Eltern, vor allem der Vater, reagierten wütend und tief verletzt: So hatten sie sich das nicht vorgestellt! Die jungen Leute, und hier besonders der Sohn, fühlten sich ebenfalls zutiefst missverstanden und abgelehnt. Beide Seiten unterstellten der jeweils anderen negative Motive (»Unverschämtheit, ihr wollt uns aus dem Unternehmen drängen! Ihr seid undankbar und gierig!« – »Ihr habt das gar nicht ernst gemeint, wolltet uns offenbar bloß als billige Arbeitskräfte haben, und irgendwann wäret ihr dann vielleicht mal nach fünf bis sechs Jahren ›gnädig‹ bereit, uns vielleicht ins Unternehmen hineinzunehmen! Nein, nicht mit uns!«), die bis zur Unterstellung psychischer Störung gingen (»Da stimmt doch etwas nicht im Oberstübchen!«). Das Dilemma der Familie ließ sich – wie gesagt, hier nur im Zeitraffer vorgestellt – klären durch die folgende Übung: Es wurden vier Stühle jeweils zwei zu zwei einander gegenübergestellt, sie symbolisierten den Vater- bzw. Unternehmerstuhl und den Sohn- bzw. Nachfolgerstuhl. Sehr schnell wurde deutlich, dass beide innerlich auf nicht zueinander passenden Stühlen »gesessen« hatten: Vater Abel hatte sein Angebot vom Vaterstuhl aus gemacht, er hatte es in Familienlogik eingeordnet, der Sohn Abel hatte aber gemeint, auf dem Nachfolgerstuhl zu sitzen und ein Angebot vom Vater auf dem Unternehmerstuhl zu bekommen – daher war der »Businessplan« für ihn die richtige Antwort, während der Vater sich durch genau diese Antwort auf dem anderen Stuhl tief gekränkt fühlte. Die Kommunikation hatte sich »verirrt«. Auf ein Angebot, das in der Kommunikationslogik der Familie gemacht worden war, war in der Logik des Unternehmens angeschlossen worden, eben »schräg«. Es war für die Kommunikation nicht klar, in der Logik welches Systems sie sich gerade bewegte.

Unternehmerfamilien zeigen damit einen Aspekt sozialer Systeme besonders deutlich: Wir sehen dieselben Menschen im Raum, doch wenn wir die Kommunikation beobachten, können wir auf die Präsenz zweier sehr verschiedener

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Systeme schließen. Kurz gefasst basiert die Kommunikationslogik einer Familie auf Bindung, d. h., eine Kommunikation wird jeweils als Ausdruck der Bindungsbeziehung verstanden; es wird also jeweils sehr sorgfältig darauf geachtet, was die jeweilige Kommunikation für die Bindungsbeziehung zwischen zwei oder mehr Menschen bedeutet, denn die »ganze Person« ist für die Familie wichtig (man spricht hier auch von »Vollinklusion«). Die Logik eines Unternehmens ist dagegen auf Entscheidung hin ausgerichtet, denn Organisationen operieren im Medium der Entscheidung: Es wird gar nicht oder nur wenig danach gefragt, was das Gesagte für den Menschen persönlich bedeutet, sondern nur, was es jeweils für das Funktionieren des Unternehmens heißt – es interessieren nur die Teilaspekte einer Person (»Teilinklusion«), die für die Wahrnehmung der Funktion von Bedeutung sind (ob ein Controller auch gut Klavier spielt oder gern Erdnüsse isst, ist für organisationale Kommunikation nicht von Bedeutung). »Schräge Anschlüsse« entstehen dann, wenn an eine Kommunikation in Entscheidungslogik (»Du kommst nicht ins Unternehmen!«) in Bindungslogik angeschlossen wird (»Du hast mich ja noch nie geschätzt!«) und umgekehrt. Im Beispiel der Familie Abel saßen vier Menschen im Raum, doch konnte man auf die Präsenz zweier Sozialsysteme schließen, die jeweils eine ganz andere Logik der Kommunikation implizierten. Wir stoßen hier auf die Paradoxie1, dass zwei höchst unterschiedliche Erwartungskomplexe (Systemlogiken) gleichzeitig präsent sind: Unternehmerfamilien sind sozusagen »verdoppelte Familien«, weil sie andauernd verschiedene Logiken balancieren müssen. Sie sind einerseits als Familie natürlich ganz normale Familien. Andererseits aber sind sie als Unternehmerfamilie immer auch ein Stück weit Organisation – und damit folgt die Kommunikation sowohl der einen als auch der anderen Logik (von Schlippe, Groth u. Rüsen, 2017). Nicht immer ist genau klar, welches System gerade »aktiv« ist. So ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass bei allen möglichen Gelegenheiten, etwa dem Sonntagsfrühstück, die Unternehmensstrategie besprochen wird, umgekehrt zeigt die Geschichte einer Unternehmensnachfolgerin, dass auch ein Unternehmenskontext nicht davor schützt, dass plötzlich Familienkommunikation »einbricht«: In einer Aufsichtsratssitzung (der Vater war nach seinem Ausscheiden dort Vorsitzender geworden) schaut der Vater durch seine Brille auf ein Dokument, stutzt und gibt ihr die Brille mit den Worten: »Hier, mach mal eben sauber!« 1 Genau besehen handelt es sich um eine pragmatische Paradoxie: Eine Person erlebt sich gleichzeitig zwei unvereinbaren Verhaltenserwartungen ausgesetzt – das typische Beispiel ist die Klage unter Partnern: »Nie sagst du mir, dass du mich liebst!« – »Na gut, also: Ich liebe dich!« – »Nein, das sagst du jetzt ja nur, weil ich es sage, du sollst es mir freiwillig sagen!« (ausführlich für Familienunternehmen siehe von Schlippe, Groth u. Rüsen, 2017).

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Die Rekonstruktion der Dilemmata von Unternehmerfamilien zeigt deutlich, wie sehr man sich theoretisch verlieren kann, wenn man Menschen als Elemente sozialer Systeme zugrunde legt. Ein Dilemma wie das der Familie Abel würde sich systemtheoretisch nicht rekonstruieren lassen, wenn man davon ausginge, soziale Systeme wären in irgendeiner Weise materiell zu fassen. Soziale Systeme sind unsichtbar Mit einem nun so geschärften Blick kann man sagen: Ein Sozialsystem »besteht« nicht aus den im Raum versammelten Menschen, als Sinnsystem ist es vielmehr dadurch gekennzeichnet, wie eine Kommunikation an die andere sinnhaft anschließt. Die jeweiligen Kommunikationen sind dann die Elemente sozialer Systeme. Sie treten in Erscheinung und vergehen sofort wieder, aber sie folgen nicht zufällig aufeinander. Man kann soziale Systeme nicht sehen, sie sind »unsichtbar«, man kann sie nur aus der Art erschließen, wie eine Kommunikation auf die andere folgt. Und auch die Beteiligten können die sozialen Systeme nicht sehen, bewegen sich intuitiv (und sehr oft auch passend) in den jeweiligen Logiken, sodass die Kommunikation in vielen Momenten gut »weiß«, wohin sie gehört. Es können dann auch – und wohl gar nicht so selten – mehrere Systeme gleichzeitig »anwesend« sein (falls das Wort »an-Wesen-d« hier überhaupt einen Sinn ergibt). Luhmann spricht in dem Zusammenhang von »Verschachtelungsverhältnissen«: »[…] selektive Prozesse können […] mehreren Systemen zugleich angehören, können sich also an mehreren System/Umwelt-Referenzen zugleich orientieren. Soziale Systeme sind daher nicht notwendigerweise wechselseitig exklusiv – so wie Dinge im Raum« (Luhmann, 2009, S. 21 f.). Unternehmerfamilien zeigen dies besonders prägnant: Hier ist man ständig und gleichzeitig Mitglied in (mindestens zwei) verschiedenen Sozialsystemen, ohne dass diese klar voneinander getrennt sind. Tatsächlich passiert das in der Alltagswelt häufiger, bewegen wir uns auch hier in verschiedenen Kontexten gleichzeitig, die nicht immer klar abgrenzbar sind. Das führt uns zum nächsten bedeutsamen Begriff.

Polykontexturalität Die Gleichzeitigkeit ganz unterschiedlicher Kontexte Wir müssen uns also von der Vorstellung verabschieden, dass soziale Systeme »materiell« vorhanden sind, und verstehen, dass es sich um Sinnsysteme han-

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delt, die dadurch bestimmt sind, dass eine Kommunikation in einer bestimmten Logik an die andere anschließt. Hier ist ein Begriff interessant, der von Gotthard Günther geprägt wurde. Er spricht von »Polykontexturalität« (z. B. Vogd, 2013), um zu verstehen, wie das Bewusstsein der jeweiligen Akteure die verschiedenen Kommunikationssysteme in seiner Umgebung beobachtet und sortiert. In unserer Kultur bewegen wir uns vielfach gleichzeitig in ganz unterschiedlichen Systemzusammenhängen (Kontexturen), die wir durchaus geschickt jonglieren. Unternehmerfamilien sind, so gesehen, nichts Besonderes, sie sind nur besonders eindrückliche Beispiele für Polykontexturalität, weil die widersprüchlichen Kontexte so sehr ins Auge fallen. Um es noch einmal hervorzuheben: Soziale Systeme sind keine »Dinge im Raum«. Das, was das jeweilige System »ist«, hat damit zu tun, welche Kontextur gerade die Kommunikation bestimmt. Welche Bedeutung ein Wort, ein Satz, eine Metapher hat, hängt vom jeweiligen Kontext ab. Menschen sind oft gleichzeitig unterschiedlichen (manchmal sogar unvereinbaren) Verhaltenserwartungen ausgesetzt und schaffen es im Alltag, sich intuitiv und meistens sehr geschickt in solchen Polykontexturalitäten zu bewegen. Doch manchmal sind sie überfordert zu wissen, welcher Rahmen gerade die Logik der Kommunikation »regiert« – es sind eben oft mehrere Rahmen gleichzeitig vorhanden. Dann ergeben sich Paradoxien, die darauf verweisen, »wie polykontextural die moderne Welt gebaut ist« (Nassehi, 2012, S. 111). Polykontexturalität ist mithin ein recht universelles Phänomen, das nicht nur Unternehmerfamilien betrifft, sie ist dort nur besonders gut zu beobachten. Bereits in der frühen Familientherapie wurde ein ähnliches Thema angesprochen (natürlich ohne die Begrifflichkeiten zu verwenden): Mehrfach wurde hier betont, wie wichtig es ist, das elterliche Subsystem und das der Kinder gut auseinanderzuhalten. Wenn die beiden Kontexte vermischt werden, indem etwa ein Elternteil mit Tochter oder Sohn über Eheprobleme spricht und das Kind wie einen besonderen Vertrauten oder »besten Freund« behandelt, kann dies gravierende Konsequenzen nach sich ziehen: Wenn nicht realisiert wird, dass sich hier zwei Kontexturen überschneiden und dass die Kommunikation verdreht ist, können die Folgen für die Akteure auf der Ebene des psychischen Systems gravierend sein. Minuchin oder Stierlin sahen diese Phänomene als Rahmenbedingung für die Entstehung einer Reihe von psychischen Störungen (Minuchin, 1977; Stierlin, 2001), Jay Haley sah in dieser von ihm als »pathologische Dreiecke« bezeichneten Struktur den Ausgangspunkt einer Theorie pathologischer Familienbeziehungen (Haley, 1980). Offenbar können Entgleisungen in der Handhabung von Polykontexturalität in Paradoxien hineinführen, die für die Akteure hochgradig belastend sein können.

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Wie weiß die Kommunikation, wohin sie gehört? Wenn man sich von der Vorstellung, Menschen seien die Bestandteile eines Systems, löst und stattdessen die Art, wie die flüchtigen Kommunikationen jeweils passend zur Kontextur aneinander anschließen, als »System« sieht, entsteht eine neue Frage: Woran ist zu merken, in welcher Logik man sich gerade bewegt? Da Kommunikationen jeweils mehreren Systemen zugleich zugerechnet werden können (Kühl, 2012, S. 19), braucht es ständige Orientierungsleistungen, um hier klar zu bleiben. Und tatsächlich gelingt dies ziemlich häufig. Es ist beeindruckend, wie schnell die Kommunikation sich zurechtfindet und sich in komplexen Kontexten parallel und zugleich zielsicher bewegt – stellen wir uns die Situation in einem Restaurant vor, wo wir mit Partner und Kindern, Freunden und einem Kollegen sitzen: Von Körperhaltung, Blick, Stimme und Tonlage ist meist gut erkennbar, ob gerade eine Zurechtweisung der Kinder, eine Bestellung beim Kellner, eine Abstimmung mit dem Partner, wer das Baby wickelt, eine fachliche Rückfrage beim Kollegen oder ein Chat mit den Freunden »aktiv« ist. Und doch kann sich die Kommunikation manchmal »verirren«, wie im Beispiel der Familie Abel. Ein schönes, selbst erlebtes Beispiel für »polykontexturale Verwirrung« habe ich in meinem Buch über Konflikte in Familien und Familienunternehmen beschrieben: »Mein Lateinlehrer war zugleich mein oberster Pfadfinderführer. Als solcher hatten wir ein ›Du‹-Verhältnis, wie es sich unter Pfadfindern geziemte. In der Schule ›siezten‹ wir uns dagegen. Die Kontexte waren klar getrennt […] Daher kamen sich die ›Personen‹ im Alltag nicht in die Quere, im Zeltlager und in Pfadfinderkluft war er ›Karl-Heinz‹, in der Schule eben der Lehrer. Nun hatte ich aber auf einer Fahrt mein Fahrtenbuch vergessen und benötigte eine nachträgliche Unterschrift, wohlgemerkt, nicht vom Lehrer, sondern vom Pfadfinderführer. Ich erinnere mich noch, wie schwierig es für mich war, ihn darauf anzusprechen, sollte ich ›Du‹ sagen oder ›Sie‹? Es war ein mühsames Abtasten der Erwartungen: Ich ging nach dem Lateinunterricht zu ihm und vermied die Ansprache, indem ich ein geschraubtes Passiv benutzte (›Hier müsste noch eine Unterschrift geleistet werden …‹). Er unterschrieb und erlöste mich, indem er klar den Kontext markierte: ›So, Schlippe, hier haben Sie Ihr Heft zurück!‹ Ich wusste wieder, als welche Person er sich für mich in dem Kontext sah, und so war ich orientiert, welche Person ich meinerseits vor mir hatte« (von Schlippe, 2014, S. 38).

Die Frage ist also, was eigentlich bei der Orientierung hilft. Wie können wir das scheinbar Selbstverständliche erklären? Wie kommt es, dass wir diese Spiele

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im Alltag so gut spielen und meist irgendwie klarkommen? Wie machen wir das eigentlich? Hier finden wir in der systemischen Literatur zwei Antworten: den Begriff der »Kontextmarkierung« (Bateson, 1981) und den der »symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien« (Luhmann, 1984). Kontextmarkierungen Kontextmarkierungen sind für Gregory Bateson Signale, die den Kontext und damit den Sinn einer Kommunikation erkennen helfen. Gemeint sind äußere Anzeichen, an denen die Kommunikation sich orientiert, in welchem sozialen System sie sich gerade bewegt. In Batesons Worten: »Reiz ist ein elementares Signal […] Der Kontext des Reizes ist eine Metamitteilung, die das elementare Signal klassifiziert […] An diesem Punkt ist es vorteilhaft, den Terminus ›Kontextmarkierung‹ einzuführen. Ein Organismus reagiert auf ›denselben‹ Reiz in verschiedenen Kontexten verschieden, und daher müssen wir nach der Informationsquelle für den Organismus fragen. Durch welche Wahrnehmung weiß er, dass Kontext A sich von Kontext B unterscheidet?« (Bateson, 1981, S. 374). Diese Markierungen verdeutlichen in vielen sozialen Alltagssituationen recht unmissverständlich, welcher Kontext gerade »aktiv« ist, also die Kommunikation bestimmt. Man weiß einfach, dass, wenn man die Haustür schließt und sich zur Arbeit (in die Schule o. Ä.) begibt, man sich in einem anderen Rahmen bewegt als zuvor beim Familienfrühstück. Man wird sozusagen eine andere »Person«2, aus dem Vater wird der Kollege, aus der Mutter die Lehrerin. Intuitiv werden die Erwartungsstrukturen entsprechend ausbalanciert, und so ist die Kommunikation oft recht gut orientiert, »wohin sie gehört«: Arbeits- und privater Kontext sind durch viele Aspekte (unterschiedliche Orte, Berufskleidung, Beschilderung usw.) different markiert. Alles kann zum Kontextmarker werden: Kleidung/Uniform (trage ich/der andere Anzug oder Pfadfinder-Kluft, Krawatte oder Jeans?), Gebäude (bin ich in der Schule oder zu Hause?), ein Lächeln, mit dem der bedrohliche Satz begleitet wird: »So, jetzt mache ich dich fertig!« (im Kontext Schachspiel hält sich der Adrenalinausstoß auch bei einem solch bedrohlichen Satz in Grenzen).

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»Person« ist in der Theorie sozialer Systeme ein aus der Kommunikation heraus entstandenes Bündel aus Verhaltenserwartungen, sie ermöglicht es »den psychischen Systemen, am eigenen Selbst zu erfahren, mit welchen Einschränkungen im sozialen Verkehr gerechnet wird« (Luhmann, 2008, S. 146). Aus Platzgründen wird der »Person«-Begriff an dieser Stelle nicht weiter ausgearbeitet.

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Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Niklas Luhmann bezieht sich interessanterweise meines Wissens nirgends auf den Begriff »Kontextmarkierung«. Aber auch er bearbeitet die Frage, wie die Kommunikation weiß, wohin sie gehört. Sein zentrales Anliegen besteht darin, die Selbstverständlichkeiten unserer Alltagswelt zu hinterfragen. So interessiert er sich für die Frage, wie es kommt, dass in unserer komplexen Welt Kommunikation überhaupt gelingt, dass wir uns nicht dauernd missverstehen, und er kommt in dem Zusammenhang zu dem Begriff »Medium«. Medien sorgen besonders dafür, dass die Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs von Kommunikation überwunden wird (Künzler, 1987). Der Medienbegriff ist dabei weit gefasst: Zunächst dient das Medium Sprache dazu, die Wahrscheinlichkeit von Verstehen überhaupt zu erhöhen (natürlich braucht es als Voraussetzung auch das Medium Luft, durch das Schallwellen übertragen werden). Sprache als Medium bewegt sich wiederum in dem übergreifenden »Universalmedium« Sinn. Verbreitungsmedien (Schrift, Druck, Funk) sind es dann, die von der Face-to-Face-Situation und den Bedingungen der Mündlichkeit entbinden und dafür sorgen, dass ein großer Kreis von Menschen erreichbar wird. Und schließlich kommt Luhmann zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, die für unser Thema besonders bedeutsam sind. Diese besonderen Medien, Luhmann nennt beispielsweise Macht, Eigentum/Geld, Liebe, Recht, Wahrheit, ermöglichen es, »in Bezug auf an sich Unwahrscheinliches Erwartungen zu bilden und das Unwahrscheinliche damit ins hinreichend Wahrscheinliche zu transformieren« (Luhmann, 1984, S. 223). Um eine soziale Situation wird sozusagen ein großer »Sinnrahmen« gezogen, der die Situation definiert, man kann vielleicht auch »Erwartungspaket« dazu sagen: »Jetzt bewegt sich die Kommunikation im Kontext von Macht oder von Wahrheit – und damit sind jetzt diese/jene Erwartungsstrukturen aktiv!« Man signalisiert, dass man sich in dem jeweiligen Medium bewegt, »durch den Gebrauch der entsprechenden Symbole […] und verdient sich auf diese Weise die Aussicht auf Annahme der Kommunikation. Man beruft sich zum Beispiel auf Wahrheit. Oder man manipuliert Herrschaftssymbole […] auf eine Weise, die überlegene, durchsetzungsfähige Macht sichtbar werden lässt« (Luhmann, 2015, S. 321). Sie werden durch spezifische Codes gesteuert, die der Kommunikation helfen zu verstehen, wohin sie gehört. Diese Medien werden »generalisiert« genannt, weil sie für eine Vielzahl von Situationen gelten. Und sie sind symbolisch, weil sie ihre Funktion mithilfe von Symbolen wahrnehmen. Als Gesellschaftstheoretiker hat Luhmann sich weniger mit sozialen Nahräumen befasst. Er ordnet die symbolisch generalisierten Kommunikations-

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medien daher spezifischen gesellschaftlichen Funktionssystemen zu (Macht etwa dem politischen System, Wahrheit der Wissenschaft). Sie sind somit Bestandteil seiner Theorie der Gesellschaft. Sie sollen an dieser Stelle genutzt werden, um die Erwartungsstrukturen sozialer Mikroereignisse zu verstehen, vor allem wenn es um den Wechsel von der Logik des einen Kommunikationsmediums in die eines anderen geht. Zwischenfazit Wo stehen wir jetzt in der Argumentation? Wir haben unsere soziale Welt als »aus Kommunikation bestehend« beschrieben – ein System ist definiert durch die Art und Weise, wie eine Kommunikation an die andere anschließt. Das bedeutet aber, dass zumindest gelegentlich mehrere Systeme zugleich im Raum präsent sein können. Damit sind wir zu dem Begriff »Polykontexturalität« und der potenziellen Gleichzeitigkeit mehrerer Erwartungsstrukturen gekommen, die es der Kommunikation zumindest manchmal schwer machen, sich zu orientieren, in welchem »System« sie sich gerade bewegt. Unternehmerfamilien sind dafür ein prägnantes Beispiel. Daraus ergab sich die Frage, wie es eigentlich kommt, dass Kommunikation doch so oft störungsfrei abläuft, wie wir also eigentlich wissen/wissen können, in welcher Systemlogik wir uns gerade bewegen und wie sich Erwartungsstrukturen so ausrichten, dass Kommunikationen sinnhaft aneinander anschließen (und eben nur in Ausnahmefällen »schräg« wie bei Familie Abel). Zwei Antworten aus der Theorie, Kontextmarkierungen und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, können uns dabei helfen zu verstehen, wie die Kommunikation sich orientiert. Im Folgenden soll nun gefragt werden, wie wir diese Überlegungen nutzen können, um »Autorität« und vor allem »Neue Autorität« zu verstehen.

Neue Autorität – mehr als nur ein aufpolierter Begriff Medienwechsel: Polyglott werden Ende der 1990er Jahre wurde in Deutschland das Konzept der Gewaltlosigkeit in der Familien- und Elternberatung bekannt, das Haim Omer in Israel entwickelt hatte. Er hatte dieses aus der politischen Arbeit stammende Aktionsprogramm auf die Arbeit mit hilflosen Eltern übertragen, zentrale Begriffe waren »elterliche Präsenz« und »Elterncoaching«, das Konzept machte er gemeinsam mit mir hierzulande bekannt (das prägnanteste Buch hierzu ist von Omer und von

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Schlippe, 2016). In den ersten Jahren hatten wir uns intensiv und kontrovers mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit es auch im gewaltlosen Widerstand um das Thema »Macht« gehe. Haim bestand darauf, dass es, wenn auch gewaltlos, in jedem Fall um den Kampf um Macht gehe, ich neigte eher dem Pol zu, den ich bei Bateson besonders deutlich vertreten sehe: den Glauben an den »Mythos der Macht« als den zentralen erkenntnistheoretischen Irrtum der Menschheit zu sehen, der diese an den Rand des Abgrunds führt – und, wer weiß, vielleicht ja auch noch darüber hinaus (Bateson, 1981, S. 614 ff.). Der Mythos der Macht besteht aus dieser Sicht in der irrigen Idee, mit Mitteln von Manipulation, Kontrolle und Macht jemals in einen befriedigenden Zustand zwischenmenschlicher Beziehung gelangen zu können (von Schlippe, 2007, S. 21). Unsere Auseinandersetzungen führten uns zu der Formel »Stärke statt Macht« und dann mit dem Einbezug bindungstheoretischer Überlegungen zum Begriff der »Ankerfunktion«: Die Stärke des Ankers ist etwas anderes als die Stärke der Faust (Omer, Steinmetz, Carthy u. von Schlippe, 2013). Der Anker ist eine bei Eltern und genauso bei professionellen Erziehungsexperten anschlussfähige Metapher, die aus dem Dilemma von Gewinnen oder Verlieren herausführt und den Fokus auf Bindung legt (»Re-Attachment«). Im Zusammenhang mit den erwähnten systemtheoretischen Überlegungen kann man sagen, dass es sich hier um weit mehr als nur begriffliche Kosmetik handelt. Der traditionelle Begriff »Autorität« ist nämlich in ein spezifisches Medium eingebettet, in das Medium Macht. Macht als Medium erleichtert es, jemanden davon zu überzeugen mitzuspielen, durch Anweisungen sein Handeln zu binden. Wo Machtverhältnisse klar definiert sind, ist Autorität unhinterfragbar, mit einer »Reflexionssperre« versehen, also mit einem Nachfrageverbot. Die Kommunikation darf sich nicht reflexiv auf sich selbst rückwenden (Luhmann, 1984, S. 211; Muraitis u. von Schlippe, 2012, S. 100 f.): Da sie sich im Medium Macht bewegte, war der Anspruch, über Autorität zu verfügen, qua Amt, qua Uniform, qua Geburtsrecht u. v. a. m. nicht mehr hinterfragbar, ja nicht einmal reflektierbar. Heute sind wir in einer Situation, in der das Medium Macht stark korrodiert ist, »der Blick nach oben ist leer« (diese mündliche Aussage von Dirk Baecker passt m. E. hier sehr gut). Damit geht aber ein wichtiger Aspekt, für den Autorität auch stand, verloren. Gemeint ist damit das mit dem klassischen Autoritätsanspruch verbundene Versprechen: »Ich sage dir/euch, wo es langgeht! Macht euch keine Sorgen, ich weiß Bescheid, was richtig und falsch ist!« Mit dem ausschließlichen Blick auf die negativen Seiten der Autorität ist verloren gegangen, dass Autorität ein soziales Spiel ist, das aus Abgeben von Verantwortung auf der einen und Übernehmen von Entscheidungsverantwortung (und der damit ver-

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bundenen Unsicherheit) auf der anderen Seite besteht. Mit dem Einbrechen der unhinterfragbaren Legitimation von Autorität (und vielen anderen gesellschaftlich bedeutsamen Themen) in den letzten Jahrzehnten hat sich auf der einen, der positiven Seite die Gesellschaft von starren und überholten Strukturen befreit. Die Nebenwirkungen sind aber gerade in der Erziehung unübersehbar. Die Funktion, dass die »alte« Autorität auch Erwartungen stabilisierte, dass die entsprechende Person Orientierung gab und damit »Unsicherheitsabsorption« (Luhmann, 1984, S. 158), ging eben auch mit verloren. So erleben viele Menschen zunehmend Gefühle von Hilflosigkeit, die Rufe nach Rückkehr zu den guten Zeiten von Strenge, Disziplin und Strafe werden lauter (kritisch diskutiert u. a. von Arnold, 2007; Rotthaus, 2010). Viele Erziehungspersonen sehen sich in der Situation, keine Möglichkeiten mehr zur Verfügung zu haben, den ihnen anvertrauten Kindern irgendeine Art von Anforderung zu vermitteln. Der Begriff »Autorität« war im Medium Macht dekonstruiert und delegitimiert worden, zugleich fehlten positiv besetzte Alternativen. Die Frage war daher, wie ein Begriff aussehen könnte, der aus Hilflosigkeit herausführt und mit dem man sich doch identifizieren könnte. Er müsste legitimiert sein und mehr versprechen als allein Nachgiebigkeit und Verständnis. Vor dem Hintergrund unserer bisherigen Überlegungen könnten wir sagen: Er müsste tauglich sein für Polykontexturalität, also nicht einfach nur in ein anderes Medium (wie Liebe/Intimität) eingebettet sein (der Rat »Ihr Kind braucht einfach mehr Liebe!« kann, so gut man ihn nachvollziehen kann, in hoch eskalierten Situationen nur die Hilflosigkeit verstärken). Es geht darum, dass Erziehungspersonen sich in verschiedenen Medien bewegen können. Eine anders verstandene Autorität muss vielsprachig sein, sich auch mit anderen Medien verbinden lassen, sodass die Chance wächst, dass sich aus einem in einem Medium festgefahrenen Kommunikationssystem ein neues mit ganz anderen Qualitäten ergibt. Und vielleicht ist das die Kernaufgabe, wenn man verstanden hat, dass unsere sozialen Welten polykontextural sind: zu lernen, die Sprachen verschiedener Medien zu sprechen und sich in ihnen zu bewegen. Vielleicht geht es vor allem darum, »polyglott« zu werden (Dirk Baecker, mündlich), also neben der Sprache der Macht auch die Sprache von Wahrheit, Schönheit, Recht, Glaube und Liebe zu sprechen. Familien – Experten der Doppelcodierung Die anfänglich erwähnte »elterliche Präsenz« würde im Lichte dieser Überlegungen die Einladung bedeuten, das Medium zu wechseln. Es wäre die Einladung an ein Kommunikationssystem, das sich im Medium »Macht« fest-

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gefahren hat, das Medium Liebe/Intimität aufzusuchen, ohne in der »Romantik« zu versinken, dass alles zugelassen werden müsse. Vielmehr bekommt eine Autorität, die in dieses Medium mit hineingenommen wird, eine andere Konnotation. Denn dieses Medium basiert ja nicht auf der Leitunterscheidung »Macht oder Ohnmacht«, »oben oder unten«, sondern auf Beziehung, Bindung, Gewaltlosigkeit und sozialer Unterstützung. Das gibt ihr in der Kultur der Gegenwart eine ganz andere, eine viel breitere Legitimität. Und die Kraft des Ankers ist durchaus mit Stärke assoziiert, aber nicht mit einer, die es darauf anlegt, dem anderen überlegen zu sein. Jeder Schritt des beharrlichen Widerstands gegen das problematische Verhalten des Kindes wird von Beziehungsangeboten des Kindes begleitet. Durch die Präsenz der Eltern wird es möglich, das Medium zu wechseln. Genau genommen, sind Familien immer schon Experten der Doppelcodie­ rung gewesen. Denn Erziehung bewegt sich ständig in der Balance der Medien Liebe und Macht. Mit dem ersten »Nein« lernt das kleine Kind den Code der Macht kennen und macht damit Erfahrungen, in der Pubertät wird das Gelernte neu justiert. Kluge Eltern, intelligente Pädagogen sind immer schon »polyglott« gewesen, sie wussten, wie man Machtthemen im Medium Intimität handhabt und flexibel zwischen den Medien oszilliert. Und damit ermöglichen sie den ihnen anvertrauten Kindern essenzielle Erfahrungen, die es auf das Leben vorbereiten. Ruth Cohn, die Begründerin des Konzepts der »Themenzentrierten Interaktion«, sagt, dass gute Erziehung dem Kind zwei wesentliche Lernerfahrungen vermitteln solle: »Ich bin nicht allmächtig, ich bin nicht ohnmächtig!«3 Genau diese Qualität der Mehrsprachigkeit, die Fähigkeit zur Oszillation, ist es ja, die in der Eskalation verloren geht, sodass sich das Familienkommunikationssystem im Medium Macht festfährt. Wenn das geschieht, geht die Qualität des Austauschs, die Familiarität ausmacht, verloren. Jedes Kommunikationsangebot stößt auf Erwartungsstrukturen, die sich auf die Logik der Macht eingestellt haben. Wir kennen das aus den Studien über den feindseligen Attributionsfehler: Auch harmlose, ja sogar freundliche Kommunikationen werden als feindselig verstanden und zurückgewiesen (Dodge, 2006). Im Elterncoaching und weiter gefasst in aller sozialer Praxis, die sich auf den gewaltlosen Widerstand beruft, werden die Ratsuchenden, Eltern und andere (etwa Führungskräfte, vgl. Baumann-Habersack, 2017), angeregt, ihre »Präsenz« zu verwirklichen. Diese Präsenz, und das ist die zentrale Aussage meines Bei3 https://www.deutschlandfunk.de/ich-bin-nicht-allmaechtig-ich-bin-nicht-ohnmaechtig-ichbin.871.de.html?dram:article_id=219160 (Zugriff am 22.01.2019).

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trages, stellt eine Kontextmarkierung dar, die es dem Kommunikationssystem erlaubt, das Medium zu wechseln, also aus dem Medium Macht in ein anderes Medium umzuschalten.

Schluss: Die neue, die nächste, die kleine Autorität »Polyglott werden« ist die Antwort auf Polykontexturalität. Es geht darum, die Sprache mehrerer Kontexturen und der ihnen unterliegenden Kommunikationsmedien sprechen zu können. Ähnlich wie bei den Unternehmerfamilien geht es nicht darum, entweder den einen Pol (Familie) oder den anderen (Unternehmen) zu realisieren, sondern als »organisierte Familie« beides zu sein und zumindest teilweise auch beides gleichzeitig sein zu können (vgl. Abschnitt 2.1). Der Begriff der »Neuen Autorität« stellt einen ähnlichen Versuch dar: Autorität und Nicht-Autorität zugleich zu verwirklichen, also im Medium Macht und im Medium Liebe zu operieren, in Stärke und Bindung. Doch der Begriff, das Sprechen über »neue« Autorität, legt in einer Kultur, die mit dem Begriff nur die Assoziation der Macht verbindet, offenbar die Idee nah, dass es hier um die Rückkehr, das Wiedererstarken von Autorität gehe. So hat vor Kurzem eine Fachzeitschrift unser Konzept u. a. kritisch so referiert: »Unterwerfung unter die rigiden Ordnungsvorstellungen«; »komplett entfremdet«; »Pädagogische Programme mit strikter Methodik«; »Durchsetzungsfähigkeit von Erwachsenen zum Ziel«; »Verheißung einer effektiven Lösung von Erziehungsproblemen«; »standardisierte Intervention«; »nach dem Vorbild des verhaltenspsychologischen Reiz-Reaktions-Lernens organisiert«; »Unterordnung, Aufgeben oder Anpassung des Kindes«. Abgesehen von der beeindruckenden Ignoranz des Autors zeigt diese Episode (siehe die Beiträge und Diskussionen von Dierbach, 2016a; 2016b; Körner u. Lemme, 2017; von Schlippe, 2017), dass offenbar der Zusatz »neu« bei der »Neuen Autorität« nicht verhindert, sie schnell und ausschließlich im Medium der Macht zu verorten. Vielleicht lohnt es sich, nach Alternativen Ausschau zu halten. Der Begriff der »connecting authority«, der »verbindenden Autorität«, könnte eine solche Alternative sein (Bom u. Wiebenga, 2017). Einen anderen assoziativen Raum eröffnet der Managementtheoretiker Peter Drucker. Er spricht mit Blick auf die derzeitigen Umbrüche von der »next society«, der »nächsten Gesellschaft« (Baecker, 2007, S. 103), in der die basalen Strukturen unseres sozialen Lebens sich durch Informationstechnologie und Globalisierung drastisch verändern werden. Ein Kennzeichen der »nächsten Gesellschaft« ist, dass es in ihr keine »große Information« mehr gibt (keine »großen Erzählungen« mehr,

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wie es Lyotard schon vor mehr als zwanzig Jahren sagte), im Sinne eines kanonischen Wissens, das für den größten Teil der Menschheit als verbindliches Wissen sicher in Büchern festgeschrieben ist. Information im Zeitalter der Globalisierung wird unsicherer sein, kleiner, vorläufiger, polyphoner und sich schnell verändern. Sie wird in agilen Netzwerken prozessiert, die sich schnell an Gegebenheiten anpassen. Vielleicht ist es ähnlich mit einer »nächsten Autorität«? Es wäre eine, die »polyglott« geworden ist und damit in der Lage, flexibel zwischen dem Medium der Macht und der Intimität/Liebe zu wechseln. Eine so verstandene Form von Autorität ist keine »große Vokabel« mehr. Sie ist lokal, vielschichtig und »klein«, also von begrenzter Gültigkeit, ihre Legitimität entsteht aus der konkreten Beziehung heraus, nicht aus der formalen Zuschreibung von Macht. Es kann mithin nur eine Autorität sein, die einen beschränkten Anspruch auf Geltung erheben darf. In jedem Fall wird diese »nächste Autorität« eine kleine sein. Und genau darin wird ihre besondere Stärke liegen! Literatur Arnold, R. (2007). Aberglaube Disziplin. Antworten der Pädagogik auf das »Lob der Disziplin«. Heidelberg: Carl-Auer. Baecker, D. (2007). Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bateson, G. (1981). Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Baumann-Habersack, F. (2017). Mit neuer Autorität in Führung. Die Führungshaltung für das 21. Jahrhundert (2. Aufl.). Wiesbaden: Springer. Bom, H., Wiebenga, E. (2017). Verbindend gezag. Naar een nieuwe vorm van autoriteit gebaseerd op principes van geweldloos verzet. Tijdschrift voor Psychotherapie, 43. Dierbach, S. (2016a). Der Plan von der Abschaffung der Ohnmacht  – Teil 1. Skeptische Anmerkungen zur »Neuen Autorität« aus sozialpädagogischer Perspektive. Forum für Kinder und Jugendarbeit, 2, 28–33. Dierbach, S. (2016b). Der Plan von der Abschaffung der Ohnmacht  – Teil 2. Skeptische Anmerkungen zur »Neuen Autorität« aus sozialpädagogischer Perspektive. Forum für Kinder und Jugendarbeit, 3, 4–11. Dodge, K. A. (2006). Translational science in action: Hostile attributional style and the development of aggressive behavior problems. Development and Psychopathology, 18, 791–814. Haley, J. (1980). Ansätze zu einer Theorie pathologischer Systeme. In P. Watzlawick, J. Weakland (Hrsg.), Interaktion (S. 61–84). Bern: Hans Huber. Körner, B., Lemme, M. (2017). Anmerkungen zum Text »Der Plan von der Abschaffung der Ohnmacht«. Forum für Kinder und Jugendarbeit, 33, 2, 63–72. Kühl, S. (2012). Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen. Zur Soziologie sozialer Systeme zwischen Interaktion und Gesellschaft (Working Paper). Bielefeld: Universität Bielefeld. Künzler, J. (1987). Grundlagenprobleme der Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien bei Niklas Luhmann. Zeitschrift für Soziologie, 16, 317–333. Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

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1.4 Zur Aggression im Kontext der Neuen Autorität Tobias von der Recke

»Der nur anderen gepredigte oder auferlegte völlige Gewaltverzicht kaschiert die eigene Aggression und bereitet Gewaltanwendung durch deren Rechtfertigung als Gegengewalt vor« (Friedrich Hacker, 1971).

Friedrich Hacker, ein Wiener Psychoanalytiker, hat 1971 einen Klassiker zum Thema »Aggression« geschrieben, in dem ich für diesen Beitrag noch einmal gelesen habe. Es ist ein auch systemisch bemerkenswertes Buch, weil Hacker damalige Größen wie den Verhaltensbiologen Konrad Lorenz, den Philosophen Herbert Marcuse und den Psychiater Karl Menninger interviewt und deren Gedanken integriert. Ausgangspunkt des Buches war die Frage, wie es zu verstehen ist, dass Gewalt in vielen Gesellschaften eklatant zunimmt und etwa der Abstand zwischen zwei Morden auf dieser Welt immer kürzer wird (damals zwanzig Sekunden im Vergleich zu sechzig Sekunden 1921). Aggression ist ein wahrhaftig altes Thema. Da hatte die Geschichte der Schöpfung gerade erst begonnen, und das Paradies auf Erden währte nur kurz. Adams und Evas Erstgeborener Kain erschlug seinen Bruder Abel, vermutlich aus tiefer Gekränktheit über ein nicht angenommenes Opfer, womit Gewalt Teil des Lebens auf dieser Welt wurde. Das ist schon beeindruckend. Aus theologischer Sicht scheint mir der Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis die göttliche Entscheidung zu repräsentieren, dass es nun in der Verantwortung der Menschen liege, wie sie mit Erkenntnis und den daraus erwachsenen Möglichkeiten umgehen. Kain hat seine eigenen Konsequenzen daraus gezogen, hatte die Folgen zu tragen, und damit gehörten Gewalt und Mord zur Geschichte jüdischer, christlicher und muslimischer Religion. Wenn wir mit dem Konzept der Neuen Autorität arbeiten und die darin enthaltene gewaltfreie Haltung wirklich ernst nehmen wollen, kommen wir nicht um eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der Aggression herum. Gewaltfreie Kommunikation sorgt noch nicht dafür, dass sich Aggressionen auflösen, und gewaltfreier Widerstand bewirkt noch keine Eliminierung von Ärger und Wut. Wenn wir diese Auseinandersetzung vermeiden, besteht die große Gefahr, dass Aggression verleugnet wird und dann getarnt in Kommunikationsformern der Macht erscheint: Überheblichkeit, Rationalisierung, inkongruente Kommunikation, mangelnde Empathie oder große Distanz könnten dann aggressive »Ver-

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kleidungen« sein, die unsere Arbeit mit Familien, Lehrerinnen oder Führungskräften erschweren und im ungünstigsten Fall auch unmöglich machen. Alle Varianten autoaggressiven Verhaltens wie Selbstausbeutung oder Suchtverhalten sind ebenfalls zu den Spielarten einer Aggression zu zählen, die nicht in konstruktiver Weise ins Leben und an die richtigen Adressaten gelangt, sondern sich aus – in der Regel lebensgeschichtlich – guten Gründen gegen sich selbst richtet. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass »Aggression« im Konzept Haim Omers nur insofern vorkommt, als es darum geht, gewaltfeien Widerstand gegen ausgeübte Aggressionen zu leisten, die auf keinen Fall zu akzeptieren sind. Das ist ja auch gut so. Worüber nicht gesprochen wird, sind unsere eigenen Aggressionen. Mich erinnert dieses Phänomen an den Satz meines sehr geschätzten Psychodramalehrers Yacoov Naor: »Wir sind doch alle auch deshalb Therapeuten geworden, um auf der anderen Seite des Tisches zu sitzen.« Damit lockt die Suggestion, wir Therapeuten hätten eben keine psychischen Probleme, weil die ja bei unseren Patienten verortet sind. Wenn es sich destruktiv entwickelt, wird die Psychoanalyse zum Problem, für dessen Lösung sie erfunden wurde, wie es Karl Kraus mal so schön formuliert hat. Könnte es sein, dass auch in der Identifizierung mit der Neuen Autorität eine Suggestion wohnt? Nämlich die Suggestion, dass wir, die wir mit diesem wunderbaren Konzept arbeiten, in der glücklichen Lage sind, keine Aggressionen zu haben? Die Aggressionen sind je bei den Klienten, und wir sorgen dafür, gegen sie gewaltfreien Widerstand zu leisten, sofern sie nicht mehr zu akzeptieren sind. Ich habe entsprechende Eindrücke und Befürchtungen, wenn ich in unserer wachsenden »Szene« beobachte, dass die konzeptinhärenten Säulen (Handlungsaspekte oder Grundsätze) gar nicht selbstverständlich gelebt und schon auch mal geopfert werden, wenn es sich um Konkurrenz, Ansprüche und vermeintlich ältere oder jüngere Rechte dreht. Es scheint mir also erforderlich, sich in unserer Szene aufrichtig mit den eigenen Aggressionen zu beschäftigen; jeder für sich und an geeigneten Stellen auch kollektiv. Die Auseinandersetzung mit Aggression ist zum einen eine sehr persönliche Angelegenheit. Wir alle haben und kennen Aggressionen und erzählen unterschiedliche Geschichten darüber, was uns den »Hals schwellen lässt«. Wir alle haben eine Geschichte mit dem Thema und unterschiedlichste Erfahrungen mit Aggressionen. Die Einladung, sich im Dienst der Neuen Autorität mit dieser Geschichte zu beschäftigen, ist ein Teil des folgenden Beitrags. Der zweite Teil ist der Versuch, einige theoretische Überlegungen zum Thema »Aggression« zusammenzufassen. Dabei kann das Thema in diesem Rahmen sicherlich nicht erschöpfend behandelt werden, die vorgestellten Modelle, Folien oder Konzepte haben sich aber im Umgang mit Aggressionen als hilfreich

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erwiesen. Ansprechen möchte ich eine neurobiologische, eine sozialpsychologisch/soziologische und eine psychoanalytische Perspektive. Zum Abschluss dieses Teils formuliere ich einige Gedanken zur Scham und ihrer Abwehr, die sich sehr aggressiv realisieren kann. Ziel des Beitrags ist letztlich, Aggression als Energie zu konzeptualisieren, die wir alle im Leben brauchen, um uns den uns zustehenden Raum zu nehmen und uns unseren Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln. Im Kontext der Neuen Autorität brauchen wir sie auch, um unsere Haltung formulieren und leben zu können und an den Stellen gewaltfreien Widerstand zu leisten, wo er geboten ist. Wirkliche Präsenz ist ohne diese Energie nicht möglich, konstruktiv in der Wirkung ist sie allerdings nur, wenn sie nicht destruktiv daherkommt – und das ist durchaus ein hoher Anspruch.

Aggression und autobiografische Skizzen Aggression war in meiner Kindheit immer eng mit Bedrohung und der Angst verbunden, dass Beziehung abbricht. Das lag an meinen Eltern, die einander liebten, aber aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichten und ihrer daraus entwickelten Überlebensstrategien nicht gut miteinander konnten. In ihren Herkunftsfamilien waren sie nicht satt geworden, es begegneten sich also zwei hungrige, sehnsüchtige Menschen. Natürlich könnten sie eine »Selbsthilfegruppe« gründen und miteinander (aber auch mit Unterstützung anderer Menschen) dafür sorgen, dass Bedürfnisse ihre Berechtigung und auch ihre Befriedigung erfüllen. Aber das ist kein leichter Prozess, und nicht selten schlägt die Entwicklung ins Gegenteil der ursprünglichen (in aller Regel unbewussten) Absicht um. Anstatt miteinander behutsam für die Heilung alter Wunden zu sorgen, werden sie wieder aufgerissen, und die alten Stressverarbeitungsstrategien sorgen für die Reinszenierung alter Entbehrungen und Enttäuschungen. Das Theaterstück »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« von Edward Albee (1963) ist eine großartige literarische Beschreibung so einer Dynamik, in der aus einer guten Idee eine tödliche Tragödie wird. Für das Kind zweier Menschen, die in so einer Dynamik gefangen sind, wird Aggression immer zu einer leidvollen Bedrohung; es versucht, alles zu tun, um Aggression zu vermeiden und, wenn sie gefühlt wird, diese zu unterdrücken, schon aus dem guten Grund, es nicht noch schlimmer zu machen. Als die Trennung meiner Eltern unwiderruflich bevorstand, habe ich den Tonarm meines ersten Plattenspielers abgebrochen und musste drei Jahre warten, bis ich in meinem Zimmer wieder Musik hören konnte. Zum Zeitpunkt der Trennung war ich zwölf Jahr alt, habe mich geschämt

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und beschlossen, mich fürderhin von jeder Aggression zu distanzieren. Das ist mir natürlich nicht gelungen, obwohl ich ziemlich lange geglaubt habe, in meinem Leben ohne Aggression auskommen zu können (heilig zu werden, war schon eine verlockende Perspektive, die ich dann aber aus guten Gründen nicht weiterverfolgt habe). Sehr lehrreich waren meine zehn Jahre in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, in denen mich zahlreiche Kinder und Jugendliche mit meiner Aggression in Kontakt gebracht haben, exemplarisch dafür steht folgende Episode: Karl, ein 14-jähriger Jugendlicher, war wegen verschiedener Delikte (Einbruch, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, Schulverweigerung u. a.) zur Diagnostik auf der geschlossenen Station der Klinik aufgenommen worden, um nach einer Woche offen stationär weiterbehandelt zu werden. Zur Diagnostik gehörten auch ausführliche Interviews mit den Eltern sowie Familiengespräche. Zu so einem Gespräch saßen die beiden Eltern mit ihrem Sohn in meinem Arbeitszimmer, und wir sprachen über die verschiedenen Einschätzungen dieser jetzt so problematisch gewordenen Situation. Das Gespräch begann sehr entspannt, doch als die Eltern einige kritische Kommentare zu Karls Verhalten in den letzten Monaten formulierten, wurde es Karl sichtlich unangenehm und eng, seine Miene verfinsterte sich. Plötzlich stand er auf, ging zum Fenster, nahm eine getöpferte Schale (das Geschenk einer früheren Patientin) und knallte sie auf den Boden; die Schale war in Scherben. Ich stand auf, ging auf Karl zu und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Das geschah, bevor ich überhaupt nachdenken konnte, und anschließend versank ich innerlich vor Scham im Boden. Karl setzte sich hin, beide Eltern grinsten, als würden sie der Ohrfeige applaudieren, und ich musste nach dem Gespräch das Formular »Über ein besonderes Vorkommnis« ausfüllen, das umgehend auf dem Schreibtisch des Klinikdirektors landete. Glücklicherweise hatte die Ohrfeige keine Konsequenzen, nur mein Stationsarzt nannte mich die nächsten sechs Wochen »Watschn-Psychologe«. Am Abend nach dem Vorfall saß Karl übrigens mit allen Scherben in seinem Zimmer auf Station und versuchte sie, letztlich erfolgreich, wieder zusammenzukleben. Für mich wurde diese Episode zum Start einer langen Auseinandersetzung mit Aggression.

Vielleicht ist das auch für Sie eine Einladung, über (die eigenen) Aggressionen nachzudenken; mir scheint es eine notwendige Grundlage für die Arbeit mit der Neuen Autorität, und wieder wird deutlich, dass »Stärke statt Macht« in erster Linie eine Haltung bedeutet, dann erst ein praktisches Konzept mit vielen guten Werkzeugen. Und Haltung entsteht über Selbstreflexion, gewaltfreie

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Haltung bedarf der Reflexion der »Schattenseiten« unseres Seins und jener wunden Punkte, die uns aus der Haut fahren und gewalttätig werden lassen, wenn sie unvermittelt berührt werden. Diese Selbstreflexion mag ein roter Faden in unseren Bemühungen werden, Neue Autorität zu praktizieren. Ein guter Einstieg ins Thema könnte sein, die eigene Lebensgeschichte mit diesem Fokus zu betrachten und gute Antworten auf z. B. folgende Fragen zu finden: •• Welche Rolle spielt Aggression in meinem Großwerden und in meiner persönlichen Biografie? •• Was waren eher gute, was waren eher schlechte Erfahrungen? •• Welche Konsequenzen habe ich aus diesen Erfahrungen gezogen, welche inneren Glaubenssätze (z. B. »Aggression ist gefährlich«) sind mit diesen Konsequenzen verbunden? •• Habe ich möglicherweise gelernt, meine aggressiven Impulse gar nicht mehr wahrzunehmen und zu verleugnen? Was wird dann aus der Aggression? Verkleide ich sie unbewusst, oder richte ich sie möglicherweise – genauso unbewusst – gegen mich selbst? •• Worauf bzw. auf wen habe ich heute noch Ärger (Wut, Zorn), auch wenn die Geschichten dazu schon vorbei sind? •• Was ermöglicht mir dieser Ärger, und was verhindert er in meinem Leben? Worauf verzichte ich womöglich, weil der gebundene Zorn in mir noch wirkt? Man kann sich ja an seinen schlechten Eltern auch mit chronischem Misserfolg rächen. •• Wie geht es mir heute mit dem Thema »Aggression« im persönlichen und im professionellen Kontext? •• Was bringt mich in Rage, und wie ist das mit meiner Geschichte verbunden? •• Wie reagiere ich, wenn »mir der Kamm schwillt«? Bin ich damit zufrieden, oder hätte ich gern alternative Reaktionen? •• Was könnte ich tun, wenn mir keine Alternativen zur Verfügung stehen? •• Wie kann ich meine Aggression nutzen, um meine Vorhaben umzusetzen, meine guten Ideen ins Leben zu bringen oder auch gewaltfreien Widerstand zu leisten, wo mir etwas begegnet, was ich nicht akzeptieren kann? Habe ich damit schon Erfahrungen gemacht? Natürlich kann sich jeder für sich und persönlich mit diesen Fragen auseinandersetzen, ggf. auch mit professioneller Unterstützung. Noch hilfreicher wäre es, wenn wir diese Auseinandersetzung in Gruppen gestalten, in Gruppen mit Kolleginnen und Kollegen, die mit der Neuen Autorität arbeiten. Vor diesem Hintergrund habe ich das Thema ins Curriculum integriert.

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Wissenswertes zum Thema »Aggression« Wenn ich im Kontext unserer Curricula zum Thema »Stärke statt Macht« das Aufbauseminar »Aggression, Konflikte und gewaltfreie Haltung« durchführe, nutze ich neben der Selbsterfahrung einige für unsere Arbeit zweckmäßige Konzepte zum Verständnis von Aggression, von denen jetzt die Rede sein soll. Diese Konzepte sind in meinen Augen vielfältig miteinander verbunden und nicht unabhängig voneinander zu verstehen. Die Leser/-innen sind eingeladen, die hier vorgestellten Gedanken zu verknüpfen und sie auch mit anderen, hier nicht erwähnten theoretischen Zugängen in Beziehung zu setzen. Aggression als Stressverarbeitungsstrategie Wo immer sich aggressive Impulse in Verhalten manifestieren, haben wir es in den entsprechenden Situationen mit Stress zu tun. Da ist es gut, auch etwas über die neurobiologischen Begleiterscheinungen von Stress zu wissen. Hilfreich erscheint mir folgendes Modell, das an die Bedürfnispyramide von Maslow erinnert und die menschlichen Bedürfnisse hierarchisch in drei Kategorien einteilt. Ich habe dieses einleuchtende Modell 2012 im Rahmen eines Workshops für unseren DGSF-Qualitätszirkel mit Ulf Klein kennengelernt. Danach gibt es drei Ebenen der Versorgung: 1. Die Ebene der physischen Versorgung Wir Menschen haben alle Grundbedürfnisse, die unser Überleben sichern: Nahrung, Flüssigkeit, Licht, Schlaf, Wärme und Bindung, die vor allem für Säuglinge und Kleinkinder überlebenswichtig ist. Wenn wir auf dieser Ebene unterversorgt sind, geht es vordringlich um die Sicherung der basalen Bedürfnisse; Gespräche, Beratung oder Problemlösung gelingen bei Unterversorgung nicht, und wenn wir es dennoch versuchen, kann das ein Beitrag zur Eskalation sein. Ich glaube, manch aggressive Auseinandersetzung in Flüchtlingsunterkünften entsteht auf der Basis von Unterversorgung, und wir kennen es aus dem eigenen Leben, wie wir unleidlich werden, weil wir einfach Hunger haben. 2. Die Ebene der psychischen Versorgung Wenn wir mit anderen Menschen in Kontakt sind oder sein wollen, sind wir darauf angewiesen, dass wir uns einigermaßen sicher fühlen. Nur dann sind wir im guten Kontakt mit uns, unseren Gefühlen, unserem Denken, den anderen und auch dem Kontext, in dem Begegnung stattfindet. Wenn wir, wodurch auch immer ausgelöst, in Stress geraten und der Stress zu groß wird, sind wir von den

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Ressourcen unseres Großhirns abgeschnitten und agieren mit den begrenzten Möglichkeiten unserer Defensivsysteme. Da bleiben dann nur die bekannten vier Möglichkeiten Kampf, Flucht, Lähmung oder Unterwerfung, alles bewährte Strategien zur Sicherung des psychischen Überlebens, aber bekanntermaßen keine zweckmäßigen Problemlösungsstrategien. Im Kontext unseres Themas wäre Aggression (Kampf) dann ein (unbewusster) Stressverarbeitungsmodus im autonomen Nervensystem, der wiederum vernünftige Gespräche unmöglich macht. Hier geht es erst einmal um Sicherung und nicht um Problemlösung. Im Kontext unserer beruflichen Tätigkeit erleben wir Stress häufig und müssen dann für Sicherheit sorgen, bevor wir über Probleme und deren Lösungen sprechen. Gehen wir über den Stress hinweg, laufen wir Gefahr, zu einer aggressiven Eskalation beizutragen. Kurze Fragen nach dem Befinden, ein Glas Wasser, Ruhe, vielleicht erst mal eine Runde um den Block gehen, das reicht in der Regel schon, ein Gefühl der Sicherheit herzustellen. Dazu gehören auch versichernde Kommentare über den Kontext und ein Ausblick auf das hier zu Erwartende, Mögliche, sicher nicht Eintretende. 3. Die Ebene der sozialen Versorgung Wir alle sind auch auf der Welt, um anderen Menschen nah zu sein und uns mit ihnen zu verbinden. Die Voraussetzung für die Gestaltung guter Beziehungen ist, dass wir auf der ersten und zweiten Ebene der Versorgung ausreichend gesichert sind. Dann sind wir in Verbindung mit unserer Souveränität. Wir professionelle Therapeuten müssen in unserer Arbeit immer wieder gute Beiträge für diese Sicherung leisten, wie es Martin Lemme in seinem Beitrag über Psychotherapie (Kapitel 2.7) sehr schön beschrieben hat. Menschen, die in ihrer Not und mit ihren großen Sorgen zu uns kommen, sind oft unsicher und ängstlich, fühlen sich womöglich existenziell bedroht, sind in ihrem Selbstwert gefährdet und bringen Schuld- und Schamgefühle mit. All das unterschätzen wir gern und werden dann im schlimmsten Fall selbst zu Stressoren, die eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit gefährden. In Stress geraten wir (u. a.) dann, wenn wir in unserem Selbstwert bedroht sind, und die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht sich umso mehr, je geringer wir unseren Selbstwert empfinden. Deshalb hat sich Virginia Satir (1975) so intensiv mit dem Selbstwert und dem Zusammenhang mit menschlicher Kommunikation beschäftigt. Ihre zentrale Erkenntnis war, dass niedriger Selbstwert oder Situationen, in denen unser Selbstwert bedroht ist, sich unmittelbar auf die Art und Weise auswirken, wie Menschen kommunizieren. Die von ihr identifizierten, nicht kongruenten Kommunikationstypen beschwichtigend, anklagend,

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intellektualisierend und ablenkend erinnern sehr an die oben beschriebenen Stressverarbeitungsstrategien (Kampf, Flucht, Lähmung, Unterwerfung). Mit anderen Worten: Je geringer oder bedrohter der Selbstwert eines Menschen, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer aggressiven Kompensation. Aggression und sozialpsychologische wie gesellschaftspolitische Aspekte Für die Reflexion von Stress und Selbstwert und ihre Bedeutung für Aggression und aggressives Verhalten ist aber auch eine sozialpsychologische und letztlich gesellschaftspolitische Perspektive erforderlich. In unserer sehr individualistischen Gesellschaft wird ja – auch in unserer Branche – gern so getan, als sei Stress ausschließlich Ausdruck individueller Schwäche, gewissermaßen ein Scheitern im Prozess der »Selbstoptimierung«, die heute allenthalben postuliert wird. Das halte ich nicht nur für Unfug, sondern auch für gefährlich. Unter Stress (mit all seinen Begleiterscheinungen) leidende Menschen werden dann von Therapeuten unbewusst auch noch mit dem Vorwurf konfrontiert, sich nicht diszipliniert genug an die Gebote der unzählig gewordenen Ratgeber gehalten zu haben. Das verstärkt den Stress, anstatt ihn zu reduzieren. Stress ist aus meiner Sicht erst einmal eine gesunde und damit richtige Reaktion unseres Körpers und unserer Seele auf Umstände, die eben in sehr vielen Fällen stark belastend sind. Diese Umstände müssen wir im Auge haben und uns m. E. auch daran beteiligen, wenn es darum geht, Umstände zu verändern, wenn sie denn nicht nur individuell oder innerhalb der Familie entstanden, sondern in weit darüberhinausgehenden Kontexten begründet sind. Soziale Ungleichheit, Armut, die Angst, seine Wohnung oder den Arbeitsplatz zu verlieren, Druck in Unternehmen, Umweltbelastungen oder das Gefühl, in der Gesellschaft gar nicht mehr wahrgenommen zu werden, sind Stichpunkte einer gesellschaftlichen Entwicklung, die in den letzten zehn Jahren sehr viel individuelle und familiäre Not verursacht hat. Mit der Neuen Autorität müssen wir aus meiner Sicht auch auf der politischen Ebene aktiv werden, um uns nicht am Prozess der Individualisierung psychischen Leidens zu beteiligen. In dieser Individualisierung steckt auch sehr viel destruktives Aggressionspotenzial, das sich populistische Bewegungen weltweit zunutze machen, allerdings nicht im Dienst leidender Menschen, sondern letztlich auf deren Rücken. Coping-Strategien zur Bewältigung schwieriger Stresssituationen sind in unserer Kultur in der Regel sehr auf Abgrenzung fokussiert, ganz nach dem Motto: Ich muss allein da durch. Mit Unterstützung im Sichern oder Fördern

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wird kaum noch gerechnet. Die natürlichen sozialen Gefüge sind sehr brüchig geworden. Häufig korreliert steigende Not mit wachsender Einsamkeit. »Boike Rehbein und Jessé Souza (2014) belegen in ihrer Arbeit über die ›Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften‹, dass die Verbreitung des Kapitalismus und der Demokratie weltweit zu einer Zunahme sozioökonomischer Ungleichheit und gleichzeitig zu einer immer stärkeren Individualisierung führt. Die Wir-Identität schrumpft zusehends zugunsten von individuellen Perspektiven, die dem Einzelnen materiellen Erfolg und Statuszuwachs in Aussicht stellen. Die Autoren beschreiben eindrücklich, dass es Mitgliedern der kapitalistischen Gesellschaft wichtiger erscheint, sozialen Aufstieg zu erreichen, als mit ihren sozialen und familiären Bezügen verbunden zu bleiben. Die Zerstörung der familiären, sozialen und gesellschaftlichen Bezüge ist weltweit zu beobachten. Im Vormarsch der Individualisierung und im Voranschreiten der Globalisierung sehen Rehbein und Souza einen unmittelbaren Zusammenhang« (von der Recke u. Wolter-Cornell, 2016, S. 51). Essenzielle Fragen wie »Was ist nötig?«, »Was ist nützlich?« oder »Was stärkt die Gemeinschaft?« treten gegenüber der Frage zurück: »Was ist noch möglich?« Gemeint sind dann gern Umsatz und Gewinn. In einem Interview mit der »Süddeutschen Zeitung« formulierte der Soziologe Wilhelm Heitmeyer seine Sorgen um einen wachsenden Autoritarismus: »Man kann diese Entwicklung nicht eindimensional allein aus dem politischen System erklären. Das ist zu einfach. Der globale Kapitalismus hat riesige Kontrollgewinne erzielt, die nationalstaatliche Politik entsprechend Kontrollverluste erlitten. Diese haben sich durch die Krisen in den vergangenen beiden entsicherten Jahrzehnten als individuelle Kontrollverluste bei Teilen der Bevölkerung im Sinne von Desintegrationsängsten ausgewirkt. Die Folgen waren eine Demokratieentleerung, also Vertrauensverluste. Gewinner ist die autoritär-nationalradikale Variante wie die AfD, die jetzt mit dem Versprechen der Wiederherstellung von Kontrolle auftritt. Vornehmlich zulasten schwacher Gruppen und Fremder« (Heitmeyer, 2018). Und weiter: »Der autoritäre Nationalradikalismus, so wie ich ihn nenne, operiert mit einfachen, zweiteiligen Gesellschaftsbildern. Volk versus Elite zum Beispiel. Oder bezogen auf Geschichte: Verklärung versus Aufklärung. Oder auf der Gruppenebene: Wir gegen die, die Etablierten, gegen die Eindringlinge. Die Komplexität unserer Welt wird so scharf reduziert, es wird vermeintliche Sicherheit versprochen. Damit hat der autoritäre Nationalradikalismus derzeit Erfolg. Und er könnte ihn weiterhin haben, wenn sich nicht Gravierendes ändert. Deutschsein ist eine Schlüsselkategorie für autoritäre Umformungsprozesse. Wenn der Status unsicher wird und die Anerkennungsmöglichkeiten ausbleiben, man das Gefühl hat, keinen Einfluss mehr zu haben, wenn die sozia-

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len Beziehungen sich verändern, Familien auseinanderbrechen, die Identität der eigenen Gruppe verloren geht, dann ist es nicht mehr weit zu sagen: Aber das Deutschsein kann mir niemand nehmen. Das ist dann der sicherheitsversprechende Identitätsanker« (Heitmeyer, 2018). Heiner Keupp formulierte in seinem Vortrag auf der Dritten Internationalen Konferenz »Neue Autorität und gewaltfreier Widerstand« in München 2014: »Die klassischen [sozialpsychologischen] Experimente verweisen uns auf die Relevanz der situativen Bedingungen. Wir können erkennen, dass wir nicht allein auf die individuellen Motive und Handlungen blicken sollten, sondern auf die systemischen oder Kontextbedingungen institutioneller Felder. In einem spezifischen Setting kann jede/r zur Täter/-in werden« (Keupp, 2014). Im Weiteren zitiert er Erich Fromm (1937) zum Gefühl der Ohnmacht: »Der bürgerliche Charakter […] produziert eine Welt der großartigsten und wunderbarsten Dinge; aber diese seine eigenen Geschöpfe stehen ihm fremd und drohend gegenüber; sind sie geschaffen, so fühlt er sich nicht mehr als ihr Herr, sondern als ihr Diener. Die ganze materielle Welt wird zum Monstrum einer Riesenmaschine, die ihm Richtung und Tempo seines Lebens vorschreibt. Aus dem Werk seiner Hände, bestimmt, ihm zu dienen und ihn zu beglücken, wird eine ihm entfremdete Welt, der er demütig und ohnmächtig gehorcht. Dieselbe Haltung der Ohnmacht hat er auch gegenüber dem sozialen und politischen Apparat« (zit. nach Keupp, 2014). Und weiter: »[…] dem Erwachsenen wird gesagt, er könne alles erreichen, was er wolle, wenn er es nur wirklich wolle und sich anstrenge, und er sei ebenso für seinen Erfolg wie für das Misslingen selbst verantwortlich. Das Leben wird ihm als ein großes Spiel hingestellt, in dem in erster Linie nicht der Zufall, sondern eigenes Geschick, eigener Fleiß und eigene Energie entscheiden. Diesen Ideologien stehen die faktischen Verhältnisse schroff gegenüber. Der durchschnittliche Erwachsene unserer Gesellschaft ist tatsächlich ungeheuer ohnmächtig, und diese Ohnmacht wirkt noch umso drückender, als er ja glauben gemacht wird, es müsste eigentlich ganz anders sein und es sei sein Verschulden, wenn er so schwach sei. Er hat gar keine Macht, sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Wie versuchen Menschen, ›das Quälende des Gefühls zu überwinden‹? Durch •• Rationalisierungen •• Glaube an ein Wunder/magische Handlungen •• überkompensierendes Verhalten (z. B. Geschäftigkeit) •• Streben nach Kontrolle und Führung in jeder Situation •• Wut, besonders gekennzeichnet durch Ohnmächtigkeit •• Projektion der eigenen Wut auf andere« (zit. nach Keupp, 2014, Vortragsfolien).

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Mit einem Erklärungsangebot der Sozialpsychologie schließt Keupp den Kreis von den gesellschaftspolitischen Bedingungen zu defizitären Sozialisationserfahrungen, die dann u. a. mit Aggression und Gewalt kompensiert werden: »Manichäische Weltdeutungen, die nur schwarz und weiß oder gut und böse sehen und zulassen, gehen auf Spaltungsprozesse zurück, mit denen negative Erfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen ›verarbeitet‹ werden. Gewalt und Wut richten sich im Jugendalter oft gegen negative Elternrepräsentationen, die dann allerdings politisch-ideologisch maskiert werden. Verschwörungs-, rassistische oder fundamentalistische Theorien bieten hier vor allem Legitimationen. Selbst ausgeübte Gewalt liefert eine wirksame Kompensation. Sie bietet die Chance, sich aus der Opferposition, die man im familiären System zugewiesen bekam, zu befreien. Sie kann eine ›epiphanische Erfahrung‹ (­Sutterlüty) begründen, die ein Selbstwirksamkeitsgefühl fördert, das für diese Personen ohne Alternative ist« (zit. nach Keupp, 2014, Vortragsfolien). So weit einige Thesen aus sozialpsychologischer und soziologischer Perspektive, die auch den gesellschaftspolitischen Kontext berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund bekommt das Konzept der Neuen Autorität auch eine (gesellschafts-)politische Dimension und es geht dann um die Frage, wo und wie wir Widerstand leisten können, wenn etwa Diskriminierung, Ausgrenzung oder Rassismus das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft gefährden (vgl. dazu in Kapitel 2.10 »Eine wachsame Zivilgesellschaft für eine wehrhafte Stadt« oder Kapitel »Bürgerprotest«). Eine psychoanalytische Perspektive: Aggression als Bekämpfung des Abgespaltenen im Außen Nach Erich Fromm hat sich wohl kaum ein namhafter psychoanalytischer Psychotherapeut so intensiv wie Arno Gruen mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Bedingungen sich menschliche Destruktivität und Gewalt entwickeln und Menschen ihr Mitgefühl verlieren. Der im Oktober 2016 mit 92 Jahren verstorbene Psychoanalytiker wurde in Berlin geboren und ist mit seiner Familie 1936 nach New York emigriert. Dort wurde er Psychoanalytiker und praktizierte, bis er 1979 in die Schweiz zog, wo er auch seine wichtigsten Bücher publizierte (vgl. von der Recke u. Wolter-Cornell, 2016). In seinem sehr bekannt gewordenen Buch »Der Fremde in uns« zitiert er folgende Geschichte: »Milovan Djilas (1958), einst Titos Gefährte im Partisanenkrieg […], beschreibt in seinem autobiographischen Bericht ›Land ohne Recht‹ die Grausamkeiten einer

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Männerwelt, in der Menschlichkeit als Schwäche verpönt ist: ›Einmal, nach dem Krieg, begegnete Sekula (ein Montenegriner und Jugoslawe) auf dem Weg von Bijelo Polje nach Mojkovac ein fremder Muselmane. Dieser Weg war immer gefährlich, da er dicht bewaldet und für einen Hinterhalt wie geschaffen war. Der Muselmane war daher froh über den montenegrinischen Weggefährten; auch Sekula fühlte sich in Gesellschaft eines Türken sicherer, für den Fall, dass sich türkische Heckenschützen in der Gegend herumtrieben. Der Muselmane war offensichtlich ein friedliebender Familienvater. Unterwegs boten sie einander Tabak an und plauderten freundlich. Der gemeinsame Weg durch die Wildnis brachte die beiden Männer einander näher.‹ Djilas schreibt, dass Sekula später sagte, er habe keinerlei Ressentiments dem Moslem gegenüber empfunden. Er sei für ihn wie jeder andere gewesen, mit dem einzigen Unterschied, dass er Türke war. Doch gerade diese Unfähigkeit, eine Abneigung zu spüren, weckte in Sekula ein Gefühl von Schuld. Djilas berichtet weiter: ›Es war ein heißer Sommertag, weil der Wald aber so dicht war und der Weg einen Bach entlangführte, war es angenehm frisch. Schließlich setzten sie sich ans Bachufer, um im kühlen Schatten zu essen. Sekula prahlte mit seiner wunderschönen Pistole und zeigte sie dem Muselmanen. Der betrachtete die Waffe, lobte sie und fragte Sekula, ob sie geladen sei. Sekula bejahte, und in diesem Augenblick fiel ihm ein, dass er den Türken durch einen leichten Fingerdruck töten konnte. Er hatte sich aber noch nicht dazu entschlossen. Er richtete die Pistole auf den Muselmanen, gerade zwischen seine Augen, und sagte: ›Ja, sie ist geladen, und ich könnte dich jetzt töten.‹ Der Muselmane blinzelte in die Mündung, lachte und bat Sekula, anderswohin zu zielen, da die Waffe ja losgehen könne. In diesem Augenblick wusste Sekula ganz klar, dass er seinen Weggefährten töten musste. Er hätte die Schande einfach nicht ertragen können, wenn er diesen Türken verschont hätte. So schoss er, wie zufällig, mitten in das lächelnde Gesicht, zwischen die Augen.‹ […] Irgendetwas war in ihm zum Durchbruch gekommen, was er von Geburt an mit sich herumtrug und was er einfach nicht zurückhalten konnte. Es muss der Moment gewesen sein, in dem sich Sekula dem Türken so nahe fühlte, dass sich die Scham seiner bemächtigte. So absurd es auch klingen mag, er tat, was er tat, nicht aus Hass, sondern im Gegenteil: Er tötete, weil er diesen ›Fremden‹ nicht hassen konnte. Dafür schämte er sich, dafür fühlte er sich schuldig. Denn die Freundlichkeit und das Gute, das er in sich selbst spürte, verwandelten sich in ein Gefühl der Schwäche. Und dieses Gefühl musste er abtöten. Als er den andern tötete, tötete er die Menschlichkeit in sich selbst« (Gruen, 2000, S. 9 f.).

Zentral in Arno Gruens Arbeiten ist die Beobachtung, dass es immer mehr gesellschaftliche Tradition geworden ist, menschliches Leiden, Schmerz und Trauer zu exkommunizieren und als nicht akzeptabel abzuspalten. Am Beispiel

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wichtiger Protagonisten des Nationalsozialismus bzw. Faschismus wie Hitler oder Franco hat er diese Phänomene eindrucksvoll beschrieben. Die damals gedachten und gelebten pädagogischen Vorstellungen, wie sie etwa von Johanna Haarer (1937) in ihrem Buch »Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind« veröffentlicht wurden, untermauerten die Ideologie, dass Kindern von früh an eigene Interessen und die damit verbundenen Gefühle auszutreiben seien, um sie zu »guten Volksgenossen« zu erziehen. Haarers Buch wurde übrigens in veränderten Auflagen bis 1987 aufgelegt, die Idee, dass Erziehung eine Schlacht sei, die von den Eltern gewonnen werden müsse, hatte sich mit dem Ende des Zweiten Weltkreges keineswegs erledigt. Geblieben ist die Vorherrschaft der Kontroll- und Dominanzbedürfnisse, die unser menschliches Wesen bis heute in hohem Maße reduziert hat. Und diese Entwicklung hat schon geraume Zeit vor den vernichtenden Kriegen des 20. Jahrhunderts begonnen. Nach Gruen ist das »männliche Bewusstsein« wahrnehmungs- und handlungsleitend im Gegensatz zur weiblichen Empathie. Diese Entwicklung geht einher mit einer zunehmenden Dominanz der linken gegenüber der rechten Hemisphäre unseres Gehirns. Das Denken übernimmt die Führung und setzt sich gegen das Fühlen durch. Fühlen und Denken geraten in eine Konkurrenz, in der im Zweifelsfall der »Vernunft« der Vorzug zu geben ist. Gefühle werden zweitrangig, insbesondere Gefühle wie Angst, Trauer oder Ärger sind dann nicht mehr akzeptabel und im Laufe der Erziehung zu zügeln bzw., wenn sie der »Vernunft« zu sehr im Wege stehen, auch abzuspalten. Der Preis für ihre Entwicklung ist hoch und besteht darin, dass Kinder sehr früh lernen, was sie fühlen sollen, und nicht, ihre eigenen Gefühle als richtig zu erleben, ihnen zu vertrauen und sie so als Teil eigener Identität integrieren zu können. Wir werden dann nicht mehr dafür geliebt, was wir sind, sondern dafür, was wir tun. Darüber entsteht erstens Angst davor, nicht zu schaffen, was von uns gefordert wird, wobei diese Angst exkommuniziert bleibt. Zweitens resultiert daraus Aggression gegenüber den Eltern, nicht um seiner selbst willen geliebt zu werden, die aber verleugnet werden muss, um weiter »gut dazuzugehören«. Und drittens entwickelt sich darüber Gehorsam als wertvolles Ziel, erzeugt durch Belohnung und Lob. Das Tragische ist, dass darüber das den Menschen zutiefst eigene Mitgefühl, die Empathie, verloren zu gehen droht und in vielen Fällen auch verloren geht. Ganz eng mit dem Mitgefühl verbunden ist die menschliche Fähigkeit, Trauer und Schmerz zu empfinden. Wenn diese Gefühle aber abgespalten werden, weil sie von außen keine angemessene Resonanz erfahren, sondern eher auf strafende Blicke oder abwertende Kommentare stoßen, dann geht darüber auch das Mitgefühl verloren. Das geschieht auch deshalb, weil das Kind auf seine Zuge-

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hörigkeit angewiesen ist und keine Wahl hat außer, sich dem System, in dem es lebt, anzupassen. »Ein Indianer kennt keinen Schmerz« und »Was mich nicht umbringt, macht mich nur stärker« sind dann geflügelte Worte in diesem Prozess, der den gesunden Bezug zum eigenen Schmerz zunehmend verhindert. Im weiteren Verlauf kommt es insofern zu Aggression und Hass, als diese Gefühle im Außen bekämpft werden: Weil ich die eigenen Gefühle des Schmerzes als Ausdruck nicht anzunehmender Schwäche abgespalten und zu hassen gelernt habe, bekämpfe ich sie, wann immer ich ihnen bei anderen Menschen begegne. Der Feind, den wir im Außen ausmachen, ist also ursprünglich ein Teil von uns selbst, den wir nicht akzeptieren dürfen und den zu hassen wir gelernt haben; der Hass auf andere ist also letztlich Selbsthass. Und diesen Selbsthass kompensieren wir dadurch, dass wir ihn im Außen bekämpfen und schlimmstenfalls vernichten. Verrückterweise sind es also nicht die Unterschiede, die Menschen dazu veranlassen, einander zu bekämpfen. Wenn Menschen so den Bezug zu ihren eigenen Gefühlen verloren haben, können sie letztlich nur eine bruchstückhafte, eine gebrochene Identität entwickeln, weil maßgebliche Teile ihres Erlebens nicht integrierbar sind. Die Folge einer eigenen nicht ausgereiften Identität ist dann, dass sich Menschen über die Maßen mit Menschen, Dingen und Ideen von außen, die ihnen vermeintlich identitätsstiftende Angebote machen, identifizieren. Das können Führungspersönlichkeiten sein oder die Idee der Zugehörigkeit zu einer überlegenen Rasse, beispielsweise den »Ariern«. Aber auch die Gier nach Reichtum und Besitz ist eine gute Möglichkeit, die verleugnete eigentliche Bedürftigkeit zu kompensieren. Das Verbot von Bedürftigkeit und Zärtlichkeit begründet und erleichtert die Identifikation mit fragwürdigen und gefährlichen Autoritäten, die mit Neuer Autorität mit Sicherheit nichts mehr zu tun haben. In gewisser Weise erlebt wohl jeder Mensch im Laufe seines Großwerdens und Lebens eine Entfremdung des Eigenen. Wir alle geraten in Situationen und Kontexte, in denen wir unser Inneres beiseitelassen oder vorübergehend abspalten und uns so von unserem Selbst entfremden. Dieser Vorgang ist in einem gesellschaftlichen Umfeld verankert, das Erwachsenen erlaubt, die Abhängigkeit eines Kindes zur Steigerung des eigenen Selbstwertes zu missbrauchen (Stichwort »Adultismus«). Er führt dazu, dass ein Kind plötzlich seinen eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen misstraut oder sie ausblendet, um eine Verbindung mit dem versorgenden Erwachsenen aufrechtzuerhalten. Und diese Verbindung ist für das Kind überlebensnotwendig. Hier liegt auch eine Gefahr in Haim Omers Konzept, wenn es benutzt wird, diesen Vorgang zu stützen; umso wichtiger scheint es, sich im Umgang mit Klienten achtsam mit der Ausgangslage und den Motiven der Beteiligten aus-

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einanderzusetzen. »Stärke statt Macht« darf nicht zum Instrumentarium der Unterdrückung kindlicher Bedürfnisse mutieren. Die Lösung dieses von Gruen beschriebenen Prozesses, der immer wieder in allen Kontexten menschlichen Zusammenlebens zu massiver Aggression und Gewalt führt, kann nur darin bestehen, dass wir wieder lernen, uns mit unseren Schwächen und tiefen Bedürfnissen anzunehmen. Dazu gehört der wieder freie Zugang zu unseren Gefühlen als essenziellem Teil unseres Seins. Erst auf dieser Grundlage können wir uns selbst und andere wieder lieben lernen (Gruen, 2013). Auch unsere kindlichen Schmerzen, Leiden und Entbehrungen müssen wir wieder zulassen, um den Zugang zu Mitgefühl und Empathie zu ermöglichen. Wirkliches Verständnis ist aber nur möglich, wenn wir eigene kindliche Schmerzen und Leiden zulassen. Die Perspektive Scham: Aggression als Abwehr von Scham Scham spielt im Leben jedes Einzelnen eine große und oft unterschätzte Rolle, sie erschwert gute Kontakte in jeder Gruppe und Gemeinschaft und kann sich zwischen Menschen, Gruppen und größeren Systemen sehr verheerend auswirken. Scham ist wohl eine der schwierigsten Emotionen, zumal dann, wenn sie ein gesundes Maß überschreitet und dann traumatisierende Wirkung hat (traumatische Scham). Gleichzeitig ist Scham auch eine Fähigkeit, die mithilft, soziales Verhalten zu steuern. In dieser Funktion wird sie auch als »Hüterin der Menschenwürde« (Marks, 2013b) bezeichnet. Wer keine Scham mehr empfinden kann, ist im Ausleben aggressiver Impulse nicht mehr berechenbar (z. B. Gewaltverbrecher). Stephan Marks beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Scham und hat darüber mehrere lesenswerte Bücher veröffentlicht. Sein Ausgangspunkt war die Frage, wie es sein konnte, dass sich in Deutschland in der Weimarer Republik und dann verstärkt ab Ende der 1920er Jahre so viele Menschen für die Ideen Hitlers und der NSDAP begeisterten. Die zu diesem Thema zur Verfügung stehenden Erklärungen und Theorien reichten Marks nicht aus. Gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe führte er eine qualitative Untersuchung durch, in der ehemals überzeugte Nationalsozialisten befragt wurden (Marks, 2011). Im Rahmen der Durchführung dieser Studie kamen die Kolleginnen immer wieder zusammen, um über ihre Erfahrungen bei den Befragungen zu sprechen. Dabei fiel auf, dass sie einander immer wieder von einem eigenen starken Schamerleben berichteten, so rückte die Scham in den Fokus und wurde eines der wesentlichen Ergebnisse dieser Forschungsarbeit. Scham und insbesondere die

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Abwehr der Scham wurden als eine der wesentlichen Ursachen für die nationalsozialistische Begeisterung identifiziert. »Für das (auch kollektive) Empfinden von Scham gab es im Deutschland der 1920er Jahre verschiedenste Gründe. Der verlorene Erste Weltkrieg mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, der Versailler Vertrag mit seinen erdrückend wirkenden Reparationsforderungen, die Hyperinflation mit ihrem Höhepunkt 1923, die politisch sehr schwach wirkende junge Demokratie der Weimarer Republik sowie schließlich die Weltwirtschaftskrise und ihre massiven Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft mit über sechs Millionen Arbeitslosen, um hier nur die wichtigsten zu nennen. Die traumatischen Auswirkungen des Krieges taten ihr Übriges und schufen gesellschaftliche Rahmenbedingungen (ähnlich wie der Zweite Weltkrieg), in denen eine kollektive Bearbeitung dieser Traumata in ihrem kollektiven Ausmaß genauso wenig möglich war wie die Bearbeitung der dazugehörenden Gefühle. Diese Gefühle wurden (wie oben beschrieben) abgespalten und so war auch der Umgang mit der in ihrem Ausmaß unerträglichen Scham. Dafür gibt es verschiedene Schamabwehrstrategien, die sich letztlich in der nationalsozialistischen Bewegung und der Machtübertragung an diese 1933 bündelten. Eine dieser Strategien ist schlicht die Verleugnung, eine weitere, die Schuldigen an anderer Stelle zu suchen. Im Rahmen der ›Dolchstoßlegende‹ wurden nicht mehr der Irrsinn der deutschen militärischen Strategie, sondern ›Verräter‹ im eigenen Land (Sozialdemokraten und andere) für den verlorenen Krieg verantwortlich gemacht. Diese Suche nach Schuldigen wurde in der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten fortgeführt. Die eigene, abgewehrte Scham wird anderen zugeführt, was sich am leichtesten durch Missachtung und (zunehmend) systematische Ausgrenzung bewerkstelligen lässt. Juden, Sinti, Roma, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle und andere wurden ihrer Rechte beraubt, auch durch jede mögliche Missachtung von Grenzen der Intimität terrorisiert und schließlich massenhaft ermordet. An die Stelle des menschlichen Gewissens war der Gehorsam getreten, gepaart mit der Aussicht auf Zugehörigkeit zu einer starken Bewegung und einer vermeintlich allen anderen überlegenen Rasse« (von der Recke u. Wolter-Cornell, 2016, S. 52 f.). Ein seelisch nicht mehr zu ertragendes Maß an Scham kann also als wichtige Voraussetzung für menschenverachtende Politik und ihre vernichtende Wirkung gesehen werden. Weil sie nicht ertragen werden kann, wird sie durch die beschriebenen Strategien abgewehrt und entsorgt. Bezogen auf das Thema »Aggression« lässt sich diese Idee auch in persönliche und berufliche Kontexte (Familie, Schulklasse, Gruppen, Teams, Einrichtungen und Unternehmen) übertragen. Mit anderen Worten: Überall, wo wir Aggression in ihrer destruk-

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tiven und gewalttätigen Dimension begegnen, ist es gut, traumatische Scham als Grundlage in Betracht zu ziehen und dann vor allem dafür zu sorgen, dass Scham und Beschämung nicht fortgesetzt werden (wie es z. B. in Schulen, Universitäten oder Gefängnissen immer wieder vorkommt). Wenn wir gewaltfrei Neue Autorität leben und praktizieren wollen, scheint mir diese Perspektive im Sinne des Primats der Eskalationsvorbeugung sehr maßgeblich. Dabei stellt sich schnell heraus, dass Scham eine universelle Emotion und oft gar nicht leicht zu vermeiden ist. Das hängt mit den vier Themen der Scham zusammen, die Stephan Marks in seinen Vorträgen und Workshops immer gern mit der Metapher eines Mobiles beschreibt. Als erstes Thema (oder erste Quelle) der Scham nennt er Scham in Folge von Missachtung. Jeder Mensch ist davon abhängig, gesehen zu werden, so wie Pflanzen Sonnenlicht benötigen. Die Verweigerung von Anerkennung ist ein uraltes Herrschaftsmittel und kann traumatische Scham erzeugen. Wenn ich jemanden wie Luft behandle, beschäme ich ihn zutiefst. Menschen, die in ihrem Leben fortgesetzt missachtet wurden, leben mit einer großen Portion Scham, die sie möglicherweise dadurch abwehren, dass sie auch gewaltsam für ihre Anerkennung sorgen. Die Verletzung einer Grenze ist die zweite Quelle der Scham. Traumatische Scham wird etwa durch Folter oder Vergewaltigung ausgelöst, sie wird aber auch in vielen Fällen von Mobbing oder übergriffigen Mitteilungen in sozialen Medien provoziert. In interkulturellen Begegnungen kann sie schnell schlicht durch Unkenntnis kultureller Regeln entstehen. Die dritte Quelle möglicherweise traumatischer Scham ist die Ausgrenzung oder die Verweigerung der Zugehörigkeit. Auch von der Zugehörigkeit zu für uns relevanten Systemen (Familie, Peergroup, Team usw.) sind wir abhängig; wird sie uns abgesprochen, kommt es zu massivem Schamerleben. Zugehörigkeit definiert sich in vielen Kontexten durch Regeln oder (oft ungeschriebene) Normen, wie man sein muss oder was man tun muss, um »gut dazuzugehören« (z. B. mutig, sportlich, intelligent, schlank, wohlhabend oder musikalisch). Wer den entsprechenden Normen nicht genügt, läuft Gefahr, ausgegrenzt zu werden. Die Verletzung der eigenen Werte ist das vierte Thema der Scham. Sie wird ausgelöst, wenn ich mich etwa gezwungen sehe, etwas zu tun, was meiner Integrität zuwiderläuft, oder wenn ich mich eines Vergehens schuldig gemacht habe. Aber auch wenn ich Zeuge einer Szene werde, in der einem anderen Unrecht angetan wird, kommt es zu Scham. Die Metapher des Mobiles macht deutlich, dass wir immer wieder in Situationen geraten können, in denen wir Scham gar nicht vermeiden können. Beispielsweise muss ich im Dienst meines Bedürfnisses nach Zugehörigkeit etwas

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tun, was mit meinen Werten eigentlich nicht übereinstimmt. Oder ich verzichte auf den Schutz meiner persönlichen Grenzen, um (endlich) gesehen zu werden. Aggression als Energie: Ein nützliches Lebensenergiemodell Aggression wird in erster Linie in ihren destruktiven Aspekten identifiziert und assoziiert, sie kann aber auch als Energie verstanden werden, die uns im Leben dazu dient, uns unseren Raum zu nehmen (ohne gleichzeitig anderen zu schaden), unsere Visionen ins Leben zu bringen und letztlich der Stärke im Konzept der Neuen Autorität die Kraft zu geben, die es braucht, um wirksam sein zu können. Dieser konstruktive Aspekt steckt schon in der Bedeutung des Wortes: Aggression kommt vom lateinischen aggressio und vom Deponens aggredi: sich zubewegen auf (etw./jdn.); heranschreiten; sich nähern; angreifen. Um die Aggression auch als Lebensenergie zu verstehen, war mir ein Modell hilfreich, das ich vor 25 Jahren in einem Workshop von Wilhelm Backhausen kennengelernt habe. Es entstammt dem Buch »König, Krieger, Magier, Liebhaber« (Moore u. Gillette, 1992), die sich im Kontext der amerikanischen Männerbewegung mit der männlichen Entwicklung auseinandergesetzt haben. Mithin ging es ihnen um die Frage, wie aus einem Jungen ein Mann, aus einem Prinzen ein König wird. Dieses Modell lässt sich gut auf die weibliche Entwicklung übertragen: Wie wird aus dem Mädchen eine Frau, aus der Prinzessin eine Königin? Das Modell fußt auf der vereinfachten Vorstellung, der Welt, dem Leben und jedem Menschen stünden grundsätzlich vier Energien zur Verfügung: die königliche, die kriegerische, die liebende und die magische. Wie immer in solchen Modellen ist der erstrebenswerte Zustand, dass diese Energien in ausgewogenem Verhältnis zueinander vorhanden sind. Diese vier Energien lassen sich in Kürze folgendermaßen beschreiben (siehe Abbildung 1): 1. Die königliche Energie sorgt dafür, dass alle und alles ihren gemäßen Platz haben, wo der Anfang und das Ende und wo die Grenzen sind. Sie schafft in Systemen die nötige Struktur und die gebotene Ordnung. Sie klärt in guter Weise die Aufgaben, die Zuständigkeiten, die Ziele, die Prozesse sowie die erforderlichen Maßnahmen. Sie ist gewissermaßen die Legislative im System, es ist die in allen Systemen erforderliche Führungsenergie. Beispiele dafür sind das Grundgesetz der Bundesrepublik, die Charta der Vereinten Nationen, aber auch das Leitbild in einem Unternehmen, die Schulordnung, Vereinbarungen in Familien oder auch der Dienstplan, das Organigramm und die Besprechungsstruktur in einem Krankenhaus. Im Zusammenhang mit der Neuen Autorität ist es in erster Linie die Präsenz, aber auch die Transparenz, mit der Entscheidungen zustande kommen und vermittelt werden.

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Wenn die königliche Energie im Übermaß vorhanden ist, besteht die Gefahr der Tyrannei, dann wären wir bei der »alten Autorität«, mit der einer an der Spitze steht, bestimmt, wo und wie es langgeht, und alle andern haben zu gehorchen. Steht königliche Energie deutlich zu wenig zur Verfügung, drohen das Chaos und das Phänomen, dass die Führung von denen übernommen wird, denen sie nicht zusteht; in einer Familie übernehmen dann Kinder das »Kommando« mit entsprechenden Folgen, die das Konzept Haim Omers sinnvoll und notwendig gemacht haben: Es fehlt dann an Präsenz. 2. Die kriegerische Energie ist die Kraft, die es braucht, um vereinbarte Grenzen zu verteidigen. Sie ist das klare und kraftvolle »Nein« immer dort, wo es erforderlich ist. Es ist auch die »Schulter-an-Schulter-Energie«, mit der sich Menschen im Dienst einer Idee verbinden und/oder gegen nicht akzeptierte Entwicklungen auf die Straße gehen. In der Friedensbewegung z. B. gab es immer wieder viel von dieser Energie, ähnlich wie in den jüngsten Demonstrationen gegen Rassismus und Ausgrenzung. Im Zusammenhang mit unserem Konzept sind es die Maßnahmen des gewaltfreien Widerstands gegen Verhaltensweisen, die nicht zu akzeptieren sind. Es ist aber auch die Energie, die es im Netzwerk braucht, damit es lebendig und wirksam wird. Bei einem Übermaß an kriegerischer Energie droht es sadistisch und gewalttätig zu werden, die dann ausgeübte Aggression oder Gewalt steht in keinem Verhältnis mehr zur Sache, um die es gerade geht. Aus kriegerischer wird Täterenergie bis zu Kriminalität, Folter und Vernichtung. Fehlt kriegerische Energie, kann es masochistisch werden, es kann wie eine Einladung an andere wirken, Grenzen zu übertreten, Opferrollen können sich chronifizieren. 3. Die liebende Energie wird gebraucht, damit Beziehungen entstehen und gehalten werden können. Dazu gehören Mitgefühl, Empathie und die Kompetenz, den anderen und seine Lage mitdenken und mitfühlen zu können. Natürlich gehört auch die Erotik mit all ihren Facetten dazu. Liebende Energie entsteht auf der Basis nährender Bindungserfahrungen, die gesunde und lustvolle Abhängigkeit ermöglichen, ohne die eigene Autonomie zu opfern. Die liebende Energie ist ein roter Faden in unserem Konzept, in dem es ja immer wieder darum geht, Beziehung(en) zu gestalten, zu wahren und zu entwickeln; Wiedergutmachung und Gesten der Versöhnung basieren auf dem Vorhandensein liebender Energie. Ist sie übermäßig vorhanden, droht die Abhängigkeit in dem Sinne, dass ich mich im Dienst der Beziehung ständig passend machen muss – aus Angst, am Ende verlassen zu werden. Ist die liebende Energie zu knapp oder gar versiegt, dann wird es einsam. Dann kann ich mich nur noch auf mich selbst verlassen, und jede drohende Abhängigkeit von einem anderen muss abgewehrt werden.

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4. Mit der magischen Energie ist das gesamte Panorama der Spiritualität gemeint, also alles, was die nicht unmittelbar fassbaren Aspekte zwischen Himmel und Erde fruchtbar in unser Leben bringt. Dazu gehören natürlich unser Glaube, auch unser Aberglaube und alle über unser Denken und Handeln hinausgehenden Erfahrungen (Transzendenz). Auch viele heilenden Aspekte der Medizin, der Psychotherapie oder des Schamanismus sind voller magischer Energie, und alle kennen die wohltuenden Wirkungen gut vollzogener Rituale, wie wir sie bei Hochzeiten, Beerdigungen oder anderen Festen erleben. In unserem Konzept ist z. B. die Ankündigung ein durchaus magisches Ritual, auch Gesten der Versöhnung und Wiedergutmachung haben magische Kräfte. Ist die magische Energie im Übermaß vorhanden, besteht die Gefahr des Größenwahns und ruft Propheten mit ihren Heilsversprechungen auf den Plan, mit denen sie Menschen um sich scharen, denen der Bezug zur eigenen magischen Energie abhandengekommen ist. Wenn es an magischer Energie fehlt, droht schnell die Langeweile mit der Konsequenz übertriebener Vernunft, Kontrolle und Zwanghaftigkeit.

Abbildung 1: Vier Energien des Menschen (eigene Darstellung)

Dieses Modell lässt sich vielfältig nutzen, persönlich-individuell wie für die reflexive Betrachtung aller menschlichen Systeme – von der eigenen Familie bis zur Gesellschaft und den Vereinten Nationen. Immer wieder stellt sich die Frage, welche Energien zu viel und welche zu wenig vorhanden sind. Beispielsweise zeigt sich in Einrichtungen psychosozialer Versorgung häufig, dass hier viel liebende und magische Energie, aber eher wenig königliche und kriegerische Energie vorhanden ist. Wie schnell nachvollziehbar ist, bringt jede Unausgewogenheit die Gefahr destruktiver Aggression mit sich.

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Auf dem Weg zu einer angemessenen Ausgewogenheit der vier Energien ist jeweils ein gutes Maß an Aggression im ganz gesunden Sinne des Wortes erforderlich: Königliche Energie erfordert Mut und die authentische Annahme meiner Rolle als Vater, Lehrerin oder Führungskraft, für die ich mir den Raum nehmen muss, den ich für die Realisierung meiner Aufgabe brauche. Kriegerische Energie bedarf der Aggression des klaren »Neins«, und dafür ist es gut, dieses Nein in jeder Zelle meines Körpers zu spüren. »Gewaltig, aber nicht gewalttätig«, wäre eine passende Überschrift für ein gutes Maß an königlicher und kriegerischer Energie. Für die liebende Energie brauche ich die gute Aggression eines gesunden Selbstwertes, um nicht in leidvolle Abhängigkeit zu geraten, und die gute Kraft, den anderen im besten Sinne des Wortes zu überzeugen. Und um magische Energie ins Leben zu bringen, brauche ich die Aggression der eigenen Überzeugung, damit meine magischen Bemühungen nicht sinnentleert und damit wirkungslos werden. So gesehen, könnten wir der Aggression (inklusive Ärger und Zorn) durchaus sehr viel Gutes abgewinnen und damit auch den Gefühlen generell zu einer besseren Integration ins Leben verhelfen. Die oben beschriebene Verleugnung und Exkommunikation der Gefühle und die daraus folgenden verheerenden Konsequenzen machen dies aus meiner Sicht erforderlich; diese Perspektive dürfte in unserem Konzept eine durchaus gewichtigere Rolle spielen. Mit dieser »Vision« hat sich der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Luc Ciompi über viele Jahre beschäftigt und mit seinem Konzept der Affektlogik (Ciompi, 1998) gut beschrieben, wie Fühlen und Denken zusammenspielen. Affektlogik ist die Lehre vom gesetzmäßigen Zusammenwirken von Fühlen und Denken. In seinem Buch »Gefühle machen Geschichte« (Ciompi, 2011) stellt er dieses Konzept in einen gesellschaftspolitischen Rahmen und belegt an Beispielen wie dem Nationalsozialismus, aber auch der Situation in den USA zur Zeit der erstmaligen Wahl Barack Obamas, welchen wesentlichen Beitrag Gefühle zu gesellschaftspolitischen Entwicklungen leisten. Er beschreibt sehr eindrücklich, dass Menschen eben nicht ausschließlich ihrer Vernunft folgen, sondern ihr Denken und auch ihr Handeln stets affektlogisch geleitet und von sogenannten affektiv-kognitiven Eigenwelten geprägt sind. Menschliches Denken sei nicht logisch, sondern eben affektlogisch strukturiert, und das gelte in Kollektiven noch stärker als für Individuen. Affektgeleitete Schienen oder Bahnen vereinen sich mit der Zeit zu umfassenden Fühl- und Denkwelten oder Mentalitäten (individuell, Gruppe, Gesellschaft), deren Konstanz überlebenswichtig ist (Wert- und Orientierungssystem, Weltbild, Identitäts- und Selbstwertgefühle). Gefühle beschreibt Ciompi in seinem Konzept als Energien, emotionale Energien sind die treibenden Kräfte (Motoren) hinter allem psychischen Geschehen.

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Sprunghafte Veränderungen geschehen vor diesem Hintergrund immer dann, wenn Systeme aufgrund zunehmender energetischer Spannung an die Grenzen ihrer Verarbeitungskapazitäten geraten. Es sei immer ein Überschuss emotionaler Spannung, der zu Veränderungen führe, wobei sich diese Veränderungen dann an einer Logik des Friedens oder einer Logik des Krieges orientieren können. In welche Richtung es geht, scheint wieder sehr von der Qualität der Affekte abhängig zu sein und dann natürlich von der Frage, wie diese Affekte kollektiv geteilt, besprochen, genutzt, ausgenutzt oder missbraucht werden. Gefühle und die damit verbundenen Gedanken können nur dann kontrolliert und bearbeitet werden, wenn sie bewusst sind. Vor allem Gefühle der Scham und Erniedrigung, der Trauer oder Wut werden aber sowohl individuell als auch – womöglich noch stärker – auf der kollektiven Ebene nicht selten verdrängt. Deshalb sei ein erstes Ziel fast aller Techniken der Konflikt- und Traumabekämpfung, solche unterdrückten Gefühle allen Beteiligten mit geeigneten Methoden erst einmal zu Bewusstsein zu bringen (von der Recke u. Wolter-Cornell, 2016). Wenn wir das Energiemodell und Ciompis Überlegungen in unsere konzeptionelle und praktische Arbeit integrieren, ergibt sich daraus eine wichtige gesellschaftspolitische Perspektive des gewaltfreien Widerstands, der m. E. angesichts der Entwicklungen in den letzten Jahren auch in Deutschland wieder zunehmend erforderlich wird. Und für diesen Widerstand brauchen wir alle Energien in jeweils starker, zugleich aber jeweils nicht übertriebener Ausprägung, sodass keine auf Kosten einer anderen Energie bevorzugt würde. Zu diesem Aspekt zitiere ich noch einmal aus dem SZ-Interview mit Wilhelm Heitmeyer: »Was muss jetzt passieren? Man kann sich nur wünschen, dass eine gesellschaftliche Entwicklung eintritt, in der die Anerkennungsprobleme auf die Tagesordnung kommen. Das ist für mich der Punkt, der das zum Vibrieren bringt. Und natürlich gibt es Hoffnung: Zu jeder Bewegung gibt es immer Gegenbewegungen. Wir haben eine aufmerksame Zivilgesellschaft, zumindest in weiten Teilen des Landes. Sie meinen die Demonstrationen gegen Rassismus und für Demokratie in großen deutschen Städten? Große Demos, wie in Berlin kürzlich, sind wichtig, um die Normen einer Gesellschaft immer wieder neu zu befestigen – und zwar öffentlich. Diese Bewegung findet aber auch in der eigenen Filterblase statt. Der Alltag ist entscheidend. Dort müssen die Auseinandersetzungen geführt werden. Es muss gestritten werden? Ja, überall, um mühsam erkämpfte liberale Normen wenigstens zu ver-

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teidigen. Auf Verwandtschaftstreffen, bei Weihnachtsfeiern, im Verein, im Betrieb. Was passiert eigentlich, wenn dort jemand rechtsextreme oder autoritäre Sprüche ablässt? Bin ich in der Lage, dort zu intervenieren? Dazu bedarf es eines ganz harten Trainings, großer Disziplin. Keiner will, dass das Klima an der Arbeitsstelle vereist. Keiner will die Verwandtschaft verlieren, die Freunde. Trotzdem: Da entscheidet sich viel. Wir müssen keine Helden sein, aber im Alltag muss man schon mutig werden. Ist das nicht ein bisschen naiv? So zu argumentieren scheint für manche Menschen lächerlich zu sein. Das Gegenteil stimmt. Die sozialen Kosten sind an dieser Stelle ungemein hoch. Viel höher, als wenn ich in einer Gruppe von Tausenden Menschen mitlaufe, die meiner Meinung sind« (Heitmeyer, 2018).

Zum Schluss Im Zuge meiner Beschäftigung mit Aggression im Kontext unseres Konzepts habe ich nach vielen Jahren noch einmal Horst-Eberhard Richters Buch »Psychoanalyse und Politik« gelesen und war beeindruckt und berührt von seinen Gedanken, die nicht aktueller sein könnten, auch wenn sie schon vor 15 Jahren veröffentlicht wurden. Richter beginnt sein Buch mit einem Satz, der nachhaltig einlädt, uns wieder mehr mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen und ihren historischen Bedingungen zu beschäftigen: »Es gibt eine kreisförmige Wechselbeziehung zwischen Machen und Erkennen. Wenn man nicht macht, was man als notwendig, wenn auch mit persönlichen Unannehmlichkeiten behaftet, erkannt hat, dann kann man irgendwann auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist. Wer Anpassungszwängen taktisch nachgibt, wohl wissend, dass er ihnen mit vertretbarem Risiko widerstehen könnte und auch sollte, wird nach und nach die Unzumutbarkeit von Anpassungsanforderungen gar nicht mehr wahrnehmen, das heißt die eigene Gefügigkeit auch nicht mehr als Fluchtreaktion durchschauen. Alles erscheint normal: die Verhältnisse, denen er sich ergibt, und der Verzicht auf Gegenwehr, den er eben gar nicht mehr als Verzicht erlebt.« Mit diesem auch aktuell so wichtigen Zitat schließe ich in der Hoffnung, dass es uns in und mit der Community der Neuen Autorität gelingt, dem umfassenden Thema der Aggression weiter auf den Grund zu gehen, eigene Aggressionen nicht zu verleugnen und die Aggression als Energie für unsere Arbeit zu nutzen, zugleich aber auch für den Widerstand, der an vielen Stellen gesellschaftlicher Entwicklung in unserem Land wünschenswert, wenn nicht sogar geboten scheint.

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1.5 Gedanken zur Achtsamkeit und Selbststärkung Herwig Thelen

Was ich unter Neuer Autorität verstehe Neue Autorität ist eine gewaltlose Führungs- und Selbstführungshaltung. Sie beruht auf der Autorisierung durch eine wohlwollende Gemeinschaft, auf dem Freiwerden innerer Stärke (Beharrlichkeit und Widerstand) und auf Integrität (Gewaltverzicht, Transparenz und Selbstkontrolle). Sie erlaubt uns, einseitige Schritte zu setzen, ohne der Beziehung zu schaden. Diese interne Arbeitsdefinition, die sich neben dem umfassend beschriebenen Konzept (Omer u. von Schlippe, 2016, 2010; Lemme u. Körner, 2018) auf meine praktische Arbeit als Trainer stützt, benötigt ein paar vertiefende Gedanken. Haim Omer betont in seinen Vorträgen stets die Bedeutung eines Netzwerkes, nicht nur zur Unterstützung der Betroffenen, sondern auch, um unser Vorgehen zu legitimieren. Bei ethisch heiklen Fragen ist es allemal besser, den fachlichen Elfenbeinturm zu verlassen und das gesamte Wissen des Netzwerkes mit einzubeziehen. Vorausgesetzt, die Unterstützenden sind zur Dialektik zwischen teilnehmender (empathischer) und herausfordernder (richtungsgebender) Haltung bereit, also, meinem Verständnis nach, »wohlwollend«. Neue Autorität gibt Führung, aber nicht im Sinne eines passiven Folgens, sondern im Sinne einer Stärkung hin zur Selbstverantwortlichkeit. Dies geschieht nur zum Teil auf der Ebene der Erklärungen und kognitiven Erkenntnisse. Durch nichts hätte uns Haim Omer anschaulicher darauf hinweisen können, wie sehr Neue Autorität nonverbal auf tiefen emotionalen Ebenen wirkt, als durch die Schweigeverpflichtung im Sit-In (Omer u. von Schlippe, 2016). Hier sprechen Körper miteinander und nicht Geisteshaltungen. Die Basis für dieses mitunter auch einseitige Vorgehen ist ein hoher Grad an Integrität, die sich nicht nur im Vorbildverhalten und durch hohe Impulskontrolle ausdrückt. Körperliche, verbale und strukturelle Gewalt werden vollständig ersetzt durch Beharrlichkeit und Protesthaltung. Die Integrität beruht auch darauf, dass ich meine Lebenserfahrung und die Weisheit des Netzwerkes nutze, um die Erwartungen meines Gegenübers, wenn notwendig, zu enttäuschen und stattdessen eine gewalt-

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freie, selbstkontrollierte »Stoßdämpferhaltung« einnehme. Das gilt vor allem bei Beeinträchtigung der Kommunikation durch manipulative oder provokante Stress- und Verteidigungsmuster, denen gegenüber die Neue Autorität ihre besonderen Stärken hat. Die Bereitschaft zu einseitigen Schritten erfordert besondere Auseinandersetzung mit dem Konzept und birgt in sich die Gefahr von missbräuchlicher Anwendung. Der Extremgedanke, ein Netzwerk von Menschen habe eher recht als ein Einzelner, muss stets kritisch hinterfragt und reflektiert werden, da unzählige Urteilsfehler zu stereotypen Meinungsbildungen und Irrtümern führen können (vgl. Kahneman, 2012). Es hat sich daher trotz Konzeptneutralität bewährt, dass Neue Autorität im deutschen Sprachraum bisher so gut wie ausschließlich unter der ethischen Schirmherrschaft der systemischen Therapie umgesetzt wird. Gute Zusammenfassungen finden sich beispielsweise bei von Schlippe und Schweitzer (2009) oder bei Ruf (2013).

Wo Neue Autorität ihre Stärken hat Wir brauchen Neue Autorität keineswegs immer. Wenn wir am Frankfurter Flughafen ankommen und unser Anschlussflug erst in vier Stunden sein wird, werden wir selbstbestimmt durch die Shops und Cafés schlendern. Haben wir aber nur fünfzig Minuten Stop-over, so werden wir leicht gereizt nach Hinweistafeln suchen oder, besser noch, nach einer Person, die kompetent wirkt und uns den Weg ansagen kann. Kompliziert wird diese Gegebenheit erst durch die Kombination von Mega-Airport und Zeitdruck. In solchen Situationen wünschen wir uns Führung. Wenn wir nun einen kleinen Kriterienkatalog darüber aufstellen, wie wir uns diese Auskunftsperson wünschen, so haben wir schon eine Beschreibung einer »neuen Autoritätsperson«: Sie soll da sein und als Führungsperson erkennbar sein. Sie soll sich für uns Zeit nehmen und uns kompetent den Weg weisen, obwohl wir nervös und deshalb vielleicht nicht so aufnahmefähig sind. Sie soll uns keinesfalls abwerten oder darüber klagen, warum wir einen so knappen Anschlussflug ausgewählt haben. Soll sie pessimistisch sein und sagen: Das können wir vergessen? Nein. Soll sie überoptimistisch sein und sagen: Das wird schon? Auch nicht. Sie soll realistisch sein und uns die Anforderungen der Aufgabe klarmachen, aber uns auch das Gefühl geben, dass sie uns zutraut, zügig und konzentriert zum Ziel zu kommen. Im besten Fall kann sie uns zur Beruhigung noch mit einem Plan B ausstatten. Das würden wir uns wünschen. Neue Autorität befasst sich also mit Führung, wo Führung gebraucht und eigentlich als hilfreich erlebt wird.

Gedanken zur Achtsamkeit und Selbststärkung

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Die symmetrische Beziehung Der größte Teil unserer Beziehungen zu anderen Menschen verläuft nach einem einfachen symmetrischen Prinzip: »Zug um Zug«, oder auch: »Wie du mir, so ich dir«. Wir sind höflich, weil andere es zu uns sind. Bekommen wir ein Kompliment, bedanken wir uns oder geben eines zurück. Werden wir beschuldigt, gehen wir in die Rechtfertigung (vgl. Axelrod, 1987). Die Summe dieser Zug-um-ZugKommunikationsbeiträge nenne ich »symmetrische Beziehungen«. Bei Freundschaften funktioniert Symmetrie meistens gut. Wir mögen die, die uns mögen, und wir meiden die, die uns meiden. Und wenn uns jemand, den wir ursprünglich mochten, Schwierigkeiten bereitet, dann rufen wir ihn oder sie einfach nicht mehr an. Das gängigste Konfliktbewältigungsmuster in dieser Beziehungsgestaltung ist der Abbruch. Viele Paarbeziehungen laufen ebenso symmetrisch ab: Solange es passt, passt’s. Wenn nicht, dann wird Schluss gemacht. Wird dieses Beziehungsprinzip missachtet, erscheint uns das von außen oft seltsam. Manche verlieben sich gerade in jene Menschen, die unerreichbar sind, andere unterwerfen sich, ebenso leidvoll, einem dominanten Partner. Im Vergleich dazu ist das symmetrische Prinzip einfach. Was man gibt, bekommt man auch zurück. Es stellt aber auch eine knallharte Bedingung: Wenn ich dich … was auch immer, dann erwarte ich selbstverständlich, dass du mich auch … was auch immer. Und dort ist der Haken. Etwas umformuliert heißt dieser Satz nämlich: Wenn du dich nicht benehmen (entschuldigen, zurückhalten etc.) kannst, dann mache ich es auch nicht. Fehlen hier noch der Humor und der liebevolle Versöhnungswille, so endet das unweigerlich in Streit, oft auch in Kampf, Flucht oder Erstarrung – dem Material, aus dem psychische Störungen gebaut sind und auf die im Kapitel »Neue Autorität und psychische Störungen« noch näher eingegangen wird (vgl. Kapitel 3.4).

Die Verantwortungsbeziehung Emotionale Ausnahmesituationen, Unreife, Krankheit, Trauer, Traumafolgen oder starke hormonelle Veränderungen rauben Menschen die Besonnenheit für eine angemessene symmetrische Reaktion. Simple Beispiele sind ein Kind, das sich im Supermarkt tobend auf den Boden wirft, um etwas zu ertrotzen, eine demente Person, die sich von uns bestohlen fühlt, oder Ex-Partner und Ex-Partnerin, die einander für Monster halten. In diesen Fällen ist es dringend notwendig, aus der Symmetrie in die Verantwortung zu wechseln. Verantwortungsbeziehung bedeutet, die Beziehung (zueinander und auch zu sich

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selbst) ernster zu nehmen als die Frage, wer recht hat. Das klingt erst einmal sehr weich, trifft jedoch die Praxis der Neuen Autorität. Denn vielfach werden an dieser Stelle drei fundamentale Fehler begangen, die dieser Haltung widersprechen: •• der Anpassungsfehler: Um des lieben Friedens willen passe ich mich an den anderen an und gehe in die stillschweigende oder offene Übereinkunft mit seinen oder ihren Standpunkten. Ich verrate also meine Werte, um die Beziehung zu retten, und untergrabe zugleich meine emotional-moralische Präsenz (vgl. Lemme u. Körner, 2018). Motto: »Na gut, ausnahmsweise«. •• der Betroffenheitsfehler: Der Verlust meines Durchsetzungsvermögens kränkt mich mehr, als er sollte, und führt in weiterer Folge zum Verlust meiner internalen Präsenz (vgl. Lemme u. Körner, 2018). Ich versuche daher, die Beziehung zu reparieren, indem ich mein Gegenüber in Betroffenheit und Reue versetzen will. Motto: »Weißt du eigentlich, was du mir/uns da antust?« •• der Rückzugsfehler: Ich gehe aus der Verantwortung und oft auch aus der Situation, indem ich so tue, als würde ich meinem Gegenüber volle Eigenverantwortung zugestehen, und opfere dafür meine physische Präsenz. Motto: »Du wirst schon wissen, was du tust«. Ebenso wie die Eskalation sind diese Vorgehensweisen nur ungeduldige und forcierende Versuche, die Symmetrie wiederherzustellen. Die Verantwortungsbeziehung besteht vielmehr aus dem Vermögen, dem oder der anderen mit wohlwollender Stärke und Besonnenheit zu begegnen, bis es ihm oder ihr gelingt, die rigiden oder chaotischen Muster aus eigenem Antrieb heraus zu durchbrechen. Das Ziel wäre also, dass beide erhobenen Hauptes aus der Situation gehen können. Die Neue Autorität bietet uns dafür eine ihrer vielseitigsten Interventionen: In der »tragischen Sicht« (Omer, Alon u. von Schlippe, 2007), gelegentlich auch »tragische Haltung« genannt, achte ich einerseits das Gefühl des anderen so sehr, dass ich es weder korrigiere noch infrage stelle. Andererseits gehe ich jedoch in eine Selbstbestimmung, die den (impliziten) Wunsch oder Auftrag des anderen unerfüllt lässt. Meine konstruktiv-fatalistische Akzeptanz dieses Dilemmas führt zwar nicht zu einer unmittelbaren Problemlösung, drückt jedoch auf unbewusster Ebene Souveränität und Besonnenheit aus. Diese zwei Kräfte tragen nun indirekt dazu bei, dass Beruhigung der Gemüter und somit Lösungsorientierung entstehen kann. Das klingt einfach, steht jedoch oft im Widerspruch zu unseren schnellen Körperimpulsen und Gefühlsantworten – ein Aspekt, der genauere Betrachtung erfordert.

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Angebote des Organismus Um die Verantwortungsbeziehung besser zu verstehen, ist ein knapper Einblick in die Beschaffenheit von Stress und Affekten hilfreich. Angst, Wut, Sturheit, Schweigen und ähnliche Beziehungskiller sind im Grunde affektive Antworten auf sichtbare oder unbewusste Trigger und als solche nicht unserem freien Willen unterworfen. Sie sind Schutzautomatismen, die dazu beitragen sollen, unser Leben und das unserer (potenziellen) Nachkommenschaft zu sichern. Sie tauchen schnell auf, quasi von unten (Bottom-up), ohne vorherige (Top-down-)Kontrolle durch das vernunftbegabte Stirnhirn (vgl. zusammenfassend Ogden, Minton u. Pain, 2009). Das ist die schlechte Nachricht, doch es gibt auch eine gute: Diese Affekte sind am besten zu verstehen, wenn wir sie als gut gemeinte, aber nicht immer passende Angebote des Organismus betrachten. Sie drängen sich in den Vordergrund, klingen aber von selbst wieder ab, vor allem, wenn sie nicht gedanklich »befeuert«, also genutzt und damit zum Bleiben eingeladen werden. Ich kann nicht verhindern, dass ich das affektive Angebot bekomme, kann es aber annehmen oder eben nicht. Das versteht sich leichter, wenn wir bedenken, dass auch erotische Fantasien, kindische Blödeleien oder überfürsorgliche Anwandlungen nach demselben Prinzip funktionieren. Sie kommen unwillkürlich, müssen aber nicht zwangsläufig zur Handlung führen. Eine Ausnahme bilden dabei schnelle Automatismen, wie wir sie von Notbremsungen oder Schreckreaktionen kennen. Um einen Handlungsimpuls zu unterbrechen, braucht es ein Gewahrsein, das heißt eine gute Kommunikation der Gehirnteile mit- und untereinander – einerseits der drei Ebenen sensumotorische Reaktionen, emotionales limbisches System und kognitionsbegabtes Stirnhirn, andererseits auch der beiden Gehirnhälften (vgl. Siegel, 2012; Panksepp u. Biven, 2012). Es geht also um Musterunterbrechung und Neubewertung der Situation. Diese Kontrolle der Zweitreaktion zu kultivieren, ist die klare, aber mühevolle Anforderung, die zu besserer Beziehungsgestaltung aller Betroffenen führt. Da wir alle dieselbe Biologie teilen, ist das natürlich auch für uns selbst von höchster Relevanz. Der Fahrplan zur achtsamen Haltung der Neuen Autorität führt also von mir selbst zum und zur anderen. Wenn ein gesunder Mensch beginnt, sich selbst auf diese Weise zu erkennen, ist er oder sie bald in der Lage, so gut wie jede seelische Belastung in ihrem Wesen zu verstehen und dem belasteten Menschen hilfreicher zu begegnen.

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Wachsame Sorge und Verantwortungsbeziehung Während Haim Omer das Konzept der Wachsamen Sorge als dreistufig beschreibt, genügt es, nach meinem Verständnis, zu erkennen, wann ich die Ebene der symmetrischen Beziehung verlassen und, meinem Auftrag und meiner Rolle entsprechend, in die Verantwortungsbeziehung wechseln muss. Dies ist von der Schwierigkeit der Gegebenheit abhängig. Am Beispiel des Flughafens konnten wir sehen, dass erst das Zusammentreffen von Großflughafen und Zeitdruck für »stressige« Verhältnisse sorgt. Keine der beiden Bedingungen für sich allein würde in uns Führungsbedarf erwecken. Ebenso ist es in Beziehungen. Extreme Stresssymptome blühen nicht rund um die Uhr auf, sondern punktuell – einmal mit heftigeren Beiträgen, dann wieder unauffälliger, mal klar anlassbezogen, mal von unsichtbaren Triggern ausgelöst. Verantwortungsbeziehung heißt jedoch nicht, dass ich ab nun für alle Handlungen des anderen verantwortlich bin. Ich bin vielmehr verantwortlich für ein günstiges Beziehungsklima. Ich bin verantwortlich dafür, meinem Gegenüber so besonnen und stark wie möglich gegenüberzutreten, so lange, bis sich die Komplexität aufgelöst hat und wir einander wieder »auf Augenhöhe« begegnen können.

Die professionelle Beziehung – so nah und doch so fern In professionellen Beziehungen ist meist sehr genau geregelt, wer mit Verantwortung dem anderen gegenüber betraut ist. Diese berufsethisch bedingte Verantwortung ist der Hauptgrund, warum die Neue Autorität in sozialen und pädagogischen Berufsfeldern auf ein so beträchtliches Echo gestoßen ist. Da das Ausüben selbstkontrollierter Wachsamer Sorge jedoch auch aus professioneller Distanz herausfordernd und kräfteraubend sein kann, sei hier auf einige Gedanken hingewiesen, die sich ergänzend zu Haim Omers klassischen Merksätzen, wie beispielsweise »Ich schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!« (Omer u. von Schlippe, 2016, S. 235), in der Praxis bewährt haben. Menschen brauchen die meiste Zeit über nicht Führung, sondern Resonanz, also eine auf Gegenseitigkeit und Achtsamkeit aufbauende, und durchaus »menschelnde«, Respektsbeziehung. Das Repertoire des menschlichen Kontrollverlustes ist bunt, so wie das Kompendium der klinischen Störungen. Das Extremverhalten zeigt sich jedoch meist als Variation von drei Grundmustern: Kampf (Dominanz, Bedrohung, Gewalt), Flucht (Verweigerung, Lüge, Sucht) oder Erstarrung (Dissoziation, Depression, Unterwerfung). Da dies Varianten der Stressreaktion sind, erscheint

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die Annahme zulässig, dass bei all diesen Verhaltensweisen eine innere Unruhe in Form von Über- oder Untererregung vorliegt. Selbststeuerung ist also das Mittel der Wahl in der Begegnung mit dem beunruhigten Menschen. Wenn Menschen sich schützen wollen, verwenden sie dafür das, was wirkt. Neben unangenehmen Manipulationen dürfen wir nicht vergessen, dass uns auch per se harmlose Kräfte wie Albernheit, Weinerlichkeit, Fürsorglichkeit, mangelnde Körperpflege, Schmeicheln oder Flirten stark beeinflussen können. Grundsätzlich kein Problem, außer, wenn wir gleichzeitig in unserer Selbstbestimmtheit bleiben sollten. Eine wichtige Unterstützung besteht darin, sich selbst gut zu kennen. Extreme Gefühle triggern sich oft komplementär. So finden Klienten und Klientinnen meist genau die eine Hilfsperson, die gern auf ihr Muster einsteigt. Es lohnt sich, in supervidierter Selbsterfahrung seine eigenen Akzentuierungen kennen zu lernen, um sie dann im Ernstfall in ihrer Wirkung zu neutralisieren. Menschen spiegeln einander. Der Umgang mit Kleinkindern macht kindisch, der mit Teenagern rebellisch, der mit psychisch kranken Menschen exzentrisch und der mit leidenden Menschen häufig mürrisch – außer wir schützen uns bewusst davor. Teams, die Menschen mit Traumafolgestörungen begleiten, sollten sich im Zusammenhang mit Spiegelphänomenen auch mit Introjekten befassen – ein Begriff, den der ungarische Psychoanalytiker Sándor Ferenczi prägte und der, wie Jochen Peichl beschreibt, von John und Helen Watkins in die Traumatherapie übernommen wurde, um die Entstehung von Ego-States zu veranschaulichen (2015, S. 48). Er beschreibt die Identifikation mit Täteranteilen, die der oder die Betroffene in sich trägt. Auch Opfer- und Pseudoretter-Introjekte werden beobachtet. Göttl (2018) weist explizit darauf hin, dass sich diese Rollenmuster häufig als Spiegelphänomene bei Betreuungsteams wiederfinden.

Die Privatbeziehung – Quelle von Glück und Leid Bindung ist die stärkste Beziehungskraft, die wir kennen. Glücklicherweise ist sie übertragbar und eher an Präsenz als an genetische Elternschaft geknüpft. Leider sind die frühen Lebensjahre jedoch ebenso empfänglich wie empfindlich in Bezug auf sichere oder unsichere Bindungsangebote. Diese frühen Erfahrungen begleiten uns ein Leben lang und kommen immer wieder einmal zutage, wenn es in Beziehungen »ums Ganze« geht. Ein großer Teil der Arbeit mit Neuer Autorität besteht in der Begleitung von Menschen im hilfreicheren Umgang mit ihren Bindungspersonen – wie Kinder, Eltern, Partner und Partnerinnen. Aber auch der erweiterte Familienkreis, die Nachbarn oder tägliche Kontakte

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am Arbeitsplatz können bindungsähnliche Gefühle erzeugen und, somit einhergehend, »heiße« Konflikte. Psychosomatisch betrachtet ist das Bereinigen dieser privaten Konflikte mit großer Wahrscheinlichkeit der wesentlichste Beitrag zur psychischen Gesundheit, den wir kennen. Während sich zu diesem Thema und dem Beitrag der Neuen Autorität dazu Buch an Buch reiht, sei in diesem Haltungskapitel speziell auf zwei Aspekte hingewiesen, die in ihrer Kürze vielleicht erinnerungswürdig sind: Wenn wir von Beziehungsstress sprechen, meinen wir meist »laute« Eskalationen. Es geht um Streit, Demütigung, Aggression oder Drohen. Das sind Varianten der Kampf-Reaktion auf Bedrohungen. Hier hilft nur Ausstieg aus dem Machtkampf und aktive Versöhnungsarbeit, um einen Beziehungsabbruch zu vermeiden, wenn er sich denn vermeiden lässt. Was jedoch oft übersehen wird, sind »leise« Eskalationen, die langfristig ebenso schädlich sein können. Die Flucht-Reaktion bietet Auswege in Schweigen, Sucht, Dauerberieselung, Geschäftigkeit oder Notlügen. Die Erstarrungsreaktion wiederum rät uns, bei Beziehungsstress zu allem Ja und Amen zu sagen, Übergriffe einfach zu ertragen oder gar die Schuld einseitig bei uns selbst zu suchen. All diese Phänomene sind so gut wie nie charakterlich bedingt oder situationsübergreifend, sondern akute Reaktionen auf Stressoren, die frühkindlich erlernte Muster abrufen. Hier gilt es, ganz ähnlich wie später im Kapitel »Neue Autorität und psychische Störungen« beschrieben (vgl. Kapitel 3.4), Widerstand gegen den ersten Impuls zu leisten, das Muster zu durchbrechen, um dem Affekt Gelegenheit zum Abklingen zu geben, ehe er zu einer Handlung führt. Die in jenem Kapitel beschriebene »Stoßdämpferhaltung« kann somit auch an einem selbst angewendet werden. Vielfach fragen Angehörige, wie sie ihre Bindungspersonen zu einem weniger schädlichen Lebensstil hin verändern können. Dies ist selbstverständlich unter Beachtung der persönlichen Willensfreiheit unmöglich. Dennoch bildet die Neue Autorität ein plausibles Kompendium ab, das, wenn es beharrlich ausgeübt wird, durchaus ein veränderungsfreundliches Klima schaffen kann. In Tabelle 1 habe ich Schritt für Schritt »neues« Autoritätsdenken zu jeweils einer einfachen Faustregel für Angehörige verknappt. Tabelle 1: Die drei Grundhaltungen der unterstützenden Beziehung Verbindlichkeit

Unsere Beziehung bleibt unbeeinträchtigt, wir stehen das gemeinsam durch.

Ermächtigung

Ich gebe dir keine Lösung vor, aber ich glaube an deine Kompetenz.

Angemessene Erwartungen

Unsere Erwartungen an dich sind wohlüberlegt, wir geben sie nicht auf, sonst würden wir dich aufgeben.

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Verbindlichkeit ist in diesem Denken die Gegenkraft zum drohenden Beziehungsabbruch. Sie wird zu oft als gegeben betrachtet und demnach in Konfliktzeiten selten konkret ausgesprochen oder durch Gesten betont. Ermächtigung fußt auf dem Gedanken, dass das Überwinden der inneren Blockade, das zur Beweglichkeit führen könnte, ein hochgradig subjektiver Prozess ist. In Krisenzeiten wollen wir weder Ratschlag noch Belehrung, sondern jemanden, der unerschütterlich an uns glaubt, obwohl wir vor einer schwierigen Veränderungsanforderung stehen. Die angemessenen Erwartungen schließlich sind das Salz in der Suppe. Ohne Erwartungen keine Veränderung. Zu oft hatten wir im klinischen Bereich mit den Folgen elitär hoher Erwartungen zu kämpfen gehabt, deshalb ist der Begriff etwas in Verruf gekommen. Aber auch tiefgestapelte Erwartungen wurden oft enttäuscht, weil sie zu beschützend, zu unpersönlich oder pathologisierend waren. Im Allgemeinen ist jemand, der meine Fähigkeiten und Möglichkeiten sieht, wo ich sie selbst noch nicht sehe, ein wichtiger Katalysator. Angemessene Erwartungen kommen als Mehrheitsentscheid aus dem Netzwerk. Sie sind kein Alleingang. Sie sind weit genug gefasst, um eine Mehrzahl an Zugängen offen zu lassen. Sie sind auch langfristig und haben keine Deadline, aber sie sind robust. Sie sind nicht verhandelbar. Es sind meine Erwartungen an dich, sie gehören also zu mir, auch wenn du sie (noch) nicht erfüllst. Sie werden bei Enttäuschung nicht aufgegeben, denn sie sind wohlüberlegte einseitige Schritte. Ich gebe meine Erwartungen an dich nicht auf, denn sonst würde ich dich aufgeben. Literatur Axelrod, R. (1987). Die Evolution der Kooperation. München: Oldenbourg. Göttl, C. (2018). NeuroDeeskalation in hocheskalativer Gewalt, Aggression, Selbstverletzung und traumatischem Distress. http://www.kinder-jugendpsychiatrie.at/neurodeeskalation (Zugriff am 23.01.2019). Kahneman, D. (2012). Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler. Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Ogden, P., Minton, K., Pain, C. (2009). Trauma und Körper. Ein sensumotorisch orientierter psychotherapeutischer Ansatz. Paderborn: Junfermann. Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Alon, N., von Schlippe, A. (2007). Feindbilder. Psychologie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Panksepp, J., Biven, L. (2012). The Archaeology of mind: Neuroevolutionary origins of human emotions. New York: Norton & Company. Peichl, J. (2015). Narzisstische Verletzungen der Seele heilen. Das Zusammenspiel der inneren Selbstanteile. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Ruf, G. D. (2013). Einführung in die systemische Psychiatrie. Heidelberg: Carl-Auer. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (2009). Systemische Interventionen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Siegel, D. J. (2012). Mindsight. Die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation. München: Goldmann.

1.6 Neue Autorität, Neurobiologie und Bindung oder: Was genau wirkt da eigentlich wie? Alexandra Zimmermann und Martin Lemme

Immer wieder beeindruckt nehmen wir wahr, dass eine intensive Präsenzerhöhung, wie z. B. ein Sit-In oder Schweigende Gespräche, eine hohe Intensität und damit einhergehend sehr häufig eine Veränderung des Umgangs miteinander sowie im Verhalten der Beteiligten ermöglicht. Die Wirkung haben wir bisher allgemein durch die vorhandene Haltung der Erwachsenen erklärt. Dabei stand im Vordergrund, ob dieses Verhalten beziehungsorientiert oder eher macht- und durchsetzungsorientiert ist. Es leuchtet ein, dass ein Verhalten, das auf jede Form der Eskalation (symmetrisch oder komplementär) verzichtet und dabei Kooperation bzw. Beziehung fokussiert, eher zu einer Besserung ebendieser führt. Dies wissen wir seit den Bindungstheorien. Allerdings haben wir auch die Erfahrung gemacht, dass ein ähnliches Vorgehen manchmal sogar zu einer Ausweitung der Konflikte geführt hat und dabei für uns nicht erklärbar gewesen ist. In den letzten Jahren haben wir uns dabei zunehmend stärker mit den Embodiment-fokussierten Anteilen des Vorgehens beschäftigt. Die daraus entstandenen Erkenntnisse und resultierenden Vorgehensweisen setzen wir bewusster im Umgang mit den Haltungs- und Handlungsaspekten ein (Lemme u. Körner 2013, 2016, 2018; Lemme, 2017). Wir wollen in diesem Kapitel die für uns wichtigen grundsätzlichen Funktionsweisen erläutern und ihren praktischen Einsatz für die pädagogische, beraterische und therapeutische Tätigkeit. Das, was wir zuvor als »wohlwollende Haltung« beschrieben haben, wird in seiner Wirkung funktional erklärbar und somit auch nützlich im Umgang mit Konflikten wie auch grundlegenden Erziehungsüberlegungen.

Polyvagal-Theorie oder: Eine andere Perspektive auf unser (soziales) Verhalten Wenn wir anderen Menschen begegnen, wonach richtet sich dann unser Verhalten? Was bestimmt unsere Reaktion auf unser Gegenüber, unsere soziale

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Interaktion? Handelt es sich dabei um erlernte Muster unserer Sozialisation? Und wieso reagieren wir in manchen Situationen (selbst-)sicher, gelassen und offen, wohingegen wir in anderen Situationen unser Gegenüber als Stressor oder als bedrohlich wahrnehmen und demjenigen mit körperlichen Abwehrsignalen (wie Erröten, beschleunigtem Herzschlag oder Schwitzen) begegnen? Diese Unterschiede lassen sich anhand unserer evolutionären Entwicklung und der Funktionsweise und Steuerung unseres Gehirns bzw. Nervensystems erklären: Der Neurowissenschaftler Stephen Porges (2004, 2006, 2010, 2018) beschreibt in seiner Polyvagal-Theorie (PVT) ganz spezifische neuronale Regelkreise, die die Mechanismen und Abläufe solcher sozialer Verhaltensweisen nachvollziehbar machen und damit ein grundlegendes Erklärungsmodell liefern für unser (Präsenz-)Erleben – aber auch für viele andere in Psychologie und Soziologie beschriebene Phänomene wie Bindung, Gedächtnis, Embodiment oder Resonanz.

Neurozeption Menschliches Verhalten ist adaptiv, d. h., es ist darauf ausgerichtet, uns als Lebewesen möglichst überdauernd und optimal an die Umweltbedingungen anzupassen und damit unser Überleben zu sichern (vgl. Porges, 2010). Wir Menschen orientieren uns in der Begegnung mit unserer Umwelt permanent an unseren inneren wie äußeren Wahrnehmungen – und das, ohne dass es uns zunächst bewusst ist. Unser autonomes (oder vegetatives) Nervensystem (ANS), also derjenige Teil des zentralen Nervensystems, auf den wir keinen bewussten, willentlichen Einfluss haben, scannt unsere Umgebung und unseren eigenen Körper (auch die inneren Organe) nach Signalen ab, die eine Einschätzung der Situation ermöglichen, und kategorisiert die Ergebnisse nach dem Grad der Gefährdung bzw. der Sicherheit, der sich für uns ergibt. Porges beschreibt diesen andauernden Prozess als Neurozeption (Porges, 2004). Unser Nervensystem verarbeitet demnach weit vor der kognitiven Erfassung und der bewussten Reflexion einer Situation eine Vielzahl von Informationen, die bereits zu einer Verhaltenssteuerung führen, bevor wir eine bewusste Entscheidung darüber treffen. Bindungs- und beziehungsstabilisierender Austausch kann also nur dann stattfinden, wenn das System der Neurozeption einen Status der Sicherheit zurückmeldet und die Verteidigungsmechanismen wie Kampf- und Fluchtverhalten und Immobilisation bzw. Dissoziation nicht aktiviert werden. Dann können wir effektiv sozial kommunizieren und interagieren, zuhören und empathisch sein (Porges, 2004). Damit schafft das System der Neurozeption die Voraussetzung für sozialen Kontakt und damit für menschliches Bindungsverhalten.

Neue Autorität, Neurobiologie und Bindung

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Menschliche Defensiv- bzw. Sicherungssysteme Porges (2018) beschreibt in der PVT drei unterschiedliche neuronale Schaltkreise und Reaktionsschemata, die je nach Situationsbewertung durch die Neurozeption aktiviert werden: •• das Social Engagement System (SES) – das Sicherungssystem als Grundlage sozialer Interaktion, •• die Kampf- oder Fluchtreaktion – die Mobilisierung des Körpers, •• die Erstarrungsreaktion – die Immobilisation des Körpers. Die PVT stellt damit eine Erweiterung der bisher gängigen antagonistischen Theorie dar, in der das sympathische Aktivierungssystem und das parasympathische Entspannungssystem sich abwechseln in ihrer Wirkweise. Porges (2018) beschreibt innerhalb des parasympathischen Systems zwei unterschiedliche Nervenzweige: den dorsalen (rückwärtigen) und den ventralen (vorderen) Vaguszweig. Der Name der Theorie spiegelt genau diese Teilung: »poly« bedeutet »mehrere«, und »vagal« leitet sich von Vagus ab, dem für den Parasympathikus zuständigen Hirnnerv1. Dieser neu beschriebene Zweig ist für das bereits erwähnte Social Engagement System (SES), also das Sicherungssystem, zuständig und stellt eine wesentliche Voraussetzung für Kommunikationsfähigkeit und Empathie dar. Wird neurozeptorisch ein Status der Sicherheit gemeldet, werden dieser Zweig und damit wesentliche Funktionen und Areale (siehe Abbildung 1) aktiviert, die wir für unsere Interaktion benötigen. Dieser Zweig ist myelinisiert, d. h., von einer isolierenden Markscheide umgeben, und daher reaktionsschneller, sozusagen »smarter« (vgl. Porges, 2010), als der nichtmyelinisierte dorsale Zweig. Schaut man sich die evolutionäre Entwicklung des ANS an, dann finden wir den alten, dorsalen Vaguszweig schon bei Reptilien, also den ältesten Lebewesen. Er entspringt im hinteren Kern des Hirnstamms, der die überlebenswichtigen Funktionen wie Atmung, Blutdruck, Reflexe etc. steuert. Dieser Zweig regelt bei Gefahren die Immobilisation, das Erstarren zur Verteidigung. Danach bildeten sich im Verlauf der Evolution die sogenannten »sympathischen Ganglien« heraus: Diese ermöglichten eine maximale Mobilisierung der Kraftressourcen für Kampf- und Flucht-Reaktionen – beides sehr aktive Strategien, einer Gefahr 1

»Der paarige Nervus vagus (kurz Vagus) ist der zehnte (X.) Hirnnerv. Er ist der größte Nerv des Parasympathikus, und an der Regulation der Tätigkeit fast aller inneren Organe beteiligt. Sein großes Verbreitungsgebiet war auch namensgebend, der Name leitet sich von lat. vagari (›umherschweifen‹) ab, wörtlich übersetzt heißt er also ›der umherschweifende Nerv‹« (Wikipedia, 2019).

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zu entgehen. Schließlich erfolgte entwicklungsgeschichtlich die Trennung des Vagus in die beiden genannten Zweige. Der neue, myelinisierte, ventrale Vaguszweig bildete die Grundlage für Kommunikations- und Kontaktverhalten, denn Säugetiere lebten in Gruppen zusammen und entwickelten immer mehr soziale Netzwerke, die das Überleben noch effektiver sicherten. Doch dafür brauchte es ein System der zuverlässigen Unterscheidung von »Feind und Freund«. Die Nutzung der Systeme verläuft in umgekehrter Reihenfolge zur evolutionären Entwicklung: Zunächst wird das neueste System, das SES (der »smarte« ventrale Vagus) eingesetzt. Über die sogenannte »vagale Bremse«, die zwischen dem Vagus und dem Sympathikus wirkt, werden Herzrate und Atemfrequenz rhythmisch gedämpft (u. a. in der Ausatemphase) und so Ruhe und Sicherheit

Abbildung 1: Sicherungs- und Defensivsysteme in der Reihenfolge ihrer Nutzung (eigene Darstellung)

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ermöglicht, die Basis für soziale Verhaltensmuster wie Kontaktaufnahme, Zuhören und Kommunizieren. Daher nutzen wir atmungsentspannende Möglichkeiten bei Entspannungsverfahren. Bei Überforderung angesichts einer als gefährdend bewerteten Situation erfolgt jedoch die Aktivierung des darunter liegenden Sympathikus mit seiner Mobilisierungsstrategie, einhergehend mit einer massiven Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit. Dies kennen wir alle, da unter emotionalem Stress reflektiertes Denken weniger gut möglich ist. Wenn auch diese Strategie nicht mehr verfügbar ist oder nicht den gewünschten Erfolg der Emotionsregulation erbringt, tritt der dorsale, archaische Zweig des Vagus in Kraft: Die Folge hiervon sind ein Ausschalten des Bewusstseins (Dissoziation) oder sogar die Immobilisation und Erstarrung, sozusagen ein völliger System-»Shut-down« (vgl. Porges, 2018). Dies ist der phylogenetisch älteste und primitivste neuronale Kreislauf. Für Reptilien ist diese Reaktionsform sinnvoll und als Rettungsmechanismus angelegt: Beispiele hierfür sind die energiesparenden Stoffwechseleinschränkungen einer Schlange oder die stundenlange Tauchreaktion von Krokodilen, wenn Gefahr droht. Für Säugetiere und damit auch für den Menschen ist es allerdings ein potenziell lebensbedrohliches Verhaltensmuster, da die Atmung und Herzrate extrem reduziert werden (Gefahr der Bradykardie – stark verringerte Herztätigkeit).

Immobilisierung ohne Furcht Nun könnte man sich fragen, wieso im Rahmen unserer effizienten Evolution eine Funktionsweise weiter besteht, die einen Organismus potenziell gefährden könnte. Säugetiere und Menschen immobilisieren sich jedoch nicht nur im Rahmen der Defensivstrategie, sondern auch für ganz wesentliche pro-soziale Aktivitäten, wie beispielsweise Intimität und Sexualität, aber auch bei der Geburt, dem Stillen und der Versorgung von Neugeborenen. Dort begegnet uns eine Form der Bewegungslosigkeit verbunden mit einer bedingungslosen Hingabe. »Durch den Prozess der Evolution wurden neurale Regelkreise im Gehirn, die ursprünglich am Erstarrungsverhalten beteiligt waren, modifiziert – um intimen sozialen Bedürfnissen zu dienen« (Porges, 2004, S. 21). Diese angepasste Reaktionsform des archaischen Erstarrungsmusters wird durch die Bildung von Oxytocin, dem sogenannten Bindungshormon, unterstützt. Es entwickelten sich im Lauf der Zeit spezielle Rezeptoren für dieses Neuropeptid, das u. a. während des Geburtsprozesses und beim Stillen freigesetzt, aber auch während Aktivitäten ausgeschüttet wird, in denen wir soziale Bindungen eingehen, wie Partnerschaften und Beziehungen. Nehmen wir also unsere Umgebung als sicher wahr,

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unterstützt die Freisetzung von Oxytocin, dass wir die Begegnung genießen und uns sozusagen bis zur Bewegungslosigkeit ohne Hemmung fallen lassen können. Andersherum gilt: »Identifiziert unser Nervensystem jemanden als gefährlich, dann wird kein Oxytocin freigesetzt und wir wehren den Versuch einer anderen Person ab« (Porges, 2004, S. 21). Hier zeigt sich, welche Bedeutung die PVT für bindungstheoretische Konzepte und unser Verständnis kindlicher Reaktionen auf seine Umgebung und deren Reaktionsweise und Gestaltung hat.

Kleine Anatomie des Social Engagement Systems und seine Nutzung Das SES verfügt über die strukturellen Anlagen und Möglichkeiten, »unsere Gesichts- und Kopfmuskeln über Pfade steuern zu können, die den Kortex mit dem Stammhirn […] verbinden« (Porges, 2004, S. 22). Damit beeinflusst das SES folgende Muskelgruppen: •• die Öffnung der Augenlider – und damit das Sehen, •• die Gesichtsmuskeln – und damit unseren emotionalen Ausdruck, •• die Muskeln des Mittelohres – und damit das Herausfiltern menschlicher Stimmen aus Hintergrundgeräuschen, •• den Kaumuskel – und damit die Nahrungsaufnahme und Verdauung, •• die Kehlkopf- und Rachenmuskeln – und damit beispielsweise die Prosodie (Sprachmelodie), •• das Zur-Seite-Neigen und das Drehen des Kopfes durch die Halsmuskeln – und damit soziale Gesten und Orientierungsreaktionen, •• den Herzschlag, •• die Atmung. Es besteht somit eine funktionelle Verbindung zwischen dem »smarten« Vagus und muskulären Strukturen insbesondere im Gesichts- und Kopfbereich, die Gesichtsausdruck, Kopfstellung, Stimmqualität und Hörfähigkeit sowie grundlegende Körperaktivitäten regulieren. Die Signale, die wir über die Neurozeption aus der Umwelt und aus unserem Körper wahrnehmen, führen also dazu, dass wir ganz bestimmte motorische Reaktionen produzieren. Die Steuerung der Gesichts- und Kopfmuskeln beeinflusst die Wahrnehmung des sozialen Verhaltens von anderen und ist gleichzeitig Produkt unserer eigenen Wahrnehmung des Gegenübers. So entsteht ein Kreislauf, der es uns ermöglicht, Nähe herzustellen und Distanz zu überwinden, ohne auf willentliche Bewegungssteuerung angewiesen zu sein. Dies ermöglicht auch Säuglingen, die noch nicht

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über willentliche Muskelsteuerfunktionen verfügen, diese Form der Sicherung. Sie erfolgt ganz automatisiert rein dadurch, dass Augenkontakt hergestellt und mit einem ansprechenden Tonfall und Rhythmus vokalisiert wird, Gesichtsausdrücke gezeigt werden und die Ohrmuskulatur so abgestimmt wird, dass die menschliche Stimme von Hintergrundgeräuschen effektiver unterschieden werden kann. Ist der Tonus dieser Muskeln dagegen reduziert, weil neurozeptorisch eine Gefährdung (von außen in Form einer Person oder von innen in Form von z. B. Fieber oder Schmerz) signalisiert wurde, nimmt unsere Interaktionsfähigkeit deutlich ab, und es zeigen sich folgende motorische Reaktion: Herabhängen der Augenlider, Tonabfall in der Stimme und Prosodie, Abnahme positiver Gesichtsausdrücke, reduzierte Mimik, weniger fein ausgeprägtes Bewusstsein für den Klang der menschlichen Stimme, unrhythmische Atmung und Herzschlag sowie die Abnahme der Empfindlichkeit für das SES beim Gegenüber (Porges, 2004). Mit dieser Darstellung haben wir also nahezu eine Nutzungsanleitung des SES, wenn wir mit anderen Menschen umgehen, insbesondere wenn diese unter emotionalem Stress stehen bzw. traumatische oder ähnliche Erfahrungen erlebt haben. Die Art und Weise unserer Begegnung sichert die Situation zu einer hohen Wahrscheinlichkeit stärker ab. Dies gilt in gleicher Weise für Therapeutinnen und Berater sowie Pädagoginnen. Weitere Überlegungen dazu unten.

Die Plastizität des Gehirns oder: Die Beziehungsfähigkeit verbessern! Der Neurobiologe Gerald Hüther (u. a. 2005, 2006) stellt in seinen Publikationen und Vorträgen immer wieder heraus, dass die Entwicklung wie auch die wesentliche Art der Nutzung des Gehirns auf soziale Interaktion ausgerichtet sind: »Alles, was die Beziehungsfähigkeit eines Menschen verbessert, ist gut für das Gehirn – und damit auch gut für das soziale System, in dem er lebt« (Hüther, 2005, 8:55 Min.). Unser Gehirn entwickelt sich nicht aus sich selbst heraus, sondern diejenigen Strukturen und Verbindungen, die viel genutzt werden, werden ausgebaut und verfestigt (dynamisches Modell der Hirnentwicklung). Kinder wie auch Erwachsene (denn Hirnentwicklung ist ein lebenslanger Prozess) brauchen Inputs und Erregungsmuster für diese funktionalen Ausbauten und zur festen Verknüpfung, denn genetisch angelegt ist zunächst ein Überangebot an Verschaltungen, das dann nach und nach in der benötigten Form reduziert wird. Diese strukturelle Veränderung des Gehirns benötigt stabilisierende Einflüsse; destabilisierende Einflüsse hingegen können komplexe Strukturen auch

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wieder reduzieren. Dieses Prinzip wird auch als erfahrungs- bzw. »nutzungsabhängige Plastizität« (Hüther, 2005, 17:58 Min.) bezeichnet. »Beziehungs­ erfahrungen strukturieren unser Hirn« (ebd.), frühe Erfahrungen sind dabei intensiver, aber der Prozess verläuft lebenslang. Wesentlich ist dabei, dass auch, wenn wir selbst eine Erfahrung nur miterleben, also etwas sehen oder hören, im Gehirn genau dasjenige Areal aktiviert wird, das auch für eine eigenständige Umsetzung des Erlebten notwendig ist. Dieses Prinzip beschreibt Joachim Bauer (2006a, 2006b) mit den Spiegelneuronen (s. weiter unten in diesem Kapitel). D. h., auch das Vormachen und Vorleben von Haltungen, Werten und Aktionen beeinflusst direkt die Entwicklung des Gegenübers. Eine ganz wesentliche Grundlage funktionaler Gehirnentwicklung ist zudem die Sinnhaftigkeit der Tätigkeiten und Einstellungen, die gebahnt werden, und die daraus resultierende Begeisterung (vgl. Hüther, 2006). Die bloße übende Wiederholung nicht sinnstiftender Dinge führt kaum zu einer Veränderung. Wenn etwas hingegen Erfolg verspricht oder ein subjektiv lohnenswertes Ergebnis (unabhängig vom Schweregrad der Aufgabe) darstellt, werden andere Transmittersysteme2 aktiv, die einen schnelleren und effektiveren Auf- und Ausbau zur Folge haben. Hierin liegt begründet, warum negative Konsequenzen und Sanktionen keinen Lernerfolg nach sich ziehen, sondern nur bewältigte Herausforderungen. Wenn also eine Wiedergutmachung erfolgt und ein Mensch sozusagen lernt, dass eine negativ besetzte Situation und Interaktion, also eine Herausforderung, positiv beendet und bewältigt werden kann, wird dies zu einem Lerneffekt und zu einer Veränderung in den Hirnstrukturen führen. Selbstvertrauen und Neugier auf weitere Herausforderungen sind die natürliche Folge.

Aufbau und Struktur der Hirnareale Um unsere neurologischen Steuerungsprozesse und die resultierenden Handlungsweisen besser verstehen zu können, hilft ein Überblick über den Aufbau der zentralen Schaltstellen unseres Gehirns, wieder beginnend mit den ältesten Bestandteilen bis hin zu den evolutionsbiologisch gesehen neueren, oberen Strukturen. »Der Hirnstamm ist der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil des Gehirns und ist für die essenziellen Lebensfunktionen zuständig, d. h., er steuert Herzfrequenz, Blutdruck und Atmung« (Stangl, 2018), und er ist 2 Dies ist ein biochemischer Prozess, an dem die Transmitter Glutamat und Dopamin beteiligt sind. Wir verzichten an dieser Stelle auf eine detaillierte Darstellung und verweisen auf Hüther (2005, 2006).

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bereits vor der Geburt ausgereift. Darüber liegt das Zwischenhirn mit dem Thalamus. Zuleitende Nervenzellen leiten Informationen aus dem Körper und den Sinnesorganen in den Thalamus, wo sie über Synapsen zur Großhirnrinde umgeleitet werden können. Es erfolgt hier eine erste rudimentäre Informationsverarbeitung: Der Thalamus filtert, welche Informationen für den Organismus solche Priorität haben, dass sie an die Großhirnrinde weitergeleitet und somit bewusst werden. Das limbische System, eine Funktionseinheit aus mehreren Strukturen, ist vor allem für die Emotions- und Triebverarbeitung zuständig. Es liegt in einem doppelten Ring um den Thalamus (und andere Areale) und bildet sozusagen eine »Metaebene« (vgl. Hüther, 2005, 29:39 Min.), die wir bei Vögeln und Säugetieren finden. Im limbischen System mit der Amygdala, dem »Mandelkern«, werden die Stammhirnereignisse integriert, harmonisiert und zu ganzheitlichen Mustern zusammengesetzt. Unser limbisches System konzertiert sozusagen die Reaktion des Stammhirns, wenn der Kortex über den Thalamus neue Bedingungen liefert. Unser Kortex wird durch unsere Erfahrungen, unser Lernen durch nutzungsabhängige Plastizität herausgebildet. Im Frontallappen schließlich werden die Informationen gebündelt und bewertet (vgl. Hüther, 2005): Impulskontrolle, Selbstbild/Ich-Funktionen, sozial-emotionale Kompetenzen, Motivation (Leitbilder, Ziele, Orientierungen) sind hier verortet. Alle diese Faktoren und Funktionen, die wir für eine Regulation, Einordnung und Bewertung benötigen, sind nicht angeboren, sondern bilden sich heraus. Sie brauchen ein Umfeld, das diese Schemata vorlebt und erlernbar macht. Die entsprechenden Aktivierungsmuster müssen dazu hinreichend oft erfolgen und erlebbar werden. Und diese Aspekte sind nur in menschlichen Beziehungen entwickelbar – und zwar mit Menschen, die diese ebenfalls besitzen und sie bewusst vermitteln.

Resonanz und Spiegelneuronen oder: »Vorsicht, Ansteckungsgefahr!« Die Gegenwart anderer Menschen löst bei uns Resonanzreaktionen aus und diese Reaktionen haben sowohl auf psychologischer wie auch biologischer Ebene Auswirkungen. Was wir also beim anderen erleben und was uns begegnet, beeinflusst und verändert auch uns und unsere Reaktion (vgl. Bauer, 2006b), so beschreibt Joachim Bauer das Prinzip der sogenannten Spiegelneuronen und greift damit aus anderer Perspektive genau das gleiche Phänomen auf wie Hüther oder Porges: Die Begegnung mit anderen, unsere soziale Interaktion hat einen ganz wesentlichen Einfluss auf uns und unser Gegenüber – und dieser Einfluss

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kann zum Wohle und zur Entwicklung gestaltet sein oder diese verhindern bzw. regredieren. Spiegelneuronen sind demnach dafür verantwortlich, dass im Gehirn eines Menschen, der einen anderen bei einer Tätigkeit beobachtet oder ihm zuhört, die gleichen Zellen und Areale aktiviert werden wie bei dem Beobachteten selbst. »Resonanzphänomene des Alltags« (Bauer, 2006b, S. 11) nennt Bauer das Prinzip dieser Spiegelungen, die Giacomo Rizzolatti (2008) 1992 erstmals bei Primaten nachwies. Die Aktivierung der Spiegelneuronen führt zu einer Art Ansteckung (vgl. Bauer, 2006b) beim Beobachter und zu spontaner Imitation. Spiegelneuronen funktionieren dabei unbewusst. Wir dekodieren die wahrgenommenen Bewegungsmuster und Signale des Gegenübers, und dabei entsteht im Gehirn ein Spiegelbild dessen, was wir wahrnehmen. Dies ist wieder insbesondere in Gefahrensituationen eine wesentliche Fähigkeit zur Orientierung und der Verhaltensanpassung, da es überlebenswichtig sein kann, intuitiv zu wissen, was zu erwarten ist (Bauer, 2006b). Aber auch im Alltag sind wir »darauf angewiesen, dass beobachtetes Verhalten uns ein sofort verfügbares, intuitives Wissen über den weiteren Ablauf eines Geschehens vermittelt« (Bauer, 2006b, S. 17). Dies ermöglicht entsprechende Reaktionen und schnelles interaktionelles Verständnis. Bauer (2006a) geht davon aus, dass dieses Konzept auch für Emotionen gilt. Spiegelzellen konnten ebenso in den Schmerzverarbeitungszentren nachgewiesen werden. Diese werden nicht nur durch die Empfindung von am eigenen Körper erlebtem Schmerz aktiviert, sondern auch dann, wenn wir beobachten, dass einem anderen Menschen Schmerzen zugefügt werden. »Was sich hier zeigte, war nicht mehr und nicht weniger als: Wir besitzen Nervenzellen für Empathie und Mitgefühl« (Bauer, 2006a). Bauer stellt noch darüber hinausgehend die Hypothese auf, dass die Imitation auf der motorischen oder mimischen Ebene auch die damit verbundenen Gefühle erfahrbar und somit ebenfalls übertragbar macht (vgl. Bauer, 2006a, 2006b). Bezugnehmend auf die Bedeutung der Vorgehensweise im Konzept der Neuen Autorität haben wir so eine weitere Erklärung der Funktionsweise von z. B. »schweigenden Methoden«, wenn sie zugleich mit dem Angebot von Beziehung und Empathie verbunden sind. Dies deckt sich mit den Überlegungen von Porges und Bauer in hohem Maße. Die Funktion der Spiegelneuronen – ganz unabhängig davon, wie weitreichend diese ist –, wird ganz wesentlich von den Vorerfahrungen eines Menschen beeinflusst (vgl. Bauer, 2006b). Wenn die Fähigkeit zu spiegeln nicht erprobt, gebahnt und verfestigt wird, dann geht sie verloren. Für eine gelungene und gesunde Entwicklung benötigt ein Kind ein spiegelndes Gegenüber, eine Person, die flexibel, gleichzeitig verlässlich und konsistent auf seine Signale eingeht. Hierfür benötigt wiederum die Bezugsperson die Ruhe und besondere

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Hingabe, die eine Oxytocin-Ausschüttung und damit Bindung ermöglichen, denn Angst, Stress und negativ erlebte Emotionen deaktivieren die Spiegelzellen (Bauer, 2006a). Im Konzept drückt sich dies durch die Präsenz einer erziehungsverantwortlichen Person aus. In diesem Sinne ist demnach durch die entsprechenden Vorgehensweisen auch eine Re-Bindung möglich. Deutlich wird in jedem Fall, dass wir in unserem Gegenüber durch unseren emotionalen Ausdruck etwas in Bewegung bringen, zum Mitschwingen und zu einer eigenen Reaktion. Dieses Prinzip nennt Hartmut Rosa »Resonanz«. Durch »Prozesse der Anverwandlung oder des wechselseitigen ›Einschwingens‹« (Rosa, 2016, S. 36) aufeinander entsteht ein Erfahrungs- und Erlebensraum, der sinnstiftendes Element für unser Leben sein kann. Nach Bauer »ist das System der Spiegelneurone[n] das neurobiologische Format, das diese Austausch- und Resonanzvorgänge möglich macht« (Bauer, 2006b, S. 21).

Bindungstheorien oder: Wofür Kinder einen sicheren Anker brauchen Eine grundlegende und wesentliche Basis aller bisher betrachteten Theoriekonzepte ist die Betonung der Notwendigkeit funktionaler Bindungsprozesse und in diesem Sinne handelnder Bezugspersonen. Sei es die Hirn- oder Gedächtnisentwicklung oder die Fähigkeit zur sichernden sozialen Interaktion: Es braucht einen Resonanzraum und Menschen, die diesen Raum in der Perspektive von Schutz und Entwicklung gestalten. Die Bindungsforschung von Bowlby (1958) und die Typisierung der unterschiedlichen Stile von Mary Ainsworth (2001) zeigen, welche Auswirkungen die Art und Weise hat, wie Eltern oder Bezugspersonen und Erziehungsverantwortliche die Beziehung gestalten und wie zuverlässig und konsistent sie auf die kindlichen Signale und Bedürfnisse eingehen. Dabei wird unterschieden nach (1) sicherer, (2) unsicher-vermeidender, (3) unsicher-ambivalenter und (4) desorganisierter Bindung (vgl. Resch et al., 1999). Wir könnten also sagen, dass durch diese Bindungsverhaltensmuster die Möglichkeit besteht, einen Grundstein für die funktionale Entwicklung und Erprobung des SES nach Porges (s. o.) zu legen. Omer und von Schlippe (2013) kritisieren an der Bindungstheorie, dass sie einseitig eine Art der Schuldzuweisung implementiere und somit Eltern für Fehlentwicklungen primär verantwortlich mache. Für das Coaching stelle es zunächst eine kritische Situation dar, dass die meisten Eltern mindestens zu Beginn der Beratung von Selbstvorwürfen und Scham betroffen seien. Zum anderen bemängeln Omer und von Schlippe das Fehlen einer ergänzenden Vorgehensweise zur Reparatur

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dieser verloren gegangenen Bindung. Die bisher hier dargestellten Gedanken legen nahe, dass eine Re-Bindung möglich ist, wenn sich die bisherige Situation ungünstig entwickelt hat. Omer und von Schlippe nennen dies »Ankerkonzept« (Omer u. von Schlippe, 2013). Dabei betonen sie die Notwendigkeit einer Ankerung im Sinne eines erzieherisch korrigierenden Eingreifens, welches Lemme und Körner (u. a. 2018) ein »Gegenüber« nennen. Ein solches Gegenüber, welches im eigenen Vorgehen klar orientiert und ggf. auch erzieherisch steuernd eingreift und dabei einseitige Maßnahmen wie das Schweigen nutzt, kann durch diese Vorgehensweise Re-Bindung ermöglichen, wenn die zuvor beschriebenen inneren wie äußeren Haltungsaspekte in die Handlung umgesetzt werden. Dies deckt sich mit den Erklärungen der PVT: Sicherung über Interaktionsprozesse ist möglich, wenn die Fähigkeit entwickelt wird, Situationen zu dekodieren und die Defensivsysteme auszuschalten und zu hemmen (Porges, 2018).

Embodiment oder: Wer steuert eigentlich wen? Die zuvor dargestellten Zusammenhänge der PVT nach Porges, der dynamischen Plastizität des Gehirns nach Hüther sowie der Spiegelneuronen nach Bauer beschreiben zutiefst systemische Prozesse. Die Umwelt steht demnach in einer zirkulären Wechselwirkung mit unserem Gehirn, unserer Kognition und Psyche, ist sozusagen ein Vermittler zwischen diesen Instanzen. Unser Geist (Gehirn, Kognition, Psyche etc.) ist in unseren Körper eingebettet, also im wahrsten Sinne des Wortes »embodied«, verkörpert. Embodiment beschreibt, dass Signale, Körperwahrnehmungen und Funktionen auf den Geist wirken und Denken und Fühlen verändern können – ebenso wie umgekehrt. Ein Blick auf ein verbreitetes Entstehungsmodell von Ängsten (vgl. Schneider u. Margraf, 2008) verdeutlicht den engen Zusammenhang zwischen körperlichen Reaktionen und deren Wahrnehmung und Auswirkung auf das Emotionserleben selbst. Wenn eine Situation, ein Gedanke, eine Erinnerung oder eine sonstige Begebenheit mit den Filtern der betroffenen Person wahrgenommen wird, erfolgt eine Bewertung und Einschätzung (Neurozeption) der Lage. Kommt die Person dabei zu dem Schluss, dass eine Gefährdung vorliegt, entsteht Angst. Ist hier eine Sicherung über die eigenen Fähigkeiten oder vertraute Bezugspersonen möglich, kann eine Bewältigung erfolgen. Ist keine Sicherung zu erreichen, folgen physiologische Veränderungen, die sich dann in körperlichen Symptomen niederschlagen: Die Herzrate steigt, die Atmung geht schneller, Schwitzen oder Zittern setzt ein usw., d. h., der Körper reagiert mit einer »sympathischen Aktivierung« für das Defensivsystem des Kampf- oder Fluchtverhaltens. Ist dies nicht verfügbar

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oder hilfreich, erfolgt die Erstarrung/Dissoziation. Dies wiederum nimmt die Person wahr. Die Symptome selbst werden als bedrohlich eingeschätzt, lösen erneuten Stress aus, und der Kreislauf setzt sich fort. Hier wird deutlich, wie eng die körperliche Reaktion und das Feedback des Körpers mit der emotionalen Reaktion verknüpft sind. Alle bisher beschriebenen neurologischen Wirkmechanismen sind sozusagen Embodiment-Phänomene, da sie immer körperliche Reaktionen erzeugen, die mit bestimmten Affektzuständen und resultierenden Handlungsweisen zusammenhängen. In der Psychotherapie wird das Konzept der Einbeziehung des Körpers ebenfalls immer wesentlicher. Es gibt zunehmend mehr evaluierte und anerkannte Verfahren, die sich die Wirkmechanismen des Embodiment zunutze machen. Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR: Desensibilisierung und Reprozessierung über Augenbewegungen) nutzt aktiv induzierte Augenbewegungen, um über den Körper neurologische Prozesse in Gang zu bringen, während Traumamaterial erinnert und somit neu verarbeitet wird. Ganz ähnlich geht das auf den Klopftechniken EFT (Emotional Freedom Techniques nach Craig, 2011) und TFT (Thought Field Therapy nach Callahan, 2001) aufbauende Embodiment-Verfahren PEP (Prozess- und Embodimentfokussierte Psychologie nach Dr. Michael Bohne, 2016) vor. Über Körperstimulation bei gleichzeitiger Fokussierung auf als emotional schwierig erlebte Prozesse wird ein Verarbeitungsprozess initiiert und mit neuen Affirmationen und Interpretationen beeinflusst. So können parafunktionale Überzeugungen oder überdauernde Muster verändert werden. Die Nutzung in Zusammenhang mit dem Konzept der Neuen Autorität beschreiben Lemme und Körner (2018). Somatic Experience wiederum, ein Konzept von Peter Levine, setzt darauf, die Erstarrung über aktive körperliche Bewegungsimpulse in der Therapiesituation aufzulösen. Gemeinsam ist all diesen Verfahren, dass eine deutlich schnellere und nachhaltigere Veränderung der Symptome nach Belastungserleben zu verzeichnen ist.

Gedächtnis oder: Wie vermeide ich Unangenehmes und wiederhole Positives? Wenn wir über Gedächtnis sprechen, beziehen wir uns häufig auf den (kleineren) Teil davon, der uns bewusst ist und uns klare, immer wieder abrufbare Zugriffsmöglichkeiten bietet. Es ist das sogenannte explizite Gedächtnis, in dem wir Sach- und Fachwissen speichern, also Fakten und Dinge, die wir aktiv lernen und die wir auch wieder aktiv abrufen können. Diese Form des Gedächtnisses steht im Fokus unserer Bildungseinrichtungen und -verläufe. Unser Verhalten

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und das entsprechende Lernen dazu finden durch implizite Erfahrungen statt. Diese bestimmen, was uns antreibt und motiviert, ohne dabei ins Bewusstsein zu treten (vgl. Levine, 2016). Erinnerungen sind wandelbar, ändern ihre Bedeutung und Form, unterliegen einer ständigen Interpretation und Rekonstruktion, sind also kein Speichermedium wie eine Festplatte, die Erinnerungen vollständig reproduzierbar macht (vgl. Levine, 2016). Im menschlichen Gedächtnis wird schon bei der Wahrnehmung des erlebten Materials eine Vielzahl von Filtern aktiv, die bestimmen, was wir überhaupt realisieren, was uns bewusst wird. Die Speicherung unterliegt weiteren Verarbeitungsprozessen, in denen bewertet, gewichtet, verbunden und gelöscht wird. Entsprechend sind wir sehr anfällig dafür, unsere Erinnerungen zu verzerren, wenn wir sie speichern, und besonders, wenn wir sie wieder hervorholen. Wir treffen sozusagen vor dem Hintergrund unseres aktuellen Befindens aus dem vorhandenen Material eine Auswahl an Bildern. Unsere Stimmung und unsere somatischen Empfindungen haben tiefgreifenden Einfluss auf diese Auswahl, und es werden unbewusst bestimmte Bilder geweckt, je nachdem, in welcher emotionalen Verfassung wir uns befinden. Man könnte also sagen, dass unsere aktuelle Situation die Brille bestimmt, durch die wir auf Vergangenes schauen und die wir gleichzeitig für eine Einschätzung der Zukunft heranziehen. Diese Erlebnisbilder fügen wir dann beim Erinnern zu kleinen Anekdoten zusammen oder bauen neue ein. Dabei können uns auch Dinge, die wir nur erzählt bekommen haben, als lebendige eigene Erinnerungen erscheinen. In einem ständigen Anpassungsprozess werden unsere Erinnerungen wandelbar, sie werden umstrukturiert, neu sortiert, gelöscht und ergänzt (vgl. Levine, 2016). Diese Erinnerungen, so wandelbar sie auch sind, bilden das Fundament unserer Identität, sind sozusagen ein »Magnetkompass für Orientierung« (Levine, 2016). Mithilfe unserer Erinnerungen finden wir uns zurecht und bilden eine Kontinuität, einen roten Faden in unserer (Lebens-)Geschichte. Gleichzeitig erschaffen wir vor dem Hintergrund des Erlebten das Bild einer sinnvollen Zukunft, die uns lohnend erscheint, also entweder anders ist als Bisheriges oder dem entspricht. Unser Gedächtnis stellt also in erster Linie unsere Zukunft sicher, indem wir eine selektive Auswahl von Erfahrungen treffen, die sich als zielführend erwiesen haben, und diejenigen Erfahrungen vermeiden, die wir mit negativen Erlebnissen verbinden. Wir setzen unbewusst rote und grüne »Fähnchen« als Markierungen an Erlebtes und Abgespeichertes, die uns danach als Orientierung dienen: »Wiederhole dies, aber lass dies lieber bleiben!« Lernen bedeutet dementsprechend, Muster, Affekte, Verhaltensweisen, Wahrnehmungen und Gedanken, also Erinnerungsbilder, zu importieren, die mit vorherigen Erfahrungen verbunden waren, um die Aufgaben im Hier und Jetzt zu meistern. Besonders negative Erinnerungen bleiben dabei besonders intensiv haften, gehen einher mit Eindrücken aus der

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jeweiligen Situation, führen zum Wunsch nach Vermeidung des Kontaktes mit allem, was daran erinnert. Dies kennen wir aus dem Umgang mit erlebten traumatischen oder traumaähnlichen Ereignissen. Was dabei genau ein Trauma ist, bestimmt letztlich die subjektive Wahrnehmung der betroffenen Person. Wenn wir jedoch eine Lehre aus dem Erlebten ziehen, für uns ein Narrativ bilden, das eine Erkenntnis beinhaltet, können wir ein positives Resümee herausarbeiten. Im Konzept der Neuen Autorität macht dies das Handeln auf verschiedenen Ebenen sinnvoll. Zum einen erklärt sich daraus, warum es zweckdienlich erscheint, Jugendlichen mit destruktiven Verhaltensmustern stabil, deeskalierend und absichernd zu begegnen. Die neue Erfahrung sorgt für die Möglichkeit einer neuen Interpretation alter Erinnerungen, die bei einer entsprechenden Wiederholung eine andere Betrachtung des früher Erlebten möglich macht. Sogar Änderungen der Perspektiven sind auf diese Weise möglich. Zudem sichert dieses Verhalten die betroffene Person ab, ermöglicht eine Aktivierung des SES nach Porges bzw. deaktiviert die beschriebenen Defensivsysteme. Das aktuell destruktive Verhalten wird nicht mehr benötigt, da im Sinne der Neurozeption keine Gefahr mehr wahrgenommen wird. Und es ermöglicht die vertiefende Erfahrung von beharrlicher Beziehung, die sich durch besondere Maßnahmen des Schweigens bei gleichzeitigem Beziehungsangebot zeigt. Lemme und Körner (u. a. 2018) beschreiben dazu Beispiele und Umsetzungsideen.

Implikationen für die Praxis: Was bedeutet das im pädagogischen und therapeutischen Handeln? Worauf sollten wir achten? Verbindet man die PVT mit den Erkenntnissen über die Funktionsweise und die Entwicklung unseres Gehirns und unseres Gedächtnisses, ergeben sich ganz konkrete Handlungsimplikationen für uns und unsere Begegnung mit Menschen – insbesondere im professionellen Arbeitskontext mit Menschen mit belastenden Erfahrungshintergründen und/oder Bindungsthematiken, auch selbst in der Beratung und Psychotherapie. Das Konzept der Neuen Autorität ist in seiner Haltung und Handlung darauf ausgerichtet, die Präsenz der erziehungsverantwortlich Handelnden zu stärken. Ziel dieser Stärkung ist, dass sie (wieder) in der Lage sind, die belasteten Beziehungen zu den ihnen anvertrauten Menschen zu verbessern und ihnen neue Erfahrungsbilder zu vermitteln, die Re-Bindung, Vertrauen und konstruktivere Selbstwirksamkeit durch positive Erfahrungen ermöglichen (vgl. Lemme u. Körner, 2018).

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Ankerkonzept oder: Sichere Orte schaffen, eigene Präsenz reflektieren Porges (2018) benennt als Kernbegriff für sichernde Interventionen die »Präsenz«, wie dies auch im Konzept der Neuen Autorität so gedacht ist. Mit Präsenz wird eine deutliche Verbindung zwischen der PVT und dem Haltungsund Handlungskonzept der Neuen Autorität (Lemme u. Körner, 2018) deutlich. Die Art und Weise, in der wir anderen begegnen, braucht Präsenz, um entwicklungsförderlich und sozial sichernd zu sein: »Die Polyvagal-Theorie ist eine Perspektive, die […] eine neurophysiologische Erklärung für zentrale autonome Mechanismen liefert, welche Aufschluss darüber geben, wie Präsenz in Beziehungen das Gefühl der Sicherheit fördert« (Porges u. Geller, 2018, S. 191) und »wie die Präsenz anderer Menschen körperliche Empfindungen und Emotionen beeinflussen kann« (Porges, 2018, S. 189). Das bedeutet also, dass unser Präsenzerleben einen ganz wesentlichen Einfluss auf die bewussten und auch die unbewussten Interaktionsprozesse hat und bestimmt, ob wir als Gegenüber Schutz und Entwicklung fördern. »Präsenz beschreibt quasi den Status, aus dem heraus die betroffene Person handeln kann und entsprechend erlebbar wird« (Lemme u. Körner, 2018, S. 45). Im Vorgehen beschreiben Lemme und Körner als vorrangigen Schritt vor dem eigentlichen Handeln die Reflexion der Präsenz. Dies gilt für den Coach, die Therapeuten und Pädagoginnen ebenso wie in der Arbeit mit den Klienten bei diesen. Wenn wir Personen begegnen, sind wir zunächst mit ihrem Handeln, ihrem vordergründigen Verhalten konfrontiert. Dieses Handeln von Personen ist motiviert durch ihre Bedürfnisse und vollzieht sich vor dem Hintergrund ihrer Lebens- und Bindungserfahrungen, die wiederum die neuronale Entwicklung und die Gedächtnisfunktionen und -anwendungen ausgeprägt haben. Mit unserer Reaktion auf diese Person und ihr Verhalten schaffen wir im günstigsten Fall einen Resonanzraum. Doch dabei intervenieren wir »nicht primär auf das wahrgenommene […] Verhalten, sondern auf unsere eigene Reaktion, auf unsere Präsenz in der Begegnung mit diesem Verhalten« (Lemme u. Körner, 2018, S. 28). Wie wir uns in diesem Moment in unserer Präsenz erleben, bestimmt wesentlich, wie wir reagieren und welche Signale, welche Resonanz wir direkt und bewusst sowie unbewusst aussenden. Der Status unserer Präsenz bedingt damit, ob wir in unserer Reaktion im Sinne der Ankerfunktion sichernd und entwicklungsfördernd wirken können (siehe Abbildung 2). Präsenz wird dabei auf sechs »Präsenzdimensionen« beschrieben, die eng miteinander in Wechselwirkung stehen (vgl. Lemme u. Körner, 2013, 2016, 2018; Lemme, 2017).

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Abbildung 2: Einfluss von Präsenz (adaptiert nach Lemme u. Körner, 2018)

Schutz und Sicherheit vermitteln Wie schon durch den Prozess der Neurozeption beschrieben, orientieren Menschen sich immer und überall und schätzen in ihrem Umfeld und bei ihrem Gegenüber unwillkürlich den Grad der Gefährdung ab. Mit der eigenen Präsenz Sicherheit zu vermitteln, hieße demnach, folgende Präsenzdimensionen (Lemme u. Körner, 2018) zu reflektieren und ggf. zu stärken: •• der eigene Körperausdruck (Mimik, Gestik, Interaktion …) und die Qualität des Da-Seins (physische Präsenz), welche vorrangig durch das Vorgehen nach der PVT bzw. dem Embodiment fokussiert werden; •• die eigene Handlungssicherheit (pragmatische Präsenz); •• die Selbstführung bezüglich der eigenen Emotionen, Empathie und Einflüsse des Kontextes (internale Präsenz); •• die eigene Handlungsüberzeugung, Selbstsicherheit und Selbstwirksamkeit (emotional-moralische Präsenz); •• die eigene Absicht im Handeln (intentionale Präsenz); •• die eigene Einbindung in ein Netzwerk und die Überprüfung eigener Unterstützungsoptionen (systemisch-interpersonale Präsenz). Nach Porges (2018) entsteht ein Gefühl der Sicherheit, wenn ein Gegenüber »völlig präsent und engagiert ist« (Porges, 2018, S. 190). Ein Beispiel aus der Arbeitspraxis der Autoren verdeutlicht dies: Für Dennis (15 Jahre), der seit fünf Jahren in einer stationären Jugendwohngruppe lebte, stand ein Schulwechsel an. Parallel dazu gab es einige weitere Veränderungen in seinem Umfeld, weil sein Bezugsbetreuer die Einrichtung gewechselt hatte, das Team sich neu aufstellte und Renovierungsarbeiten erfolgten. Dennis

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reagierte daraufhin auf Hinweise und Anforderungen von Betreuungskräften mit zum Teil heftigen Eskalationsmustern, er bewarf Mitbewohner und Betreuer mit Gegenständen und stieß Möbel um. Die Betreuerinnen schickten ihn im Konflikt auf sein Zimmer, wo er weitere Gegenstände und Möbel demolierte. Er wurde von Gruppenaktivitäten ausgeschlossen. Die Fachkräfte berichteten angesichts der Gewaltausbrüche von ihrer Hilflosigkeit und Ohnmacht. Es sei ungewiss, ob Dennis so in der Gruppe verbleiben könne. Vor dem Hintergrund der PVT erscheint das Verhalten von Dennis logisch, wenn auch destruktiv. Veränderungen gingen einher mit dem Verlust einer sicheren Person, seines Bezugsbetreuers. Eine Sicherung über SES war nicht mehr möglich, so wird das sympathische System mit Kampf (oder Flucht) aktiviert. Dennis vermeidet potenziell überfordernde Leistungsanforderungen, Kommunikationssituationen können nicht mehr adäquat bewältigt werden. Angriff ist die Folge des schwindenden Sicherungsgefühls, basierend auf der Idee, wieder die Kontrolle übernehmen und sich schützen zu wollen. Die Reaktion der Betreuerinnen und Mitbewohner bestätigt die Ängste und das Schutzbedürfnis: Ärger, Unverständnis, eigene Ängste, Hilf­losigkeit und Weggeschicktwerden sorgen dafür, dass hier kein Sicherungsangebot mehr stattfindet und Dennis keinen Ausstieg aus der Eskalation finden kann. In einer Ankündigung formulierten die Betreuerinnen nach einer Fallberatung ihre Entschiedenheit, Dennis halten und begleiten zu wollen, und benannten ihre Schritte. Es sollte regelmäßige und häufige Gesprächsangebote einer neuen festen Bezugsperson an Dennis geben, um gemeinsam Ideen für andere Wege der Emotionsregulation zu finden. Es sollte schweigenden Protest in Form von Sit-Ins geben und eine schweigende sowie zugewandt beharrliche Begleitung in Eskalationssituationen, als Botschaft, dass die Betreuerinnen ihn nicht alleinlassen würden. Im Einzelgespräch berichtete Dennis später, dass er sich seiner eigenen destruk­ tiven Verhaltensweisen gar nicht richtig bewusst gewesen sei. Erst die direkte Ansprache und die schweigende intensive Anwesenheit der Betreuerinnen konnten ihn so beruhigen, dass er wieder vom aktivierten »sympathischen Modus« in das Erleben von Sicherheit zurückkehren konnte.

Schutz bezieht sich im Konzept der Neuen Autorität nicht nur auf Personen. Auch Gegenstände, Orte, Begegnungsräume oder Werte und Vorstellungen können Schutz benötigen (vgl. Lemme u. Körner, 2018, S. 17 ff.). Wesentlich dafür ist es, eine angemessene Öffentlichkeit herzustellen und so Schutzräume ohne Heimlichkeit und Isolation zu etablieren, die Gewalt und Eskalation fördern würden. Vorhersagbarkeit, Transparenz und erkennbare Sinnhaftigkeit gelten nicht umsonst als salutogenetische Faktoren (vgl. Hüther, 2005), sie sorgen für Sicherheit und Klarheit bei allen Beteiligten.

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Die Frage nach dem Schutz aller Beteiligten stellt also nicht umsonst den ersten und umfassendsten Aspekt im Vorgehen nach dem Leitfaden des Konzepts der Neuen Autorität dar (vgl. Lemme u. Körner, 2018). Das Erleben von Schutz und Sicherheit bildet (neurophysiologisch) die Basis jeder funktionalen Interaktion oder der Anbahnung davon, insbesondere wenn Lebens- und Bindungserfahrungen bisher wenig stabil waren.

Bedeutung der Atmung Über unsere Atmung verfügen wir über einen ganz basalen und einfachen Zugang zur Selbstregulation und Einflussnahme auf das autonome Nervensystem. Darüber lassen sich der Herzschlag regulieren und Entspannung induzieren. »Physiologisch ›zügelt‹ das Atmen den Einfluss des myelinisierten Vagus auf das Herz. Wenn wir einatmen, wird der Einfluss des Vagus abgeschwächt, und die Herzrate steigt. Atmen wir aus, wird der Einfluss des Vagus stärker, und die Herzrate sinkt. Diese simple mechanische Veränderung beim Atmen verstärkt die beruhigende und allgemein positive Wirkung des myelinisierten Vagus auf den Körper« (Porges, 2010, S. 264). Wenn wir also gezielt unsere Ausatmung ausdehnen, trainieren wir die Nutzung des myelinisierten, funktionalen Zweiges des Vagus (SES). Wenn wir den Zustand des SES erreichen, sorgen wir für uns und dann auch für unsere Umwelt automatisch wieder für Sicherung und Gesunderhaltung. Atmen wir schnell und vor allem viel ein, wird eine Stressreaktion aktiviert (Sympathikus: Atemfrequenz und Herzrate steigen). Unsere Atmung signalisiert uns, ob wir uns in herausfordernden Situationen noch im Griff haben oder in ältere vegetative Zustände rutschen und damit auch mit älteren Verhaltensmustern reagieren. Allein mit der Achtsamkeit auf die eigene Atmung können wir also nicht nur erkennen, ob wir uns gerade in einem Zustand emotionaler Erregung befinden, sondern wir können aktiv Einfluss nehmen und uns selbst beruhigen und regulieren.3

3

Viele Achtsamkeits- und Entspannungsverfahren beinhalten Atemtechniken und entsprechende Übungen dazu, die sich alle diesen Effekt zunutze machen. Einige kleine Beispiele zeigen, dass die Kontrolle unserer Atmung leicht in den Alltag zu integrieren ist: Auf die Idee des US-­ Mediziners Andrew Weil (2006) geht die »4711«-Methode zurück (vier Zähler lang einatmen, sieben Zähler ausatmen, elfmal wiederholen), die auch bei Einschlafproblemen Anwendung findet; viele kleine Übungen für den Alltagsgebrauch beschreibt auch die Psychiaterin Claudia Croos-Müller (2017), z. B. Ausatmen mit Lippenbremse, Schnauben, Strohhalm-Atmen oder Gähnen.

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Singen und Summen im mittleren Frequenzbereich, also »Ausatmen mit Vokalisation in melodischer Form« (Porges, 2010, S. 222), beruhigen den Vagus bei uns und anderen. Daher findet es auch in Vorgehensweisen wie PEP (Bohne, 2016) Verwendung. Beim Singen verändert sich zudem unsere Körperhaltung in einer Weise, die nicht mehr kompatibel ist mit dem Muskeltonus bei Angstempfinden. Wir müssen uns aufrichten, den Kopf anheben und das Brustbein herausstrecken, um Töne richtig produzieren zu können. Damit ist Singen eine Tätigkeit, die das SES in mehrfacher Hinsicht aktiviert und gleichzeitig eine Embodiment-Technik darstellt, die multiple Entwicklungspotenziale im Hirn freisetzt (vgl. Hüther, 2006).

Bedeutung des (Zu-)Hörens, Schweigens und Vertagens Bei der Übertragung von Schallwellen vom Trommelfell zum Innenohr spielen die kleinen Gehörknöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel) eine wesentliche Rolle, sie geben mechanisch die Schwingungen weiter. Dabei regeln zwei Muskeln den Auslenkungsgrad und damit die Steife dieser Knöchelchen. »Sind sie versteift, dann wird die Weiterleitung von niederfrequenten Geräuschen zum Innenohr gedämpft. Dadurch können höherfrequente Töne leichter und besser wahrgenommen werden, also das Spektrum, in dem sich die menschliche Stimme bewegt« (Ehrmann, 2010, S. 9). Die neurale Enervierung und Steuerung des Versteifungs- und Auslenkungsmechanismus läuft u. a. über den Vagusnerv, der damit über seinen Tonus bestimmt, ob in der Wahrnehmung eher niederfrequente Umweltgeräusche dominieren oder der Frequenzbereich der menschlichen Stimme. Genau in dem Moment, wo also der neuere Vaguszweig nicht mehr aktiviert ist, weil die Sicherung über das SES nicht mehr gewährleistet ist und wir auf ältere Muster zurückgreifen, wird die menschliche Stimmfrequenz nicht mehr deutlich wahrgenommen und ist nicht mehr eindeutig von den dominierenden Hintergrundgeräuschen zu differenzieren. Dann verlieren wir unsere Fähigkeit zuzuhören und damit auch die der sinnvollen und zielführenden Kommunikation. Ein Kind oder Mensch, der sich bedroht erlebt und nicht mehr über das SES kann, kann also in dem Moment nicht mehr hören, was wir an verbalen Hilfen und Interventionen anbieten. Das Schweigen bietet hier die Möglichkeit, präsent zu sein und zu bleiben. Sprache kann in einem Bedrohungsmoment für unser Gegenüber bereits bedeuten, die Einladung zur Eskalation anzunehmen. Angesichts dieser neuronalen Verschaltung ist es sinnvoll, Gespräche über Krisen und Konflikte zu vertagen. Die Nutzung von sehr einfacher und klarer, formelhafter Sprache sorgt in der Regel für eine Deeskalation.

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Bedeutung des (Sich-an-)Sehens »Auch die Muskeln, die die Augen und Augenbewegungen steuern, werden […] unter Einfluss des Vagus reguliert« (Ehrmann, 2010, S. 10). Die Ansteuerung der Augenringmuskeln vollzieht sich über die gleichen Nervenbahnen, die auch für die Enervation und Regulation der Muskeln im Mittelohr zuständig sind. »Die Artikulation sozialer Signale durch den Blick als auch das Hören der menschlichen Stimme sind eng miteinander verknüpft« (Ehrmann, 2010, S. 10). Neben unserem Gehör wird also ein weiterer ganz wesentlicher Aspekt zwischenmenschlicher Interaktion durch den Vagus beeinflusst: unsere Mimik, die Art und Weise, wie wir jemanden ansehen. Unsere Blicke sind häufig die erste Form der Kontaktaufnahme, und gleichzeitig ist das Sehen für alle Sehenden auch die wesentlichste Orientierungsfunktion. Wenn wir also anderen die Möglichkeit geben wollen, sich bei uns zu sichern, braucht es unsererseits eine bestimmte Form von Präsenz, die wir im wahrsten Sinne des Wortes zum Ausdruck bringen. Unsere innere Absicht, mit der wir auf jemanden zugehen, wird in unserer Mimik sichtbar (vgl. Lemme u. Körner, 2018, S. 64 f.). Dies stellt die Verbindung von intentionaler und physischer Präsenz dar. Wenn keine Kongruenz zwischen unserer Intention und unserem Handeln besteht, kann unser Gegenüber dies unbewusst in unserem Gesicht dekodieren und wird entsprechend auf uns und unser Beziehungsangebot reagieren. Wir sind quasi weit weniger in der Lage, ein »Pokerface« aufzusetzen, als wir es uns häufig vorstellen und für professionelle Kontexte vermeintlich erfolgreich nutzen. Wenn wir gestresst, genervt oder angestrengt vom anderen sind, reicht es nicht, solche Gefühle zur Seite zu schieben und ein möglichst neutrales Gesicht »aufzusetzen«. Wir sind in diesem Moment weniger wahrscheinlich in der Lage, die Sicherung unseres Gegenübers zu ermöglichen. Ehrlichkeit und Authentizität, also das Erleben von intentionaler und emotional-moralischer Präsenz, sorgen dafür, dass wir meinen, was wir tun, und tun, was wir meinen, und unser Gegenüber dies erkennen kann.

Bedeutung der Stimme Die Steuerung der Muskeln in Gesicht und Kopf bestimmt ganz entscheidend, welche Reize in sozialen Situationen wahrgenommen werden. Die Öffnung der Augenlider, der mimisch-emotionale Ausdruck, die Orientierungsreaktionen, die Drehbewegungen oder das Zur-Seite-Neigen des Kopfes für soziale Gesten bestimmen unsere Selbstwahrnehmung und gleichzeitig den Ausdruck, den andere bei uns wahrnehmen. Damit sind sie entscheidende Faktoren unseres

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Engagements in sozialen Kontexten. Auch unsere Stimme und Sprachmelodie werden vagal beeinflusst (Porges, 2010). Unsere Stimme ist zudem sehr eng mit unserer Atmung verknüpft. Dringlichkeit drücken wir nicht nur durch kurze Phrasen aus, sondern auch durch schnelles, kurzes Ausatmen, das das sympathische System aktiviert. Langsames, ruhiges und betontes Sprechen geht in der Regel mit längeren Ausatemphasen einher und schafft so bei uns und beim Gegenüber die Basis für Entspannung und Sicherungsempfinden. Unsere physische Präsenz über die Stimme und Atmung ist somit eine wesentliche Möglichkeit der Vermittlung von Sicherheit. Besonders effektiv gelingt dies beim Summen oder Singen. Ausdrucksstarke, also modulierende Melodien und Vokalisationen beruhigen den Herzschlag. Dieses Phänomen beobachten wir, wenn Kinder bei Wiegenliedern ruhig werden und einschlafen (vgl. Porges, 2010).

Bedeutung des Sprechens Auch der verbale Anteil von Kommunikation spielt in unseren Interaktionen eine Rolle – je nach Untersuchung zwischen fünf und 25 %. »Kommunikation, die mit den Mitteln des Sympathikus zu Werke geht, ist demnach keine eigentliche Kommunikation mehr, die ja die Herstellung von Gemeinsamkeiten im Wort führt. Anders formuliert: Der Sympathikus und die von ihm gesteuerte Sprachform will keine Gemeinsamkeit, sondern Einsamkeit (die Sicherung des eigenen Überlebens)« (Ehrmann, 2010, S. 9). Sprache im Sinne des Konzepts der Neuen Autorität fokussiert auf Gemeinsamkeit und Sicherung für alle Beteiligten sowie Kooperation zwischen ihnen. Dafür braucht es eine Sprache, die nicht verurteilt, keine Bewertungen und Maßstäbe als Normen festsetzt, sondern die das eigene Wertesystem, Vorstellungen und Absichten transparent und erlebbar werden lässt. Gleichzeitig braucht es eine Sprache, die auch dem Gegenüber gute Absichten unterstellt, dessen Werte antizipiert und Formeln bietet, die dies in Kommunikation übertragbar machen. Hier kommt häufig die Gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg (2001) zum Einsatz. Auch das Übersetzen von Werten nach Uri Weinblatt (2009, 2016) vergrößert die Wahrscheinlichkeit von Kooperationsbereitschaft.

Die Bedeutung des Schweigens Wie wir jetzt wissen, ist unter emotionalem Stress beruhigte Kommunikation nicht mehr möglich, da das sympathische System aktiv ist. Die entstehenden

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Eskalationsmuster in pädagogischen Kontexten können als symmetrisch (Kampf: machtkampforientiert) oder komplementär (Flucht: Forderungen werden mit Nachgiebigkeit beantwortet) beschrieben werden. Um Präsenz dennoch zu erhöhen, haben sich im Konzept der Neuen Autorität Maßnahmen des Schweigens entwickelt. Dabei gehört insbesondere das Sit-In (siehe Kapitel 3.2) zu den sogenannten einseitigen Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Wachsamen Sorge (Omer, 2013; Lemme u. Körner, 2018) aus Gründen von Schutz und Sicherheit durchgeführt werden. Als kleinere und auch spontanere Varianten haben sich daraus das Schweigende Gespräch (Lemme u. Körner, 2018) und die »Besuche« entwickelt. Allen Vorgehensweisen gemeinsam ist, dass die Erziehungsverantwortlichen zum betroffenen Kind oder Jugendlichen gehen, sich zunächst setzen und ihre Sorge um die jetzige Situation ausdrücken. Beim Besuch geht es um den einfachen Kontakt. Bei den anderen beiden Varianten formulieren die Erziehungsverantwortlichen ihren Wunsch nach einer verbesserten Beziehung: »Lieber Paul, wir sind in Sorge um unsere Beziehung und dich. Wir möchten, dass wir wieder besser miteinander klarkommen. Das schaffen wir nur, wenn du das auch willst. Wir wollen das! Um dir dies zu demon­ strieren, sitzen wir hier und werden schweigen. Wenn du magst, kannst du Vorschläge für Verbesserungen machen!« Bei den Schweigenden Gesprächen sitzen sie dann bis zu drei Minuten, beim Sit-In länger als zehn Minuten. Dies hat mit der Erfahrung zu tun, dass in diesem zeitlichen Zwischenraum, von der dritten bis zur zehnten Minute, die meiste Unruhe entsteht. In der Regel wird eine solche Zeit des Schweigens als sehr intensiv erlebt. Die Erziehungsverantwortlichen sitzen mit hoher Aufmerksamkeit (wie im Gespräch) zum Jugendlichen, zeigen durch ihre mimische wie körperliche Haltung Sicherheit und auch Entschiedenheit für eine bessere Beziehung. Das Schweigen entspannt und entlastet von weiterer Eskalation durch Sprachinhalt und Stimme. Die körperliche Nähe drückt Verbundenheit aus, wobei wichtig ist, dass eine schweigende Situation nicht zu beengt und belagernd durchgeführt wird (z. B. zu viele Personen in einem engen Raum). Es werden also alle Maßnahmen ergriffen, die eine Deaktivierung des sympathischen Systems und eine Aktivierung des SES ermöglichen. Natürlich ist auch von Bedeutung, wie die Begegnung vor und nach einer solchen Schweigesituation ist. Die vielfache Erfahrung zeigt, dass selten konkrete Vorschläge in den schweigenden Situationen gemacht werden, sehr wohl allerdings die eskalierenden Verhaltensweisen nach und nach schwächer werden und mehr Kooperation möglich wird. Voraussetzung ist die Bereitschaft, in der beschriebenen Haltung vorzugehen. Die schweigenden Situationen drücken die Vermittlung von Sicherheit und Nähe, Deeskalation durch die eigene physische Präsenz sowie die Entschiedenheit zur verbesserten Beziehungsgestaltung in besonderer Weise aus.

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Bedeutung der Berührung und Gesten Kleine Gesten wie Zuhören, eine ehrliche Frage zu stellen, ein Lob bzw. eine Würdigung auszudrücken oder eine Berührung zu zeigen, sind Träger unserer Beziehungsbotschaften und signalisieren, dass wir sowohl am Gegenüber selbst als auch einer guten Interaktion interessiert sind und aktiv von uns aus Nähe herstellen wollen. Im Sinne der PVT schaffen sie darüber hinaus die Basis für die Aktivierung des Social Engagement Systems. Und um Beziehung (wieder-) herzustellen, braucht es genau das: Beziehung. Intuitiv reagieren wir jedoch häufig mit Abwehr und der Idee von Sanktion und Bestrafung auf Verhalten, das wir nicht dulden können oder wollen. Dies führt eher zu einer Ausweitung des Konflikts. Wenn Erziehungsverantwortliche es schaffen, das eigene aktivierte sympathische System zu beruhigen, bieten sie zugleich einen Spiegel für die gleiche Möglichkeit beim Gegenüber. Die Logik von Eskalation wird damit unterbrochen (Omer u. von Schlippe, 2007). Die Wahrscheinlichkeit der Aktivierung des SES wird damit deutlich größer (vgl. Lemme u. Körner, 2018).

Bedeutung des Spiels und des Humors Spielsituationen beinhalten häufig Aktivitäten, die sympathische Systeme aktivieren und diese für die Umsetzung spielerischer Handlungen auch benötigen. Vielfach geht es darum, etwas zu gewinnen, Kräfte zu mobilisieren, am schnellsten oder besten zu sein. Erfolgreich bewältigte Herausforderungen führen zur Aktivierung entsprechender Belohnungssysteme im Gehirn, lassen uns den Sieg genießen und wecken den Wunsch, Niederlagen zu vermeiden. Genau in diesen Situationen erleben Fachkräfte Kinder und Jugendliche in Unterstützungskontexten und/oder mit entsprechenden biografischen Hintergründen als schnell frustriert und im Verhalten eskalierend, sobald ein Gewinn nicht mehr in Aussicht steht oder Schritte von anderen diesen gefährden. In solchen Situationen befindet sich das betroffene Kind oder der Jugendliche nicht mehr im sicheren Kontext sozialer Interaktion, sondern im Defensivsystem von Kampf und Flucht; es geht darum zu gewinnen, damit man selbst nicht besiegt wird. In gelungenen Spielsituationen hingegen wechseln sich sympathisch gelenkte Erregungsprozesse mit Hemmungsprozessen des SES ab: Wir vergewissern uns, dass die Aktivitäten spielerisch sind, das Gesicht, die Stimme des Gegenübers zeigen uns an, dass wir uns immer noch im Verständigungsprozess und im Miteinander befinden. »Damit kann das Spiel in einem sozial verträglichen und sozial förderlichen Rahmen bleiben« (Ehrmann, 2010, S. 11). Die Aufregung

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wird also durch die Face-to-Face-Kommunikation und ‑Interaktion direkt wieder entschärft. Dies bedeutet, dass die Spielleitung für eben diese zwischenzeitlichen non-verbalen Kommunikationsmuster sorgt, temporär auch mal das Tempo aus einer Spielsituation nimmt, Scherze und eine Prise Humor einsetzt, weil dies allesamt das SES aktivierende Maßnahmen sind. Gelungenes Spielen ist sozusagen ein Übungsrahmen für den Wechsel zwischen den Systemen und eine funktionale Urteilsbildung, wann wir es mit welchen Signalen zu tun haben.

Fazit oder: Was noch zu sagen bleibt Eingangs haben wir die Frage gestellt, was denn möglicherweise wirkt, wenn ein Vorgehen im Konzept der Neuen Autorität intensiv wirksam ist und wieder neue Beziehungsmuster ermöglicht. Dabei können wir festhalten, dass alle Menschen im Umgang mit anderen Menschen Sicherheit benötigen und diese intuitiv an äußeren wie inneren Kriterien festmachen. Ein Blick auf die Neurobiologie und die damit zusammenhängenden Forschungen zeigt, dass dieser Prozess deutlich vielschichtiger ist in seiner Planung, Steuerung, Veränderung und Speicherung, als dies zunächst erscheint. Zugleich haben wir festgestellt, dass Menschen, die eine innere Sicherheit haben und diese wiederum vermitteln, auch unsichere oder desorganisierte Menschen nachhaltig absichern und ankern können. Dazu ist eine innere Haltung nötig, die das Handeln nicht nur funktional einsetzt, sondern von eigener Überzeugung und Nachhaltigkeit geprägt ist. Diese Haltung zeigt sich an der Präsenz der erziehungsverantwortlichen Person. Präsenz ist dabei die Erfahrung eigener Selbstwirksamkeit und zugleich die Vermittlung von sichernder Wirksamkeit. Wir können also eine Innen- und eine Außenperspektive beschreiben. Im Konzept der Neuen Autorität steht die Präsenz im Zentrum des Vorgehens, was besonders in der Logik des Konzepts nach Lemme und Körner (2018) beschrieben wird. Dabei wird die Präsenz gestützt und gestärkt durch Haltungsund Handlungsaspekte. Aufgrund der komplexen neurobiologischen Funktionen in der Interaktion von Menschen benötigt die erziehungsverantwortliche Person eine Reflexion der eigenen Präsenz, um dann möglicherweise sichernd wirksam sein zu können. Kann sie sich entsprechend in dieser Präsenz stabilisieren bzw. stärken, so kann sie auch bei Personen mit unsicherem oder destruktivem Bindungsverhalten wieder eine positive Bindungserfahrung vermitteln. Dabei wird durch die Überlegungen deutlich, dass insbesondere die sehr nachhaltigen und intensiven Vorgehensweisen von wahrscheinlich großer Bedeutung sind. Vor allem in den schweigenden und auch deeskalierenden Situationen ist die

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Präsenz der Erziehungsverantwortlichen wohl besonders nachhaltig, wenn wir die in diesem Beitrag vorgestellten Wirkweisen berücksichtigen. Das, was wir wiederholt in besonderen Momenten erleben, ist die Erfahrung von Resonanz, die dann neue Beziehungsmuster und möglicherweise sogar Re-Bindung ermöglicht. Literatur Ainthworth, M. D. S., Bowlby, J. (2001). Frühe Bindung und kindliche Entwicklung. München/ Basel: E. Reinhardt. Bauer, J. (2006a). Das System der Spiegelneuronen. Neurobiologisches Korrelat für intuitives Verstehen und Empathie. https://literaturkritik.de/id/10237 (Zugriff am 23.01.2019). Bauer, J. (2006b). Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. München: Heyne. Bohne, M. (Hrsg.) (2016). Klopfen mit PEP. Prozess- und Embodimentfokussierte Psychologie in Therapie und Coaching (3. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Bowlby, J. (1958). The nature of the child’s tie to his mother. International Journal of Psycho-Analysis, 39, 350–373. Callahan, R. J., Callahan, J. (2001). Den Spuk beenden: Klopfakupressur bei posttraumatischem Stress. Kirchzarten bei Freiburg: VAK-Verlag-GmbH. Craig, G. (2011). The EFT Manual. Santa Rosa, CA: Energy Psychology Press. Croos-Müller, C. (2017). Alles gut. Das kleine Überlebensbuch: Soforthilfe bei Belastung, Trauma & Co. München: Kösel. Ehrmann, W. (2010). Die Polyvagal-Theorie. https://www.wilfried-ehrmann.com/wp-content/ uploads/Polyvagal.pdf (Zugriff am 23.01.2019). Zuerst erschienen in ATMAN-Zeitung – Fachzeitschrift für Atemarbeit und Atemtherapie, 20 (4), 21 (1), 2010/2011. Hüther, G. (2005). Die neurobiologische Verankerung traumatischer Erfahrungen. Video-Mitschnitt eines Vortrags auf dem Kongress »Trauma und Persönlichkeit – Die verletzte Person« der Internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE-Int.), Wien, 29.04.–01.05.2005, https://www.gerald-huether.de/Mediathek/Trauma/Verankerung_traumatischer_Erfahrungen.mp4 (Zugriff am 23.01.2019). Hüther, G. (2006). Neurobiologische Argumente für den Einsatz körperorientierter Verfahren in der Psychotherapie. Audio-Mitschnitt eines Vortrags auf dem Kongress »Gehirn und Körper – Neue Perspektiven aus der Begegnung von Neurobiologie, Körperpsychotherapie und Körpertherapien«, Göttingen, 01./02.12.2006, https://www.gerald-huether.de/Mediathek/ Koerpererfahrung/Neurobiologische_Argumente.mp4 (Zugriff am 23.01.2019). Lemme, M. (2017). Schutz, Kontrolle und Neue Autorität in der Jugendhilfe – am Beispiel ElternKinder-Haus. In B. Hagen (Hrsg.), Pädagogische Arbeit in Mutter/Vater-und-Kind-Einrichtungen (S. 51–67). Dähre: Schöneworth. Lemme, M., Körner, B. (2013). Sichere Orte: Verankerung und Verantwortung nach Psychotraumata. In M. Grabbe, J. Borke, C. Tsirigotis (Hrsg.), Autorität, Autonomie und Bindung: Die Ankerfunktion bei elterlicher und professioneller Präsenz (S. 233–265). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Lemme, M., Körner, B. (2016). »Neue Autorität« in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag. Heidelberg: Carl-Auer. Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Levine, P. A. (2016). Trauma und Gedächtnis. Die Spuren unserer Erinnerung in Körper und Gehirn – Wie wir traumatische Erfahrungen verstehen und verarbeiten (2. Aufl.). München: Kösel.

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2 Arbeitsfelder in der Praxis

2.1 Elterncoaching Martin A. Fellacher

Die Familie ist in vielerlei Hinsicht ein Spiegel der Gesellschaft, in der sie sich befindet. Dies gilt insbesondere für die gesellschaftliche Ordnung und Hierarchie: Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern Europas noch Monarchen dafür sorgten, dass die Hierarchien klar definiert waren, hatten in den Familien die – in der Regel männlichen – Familienoberhäupter das Sagen. Beginnend mit der Menschenrechtskonvention nach dem Zweiten Weltkrieg und dann auch mit den Verfassungen in verschiedenen Ländern wurde definiert, dass alle Menschen gleich an Recht und Würde sein sollen. Das bedeutete bis dato schwer vorstellbare Veränderungen in einer Ordnung, die den Menschen auch viel Sicherheit gab. Wenn alle Menschen gleich an Recht und Würde sind, werden bis dahin bestehende Hierarchien aufgelöst, die es jenen, die »oben« waren, ermöglicht hatten zu bestimmen, was jene, die »unten« waren, zu tun hatten. In der Familie hieß das in der Regel, dass der Vater seiner Frau und den Kindern aus einer machtvollen Position heraus alles Mögliche vorgeben konnte, bis hin zu – aus heutiger Sicht – sehr privaten Details. Die Auflösung der Hierarchien untergräbt diese Machtposition und führt Eltern heute vermehrt in Situationen von Ohnmacht und Hilflosigkeit, sofern sie noch versuchen, nach den Ideen der Autorität von früher zu agieren. Dazu kommt ein immer stärker werdender Hang zum Individualismus: Das Wohl des Einzelnen steht im Vordergrund, Eltern beginnen ihre Kinder bereits im Kleinkindalter zu fördern, damit diese sich in der Gesellschaft einen Vorsprung erarbeiten können. Bereits in jungen Jahren wird eine Vielzahl an Möglichkeiten geboten, aus denen Kinder auswählen können. Eltern scheinen immer weniger gewillt, den Kindern Vorgaben zu machen. Stattdessen wollen sie ihnen möglichst viele Angebote und Anreize für eine positive Entwicklung bieten. Gleichzeitig werden die Anforderungen für Eltern immer größer, ihre Kinder gut begleiten zu können. Eine zunehmend globalisierte und vernetzte Welt und die dazugehörigen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten erhöhen die Komplexität im familiären Alltag mehr und mehr. Der Individualis-

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mus trifft dabei auch die Eltern, denn immer weniger besteht ein Verständnis unter den Erwachsenen, dass man sich gemeinsam um die Kinder und deren Entwicklung kümmert. Eltern fühlen sich deshalb oft alleingelassen und haben Scheu, andere um Unterstützung zu bitten, da dies immer wieder zu Vorwürfen oder »gut gemeinten« Ratschlägen führt, die von den Eltern oft ebenfalls als Vorwürfe aufgefasst werden. So ließen sich Situationsanalysen, die wir mit Familien zu Beginn unserer Arbeit machen, ohne Weiteres zusammenfassen. Die Ausprägungen des Verhaltens, das die Familien zu uns führt, mögen unterschiedlich sein. Die oben beschriebenen Dynamiken finden sich jedoch meist wieder. Dabei ist es nicht entscheidend, ob die Eltern sich direkt bei uns gemeldet und um Unterstützung gebeten haben oder ob sie über die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe zugewiesen wurden. Unsere Arbeit mit diesen Familien stützt sich auf acht Handlungsebenen (siehe Abbildung 1, Fellacher, 2017). Bei Körner und Lemme (2018) werden die wesentlichen Merkmale der Neuen Autorität »Präsenz« und die »Sieben Handlungsaspekte« genannt. Ofner und Steinkellner (2011) haben in dem Buch »Meine Schule gegen Gewalt« von den »7 Säulen der Neuen Autorität« gesprochen (siehe hierzu u. a. auch Kapitel 1.1). Mit den Eltern werden im Erstgespräch die Themen priorisiert, um dann auf den jeweils zutreffenden Handlungsebenen bestimmte Vorgehensweisen zu vereinbaren. Im Folgenden sollen die konkreten Problemstellungen und daraus resultierenden Vorgehensweisen, wie wir sie in vielen Familien vorfinden, beschrieben werden.

Abbildung 1: Acht Handlungsebenen (Fellacher, 2017)

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Arbeitsfelder in der Praxis

Präsenz und Beziehung Vor allem dann, wenn es sich um Eltern von Jugendlichen handelt, beschreiben diese oft eine Situation, in der sie das Gefühl haben, ihr Kind sei ihnen »entglitten«. Dies drückt sich dadurch aus, dass sie sich selbst nicht mehr als am Leben ihres Kindes teilhabend erleben. Begegnungen im Alltag reduzieren sich auf das Notwendigste, und auch dann enden sie oft in Streit, gegenseitigen Beschimpfungen oder gar physischer Gewalt. In solchen Situationen erarbeiten wir mit den Eltern Ideen, was sie tun können, um ihrem Kind wieder »näherzukommen« und die Beziehung zu stärken. Sehr oft handelt es sich dabei nur um kleine Gesten oder Aufmerksamkeiten. Eltern können meist auch gemeinsame Aktivitäten beschreiben, bei denen sie früher gute Zeiten mit ihrem Kind erlebt, diese aber schon lange nicht mehr durchgeführt haben. Anstatt sich unmittelbar auf die Lösung des Problems zu konzentrieren, wird mit den Eltern vereinbart, dass sie bis zum zweiten Treffen Gesten setzen, um die Beziehung zu ihrem Kind zu stärken. Wichtig ist dabei, dass die Eltern darauf vorbereitet werden, dass sie die Gesten (möglichst) erwartungsfrei setzen. Denn nicht immer reagieren Kinder so unmittelbar dankbar auf eine Beziehungs­geste wie im folgenden Beispiel. Die Eltern haben die Aufgabe, durch anhaltende Bemühungen die Beziehung zum Kind zu stärken, ohne sich von gegebenenfalls negativen Reaktionen des Kindes abhalten zu lassen. Praxisbeispiel Die Mutter des 15-jährigen Florian kam in die Beratung. Seit einiger Zeit hätten sie sehr viel Streit, wodurch sie immer mehr die Befürchtung habe, dass sie die Beziehung zu ihrem Sohn verlieren könnte. Sie wollte in der Beratung heraus­ finden, ob sie zu hohe Ansprüche an Florian stelle und wie sie aus der »Spirale des Streits«, wie sie es nannte, herausfinden könne. Unter anderem erzählte sie von einem Streit am Vorabend, als sich Florian weigerte, seinen Dienst im Haushalt zu erledigen. Solche Streitigkeiten würden oft darin enden, dass beide tagelang nicht mehr miteinander sprächen. In der Beratung thematisierten wir u. a. die Möglichkeit, kontinuierlich Gesten der Beziehung zu setzen, um ein Gegengewicht zu den alltäglichen Uneinigkeiten über die Verrichtung der Haushaltsdienste zu haben. Beim nächsten Termin erzählte die Mutter, dass sie auf dem Nachhauseweg frisches Obst eingekauft habe. Am Nachmittag, als ihr Sohn von der Schule nach Hause kam, habe sie einen Smoothie für ihn zubereitet, da sie wisse, wie sehr er das möge. Der Sohn habe unmittelbar zu strahlen begonnen und den Smoothie

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genüsslich ausgetrunken. Danach sei er auf sein Zimmer gegangen. Nach etwa zwei Stunden sei er wieder herausgekommen und habe sich bei seiner Mutter für sein Verhalten am Vortag entschuldigt. Die Mutter beschrieb dabei einen Moment sehr großer Zärtlichkeit und Zuneigung zwischen beiden.

Selbstkontrolle Wenn wir mit Eltern über die Notwendigkeit und Möglichkeit der Selbstkontrolle sprechen, dann hat dies meist einen »schweren« (»Wie schaffe ich es, mich selbst zu kontrollieren und nicht auszuflippen?«) und einen ermutigenden Anteil. Der ermutigende Anteil besteht darin, dass wir Eltern bewusst machen, dass sie selbst durch andere Reaktionen als bisher auf eine gewisse Situation eine Veränderung einleiten können. Den »schweren« Anteil kennen alle Eltern sehr gut, denn die Zündschnur, die wir Menschen in der Hand halten, um uns zum Explodieren zu bringen, ist kürzer, je näher uns die Personen emotional sind, also besonders kurz bei unseren eigenen Kindern. Im Elterncoaching geht es darum, Strategien zu entwickeln, die den Eltern dabei helfen, diese Situationen zu überstehen, ohne selbst Dinge zu tun, die sie später bereuen. Diese sind sehr individuell. Als häufig hilfreiche Vorschläge haben sich z. B. Mantras (»Ich entscheide für mich selbst, ruhig zu bleiben« o. Ä.), ablenkende Tätigkeiten oder temporäres Verlassen der Situation erwiesen. Im Laufe eines Elterncoachings können die Eltern darüber hinaus angeleitet werden, die Bedürfnisse des Kindes in der Situation zu interpretieren (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2002), was eine gewisse Distanz zur Situation bedingt und den Eltern gleichzeitig helfen kann, sich nicht ungewollt an der Eskalation zu beteiligen. Sehr viel Leichtigkeit kann in einen Beratungsprozess kommen, wenn mit den Eltern darüber nachgedacht wird, welchen Anteil sie an der bestehenden Situation haben. Denn dort können wir Ansatzpunkte finden, wie durch eine Veränderung des eigenen Umgangs mit der Situation unweigerlich eine Veränderung im Verhalten beim Kind erreicht werden kann. •• Eltern, die sich über den übermäßigen Konsum sozialer Medien ihrer Kinder beklagen, stellen diesen oft den Zugang (Handyvertrag, Laptop, WLAN etc.) zur Verfügung. •• Wenn junge Erwachsene von zu Hause nicht ausziehen und keiner Arbeit nachgehen wollen, wird ihnen dieses Leben meist durch die Eltern finanziert und ermöglicht.

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Arbeitsfelder in der Praxis

•• Herumliegende Schmutzwäsche im Zimmer der Jugendlichen wird regelmäßig von den Eltern vom Boden aufgenommen, da sie nicht möchten, dass das Kind demnächst mit ungewaschener Kleidung in die Schule gehen muss. Hier finden sich überall Ansatzpunkte zu einer Veränderung des elterlichen Handelns, auch wenn dazu manches Mal eigene Ansprüche zurückgestellt werden müssen. Gemeinsam mit den Eltern wird überlegt, was ein möglicher nächster Schritt sein kann. Dieser wird dem Kind angekündigt, und die Eltern werden dabei begleitet, diesen Schritt zu setzen. Zwei Faktoren gilt es dabei zu berücksichtigen: Erstens sehen sich sehr viele Eltern automatisch mit ihrer Scham konfrontiert, wenn mit ihnen über neue Vorgehensweisen gesprochen wird. Die Frage »Habe ich bisher alles falsch gemacht?« steht sehr rasch im Raum. Im Elterncoaching weisen wir deshalb gleich zu Beginn darauf hin, dass wir kein Interesse haben, den oder die Schuldigen zu finden an der aktuellen Situation. Wir gehen davon aus, dass alle – Eltern wie Kind wie andere beteiligte Personen – zu jeder Zeit ihr Bestes geben und niemand frei von Fehlern ist. Wir arbeiten mit der Situation, so wie sie uns die Eltern schildern, und versuchen auf dieser Basis, Wege zur Verbesserung zu finden. Dies gelingt uns dann, wenn wir Empathie und Beziehung zu den Eltern aufbauen können und Wertschätzung für das, was sie gut meistern, verbalisieren. Wenn Eltern beginnen, sich gegenseitig die Schuld zuzuweisen, dann hat sich »Systemic Mirroring« als sehr hilfreiche Methode erwiesen (Weinblatt, 2016). Zweitens ist es im Coaching oft schwierig, sich auf einen konkreten nächsten Schritt zu beschränken. Sehr rasch glauben Eltern zu wissen, wie das Kind darauf reagieren wird. Allein die Vorstellung von der Reaktion reicht aus, Eltern zu verunsichern. Zudem möchten sie vielfach gern wissen, was denn der übernächste Schritt sein könnte, falls das Kind nicht so reagieren würde, wie sie es gern hätten. Hier gilt es, sich immer wieder auf die Durchführung des vereinbarten Schrittes zu beschränken und darauf zu bestehen, dass mit der Reaktion des Kindes darauf erst gearbeitet wird, wenn sie tatsächlich eingetreten ist – also meist beim nächsten Coaching-Termin. Dieses Beharren auf einem (kleinen) nächsten Schritt hilft Eltern dabei, ins Handeln zu kommen und dadurch Selbstkontrolle zu erlangen. Praxisbeispiel Die Eltern der knapp vierjährigen Paula wandten sich an uns, da sie jeden Abend stundenlang Probleme hatten, ihre Tochter ins Bett zu bringen. Die Nerven lagen schon so blank, dass der Mutter zuletzt zweimal »die Hand ausgerutscht« sei, wie sie es nannten.

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Auf die Bitte, detailliert zu beschreiben, wie so ein Abend ablaufe, erzählten sie, dass Paula zu Beginn meist im Wohnzimmer spiele. Irgendwann würde Mama oder Papa sagen, dass es nun Zeit sei, ins Bad zu gehen. Paula würde zuerst nicht reagieren, und nach wiederholter Aufforderung würde sie laut schreiend wegrennen. Meist würde dann jemand von ihnen nachrennen, zuletzt hatte sich Paula sogar in der Abstellkammer eingesperrt. Dort hätten sie jetzt den Schlüssel entfernt, da es lange gedauert habe, bis Paula wieder aufgesperrt hatte. Man müsse Paula dann ins Bad tragen, wobei sie ohrenbetäubend kreische und sich an allem festhalte, was sie erreichen könne. Dabei habe sie sich auch schon verletzt. Im Bad weigere sie sich dann, die Zähne zu putzen, die Kleidung zu wechseln usw. Bis Paula schließlich im Bett ankomme, seien alle fix und fertig. Wir vereinbarten, dass die Eltern eine neue Strategie versuchten. Am selben Abend ging Mama zu Paula, spielte eine Zeit lang mit ihr, legte ihr dann den Arm auf die Schulter und sagte: »Paula, es ist jetzt Zeit, ins Bett zu gehen. Ich gehe schon einmal ins Bad. Du kannst entweder gleich mit mir mitkommen, sonst warte ich dort auf dich.« Papa war ebenfalls im Raum anwesend und beobachtete, wie Mama den Raum verließ, um ins Bad zu gehen. Paula spielte zuerst noch weiter, schien aber sehr verunsichert. Immer wieder schaute sie zu Papa, der sie freundlich ansah. Nach wenigen Minuten verließ sie den Raum und ging ins Bad. Am zweiten Tag ging sie direkt mit ins Bad. Am dritten Tag lief sie in die Abstellkammer, als Papa ihr ankündigte, jetzt ins Bad zu gehen. Nach etwa fünf Minuten, in denen sie nicht abgeholt wurde, kam sie jedoch ebenfalls ins Bad.

Differenzierung zwischen Verhalten und Person Wie weiter oben im Beispiel von Florian bereits erwähnt, erleben Eltern immer wieder einen Verlust des guten Kontakts zu ihren Kindern, wenn diese durch herausforderndes Verhalten anhaltende Auseinandersetzungen provozieren. Erwachsene befinden sich dann im Glauben, dass sie entweder streng sein können – und dadurch den Kontakt zum Kind gefährden – oder auf das Verhalten nicht reagieren, wodurch eine vertrauensvolle Beziehung aufrechterhalten werden soll. Nicht selten existieren bei Elternpaaren beide Haltungen, was zusätzlich zu massiven Konflikten auf der Paarebene führen kann. Sowohl der gute Kontakt als auch das, was hier unter »streng sein« verstanden wird, sind jedoch wichtig für die Entwicklung des Kindes. Haim Omer beschreibt diese unterschiedlichen Aufgaben der Eltern mit dem Begriff der »Ankerfunktion« (Omer, 2015). Um beidem gerecht werden zu können, werden die Eltern angeleitet, den Blick auf die Ressourcen und liebenswerten Seiten ihres Kindes zu richten.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Manchmal ist es auch nötig, dass sie ihrem Kind mitteilen, dass sie diese Seiten sehen. Wenn Kinder die Erfahrung machen, dass sie ständig für ihr Verhalten kritisiert werden, können sie glauben, dass sie nicht gemocht werden. Wir empfehlen Eltern dann beispielsweise, ihren Kindern einen »Liebesbrief« zu schreiben. Zudem ist es wichtig, dass gerade in herausfordernden Situationen der Blick auf die Stärkung der Beziehung gerichtet wird. Maria Aarts, die Begründerin von Marte Meo, beschreibt »Kontakt und Beziehung« als Grundbedürfnis. Wenn der Kontakt verloren geht, kann sich daraus Aggression entwickeln (Aarts, 2011). Das bedeutet im Konkreten, dass manches Mal ganz bewusst – nach Situationen, in denen schwieriges Verhalten vom Kind gezeigt wurde – zuerst an der Stärkung der Beziehung gearbeitet wird. Als Beispiel: Kinder werden nicht als Strafe vom Familienausflug ausgeschlossen, sondern im Gegenteil: Der Ausflug ist eine sehr gute Gelegenheit, die Beziehung zu stärken. Nach der Rückkehr kann wieder an der Bearbeitung des aufgetretenen Problems gearbeitet werden – auf Basis der gestärkten Beziehung. Praxisbeispiel Klaus und Maria sind die Eltern der neunjährigen Emelie. Emelie zeigt seit einiger Zeit sehr aggressives Verhalten, das kürzlich sogar so weit ging, dass sie ein Küchenmesser in die Hand nahm, zuerst ihre Mama bedrohte und dann einen Ledersessel aufschlitzte. Im Elterncoaching stellte sich heraus, dass Klaus und Maria durch die beiden noch kleineren Kinder, Klaus’ anspruchsvollen Job, den Haushalt und diverse andere Verpflichtungen sehr belastet waren. Die Eltern erwarteten sich gegenseitig Entlastung vom anderen, waren aber beide an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Emelie musste sich deshalb immer wieder zurücknehmen. Wir erarbeiteten sehr rasch einen Entlastungsplan, der einerseits sehr konkrete Tätigkeiten beinhaltete, mit denen die Großeltern unterstützend sein konnten, andererseits den Eltern sowohl als Paar als auch einzeln wieder Luft verschaffte. Dadurch war es ebenfalls möglich, Zeiten einzuplanen, in denen täglich individuelle Zeit mit Emelie verbracht werden konnte. Relativ bald schienen die Eltern wieder mehr Energie zu haben, was einerseits klaren Widerstand gegen Emelies Aggressionen ermöglichte, andererseits aber auch zur konsequenten Einhaltung der Zeiten führte, in denen jeweils ein Elternteil sich mit Emelie beschäftigte. Die Situation beruhigte sich sehr rasch. In einer Reflexion meinten die Eltern, dass vor allem der verbesserte Kontakt dafür verantwortlich sei, es habe dadurch viel weniger Widerstand gebraucht, als sie ursprünglich geglaubt hätten.

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Verzögerung und Beharrlichkeit Wie sehr die acht Handlungsebenen ineinanderfließen, zeigt sich, wenn wir über Verzögerung sprechen und diese gleichzeitig als eine große Ressource zur Selbstkontrolle sehen. Denn entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass Erwachsene immer unmittelbar und konsequent auf sogenanntes »Fehlverhalten« des Kindes reagieren müssen, gehen wir davon aus, dass Grenzen verzögert gesetzt werden können. Das Setzen verzögerter Grenzen bringt den Vorteil, dass die Reaktion geplant werden kann. Wir leiten Eltern an, sich Standardsätze einzuprägen, die ihnen darüber hinweghelfen, in destruktiver Weise auf das Verhalten des Kindes zu reagieren, wie z. B.: »Damit sind wir nicht einverstanden. Wir kommen darauf später zurück!« oder »Darüber muss ich nachdenken und mit deiner Mama sprechen.« Danach können Eltern schweigen. Dieses Schweigen wird von Kindern zu Beginn manches Mal als Kapitulation der Eltern missverstanden (Engelking, 2012). Mit der Zeit werden sie jedoch die Erfahrung machen, dass es sich nur um einen Aufschub handelt. Denn: Die Schwester der Verzögerung ist die Beharrlichkeit! Eltern werden nicht nur darin unterstützt, in emotionalen Situationen nicht unmittelbar zu reagieren, sondern im Anschluss bei Bedarf sehr engmaschig darin begleitet, beharrlich an der Lösung des Problems zu arbeiten. Im Elterncoaching hat dies den großen Vorteil, dass – sobald von den Eltern die Verzögerung eingeleitet wurde – die Möglichkeit einer gemeinsamen Beratung zur weiteren Vorgehensweise besteht. Aus diesem Grund bieten wir Eltern zwischen den Beratungsterminen ganz bewusst die Möglichkeit, uns telefonisch oder über andere Medien zu kontaktieren, um unsere Unterstützung einzuholen. Praxisbeispiel Der 14-jährige Jonas hatte seinem Vater Marc Geld entwendet. Marc war sehr betroffen, denn damit hatte er nicht gerechnet. Auch wenn es sich um einen nicht sehr hohen Betrag handelte, wurde das Vertrauen, das Marc seinem Sohn entgegenbrachte, infrage gestellt. Marc sagte in großer Erregung zu Jonas, dass er überhaupt nicht wisse, wie er mit der Situation umgehen solle, er müsse darüber nachdenken. Jonas zog sich daraufhin auf sein Zimmer zurück. Nach einiger Zeit kam er wieder heraus und schrie Marc an: »Jetzt gib mir endlich meine Strafe, ich halte das nicht aus!« Als Marc am nächsten Tag bei uns anrief und uns den Vorfall schilderte, musste er schon etwas über die Situation schmunzeln. Er stellte zwar bei sich selbst den Impuls fest, Jonas aus dieser ungewissen Situation befreien zu wollen, da er aber tatsächlich keine Idee für eine gute Lösung hatte, sagte er sich, dass Jonas sich

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schließlich mit seiner Tat selbst in die Situation gebracht habe und das nun aushalten müsse und auch könne. Mit etwas zeitlichem Abstand konnten Marc und Jonas ein Gespräch darüber führen, was vorgefallen war und wie die Situation nun gelöst werden könne. Sie einigten sich auf eine Wiedergutmachung, worauf im Folgenden eingegangen werden soll.

Wiedergutmachung Wenn mit Strafe auf unerwünschtes oder inakzeptables Verhalten reagiert wird, entsteht damit automatisch eine Spirale der Eskalation. Es besteht zwar die Möglichkeit, dass die Strafe den gewünschten Erfolg bewirkt, aber genauso kann dies nicht eintreten, was in der Regel in einer Verschärfung der Strafmaßnahmen resultiert. Zudem ist Strafe immer eine Reaktion auf bzw. eine Sanktion für Verhalten. Als wesentlich lösungsorientierter hat sich jedoch eine Vorgehensweise erwiesen, die direkt den entstandenen Schaden und die Entschädigung dafür in den Blick nimmt: die Wiedergutmachung. Wir gehen dabei davon aus, dass jene Person, die etwas angestellt hat, durch das eine andere Person zu Schaden gekommen ist, sich dafür schämt. Die Scham verhindert oft, dass dies sichtbar wird, aber es existieren jene Stimmen, die das Ganze ungeschehen machen wollen. Erteilen Eltern ihrem Kind in so einer Situation eine Strafe, kann dies mitunter das Schamgefühl noch verstärken und gleichzeitig vom Kind als ungerecht empfunden werden, weshalb es sich auch eine »Strafe« für die Eltern überlegt (vgl. Steinkellner u. Ofner, 2017). Die Wiedergutmachung hingegen soll eine Möglichkeit bieten, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und sich durch eine Ausgleichshandlung zu rehabilitieren. Dabei ist es wichtig, dass zuerst der Schaden klar definiert wird. Im oben angeführten Beispiel von Marc und Jonas ist der materielle Schaden (es fehlt Geld) zwar eindeutig, der größere entstandene Schaden betrifft aber den Vertrauensverlust. In einem gemeinsamen Gespräch wird mit jener Person, die den Schaden verursacht hat, darüber gesprochen, dass ein gemeinsames Interesse besteht, die Sache wieder aus der Welt zu schaffen. Die Person wird aufgefordert, einen Vorschlag zu machen. Meist braucht sie dazu Zeit, weshalb angekündigt wird, dass man auf einen Vorschlag warte oder sonst in den nächsten Tagen wieder nachfragen werde. In vielen Fällen hat es sich bewährt, wenn eine dritte, am Vorfall unbeteiligte Person Unterstützung bei der Wiedergutmachung anbietet. Jonas hätte z. B.

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Unterstützung von seinem Onkel angeboten werden können. Der Onkel hätte dann auch die Möglichkeit, Jonas noch einmal zu erklären, wie erschüttert Marc sei, sollte dies notwendig sein. Entscheidend ist, dass die Bemühung, eine Wiedergutmachung oder einen Ausgleich zu schaffen, am Ende entsprechend gewürdigt wird. Die Kinder sollen lernen, dass es sich lohnt, Verantwortung zu übernehmen, und man somit die unangenehmen Dinge wieder aus der Welt schaffen kann. Jonas bot übrigens an, dass er das Geld zurückbezahle, und als vertrauensbildende Maßnahme hatte er die Idee, eine gewisse Zeit lang Dienste zu übernehmen, die er verlässlich selbstständig erledigte. Für Marc was das in Ordnung. Wiedergutmachungen können und sollen dabei nicht nur von Kindern und Jugendlichen geleistet werden, wie das folgende Beispiel zeigt. Praxisbeispiel Margit und Werner kamen wegen Eheproblemen in die Beratung. Sie würden sich häufig streiten und gegenseitig Vorwürfe machen. Relativ schnell stellte sich heraus, dass sich die Streitigkeiten fast immer um das Verhalten von ihrem mittleren Sohn Sebastian drehten. Immer wieder eskalierte die Situation, oft beim gemeinsamen Abendessen, woraufhin Werner wütend vom Tisch aufstand und sich in seinem Zimmer einsperrte. Margit fühlte sich dann völlig im Stich gelassen. Bis dahin versuchten sie, Sebastian durch Strafen wie Taschengeldabzug oder Hausarrest »in den Griff zu bekommen«, es wurde aber immer schlimmer. Gerade bevor sie in die Beratung gekommen waren, habe Sebastian aufgrund einer Kleinigkeit einen Besen quer durch das Zimmer geschleudert, wodurch der Stiel in die Brüche gegangen sei. Taschengeld konnten sie ihm keines mehr abziehen, da er diesen Monat schon so viele Abzüge bekommen hatte, dass nichts mehr übrig war. In der Beratung stellten wir ihnen die Idee der Wiedergutmachung vor und besprachen, wie dies konkret im Fall des Besenstiels aussehen könnte. Eine Woche später berichteten die beiden, dass Sebastian sehr irritiert war, als sie beide mit den Teilen des Besens bei ihm im Zimmer standen und sagten, dass er das wieder in Ordnung bringen solle. Er habe dann tatsächlich aus seinem Sparschwein ein wenig Geld entnommen und einen neuen Stiel besorgt. Ansonsten verlief die Woche relativ ruhig. Beim zweiten Termin war allerdings die verbale Aggression Sebastians ein Thema, und es wurde besprochen, wie die Eltern gemeinsam dagegen Widerstand zeigen könnten. Beim dritten Termin hatte sich die Situation mit Sebastian entspannt und auch die auf der Paarebene zwischen Margit und Werner stark verändert. Margit berichtete, wie Werner an einem Abend in sein altes Muster zurückgefallen sei, vom Abendessen aufsprang und sie sogar noch vor den Kindern beleidigt habe. Am

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nächsten Tag sei er zum Abendessen mit einer Packung Schokoladen-Herzen erschienen und habe vor den Kindern gesagt, dass dies seine Wiedergutmachung dafür sei, dass er sie am Vorabend gekränkt habe.

Unterstützung und Netzwerk Ein in vielen Teilen Afrikas bekanntes Sprichwort lautet: »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.« In den letzten Jahrzehnten sind wir in Mitteleuropa genau davon aber immer weiter weggerückt. Während es früher üblich war, dass mehrere Generationen unter einem Dach lebten, teilweise zusätzlich noch mit ledigen Onkeln und Tanten, und sich alle mit um die Kinder kümmerten, vollzieht sich die heutige Lebenssituation von Familien v. a. in Kleinfamilien bis hin zu Ein-Eltern-Familien. Die Eltern haben dabei meist die Erwartung an sich selbst, die Erziehung der Kinder allein zu bewältigen, und nehmen dies ihrem Empfinden nach auch im Umfeld wahr. Es ist wichtig, Eltern deutlich zu machen, dass niemand seine Kinder komplett allein erziehen kann. Welche Eltern kennen es nicht, dass sie an ihre Grenzen stoßen, nicht mehr wissen, wie sie reagieren können, sich hilflos und ohnmächtig fühlen? Wir gehen davon aus, dass in jeder Familie ein Unterstützungsnetzwerk existiert. Wir unterstützen die Eltern dabei, es zu aktivieren und so zu nutzen, dass es für sie als hilfreich und unterstützend erlebt wird. Wenn wir Eltern, die in einer herausfordernden Situation zu uns kommen, fragen: »Wer weiß über diese Situation bei Ihnen zu Hause Bescheid?«, gibt es meist mindestens zwei bis drei Personen – seien es die beste Freundin der Mutter, der Bruder des Vaters, ein Arbeitskollege oder die Großeltern. In einem Elterncoaching-Prozess fragen wir die Eltern, wen sie gern um Unterstützung bitten würden. Wenn dies eine große Hürde für die Eltern darstellt, beginnen wir mit einer Person und laden diese ein, an einem Coaching teilzunehmen. Die Unterstützung besteht im Wesentlichen aus drei zentralen Bereichen: •• Die Eltern machen zu Beginn den Unterstützern gegenüber die problematischen Verhaltensweisen transparent. Die Unterstützer werden bei neuerlichen Vorfällen informiert und gebeten, mit dem Kind Kontakt aufzunehmen, ihm mitzuteilen, dass sie über den Vorfall Bescheid wissen und mit diesem Verhalten nicht einverstanden sind: »Die Gewalt muss aufhören!« •• Die Eltern informieren die Unterstützer aber auch über positive Ereignisse. Die Kinder machen so die Erfahrung, dass sie die Aufmerksamkeit der Unterstützer und der Eltern nicht nur bei negativen Verhaltensweisen bekommen.

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Sie merken zudem, dass die positiven Verhaltensweisen wahrgenommen werden, und es kann eine sehr starke Botschaft sein, wenn Unterstützer sagen: »Deine Eltern sind sehr stolz auf dich, weil du das geschafft hast!« •• Damit das Kind merkt, dass wir nicht nur an seinem Verhalten interessiert sind, sondern an ihm als Person, bitten wir die Unterstützer, kleine Beziehungsgesten zu machen. Dies kann einfach ein Nachfragen sein, wie es dem Kind geht, oder z. B. eine Einladung zu einem Ausflug. Über diese drei Bereiche hinaus können Unterstützer sehr konkrete Hilfestellungen anbieten. Im Beispiel weiter oben wurde Emelie von ihrer Oma eine Zeit lang auf dem Schulweg begleitet, wodurch den Eltern etwas Luft verschafft werden konnte. Eltern machen die Erfahrung, dass ihr Unterstützungsnetzwerk ihnen viel Druck nimmt, oft ohne dass die Unterstützer sehr aktiv sein müssen. Allein das Wissen, dass Menschen da sind, mit denen sie sich austauschen können und die im Bedarfsfall zur Entlastung bereit sind, kann die Situation in einer Familie sehr entspannen. Praxisbeispiel Frau M. kam zu uns in die Beratung. Sie lebte mit ihrem 13-jährigen Sohn allein. Dieser hatte seit einiger Zeit begonnen, seine Mutter regelmäßig tätlich zu attackieren. Die Situation war so belastend, dass Frau M. befürchtete, kurz vor einem Burn-out zu stehen. Die Mutter konnte in der ersten Beratung einige Personen aufzählen, mit denen sie sich über ihre Situation austauschte. Wir beschlossen, zum zweiten Treffen fünf weitere Personen einzuladen. Nach diesem Treffen, bei dem über die Formen der Unterstützung gesprochen wurde und Frau M. ankündigte, dass sie einmal wöchentlich die Unterstützer per Mail informieren werde, wie der Verlauf der letzten Tage gewesen sei, teilte Frau M. ihrem Sohn im Beisein von zwei Unterstützern mit, dass sie sich Hilfe geholt habe und nun alle mithelfen würden, damit die Gewalt aufhöre. In der ersten Woche fand kein Übergriff mehr statt. Frau M. schickte eine Mail an alle Unterstützer, in der sie beschrieb, wie erleichtert sie sei über den Verlauf der Woche und wie sehr sie sich freue. Diese Mail druckte sie aus und legte sie ihrem Sohn ins Zimmer. Einige Tage später rief Frau M. in der Beratungsstelle an. Sie war sehr aufgebracht, denn ihr Sohn habe gesagt, wenn sie nicht sofort aufhöre, den anderen zu berichten, werde alles nur noch schlimmer. Das war natürlich das Letzte, was sie wollte.

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Wir einigten uns im Gespräch darauf, dass dies eine sehr kluge Aussage von ihrem Sohn sei, da er offensichtlich genau wisse, wie er seine Mutter verunsichern könne. Frau M. stimmte zu, dass wir die Bemühungen fortsetzen müssten. Etwa zwei Wochen später berichtete Frau M., dass ihr Sohn zu ihr gesagt habe: »Ich als 13-Jähriger kann es mit 40 Erwachsenen aufnehmen. Aber was mich wirklich schwächt, ist, dass du nicht auch Krieg willst und immer noch gut über mich sprichst!« Frau M. war insgesamt fünfmal in vier Monaten bei uns. Beim letzten Termin berichtete sie, wie sie wieder Energie habe, mit Freundinnen ausgehe und sich alles viel leichter angefühlt habe ab dem Moment, in dem sie wusste, dass sie die Situation nicht allein lösen musste. Zudem brachte sie zum letzten Treffen einen Brief mit, in dem ihr Sohn ihr geschrieben hatte, wie positiv sie sich verändert habe.

Transparenz Die Transparenz im Vorgehen ist ein wichtiger Faktor im Verständnis und in der Haltung der Neuen Autorität. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um drei Bereiche: •• Transparenz über die eigene (Selbst-)Verpflichtung: Eltern haben die Pflicht, ihren Kindern einen stabilen und sicheren Rahmen zu bieten. Sie müssen handeln, wenn die Kinder den Rahmen verlassen, sich oder andere durch ihr Verhalten gefährden. In solchen Situationen empfehlen wir Eltern, sich auf diese Pflicht zu berufen: »Ich muss das tun!«, »Wir wären schlechte Eltern, wenn wir dem zustimmen würden!« •• Transparenz über zukünftiges Handeln: »Wir haben darüber nachgedacht und beschlossen, dass wir folgendermaßen handeln werden, sollte sich dieses Verhalten wiederholen: …« So eine Ankündigung bietet dem Kind die Möglichkeit, die Folgen seines Handelns abschätzen zu können. Wenn es sich darauf verlassen kann, dass die Eltern im Bedarfsfall dementsprechend handeln werden, trägt dies zu einem sicheren Rahmen für das Kind bei. •• Transparenz über Unterstützung: Das Kind weiß, welche Personen um Unterstützung gefragt wurden und auch, was den Unterstützern berichtet wird. Wenn Kinder dagegen protestieren, kann einerseits wieder auf die Verpflichtung (z. B. zum Widerstand) Bezug genommen werden, andererseits kann das Kind darauf hingewiesen werden, dass der Inhalt der Berichte von ihm selbst gesteuert werden könne. Gerade bei selbst- und fremdschädigendem Verhalten hat sich das Herstellen von Transparenz und Öffentlichkeit als sehr hilfreich erwiesen. Für Eltern

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bedeutet dies im ersten Moment eine Hürde, da sie befürchten, das Kind bloßzustellen. Wir erarbeiten deshalb einen Weg, wonach die hergestellte Transparenz in einem wohlwollenden Geist passiert, aber klar in der Haltung gegen die Gewalt. Keine Öffentlichkeit herzustellen, würde in so einer Situation eher die Gewalt als das Kind schützen. Praxisbeispiel Ein Vater kam in die Beratungsstelle und berichtete von Gewalt seiner 14-jährigen Tochter ihrer Mutter gegenüber, sodass die Mutter schon von einer Fremdplatzierung der Tochter gesprochen habe. Wir hatten kurz Zeit, über die Grundsätze unserer Arbeit zu sprechen, konnten ihm aber erst ungefähr zwei Monate später einen Termin anbieten. Kurz vor dem Termin rief der Vater an, um den Termin abzusagen. Er gab an, erkannt zu haben, dass er die Gewalt transparent machen musste. Deshalb habe er die Großeltern, Onkeln und Tanten eingeweiht und sie gebeten, der Tochter rückzumelden, dass sie nun Bescheid wüssten. Der Vater gab an, dass ab diesem Moment die Gewalt aufgehört habe.

Protest und Widerstand Wenn sich Verhalten manifestiert und kontinuierlich gegen die Regeln der Gemeinschaft verstößt oder gefährdend für das Kind oder andere ist, besteht für Eltern die Verpflichtung zum Widerstand. Der Startschuss für einen Widerstandsprozess kann mit einer Ankündigung eingeleitet werden. Für uns hat es sich bewährt, die schriftliche Ankündigung in drei Absätze mit folgendem Aufbau zu gliedern: •• Wertschätzung für das Kind, •• Widerstand gegen das Verhalten, •• Selbstverpflichtung für das eigene Handeln. Eltern, die wir begleitet haben, schrieben ihrem Sohn die folgende Ankündigung, nachdem sie – nach eigener Aussage – zwei Jahre »im Krieg« mit ihm waren: »Lieber Peter, du bist ein wichtiges Mitglied unserer Familie und liegst uns sehr am Herzen. Du bist unser Großer, ein Wiff-Zack und ein Abenteurer. Immer offen für Neues und sehr bestrebt, seine Ideen umzusetzen. Du tust dir [sic] sehr leicht dabei, Kontakte zu knüpfen, weil deine coole, humorvolle, liebenswerte und selbstbewusste Art sehr sympathisch rüberkommt. Du weißt auch immer ganz genau, was du willst.

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Dein Verhalten macht uns aber seit einiger Zeit Sorgen, wie du weißt. Wir befürchten, dass du dich durch Konsum und Verkauf von Suchtmitteln sowie das Schwänzen in der Schule in Schwierigkeiten bringst. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um dies zu verhindern. Wir werden nicht mehr schweigen und uns Unterstützung holen. Wir haben dich lieb!« Diese Ankündigung wurde Peter von seinen Eltern im Beisein von zwei Unterstützerinnen vorgelesen und anschließend überreicht. Peter zündete das Blatt in seinem Zimmer an. Dies tat jedoch nichts zur Sache, da die Eltern mit den Unterstützern bereits besprochen hatten, welche Maßnahmen sie ergreifen würden.

Entscheidend ist beim Widerstand, dass Maßnahmen beschlossen werden, die nicht von der Kooperation des Kindes abhängen. Wenn Eltern versuchen, das Verhalten des Kindes unter Kontrolle zu bringen, hat das Kind die Macht, die Eltern scheitern zu lassen. Der Erfolg des Widerstands hängt demnach auch davon ab, ob die Eltern gemeinsam mit ihren Unterstützern diese Maßnahmen beharrlich umsetzen – unabhängig von der Reaktion des Kindes. Neue Verhaltensweisen des Kindes beenden den Widerstand nicht, sondern verändern ihn. Erst, wenn die gefährdenden oder inakzeptablen Verhaltensweisen abnehmen, nimmt auch der Widerstand ab – um sofort wieder da zu sein, sollte es sich als notwendig erweisen.

Elterncoaches als »Role models« Mit dem gewaltfreien Widerstand haben wir die Möglichkeit, gemeinsam mit den Eltern neue Strategien zu entwickeln, wie sie auf das Verhalten ihrer Kinder reagieren können. Nicht selten werden diese rasch aufgenommen und umgesetzt. Als Berater haben wir die Aufgabe, den Eltern gegenüber die Haltung, die sich aus der Neuen Autorität ergibt, vorzuleben. Dazu gehören zu Beginn das Zuhören, die Anerkennung für das Geleistete und die positiven Entwicklungen sowie das Wahrnehmen und Legitimieren der Not, die durch Hilflosigkeit und Ohnmacht ausgelöst werden kann. Nicht nach der Ursache – und damit vielleicht auch nach den Schuldigen – zu suchen, sondern lösungsorientiert Wege zu eröffnen, die eine Veränderung der Situation ermöglichen, kann von Eltern als sehr entlastend erlebt werden. Nicht zuletzt brauchen wir für eine positive Entwicklung eine hohe Fehlertoleranz. Der Erfolg des Elterncoachings misst sich nicht daran, ob die Eltern

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in jeder Situation »optimal« handeln und auf das Kind reagieren. Vielmehr geht es darum, eine professionelle Beziehung entwickelt zu haben, die es uns erlaubt, gemeinsam mit den Eltern die Situationen, die nicht ideal verlaufen sind, so zu reflektieren, dass daraus Schlüsse für die Zukunft gezogen werden können. Literatur Aarts, M. (2011). Marte Meo. Ein Handbuch (3., überarb. Aufl.). Eindhoven: Aarts Productions. Engelking, U. (2012). Grenzen setzen ist nicht schwer, sie einzuhalten umso mehr! Manual zur Durchführung eines Elterncoachings zum bewussten Umgang mit elterlicher Präsenz. In A. von Schlippe, M. Grabbe (Hrsg.), Werkstattbuch Elterncoaching. Elterliche Präsenz und gewaltloser Widerstand in der Praxis (3. Aufl., S. 113–166). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Fellacher, M. A. (2017). Die Handlungsebenen der Neuen Autorität. Einführung in die Neue Autorität für Interessierte. https://pina.at/XooWebKit/bin/download.php/2f17a_642f8240e1/PINA_ Handlungsebenen%20der%20Neuen%20Autorit%C3 %A4 t.pdf (Zugriff am 24.01.2019). Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Target, M. (2002). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Körner, B., Lemme, M. (2011). Neue Autorität als Haltungs- und Handlungskonzept im eigenen professionellen Handeln. Systhema, 25 (3), 205–217. Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Omer, H. (2015). Wachsame Sorge. Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Steinkellner, H., Ofner, S. (2011). Stärke statt Ohnmacht – die 7 Säulen der Neuen Autorität. In U. E. Gamauf-Eberhardt, C. Reumann (Hrsg.), Meine Schule gegen Gewalt. Für Pädagoginnen zur Anwendung in der Schule (S. 54–80). Schlaining: Österreichisches Friedenszentrum. Steinkellner, H., Ofner, S. (2017). Die sieben Säulen der Neuen Autorität. In W. Schönangerer, H. Steinkellner (Hrsg.), Neue Autorität macht Schule (S. 47–66). Horn: Berger & Söhne. Weinblatt, U. (2016). Die Nähe ist ganz nah! Scham und Verletzungen in Beziehungen überwinden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

2.2 Wachsame Sorge in der Jugendhilfe Martin Lemme und Bruno Körner

Risiken, Nebenwirkungen und ihre Folgen oder: Ohne Leitung geht es nicht! Seit nunmehr 14 Jahren begleiten wir Einrichtungen der Jugendhilfe in der Umsetzung und Entwicklung des Konzepts der Neuen Autorität. Zunächst lag dabei der Schwerpunkt auf der Vermittlung der pädagogischen Haltung und und der Vermittlung entsprechender Handlungen. Im Fokus waren dabei das gemeinsame Teamvorgehen und die Sicherheit bei der Umsetzung sowie der Umgang mit Krisen und gravierenden Eskalationen. Doch mit der Zeit haben sich auch Risiken und Nebenwirkungen gezeigt. So konnten wir erleben, dass Einrichtungen, in denen die jeweilige Leitung nicht oder nur sporadisch beteiligt gewesen ist, deutlich weniger nachhaltig und intensiv in die Umsetzung des Konzepts gekommen sind. Zum Teil hing die Nachhaltigkeit von dem Engagement Einzelner ab, und es fanden entsprechende Entwicklungen in der Einrichtung statt. Zum anderen Teil jedoch verpufften die ersten Fortbildungen ähnlich wie andere Angebote, da sie nicht als Haltungsgrundlage in der Einrichtung verankert werden konnten. Ausnahmen bildeten diesbezüglich Einrichtungen, die schon systemische Pädagogik als fundierte Grundlage des Handelns etabliert hatten. Mit diesen ersten Erfahrungen änderten sich die Auftragsabsprachen. So wurden die Fortbildungen von uns dahingehend umgestaltet, dass wir nun in einigen Veranstaltungen die gesamte Mitarbeiterschaft in das Konzept einführen und parallel oder anschließend verschiedene Kleingruppen als Vertreterinnen der verschiedenen Gruppen und Angebote bilden. Eine dieser Kleingruppen ist seitdem die Leitungsgruppe. Umgekehrt lehnen wir Aufträge ab, wenn sich die Leitung an den Fortbildungen nicht beteiligen möchte. Gerade weil das Konzept der Neuen Autorität ein Haltungskonzept ist, scheint es notwendig, auch die erforderlichen Strukturen und Rahmenbedingungen des Handelns zu entwickeln. Die ersten Durchläufe haben sichtbar gemacht, dass

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dies automatisch erfolgt, selbst dort, wo das nicht sofort mitbedacht worden ist. Dies könnte beispielhaft an folgendem Schema erfolgen: •• Phase 1 »Einführung«: Alle Mitarbeitenden lernen die Grundlagen des Konzepts kennen. Dies bezieht die Leitung mit ein. In größeren Einrichtungen kann dies in mehreren Gruppen erfolgen. In der Regel werden dazu drei Tage pro Gruppe vereinbart. •• Phase 2 »Vertiefung«: Manchmal werden die Gruppen aus Phase 1 beibehalten. Wir gehen allerdings in der Regel schon in dieser Phase von der Umsetzung in bereichshomogenen Gruppen aus. Darunter ist dann auch ein Leitungsteam. •• Phase 3 »Aufbau-, Implementierungs- und Supervisionsphase«: Je nach Einrichtung werden jetzt die schon zuvor benannten bereichshomogenen Gruppen oder auch Moderationsgruppen von Personen gebildet, die sich in besonderer Weise für die Umsetzung des Konzepts fortbilden lassen wollen. Dies umfasst in jedem Fall auch die Leitung. Die Ausgestaltung hängt nicht zuletzt von der Größe und den finanziellen Möglichkeiten einer Einrichtung ab. •• Phase 4 »Bewahrungs- und Entwicklungsphase«: Im Anschluss an die ersten drei Phasen wäre es gut zu überlegen, in welcher Form und in welchen Abständen Fortbildungen und Begleitungen sinnvoll erscheinen. Kernthemen sind dabei: Einführungsveranstaltungen neuer Mitarbeiterinnen, Update-Seminare, ein Aktiv-Team der Neuen Autorität im Sinne der Wachsamen Sorge und der regelmäßige Austausch über die vereinbarten Haltungselemente. Dazu gehört in der Regel auch eine kontinuierliche Feedback- bzw. Evaluationskultur. So können wir heute Wachsame Sorge nicht nur als pädagogische Haltung zur Rahmung des erzieherischen Handelns verstehen, sondern auch als eine institutionelle Haltung, die den Umgang mit Pädagogik, gemeinsamen Werten und Organisationsstrukturen beachtet. Sie stellt somit eine Rahmung für Organisationsentwicklung dar. Wir möchten in diesem Kapitel die Umsetzung für die ambulante und stationäre Jugendhilfe näher erläutern und mit entsprechenden Anregungen versehen. Die Details der verschiedenen Vorgehensweisen werden teilweise in anderen Kapiteln dieses Handbuchs dargestellt. Ausführlich finden sie sich bei Lemme und Körner (2018). Wachsame Sorge – wieder so ein sperriger Begriff? Mit der Beschreibung der Wachsamen Sorge hat sich das Konzept der Neuen Autorität von Haim Omer und Arist von Schlippe (2010; Omer, 2015) nicht nur

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in der Praxis, sondern auch theoretisch von einem Krisenkonzept für Eltern zu einem allgemeinen pädagogischen Konzept verändert. Die grundsätzliche Idee ist, dass Erziehungsverantwortliche bereits vor der Entwicklung von Schwierigkeiten in einer Wachsamkeit vorgehen, um die Wahrscheinlichkeit einer späteren Eskalation zu verringern oder bereits gut auf diese vorbereitet zu sein. Wachsamkeit meint damit keine dauernde Kontrolle oder Überprüfung, kein Monitoring, sondern eine aktive Achtsamkeit den anvertrauten Menschen, sich selbst und der gemeinsamen Beziehung gegenüber. Wir wissen aus unserer Erfahrung, dass Familien, die regelmäßigen Austausch haben und voneinander wissen, wie es den jeweils anderen Mitgliedern geht, eine stärkere Beziehungsbasis haben, wenn es schwierig wird. Jede Beziehung, ob bei Paaren, in Familien, in der beraterischen und therapeutischen Arbeit, in Wohngruppenkontexten oder in der Kollegialität etc., benötigt eine Achtsamkeit und allgemeine Fürsorge, sonst destabilisiert sie und kann bei Krisen keinen Boden für eine tragfähige Klärung bilden. Diese allgemeine Sorge, die dann intensiviert wird, wenn kritische Ereignisse eintreten, nennen wir Wachsame Sorge. Wir haben die Wachsame Sorge über den erzieherischen Kontext hinaus erweitert (Lemme u. Körner, 2018) und beziehen bewusst Pädagoginnen, Berater und Psychotherapeutinnen mit ein. Wachsame Sorge wird so zu einer Grundhaltung in allen sozialen Kontexten, in denen jemand Verantwortung für die Begleitung der Entwicklung anderer Personen übernimmt. Dies werden wir hier im Zusammenhang mit ambulanter und stationärer Heimerziehung darstellen. Omer beschreibt Wachsame Sorge als einen »flexiblen Vorgang« (Omer, 2015, S. 14) und meint damit einen dynamischen Prozessverlauf zwischen drei Stufen der Aufmerksamkeit: 1. der offenen Aufmerksamkeit mit einer grundsätzlichen Wachsamkeit; 2. der fokussierten Aufmerksamkeit, die bei aufkommenden Schwierigkeiten erhöht und bekannt gemacht wird; 3. dem Schutz, wenn es um das konkrete Eingreifen und deutliche Hilfestellungen geht. Sollte es Schwierigkeiten und Probleme geben, so wird je nach Umfang mehr oder weniger Aufmerksamkeit und Energie eingesetzt, um den wahrgenommenen Situationen zu begegnen. Die Qualität des Einsatzes, der Aktivität wird nach drei Graden unterschieden: 1. offener Dialog und Aufrichtigkeit; 2. direkte Befragung und erste Bekanntmachungen; 3. einseitige Maßnahmen.

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Die jeweiligen Übergänge zwischen den Aktivitätsgraden werden den betroffenen Erwachsenen wie Kindern und Jugendlichen bekannt gemacht. Der therapeutisch-pädagogische Prozess-Leitfaden (Lemme u. Körner, 2016a, 2016b, 2018) stellt eine Erweiterung des Konzepts der Wachsamen Sorge dar und wird u. a. in diesem Kapitel dargestellt. Offener Dialog und Aufrichtigkeit Aus der eigenen praktischen Erfahrung wissen alle Eltern und Erziehungsverantwortlichen, dass Beziehung dadurch lebt, dass es gemeinsame Zeiten für den Kontakt und den Austausch gibt. So stellt Omer (2015) fest, dass Familien, die regelmäßige und qualitative Zeiten miteinander verbringen, später mehr Ressourcen für den Umgang mit Krisen haben. Im Grunde genommen stellt dieses Wissen eine alltägliche Erfahrung für alle Beziehungen dar: Sollen diese gelingen, benötigen sie regelmäßigen Kontakt, Beziehungsgesten und Austausch, Klarheit im Umgang miteinander sowie ein möglichst hohes Maß an gegenseitiger Transparenz und Verbindlichkeit (vgl. Werte-Dreieck der Neuen Autorität, Lemme u. Körner, 2018, S. 83). Entsprechend ist der 1. Grad der Wachsamen Sorge geprägt durch den Austausch, die gegenseitige Neugier und die interessierte Aufmerksamkeit. Gerade in Zusammenhang mit dem Kontext Jugendhilfe gilt es hier zu beachten, dass wir in der Regel mit Menschen zu tun haben, die stark verunsichert sind und häufig viele negativ erlebte Vorerfahrungen in sozialen Kontakten gehabt haben. Die Voraussetzung für Kooperation in der weiteren Entwicklung und Begleitung ist die Absicherung der betroffenen Personen in ihrem Kontext, die Aktivierung ihres sozialen Aktivierungssystems (Social Engagement System, kurz SES; ­Porges, 2018; siehe Kapitel 1.6). Damit steht zu Beginn die Entscheidung der Pädagoginnen, dass sie sich 1. verantwortlich für die Belange der ihnen anvertrauten Kinder, Erwachsenen und Familien, 2. verantwortlich für die Wiederaufnahme und »Reparatur« der Beziehung zu diesen und 3. verantwortlich für die Gestaltung von Kooperation mit anderen an der Erziehung beteiligten Personen im Umgang mit den Kindern erklären. Die erklärte Verantwortlichkeit in Bezug auf die Belange wird demnach durch ein aktives Angebot sichtbar: •• gemeinsame qualitativ gute Zeiten miteinander verbringen; •• regelmäßige verbindliche Kontakte, Gespräche u. Ä. m., das heißt z. B. bei

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Kindern Dasein bei deren Rückkehr aus der Schule oder bei Fragen, Treffen zu gemeinsamen Essenszeiten usw. •• Interesse und Neugier am Erleben der Betroffenen, allgemeine Achtsamkeit und Wachsamkeit – je nach Alter in einem angemessenen Maß; •• Vertrauen in die zunehmende Selbstständigkeit und die Übernahme der Selbstverantwortung, ohne dabei den Kontakt und die Neugier zu verlieren. Verantwortlichkeit für die Wiederaufnahme bzw. »Reparatur« der Beziehung zeigt sich u. a. an folgenden Beispielen: •• Aufnahme von Kontakten und Gesprächen, wenn anfängliche Schwierigkeiten beobachtet werden oder auch das eigene Gefühl der Erziehungsverantwortlichen sich ungut entwickelt; •• Offenheit und Transparenz bezüglich der eigenen Wahrnehmung, Feedback; •• Nachfragen und Ansprechen bei auftauchenden Problemen und kritischen Beobachtungen; •• Absprache mit den Personen, die ebenfalls im Kontakt mit den Betroffenen stehen. Und die Verantwortlichkeit für die Netzwerkgestaltung zeigt sich u. a. an folgenden Beispielen: •• frühe Kontaktaufnahme zu den Personen, die ebenfalls an der Erziehung der Kinder und Jugendlichen oder am Familiensystem beteiligt sind, also zu Zeiten, wo noch keine Krisen entstanden sind; •• diesbezüglich regelmäßige Treffen und kontinuierlicher Austausch, damit das Wissen um die Situation auf einem entsprechend aktuellen Stand bleibt und der Kontakt nicht abbricht; •• Sichtbarmachen dieser Kontakte und Transparenz der abgesprochenen Inhalte, sodass die anvertrauten Kinder, Jugendlichen und Familien um diese Kontakte wissen. Direkte Befragung Sobald erste Änderungen, Entwicklungen oder sogar Schwierigkeiten auftauchen, Stimmungen sich ändern oder ein Erleben sich so verändert, dass Pädagoginnen und Berater aufmerksam werden oder sogar in Sorge geraten, dann bezeichnet dies im Konzept der Wachsamen Sorge den Übergang zur zweiten Stufe. Diese ist geprägt davon, dass die Betroffenen direkt angesprochen bzw. besonders versorgt werden. Es werden also Maßnahmen der direkten Veränderung angestrebt, was einen deutlichen Unterschied zum sonstigen Umgang macht. Absprachen

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und Vereinbarungen werden möglicherweise verändert. Dabei wird davon ausgegangen, dass dieser Zustand vorübergehend ist. Dieser Umstand wie auch der Übergang zu einseitigen Maßnahmen, der dritten Stufe der Wachsamen Sorge, wird bereits mit Auftragsannahme oder Aufnahme besprochen. Demnach erfüllt das fokussierte Fragen drei zentrale Anliegen: •• Pädagogen bekommen mit, wenn es Änderungen, neue Interessen oder Aktivitäten bzw. Entwicklungen gibt, •• sie behalten sich die Möglichkeit vor, Einfluss auf und Anteil an der Entwicklung des weiteren Prozesses zu nehmen, und •• können so ihren Einfluss leichter und schneller, gleichzeitig auch dynamischer verstärken, wenn es Warnzeichen für eine kritische Entwicklung gibt. Der jeweils notwendige Grad der Wachsamen Sorge richtet sich nach dem Vertrauen und der Transparenz der Beziehung von Kindern zu ihren Eltern. Das Ziel dieser direkten Ansprachen und Vorgehensweisen ist die Rückkehr zu einer Beziehung, die wieder durch die Merkmale der ersten Stufe der Wachsamen Sorge geprägt ist. Zu diesem Vorgehen gehört auch die entsprechend intensivierte Kontaktaufnahme zu den anderen prozessbeteiligten Personen. Dabei werden diese Absprachen allen Beteiligten bekannt gemacht. Eine frühzeitige Intensivierung der Kooperation schafft schnellere Bezüge und mehr Aufmerksamkeit. Außerdem bilden die Pädagoginnen auf diese Art und Weise ein Bild von Geschlossenheit und Schutz, an dem sich die Anvertrauten orientieren können. Kleinere Ankündigungen, erhöhte Präsenz durch Besuche und Ansprache sowie Absprache aller Beteiligten gehören entsprechend dazu. Daraus ergibt sich, dass der zumindest längerfristige Übergang von der offenen Aufmerksamkeit zum fokussierten Dialog zum einen nicht spontan, sondern geplant und überlegt stattfindet, zum anderen ein gutes Maß benötigt, d. h. ein empathisches und respektvolles Vorgehen. Ziel sind die Verbesserung und Entwicklung der Beziehung sowie ein dauerhaft guter, orientierender Kontakt, nicht die Kontrolle. Einseitige Maßnahmen Reichen die in der zweiten Stufe der Wachsamen Sorge vorgenommenen Interventionen nicht aus bzw. hat die Entwicklung eine kritische Phase erreicht, in der Schutz bzw. ein intensiveres Vorgehen erforderlich sind, dann werden sogenannte einseitige Maßnahmen ergriffen, die somit den Übergang zur dritten Stufe der Wachsamen Sorge darstellen.

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Diese einseitigen Maßnahmen sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht mehr mit Zustimmung bzw. der direkten Ansprache des Kindes bzw. Jugendlichen oder der Familien durchgeführt werden, sondern geprägt sind von der Entscheidung der verantwortlichen Pädagoginnen, dass diese besondere Verantwortung übernehmen und daher ihr Verhalten in Bezug auf die kritischen Situationen und Verhaltensweisen verändern müssen. Die Maßnahmen der zweiten Stufe entfallen dabei nicht, sondern werden durch die einseitigen Maßnahmen erweitert. Dieser Übergang wird im Vorgehen in der Regel durch eine Ankündigung markiert. Hierbei gibt es eine ganze Reihe an Erfahrungen, die auch im Umgang mit Familien und Eltern gemacht worden sind (siehe auch Lemme, 2017). Die einzelnen Schritte sind geprägt von spezifischen Haltungs- und Handlungsaspekten (siehe Lemme u. Körner, 2018), die bereits in Kapitel 1.1 ausführlicher dargestellt wurden. Wir führen sie daher an dieser Stelle nur auf und verzichten auf eine erneute detaillierte Beschreibung, kommen aber im weiteren Verlauf des Kapitels auf sie zurück. Es sind: •• Haltung, Entscheidung, Werte, •• Gesten der Beziehung, des Verzeihens und der Versöhnung sowie Wiedergutmachung, •• Transparenz und Öffentlichkeit, •• Unterstützung und Netzwerke, •• Deeskalation und Selbstführung, •• Protest, Gegenüber, Widerstand. Wachsame Sorge ist also eine Haltung, die auch auf pädagogische Kontexte umsetzbar ist und in der die Pädagoginnen auf aktive, flexible und respektvolle Weise Anteil am Leben der ihnen anvertrauten Kinder und Familien nehmen. Sie balancieren quasi zwischen drei Punkten: •• Achtsamkeit und Aufmerksamkeit sowie Vertrauen, •• klarer Positionierung und ggf. auch Protest gegenüber kritischen Umständen, •• klarer Offenheit, Transparenz und Verbindlichkeit in Verbindung mit würdevollem Umgang (vgl. Werte-Dreieck der Neuen Autorität, Lemme u. Körner, 2018, S. 83). Je besser diese Balance gelingt, desto stabiler und vertrauensvoller ist die gegenseitige Kooperationsbeziehung. Bislang wurde die Wachsame Sorge als ein pädagogisches Konzept betrachtet. In der Umsetzung des Gesamtkonzepts der Neuen Autorität hat sich gezeigt, dass dieses Prinzip sich auch auf Institutionen und die Gestaltung der dort herr-

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schenden Rahmenbedingungen beziehen kann. Wir haben bereits an anderer Stelle (Lemme u. Körner, 2018) entsprechende Reflexionsfragen dargestellt, die einen Übertrag ermöglichen sollen. In den folgenden Kapiteln beschreiben wir die Vorgehensweisen in ambulanter und stationärer Jugendhilfe.

Wachsame Sorge im Kontext ambulanter Jugendhilfe Wir sehen das Prinzip der Wachsamen Sorge als pädagogische Haltung zur Rahmung des erzieherischen Handelns und als Haltung zur Rahmung der Tätigkeit in einer gesamten Institution. In der Umsetzung in vielen Einrichtungen konnten wir beobachten, dass das Vorgehen in der Wachsamen Sorge eine prozessorientierte Intensität der Aufmerksamkeit entstehen ließ, die eine kontinuierliche Rahmung für das Etablieren sicherer Orte ermöglicht und im Sinne der Aufgabe und Aufträge die Handlungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume erweitern half. Dies drückte sich auch in der Gestaltung der organisatorischen Rahmenbedingungen aus. Wie auch sonst sollten Mitarbeiterinnen, die sich in ihrer Tätigkeit selbst nicht sicher erleben, Sicherheit für ihre Klienten ausstrahlen können? Wir können also in der ambulanten Jugendhilfe eine Perspektive im Sinne der Wachsamen Sorge auf das Klientensystem selbst (meistens eine Familie), das BeraterKlienten-System (aktive Helferinnen und Familie) sowie das Beratersystem (die Helfenden in der eigenen Organisation, ihrem Team, den Kooperationspartnern) einnehmen. So gesehen führt häufig diese Entwicklung zu einer Änderung der Organisationsstruktur und -kultur, greift also die Organisationsentwicklung auf. In diesem Beitrag wird die Umsetzung der Wachsamen Sorge für den Kontext der ambulanten Jugendhilfe erläutert und mit praktischen Anregungen versehen. Anhand eines konkreten Beispiels wird ein möglicher Ablauf beschrieben, der sich aus der Logik der Neuen Autorität ableitet und die Prinzipien und Wirkweisen der Wachsamen Sorge ausdrückt. Der beschriebene Ablauf soll ausdrücklich als Beispiel verstanden werden und keine feste Vorgabe darstellen. Wir werden häufiger gefragt, wo denn Grenzen oder feste Bedingungen im Konzept der Neuen Autorität seien. Da wir das Vorgehen vor allem als ein haltungsorientiertes sehen, bedeuten beispielhafte Vorgehensweisen letztlich Beispiele, die sich aus dem Prozess und dem Kontext heraus ergeben. Sie sind keine festen oder formalisierten Handlungsanleitungen, sondern eben das, was sie sind: Beispiele. In dem folgenden wird deutlich, dass die Auswirkungen eines kon­ stanten Kooperations- und Unterstützungskreislaufes die Handlungssicherheit der Beratersysteme erhöhen und stabilisieren können, somit erlebbar krisenreduziertere Maßnahmenverläufe zu beobachten sind.

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Rechtliche Voraussetzungen Sobald wir den Kontext betrachten, in dem ambulante Jugendhilfe durchgeführt wird, befinden wir uns in einem rechtsgeregelten Rahmen. Dieser sollte allen Beteiligten bekannt und bewusst sein. So sind bei allen Aktivitäten die geltenden Datenschutzbestimmungen einzuhalten. Obwohl dies bekannt ist, wird dies nicht selten anders gehandhabt, vor allem in Bezug auf die Klienten. Sachlich angemessen kann das Coaching für Eltern nach dem Konzept der Neuen Autorität als Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII angeboten werden. Diese wird den Personensorgeberechtigten der Familie gewährt, wenn »eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist« (§ 27 Abs. 1 SGB VIII). Im Weiteren wird ausdifferenziert, dass Hilfe zur Erziehung »insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35« SGB VIII gewährt wird (SGB VIII, 2017). Jedoch heißt es: »Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall; dabei soll das engere soziale Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden.« Gerade mit diesem Zusatz wird es möglich, die zunächst individuelle Sichtweise des § 27  SGB  VIII auf eine systemische Sichtweise zu erweitern. Darüber hinaus ermöglicht es der Begriff »insbesondere«, dass auch eine Hilfe nach § 27 SGB VIII gewährt werden kann, die nicht in den §§ 28 ff. konkretisiert wird. In der alltäglichen Jugendhilfepraxis werden dagegen des Öfteren Zuordnungen zu einzelnen Paragrafen nach § 28ff notwendig, um die jeweilige flexible ambulante Familienhilfe einem Budget des Kostenträgers der Jugendhilfe zuordnen zu können. Immer dann, wenn der Jugendhilfeetat bei den Kommunen und Landkreisen nach den §§ 28 ff. SGB VIII differenziert budgetiert wird, fällt es schwer, eine Hilfe, die sich ausschließlich auf den § 27 SGB VIII gründet, abzurechnen. Aus pragmatischen Gründen kann diese Ausgestaltung der Hilfe in solchen Fällen nach den §§ 30, 31 oder auch 35 SGB VIII abgerechnet werden (Adams, 2001). Entscheidung der Einrichtung bzw. der Leitung, nach dem Konzept zu arbeiten Aus unserem Erleben in Fortbildungen und Schulungen in Einrichtungen hat sich gezeigt, dass eine wichtige und notwendige Voraussetzung für die Umsetzung des Konzepts die grundsätzliche Zustimmung und Beteiligung der Leitungspersonen darstellt. Fehlt diese oder ist sie nicht wirklich entschieden dargestellt, folgt nicht selten Unsicherheit in der Umsetzung und in der Frage der Verbindlichkeit des Vorgehens, was einer allgemeinen Unzufriedenheit

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schnell Vorschub leistet. Häufig werden in Einrichtungen verschiedenste Fortbildungen mit unterschiedlichen Haltungen vermittelt. Dabei steht eher die Methodik in Bezug auf eine Diagnose im Vordergrund. Das Konzept der Neuen Autorität geht davon aus, dass es eine gemeinsame Grundhaltung gibt, aus der heraus sich das Handeln ableiten lässt. Diese Grundhaltung gilt es zu sichern und zu vertiefen. Dazu benötigt es ein langfristiges Konzept der »Qualitätssicherung«. Die eigene Sicherheit, die eigene Befähigung, eine klare pädagogische Werteorientierung in der Einrichtung sowie ein steter Austausch darüber sind letztlich zwingend notwendig für eine insgesamt erfolgreiche Tätigkeit. Der damit verbundene regelmäßige Austausch schafft für die Mitarbeiterinnen eine transparente Möglichkeit der Entwicklungsbeteiligung in der Einrichtung. Wachsame Sorge in einer Einrichtung bedeutet also vor allem einen regelmäßigen Austausch in den Teams, den Leitungsrunden oder weiteren Teams und Subsystemen. Dies lässt sich am ehesten als ein regelmäßiger Feedback-­Prozess beschreiben. Die Aufgabe des Teams untereinander ist dabei, sich bezüglich der gemeinsam vereinbarten Haltungen und Handlungen im pädagogischen Vorgehen zu reflektieren und zu überprüfen; die Aufgabe der Leitung ist die Anleitung dieses Feedback-Prozesses im Kontext des T ­ eamvorgehens, der gemeinsamen Unterstützung bzw. in Bezug auf die Gesamteinrichtung. Wachsame Sorge ist als ein Prozess bekannt geworden, der sich auf die Haltung von Eltern bzw. erziehungsverantwortlichen Personen im Umgang mit ihren Kindern oder den ihnen anvertrauten Personen bezieht. Zuletzt haben wir uns mit der Übertragung auf stationäre Kontexte wie auch auf Schule beschäftigt (Lemme u. Körner, 2018). Wenig beschrieben wurde hingegen die Perspektive der Wachsamen Sorge für den Coach bzw. sein Unterstützersystem. Konsequenterweise könnten die gleichen Stufen auch auf diesen bezogen werden. Die Logik im Konzept der Neuen Autorität (siehe Abbildung 3 in Kapitel 1.1), die für die pädagogische Vorgehensweise gilt, gilt ebenso für die Tätigkeit des Coaches selbst, bloß dann in Bezug auf sein Team bzw. Helfersystem. Auf einer dritten Ebene ließe sich auch noch die Wachsame Sorge für das Team innerhalb einer Gesamtinstitution betrachten. Wir wollen uns auf die Ebene des Coaches beziehen. Die Grade der Wachsamen Sorge werden im Folgenden um den Fokus der Mitarbeiter ergänzt. Während die einzelnen Berater ihre zu beratenden Systeme im Blick haben, hat in der Umsetzung auf das Team die Leitungsperson die Mitglieder der Teams im Blick.

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Offener Dialog und allgemeine Aufmerksamkeit Jeder Berater beschreibt fortlaufend die einzelnen Grade der Aufmerksamkeit für seine Klienten und die daraus resultierenden notwendigen Schritte und Maßnahmen. In dieser Phase wird geklärt, welche Ressourcen erforderlich sind und welcher Zeitaufwand nötig ist. Es wird geklärt, ob bereits eine umfassende Information des Unterstützersystems erfolgt ist. Die Berater berichten von allen Klienten, unabhängig von den jeweils aktuellen Aufmerksamkeitsstufen. Die regelmäßige Aussprache orientiert sich nicht vorrangig an den Eskalationsstufen. So wird sichergestellt, dass für alle Klientensysteme die gleiche Aufmerksamkeit zur Verfügung steht. Nicht die Krise strukturiert den Ablauf, sondern die Regelmäßigkeit. Dabei werden folgende Aspekte besonders beachtet: •• Eltern, betroffene Familien oder andere Erziehungsverantwortliche können regelmäßig an den Prozessreflexionen der Teams teilnehmen. •• Die Familien sind über eine transparente Vertretungsregelung für Krankheit und Urlaub informiert und kennen schon vorab die Vertretungspersonen. •• Die Absprachen der Mitarbeiter über die Verantwortungsübernahme aller betreuten Familien im Team sind erfolgt und allen klar. •• Es findet ein regelmäßiger Austausch über hinreichende und notwendige gegenseitige Unterstützung statt. Diese Unterstützung wird schon sichtbar gemacht, wenn sie noch nicht aktiv benötigt wird. •• Der Bedarf an Supervision oder spezieller fachlicher Anleitung ist organisiert. Die Leitungsperson bekommt und gibt Rückmeldung über die Verläufe und ihre Wahrnehmungen an die Teams. Unsere Erfahrung zeigt, dass Leitungspersonen die notwendigen Ressourcen und personellen Kapazitäten im laufenden Alltag leichter organisieren und planen können, wenn sie ihre Präsenz in den Teams regelmäßig ausgestalten. Dies hat wiederum zur Folge, dass der Coach mehr Möglichkeiten und mehr Beweglichkeit im Kontext seiner Klientensysteme hat. Der so etablierte Austausch auf den Ebenen Coach–Klient und Coach–Team (Leitung) wird als sehr hilfreiche Grundlage für die Betreuung der Maßnahmen erlebt und kann daher als Basis der Wachsamen Sorge im ambulanten Bereich definiert werden. Durch sie wird die dynamische Wechselwirkung der komplexen Systeme möglich. Sicherheit im Helfersystem wird sich entsprechend auf die Arbeit des Coaches mit dem Klientensystem positiv auswirken.

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Fokussierte Aufmerksamkeit und direkte Befragung Sobald der Coach oder das Team Veränderungen und Entwicklungen bei sich oder im Klientensystem bemerken, werden diese gemeinsam besprochen und die nächsten Schritte koordiniert. Die Aktivierung der Unterstützung im System findet statt. Möglicherweise ist auch eine Rückmeldung an weitere Prozessbeteiligte erforderlich. Durch die Regelmäßigkeit der Rückmeldung bereits kleinster Veränderungen und Entwicklungen ist es möglich festzustellen, wo und in welcher Form im gesamten Vorgehen die Stärkung von Präsenz erforderlich ist. Nicht selten haben mehrere Klientensysteme eines Coaches eine erhöhte Aufmerksamkeitsstufe (Grad 2 oder Grad 3 der Wachsamen Sorge). Dann bedarf es einer guten Absprache im Team, im Netzwerk und bei Unterstützerinnen, um entsprechende Kapazitäten und Ressourcen bereitzustellen, damit eben dieser Coach in seiner Präsenz wieder gestärkt werden kann. Dies bedeutet auch die Klärung und möglicherweise Verstärkung des Bedarfs an Supervision oder spezieller fachlicher Anleitung. Ein in dieser Art standardisiertes Vorgehen wird gerade bei einer Gefährdung des Kindeswohls als handlungsstärkend unter den Helfenden erlebt. Durch die intensive Einbindung von Leitungspersonen bekommen diese die Möglichkeit, eine bedarfsorientiere Ressourcenverwaltung umzusetzen, um möglichen Krisenzeiten planerisch zu begegnen. Mitarbeiterinnen erleben auf diese Art und Weise Leitungspersonen, die in dieser Phase anwesend und präsent sind, als unterstützend und stabilisierend. Im Sinne der Qualitäts- und Mitarbeiterfürsorge erscheint es wichtig, eine spürbare Führung im Sinne der Neuen Autorität darzustellen. Wenn in einer Einrichtung diese Leitungsaufgabe durch knappe Zeitressourcen nicht erfüllbar ist, kommt es eher zur Eskalation von Krisen, die dann wiederum erhebliche Zeitressourcen benötigen oder zu tragischen Entwicklungen bei den Klientensystemen führen. Einseitige Maßnahmen Reichen die erfolgten Interventionen nicht aus, werden in dieser Stufe die Maßnahmen der zweiten Stufe intensiviert. Die Reflexionsfrage »Wer oder was benötigt Schutz?« ist in dieser Phase aus unserer Sicht besonders wichtig. Im Coach-Klientinnen-Kontakt werden die Möglichkeiten, die sich aus den Haltungs- und Handlungsaspekten ergeben, umgesetzt. In der Regel werden die dann folgenden Maßnahmen durch eine Ankündigung eingeleitet. Dabei könnte eine Ankündigung wie klassisch bekannt durch die Erziehungsverantwortlichen einer Familie an ihre Kinder mit entsprechender Unterstützung

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erfolgen. Auch könnte eine Ankündigung des Helfersystems an die Adresse der Familie oder der Erziehungsverantwortlichen dieser Familie gerichtet werden, wie dies in der Arbeit von Eltern-Kind-Häusern im Konzept häufiger erfolgt (s. Lemme, 2017). Denkbar sind auch Ankündigungen der Leitung in Zusammenhang mit dem Helfersystem. Aus Sicht der Leitungsperson könnte unter den einseitigen Maßnahmen eine höhere Teamunterstützung angeordnet, die Intervalle zwischen den Teamsitzungen könnten verkürzt werden. Auch die gegenseitige Transparenz könnte durch persönlichen und schriftlichen Austausch erhöht werden. Zudem ist darauf zu achten, Möglichkeiten der Deeskalation zu installieren, die Aufträge zu reflektieren, zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu formulieren. Konzept der Neuen Autorität ist etabliert Ist das Konzept der Neuen Autorität in einer Einrichtung erfolgreich etabliert, dann sind die Handlungsabläufe unter den Mitarbeitern eindeutig kommuniziert und auch den Klienten bekannt gemacht. Das setzt voraus, dass der Berater und sein Unterstützerteam die Ausbildung zum systemischen Coach für Neue Autorität erfolgreich absolviert haben. Das bedeutet eine aktive Kenntnis und Erfahrung in der Umsetzung der Haltungs- und Handlungsaspekte sowie die Bereitschaft und Fähigkeit der Mitarbeiterinnen, transparent in einem Unterstützernetzwerk zu arbeiten. Wir erleben häufig, dass Mitarbeiterinnen in Einrichtungen der ambulanten Jugendhilfe mit Schwerpunkt »Familienhilfe« oder Elterncoaching über viel praktische Erfahrung und theoretisches Wissen verfügen. Gleichzeitig gibt es häufig keine oder wenig verbindliche Absprachen über die diagnostischen Prozesse und Aussagen, nach welchem Familienmodell entsprechende Bewertungen vorgenommen werden. Dies zeigt sich insbesondere bei sogenannten Clearingaufträgen. Dies halten wir allerdings für notwendig, da die Vorstellungen, wie ein Familiensystem funktional miteinander wirken kann, sehr unterschiedlich und individuell sind. Im Alltag des Vorgehens ist auch eine gute Koordination notwendig, wenn Klienten zu Fallbesprechungen, Planungsgesprächen und anderem eingeladen sind, den Diskussionen der Teammitglieder zuhören und sich möglicherweise auch daran beteiligen. Als sehr hilfreich hat sich erwiesen, wenn die Klientinnen das »Beratersystem« in einer Klarheit und Eindeutigkeit erleben und weniger in theoretischen Diskussionen verstrickt. Als hilfreich hat sich dabei eine Variante des »reflektierenden Teams« herausgestellt, das transparente Team (s. Lemme u. Körner, 2018; Lemme, 2017). Dabei werden die Klientinnen (Eltern wie Kin-

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der) eingeladen, dem Gespräch des Teams zuzuhören. Wenn möglich werden sie dabei durch eine Mitarbeiterin begleitet, damit sie in ihrem Zuhören bleiben können. Nach diesem Teamgespräch, welches entsprechend nicht zu lange und in einfacher Sprache geführt werden sollte, reflektiert diese Mitarbeiterin mit den Klientinnen das, was diese wahrgenommen haben. Möglicherweise werden auch Schritte vereinbart. Für ein solches Vorgehen sind feste Teamstrukturen hilfreich und notwendig. Das bedeutet aus unserer Sicht, dass sich die Teams in einer möglichst konstanten Personengruppe treffen. Diese Regelmäßigkeit unterstützt ein Erleben von Vertrautheit und Sicherheit. Zudem wird ein Raum des effektiven und stärkenden Feedbacks ermöglicht. Ein von Wertschätzung geprägtes Arbeitsklima und eine offene Unternehmenskultur sind ideale Voraussetzungen für eine motivierende Feedbackkultur. Der Grad der Sicherheit im Team steigt mit der Möglichkeit, auch schambesetzte und kritische Erlebnisse anzusprechen und klären zu können. Gegenseitige Würdigung und Wertschätzung sowie die Unterstellung der besten Absicht sind elementare Bestandteile eines gelungenen Miteinanders in Teams. Zur praktischen Durchführung der Maßnahmen weisen wir darauf hin, dass die Bereitstellung von geeigneten Räumen mit ausreichend Platz für Teambesprechungen und Unterstützertreffen gewährleistet sein muss (vgl. Lemme u. Körner, 2018). Jennifer und ihre Mutter – ein beispielhaftes Vorgehen Jennifer, ein 14-jähriges, attraktives, dunkelhäutiges Mädchen, lebte bei ihrer alleinerziehenden Mutter, zum Vater gab es keinen Kontakt mehr. Ihr Leben und das ihrer Mutter waren stark aus den Fugen geraten. Die Gefahr der Verwahrlosung im sozialen wie im psychischen Zusammenhang war für beide extrem groß. In Konfliktsituationen schlug Jennifer ihre Mutter und attackierte sie massiv, die wiederum diesem Verhalten hilflos gegenüberstand. Sobald Jennifer bestimmte Bedürfnisse erfüllt haben wollte (z. B. das Ersetzen eines defekten Handys), drohte sie ihrer Mutter mit dem Vorsatz der Prostitution, um sich das notwendige Geld zu besorgen, oder mit dem Konsum von Drogen. Dies war für die Mutter glaubwürdig, zumal Jennifer in ihrem Verhalten, mit ihrem Aussehen und ihrer Attraktivität deutlich kokettierte. Ihr Zimmer durfte nicht betreten werden, war deutlich unaufgeräumt und chaotisch, vergammelnde Essensreste standen herum. Ihr Schulbesuch war sehr unregelmäßig und eher von Müdigkeit und Passivität im Unterricht geprägt. Sie entzog sich letztlich allen erzieherischen Handlungen und hatte viel Kontakt zu ihrer Peergroup mit tendenziell älteren Jugendlichen. Eine kinder- und jugendpsychiatrische Praxis diagnostizierte bei Jennifer eine ausgeprägte Störung des Sozialverhaltens. Die Empfehlung war, Jennifer zeitnah

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in die stationäre Jugendhilfe einzugliedern. In ihrem Bericht schrieben die Verantwortlichen, dass die innerfamiliären Konflikte sich über die letzten Monate deutlich verstärkt hätten. Zudem sei bei Jennifer selbstverletzendes Verhalten zu beobachten. Jennifer entziehe sich zunehmend der Fürsorge durch die Erwachsenen und überfordere sich selbst damit kontinuierlich. Eine Stimulanzienbehandlung bezüglich Konzentrationsförderung sei nicht notwendig. Eine zunächst erfolgte sozialpädagogische Familienhilfe sei offensichtlich wenig erfolgreich gewesen. So wurde eine stationäre Jugendhilfemaßnahme vorgeschlagen. Diese lehnten die Familienmitglieder, insbesondere Jennifer selbst, kategorisch ab, und laut Aussage der Mitarbeiterin des Jugendamtes hätte eine vollstationäre Maßnahme wenig Aussicht auf Erfolg, wenn die Bereitschaft zur Mitarbeit nicht gegeben wäre. Da die Alternative also die Unterbringung von Jennifer mit Zwangsanordnung durch das Vormundschaftsgericht gewesen wäre, wurden keine weiteren Maßnahmen eingeleitet. Die bisherige ambulante Maßnahme schien dem Helfersystem als Minimum zwingend notwendig, jedoch bei dieser Indikation im Kern nicht geeignet.

Zu Beginn der Maßnahme haben wir uns mehrere Fragen gestellt: Wie und in welcher Form kann überhaut eine solche Maßnahme ambulant durchgeführt werden? Und wie müsste dann ggf. die Hilfe aussehen, damit sie konstruktive Änderungen für alle Beteiligten ermöglicht und nicht wiederholt, was zuvor erfolglos gewesen ist? Welche neuen Optionen, welche weiteren Handlungsschritte können überhaupt möglich sein? Im Kern bedeutete dies konkrete Überlegungen zur Präsenz des Coaches und des Helfersystems, die im Umgang mit einem derart eskalierenden Prozess notwendig erschien, um überhaupt eine Stärkung der Präsenz der Mutter und die Abwendung weiteren sozialen, psychischen und emotionalen Schadens von Jennifer zu ermöglichen. Sollte das Helfersystem quasi von der gleichen Hilflosigkeit angesteckt werden, die schon im Familiensystem vorhanden war, dann hätte eine weitere Hilfe eher eine Ausweitung der Hilflosigkeit bedeutet, was im Prozess eine Eskalation von diesem gewesen wäre. So stellten wir uns bei Betrachtung des bisherigen Prozesses folgende Fragen: •• Wie kann der Coach in seiner Präsenz gestärkt werden? •• Wie können alle Beteiligten geschützt bzw. gesichert werden, insbesondere vor weiteren Eskalationen? •• Wie kann eine ambulante Maßnahme bei einer solchen Indikation/Empfehlung seriös starten, ohne das Gleiche von zuvor zu wiederholen? •• Wie können im Sinne der Aufgabe (Beziehungsstabilisierung, Deeskalation) hilfreiche Maßnahmen etabliert/vorgeschlagen werden?

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Im Folgenden stellen wir das Vorgehen in eben diesen Schritten vor und reflektieren dazu den Prozess in der Familie von Jennifer. Wie kann der Coach in seiner Präsenz gestärkt werden? Der Einstieg in eine wie vorstehend geschilderte Situation stellt auch für erfahrene ambulante Sozialpädagoginnen eine extrem große Herausforderung dar. Insofern haben sich unsere Überlegungen zunächst mit der Präsenz des Coaches und des Helfersystems beschäftigt. Um dies nachvollziehbar werden zu lassen, werden im Folgenden die Reflexionsfragen der sechs Präsenzdimensionen nach Lemme und Körner (2018) hier mit Bezug auf das Erleben des Coaches beschrieben. Sie können auf diese Art und Weise in ähnlichen Prozessen möglicherweise Anregungen zur Vorbereitung geben. Für den konkreten Prozess wird dies im weiteren Textverlauf aufgegriffen. Physische Präsenzdimension (Körperlich)

Sind in diesem Setting der ambulanten Maßnahme regelmäßige Kontakte möglich? Ist die Anwesenheit/Zeitressource ausreichend, um die beschriebenen Problembereiche hilfreich bearbeiten zu können? Pragmatische Präsenzdimension (Handlungsfähigkeit)

Weiß der Coach, was er tun kann? Hat er einen Handlungsplan? Welche Interventionen und Maßnahmen sind möglich und zielführend, welche Unterstützung für Eltern und Tochter hilfreich? Kann das Helfersystem die notwendige Öffentlichkeit verbindlich herstellen? Internale Präsenzdimension (Selbstkontrolle)

Mit welchem inneren Gefühl geht der Coach in das System? Wie erlebt er sich in seiner Selbstführung in Bezug auf das System? Was genau leitet seine Hypothesen und Vorgehensweisen? Hat der Coach die eigene Wahrnehmung, dass er die bestehenden Erwartungen erfüllen kann? Wie kritisch wird die Situation eingeschätzt? Ist mit Eskalationen für/gegen den Coach zu rechnen? Mit welcher Eskalationsform ist zu rechnen – symmetrisch oder komplementär? Ist der Coach davon überzeugt, dass seine Handlungen unabhängig vom Verhalten des Gegenübers oder von den Umständen sind?

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Emotional-moralische Präsenzdimension (Überzeugung, Authentizität)

Ist der Coach von der Angemessenheit der Maßnahme überzeugt? Mit welcher inneren Überzeugung geht er auf das Klientinnensystem zu? Welche Meinung und welche Hypothesen hat er zu den beteiligten Personen? Intentionale Präsenzdimension (Absicht)

Welche Ziele und Erwartungen hat der Coach für und an seine Tätigkeit? Mit welcher Absicht geht er in seine Tätigkeit hinein? Welche Absichten haben die anderen Beteiligten im Helfersystem? Systemisch-interpersonale Präsenzdimension (Systemisch, Netzwerk)

Sind die Haltungen und Aussagen, Empfehlungen und Befürchtungen der beteiligten Systeme bekannt? Wer unterstützt wann genau wen und wozu? Sind die beteiligten Stellen bereit für diese Form der Kooperation? Wenn wir auf einen wie den hier beschriebenen Prozess schauen, der in seinem Ansatz die Gefahr von Überforderung oder auch Scheitern in sich trägt, dann fokussieren wir uns vorrangig zunächst auf zwei Optionen: •• Aufbau eines intensiv kooperierenden Unterstützungsnetzwerkes mit allen (!) Beteiligten (auch der Jugendlichen), welches alle erdenklichen Möglichkeiten angeht, somit auch ein scheinbares »Scheitern« im Sinne einer tragischen Haltung abfedert und dieses nicht als persönliche Niederlage markiert. •• Änderung des Ziels der Maßnahme – weg von der angestrebten primären Änderung des Verhaltens der Jugendlichen (Erleben einer Koalition), hin zu einer gemeinsamen Zielsetzung, der auch die betroffene Jugendliche zustimmen kann (Bündnisherstellung). Im vorliegenden Fall erachtete das Helfersystem insofern vor allem die Stärkung der systemisch-interpersonalen (Unterstützung) und der intentionalen Präsenzdimension (Klärung der Absichten und Ziele) als notwendig, was sich im weiteren Vorgehen zeigte. Zudem wurde analog dem Leitfaden im Konzept der Neuen Autorität (Lemme u. Körner, 2018) die Überlegung angestellt: Welche Interventionen erscheinen möglich, um die Präsenz der Mutter wie auch jeweils des Coaches und des Unterstützungssystems (wieder-)herzustellen anhand der Haltungs- und Handlungsaspekte? Um die Akzeptanz im weiteren Vorgehen zu erhöhen, die Sicherheit der Beteiligten zu gewährleisten und die Glaubwürdigkeit der Handelnden zu sichern, wurde auch auf ein hoch transparentes Vorgehen geachtet.

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Wie können alle Beteiligten geschützt und gesichert werden? Vorstellung im Team

Im ersten Schritt (orientiert am Leitfaden der Neuen Autorität nach Lemme und Körner, 2018) ist das Ziel, einen sicheren Ort für alle Beteiligten zu gestalten. Das Helfersystem beginnt die Maßnahme in der exakt gleichen Logik, mit der es das Klientinnensystem in den nächsten Schritten unterstützen wird. Insofern wird im Erstkontakt möglichst viel Kooperationsbereitschaft und Absicherung für die Familie geschaffen. Ein solches Vorgehen wird aus unserer Erfahrung als sehr wertschätzend erlebt und ist hilfreich für das Arbeitsbündnis. Das Werte-Dreieck der Neuen Autorität (Lemme u. Körner, 2018) beschreibt die dazu hilfreiche Haltung des Coaches. Auf der einen Seite werden klare Kooperationsabsprachen und Verbindlichkeiten abgesprochen, auf der anderen Seite achtet das Helfersystem auf klare Absprachen und Ordnungsstrukturen, die sowohl die Verbindlichkeit der Familie als auch des gesamten Helfer-Netzwerkes klären. Die so gestalteten Maßnahmen und Interventionen gestalten einen Resonanzraum der Begegnung mit einem beziehungs- und kooperationsgestaltenden Aspekt, der nicht nur Angebote und Möglichkeiten schafft, sondern auch Einfluss auf die Qualität des Vorgehens ermöglicht. Das jeweilige Vorgehen wird allen Beteiligten transparent gemacht, es werden regelmäßige Feedback-Überprüfungen abgesprochen. Vorstellungsgespräch

Unsere Erfahrung zeigt, dass die ersten Begegnungen für die Akzeptanz und das Bündnis bzw. für die Kooperation zwischen Coach und Klient ausschlaggebend sind. Michael Grabbe beschreibt »Bündnis« als eine Verbindung zu einem (guten) Zweck und meint eine Allianz für eine gemeinsame Sache bzw. ein Ziel. Er grenzt dies von einer Koalition ab, in der er einen Zusammenschluss gegen jemand oder etwas anderen sieht (Grabbe, 2006). Im Kern geht es im Bündnis darum, dass die betroffenen Eltern sich sicher angeleitet erleben und gleich zu Beginn Vertrauen und Hoffnung schöpfen. Das Coaching für Eltern ist als eine zielgerichtete, zeitbegrenzte Unterstützung zur Bewältigung besonders herausfordernder Situationen ausgelegt (von Schlippe u. Hawellek, 2005). Wir sprechen die Eltern dabei in ihrer Rolle als Eltern an, was bedeutet, dass wir uns mit unseren Interventionen an ihre Seite stellen (und nicht in eine besserwisserische Position), eben ein Bündnis eingehen. Sie bleiben damit Expertinnen für ihre Aufgaben, wie in der systemischen Beratung und Therapie gern beschrieben wird. Ein solches Vorgehen schließt nicht aus, dass Beobachtungen

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zu Schutz und Kontrolle deutlich gemacht werden und ein entsprechendes Vorgehen angekündigt wird. Zum Vorstellungsgespräch im hier beschriebenen Prozess erschienen die Mutter von Jennifer, Jennifer selbst, ein Mitarbeiter des anfragenden Jugendamtes, die Teamleitung und die Beraterin (Coach), die das Coaching übernehmen sollte. Grundsätzlich werden zu Vorstellungsgesprächen immer diese jeweiligen Beteiligten eingeladen, egal, ob sie letztlich kommen oder nicht. Letztere stellt der Mutter bzw. sonstigen Erziehungsberechtigten die Arbeitsweise im Rahmen der Neuen Autorität vor. Dabei fokussieren wir vor allem auf die Wiederherstellung der Präsenz der Betroffenen, was in der Regel eine Abkehr von bisherigen Anstrengungen zur Verhaltensänderung der Kinder und Jugendlichen bedeutet. Außerdem wird der Fokus zunächst in der Hilfe auf die Deeskalation und Verbesserung der Beziehung gerichtet. Das beinhaltet im Konkreten die Betonung jener Verhaltensweisen und Umstände, die es zu bewahren oder auszubauen gilt, dazu das gegenseitige Anlächeln, die Versicherung des Wunsches zur Beziehungsverbesserung sowie »normale« (nicht problemorientierte) Gespräche und Unternehmungen. Letztlich bedeutet dies den Ausstieg aus der Problemhypnose und den Einstieg in einen Lösungsfokus. Die Mutter bzw. sonstigen Erziehungsberechtigten erhalten Unterstützung und Anleitung zur (Wieder-)Herstellung ihrer elterlichen Präsenz vor allem durch die Sichtbarmachung des Unterstützungsnetzwerkes, welches sich an ihre Seite zur Verbesserung der Beziehung zu ihrer Tochter stellt. Daher rühren auch die häufigen Einladungen in das Team des Coaches sowie die Etablierung eines großen Unterstützungsnetzwerkes unter Einbeziehung aller beteiligten Systeme. Im konkreten Fall wurde außerdem vereinbart, dass der Coach sowie die Schwester der Mutter in kritischen Zeiten vorrangig morgens und abends anwesend sein sollten, um so die Eskalationen zu verringern. Der Mutter gelang es danach, ihrer Tochter Beziehungsgesten anzubieten (z. B. die Besorgung von Pizza, die die Tochter gern aß). Jennifer nahm ebenfalls an diesem Vorstellungsgespräch teil und zeigte sich zunehmend interessierter und neugieriger. Sie bestätigte, dass es auch ihr darum gehe, wieder besser mit ihrer Mutter zurechtzukommen. Sie vermittelte so die Botschaft, dass sie dieses ambulante Coaching ihrer Mutter nicht als Koalition gegen sich wahrnehmen würde, sondern als Bündnis zu Verbesserung des Klimas und des Umgangs zu Hause. Betont werden muss dabei sicherlich, dass an Jennifer keinerlei Bedingungen oder Forderungen gestellt wurden. Für das Team bedeutet ein solches Vorgehen ein intensives Vertrauensverhältnis zueinander und die Erstellung einer entsprechenden Zeitressource.

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In diesem Vorstellungsgespräch erfolgte auch die Einladung zum ersten Teamtreffen, in dem die Mutter hören sollte, wie das Team über ihre Situation und etwaige Unterstützung dachte und sprach. Dies ist in unserem Vorgehen ein festgelegter nächster Schritt. Viele Eltern, mit denen wir gearbeitet haben, berichten, dass sie die ersten Beschreibungen der Vorgehensweise im Konzept der Neuen Autorität als für sie enorm wichtig erlebt haben. Wichtig scheint dabei nicht die Vorstellung einer konkreten Methodensammlung zu sein, sondern vielmehr die Hoffnung und Zuversicht, als Erziehende wieder präsent im Leben ihres Kindes sein zu können. Wir haben dies an anderer Stelle bereits intensiv beschrieben (Lemme u. Körner, 2018). Die Präsenz des Coaches gegenüber seinen Klientinnen erscheint uns ausschlaggebend, letztlich also seine Sprache, nonverbal wie verbal, seine von Neugier und Interesse geprägte Haltung sowie die Orientierung an Fachlichkeit und Klarheit. Wir unterstellen den Eltern in ihrem Handeln konkret positiv bewertete Motivationen, nehmen eine Haltung der »tragischen Sicht« mit gleichzeitiger Hoffnung ein und fokussieren mit ihnen entsprechende Ziele, die ihnen realistisch erreichbar erscheinen. Dabei formulieren wir klare Affirmationen in der Absicht der Klientinnen. Aus Formulierungen wie »Wir möchten versuchen« werden Kraftworte wie »Wir werden Folgendes machen«. Dies mündet nicht selten in eine erste kleine Ankündigung. Der so möglicherweise entstandene Resonanzraum sorgt entsprechend für einen ersten Energieschub, der die gemeinsame Kooperation zu Beginn schon anschiebt. Modell für Unterstützung, Unterstützung als Haltung: Einladung ins Team

Für uns ist zentral, dass der Coach sich in seinem Vorgehen als ein Teilnehmender in einem eigenen Netzwerk zeigt. So dient die Einladung der Mutter in das Team nicht nur als reflektierende Möglichkeit für sie, sondern sie sieht auch, dass ihr Coach eingebunden ist in ein eigenes Unterstützungssystem. Auch der Coach selbst erlebt in diesem Vorgehen gemeinsam mit der Mutter die Möglichkeit, das weitere Vorgehen zu reflektieren und entsprechende Anregungen durch das Team zu bekommen. Diese »Wir-Präsenz« (systemisch-interpersonale Präsenzdimension) macht der Mutter sichtbar, wie stark insgesamt die Unterstützung für sie und ihren Coach ist. Unsere Erfahrung zeigt, dass dies das Vertrauen in den Coach stärkt – er ist sozusagen mehr, als er allein ist. Während der ersten Teamsitzung, zu der die Mutter eingeladen war, wurden in einem ersten Schritt die Aufträge und Vorgehensweisen, insbesondere die Maßnahmen der Selbstfürsorge und Deeskalation in der Familie, besprochen und reflektiert.

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Analog der ersten Frage des Leitfadens der Neuen Autorität (Lemme u. Körner, 2018), »Wer oder was braucht Schutz?«, wurden Maßnahmen geprüft, die vonseiten des Helfersystems hilfreich und notwendig erschienen, um die Sicherheit im familiären Alltag möglichst sicherzustellen. Verschiedene Ideen und Möglichkeiten wurden Jennifers Mutter vorgestellt. Letztlich wurde eine Anwesenheit des Coaches oder der Schwester der Mutter in den von Eskalation bedrohten Zeiten am Morgen und Abend vereinbart. In der Integrativen Therapie nennt sich das beschriebene Vorgehen »doppelte Expertenschaft«: Der Klient ist Experte auf dem Gebiet seiner Symptome, seines Erlebens, seiner Lebensgeschichte, und der Coach ist Experte auf dem Gebiet der Diagnostik, Methodik und Intervention. Gemeinsam begibt man sich in den Prozess des Erfassens, Begreifens und Verstehens der Problematik, um dann die Behandlungsplanung zu definieren und an deren Umsetzung zu arbeiten.  Reflexion der Präsenz des Coaches in Bezug auf den Auftrag (Unterstützung für die Eltern/Familie/Beziehungen)

In dieser Phase des Maßnahmenverlaufs wird auch geprüft, ob der Helfer sich in der Lage sieht, über die notwendigen fachlichen Kenntnisse verfügt und die entsprechende Ausbildung hat, die Maßnahme bestmöglich coachen, unterstützen und begleiten zu können. Im konkreten Fall waren keine weiteren Maßnahmen notwendig. Grundsätzlich bleibt zu überprüfen, ob der Coach aktuell belastbar genug ist für ein solch hochintensives und emotionales Vorgehen, er sich dies so vorstellen kann und was sie oder er dazu noch möglicherweise benötigen. Teambesprechungen unter Anwesenheit der Mutter

Im Sinne der Wachsamen Sorge wurden regelmäßige Treffen des Teams mit der Mutter geplant. Zu Beginn der Maßnahme waren diese 14-tägig, später monatlich. Insgesamt richtet sich die Anzahl und Regelmäßigkeit nach dem Prozessverlauf, mindestens allerdings zur regelmäßigen Reflexion vierteljährlich. Im vorliegenden Beispiel stand während der ersten Teambesprechung mit der Mutter vorrangig die Klärung des Auftrags im Fokus. Hier wurde festgelegt, dass die Maßnahme zum Schutz aller nur dann angenommen werden konnte, weil alle Beteiligten (Schule, Jugendamt, ambulanter Coach, Mutter selbst, eigenes Unterstützungssystem, weitere ambulante Hilfen) explizit dieser besonderen Vorgehensweise zustimmten. Ein solches Vorgehen ist für die Institution selbst, die eine solche Maßnahme durchführt, aus unserer Sicht zwingend notwendig. Mit einer solchen Zustimmung werden alle Beteiligten gemeinsam für das Vorgehen verantwortlich. Für auch weitere Anfragen beispielsweise der Schule oder des Jugendamtes wird damit sichtbar, dass die Einrichtung auch in ähn-

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lichen Fällen so vorgehen, also die beteiligten Systeme mit in die Prozessverantwortung nehmen wird. Durch diese Präsenz des Coaches und des gesamten Netzwerkes sowie die dadurch vermittelte Unterstützung und Hoffnung konnte sich die Mutter darauf einlassen, die Verantwortung für die Beziehungsgestaltung wieder zu übernehmen. Dieser fast banal anmutende Schritt ist mit der entscheidendste im Vorgehen: Mit diesem Ritual werden die Energie und der Fokus des Vorgehens gebündelt, die Mutter hat quasi eine innere Affirmation für sich entwickelt. Als ein erster Schritt der Verantwortungsübernahme wurde die Ankündigung der Mutter besprochen: Liebe Jennifer, in den letzten Monaten gab es viele schlimme Situationen in unserer Familie. Wir haben oft gestritten und uns auch körperlich weh getan. Ich möchte mich dafür bei Dir entschuldigen, es tut mir sehr leid. Ich kann diese Situation nicht mehr aushalten und akzeptieren. Ich habe mir Unterstützung geholt. Ich werde auch nicht mehr alleine mit dieser Situation sein. Ich werde mich regelmäßig mit den anwesenden Personen hier absprechen und weitere Schritte planen. So dass wir wieder friedlicher und freundlicher miteinander leben können. Ich tue dies, weil ich Dich sehr liebe! Und unsere Familie mir wichtig ist. Deine Mutter Erstes Treffen mit allen Beteiligten: das Unterstützertreffen

Konkret wurde ein Treffen in den Räumen der Einrichtung organisiert, zu dem das gesamte Helfer- und Unterstützungsnetzwerk (siehe oben) eingeladen wurde (Handlungsaspekt »Transparenz und Öffentlichkeit«). Auch Jennifer nahm die Einladung an. Die Moderation des Treffens erfolgte durch den Coach. Zunächst wurde von diesem und der Mutter die aktuelle Situation dargestellt. Alle Anwesenden wurden dann gefragt, ob sie bereit seien, der Mutter in ihrem Anliegen für eine bessere Beziehung zu ihrer Tochter zu helfen. Die konkreten Maßnahmen seien dann im Weiteren zu besprechen. Die Mutter erlebte durch diese klare Zustimmung aller Anwesenden deutlich sichtbar einen Energieschub. Auch der Coach kann auf eine solche Weise verbindlich und konstruktiv auf Zusagen dieser Art im Verlauf des Vorgehens zurückgreifen und sieht, wen er für was ansprechen kann. Der Rahmen des Vorgehens wird so sicherer und klarer. Anschließend wurden die nächsten Schritte geplant. Aufgrund der aktuellen Situation (Eskalation zu Hause, Schulbesuch kritisch, Leistung sehr kritisch, Verdacht auf massiven Drogenkonsum …) wurde

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neben dem Elterncoaching im Rahmen der ambulanten Hilfe ein zusätzliches Angebot der Schulsozialarbeiterin für Jennifer vereinbart, da diese einen guten Kontakt zu ihr hatte. Zudem wurden wöchentliche Rückmeldungen aller an der Hilfe beteiligten Personen in schriftlicher Form verabredet. Während dieses Treffens las die Mutter die im Vorfeld besprochene und formulierte Ankündigung (siehe oben) vor. Die Mutter erlebte deutlich unterstützende Rückmeldungen von allen Helferinnen, was sie besonders stärkte, da sie zuvor als zu nachgiebig kritisiert worden war. Die innere Stärkung dadurch war ihr geradezu körperlich anzusehen. Sie spürte die Botschaft, dass sie tatsächlich im weiteren Vorgehen nicht allein sein würde. Dies wiederum bestätigte sie in der Veränderung ihres Fokus, auf Veränderungen in der Beziehung zu schauen. Jennifer stimmte daraufhin zu, auf Gewalt in der Familie zu verzichten und die Schule zu besuchen. Formal gesehen konnte so ein Rahmen geschaffen werden, der eine Wachsame Sorge für Jennifer, ihre Mutter und das gesamte Vorgehen ermöglichte. Rückmeldung ins Unterstützerteam nach einiger Zeit

Die Mutter wurde hierzu wieder eingeladen. Der Coach berichtete über die bis dahin aktuelle Entwicklung. Die Eskalation zu Hause war deutlich zurückgegangen, es gab mehr »normale« Gespräche, gemeinsames Sitzen und Tun. Jennifer selbst konnte ihre Wahrnehmung beschreiben, dass es nicht um ein Versagen ihrerseits gehe, sondern dass alle gemeinsam nach Verbesserungen suchen würden. Anders beschrieben: Sie konnte so ihr Gesicht wahren und überlegte zum ersten Mal ernsthaft, ob der Wechsel der Schule eine gute Option sein könnte. Ihr vormaliger Widerstandskampf war sozusagen nicht mehr notwendig. Das führte auch zur Klärung des weiteren Vorgehens sowie des damit verbundenen Auftrags. Durch die Verbesserung der Situation zu Hause konnte nun von einem Wechsel auf den zweiten Grad der Wachsamen Sorge gesprochen werden. Damit rückte stärker Jennifers Verhalten in der Schule in den Fokus. Durch diese Art der Auftragsreflexion anhand der Stufen der Wachsamen Sorge während des Prozesses wird durch das Helfersystem ein transparentes und verbindliches Vorgehen in der ambulanten Maßnahme gewährleistet. Die Mutter war damit beteiligt am Prozess der Reflexion über die Maßnahme und deren Sinnhaftigkeit, nicht nur am Entwicklungsprozess selbst. In solchen Fällen achten wir generell auf das Geben von Erläuterungen zum Vorgehen und stellen die verschiedenen Haltungs- und Handlungsaspekte sowie die möglichen Methoden vor. Ein Vorgehen in dieser Art zeigt Wirkung im Erleben aller Beteiligten. Wachsame Sorge ist auf diese Art und Weise nicht nur eine pädagogische Hal-

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tung, sondern ein aktiver Prozess der Erziehungsverantwortlichen im Umgang miteinander und mit dem Prozess an sich. Die Intensität ist von der Notwendigkeit und der aktuellen Stufe der Aufmerksamkeit abhängig (siehe Lemme u. Körner in Kapitel 2.2, Abschnitt »Wachsame Sorge – wieder so ein sperriger Begriff?«) und wird in dieser Runde jeweils überprüft. Das Vorgehen an sich ist allerdings schon ein Vorgehen, welches zum ersten Grad der Wachsamen Sorge, der offenen Aufmerksamkeit gehört: regelmäßiger Austausch der Helfersysteme, Absprachen über Verbindlichkeit und den Zweck des gemeinsamen Vorgehens. Im Erleben der Mutter und des gesamten Helfersystems war für den Prozessverlauf eindeutig ein Vorgehen auf der dritten Stufe der Wachsamen Sorge (einseitige Maßnahmen) notwendig gewesen. Die Mutter war entschlossen gewesen, die Situation in ihrer Familie nicht mehr länger zu dulden und alles dafür zu tun, diese zu ändern – siehe oben. Die Wirkung eines wie beschriebenen Maßnahmenbeginns lässt sich aus unserer Erfahrung in folgenden Punkten zusammenfassen: •• Ein Bündniserleben ist in den meisten Fällen für die Klienten als hilfreiche Unterstützung erlebbar. •• Die Entschiedenheit der Eltern wird deutlich erhöht. •• Die Verbindlichkeit und Verantwortungsbeteiligung der beteiligten Stellen ist erhöht. •• Bei den Jugendlichen wird die Absicht der geplanten Interventionen deutlich und führt in der Regel zu einer Beruhigung. •• Die Eskalationswahrscheinlichkeit sinkt somit. •• Familiäre Beziehungen und Kooperation nehmen überwiegend zu. •• Unterstützung wird erlebbar. Oft berichten Eltern nach einem solchen Einstieg, dass die Situation zu Hause »schon besser« geworden sei. Nachdem die Maßnahme auf diese Weise also gesichert werden und starten konnte (Schutz für alle Beteiligten), begann das eigentliche Coaching für die Mutter im Sinne des Konzepts der Neuen Autorität. Coaching der Mutter

An dieser Stelle seien noch einmal die Maßnahmen zusammengefasst, die im Rahmen des Coachings im Prozess umgesetzt wurden: •• Durchführung von Gesten der Beziehung und Versöhnung; •• Anwesenheit einer Person zu den kritischen Zeiten; •• Rückmeldungen aller Beteiligten, was positiv verläuft; •• regelmäßige Absprachen;

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•• regelmäßige Teilnahme der Mutter an den Teamsitzungen, bei denen der Coach dem Unterstützersystem über den Verlauf der Maßnahmen berichtete. Danach Planung der nächsten Schritte. Bereits nach einigen Wochen konnte die Mutter in der Helferrunde berichten, dass die Eskalationen zu Hause deutlich weniger geworden waren. Die Situation in der Schule wurde allerdings als deutlich angespannter erlebt. Für die Beschreibung im Rahmen der Wachsamen Sorge bedeutet dies eine Mitteilung der Mutter an Jennifer, dass sie eine deutliche Verbesserung der Situation zu Hause wahrnimmt. Sie meldet der Tochter also das deutliche Bemühen um ein friedlicheres Zusammenleben zurück. Es haben auch einige gemeinsame Aktionen (Gesten) stattgefunden. Formal gesehen teilt die Mutter damit auch mit, dass für zu Hause die dritte Stufe der Wachsamen Sorge wieder verlassen werden könne. Allerdings werde sie sich mit den Helfern bezüglich der schulischen Situation absprechen, um Maßnahmen zu planen, die die schwierige Phase dort verbessern könnten. Jennifer wurde wieder zu diesem Treffen eingeladen. Wie ging es im Fallverlauf weiter? Der beschriebene Fall wurde über etwa ein Jahr durch eine ambulante Jugendhilfe begleitet. Die häusliche Situation verbesserte sich deutlich, die Eskalationen zwischen Jennifer und ihrer Mutter wurden weniger. Die schulische Situation hingegen entwickelte sich zunehmend kritisch, Jennifers wieder vorhandene Anwesenheit in der Schule machten durch die vorherigen Fehlzeiten ihre Lücken in den Hauptfächern deutlich, was für sie eine große Herausforderung darstellte. Bei verschiedenen Treffen in ihrer Peergroup reagierte Jennifer auf diese Wahrnehmung mit exzessivem und gesundheitlich gefährlichem Alkoholkonsum. Da sich vor Ort durch langjährige Vernetzung eine Streetwork-Initiative befand, konnte aber auch in dieser Verschlimmerungszeit eine Kontaktmöglichkeit bewahrt werden. Vom gesamten Helfersystem wurde Jennifer eine stark sorgende und anklagefreie Rückmeldung gegeben. Gleichzeitig war das Vertrauen zum Coach gewachsen. Mit diesem konnte Jennifer sich auf Überlegungen zur Schulbegleitung oder auch zu alternativem Schul­besuch einlassen. Sie wollte ihre Situation schließlich im Team des Coaches ansprechen, so wie sie das schon von ihrer Mutter erlebt hatte. Bei diesem Treffen äußerte Jennifer, dass sie merke, dass es ihr zu Hause besser gehe. Darüber sei sie sehr glücklich. In der Freizeit und der Schule gelinge es ihr aber nicht, und sie habe Angst, ihr Leben so nicht zu schaffen. Sie wolle Hilfe und wisse, dass dies einen vorübergehenden Ausstieg aus ihrem Alltag und die Zustimmung zu einer stationären Jugendhilfeunterbringung bedeuten würde. Jennifer berichtete, dass sie durch die regelmäßigen

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Treffen mit dem Team des Coaches immer mehr Vertrauen in die Empfehlungen und Ansichten von Erwachsenen finden konnte. Nach einiger Bedenkzeit konnte schließlich auch Jennifers Mutter einer Aufnahme in einer Jugendwohngruppe zustimmen.

Auswertung Neben der Entwicklung des Prozesses von Jennifer und ihrer Mutter sowie des gesamten Helfer- und Unterstützungssystems wollen wir mit der vorliegenden Beschreibung ein mehrschichtiges Vorgehen im Kontext der Wachsamen Sorge sichtbar machen. Durch die Integration der Eltern (hier: die Mutter) in das Team des Coaches wie auch in das gesamte helfende System wird es möglich, nicht nur in Wachsamer Sorge auf das Prozessgeschehen zu schauen und die Mutter diesbezüglich anzuleiten, sondern auch, gemeinsam die Situation und die Möglichkeiten des Coaches wie des gesamten Helfersystems zu betrachten. Dabei sind es die gleichen Personen, die jeweils auf das betroffene System schauen. Gleichwohl ändert sich der Fokus, sobald die Konstellation und die Thematik verändert werden. Die Klientinnen erleben eine Stärkung durch den Prozess des Coachings, so wie dies in vielen anderen ambulanten Maßnahmen auch der Fall sein kann. Dies leitet die Mutter an, in entsprechender Weise auf den Kontakt zu ihrer Tochter zu schauen und mit dieser gemeinsam für eine bessere Entwicklung der Beziehung Sorge zu tragen. Der Coach erlebt eine Stärkung und Unterstützung, da er in sein Team wie auch in das gesamte Unterstützungsnetzwerk eingebunden ist und die entstehenden Angebote und Möglichkeiten nutzen kann. Das erhöht deutlich seine Präsenz auf verschiedenen Dimensionen, vergrößert seine Einflussmöglichkeiten. Letztlich werden auch die Einrichtung und das Team gestärkt, da durch die Reflexion mit den Auftraggebern sowie mit der Teamleitung und dem Helfersystem eine Kooperations- und Vertrauensebene geschaffen wird, die sich für andere Prozesse ebenfalls nutzen lässt. Und der gesamte Prozessverlauf bekommt eine Wachsame Sorge, da sowohl die Mutter als auch der Coach ebenso wie das Team und das Helfersystem in regelmäßigen Abständen auf die Abläufe und Entwicklungen schauen und je nach Notwendigkeit Änderungen vornehmen. Dieser komplexe, auf mehreren Ebenen stattfindende Prozess der Wechselwirkung macht ein solches Vorgehen in der Regel sehr erfolgreich für alle Beteiligten und gewinnt eine besondere Qualität.

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Wachsam und achtsam in stationärer Jugendhilfe Sechs Fokusse der Wachsamen Sorge in der Jugendhilfe Wie im Eingangskapitel zur Jugendhilfe erwähnt, hat das Konzept Neue Autorität Auswirkungen auf alle Bereiche einer Einrichtung. Im Fokus steht die Pädagogik mit den Kindern und Jugendlichen, diese findet allerdings in einem größeren Zusammenhang statt. Lemme und Körner (2018) haben diesen mit sechs Fokussen ausführlich im Kontext der Wachsamen Sorge beschrieben. Die Kinder leben in einer Einrichtung, die ländlich oder städtisch, mit einem entsprechenden Außenbereich, mit oder ohne Tiere gestaltet sein kann. Das heißt, im Grunde gibt es (1) allgemeine Faktoren und Kontextbedingungen zu beachten. Dazu gehört natürlich auch die Art der Einrichtung (Erziehungsstelle, Kleinsteinrichtung, Wochengruppe, Jugendwohngruppe, spezielle Wohngruppe – heilpädagogisch, therapeutisch, geschlossen …) und damit verbunden die Personalausstattung sowie ergänzende Dienste. Diese äußeren Kriterien beeinflussen in einem erheblichen Maß die Belegung und somit auch den generellen Auftrag sowie den Pflegesatz. Die Kinder und Jugendlichen leben nicht allein, sie leben in der Regel in einer Gruppe, sodass das (2) Leben in dieser Gruppe die Entwicklung in nicht unerheblichem Maß beeinflusst. Insofern ist Pädagogik in der stationären Jugendhilfe immer auch eine Gruppenintervention, bzw. es gibt die Möglichkeit, in einem nicht unerheblichen Maß die Gruppe als solche zu nutzen, um Partizipation und demokratische Prozesse zu gestalten. Im Kern von Pädagogik steht natürlich die (3) Beziehungsgestaltung der Pädagoginnen zu den Kindern und Jugendlichen. Aus unserer eigenen Erfahrung aus der stationären Jugendhilfe und dem gemeinsamen Wohnen mit einer Gruppe war dies für die betroffenen Kinder so relevant und bedeutsam, dass sie sich noch Jahre später als Erwachsene regelmäßig bei uns gemeldet haben. Einer der einstmals jungen Männer stellte uns dabei sogar seine künftige Ehefrau vor. Die Sicherheit, die also mit dieser Unterbringung vermittelt wird, hat in einem hohen Maß nachhaltige Bedeutung. Die Beziehungsgestaltung ist stärker und intensiver möglich, wenn die Energie der Pädagoginnen sich auch deshalb darauf fokussieren kann, weil die (4) Gestaltung der Kooperation im Team gut und gegenseitig unterstützend gelingt. Wir wissen aus vielfacher Erfahrung und aus Untersuchungen heraus (siehe Kapitel 4.1), dass ein gutes Gelingen der Kooperation im Team die Pädagogik und die Präsenz des Einzelnen erheblich stärkt. Allerdings zeichnet sich mittlerweile in der Jugendhilfe in vielen Einrichtungen ein häufiger Wechsel des Personals ab, der im Verbund mit vielen Teilzeitstellen die Beziehungs-

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gestaltung zu den Kindern schwieriger macht. So haben die (5) Gestaltung der Arbeitsbedingungen des Teams sowie die Leitung und Führung einer Institution recht direkten Einfluss auf die dort vorherrschende Pädagogik und Stimmung wie Atmosphäre. Darüber hinaus erleben wir oft, dass die (6) Gestaltung von Kooperation und Beziehungen mit externen Kooperationspartnern großen Einfluss auf das Leben in der Einrichtung hat. Der Kontakt zu den Eltern und deren Kooperation erleichtern die Beziehungsgestaltung erheblich. Bei Störungen, Misstrauen und Konkurrenz zeigt sich dies in der Regel schnell im Verhalten des Kindes. Ähnliches gilt auch für die Kontakte mit den Schulen der Kinder und Jugendlichen. Gut gestaltete Kontakte zu den belegenden Jugendämtern, zu Nachbarn, Ärzten, Kinder- und Jugendpsychiatrien, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutinnen und anderen mehr erleichtern die Arbeit im Netzwerk erheblich. Diese sechs Fokusse 1. allgemeine Faktoren und Kontextbedingungen, 2. Leben in dieser Gruppe, 3. Beziehungsgestaltung der Pädagoginnen zu den Kindern und Jugendlichen 4. Gestaltung der Kooperation im Team, 5. Gestaltung der Arbeitsbedingungen des Teams sowie die Leitung und Führung einer Institution, 6. Gestaltung von Kooperation und Beziehungen mit externen Kooperationspartnern geben aus unserer Sicht eine grundlegende Orientierung in der Gestaltung der Wachsamen Sorge. In unserem Konzept orientieren wir uns an Haltungs- und Handlungsaspekten, welche die Präsenz der Pädagoginnen stärken können (und sollen) und somit günstigere Rahmenbedingungen für das Erleben von Sicherheit und daraus folgender Kooperation und individueller Entwicklung ermöglichen. Im Folgenden sollen diese Aspekte in Bezug auf die zuvor beschriebenen sechs Fokusse beschrieben werden. Haltungs- und Handlungsaspekte der Neuen Autorität unter sechs Fokussen Präsenz steht aus unserer Sicht im Zentrum des Modells und der weiteren Vorgehensweise. Sie wird durch das erlebte Handeln bzw. Ereignis genauso beeinflusst, wie die Präsenz der Pädagogin das Handeln und die Situation beeinflusst. Das erlebte Handeln und die eigene Präsenz stehen somit in einem zirkulären Wechselwirkungsverhältnis miteinander (siehe Abbildung 1).

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Abbildung 1: Logik im Konzept der Neuen Autorität (Lemme und Körner, 2018)

Die Präsenz gilt es durch entsprechende Vorgehensweisen zu stärken, eben die besagten Haltungsund Handlungsaspekte (siehe Ab­­bildung 2). Diese lassen sich auf den verschiedenen Ebenen der Wachsamen Sorge betrachten und ausgestalten. Die Umsetzung dieser so gestalteten Wachsamen Sorge, die letztlich die Präsenz der Handelnden stärkt, führt im günstigsten Fall zu der Wahrnehmung von Sicherheit (siehe Kapitel 1.6 zur Neurobiologie), zum Erleben Abbildung 2: Haltungs- und Handlungsaspekte eines sicheren Ortes. Dies macht der Neuen Autorität (Lemme u. Körner, 2018) ein Defensivverhalten der Kinder und Jugendlichen weniger notwendig und erhöht so die Möglichkeit von Entwicklung. So viel zur Theorie … Haltungs- und Handlungsaspekt: Haltung, Entscheidung, Werte Im Folgenden gehen wir auf Details des Vorgehens ein. Dabei fokussieren wir auf die Überlegungen, die bislang noch nicht diskutiert worden sind. Zur Vertiefung des Verständnisses des pädagogischen Handelns aus der Haltung des Konzepts heraus empfehlen wir Lemme und Körner (2018) sowie Omer und von Schlippe (2010, 2016) bzw. Omer (2015).

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Eine gemeinsame Haltung entwickeln

Der Ausgangspunkt ist eine möglichst gemeinsame Haltung aller Verantwortlichen auf allen Ebenen, die sich entschieden auf die eigene Präsenz bezieht. Diese Haltung gilt es aus unserer Sicht in der Arbeit mit Eltern, Pädagoginnen, Lehrern, Führungspersonen und anderen mehr zu entwickeln. Dabei basiert diese Haltung aus unserer Sicht auf folgenden Aussagen (vgl. Omer u. von Schlippe, 2010, 2016): •• Ich bin da! Ich bin an dir interessiert! Ich lasse mich nicht abschütteln! •• Ich bleibe da – auch wenn es schwierig wird! •• Ich bleibe nicht allein! •• Wir können dich nicht kontrollieren, aber in der Beharrlichkeit bleiben! •• Wir werden dich nicht zwingen und dir zugleich unseren Protest und unsere Sorge demonstrieren! Wir erleben eine grundlegende gemeinsame Haltung der Pädagogik und des Umgangs in einer Einrichtung als sehr förderlich für die Entwicklung auf allen Ebenen (Fokus 1). In manchen Einrichtungen, gerade auch in denen, die eine eigene Fortbildungsakademie betreiben, nehmen wir wahr, dass es sehr unterschiedliche und manchmal auch widersprüchliche Fortbildungen gibt. Dies verunsichert häufig die Pädagoginnen im Alltag, führt zu Kontroversen zwischen unterschiedlich fortgebildeten Teammitgliedern. Wir nehmen in Einrichtungen auch wahr, dass Fortbildungen je nach vorliegenden Diagnosen überlegt werden. Der Fokus liegt dann auf methodischen Umsetzungen, weniger auf eigenen Überzeugungen. Hingegen haben sich die Fortbildungen, die eine Einrichtung gemeinsam bei der Entwicklung einer Haltungs- und Vorgehensweise begleiten, als grundlegender, nachhaltiger und effektiver gezeigt. Dabei hängt diese Entscheidung in einem hohen Maße von der Unterstützung seitens der Leitung einer Einrichtung ab (Fokus 5). Je stärker die Leitung einer Institution eine gemeinsame Haltung anstrebt, diese selbst im Umgang miteinander zeigt und lebt, desto intensiver kann sich die Haltung in der Einrichtung etablieren und entwickeln. Haltungsbasierte Fortbildungen benötigen regelmäßige Reflexion und Überprüfung. So wird sich die Einrichtung mit den Dienst- und Unterstützerplänen auseinandersetzen. Einige Einrichtungen haben dazu sich gegenseitig unterstützende und untereinander austauschende Kooperationsgruppen gebildet, andere wiederum haben übergeordnete Strukturen entwickelt. Auch ein Team kann mit einer gemeinsamen Perspektive deutlich leichter in Fallbesprechungen den Fokus von Problemen hin zum Umgang damit richten (Fokus 4). Gemeinsame Haltungen ermöglichen eine gemeinsame Perspektive, die sich an konkreten Lösungsideen zur Stärkung

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der Präsenz des Einzelnen im Team zeigt und damit nicht primär auf das Verhalten des Kindes fokussiert. Insgesamt erleben wir eine deutlich lösungsfokussierte Ausrichtung als hilfreich, da unter dieser Perspektive Probleme als zu lösende Herausforderung gelten und die Frage nach den Verursachern wenig relevant erscheint. Auch mit den Kindern und Jugendlichen der Gruppe lässt sich auf diese Art und Weise an gemeinsamen Themen und Absprachen arbeiten. So können Gruppenabende dazu genutzt werden, gemeinsame Haltungen zu Respekt und gutem Miteinander zu finden (Fokus 2). Dies hat sich in vielen Einrichtungen als sehr konstruktiv und im Sinne demokratischer Erziehung dienlich gezeigt. Dabei ist es erforderlich, dass die Pädagoginnen gute Strategien der Gruppendiskussionen entwickelt haben. Zu Beginn einer solchen Vorgehensweise braucht es zunächst viel Geduld und Beharrlichkeit sowie eine starke Gesprächsführung. Die Haltung und die Sprache

Eine Haltung wie eingangs beschrieben benötigt eine dazugehörige Sprache – körpersprachlich und wortsprachlich sowie in Kongruenz miteinander. Wie wir aus dem Zusammenhang mit der Vermittlung sicherer Orte aus der Neurobiologie wissen (siehe Kapitel 1.6), ist die Art der Begegnung und Gestaltung ausschlaggebend dafür, wie sich jemand in einem sozialen Kontext verhält. Daher ist dieses Wissen grundlegend für alle Mitarbeitenden einschließlich der Führungskräfte. In vielen Einrichtungen erleben wir die Etablierung von vielen Regeln und die entsprechenden Auseinandersetzungen um deren Einhaltung. Dies ist nicht selten mit Strafen und Konsequenzen verbunden, die wiederum zu manchem Machtkampf einladen und letztlich zur allgemeinen Verunsicherung beitragen. Demgegenüber ist eine gewaltfreie Sprache geprägt von empathischem Verständnis der Bedürfnisse bei gleichzeitiger Klarheit und Transparenz im eigenen Vorgehen. Die Präsenz der Pädagoginnen steht dabei im Mittelpunkt. Eine gewaltfreie Sprache ist gekennzeichnet durch Ich-Aussagen, die über das eigene Erleben und die wertungsfreie Wahrnehmung eine Aussage treffen, betroffene Emotionen eigenverantwortlich benennen und dem oder der anderen mit einer Bitte, Frage oder auch den eigenen nächsten, unabhängigen Schritten begegnen. Die Gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg (2004, 2012) ist diesbezüglich die bekannteste Vorgehensweise. Auch eine Forderung wird eher erfüllt, wenn die Person, die diese aufstellt, zum einen von deren Sinnhaftigkeit überzeugt ist, die Forderung auf eine zugewandte und respektvolle Art und Weise zum Ausdruck bringt und die Sinnhaftigkeit verdeutlichen kann. Die Rückmeldung aus verschiedenen Einrichtungen wäh-

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rend der Implementierung des Konzepts der Neuen Autorität ist häufig, dass sich die Art und Weise der Kommunikation auf allen Ebenen konstruktiv verändert habe, was dann auch die Sprache der Mitarbeitenden und der Leitenden miteinbezieht. Dabei finden besonders Überlegungen Berücksichtigung, welche die Unterstellung bedürfnisorientierter Absicht als Perspektive sehen und anhand bündnistheoretischer Möglichkeiten vorgehen (siehe auch Grabbe, 2013; Lemme u. Körner, 2018). Werte-Dreieck der Neuen Autorität

Zusammenfassend können wir beschreiben, dass sich die Haltung im Konzept der Neuen Autorität in einem Werte-Dreieck bewegt, welches die Ecken »Beziehung/Kooperation«, »Gegenüber/Ordnung« und »Transparenz/Würde« hat (siehe Abbildung 3).

Abbildung 3: Das Werte-­Dreieck der Neuen Autorität (Lemme u. Körner, 2018)

Die Maßnahmen und Interventionen der Vorgehensweise auf allen Ebenen orientieren sich an eben diesen Eckpunkten. Die Schaffung eines Resonanzraumes der Begegnung hat einen beziehungs- und kooperationsgestaltenden Aspekt, der Angebote und Möglichkeiten schafft. Dieser bleibt beharrlich im Angebot enthalten, da es um die Wiederherstellung gemeinsamer Gestaltungsund Entwicklungselemente geht. Ohne Frage ist die kontinuierliche Einladung zur Kooperation ein entscheidender Aspekt im Konzept der Neuen Autorität. Da viele Jugendliche allerdings genau dazu nicht bereit sind, benötigt es manchmal kreative und beharrliche Varianten. Der Aspekt der Kooperation wird durch folgende Vorgehensweisen unterstützt: •• Verlässlichkeit und Verbindlichkeit im Kontakt, Zuverlässigkeit, unabhängig vom Verhalten des betroffenen Kindes; •• Angebote von Gesprächen, auch wenn diese nicht wahrgenommen werden; •• feste Einzelbetreuungszeiten, die verbindlich eingehalten werden;

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•• Angebote an Partizipation und Selbstbestimmung, individuelle Absprachen; •• Übersetzen der Werte der Eltern, der Kinder, der Mitarbeitenden, der Kolleginnen, Bedürfnisorientierung, Gewaltfreie Kommunikation; •• Empathie und Verstehen; •• sichtbare Haltung der Akzeptanz, des Mitleids und des Trostes; •• Vermittlung von Hoffnung und Einsatz von Humor; •• alle Aspekte der Wachsamen Sorge auf der ersten Stufe. Gleichzeitig benötigt der Prozess eine Person, die deutlich macht, welche Unterschiede zu beobachten, welche Werte und Grenzen möglicherweise verletzt sind. Wir nennen dies den Aspekt des Gegenübers bzw. der Klarheit. Da Hilflosigkeit zu eingeengten Sichtweisen führt, benötigt das Handeln im Konzept auch Aspekte, die Orientierung darstellen – gerade in stationären Gruppen. Im pädagogischen Handeln finden sich hier die Ideen des Widerstandes und des Protests. Insofern wird der Aspekt des Gegenübers und der Klarheit durch folgende Verhaltensweisen verdeutlicht: •• klare Benennung von Verhaltensweisen, auch von Schutzbedürfnissen und Gefahren; •• deutliche Ablehnung und Positionierung bei destruktiven Verhaltensweisen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Kontaktes, Trennung von Verhalten und Person, sichtbar in Ankündigungen; •• sichtbare und beharrliche Präsenz, Schweigende Gespräche und Sit-Ins; •• Ausdruck von Sorge über mögliche negative Entwicklungen und Konsequenzen, Beharrlichkeit durch regelmäßiges Feedback; •• eigene Positionen benennen, Einfordern von respektvollem Verhalten; •• klare Aussagen über die Annahme von Aufträgen und Grenzen der eigenen Tätigkeit. Die Schaffung von Kooperationsbeziehungen bewegt sich im Kontakt sowohl mit den Kindern wie auch den Mitarbeitenden häufig zwischen Kooperationsangeboten einerseits und der Schaffung von Klarheit im Vorgehen andererseits. Gerade in Zwangskontexten zeigt sich dies besonders deutlich. Daher wird ein dritter Aspekt benötigt, der quasi eine Verbindung zwischen den beiden Polen schafft. Wir nennen diesen Aspekt den Aspekt der Transparenz und Würde. Im pädagogischen Vorgehen ist hier vor allem das Schaffen von Transparenz und Öffentlichkeit in der Absicht des Vorgehens wichtig, sodass die Sinnhaftigkeit und die Ausrichtung der Vorschläge und Ideen nachvollziehbar werden: •• Rückmeldung eigener Wahrnehmungen und Beobachtungen durch die Pädagoginnen;

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•• Erläuterung von Sinn und Ausrichtung der Angebote; •• ausschließlich offene Absprachen, Partizipation auf allen Ebenen, Einsehen von Berichten; •• Transparenz über Vorgehen, Prozesse und Abläufe; •• würdevoller Umgang mit allen Beteiligten; •• Ankündigungen, Dokumentationen und Rückmeldungen, Feedback-­ Schleifen; •• Einladungen zu Fallbesprechungen, offene Übergaben, wo möglich; •• Hinweis auf Gefahren, Verletzungen, Enttäuschungen und Möglichkeiten. Diese Haltung drückt sich durch eine frühzeitige Wachsame Sorge aus. Als eine Möglichkeit der regelmäßigen Reflexion haben Lemme und Körner (2018, S. 112 f.) die Übung Wer hat wen im Blick? entwickelt.

 Übung 

Wer hat wen im Blick?

Die Mitarbeiterinnen nehmen sich zunächst ein Blatt Papier und setzen sich als Punkt in die Mitte des Blattes. Von diesem Mittelpunkt ausgehend zeichnen sie einen ca. 120-Grad-Winkel. Außerdem zeichnen sie von dem sie darstellenden Punkt aus parallel zum Blattrand eine gestrichelte Linie quer über das Blatt (siehe Vorlage). Im Blick Noch im Blick              Noch im Blick  Ich  Nicht im Blick Nach folgenden Fragen sollen nun die Mitarbeiterinnen die Kinder auf dem Blatt notieren (alternativ durch Figuren darstellen): •• Wie viel Kontakt hatte ich mit X in der letzten Woche? •• Womit, glaube ich, ist X gerade beschäftigt? •• Bin ich mir sicher über den Gemütszustand von X? Wie geht es X? •• Was genau fällt mir alles ein zu X? •• Wie ist gerade meine Beziehung zu X? Was fördert oder hindert mich? •• …

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Arbeitsfelder in der Praxis

Nach der Einzelarbeit tauscht sich das Team über die Ergebnisse aus. Nicht alle müssen alle Kinder und Jugendlichen im Blick haben. Sollte aber ein Kind bei niemandem im klaren Blick sein, dann ist es sinnvoll, aktiv zu werden und die Präsenz zu erhöhen.

Wachsame Sorge von Anfang an …

Erstaunlicherweise sind viele Teams in Jugendhilfeeinrichtungen oder Schulen bisweilen überrascht, wenn Kinder und Jugendliche genau das Verhalten zeigen, was dazu geführt hat, dass sie überhaupt dort sind. Wir nennen dies den Moment, wo sie ihre »Eintrittskarte« ziehen. Der Überraschung liegt dann möglicherweise die Annahme zugrunde, dass allein durch den Wechsel aus der Familie in die Wohngruppe oder in die Schule bzw. Klasse sich das Verhalten des betroffenen Kindes ändert. Dies ist sicherlich nicht auszuschließen, allerdings eher selten. Nach einer Zeit des Einlebens und der Gewöhnung prüfen die Kinder und Jugendlichen häufig die Reaktionen der jetzt verantwortlichen Erwachsenen. Dies geschieht umso eher, wenn sie sich nicht sicher erleben bzw. Uneinigkeit zwischen Eltern und Einrichtung besteht. Im Sinne der Wachsamen Sorge und der damit verbundenen Transparenz kann es entlastend und hilfreich sein, wenn die Kinder/Jugendlichen bereits mit ihrer Aufnahme oder im Rahmen des Aufnahmeprozesses erfahren, wie die Mitarbeiter/-innen bzw. die Einrichtung mit ihren Verhaltensneigungen umgehen werden. Dabei fokussiert sich diese Mitteilung darauf, was die entsprechenden Angebote zur Vermittlung von Schutz und Sicherheit diesbezüglich sind. Dies bezieht ausdrücklich Zusagen und Verbindlichkeiten sowie Angebote von Präsenz mit ein. Damit wird gerade zu Beginn ein engerer Kontakt geknüpft, also die Präsenz stärker gezeigt, als dies voraussichtlich im späteren Verlauf notwendig sein wird. Haltung auch nach außen vertreten

Die Hilfeplanung zwischen Trägern und belegenden Jugendämtern ist nicht selten von Unstimmigkeiten über die Gestaltung, die Inhalte und häufig auch die Transparenz geprägt. Viele Jugendämter vertreten noch ein Bild von hierarchischer Vorgehensweise im Umgang mit Trägern und übermitteln bei Aufnahme einen Auftrag, der von ihnen schon formuliert worden ist. Ein veränderter Umgang ist möglicherweise zunächst herausfordernd. Allerdings vertreten wir eine offensive Idee, auch die beteiligten Sozialarbeiterinnen des ASD regelmäßig und transparent einzubeziehen und auf diese Art und Weise die Vorteile und das bessere

Wachsame Sorge in der Jugendhilfe

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Gelingen sichtbar zu machen. Einige Einrichtungen führen ihre Fortbildungen zum Konzept der Neuen Autorität unter Teilnahme von Mitarbeiterinnen des hauptbelegenden Jugendamtes durch. Haltungs- und Handlungsaspekt: Selbstführung und Deeskalation Resonanzräume, Polyvagal-Theorie und was da wirkt …

Was in der Polyvagal-Theorie (siehe Kapitel 1.6) noch neurologisch erklärt ist, wird von dem Soziologen und Sozialwissenschaftler Hartmut Rosa als »Resonanz« bzw. Resonanzpädagogik bezeichnet. Er verbindet verschiedene Aspekte in seinen Forschungen miteinander, u. a. die Resonanz mit Raum und Zeit (Rosa u. Endres, 2016). Resonanz bedeutet aus seiner Sicht, mit einem Thema respektive einer Person in ein gegenseitig »schwingendes« Beziehungsverhältnis zu kommen. Dieses Beziehungsverhältnis beschreibt er als ein wechselseitiges geistiges Berühren und Berührtwerden, als eine »Anverwandlung« (Rosa u. Endres, 2016, S. 16). »Mit der Welt in Beziehung zu treten, heißt, sich Welt anzuverwandeln« (Rosa u. Endres, 2016, S. 15). Damit ist eine Begegnung gemeint, die sich wechselwirkungsbedingt beeinflusst und somit eine neue Qualität der Beziehung schafft. Die Aufgabe des Erziehungsverantwortlichen ist demnach, in dieser Form der Interaktion die Möglichkeit der Resonanz einzurichten. Um dies schaffen zu können, benötigt er die Überwindung von Zeitdruck und Distanz in der Beziehung und im Raum. Es müsse quasi »knistern« (Rosa u. Endres, 2016, S. 16). Wenn wir später die schweigenden und sorgenvollen wie auch entschiedenen methodischen Vorgehensweisen vom Schweigenden Gespräch und Sit-In beschreiben, dann ist dies die dafür notwendige Haltung. Eine Möglichkeit der Änderung in der Beziehung kann aus unserer Sicht nur durch diese Resonanz erzeugt werden, die dem Kind/Jugendlichen gegenüber die ganze Bedeutsamkeit und persönliche Relevanz der Beziehung spürbar und sichtbar werden lässt. Die dazu notwendige deeskalierende und sichernde Haltung wird in Kapitel 1.6 beschrieben. Ansonsten ist es Aufgabe der Pädagoginnen, ihre eigene internale Präsenz zu stabilisieren oder zu stärken, also in der eigenen Selbstführung zu bleiben. Dies wird im Konzept der Neuen Autorität mit zwei grundlegenden Strategien vermittelt. 1. Prinzip des Nicht-hineingezogen-Werdens (siehe auch Lemme u. Körner, 2018; Ollefs u. von Schlippe, 2009; Omer u. von Schlippe, 2016) Dabei wählen wir größtenteils vermutlich bekannte Strategien, die es möglich machen, sich nicht in einen Konflikt hineinziehen zu lassen, bzw. im Kontakt

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Arbeitsfelder in der Praxis

Sicherheit und Schutz oder mindestens das Angebot zu deeskalierender Kontaktaufnahme vermitteln: •• Sprechtempo und Lautstärke verringern, Intonation und Sprechmelodie anpassen; •• Tempo verzögern, Pausen einlegen; •• mehr Schweigen als Reden; •• entspannte, nichtaggressive, sichernde Körperhaltung; •• Etablierung und Nutzen von Mantras, Ritualen, besonderen Haltungen, Strategien der Achtsamkeit; •• Entspannungstechniken und emotional stabilisierende Techniken. Wir sehen es als notwendig an, dass Pädagoginnen in der Heimerziehung wissen, wie und woran Menschen sich persönlich sichern, damit sie die dazu notwendigen Rahmenbedingungen im Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen gestalten können. Als Merksatz lässt sich dazu folgender, vermutlich Gandhi zuzuschreibender Gedanke finden: »Du musst nicht gewinnen, sondern beharrlich sein!« 2. Prinzip des Aufschubs (siehe auch Omer u. von Schlippe, 2016) Eine Eskalation hat in der Regel einen Prozessverlauf, was bedeutet, dass es eine Zeit vor und nach einer Eskalation gibt. Unter heftigster Eskalation ist, wie schon erläutert, nur Schutz und vielleicht Deeskalation möglich. Ist das Ziel die Verbesserung der Beziehung und der Anstoß zu einer gemeinsamen günstigeren Entwicklung, dann ist die Wahrscheinlichkeit dazu deutlich erhöht, wenn alle Beteiligten bei den entsprechenden Interventionen beruhigt und entspannt sind. So können Erziehungsverantwortliche Folgendes in Konflikten sagen: »Ich habe gehört, was du gesagt hast. Ich bin ärgerlich (traurig, enttäuscht, wütend …) und werde mich zunächst beruhigen und nachdenken. Danach werde ich darauf zurückkommen.« Omer und von Schlippe ergänzen dies mit dem Gedanken: »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!« Alle Interventionen zur Stärkung der Präsenz der Erziehungsverantwortlichen sowie einer gewaltfreien Begegnung mit den kritischen Verhaltensweisen der Kinder/Jugendlichen finden zu einem Zeitpunkt statt, der frei von Eskalation oder aktiven Konflikten ist. Dies vermittelt gleich in mehrfacher Hinsicht Sicherheit. Zum einen ist der Zeitpunkt verzögert, was in der Regel zu einer Beruhigung der Beteiligten beiträgt und die Eskalationswahrscheinlichkeit an sich schon verringert. Zum anderen vermittelt die Verbindlichkeit, auf einen Vorfall zurückzukommen, eine Sicherheit im Umgang mit kritischen Ereignissen und zeigt Küm-

Wachsame Sorge in der Jugendhilfe

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mern und Zuverlässigkeit. Außerdem kann die Art und Weise, in der auf das Geschehen zurückgekommen wird, so vorbereitet werden, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit die Kooperationsbereitschaft der betroffenen Person erhöht wird. Haltungs- und Handlungsaspekt: Transparenz und Öffentlichkeit Veröffentlichen als Schutz

Wir verstehen eine transparente Haltung und die Einbeziehung der Öffentlichkeit als entscheidende Grundhaltungen im Konzept. Sobald ein Verhalten bzw. ein Ereignis, welches Grenzen anderer überschreitet, auch anderen gegenüber bekannt gemacht wird, wird die Wiederholungswahrscheinlichkeit in der Regel geringer. In der Gruppe bzw. der Einrichtung bedeutet dies, dass destruktive, negative Verhaltensweisen in der Gruppe, im Team und in der Einrichtung offen angesprochen werden. Insofern bildet die Öffentlichkeit einen Schutz und eine höhere Aufmerksamkeit. Wir sehen diese Haltung allerdings grundsätzlich als sinnvolles Vorgehen. Im Grunde genommen fängt dies schon bei der Überlegung an, alle Besprechungen in der Vorstellung durchzuführen, die betroffenen Kinder, Jugendlichen und ihre Familien könnten zuhören. Dabei schulen sich die Sprache und die Haltung, die durchaus kritisch sein können. Wie oben schon beschrieben, orientiert sich die Sprache an der Differenzierung von Verhalten, Person und Bedürfnis, z. B. Gewaltfreie Kommunikation (Rosenberg, 2004, 2012). 1. Offene Aussprache in der Gruppenbesprechung Die Gruppenbesprechung sehen wir als eine zentrale Möglichkeit der Prozessklärung in der Gruppe. Dazu werden dort von den Pädagoginnen sowohl die positiven als auch kritischen Verhaltensweisen angesprochen. Dies eröffnet die Möglichkeit der Partizipation der Kinder und Jugendlichen. Allerdings benötigt dies auch eine gute Kompetenz der Pädagoginnen in der Anleitung dieser Gruppengespräche, da erst ein entsprechender Reifegrad für die Gruppe entwickelt werden muss. 2. Übergaben in der Gruppe und die Frage der offenen  oder geschlossenen Büro­tür Sobald es Gespräche gibt, die hinter geschlossenen Türen oder in Heimlichkeit stattfinden, steigt in der Regel das Misstrauen. Die dann mitgeteilten Ergebnisse können möglicherweise nicht in der Entwicklung nachvollzogen werden. Einige Gruppen, die einen Personalwechsel im Laufe des Tages durchführen, sind dazu übergegangen, die allgemeine Übergabe bei offener Tür oder sogar

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Arbeitsfelder in der Praxis

im Wohnraum der Gruppe durchzuführen, sodass die Kinder mitbekommen, was beobachtet worden ist. Eine andere Gruppe schreibt das Übergabebuch häufig in Anwesenheit der Gruppe am Abend und fragt auch um deren Eindrücke. Auf diese Weise kann eine lebendige, transparente Auseinandersetzung über die Abläufe in der Gruppe umgesetzt werden. 3. Offenes Team, Einladung zu Fallbesprechungen Aus der Idee des »reflektierenden Teams« ist die Überlegung entstanden, Kinder und Jugendliche sowie ggf. ihre Eltern zu Fallbesprechungen einzuladen. Eine Eltern-Kind-Einrichtung nannte dieses Vorgehen »gläsernes Team«. Die Betroffenen werden dann in der Regel mit einer Begleitperson außerhalb des Teamkreises gesetzt und können zunächst zuhören, wie das Team über die aktuelle Situation sowie die nächsten Schritte und Optionen nachdenkt. Wieder wird in der Sprache Verhalten, Person und Bedürfnis differenziert und bewusst auch auf die Stärken und positiv bewerteten Aussagen geachtet. Die Zeit des Gesprächs darf nicht zu lange dauern und benötigt eine verständliche, einfache Sprache. Hingegen muss das Gespräch nicht vorbereitet werden, soll also kein Rollenspiel sein, sondern authentisch die Haltung und möglicherweise die Vielstimmigkeit des Teams darstellen. Nach diesen Überlegungen werden die Kinder bzw. ihre Eltern gefragt, was sie gehört oder wahrgenommen haben und ob sie dazu etwas sagen möchten. Wiederholt haben wir daraufhin Rückmeldungen wie »So viele Gedanken macht ihr euch?« oder »Dass ihr so denkt, habe ich nicht gewusst« erhalten. Manchmal gibt es auch keine direkten Reaktionen, in der Regel viel Nachdenklichkeit, selten abwehrende Kommentare. Dabei wird inhaltlich darauf geachtet, dass das Team darüber nachdenkt, was die eigenen Möglichkeiten des Handelns sind. Es werden keine Verordnungen, Sanktionen oder Beschlüsse gefasst. Gegebenenfalls können auch Fragen an die Betroffenen gerichtet werden. 4. Alle Helferinnentreffen als offene Angebote auch für Eltern und Kinder Eine Mutter berichtete, dass sie zu einem Hilfeplangespräch kommen sollte. Das Gleiche galt auch für ihre Tochter, die in einer Verselbstständigungsgruppe einer Einrichtung lebte. Zuvor wollten sich die Fachkräfte der Einrichtung mit der Sozialarbeiterin des belegenden Jugendamtes zusammensetzen. Die Mutter berichtete von ihrer Sorge, allein einer großen Front gegenübersitzen zu müssen. Sie bat um Begleitung. Dieses Beispiel zeigt, was derartige geschlossene Vorgehensweisen an Misstrauen erzeugen können. Aus unserer Sicht gehört zum Konzept der Neuen Autorität eine Grundhaltung von Offenheit, die es ermöglicht, mit allen Beteiligten gemäß dem Werte-Dreieck (Lemme u. Körner, 2018) zu sprechen. Voraussetzung ist dazu die Bereitschaft der Helferinnen und

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Sozialarbeiter, aus einer horizontalen Autoritätsperspektive zu sprechen und den Status der »Besserwissenden« und vermeintlich Kompetenteren (hierarchische Autoritätsperspektive) aufzugeben. Das Ziel ist dann das gemeinsame Finden einer Lösung für eine Besserung der Beziehungsmuster, wobei die Eltern und selbst die Jugendlichen als Unterstützer für dieses Vorhaben gesehen werden, ihnen die entsprechende gute Absicht unterstellt wird. Das Vorgehen könnte ein offenes Gespräch sein oder wie oben beschrieben einen reflektierenden Dialog ermöglichen. Auch entsprechende Berichte und Dokumentationen sowie Akten sollten nur in besonderen schutzbedingten Zusammenhängen zurückgehalten werden. 5. Offenes und wertschätzendes Feedback als Einrichtungskultur In dieser Art und Weise kann auch eine Feedbackkultur der Wertschätzung in einer Einrichtung entwickelt werden. Die Leitung kann ihre Schritte und Überlegungen, ihr Vorgehen den Mitarbeitenden sichtbar machen, diese zur Mitentwicklung anregen. Ein Beispiel: Die neue Leitung einer Einrichtung wollte diese am Konzept der Neuen Autorität weiterentwickeln. Dabei sollten das Leitungsteam systemisch orientiert und mit Bereichskompetenzen ausgestattet, zudem die Verantwortung der Gruppenleiter gestärkt und insgesamt eine Kultur von Mitwirkungsmöglichkeiten gestaltet werden. Da die Mitarbeiterinnen zuvor eher eine hierarchische Führung erlebt hatten, begegneten die Einrichtungsleiter der anfänglichen Skepsis mit einer wöchentlichen Rückmeldung an die Teams, welche Aktivitäten sie in der vergangenen Woche umgesetzt hatten und welche Überlegungen für die kommende Woche angedacht waren. Zudem besuchten sie alle Teams und sagten zu, dies regelmäßig in größeren Abständen machen zu wollen. Nach und nach konnte sich so eine Kultur der Mitwirkung der Mitarbeitenden entwickeln. Dabei etablierte es sich, dass die Bereichsleitungskräfte auch spontan am Alltagsleben teilnahmen und in den Teambesprechungen kritische wie positive Beobachtungen reflektierten. Diese Feedbackkultur konnte auch bei den Mitarbeitenden untereinander etabliert werden.

Auch wenn dieses Vorgehen zunächst einen zeitlichen wie energetischen Einsatz benötigt, entwickelt sich darüber oft eine Kultur, die pädagogische Auswirkungen hat und manche spätere Konfliktbearbeitung vorwegnimmt. Erhöhung der Verbindlichkeit durch Transparenz

Die Vermittlung einer transparenten Grundhaltung schafft neben der Funktion von Schutz und Deeskalation auch eine höhere Verbindlichkeit. In die-

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Arbeitsfelder in der Praxis

sem Zusammenhang ist die Methode der Ankündigung einzuordnen. Eine Ankündigung teilt die Absicht und die nächsten Schritte des weiteren Vorgehens mit und schafft Angebote zur besseren Beziehung. Mehr zu diesem Thema findet sich im Kapitel 3.1 »Das Announcement«, außerdem bei Lemme und Körner (2018) sowie Omer und von Schlippe (2016). In jedem Fall erhöht sich die Selbstverpflichtung derjenigen, die die Ankündigung vorgetragen haben. Bekanntmachen des eigenen Vorgehens und Gestaltung einer öffentlichen Meinung

Soziale Regeln und moralische Normen entwickeln sich in der Regel im Sinne eines Kulturgeschehens. Insofern ist die dritte Funktion und Notwendigkeit im Umgang mit der Transparenz der Einsatz und die Etablierung entsprechender Regeln, Normen und Werte, die Etablierung einer öffentlichen Meinung zum sinnvollen Umgang miteinander. Damit werden die Pädagoginnen zum Modell für die Kinder und Jugendlichen, die sie betreuen, und die Einrichtungsleitung in der Art ihres Vorgehens Modell für die Kommunikation in den einzelnen Gruppen. Dies sollte als beharrlicher Prozess verstanden werden und bedeutet auch, dass zu einem destruktiven Verhalten eine klare öffentliche Position bezogen wird. Die Vorgehensweise bezeichnen wir gern als Feedback-Schleife. Damit ist gemeint, dass das Etablieren einer Regel oder eines Wertes regelmäßige Rückmeldung benötigt. Nach einer festgelegten Zeit werden die gemachten Beobachtungen positiver wie negativer Art im Umgang mit der Absprache zurückgemeldet, an die Einhaltung erinnert und ggf. jeweils neu besprochen. Dabei werden die betroffenen Personen jeweils auch angefragt, was die Verantwortlichen tun könnten, um sie zu unterstützen, die Absprache einhalten zu können. Dies kann ein einzelnes Feedback an ein Kind wie an eine Gruppe ebenso sein wie an einzelne Mitarbeiterinnen oder ein Team. Diese Vorgehensweise klärt Verantwortlichkeiten, zeigt deutliche Präsenz und Entschiedenheit und begegnet allen auf einer Ebene von Gleichwürdigkeit. Haltungs- und Handlungsaspekt: Unterstützung und Netzwerke Aus einer systemischen Perspektive heraus stehen wir mit allen Personen und Zusammenhängen, mit denen wir zu tun haben, in steter Wechselwirkung. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir die Auseinandersetzung als eine positive oder eine negative wahrnehmen. Im Gegenteil wissen wir, dass wir gerade aus Fehlern und kritischen Auseinandersetzungen häufig sogar mehr lernen als aus erfolgreichem Handeln. Insofern kann der Begriff der Unterstützung aus

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unserer Sicht sowohl auf kritische wie auf erwünschte Auseinandersetzungen bezogen werden. Potenzielle Unterstützer sind also dementsprechend die Personen, mit denen wir zu tun haben. Mit einer solchen Betrachtung hebt sich letztlich ein Freund-Feind-Schema auf, und die »gute Absicht« wird fokussiert, auch wenn die Wirkung möglicherweise parafunktional ist (siehe auch Lemme u. Körner, 2018). Sicherlich wählt jeder für bestimmte Unterstützungen eher die Personen aus, denen er oder sie mehr vertraut als anderen. Dennoch kann auch der Verzicht auf Boykott schon als unterstützende Maßnahme der Veränderung gesehen werden. Kooperation in Teams

Wir gehen davon aus, dass eine gelingende gegenseitige Unterstützung zunächst den Dialog untereinander benötigt. Das bedeutet im Alltag die Einrichtung von Gesprächsräumen, in denen konstruktiv die Reflexion über eigenes Erleben und die Wahrnehmung von Verhalten und Personen sowie die Selbstreflexion des eigenen Handelns möglich sind. Dies stellt einen anderen Fokus dar, als vorrangig über das Verhalten der Kinder bzw. die Geschichte der Zusammenhänge oder Diagnosen zu sprechen. Erst unter dem eigenen Eingeständnis von Fehlern und erlebter Hilflosigkeit ist es möglich, sich konstruktiv gegenseitige Unterstützung anbieten zu können. Daraus resultierend können gemeinsame Vorgehensweisen entstehen, die Pädagoginnen sonst allein durchgeführt hätten. Die Kultur eines Teams entsteht dann, wenn auf Unterstützung zurückgegriffen, in sichtbarer Form in einem »Wir« gesprochen wird. Unterstützung, die erst dann wirksam wird, wenn sie unumgänglich ist, wird in der Regel nicht als hilfreiche Unterstützung, sondern als zwingend notwendige Maßnahme verstanden, weil die Lösung der Situation allein nicht mehr gelingt. Offene Fallbesprechungen, gegenseitige Hospitationen und persönliche Reflexion des eigenen Handelns wie auch konstruktives Feedback untereinander bilden die Basis dieser Vorgehensweisen. In einer Einrichtung wurde z. B. angeregt, dass die Teams untereinander zwischenzeitlich Dienste austauschten und sich dann Rückmeldungen über die Wahrnehmungen gaben. Kooperation mit Eltern

Im Sinne des Unterstützer-Konzepts, welches wir hier zugrunde legen, sind Pädagogen zunächst und bis auf Weiteres die Unterstützer für die Wiederherstellung der Beziehung zu den Eltern. Die Eltern wiederum werden als mögliche Unterstützer für den pädagogischen Prozess der professionellen Kräfte gesehen. Diese Grundhaltung gilt für uns sowohl in ambulanten wie in stationären Kontexten. Während die Intensität dieser Beziehung zu Eltern sicherlich

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Arbeitsfelder in der Praxis

überprüft und begleitet werden muss, schützt diese Haltung vor der Annahme, dass Pädagoginnen die besseren Eltern bzw. besseren Erzieherinnen seien. Wir unterstellen Eltern so lange eine den Kindern gegenüber wohlwollende Absicht, bis das Gegenteil bewiesen ist (siehe auch Steiner, 2016). Nicht selten passiert es, dass Eltern die Schuld an der Situation um ihre Kinder und deren Verhaltensweisen gegeben werden. Dies führt dann dazu, dass Eltern im Prozess nicht als gleichwertige Partner wahrgenommen werden, sogar Konkurrenz entsteht und damit Konflikte belebt werden. So randalierte z. B. ein in einer Einrichtung untergebrachter Jugendlicher in seinem dortigen Zimmer so lange, bis er entlassen wurde und wieder nach Hause zu seinen Eltern zurückkehrte, die seit einiger Zeit nicht mehr hinter der Unterbringung standen. In der Jugendhilfe erleben wir häufig Schicksale, in denen Kinder und Jugendliche viel Leid durch das Verhalten ihrer Eltern erleben mussten. Der Schutz vor der Wiederholung und dem Wiedererleben traumatischer Bedingungen geht selbstverständlich vor allem anderen. Es geht in der hier beschriebenen Haltung nicht vorrangig darum, dass Kinder und Jugendliche Kontakt zu ihren Eltern haben müssen. Wohl aber geht es darum, dass sie Kontakt haben könnten und dies von den verantwortlichen Pädagoginnen abgesichert und begleitet wird. So werden diese zu Moderatoren eines Prozesses der Entwicklung, eben zu Unterstützern der Beziehungsklärung, nicht aber zu Gegnern oder Konkurrenten. Und diese Beziehungsklärung ist nicht automatisch abhängig von der Anwesenheit und der realen Auseinandersetzung mit den Eltern. Aus der Bindungsforschung wissen wir, dass sich Jugendliche und junge Erwachsene mit ihrer Herkunft beschäftigen, egal wie lange sie bei den Eltern gelebt haben. Insofern helfen folgende Vorgehensweisen im Sinne des Konzepts der Neuen Autorität, die Kooperation der Beteiligten zu steigern: •• frühzeitige Einladungen zur Beziehungsgestaltung, •• klar geregelte, regelmäßige und verbindliche Kontakte, •• Einladungen zur Teilnahme am Alltag der Pädagogik in Einrichtungen der Jugendhilfe, Hospitationen, •• Einladungen zur Teilnahme an Fallbesprechungen der Teams, ggf. Erstellung von Videos, •• Transparenz bei allen Prozessen, •• größtmögliche Partizipation, •• explizit klare Auftragsklärung und Aufgabenverteilung. Die Auswahl von Unterstützern

Wir suchen Unterstützer sowohl für die Pädagoginnen als auch für das betroffene Kind, die sich in besonderer Weise um das Kind kümmern können. Die Benennung

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einer Person, die im Besonderen die Belange des Kindes im Fokus behält, schützt vor der Gefahr, in kritischen und eskalierenden Situationen die Bedürfnisse der betroffenen Kinder und Jugendlichen vorübergehend aus den Augen zu verlieren. Unterstützungskreise werden im günstigsten Fall früh gebildet, da sie dann schon eingerichtet sind, wenn sie benötigt werden. So können in der stationären Jugendhilfe mögliche Unterstützer schon mit der Aufnahme oder kurz danach gesammelt und zusammengetragen werden. Die Kooperation verschiedener Systeme benötigt eine Übung und Absprache zu Zeiten, die (noch) nicht belastet sind. Kinder und Jugendliche als Unterstützer verstehen

Die (Peer-)Gruppe der Kinder und Jugendlichen selbst ist eine zentrale Bezugsgröße für diese. So richtet sich deren Verhalten in der Regel stark an den kontextuellen Gegebenheiten in der Wohngruppe oder der Freundschaftsgruppe aus. Die Zugehörigkeit und auch Anpassung spielen daher eine große Rolle. Ebenfalls entstehen Beschämung und Abwertung sowie Ausgrenzung und Mobbing gerade eben in diesem Bezugssystem. Unter dem weiter oben aufgeführten Haltungsund Handlungsaspekt »Transparenz und Öffentlichkeit« wurden Strategien genannt, wie hier insbesondere Gruppenbesprechungen genutzt werden können. Vorstellbar bleibt auch, dass bei einer größeren Sorge die gesamte Gruppe gebeten wird, nach einem betroffenen Kind in besonderer Weise zu schauen. Vom Krisenmodus zur Handlungskontrolle

Netzwerke, die bereits gestaltet und entwickelt sind, können schon unter weniger bzw. gar nicht belasteten Situationen auf ihre Wirksamkeit überprüft werden. Dies bedeutet, dass sie dann bei Eintreten besonderer bzw. kritischer Situationen sofort wirksam werden und Möglichkeiten des schnellen Handelns bieten können. Die Gestaltung von notwendigen Netzwerken erst unter Konfliktbedingungen bedeutet eine deutliche Zeitverzögerung und einen erheblich größeren Aufwand. Gerade in Jugendhilfe und Schule erleben wir nicht selten, dass Klärungsgespräche und Netzwerkbildung erst dann geschehen, wenn eine Krise bereits eingetreten ist. Die entsprechend frühzeitig eingerichtete Kooperation in entsprechenden Netzwerken ist, sofern diese funktional und zielführend sind, eine Investition von Zeit, die sich im Laufe der Kooperation als sinnvoll und effektiv herausstellt. Haltungs- und Handlungsaspekt: Protest, Gegenüber, Widerstand Im Sinne des Konzepts der Wachsamen Sorge beginnt der Protest nicht erst in dem Moment, wo Kinder und Jugendliche sich so unangemessen verhalten,

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Arbeitsfelder in der Praxis

dass Erziehungsverantwortliche intervenieren müssen, sondern bereits zu einem Zeitpunkt, wo sie lernen, was angemessen ist oder nicht. Dort, wo Kinder von ihren erwachsenen Bezugspersonen eine Zustimmung oder eine Ablehnung in Sprache, Mimik oder Gestik bekommen, sind diese Erwachsenen den Kindern ein Gegenüber, an dem sich die Kinder orientieren können. Insofern haben wir diesen Handlungsaspekt im Zentrum mit »Gegenüber« beschrieben. Kommt es im Verlaufe eines Prozesses zu Verhaltensweisen und Ereignissen, die einen intensiveren Eingriff benötigen, ist es erforderlich, die Präsenz zu intensivieren, die »Regler der Präsenzdimensionen« (Lemme u. Körner, 2018, S. 119) höher zu fahren. Dies kann dann zu Maßnahmen des sorgenvollen Protests und kon­ struktiven Widerstands führen, wie sie auch hier im Buch (siehe z. B. Kapitel 3.1 »Das Announcement« und 3.2 »Fokus Sit-In«) beschrieben werden (vgl. zudem u. a. Lemme u. Körner, 2016a, 2016b, 2018; Omer u. von Schlippe, 2016). So ist ein Protest bzw. gewaltloser Widerstand nicht allein ein Widerstand gegen ein Geschehen und entsprechende Verhaltensweisen, sondern er drückt die Entschiedenheit der Pädagoginnen aus, intensiv in die Klärung der Beziehung zu gehen und sorgenvoll auszudrücken, dass sie sich verpflichtet erleben, die in Gefahr befindliche Beziehung schützen und verbessern zu wollen. Es ist somit zugleich die Anerkennung der eigenen Ohnmacht, durch machtvolle Maßnahmen keine Änderung beim Kind oder Jugendlichen erreichen zu können, sondern sich durch sorgenvolles Schweigen wieder in den ausdrücklichen Wunsch nach besserem Kontakt zu bewegen (Lemme u. Körner, 2018). An dieser Stelle führen wir die Maßnahmen nicht weiter aus und verweisen auf die bereits genannten Publikationen und die notwendigen Grundlagen (siehe Kapitel 1.6). Der gewaltlose Widerstand benötigt ein Vorgehen, welches die Möglichkeit schafft, sowohl die Pädagogen in ihrer Präsenz zu stärken als auch gleichzeitig ihre Sorge auszudrücken und die Beziehung zu fokussieren und dennoch auch einen deutlichen Widerstand gegen das gezeigte destruktive Verhalten des Kindes zu setzen. Allen Maßnahmen ist gleich, dass sie keinen Zwang und keine Drohungen enthalten, sondern ausgerichtet sind auf die Verbesserung der Beziehung. Die hier beschriebenen Maßnahmen und Interventionen sind optional und letztlich aus unserer Sicht prozesshaft zu verstehen. Einige Vorgehensweisen sind stärker ritualisiert und entfalten dadurch ihre besondere Kraft (z. B. Ankündigung, Sit-In, Schweigendes Gespräch), letztlich bleiben diese wie auch andere Interventionen je nach Kontext und Situation anzupassen. Aus der vorstehend beschriebenen Haltung heraus können sich noch weitere, bisher nicht beschriebene Vorgehensweisen entwickeln.

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Präsenz und Beharrlichkeit

Das Grundprinzip dieser Vorgehensweise ist letztlich die Erhöhung der Präsenz der Eltern oder auch anderer Erziehungsverantwortlicher, um ein deutliches Gegenüber zum kritischen Verhalten zu schaffen sowie zugleich den Willen zur Verbesserung der Beziehung und zur Kooperation zu zeigen. Dies ist nicht mit einmaligen Maßnahmen möglich, zumal auch die kritische Entwicklung in der Regel zuvor einen längeren Prozess gehabt hat. Insofern ist es wichtig, dass sich Eltern und ihre Coaches auf einen Prozess der Beharrlichkeit und Wiederholung einstellen. Ankündigung

Ausgehend von der Grundhaltung und dem Handlungsaspekt der Transparenz sowie der Erhöhung der intentionalen Präsenz benötigen die geplanten Vorgehensweisen eine entsprechende Ankündigung. Im Grunde genommen ist die Ankündigung ein Ritual, welches den Beginn der Maßnahmen der Erziehungsverantwortlichen annonciert, wenn diese entschieden haben, einseitige Maßnahmen im Sinne der Wachsamen Sorge durchzuführen (siehe Kapitel 3.1 »Das Announcement«; Lemme u. Körner, 2018; Omer u. von Schlippe, 2016). Dabei wird die Ankündigung durchaus in kleineren Zusammenhängen genutzt, um erste oder auch einzelne Schritte anzukündigen. Dokumentation

In der Dokumentation werden die weiteren Beobachtungen niedergeschrieben: zum einen das kritische Verhalten, wenn es auftaucht, zum anderen die Situationen, in denen das kritische Verhalten erwartet worden ist, aber nicht auftauchte, und drittens alle prosozialen Verhaltensweisen. Diese Dokumentation wird regelmäßig allen Unterstützern zugänglich gemacht, somit auch dem Kind bzw. dem Jugendlichen selbst. Mit dieser Maßnahme soll neben der Transparenz und der beharrlichen Rückmeldung auch die wohlwollende Beobachtung verbunden werden, indem das positive Verhalten mit fokussiert wird. Die Dokumentation sollte, bevor sie eingesetzt wird, angekündigt werden. Telefonkette

Bei einer Telefonkette werden zuvor Telefonnummern aus dem Umfeld des Kindes gesammelt. Dies können Telefonnummern von Freunden und Bekannten sein, durchaus auch Nummern von Eltern der Freundinnen. Treten nun Situationen ein, in denen Erziehungsverantwortlichen deutlich wird, dass Schutz notwendig ist, wie z. B. bei massivem Alkoholkonsum, Drogenmissbrauch,

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Arbeitsfelder in der Praxis

Prostitution oder ähnlichen gefährlichen Zusammenhängen, werden diese Telefonnummern alle nacheinander von einem Unterstützerkreis angerufen. Meistens ist die Vorgehensweise so, dass zunächst an den Stellen angerufen wird, an denen die Jugendlichen am wenigsten vermutet werden. Die Botschaft der Anrufenden dabei ist, dass die Eltern in Sorge sind und das Kind sich bei diesen melden soll. Nachgehen und Aufsuchen

Wenn sich das Kind in einem kritischen Umfeld befindet, kann es sinnvoll sein, dass die Erziehungsverantwortlichen, am besten mit Unterstützern, den vermuteten Aufenthaltsort aufsuchen. Sie können sich dort den Freunden des Kindes vorstellen und dieses möglicherweise bitten, nach Hause zurückzukehren, sofern sie es antreffen. Dabei können sie durchaus eine Weile nachhaltig verweilen. Ein 14-jähriges Mädchen war z. B. von zu Hause fortgelaufen und befand sich seit einigen Tagen bei ihrem 20-jährigen Freund in dessen Wohnung. Die Eltern suchten sich Unterstützer und verblieben beharrlich über zwei Stunden auf der Straße vor der Wohnung. Ein anderes Beispiel: Das Team einer Mädchenwohngruppe suchte zwei Jugendliche, die wiederholt am Abend nicht in die Wohngruppe zurückgekehrt waren. Die Mitarbeiterinnen hatten eine Idee, dass sich die beiden in einem nahe gelegenen Park aufhalten könnten. Sie fanden sie allerdings dort nicht vor. Der Park war sehr belebt. Die Mitarbeiterinnen hatten Fotos der beiden mitgenommen und fragten etliche anwesende Personen. Sie hinterließen eine Rufnummer der Gruppe, damit sich diejenigen, die die Mädchen sehen würden, dort melden könnten. Das Nachgehen und Aufsuchen erhöht die Präsenz der Erziehungsverantwortlichen. Dabei wirkt dies auch, wenn die gesuchten Personen nicht angetroffen werden. Die Botschaft der Aufsuchenden ist keine strafende, sondern eine suchende und sorgenvolle: Wir sind in Sorge! Bitte teilt X mit, dass wir hoffen, dass er/sie sich bei uns meldet! Schweigender Widerstand

Wenn wir von Schweigendem Protest sprechen, dann geht es uns wie vorstehend beschrieben um den Ausdruck von mehr Nähe und Kontakt, um die Schaffung eines Resonanzraumes, der Begegnung wieder möglicher macht. So gedacht und verstanden, wird das Schweigen eine Art Beziehungsangebot. Damit wird es weit mehr zu einer Maßnahme der Begegnung und nicht zu einer schweren und komplexen Maßnahme, die nur in den kritischsten und schwierigsten Situationen angewendet wird. Sie ist nicht Waffe, sondern Angebot zur Kooperation. Und das Schweigen kann sich in unterschiedlicher Qualität und Intensität ausdrücken.

Wachsame Sorge in der Jugendhilfe

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Wir verstehen das Vorgehen als prozesshaft, wie auch schon im Zusammenhang mit Wachsamer Sorge beschrieben, und differenzieren: •• Besuche: Die Pädagoginnen gehen regelmäßig dorthin, wo die Kinder und Jugendlichen sich aufhalten, und schauen nach ihnen. •• Ausrufezeichen: Zentrale, knappe Ansagen bei kritischem Verhalten werden mit einem kurzen Schweigen davor und danach nachhaltig betont. •• Schweigendes Gespräch: Pädagoginnen sagen in einer kritischen Situation zu einem Kind/Jugendlichen: »Ich sorge mich um dich und würde gern wieder besser mit dir in Beziehung kommen. Das geht allerdings nur, wenn du auch willst. Dass wir das wollen, zeige ich dir durch mein Hiersein und Schweigen. Wenn du magst, kannst du gern Vorschläge für Verbesserungen machen« (nach Lemme u. Körner, 2018). Anschließend schweigen sie bis zu drei Minuten. •• Sit-In: Die Variationen hier sind mittlerweile groß. Im Kern geht es um ein Schweigen von mehr als zehn Minuten Länge. Zu Beginn wird ebenfalls ein Einstieg formuliert, wie beim Schweigenden Gespräch. Mehr dazu im Kapitel 3.2 »Fokus Sit-In« in diesem Buch. Weitere Ideen und Möglichkeiten finden sich außerdem bei Lemme und Körner (2018) sowie Omer und von Schlippe (2016). Haltungs- und Handlungsaspekt: Gesten der Beziehung und der Verzeihung/Versöhnung, Wiedergutmachung Beziehungsgesten

Ausgehend von der Haltung, dass die Pädagogen sich auch für die Angebote in der Beziehung verantwortlich erklären, benötigen betroffene Kinder und Jugendliche Gesten, die ihnen sichtbar machen, dass die jetzt verantwortlichen Erwachsenen es ernst und gut mit ihnen meinen. Diese Gesten können vielfältiger Art sein, wir gehen allerdings nur von geringem materiellem Einsatz aus. Möglichkeiten sind z. B. das zwischenzeitliche Angebot an Zeit, ein gemeinsames Hinsetzen sowie das Angebot des Zuhörens oder ein Lob oder eine Würdigung. Viele Jugendliche schätzen es sehr, wenn Erwachsene dann, wenn sie z. B. aus der Schule kommen, ansprechbar sind, »ein Ohr« für sie haben. Auch zwischenzeitliche Spontanbesuche und die Rückfrage, ob alles gut ist, helfen für die Vermittlung von Interesse und Sicherheit. Beziehungsgesten sind unabhängig vom Verhalten oder von den Forderungen des Kindes und werden nach eigener Entscheidung als Geste der Zuwendung verstanden. Insofern sind keine Erwartungen an das Zeigen dieser Geste geknüpft.

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Arbeitsfelder in der Praxis

In eskalierenden Beziehungen entsteht ein Bild gegenseitiger Abwertung und Vorwürfe sowie gegenseitigen Misstrauens. In der Logik einer destruktiven Handlungsabfolge werden Gesten der Beziehung, Versöhnung und Überraschung nicht nur vergessen, sondern sogar deutlich abgelehnt. Die Logik von Belohnung und Bestrafung hat sich in unserem Denken und Handeln anscheinend tief verwurzelt. Omer und von Schlippe (2007) haben sich diesem Thema mit dem Begriff »Feindbilder« intensiv gewidmet. Mit der Trennung des Verhaltens von der Person und deren Bedürfnissen ist es trotz allem möglich, Angebote der Versöhnung zu machen. Es scheint deutlich schwieriger, jemanden weiter zu »bekämpfen«, der Beziehungs- und Versöhnungsgesten anbietet. Insofern finden sich im Handeln des Konzepts stets auch besondere Angebote von Beziehung und der Möglichkeit, gute Zeit miteinander zu verbringen. Eine besonders intensive Beziehungsgeste ist die Bitte um Entschuldigung bzw. der Ausdruck des Bedauerns der Pädagoginnen für das eigene Fehlverhalten oder auch um die Situation, die zuvor dadurch entstanden war. Wiedergutmachungen

Die Pädagoginnen einer Gruppe sind die leitenden Repräsentanten des Systems, in dem die destruktiven Verhaltensweisen stattgefunden haben. Jemand, der auf negativ bewertete Art und Weise Regeln dieser Gemeinschaft in der Gruppe verletzt, stellt sich damit nicht nur gegen einzelne Personen, sondern auch an den Rand dieses Systems und des vereinbarten Umgangs miteinander. Öffentliche Wiedergutmachung bietet dem betroffenen Kind die Möglichkeit der Reintegration in dieses System, stellt die Ehre der von dessen Verhalten betroffenen Personen wieder her und stärkt letztlich auch die Autorität der Päda­ goginnen. Zudem führt sie, mehr als Strafen und Sanktionen, zu einer inneren Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln. Allerdings ist dazu häufig viel Beharrlichkeit der Pädagoginnen notwendig. In dieser Umsetzung einer Wiedergutmachung werden entsprechend zwei Aspekte besonders fokussiert: 1. Gemeinsam wird mit dem Kind/Jugendlichen ein Bericht bzw. ein Brief über das verfasst, was dieser getan hat, in dem er oder sie das Verhalten bedauert. Dieser Schritt ist Voraussetzung für den zweiten Schritt, den der sichtbaren Geste. Wenn dieser Prozess noch mit sehr viel Gegenwehr behaftet ist, dann eignen sich das Schweigende Gespräch oder das Sit-In für ein nachhaltiges Einsetzen. Auch die Erweiterung des Netzwerkes in Verbindung mit hoher Transparenz ist in der Regel sehr hilfreich.

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Um nachhaltig Veränderung erwirken zu können, ist es erforderlich, das positive Schamgefühl des destruktiv Handelnden anzuregen und zu erreichen. Insofern wird der Prozess von Beharrlichkeit, Angeboten und Vorschlägen begleitet. Sobald sich eine auch noch so kleine Einsicht und Veränderung vor allem bei sehr aufwendigen Prozessen zeigt, ist es gut, diese aufzunehmen und in Handlung umzusetzen. Ebenfalls kann eine zwischenzeitliche stellvertretende Wiedergutmachungsgeste hilfreich sein. Dabei übernehmen die verantwortlichen Erwachsenen die Durchführung der Geste, sodass die Geschädigten sehen, dass der Prozess noch aufrechterhalten wird, und die zuvor Schädigenden mitbekommen, dass die Erwachsenen in der Forderung nach einer Wiedergutmachungsleistung nicht nachlassen werden. Wiedergutmachungen können bei Verhaltensweisen eingesetzt werden, die nachhaltig Sicherheit und Schutz sowie Zugehörigkeit Einzelner gefährden. Dies sind aus unserer Sicht Gewalt, Diebstahl oder Mobbing bzw. sonstige Ausgrenzungsverhaltensweisen. Wenn Kinder oder Jugendliche sich für ein Verhalten sehr schämen, kann die Wiedergutmachung auch als Möglichkeit der Lösung der Situation angeboten werden. 2. Als sichtbare Wiedergutmachung wird eine Geste des guten Willens, der sichtbaren Bitte um Entschuldigung bei den Geschädigten durchgeführt. Es soll etwas Konkretes sein, damit für alle am Ende ein gutes Gefühl spürbar bleibt. Dabei ist es wichtig, auf die Fähigkeiten und Talente der Beteiligten zu achten. Vielfach sind Vorschläge hilfreich, wobei es aus unserer Sicht wichtig ist, darauf zu achten, dass die Vorschläge nicht zu schnell und vor allem ohne Einsicht angenommen werden. Abschlussbemerkungen Eine Haltung im Konzept der Neuen Autorität in stationärer Heimerziehung ist letztlich eine die ganze Einrichtung umfassende Haltung. Die nachhaltige Umsetzung und Etablierung setzt Rahmenbedingungen und Strukturen voraus, die von den räumlichen Lebensbedingungen über die gelebte Alltagspädagogik bis hin zum umfassenden Außenverständnis der Einrichtung reichen. Dabei ist das Ausmaß der einzelnen Haltungs- und Handlungsaspekte durchaus unterschiedlich zu verstehen. Insbesondere die Wertehaltung der Einrichtung selbst, der Umgang mit Fortbildungen und das daraus gestaltete Außenbild berühren neben dem Umgang mit Transparenz und Öffentlichkeit sowie der Gestaltung des Kontakts mit Unterstützern eine ganze Reihe von Aspekten der Organisationsentwicklung. In der nachhaltigen Umsetzung ist insofern lang-

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Arbeitsfelder in der Praxis

fristig ein nachhaltiger Austausch mit fortlaufenden Fortbildungen sinnvoll. Spezifische Fortbildungen zu einzelnen Themenbereichen lassen sich vor diesem Hintergrund ohne größere Probleme einfügen. Literatur Adams, G., Deisinger, U. R., Körner, B. (2001). »Flexible ambulante Jugendhilfe«. In N. Beck (Hrsg.), Familien im Brennpunkt der Hilfe. Familienarbeit in Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe. Tagungsband anlässlich der 3. Fachtagung »Kinder- und Jugendpsychiatrie – Kinder- und Jugendhilfe« am 08./09.10.2001 in Würzburg (S. 125–142). Würzburg: Univ.-Verl. Bauer, J. (2007). Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern. Hamburg: Hoffmann & Campe. Grabbe, M. (2006). Bündnisrhetorik in Spannungsfeldern mit Kindern. In C. Tsirigotis, A. von Schlippe, J. Schweitzer-Rothers (Hrsg.), Coaching für Eltern. Mütter, Väter und ihr »Job«. Heidelberg: Carl-Auer. Körner, B., Lemme, M. (2017). Anmerkungen zum Text »Der Plan von der Abschaffung der Ohnmacht«. Forum für Kinder und Jugendarbeit, (2), 63–72. Lemme, M. (2017). Schutz, Kontrolle und Neue Autorität in der Jugendhilfe – am Beispiel ElternKinder-Haus. In B. Hagen (Hrsg.), Pädagogische Arbeit in Mutter/Vater-und-Kind-Einrichtungen (S. 51–67). Dähre: Schöneworth. Lemme, M., Körner, B. (2016a). »Neue Autorität« in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag. Heidelberg: Carl-Auer. Lemme, M., Körner, B. (2016b). Beziehung – Transparenz – Gegenüber. Ein Leitfaden zum Vorgehen im Konzept der Neuen Autorität. Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung, 34 (4), 151–164.
 Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Omer, H. (2015). Wachsame Sorge. Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rosa, H., Endres, W. (2016). Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim: Beltz. Rosenberg, M. B. (2004). Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation. Ein Gespräch mit Gabriele Seils. Freiburg: Herder. Rosenberg, M. B. (2012). Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens (10. Aufl.). Paderborn: Junfermann. Sozialgesetzbuch (SGB) (2017). Achtes Buch. Kinder- und Jugendhilfe. § 27 Hilfe zur Erziehung. https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbviii/27.html (Zugriff am 03.02.2019). Steiner, Th. (2016). Jetzt mal angenommen … Anregungen für die lösungsfokussierte Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Heidelberg: Carl-Auer.

2.3 Neue Autorität in der Schule Claudia Seefeldt

Wozu »Neue Autorität« in der Schule? Der Ansatz der Neuen Autorität hat mittlerweile in vielen Schulen und Bildungseinrichtungen Fuß gefasst. Wenn wir Lehrer und Lehrerinnen oder Schulleitende nach dem Nutzen fragen, den sie durch die Arbeit mit Neuer Autorität in ihrem Schulhaus erfahren, fallen häufig Sätze wie: »Ich fühle mich nicht mehr so allein im Umgang mit herausfordernden Situationen, fühle mich als Teil des Ganzen, spüre das Wir«, »Transparenz und Zusammenarbeit haben positive Auswirkungen auf meine Motivation und auf die Kinder«, »Seitdem ich das Konzept kenne und umsetze, habe ich wieder Freude an meiner Arbeit«, »Wir beziehen Eltern mit ein, nicht erst, wenn es schwierig ist – das verbessert und erleichtert die Zusammenarbeit spürbar« oder »Ich muss bei einem Vorfall nicht sofort reagieren, ich informiere aber sofort die Eltern, um mit ihnen nach gegenseitigen Unterstützungsmöglichkeiten zu suchen – das führt insgesamt zu weniger Aufwand als vorher«. Offensichtlich hat die Auseinandersetzung mit der Neuen Autorität in vielen Bildungseinrichtungen viele positive Wirkungen zur Folge: eine stärkere Zusammenarbeit inner- und außerhalb der Schule, Entschleunigung (Stichworte: »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist« und »Du musst nicht gewinnen, sondern beharrlich sein«), mehr Freude und Zuversicht der Lehrpersonen sowie insgesamt eine stärkende und sichernde Schulkultur sowohl für Kinder als auch Kollegium. Das sind gute Nachrichten angesichts der zahlreichen Herausforderungen, mit denen sich Schulen und ihre Mitarbeitenden konfrontiert sehen: Zeit- und Ressourcenmangel (derzeit hoher Lehrermangel in Deutschland, der Schweiz und Österreich), Integration/Inklusion, multikulturelle und heterogene Klassen, extrem herausfordernde Verhaltensweisen der Schüler/-innen, Wandel zu Ganztagsschulen sowie die Zunahme von Verwaltungstätigkeiten und administrativem Aufwand. Immer wieder wird in Veröffentlichungen darauf

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Arbeitsfelder in der Praxis

hingewiesen, dass die Lehrerschaft zu einem Drittel entweder unter einem Burn-out leidet oder zumindest diesbezüglich gefährdet ist. Überforderung und Erschöpfung scheinen weit verbreitet. Gleichzeitig wandelt sich der Lehrerberuf und wird sich im Zuge der Digitalisierung und Entwicklung von Artificial Intelligence noch viel stärker verändern. Der Schweizer Digitalisierungsexperte Joël Luc Cachelin schlägt als notwendige Veränderung in Bezug auf das Bildungssystem Schulen als inspirierende Co-Learning-Umgebungen vor, in denen das Entdecken an die Stelle des Vermittelns tritt (Cachelin, 2016). Mit diesen Forderungen ist er nicht allein. Auch Experten aus anderen Bereichen – wie beispielsweise der Neurowissenschaftler Gerald Hüther mit seinen Initiativen »Schule im Aufbruch« oder »Schulen der Zukunft« oder der Soziologe Hartmut Rosa mit seiner Resonanztheorie – setzen sich für radikale Veränderungen im Schulsystem ein. Das bisherige Rollenverständnis von Lehrerinnen und Lehrern gerät massiv ins Wanken und wird sich wandeln – vom klassischen Wissensvermittler hin zur Bezugsperson und zum Coach mit heil- und sozialpädagogischen Kompetenzen. Beziehungsgestaltung und der Umgang mit Gruppendynamiken werden neben dem Schaffen von Begeisterung für Wissen und Wissenserwerb zu zentralen Aufgaben eines Lehrers – Fähigkeiten, die in der Lehrerausbildung an den Hochschulen zunehmend an Bedeutung gewinnen, aber durchaus noch Entwicklungspotenzial haben. Zukunftsforscher proklamieren, dass ein Großteil der heute existierenden Berufe in wenigen Jahrzehnten nicht mehr existieren wird. Globalisierung und Digitalisierung haben eine Geschwindigkeit aufgenommen, dass es einem schwindelig werden könnte. Unsere heutigen Kinder und die Arbeitskräfte von morgen werden vermutlich flexibler und veränderungsaffiner sein und mit jeglicher Form von Diversität selbstverständlich umgehen können (müssen). Was bedeutet dies nun für die Lehrerschaft und Erziehende allgemein? Wie können wir unseren Kindern Halt, Verlässlichkeit und Werte vermitteln und sie gleichzeitig Unsicherheitskompetenz und Emotionsregulation lehren? Eines ist sicher: Kein Mensch kann dies allein leisten. Das afrikanische Sprichwort »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen« ist aktueller denn je. Wir sind angewiesen auf eine gute Zusammenarbeit aller beteiligten Erwachsenen und auf individualisierte, kreative »Out of the box«-Lösungen, flache Hierarchien im Bildungssystem sowie stärkere gemeinsame Verantwortungsübernahme der Erziehenden zu Hause und im Klassenzimmer. Einfache Antworten greifen nicht mehr, der steigenden Komplexität kann auch im Bildungsbereich nur mit höherer Kooperation und einer offenen und erkundenden Haltung Genüge geleistet werden. Diese Erkenntnis ist in der

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Organisationsentwicklung, zumindest ansatzweise in Firmen und Institutionen sowie zunehmend auch in Schulen angekommen. Viele Schulen haben sich bereits aufgemacht, den Herausforderungen unserer Zeit erfindungsreich und mutig zu begegnen, neue Wege zu beschreiten und mit Unsicherheiten proaktiv und gelassen umzugehen. Stabile Beziehungs- und Kooperationsmuster erhöhen die persönliche Sicherheit (und, laut Rozovsky, 2015, die Teamperformance), befördern kreative Lösungen, verringern die Eskalationswahrscheinlichkeit und sind ansteckend! Die Fähigkeit zu Kooperation und Empathie ist sicherlich eine Schlüsselfähigkeit für dieses Jahrhundert – wir erleben eine Verschiebung von kognitiven hin zu mehr sozialen Anforderungen in einer komplexeren und vernetzten Welt. Viele Schulen haben das erkannt und entsprechend aufgenommen. Der Ansatz der Neuen Autorität und systemische Sichtweisen können hier eine wertvolle Unterstützung und einen haltgebenden, wertegeleiteten Rahmen für eine zukunftsweisende Schulentwicklung anbieten (Seefeldt u. Frey, 2018); er ermutigt und stärkt die Pädagogen darin, den Bedürfnissen der ihnen anvertrauten Kinder noch besser gerecht zu werden und sie für die Zukunft stark zu machen.

Bildungsökonomische, erziehungswissenschaftliche, neurobiologische und soziologische Aspekte In einem 2013 geführten Interview erklärt der Wirtschafts-Nobelpreisträger und amerikanische Ökonom James Heckman: »[Bildungs-]Programme, die […] sich auf […] Bindung, Charakter, Disziplin und Selbstkontrolle [konzentrieren], sind […] effektiv. […] Der Schlüssel ist es, mit der Familie – wie auch immer die heute aussieht – zu arbeiten. […] Bindung und Verständnis sind viel wichtiger für die menschliche Entwicklung als Geld. […] Erfolgreiche […] Schulen […] imitieren erfolgreiche Eltern« (Heckman, 2013). Heckmans Untersuchungen zur Rentabilität von Bildungsprogrammen, die vor allem auf die Entwicklung nichtkognitiver Fähigkeiten abzielen, zeigten eindeutig eine volkswirtschaftlich bedeutsame Rendite von bis zu 8 %. Dabei sei das Zusammenwirken bindungsrelevanter Bezugspersonen in Kindergarten, Schule, Ausbildungsstätte und Elternhaus ein wichtiger Einflussfaktor – ein Aspekt, der im Ansatz der Neuen Autorität grundlegend ist. Der neuseeländische Professor für Erziehungswissenschaften John Hattie entwickelte in seiner wegweisenden Meta-Studie »Visible Learning – Lernen sichtbar machen« eine Rangliste verschiedener Einflussfaktoren auf den schu-

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lischen Lernerfolg, indem er die Ergebnisse aus zahlreichen Metaanalysen in Bezug auf ihre Effektstärke untersuchte.1 Den größten Einfluss im Bereich »Lehrperson« auf den schulischen Lernerfolg haben demnach neben Micro-Teaching2, Klarheit der Lehrperson, regelmäßige Lehrerfort- und -weiterbildung, vor allem die Lehrer-Schüler-Beziehung. Der Schweizer Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach schreibt, dass die ethisch vordringlichste Aufgabe der öffentlichen Schule in der Stärkung des Gemeinsinns bestünde, wobei der Gemeinsinn der Sinn für das geteilte Leben sei (Reichenbach, 2017). Aus der neurobiologischen Forschung wissen wir, dass Lernen grundsätzlich nur dann gelingen kann, wenn eine entsprechende Emotions- und Effektregulation der Schulkinder möglich ist (z. B. Bauer, 2008a, 2008b). Da dies mit der Rahmengestaltung im Unterricht und im gesamten Schulgebäude zu tun hat und letztlich ein Kriterium der Begegnung von Lehrerinnen mit Schülern darstellt, ist die Verantwortung der Lehrenden und Erziehenden an Schulen für die Gestaltung dieser Rahmenbedingungen zwangsläufig vorhanden. Der Jenaer Soziologieprofessor Hartmut Rosa (2016) hat den Begriff der »Resonanz« eingeführt und beschreibt damit gesellschaftliche Phänomene als aus einem grundlegenden Streben nach »resonanten« Beziehungen resultierend. Resonanz wird von ihm anhand dreier Achsen dargestellt: der horizontalen (Beziehungen zwischen Menschen), der diagonalen (Beziehungen zu Dingen und Tätigkeiten) und der vertikalen (Beziehungen zu Religion, Werten, Kunst, Natur etc.). Dabei formuliert Rosa, dass offensichtlich Erfahrungen, die als attraktiv und begehrenswert empfunden werden, prädestiniert sind für Resonanzerfahrungen, während solche, die als abweichend oder sogar angstbesetzt wahrgenommen werden, weniger Resonanz erwarten lassen. Resonanz wird dabei als Grundlage der Wahrnehmung der eigenen Stimme bzw. des eigenen Interesses definiert. Das Ziel der Resonanzpädagogik ist somit die Überwindung von Entfremdungszonen hin zu beteiligtem, kreativem und Feedback-orientiertem Vorgehen, das begeistern und motivieren soll und die eigene Resonanz ins Klingen bringt. Damit beschreibt Rosa ähnliche Überlegungen 1

Die gesamten Ergebnisse und die Ergebnisse für die einzelnen Bereiche sind auf der Webseite www.visible-learning.org einsehbar (Zugriff am 25.01.2019). 2 Unter Micro-Teaching versteht man ein Lehrverhaltenstraining, das bereits in den frühen 1960er Jahren an der Universität Stanford entwickelt wurde. Es werden kurze Unterrichtssequenzen geplant und vor einer meist kleinen Gruppe von Lernenden (Schüler bzw. Studien- oder Lehrerkolleginnen und -kollegen) ausprobiert oder als Video aufgezeichnet und dann gemeinsam reflektiert. So können der Unterricht verbessert und Handlungsalternativen getestet werden. In den USA und der Schweiz ist Micro-Teaching in Kombination mit einer Videoanalyse bereits etablierter als in Deutschland oder Österreich.

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wie auch Hattie in seiner Schlussfolgerung. Falko Peschel (2012) hat seit Jahren Erfahrungen mit einem derartigen Unterricht gesammelt und spricht sich in ähnlicher Weise für ein verändertes Unterrichten aus. Aus diesen Überlegungen ergibt sich schlussfolgernd, dass die Verantwortung für gelingenden Unterricht über die Gestaltung des Rahmens möglich ist. Das bedeutet, dass die Art und Weise der Begegnung und die Gestaltung der Rahmenbedingungen vom Unterricht selbst in der Hand der Lehrenden und Erziehenden liegen. Es ist also ihre Präsenz, die sie gestalten und nutzen können, um Einfluss auf die Schüler/-innen zu erhalten. Da die Lehrenden und Erziehenden nicht für die politische Landschaft und Rahmung des Bildungssystems verantwortlich sind, können sie im Sinne erfolgreicher Tätigkeit lediglich den Rahmen beeinflussen, der ihnen möglich ist: Unterricht, Begegnung und Netzwerkgestaltung zu Kollegen und Eltern.

Beweggründe für die Einführung der Neuen Autorität Die oben angeführten Aspekte tragen vermutlich ihren Teil dazu bei, dass gerade jetzt der Ansatz der Neuen Autorität auf einen fruchtbaren Boden fällt und sich viele Pädagogen und Leitungspersonen im Schulkontext davon angezogen fühlen und Unterstützung erhoffen. Die konkreten Gründe für eine Auseinandersetzung mit der Neuen Autorität innerhalb einer Schule sind vielfältig: Es kann sein, dass sich Burn-out-Fälle und Krankmeldungen durch zunehmend herausfordernde Situationen mit Schülerinnen, Schülern oder auch Eltern besorgniserregend erhöht haben und daher nach einer alternativen Herangehensweise zur Stabilisierung und Unterstützung des Kollegiums gesucht wird. Es kann aber auch sein, dass die Schulleitung oder Kollegiumsmitglieder auf einer Fachtagung vom Ansatz der Neuen Autorität gehört oder ein entsprechendes Buch (z. B. Omer u. von Schlippe, 2016) bzw. einen Artikel gelesen haben und dadurch inspiriert wurden. Sie wollen nun den Ansatz aus Überzeugung einführen, weil er zu ihren Werten und Überzeugungen passt. In wieder anderen Fällen steht der Wunsch im Vordergrund, eine gemeinsame pädagogische Haltung oder ein Programm zur Gewaltprävention und zum Umgang mit Gewalt bzw. problematischem Schülerverhalten zu entwickeln und die Neue Autorität sozusagen als Referenzsystem zu nutzen. Durch Integration/Inklusion und die Umwandlung vieler Schulen in Ganztagsschulen hat die Bedeutung der Teamfähigkeit innerhalb des Kollegiums stetig zugenommen. Lehrpersonen arbeiten mit spezifisch ausgebildeten Päda­ goginnen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen zusammen, Lehrer und

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Betreuungspersonen aus der Nachmittagsbetreuung müssen sich absprechen oder eine Klasse wird im Teamteaching geführt. Die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit ist massiv gestiegen. Viele Lehrpersonen an Schulen haben dies deutlich positiv und wirksam erlebt. Allerdings ist die Teamfähigkeit und ‑bereitschaft unterschiedlich ausgeprägt. Auch hier kann der Ansatz der Neuen Autorität in Kombination mit Teamentwicklung die Kooperation im Kollegium verbessern und mittelfristig zu einer Entlastung und zu gemeinsam getragener Verantwortung führen. So hat eine Schulleiterin zur Entwicklung eines gemeinsamen Leitbildes in der Schule die Arbeit an gemeinsamen Werten als Einstieg genommen. Im Laufe einer Teamentwicklung hat sich das Kollegium auf vier Werte geeinigt und diese sowohl grafisch gestaltet als auch in konkretes Alltagsverhalten umgesetzt. Die festgelegten Werte entsprachen vollständig den grundlegenden Werten und Überlegungen im Konzept der Neuen Autorität. Manchmal wird bei wiederholten Gewaltvorfällen eine externe Expertin geholt, um betroffene Lehrpersonen mit Werkzeugen und Interventionen der Neuen Autorität zu unterstützen, ohne dass sich das gesamte Kollegium damit auseinandersetzt. Diese »Feuerlöschaktionen« mögen Entlastung für die Situation schaffen, sind unserer Erfahrung nach allerdings wenig nachhaltig, da die Wirkung des Ansatzes vor allem durch eine durch die Erziehenden gelebte Haltung erzielt wird. Die eigene Haltung – individuell wie auch im Team – zu hinterfragen und gegebenenfalls auch zu verändern, ist kein kurzfristiges und einmaliges Unterfangen, dafür aber umso tragender. Unsere Fortbildungen und Beratungsleistungen legen wir deshalb, wenn immer möglich, als langfristige begleitende Prozesse an.

Prozessebenen Die Umsetzung der Neuen Autorität in Schulen ist ein Prozess, für den es zuweilen einen langen Atem braucht und der auch nicht wirklich zu einem bestimmten Punkt abgeschlossen ist. Haltungsarbeit begleitet uns letztlich ein ganzes Leben lang und in allen Bereichen unseres Daseins. Unterstützende Kooperationen müssen gepflegt und immer wieder neu ausgehandelt werden, zumal viele Schulen sich mit teilweise hohen Fluktuationsraten und einem schier unerschöpflichen Einfallsreichtum sowie beeindruckender Verhaltensoriginalität ihrer Schüler und Schülerinnen konfrontiert sehen. Eine nachhaltige Veränderung der pädagogischen Haltung im Sinne der Neuen Autorität ist umso aussichtsreicher, je mehr Prozessebenen involviert sind und ihr Commitment zeigen. Kooperationen und transparenter Austausch

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sind über alle Hierarchiestufen innerhalb und außerhalb der Institution hinweg wesentlich. Das erfordert einen relativ hohen Koordinationsaufwand und klare Projektverantwortlichkeiten. Relevante Prozessebenen können sein: •• übergeordnete Behörde (Volksschulamt, Schulpflege etc.), •• Schulleitung, •• Projektgruppen, •• das gesamte Kollegium inklusive Hausdienst, •• weitere Fachpersonen (Schulsozialarbeit, Schulpsychologinnen …), •• der individuelle Lehrer/die individuelle Lehrerin, •• Elternrat/-vertretung, •• Elternschaft, •• Kinder und Jugendliche, •• evtl. auch die Gemeinde. Natürlich variiert der Grad der Involviertheit je nach Prozessebene. Der zeitliche Aufwand einer für das Projekt verantwortlichen Steuer- oder Projektgruppe ist beispielsweise sicher höher als der einer übergeordneten Behörde. Dennoch ist es sehr sinnvoll, wenn regelmäßige Großveranstaltungen mit allen Ebenen stattfinden (siehe weiter unten unter dem Punkt »Prozessbeispiel«). Beispielsweise arbeitet eine Schule im Kanton Zürich seit Projektbeginn konsequent mit Schulpflege (übergeordnete, politisch gewählte Behörde) und Elternvertretung zusammen. An jeder übergeordneten Schulweiterbildung nehmen Vertreterinnen dieser beiden Gremien teil. Darüber hinaus erscheint im Gemeindeblatt halbjährlich ein kurzer Artikel des Schulleiters zum Projektverlauf.

Prozessgestaltung Wenn eine Schule sich dazu entscheidet, sich ernsthaft mit Neuer Autorität auseinanderzusetzen, geschieht dies auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Im Laufe unserer Praxisarbeit haben sich jedoch einige hilfreiche Gemeinsamkeiten und Eckpfeiler herausgestellt, auf die wir hier eingehen möchten. Auftragsklärung Zu Beginn ist es aus unserer Sicht wichtig, eine sorgfältige Auftragsklärung durchzuführen. Die Auftragsklärung ist ein gemeinsamer Suchprozess von externer (oder/und interner) Prozessbegleitung und den Entscheidungsträgern

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sowie den Betroffenen zur Klärung und Einigung über Ziele, Wege und Mittel des geplanten Entwicklungsprozesses. Ein Treffen mit den Entscheidungsträgern, die inhaltlich und finanziell für den Prozess verantwortlich sind, und Vertreterinnen des Kollegiums ist ein guter Start. Wir raten an dieser Stelle zu einer externen Begleitung, da eine nachhaltige Umsetzung der Neuen Autorität im Schulkontext sowohl Fach- als auch Prozesswissen voraussetzt, das innerhalb der Schule oftmals nicht ausreichend vorhanden ist. An dieser Stelle geht es vor allem um die Klärung von Erwartungen und realistischen Ressourcen. Hilfreiche Fragen können sein: •• Um was geht es? Wozu will die Schule sich mit der Neuen Autorität beschäftigen? •• Was ist das Ziel? Was ist anders, wenn dieses Ziel erreicht wurde? •• Was ist der Kontext (in der Schule/im Umfeld der Schule)? Welche Themen beschäftigen Sie gerade? Welche wichtigen Projekte laufen? Wie soll die Entwicklung der Neuen Autorität in die gesamte Schulentwicklung eingebettet werden? Wie ist die Stimmung im Kollegium? •• Was wurde bezüglich Problemlösung/Zielerreichung schon probiert? Mit welchen Ergebnissen und Nebenwirkungen? •• Was läuft bereits gut? Was sollte stabil bleiben? •• Was verspricht sich die Schule von einer externen Beratung an Kompetenzen, Erfahrungen, Beiträgen, Verhalten und was nicht? •• Wer ist Auftraggeber? •• Wie hoch ist das Interesse/das Commitment (der Schulleitung/des Kollegiums/der Behörden)? •• Welche anderen Perspektiven zu diesen Punkten gibt es in der Schule? Was würden die Eltern/die Kinder/die Gemeinde zum Projekt sagen? •• Wer soll sich aktiv beteiligen? Mit welchen Beiträgen? •• Wie lange wird der Prozess dauern? •• Welche Ressourcen stehen zur Verfügung (vor allem Zeit der Beteiligten)? •• Wie sind die von der Zielsetzung Betroffenen (Kollegium, Eltern, Kinder) am Prozess beteiligt? •• Wer hat welche Motivation für die Zielerreichung? •• Woran erkennt jede/r aus ihrer/seiner Perspektive, wann das Ziel erreicht ist? •• Welche positiven/negativen Auswirkungen könnte die Zielerreichung für wen oder was mit sich bringen? •• Welche Vernetzungen sollen stattfinden? •• Welche Stolpersteine gibt es? •• Welche Ziele (explizite und implizite) erscheinen realistisch, welche weniger? •• Wer hat welche Rolle und welche Verantwortung in der Zusammenarbeit?

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Eine Klärung dieser Aspekte im Auftragsklärungsprozess schafft die Grundlage der Zusammenarbeit im Sinne von Transparenz, Sicherheit, Verbindlichkeit und Grenzen. Auftragsklärung orientiert sich am Ist-Zustand, stellt eine Bedarfsanalyse auf, knüpft an bereits Bestehendem an und entwickelt eine Zielvorstellung. Sobald gegenseitige Erwartungen und die für die Umsetzung voraussichtlich zur Verfügung gestellten finanziellen und zeitlichen Ressourcen geklärt sind, kann eine Prozessarchitektur erstellt werden, die im Laufe des Prozesses Orientierung geben kann und regelmäßig überprüft werden sollte, ob sie den aktuellen Bedürfnissen und Gegebenheiten noch entspricht. Ein Beispiel für eine mögliche Prozessarchitektur findet sich in Abbildung 1 (aus der Projektdokumentation einer Schweizer Primarschule begleitet):

Abbildung 1: Beispiel einer Prozessarchitektur (Seefeldt, eigene Darstellung)

Die Prozessarchitektur beinhaltet sowohl aufgabenspezifische Aspekte (z. B. die Beschäftigung mit und die Umsetzung von unterschiedlichen Präsenzformen, den Ausbau der Unterstützungskultur innerhalb und außerhalb des Teams u. a.) als auch organisationsspezifische Aspekte (welche Ebenen sind involviert, welche bestehenden und neuen Strukturen sind geplant?). Essenziell in dieser Phase ist es, die Entschiedenheit der Entscheidungs-

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träger und der Projektverantwortlichen für den Prozess abzuholen. Wir erleben immer wieder Prozesse, bei denen zwar z. B. die Schulsozialarbeiterin und zwei, drei Lehrkräfte voller Enthusiasmus sind, aber die Schulleitung dem Ansatz der Neuen Autorität skeptisch und eher verhalten gegenübersteht. Unter diesen Umständen ist es schwierig, einen nachhaltigen Prozess anzustoßen. Gegebenenfalls können in einem solchen Fall eine weitere Runde Auftragsklärung und vor allem die Klärung von Erwartungen (und Befürchtungen) helfen. Oft haben die Entscheidungsträger eine unklare oder falsche Vorstellung des Ansatzes (der Begriff »Neue Autorität« kann zu Zuschreibungen führen, die nicht im Sinne der dahinterstehenden beziehungsorientierten Haltung sind), transparente Information über Konzept und passendes Vorgehen kann diese Missverständnisse klären und Neugier wecken. Einstieg Es gibt nach unserer Erfahrung vielfältige Möglichkeiten und Erfahrungen, um in einen Umsetzungsprozess einzusteigen. Im Folgenden führen wir einige Beispiele auf: •• Entscheidungsträger (z. B. Schulleitung und Lehrervertretung) besuchen eine Weiterbildung in Neuer Autorität und entwickeln dadurch eine Entschiedenheit für die Umsetzung des Prozesses bei gleichzeitiger Wertschätzung der bestehenden Situation und Berücksichtigung bisheriger und anderer geplanter Schulentwicklungsprojekte. •• Das Kollegium erhält eine Einführung in den Ansatz der Neuen Autorität und setzt sich im Anschluss mit der eigenen Schulkultur auseinander, z. B. im Rahmen einer Wertearbeit. •• Das Kollegium erhält im Rahmen einer Teamfortbildung eine Einführung in den Ansatz der Neuen Autorität und setzt sich im Anschluss mit der Unterstützungskultur im Schulhaus auseinander. •• Das Kollegium erhält eine Einführung in den Ansatz der Neuen Autorität und setzt sich im Anschluss mit der Kooperationskultur zwischen Eltern und Schule auseinander. Dabei entwickelt es konkrete Ideen, wie die Zusammenarbeit mit den Eltern erhöht und verbessert werden kann. •• Das Kollegium erhält eine Einführung in den Ansatz der Neuen Autorität und setzt sich im Anschluss mit der Frage auseinander, wie zukünftig anders mit schwierigen Situationen im Unterricht und auf dem Pausenplatz umgegangen werden könnte. •• Eine Arbeitsgruppe mit Vertreterinnen aus verschiedenen Ebenen (z. B. Kollegium, Schulbehörde, Elternvertretung) wird gegründet, bildet sich

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im Ansatz weiter und wird zum Anlaufpunkt für Lehrkräfte und Eltern bei schwierigen Situationen. •• Einzelne Personen (Lehrkraft, Schulsozialarbeiter, Schulleiterin) besuchen eine Weiterbildung zum Thema, machen erste Erfahrung in ihrer Praxis und berichten im Gesamtteam oder in Subteams davon. •• Teilnahme an einer Großveranstaltung mit Fachexperten der Neuen Autorität. In Deutschland, Österreich und der Schweiz finden jährliche Kongresse statt. Der Besuch einer Großveranstaltung ist noch recht unverbindlich, hat jedoch den Vorteil, dass dort oft ein sehr kooperativer und beziehungsorientierter Geist im Sinne der Neuen Autorität und des gewaltfreien Widerstands herrscht. Vernetzung und Erfahrungsaustausch mit Fachpersonen und Menschen, die im Kontext von Erziehung, Pädagogik und/oder öffentlichem Dienst (wie etwa der Polizei) mit dem Ansatz der Neuen Autorität arbeiten, machen den Ansatz schnell auch praktisch erfahrbar. Unser israelischer Kollege Idan Amiel sagt zu Beginn seiner Vorträge und Seminare häufig, er möchte die Teilnehmenden mit dem »Virus der Neuen Autorität« anstecken. Häufig wird genau das auf solchen Großveranstaltungen erreicht: Inspiration, Neugier und Ermunterung für die Umsetzung werden geweckt. Der Schulkreis Glattal in Zürich mit insgesamt 18 Schulen und über siebenhundert Lehrpersonen schickt beispielsweise bereits seit fünf Jahren jedes Jahr über hundert Angehörige der Kollegien zu einer jeweils dreitägigen Großveranstaltung in Zürich mit Referenten wie Haim Omer, Eia Asen, Uri Weinblatt und anderen Fachpersonen. Das ist ein hohes Investment, zeugt aber von großer Entschiedenheit der übergeordneten Schulbehörde und führt zu einer tiefgreifenden Durchdringung mit den Ideen der Neuen Autorität. Verankerung der Neuen Autorität Damit neben dem Wissen um die Interventionen des gewaltfreien Widerstands auch die der Neuen Autorität zugrunde liegende Haltung in der Schule gelebt werden kann, ist es wichtig, dass eine kontinuierliche Auseinandersetzung stattfindet. Gewährleistet werden kann dies u. a. durch: •• eine verantwortliche Arbeitsgruppe bzw. »Themenhüter«, die die Haltungsfragen immer wieder einbringen und die Vorgehensweise koordinieren, Weiterbildungen organisieren; •• eine Unterstützergruppe, die bei schwierigen Situationen die Interventionen (z. B. Ankündigung, Unterstützertreffen etc.) gemeinsam mit den unmittelbar betroffenen Lehrpersonen plant und durchführt;

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•• Vertiefung, Auseinandersetzung und Reflexion durch Thementeamtage sowie Super- und Intervisionen; •• die Ausrichtung bestehender Sitzungen wie z. B. Stufensitzungen und Besprechungen auf die Haltung (kollegiale Beratung, Hospitationen, Fallbesprechungen in Intervisionen etc.); •• den Einbezug der Eltern (z. B. Elternbildungsanlässe, regelmäßige Zeitfenster für Elternbesuche im Schulalltag und nicht nur an Besuchstagen); •• die Kooperation von Schülern/Schülerinnen und Kollegium (gemeinsame Projekte, individualisierter Unterricht und beziehungsorientierte Entwicklung); •• die Einführung wiederkehrender Rituale, die die Beziehung und Kooperation fördern sollen (z. B. Begrüßung der Schüler und Schülerinnen zu Beginn des Schuljahrs durch das gesamte Kollegium per Handschlag, gemeinsame Aktivitäten etc.). Die Verankerung einer gelebten Neuen Autorität im Schulalltag erleben wir immer wieder als große Herausforderung. Zum einen gibt es zahlreiche Hindernisse, wie bereits eingangs beschrieben, sowie neue Themen, mit denen sich die Schulen auseinandersetzen müssen. Zum anderen leiden viele Schulen unter einem akuten Ressourcenmangel (vor allem von Lehrkräften). An manchen Schulen scheint es, als ob Leitung und Kollegium im ständigen Krisenmodus sind und gar keine Zeit und Kraft haben, um an ihren pädagogischen Haltungen zu arbeiten, geschweige denn aktiv Schulentwicklung voranzutreiben. In solch einer Situation wird man das Kollegium wohl kaum für ein weiteres Projekt begeistern können. Ein neuer Ansatz muss also rasche Entlastung versprechen. Es kann z. B. sehr sinnvoll sein, im Rahmen eines Weiterbildungstages, statt neue Inhalte zu präsentieren, aus denen weitere Projektgruppen und Arbeitsaufträge folgen, innezuhalten, auf das bereits gemeinsam Erreichte zu schauen und Ideen für gegenseitig stärkende Unterstützung und Vernetzungen zu entwickeln. Auch das kann ein möglicher Einstieg in die Arbeit mit Neuer Autorität sein und trägt zur spürbaren Entlastung und Stärkung des Kollegiums bei. Alle Bestrebungen, die eine Unterstützungs- und offene Feedbackkultur, Deeskalation, Transparenz, gegenseitige wertschätzende Beziehungen, den Schutz von Schülern und Schülerinnen und eine entschiedene Wertehaltung fördern, wirken positiv auf die »DNA« der Schule und auf die Verfassung jeder Lehrperson. Als hilfreiche Orientierung lassen sich verschiedene Modelle der Neuen Autorität heranziehen. Ob man ein Netz (sina und isi; Abbildung 2), Waben (SyNA; Abbildung 4) oder Säulen (INA; Abbildung 1) heranzieht oder ein eigenes Bild entwirft, ist eigentlich unwichtig. Relevant sind die in allen Analogien

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genutzten Inhalte, die als Grundlage für Teamtage, Auseinandersetzungen, Fallbesprechungen und Supervisionen genutzt werden können (siehe Kapitel 1.1). Kooperation Schule – Eltern (Erhöhung von Präsenz) Die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule ist essenziell für die Umsetzung der Neuen Autorität. Sie geht weit über die Begleitung durch Eltern bei Ausflügen, Elternbesuche am Tag der offenen Tür oder das Kuchenbacken für den Sporttag hinaus. Begegnungen sollen nicht nur stattfinden, wenn es bequem ist oder schwierige Verhaltensweisen des Kindes es erfordern. Vielmehr wird eine kooperative Haltung durch beziehungsorientierte Angebote seitens der Schule gefördert. Ein Sekundarschullehrer aus Russikon, Kanton Zürich, telefoniert beispielsweise zu Beginn des Schuljahrs mit allen Eltern und fragt nach den Vorlieben, besonderen Fähigkeiten und Charakterzügen des Kindes, um so sein Interesse am Kind und dessen Familie deutlich zu machen und eine vertrauensvolle Beziehung herzustellen, die Begegnung zulässt, nicht nur wenn es schwierig wird. Das mag als großer Aufwand erscheinen. Wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass sich solch einseitige Beziehungsangebote positiv und zeitsparend auf spätere (möglicherweise notwendige) Zusammenarbeit auswirken. Grundsätzlich ist eine Haltung zielführend, die Eltern als auch Lehrkräfte in ihrem jeweiligen Territorium als souverän ansieht: die Lehrerin/den Heilpädagogen/die Klassenassistenz im Klassenzimmer, die Eltern zu Hause. Wir können davon ausgehen, dass Eltern und Pädagogen sich gleich schwertun, mit schwierigen Verhaltensweisen des Kindes fertigzuwerden. Die zugrunde liegende Haltung ist: »Wir können von Ihnen Hilfe bekommen, genauso wie Sie von uns Hilfe bekommen können. Gemeinsam ist es für beide Seiten einfacher – und vor allem für das Kind hilfreich.« Eine Begegnung auf Augenhöhe ist die Bedingung für ein kooperatives Miteinander. Das ist leichter gesagt als getan. Wir beobachten sehr häufig in Lehrer-Eltern-Kontakten Zuschreibungen und Erwartungen von beiden Seiten, die nicht unbedingt förderlich für eine Kooperation auf Augenhöhe sind. In der Praxis hat sich gezeigt, dass eine sorgfältige Vorbereitung von als schwierig erwarteten Gesprächen beispielsweise in Super- oder Intervisionen förderlich für den Verlauf eines guten Gesprächs ist. Der Aspekt der Schamregulierung, wie ihn Uri Weinblatt (Weinblatt, 2016) in diesem Zusammenhang mit eingebracht hat, ist äußerst hilfreich. Gerade in Gesprächen, in denen es um eine schwierige Verhaltensweise des Kindes geht, können Eltern sich sehr schnell beschämt und angegriffen fühlen, was wiederum mit einer Beschämung und Verantwortungsübertragung an die Lehrerin einhergehen kann. »Bei uns zu Hause verhält er sich nie so …«, und implizit mag die

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Lehrerin heraushören: »Das muss an Ihnen und Ihrer Unfähigkeit liegen, den Unterricht zu gestalten.« Woraufhin die Lehrerin sich vermutlich beschämt fühlt und ihrerseits mit einem Gegenangriff kontert – ein Teufelskreis. Uri Weinblatt beschreibt in seinem Buch »Die Nähe ist ganz nah!« (Weinblatt, 2016) anhand vieler Praxisbeispiele, wie dieser Teufelskreis durchbrochen werden kann bzw. gar nicht erst entsteht. Pädagogen müssen auf solche Gespräche vorbereitet sein und schamregulierende Gesprächsführung üben können. Wir haben im Folgenden eine Reihe von Punkten aufgeführt, die aus unserer Sicht eine konstruktive und beziehungsorientierte Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule fördern, und beschreiben einige Praxisbeispiele kreativer Vorgehensweisen: •• Präventiv Kontakt aufbauen, z. B. durch Telefonkontakt, WhatsApp-Gruppen, Veranstaltungen zum Kennenlernen zu Beginn des Jahres •• Offene Klassenzimmer: konkrete Aufforderung an die Eltern, zu bestimmten Zeitfenstern (die beispielsweise im Intranet wöchentlich veröffentlicht werden können) den Unterricht zu besuchen und Präsenz zu zeigen. •• Beziehungsorientierte Gestaltung von Elternabenden: statt Informationen zu den Inhalten und zum Schuljahr zu geben, besser Interaktion und Austausch anregen. Im Kanton Aargau/Schweiz hat eine Sekundarschullehrerin der 8. Klasse einen Elternabend einmal anders gestartet. Sie bat die Eltern, sich jeweils in Gruppen zu sechst an Tische zu setzen, und forderte sie auf, sich gegenseitig ihre originellsten Streiche aus ihrer eigenen Schulzeit zu erzählen. Der ausgefallenste Streich pro Gruppe wurde dann im Plenum erzählt. Das führte zu einer ganz anderen Stimmung und ermöglichte eine persönlichere Begegnung. Die Lehrerin erzählte natürlich auch einen Streich aus ihrer Schulzeit. Viele der Informationen, die an Elternabenden ausgegeben werden, können genauso gut schriftlich per Mail oder Brief übermittelt werden. Es lohnt sich, die kostbare gemeinsame Zeit anders zu nutzen. •• An Elternabenden jeweils Themen der Neuen Autorität gemeinsam besprechen (z. B. anhand der oben erwähnten Netzkarte, der Waben oder Säulen, vgl. Abbildungen 1, 2, 3 in Kapitel 1.1). Zum Beispiel: Welche herausfordernden Situationen erleben wir mit unseren Kindern? Wie gelingt es uns dann, ruhig zu bleiben und zu deeskalieren? Wie könnten wir uns gegenseitig darin unterstützen? •• In einer Primarschule in Zürich verabredeten die Eltern einer Gruppe von Jungen, die alle in die 6. Klasse gingen, immer zur gleichen Zeit am Abend das Internet abzustellen, um zu verhindern, dass die Kinder weiter gamen (selbstverständlich mit einer gemeinsamen vorherigen Ankündigung – Stichwort: Transparenz). Diese Maßnahmen führten dazu, dass die Eltern sich gestärkt

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und gelassener fühlten (Stichwort: Selbstkontrolle und Deeskalation). Die Jungs ihrerseits konnten die Vorgabe leichter akzeptieren, weil ja nicht nur ihre Eltern diese Grenze setzten, sondern auch die Eltern ihrer Freunde. •• Elternabende und Elterngespräche sollten nicht allein durchgeführt werden. Auch die Eltern sollten aufgefordert werden, nicht allein zum Gespräch zu kommen. Insbesondere bei alleinerziehenden Eltern ist es von Vorteil, wenn eine Freundin oder Verwandte den Vater oder die Mutter begleitet –nicht zuletzt bei schwierigen Gesprächen. Praxisbeispiel Eine Klassenlehrerin befürchtete, dass ein anberaumtes Gespräch mit den Eltern einer Schülerin eskalieren könnte. Der Vater des zehnjährigen Mädchens war von sehr aufbrausender Natur und selbst Lehrer an einem Gymnasium. Ein vorheriges, kurzes Gespräch zwischen Tür und Angel (der Vater holte seine Tochter jeden Freitag von der Schule ab, um sie zum Klavierunterricht zu fahren) verlief für die Lehrerin sehr unangenehm. Es ging auch um unterschiedliche Beurteilungsvorstellungen der Leistungen des Mädchens. Danach hatte das Mädchen im Unterricht wiederholt mit dem Vater gedroht, gleichzeitig setzte es sich selbst sehr unter Leistungsdruck. Am nächsten Gespräch nahmen neben den Eltern und der Klassenlehrerin auch der Englischlehrer und der Schulsozialarbeiter teil. Die Eltern waren zu Beginn etwas erstaunt darüber. Die Klassenlehrerin erklärte, dass es an dieser Schule Usus sei, Elterngespräche nicht allein zu führen. Außerdem könne so eine Perspektivenvielfalt erreicht werden. Sie bat die Eltern zuerst um deren Beobachtungen und Wahrnehmungen. Dann beschrieben der Englischlehrer, der Schulsozialarbeiter und die Klassenlehrerin, wie sie das Mädchen wahrnahmen. Der Schulsozialarbeiter machte außerdem die Bemerkung, dass es wohl schwierig sei, als Vater und gleichzeitig auch als Fachkollege hier zu sitzen. Der Vater stutzte, lachte und meinte: »Ja, da kann ich schon mal in ein Rollendurcheinander kommen.« Im weiteren Verlauf konnte eine gute Verständigung erreicht werden, und der Vater entschuldigte sich sogar bei der Klassenlehrerin für seine manchmal aufbrausende Art, wenn es um seine Tochter ging.

Dieses Beispiel zeigt sehr schön, wie durch systemische Präsenz Deeskalation und Selbstkontrolle erreicht sowie Zusammenarbeit erleichtert werden kann. •• Elternvertreter zu Weiterbildungs- und Teamtagen der Schule einladen. In einer Primarschule in der Nähe von Winterthur/Schweiz nehmen regelmäßig Elternvertretungen an den Weiterbildungstagen teil und sind auch an den Gruppenarbeiten beteiligt (sofern es nicht um rein fachspezifische, didaktische Themen geht). Sie nehmen sogar an Super- und Intervisionen

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teil. Eine Elternvertreterin meinte danach: »Für mich war das eine sehr wertvolle Erfahrung. Ich habe gemerkt, dass sich die Lehrer und Lehrerinnen genauso schwertun, mit herausfordernden Verhaltensweisen der Schüler umzugehen – und dass wir gemeinsam zu besseren und vielfältigeren Handlungsoptionen kommen« (Stichwort: Begegnung auf Augenhöhe). Bei Vorfällen wie Mobbing, Gewaltausübung oder Verleumdung in den sozialen Medien sollten Eltern sofort über den Vorfall informiert und zur Kooperation aufgerufen werden (Stichwort: Transparenz und Vernetzung). Dabei muss die Schule noch nicht gleich mit einer Lösung aufwarten, sondern zunächst nur informieren, was passiert ist, und für Schutz der Betroffenen sorgen. Oftmals ist die Verführung groß, in unüberlegten Aktionismus zu verfallen. Das Einzige, was in solchen Momenten wichtig ist, ist, für Schutz aller Beteiligten zu sorgen (auch der vermeintlichen »Täter«). Sobald ein Unterstützungsnetzwerk innerhalb und außerhalb der Schule aufgebaut ist, können entsprechende Interventionen geplant werden: eine Ankündigung, Präsenzdemonstrationen, Wiedergutmachung etc. (Stichwort: Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!). Elterngespräche und -kontakt an Weiterbildungstagen und in Super-/Intervisionen thematisieren. Sehr lehrreich sind in diesem Zusammenhang Rollenspiele und Perspektivenwechsel. Gemeinsame Eltern- und Lehrerweiterbildungen. Wir werden oft angefragt, einen Abendvortrag für die Elternschaft zum Thema »Neue Autorität« zu halten. Die Erfahrung zeigt, dass es besonders kooperationsfördernd wirkt, wenn dies zu einem gemeinsamen Anlass für Eltern und Lehrer genutzt wird und im Anschluss Austausch und Gesprächsrunden zwischen Eltern und Lehrerinnen stattfinden. Familienklassenzimmer. Eltern verbringen einen Nachmittag in der Woche gemeinsam mit ihrem Kind und speziell geschulten Lehrpersonen in der Schule. Sie arbeiten gemeinsam spielerisch und interaktiv an den individuellen Themen. Eia Asen hat viele kreative Ideen dazu entwickelt (Asen u. Scholz, 2017), die in zahlreichen Schulen mit großem Erfolg umgesetzt werden.

Realistischerweise gelingt es nicht immer auf Anhieb, Eltern zur Zusammenarbeit zu gewinnen. Dann ist es auch gut möglich, Interventionen der Neuen Autorität nur mit Kollegen und Kolleginnen aus dem Schulalltag durchzuführen und die Eltern gleichzeitig transparent über das Vorgehen zu informieren. Häufig ist es so, dass Kinder ganz geschickt darin sind, Eltern und Lehrkräfte gegeneinander auszuspielen. Lehrkräfte sollten sich darüber im Klaren sein und größ-

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tes Verständnis dafür haben, dass Eltern in erster Linie ihre Kinder beschützen wollen und sie entsprechend (auch unbewusst) verteidigen. Dennoch – wenn gemeinsames Vorgehen gelingt, führt dies zu einer höheren Wirksamkeit der Interventionen und letztlich zu einer Entlastung aller Beteiligten.

Herausforderungen und Spannungsfelder Im Folgenden soll kurz auf die wahrgenommenen Herausforderungen und Spannungsfelder im Kontext Schule hingewiesen werden (Seefeldt, 2017), die uns in der Praxis immer wieder begegnen. Spannungsfeld: Gemeinsame Haltung – Individualität Es ist, gerade für engagierte Expertinnen und Experten, eine Herausforderung, sich innerhalb eines Teams auf eine gemeinsame Haltung und gemeinsame Werte zu einigen. Dennoch lohnt es sich, Zeit und Energie in diesen Prozess zu stecken. Im Schulalltag kommen pädagogische Haltungsdiskussionen leider oft zu kurz. Eine gemeinsame Haltung zu entwickeln, bedeutet nicht, dass sich alle Lehrkräfte identisch verhalten müssen. Im Gegenteil – Vielfalt ist wichtig, nicht zuletzt für eine gute Entwicklung der Kinder. Bei der Lehrerin X ist Kaugummikauen erlaubt, beim Lehrer Y dagegen nicht. So viel Unterschied darf und muss sein. Im Elternhaus gibt es sicher auch Dinge, über die die Mutter hinwegsieht, der Vater aber nicht und umgekehrt. Bei grundlegenden Werteverletzungen dagegen sollte das Kollegium eine einheitliche Haltung vertreten, also z. B. bei Gewaltvorfällen, Mobbing oder Drogenkonsum. Die »Körbe-Arbeit« (beschrieben u. a. in Kapitel 1.1) kann das Kollegium darin unterstützen, Verhaltensweisen passend einzuordnen: Alle Verhaltensweisen, die im roten Korb sind, werden von niemandem toleriert und führen zu Interventionen. Bei Verhaltensweisen dagegen, die sich im Toleranz- oder im Verhandlungskorb finden, kann die Herangehensweise je nach Lehrkraft unterschiedlich sein. Spannungsfeld: Euphorie – erlebte Realität Wir erleben häufig eine große Euphorie bei Erziehenden und Pädagogen, wenn sie das erste Mal von den Ideen der Neuen Autorität hören, beispielsweise auf einer Tagung oder in einem Vortrag. Tags darauf kommen sie begeistert

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in ihren Schulalltag zurück und stoßen beim Kollegium erst einmal auf Ablehnung: »Schon wieder ein neues Projekt? Wir haben schon genug zu tun!« Ein geschätzter Kollege, der Organisationsberater Wolfgang Looss, hat einmal gesagt: »Missionare landen im Kochtopf.« So kann es manch begeistertem Lehrer ebenfalls ergehen. Auch hier sind Behutsamkeit, Geduld und Beharrlichkeit angesagt. Spannungsfeld: Prozess-/Haltungsarbeit – Instrumente/Tools Lehrkräfte sind es gewohnt, handlungs- und ergebnisorientiert zu arbeiten. »Welche konkreten Interventionen führen wir durch?«, »Welche Werkzeuge nutzen wir?« sind häufige Fragen an Weiterbildungstagen. Einfache Handlungsanweisungen mit schnellen Resultaten sind erwünscht. Haltungsarbeit aber ist ein Prozess, braucht Zeit und ein beharrliches Dranbleiben. Damit Lehrpersonen nicht aus dem Prozess aussteigen, braucht es einen guten Mix aus pädagogischen Haltungsdiskussionen und konkreten Umsetzungen (z. B.: Wie erhöhen wir unsere Präsenz auf dem Pausenhof, ohne dass wir kontrollieren? Wie gestalten und nutzen wir physische Präsenz, aber auch Beziehungsangebote?). Spannungsfeld: Wir kennen die Lösung nicht – Lehrkräfte kennen die Antwort Die Erwartungshaltung, die viele Lehrpersonen an sich selbst stellen, sowie die der Kinder und Jugendlichen und nicht zuletzt die der Eltern an Lehrer-/innen ist häufig überzogen: »Der Lehrer muss doch die Lösung kennen, er kennt doch sonst auch die Lösung zu den Aufgaben und weiß, was richtig und falsch ist.« Für gruppendynamische Prozesse, für schwierige Situationen im Klassenzimmer oder auf dem Pausenhof, für herausforderndes Verhalten von Schülern gibt es aber nicht die Lösung. Solche Herausforderungen können nicht im Alleingang gelöst werden. Es braucht einen kreativen und gemeinsamen Suchprozess, eine offene Fehlerkultur und den Mut zuzugeben: »Wir wissen auch nicht, wie wir das lösen können, aber wir bleiben gemeinsam dran und sind zuversichtlich, dass wir passende Handlungsoptionen finden werden.« Nicht nur im Kontext Schule, sondern auch in vielen anderen Aspekten unserer Gesellschaft kommt es einem Paradigmenwechsel gleich, das Zugeben von Nicht-Wissen oder Überforderung nicht als Schwäche, sondern vielmehr als ein Zeichen für Stärke und für eine von Vertrauen geprägte Gemeinschaft zu verstehen.

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Spannungsfeld: Unmittelbarkeit – Aufschub und verzögerte Reaktion Wenn ein Vorfall wie Gewaltanwendung oder Sachbeschädigung im Schulkontext passiert, gibt es in der Regel sehr schnell laute Stimmen, die sofortiges Handeln fordern. Nicht immer führt ein überstürztes Handeln zu den erwünschten Ergebnissen. In Anlehnung an Martin Lemmes und Bruno Körners Leitfaden (2018b) für solche Situationen kann folgende Vorgehensweise hilfreich sein: 1. Schutz → Wer oder was braucht Schutz? (Oberste Priorität) 2. Deeskalation → Wie genau und was eskaliert? Bei mir? In der Beziehung? In der Klasse? In der Schule? Was könnte dazu beitragen, die Situation zu (de-)eskalieren? 3. Was genau ist das Problem? Um welches Verhalten geht es? Welchem Verhalten gegenüber soll Widerstand geleistet werden? (Evtl. Körbe-Arbeit) 4. Bedürfnisse → Welche Bedürfnisse, welche Motivation steht möglicherweise hinter dem problematischen Verhalten? 5. Aspekte Waben/Netz/Säulen → Welche Möglichkeiten der Handlung sind möglich? Welche Intervention ist auf welchen Ebenen und für wen im Moment wichtig/erforderlich (für mich, für die Beziehung, für die Klasse)? Wie stellen wir eine gute Präsenz (wieder) her? 6. Erste (kleine) Schritte → Was wäre der nächste Schritt – auch wenn er noch so klein ist? In der Arbeit mit der Neuen Autorität fällt im Zusammenhang mit der verzögerten Reaktion immer wieder das bewusst irritierende, abgeänderte Zitat von Haim Omer: »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!« Bei Provokationen seitens der Schüler im Klassenzimmer oder auf dem Pausenhof ist die Versuchung groß, in einen Machtkampf einzusteigen – insbesondere wenn die anderen Schüler und Schülerinnen gespannt darauf warten, wie die Lehrerin wohl reagieren wird. Die Neue Autorität bietet in solchen Fällen an, die eigene Selbstkontrolle zu trainieren und z. B. zu sagen: »Wir können dein Verhalten nicht akzeptieren und werden später darauf zurückkommen.« Wann dieses »später« ist, entscheidet die Lehrerin zusammen mit ihren Kollegen und – wenn möglich – den Eltern. Uri Weinblatt hat in einem gemeinsamen Workshop Präsenz in einer Formel definiert: »Präsenz ist Ruhe mal Nähe mal Zeit«. Eine Intervention wirkt besonders dann gut, wenn die beteiligten Erwachsenen über eine gute Präsenz verfügen, also in einer ruhigen und nicht aufgeregten Verfassung sind, beziehungsorientiert handeln können und über Zeit verfügen.

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Spannungsfeld: Fokussierung auf die Erziehenden – Fokussierung auf das Kind Zum Glück haben wir in unseren Breitengraden eine überwiegend gute Versorgung mit psychologischen und therapeutischen Unterstützungsangeboten. Die Kehrseite davon ist, dass auch im Kontext Schule Probleme gern outgesourct werden. Die Wunschvorstellung, ein Kind »zur Reparatur« zu schicken und es »repariert« wieder zurückzubekommen, ist verständlich. Der Ansatz der Neuen Autorität geht konsequent von der Vorstellung aus, dass ich das Verhalten eines anderen Menschen nicht kontrollieren kann, dafür aber über genügend Selbstkontrolle verfüge, mein eigenes Verhalten zu ändern. Im Kontext Schule bedeutet das, dass das Kollegium sich selbst immer wieder reflektiert, sich Gedanken darüber macht, auf Grundlage welcher Wertehaltung und wozu es handelt, und seine Interventionen und Verhaltensweisen unabhängig vom Verhalten des Kindes durchführt. Selbstverständlich mit der Hoffnung – aber nicht unter der Bedingung –, dass sich das Verhalten des Kindes ändert. Der Scheinwerfer wird sozusagen vom Kind weg zu den Erwachsenen hin geschwenkt. Das verlangt viel Selbstreflexion, gleichzeitig entlastet es die Lehrkräfte aber auch: »Wir tun unser Bestes, um die Situation zu ändern und dich zu unterstützen, können und wollen dich aber nicht kontrollieren.« Spannungsfeld: Werteorientierung – bestehendes Regelwerk Wir beobachten, dass Schulen mit einem umfangreichen Regelwerk eher mehr Regelverstöße und Vandalismusprobleme haben als Schulen, die sich auf einige wenige Werte berufen. Der verständliche Versuch, über eine möglichst allumfassende Schulordnung Kontrolle ausüben zu können, ist aus unserer Sicht eine Illusion. Zumal die Mitglieder des Kollegiums sich bestimmt nicht immer einig sind, was einzelne Regeln anbetrifft. Es ist einfacher und verbindender, sich über eine gemeinsame Wertehaltung zu verständigen und zu einigen (übrigens auch mit Eltern). Beispielsweise hat eine Landschule im Kanton Thurgau ihre einstmals über dreißig Regeln umfassende Schulordnung konsequent auf drei Grundsätze gekürzt (»Ich trage anderen Sorge – Ich trage mir selbst Sorge – Ich trage den Sachen Sorge«). Tatsächlich gab es im darauffolgenden Schuljahr weniger Vorfälle. Eine große Primar- und Sekundarschule in Zürich arbeitet mit einem ähnlichen Kodex (siehe https://www.stadt-zuerich.ch/schulen/de/imbirch/ueberuns/ portrait/leitbild.html).

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Häufig führt die Auseinandersetzung mit der Neuen Autorität zu einer Infragestellung der bisherigen Regeln. Die Klarheit und Entschiedenheit einer konsequenten Werteorientierung dagegen führt zu einer hohen persönlichen und auch gemeinsamen Präsenz der Lehrkräfte. Herausforderung: Fehlende zeitliche Ressourcen im Alltag Dieser Aspekt ist vermutlich das größte Hindernis und gleichzeitig ein »Totschlagargument« für jegliche Entwicklung und Veränderung. Es bedarf einer Behutsamkeit und einer Menge Verständnis für die bestehende Situation in vielen Schulen, die durch Ressourcenengpässe sowohl in finanzieller als auch personeller Hinsicht geprägt ist. Es braucht Mut, um das Hamsterrad anzuhalten und aus der Reaktion in eine gestalterische Aktion zu kommen. Hilfreich ist die Erfahrung, dass sich die Investition in die Auseinandersetzung mit Neuer Autorität sehr rasch und nachhaltig als entlastend und deshalb wirklich lohnend erweist. Herausforderung: Selbstwirksamkeit Selbstwirksamkeit ist für alle Erziehenden und Lehrenden ein wichtiges Thema. Häufig scheinen unsere erzieherischen Bemühungen keine unmittelbare Wirkung zu haben. Dieser Umstand birgt ein nicht zu unterschätzendes Frustrationspotenzial. Hier eine Geschichte, wie ich sie schon häufiger von erfahrenen Lehrerinnen und Lehrern gehört habe: Die Primarschullehrerin Frau Mandel trifft im Supermarkt auf ihren ehemaligen Schüler Tobias. Tobias hat Frau Mandel seinerzeit einige graue Haare beschert, er hat sich im Unterricht mitunter ziemlich respektlos verhalten, und auch seine schulischen Leistungen hätten viel besser sein können. Frau Mandel hat damals unter Einbezug von Tobias Eltern immer wieder verschiedenste Interventionen ausprobiert – scheinbar ohne Erfolg. Jetzt, Jahre später, dankt Tobias Frau Mandel dafür, dass sie ihn damals nicht fallen gelassen hat …

Frau Mandel hat das Glück, dieses sehr verspätete positive Feedback durch eine zufällige Begegnung im Supermarkt zu bekommen; im Regelfall hören Lehrkräfte selten von ihrer langfristigen Wirksamkeit. Umso wichtiger ist es, dass im Lehrerkollegium viel aus dem Alltag im Klassenzimmer geteilt wird und die individuellen Anstrengungen von den Kolleginnen wertschätzend gesehen und benannt werden.

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Erfahrungsschätze, Erfolgsfaktoren und Nachhaltigkeit Was braucht es, um am Ball zu bleiben und einen nachhaltigen Entwicklungsprozess anzustoßen? An dieser Stelle möchte ich nochmals die aus unserer Sicht wichtigen Faktoren für einen gelungenen Prozess zusammenfassen: •• andauernder Prozess; •• Haltung in allen Settings einführen bzw. leben, die Haltung muss mit der Praxis verbunden sein; •• Leitungspersonen müssen überzeugt sein und die Haltung vorleben und einfordern; •• regelmäßiger Austausch über die Haltung und die Erfahrungen im Team; •• Leidenschaft und Interesse für das Thema schüren (durch den Besuch von Weiterbildungen, gemeinsames Erleben etc.); •• regelmäßiges Aufzeigen des Nutzens; •• Prozess sollte immer wieder den vorhandenen Ressourcen und Bedürfnissen angepasst werden; •• beharrliche Förderung der Zusammenarbeit und Feedbackkultur im Team; •• sich der gemeinsamen Haltung (Schulleitung, Schulsozialarbeit und Kollegium) regelmäßig versichern; •• Begleitung durch Beratungspersonen (zu Beginn mehr, dann immer weniger). Der Gewinn und Nutzen aus einem nachhaltigen Prozess sind: •• eine Entlastung durch gemeinsame pädagogische Haltung; •• mehr Ruhe in herausfordernden Situationen und Krisen (Entschleunigung); •• eine Ausweitung der Handlungsspielräume; •• eine präventive, vertrauensvolle und konstruktive Vernetzung mit Eltern; •• die Bedürfnisse der Kinder werden aufgrund der Multiperspektivität besser erkannt; •• eine gute Fehlerkultur, gegenseitige Unterstützung und die Reduktion von Eskalationen. Prozessbeispiel In diesem Abschnitt wird ein umfassendes Praxisbeispiel anhand des Umsetzungsprozesses an einer Schweizer Schule beschrieben. Die Schule beherbergt einen Kindergarten, eine Primar- (1.–6. Klasse) und eine Sekundarschule (7.–9. Klasse), das Kollegium besteht insgesamt aus 32 Lehrkräften, vier Heilpädagoginnen, zwei Schulsozialarbeitern und der Schulleiterin. Zwei externe Beraterinnen (Fachpersonen mit langjähriger Prozesserfahrung und Praxiserfahrung mit dem Ansatz der Neuen Autorität) begleiten und unterstützen das Team in der Umsetzung.

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Zu Beginn Die externen Beraterinnen führen eine intensive Auftragsklärung mit der Schulleitung (Schulleiter Primarschule, Schulleiterin Sekundarschule), je zwei Vertretungen des Kollegiums pro Stufe, einer Schulsozialarbeiterin und der Beauftragten für Schulentwicklung der übergeordneten Behörde durch. Ergebnis: Die Schulentwicklung soll auf drei Jahre angelegt das Thema »Neue Autorität« aufgreifen. Ziel ist es, den Ansatz der Neuen Autorität als Referenz für eine Haltungs- und Handlungsentwicklung zu nutzen, wobei das ganze Team vor allem in den Themen Werte und Haltung, Präsenz, Beziehung und Widerstand, Unterstützung und Vernetzung, präventive Elternarbeit und Feedbackkultur geschult und unterstützt werden soll. Ein noch zu bildendes »Care-Team«, bestehend aus vier bis sechs Vertretern des Lehrkörpers, soll extern intensiv geschult werden, um sicher im Umgang mit den Interventionen der Neuen Autorität und Anlaufstelle für ihre Kollegen und Kolleginnen in Krisensituationen zu werden. Eine Projektgruppe, bestehend aus Schulleitung und vier Lehrpersonen, plant gemeinsam mit den externen Beraterinnen die nächsten Schritte und entwirft eine Prozessarchitektur (vgl. Abbildung 1). Die Behördenvertreterin befürwortet das Vorgehen und wird das finanzielle Budget bei der Behörde beantragen. Darüber hinaus wird vereinbart, dass die Mitglieder der Projektgruppe sowie die noch zu bestimmenden Mitglieder des Care-Teams eine Kompensation für ihren zusätzlichen Aufwand erhalten. Das angestrebte Ergebnis des Prozesses ist es, Lehrpersonen (und Eltern) zu stärken, unter der Annahme, dass Lehrpersonen, die nachhaltig gestärkt sind, sich besser auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder einstellen können. Den Auftakt für das Projekt soll ein Kick-off-Halbtag sein, an dem die beiden externen Beraterinnen die Grundlagen der Neuen Autorität anhand vieler Praxisbeispiele und interaktiver Übungen vermitteln werden. Eingeladen sind das Kollegium, die Elternvertretung und Vertreterinnen der übergeordneten Behörde. Arbeit mit Schulleitung Eine externe Beraterin begleitet und berät die Schulleiterin und den Schulleiter in deren Führungsfunktion. Die Grundsätze der Neuen Autorität (Präsenz, Selbstführung, Unterstützung bzw. Führungskoalitionen, Wiedergutmachung, Transparenz, Beharrlichkeit und Deeskalation, Reflexion) sollten auch in der Führung reflektiert und gelebt werden (siehe Kapitel 2.9). Arbeit mit der Projektgruppe Mit der Projektgruppe wird eine Grobplanung für die nächsten beiden Jahre und eine Detailplanung für das nächste Halbjahr erarbeitet. Die Projektgruppe kümmert sich auch um die laufende Kommunikation über den Projektverlauf und informiert entsprechend Kollegium, Schülerschaft, Elternvertretung und Behörde.

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Arbeit mit dem ganzen Kollegium (inklusive Schulsozialarbeit, Heilpädagoginnen und Hausdienst) Hier geht es vor allem darum, immer wieder Anschlussfähigkeit sicherzustellen und den Lehrkörper in einen konstruktiven Austausch zu bringen. An den Teamtagen einigt man sich auf folgende Themenschwerpunkte: •• Anerkennung und Benennung der Stress- und Belastungsfaktoren im Kollegium; •• Erfragen und Anerkennen der vorhandenen Ressourcen und der als positiv erlebten Prozesse und Erfahrungen; •• Einladung, in Bezug auf das Gehörte aus der Kick-off-Veranstaltung Position zu beziehen; •• Vorurteile und Zuschreibungen kritisch hinterfragen; •• Wertearbeit: Für was stehen wir? Welche Werte sind uns wichtig? Wie entwickeln wir darin Entschiedenheit? Woran merken Schüler, Eltern und neue Kolleginnen, dass uns diese Werte wichtig sind und wir sie leben? •• Präsenzarbeit: Welche Präsenzformen nutzen wir bereits? Welche möchten wir ausbauen? •• kreative Beziehungsangebote an Schüler; dazu: Wann zeigen wir Widerstand gegenüber welchem Verhalten der Schüler und Schülerinnen? •• Unterstützungskultur aufbauen (Unterstützung als Grundprinzip, das Lösungen ermöglicht; vom »Ich« zum »Wir«). In diesem Zusammenhang wird auch auf das Thema »Schamregulierung« (Weinblatt, 2016) eingegangen; •• Feedbackkultur und Anleitungen für Intervisionen, kollegiale Beratung etc. •• Elternarbeit: präventive Beziehungsangebote, Anregungen zu Vernetzung, Elternzusammenarbeit in schwierigen Situationen, Fallbeispiele; •• drei Stufen der Wachsamen Sorge (siehe Kapitel 1.1, Abbildung 5); •• über weitere Themenschwerpunkte wird je nach Bedarf im Laufe des Prozesses entschieden. Wichtig ist, dass immer wieder auf eine gute Verbindung von Haltung und Handlungsweisen geachtet wird. Ohne entsprechende zugrunde liegende Haltung wird jede Intervention/Handlungsweise in ihrer Wirkung geschwächt. Ohne entsprechendes Handeln in der Praxis kann sich eine Haltung nicht nachhaltig entfalten. Arbeit mit Lehrpersonen (Selbststeuerung, Handlungsfähigkeit etc.) •• bei Bedarf Coaching von Lehrpersonen in schwierigen Situationen durch das Care-Team und/oder externe Beraterinnen; •• Super- und Intervisionen in Kleingruppen; •• gegenseitige Hospitationen und Besuche in den Klassenräumen;

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Arbeit mit den Eltern (und dem Kollegium) •• jährliches Angebot einer Informationsveranstaltung zum Ansatz der Neuen Autorität mit einer externen Fachperson, an der auch mindestens eine Lehrperson pro Stufe teilnimmt; •• Elternabende werden interaktiver und beziehungsorientiert durchgeführt; •• »offene Klassenzimmer«: Klassenlehrpersonen geben den Eltern regelmäßig Zeitfenster bekannt, zu denen sie aufgefordert werden, den Schulunterricht zu besuchen (zwei leere Stühle werden in jedem Klassenzimmer für Eltern frei gehalten); •• Elternvertretungen werden – soweit es passend ist – zu Teamtagen eingeladen. Halbjährlich wird der Prozess anhand eines Fragebogens evaluiert. Nach einem halben Jahr hat sich, gemäß der Aussagen der Lehrerschaft, die Qualität der Zusammenarbeit innerhalb des Kollegiums bereits merklich verbessert. Nach eineinhalb Jahren sind Haltung und Handlungsweisen gut verankert. Im Laufe des Prozesses wird eine »Patenschaft« für neue Kollegen und Kolleginnen eingeführt. Jeder neu in der Schule beschäftigten Lehrkraft wird ein Pate zur Seite gestellt, der sie die erste Zeit eng begleitet und in die Kultur des Schulhauses einführt.

Situative Umsetzungs- und Anwendungsbeispiele Beschimpfungen gegenüber Lehrpersonen Bereits seit längerer Zeit wurde die Handarbeits- und Werklehrerin von einem Schüler immer wieder während des Unterrichts beleidigt. Zunächst hatte die Lehrerin versucht, die Situation über Konsequenzen in den Griff zu bekommen, und dem Jungen gedroht, die Eltern zu informieren. Beides führte eher zu einer Verschlechterung, der Junge verhöhnte sie nun erst recht, und einige Mitschüler lachten die Lehrerin aus. Den meisten Mitschülern war die Situation allerdings sichtlich unangenehm. Scham und Fremdscham waren allgegenwärtig. Die Lehrerin fühlte sich ausgebrannt, schämte sich und fühlte sich allein. Die Schule organisierte regelmäßig extern geleitete Supervisionen. Die Lehrerin fasste sich ein Herz, nachdem sie sich einer Kollegin anvertraut hatte, und brachte ihre Situation als Fallarbeit in der nächsten Supervision ein. Man war sich schnell einig, dass es nun in erster Linie darum ginge, die Lehrerin zu schützen wie auch der Klasse wieder einen sicheren Ort mit gegenseitiger Wertschätzung während des Werkunterrichts zu bieten. Die Klassenlehrerin, zwei Lehrerkollegen und die Schulsozialarbeiterin bildeten das engere Unterstützungsteam, erarbeiteten gemeinsam mit der Handarbeitslehrerin eine Ankündigung (siehe Kapitel 3.1

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»Das Announcement«) an den beleidigenden Schüler und überbrachten diese mündlich wie schriftlich: »Seit einiger Zeit ist die Atmosphäre im Handarbeitsunterricht angespannt. Frau X. wurde wiederholt von dir beleidigt. Dies können wir nicht akzeptieren. Beleidigungen und verbale Gewalt dulden wir an unserer Schule nicht. Wir werden deine Eltern informieren und sie zu einem Gespräch bitten. Außerdem werden wir uns im Lehrerkollegium über dein Verhalten austauschen. Die Schulsozialarbeiterin sowie deine Klassenlehrerin werden dich ansprechen und dich darin unterstützen, eine Wiedergutmachung gegenüber Frau X. zu leisten. Über unser Vorgehen informieren wir auch die Klasse. Wir machen dies, weil wir dir die Möglichkeit geben wollen, dass du wieder ein ehrenhaftes Mitglied der Klassengemeinschaft wirst. Du bist uns wichtig!« In den nächsten Wochen demonstrierten verschiedene Mitglieder des Lehrerkollegiums immer wieder ihre Präsenz und Unterstützung, indem sie kurze Besuche im Werkunterricht machten und den Jungen im Gang oder in der Pause ansprachen. Dies führte zu einer deutlichen Verbesserung des Verhaltens, und die Beleidigungen hörten auf. Nach einiger Zeit brachte der Schüler mit seinem Vater Frau X. eine Pralinenschachtel und entschuldigte sich bei ihr für sein Verhalten. Dies wurde auch der Klasse mitgeteilt, und damit fand die Angelegenheit ihren Schlussstrich. Die Handarbeitslehrerin war durch diese Erfahrung gestärkt und trat selbstsicher vor der Klasse auf. Die Klassengemeinschaft war sichtlich erleichtert, dass die Lehrerschaft die Verantwortung übernommen hatte und für einen geschützten Raum sorgen konnte. Umgang mit Mobbing Ein Klassenteam hat beobachtet, dass ein Mobbing in sozialen Netzwerken seitens dreier Mädchen gegenüber einer Mitschülerin sich dahingehend ausgewirkt hat, dass diese nicht mehr zur Schule kommt. Nachfragen und Klärungen mit der Mutter haben dazu geführt, dass das Mädchen über die ganze Situation berichtete, obwohl sie dies vorher aus Angst nicht wollte. Daraufhin haben die Klassen- und Fachlehrer eine Ankündigung verfasst: »Wir als euer zuständiges Klassenteam sind in großer Sorge um euch und um die Sicherheit jeder und jedes Einzelnen von euch. Wir haben mitbekommen, dass einige von euch andere in der Klasse beschimpft, beleidigt und auch auf Facebook bloßgestellt haben. Wir sehen darin Mobbing, und dies ist für uns eine Form der Gewalt.

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Gewalt dulden wir an unserer Schule in keiner Form, und wir werden dagegen vorgehen. Daher werden wir folgende Schritte unternehmen: •• Zunächst haben wir bereits allen Kolleginnen und der Schulleitung von unseren Beobachtungen berichtet. •• Im nächsten Schritt werden wir eure Eltern von unseren Beobachtungen in Kenntnis setzen und einen Elternabend dazu veranstalten. Gemeinsam werden wir dann weitere Schritte planen. •• Wir wissen mindestens von einigen, dass sie an der Sache beteiligt sind. Jede und jeden Einzelnen von diesen werden wir ansprechen, Gespräche mit euren Eltern führen und dann weitere Schritte planen. •• Wir werden unseren Protest in besonderer Weise mit Schweigen sichtbar machen und euch um Vorschläge für Lösungen anfragen. •• Keine Angst, niemand wird der Schule verwiesen. Doch wir erwarten Wiedergutmachungen und Entschuldigungen, die der Klasse sichtbar gemacht werden. •• Auch werden wir ein Projekt mit euch dazu durchführen. •• Alle Ergebnisse und Vorgehensweisen werden der Schulleitung, den anderen Lehrern, euren Eltern und euch sichtbar und transparent gemacht. Wir tun dies, weil ihr uns alle wichtig seid! Und wir werden uns auch in Zukunft dafür einsetzen, dass Gewalt an dieser Schule in keiner Form geduldet wird. Euer Klassen-Team« Umgang Drogen An einer Gesamtschule in NRW, die in Konkurrenz zu einer anderen Gesamtschule im gleichen Ort steht, wurde von den Lehrkräften vorwiegend durch Schülerberichte festgestellt, dass offensichtlich am und auf dem Schulgelände Cannabis-Produkte und einige Pillen verkauft wurden. Die Schulleitung war zunächst in großem Zweifel, ob es gut sei, dagegen vorzugehen, auch wenn Schülerinnen betroffen waren, da sie Angst um den Ruf der Schule hatte. Es wurde dann überlegt, dass es gerade gut sei, die Sache öffentlich, gleichzeitig allerdings auch deutlich zu machen, welche Vorgehensweise gewählt worden sei. So formulierte die Schulleitung in Absprache mit dem Kollegium eine Ankündigung, die auch der Presse übergeben wurde: »Wir, das gesamte Lehrerkollegium, sind in großer Sorge um die Gesundheit und das Miteinander an unserer Schule. Wir haben beobachtet, dass auf und neben unserem Schulgelände verschiedene Drogen verkauft und konsumiert worden sind. So unvorstellbar dies zunächst für uns gewesen ist, so haben wir beschlossen, dagegen

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vorzugehen. Wir werden mit dieser Ankündigung allen Eltern der Schule und der Presse von diesen Beobachtungen berichten. Außerdem werden wir persönlich an den Stellen präsent sein und Aufsicht führen, wo wir wissen, dass diese Handlungen stattfinden. Wir haben die Polizei informiert. Wir werden zudem alle beteiligten Personen ansprechen und Kontakt zu den Eltern unserer betroffenen Schülerinnen aufnehmen. Unsere Beobachtungen werden wir allen Beteiligten, auch Euch, mindestens wöchentlich zurückmelden. Wir werden sehr aufmerksam sein, denn wir wollen, dass alle an dieser Schule sich gesund und sicher fühlen können!  Euer Kollegium« Der Besucherstuhl Eine Gruppe von Kolleginnen hatte beschlossen, sich gegenseitig doppelt zu unterstützen. Sie wollten sich zum einen regelmäßig Feedback über Beobachtungen während des Unterrichts geben, zum anderen unterstützende Präsenz zeigen. Zu diesem Zweck erfanden sie den »Besucherstuhl« (Lemme u. Körner, 2018). Dieser Stuhl steht unbesetzt in der Nähe des Lehrerplatzes. Die Kolleginnen besuchten einander während der Freistunden, manchmal auch während der Projekt- und Gruppenarbeiten ihrer Klassen in der Parallelklasse (die Türen standen in der Regel sowieso offen). Sie setzten sich dann eine Weile auf den Besucherstuhl. Die Wirkung war deutlich: Die Lehrerinnen untereinander erlebten eine sehr klare Unterstützung und stellten sogar fest, dass es ruhiger in den Klassen wurde. Präsenz auf dem Pausenhof Ein Schulheim für Kinder und Jugendliche mit sozialen Auffälligkeiten und besonderem Förderbedarf dachte sich etwas ganz Besonderes aus, um die Präsenz der Erziehenden während der Pausen zu erhöhen. Die Lehr- und Betreuungspersonen vereinbarten jede Woche ein bestimmtes Zeichen – z. B., sich kurz an das Ohrläppchen zu fassen oder am Ellenbogen zu kratzen –, und die Schüler sollten erraten, was das Zeichen war. Derjenige Schüler, der das Zeichen zuerst erriet, bekam eine Schokolade. So wurde ein Spiel daraus, und die Betreuungs- und Lehrpersonen erreichten, dass die Kinder und Jugendlichen die Präsenz der Erwachsenen interessiert wahrnahmen. Schulabwesenheit Frau S. ist Klassenlehrerin der 7. Schulstufe. Ihr fiel auf, dass Lena immer öfter vom Unterricht fernblieb. Dies war kein ganz neues Verhalten: Frau S. hatte schon, seit sie Lena kannte, wahrgenommen, dass diese recht häufig Fehlzeiten hatte. Dies hatte nun ein Ausmaß angenommen, dass Frau S. entschied, der Sache genauer nachzugehen. Sie lud Lenas Mutter zu einem Gespräch ein und betonte, dass aus

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ihrer Sicht auch die Anwesenheit deren Mannes (nicht der leibliche Vater von Lena) wichtig sei. Die Mutter stimmte zu, auch die Schulsozialarbeiterin hinzuzuziehen. Frau S. erfuhr daraufhin Hintergründe, die möglicherweise zu den vielen Fehlzeiten von Lena geführt hatten. Lena stamme aus erster Ehe, die sehr dramatisch und auch mit viel Gewalterfahrung seitens des Vaters gegenüber der Mutter zu Ende gegangen sei. Lena habe in den letzten Jahren immer wieder Befürchtungen geäußert, dass ihr Vater sie entführen könne, auch wenn diese Befürchtungen wenig realen Hintergrund hätten. Im Verlauf des Gesprächs wurden einige Entscheidungen getroffen. Alle Anwesenden kamen überein, nicht mehr zulassen zu wollen, dass die Angst von Lena das Verhalten zu Hause und ihren Schulbesuch bestimmte. Gemeinsam konnten einige Schritte überlegt werden. Die Mutter machte die geplanten Schritte gegenüber Lena mit einer Ankündigung bekannt. Sie wurde von ihrem Partner und der Klassenlehrerin begleitet. Fortan meldete sich Frau S. regelmäßig, ging einige Male morgens und nach der Schule zu Lena nach Hause, um mit ihr zu sprechen. Sie fragte, was sie tun könne, damit Lena zur Schule kommen könne. Von der Klassenlehrerin motiviert, besuchten nach und nach Mitschüler Lena, brachten ihr die Hausaufgaben und sprachen bzw. spielten mit ihr. Weiterhin schrieben Mitschüler Briefe und Karten sowie digitale Botschaften, um Lena zu motivieren, in die Schule zu kommen. Die Mutter gewöhnte sich an, Lena morgens mitzuteilen, dass sie sie zwar nicht zur Schule zwingen, aber schweigend ihren Protest und ihre Sorge ausdrücken könne, was sie entsprechend tat. Die Mutter hatte weitere Unterstützer hinzugezogen. So wurde Lena einige Male morgens von der Patentante sowie einer Freundin der Mutter (die Mutter einer Freundin von Lena) abgeholt und zur Schule begleitet. Lena schaffte es nach und nach, wieder in der Schule zu sein, zunächst einige Stunden, dann wieder ganze Tage (Netzwerk für Neue Autorität in Schulen, 2015). An dieser Stelle verweise ich gern auf weiterführende Literatur mit zahlreichen Praxisbeispielen im Kontext Schule von meinen Kollegen Lemme und Körner (2018) sowie Schönangerer und Steinkellner (2017).

Checkliste: Woran erkennt man eine Schule, die mit Neuer Autorität arbeitet? Im Folgenden ist eine Auswahl an Reflexionsfragen zusammengestellt mit der Absicht, eine Auseinandersetzung anzuregen und selbst darüber zu entscheiden, wie verankert die Haltungen und Handlungen in der betreffenden Schule bereits sind. •• Wie wird gegenseitige Unterstützung im Kollegium »gelebt«?

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Wie werden Eskalation und Gewaltvorfälle gehandhabt? Wie wird für Schutz aller Schüler und Schülerinnen gesorgt? Wie wird für Schutz aller Angestellten der Schule gesorgt? Wie steht das Kollegium Strafen und Konsequenzen gegenüber, wie Wiedergutmachungen? Für welche Werte steht das Kollegium ein, wie werden sie gelebt und nach außen und innen vertreten? Woran erkennen die Schüler und Schülerinnen, die Eltern, die Gemeindemitglieder, neue Kolleginnen im Lehrkörper, dass diese Werte in der Schule vertreten und gelebt werden? Welche beziehungsfördernden Verhaltensweisen und Rituale sind in der Schule beobachtbar? Welche Art von Feedback- und Auseinandersetzungskultur wird gelebt? Wie werden Eltern in die Schulentwicklung, in den Schulalltag und in schwierigen Situationen miteinbezogen? Wie wird Vernetzung mit Fachpersonen außerhalb der Schule sichergestellt?

Blick in die Glaskugel – eine Vision für die Zukunft Schulen sind geschützte Orte, an denen kognitives und soziales Lernen als gleichwertig angesehen werden. Orte, die von einer Kultur der Auseinandersetzung und der Verständigung, von gemeinsamer Entwicklung, von intensiver Vernetzung innerhalb und außerhalb der Schule, von gegenseitiger Wertschätzung, würdevollem Umgang und Achtsamkeit geprägt sind. Es herrscht ein starkes Wir-Gefühl, die Ressourcen und Talente aller werden gesehen und genutzt. Vielfalt ist selbstverständlich, und es herrscht ein grundsätzliches Gefühl von Zuversicht. Eine klare Entschiedenheit für transparente Reflexionsprozesse sowie für die gegebenenfalls auch einseitige Verantwortungsübernahme der Erwachsenen für eine gelingende Beziehung zum Kind ist als Haltung und im Handeln spür- und erlebbar. Der britische Bildungsexperte Sir Ken Robinson nennt diesbezüglich acht entscheidende Kompetenzen für die Zukunft (Robinson, 2015a, 2015b): 1. Curiosity: die Fähigkeit, interessiert Fragen zu stellen und die Welt entdecken zu wollen 2. Creativity: die Fähigkeit, neue Ideen zu entwickeln und umzusetzen 3. Criticism: die Fähigkeit der Analyse, des kritischen Hinterfragens und der durchdachten Argumentation 4. Communication: die Fähigkeit, Gedanken und Gefühle klar und selbstbewusst innerhalb verschiedener Medien auszudrücken

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5. Collaboration: die Fähigkeit zu konstruktiver Zusammenarbeit 6. Compassion: die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und entsprechend zu handeln (»In schools, as elsewhere, compassion has to be practiced, not preached«, Robinson, 2015a, S. 139) 7. Composure: die Fähigkeit, sich mit seinen Gefühlen zu verbinden und einen Sinn für Balance zu finden (Schulen können Kinder darin unterstützen, indem sie beispielsweise Meditation praktizieren und Achtsamkeit zum Thema machen) 8. Citizenship: die Fähigkeit, sich an der Gestaltung der Zukunft zu beteiligen (z. B. durch Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft für Demokratische Bildung, EUDEC) In einem geschützten und beziehungsorientierten Raum können Lehrerinnen und Schüler diese Fähigkeiten entwickeln und pflegen. Es ist unsere Ansicht, dass viele dieser Komponenten durch eine von der Neuen Autorität getragene Haltung unterstützt und befördert werden. Wir freuen uns auf die Zukunft! Literatur Asen, E., Scholz, M. (Hrsg.) (2017). Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Bauer, J. (2008a). Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern (2. Aufl.). München: Heyne. Bauer, J. (2008b). Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. München: Heyne. Cachelin, J. L. (2016). Update! Warum die digitale Gesellschaft ein neues Betriebssystem braucht (3. Aufl.). Bern: Stämpfli Verlag. Hattie, J. (2017). Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von »Visible Learning for Teachers«. Baltmannsweiler: Schneider. Heckman, J. (2013). »Auf die Familie kommt es an«. Interview mit Christine Brinck. In Die Zeit 26/2013. https://www.zeit.de/2013/26/fruehfoerderung-james-heckman/seite-2 (Zugriff am 25.01.2019). Lemme, M., Körner, B. (2018a). »Neue Autorität« in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag (3. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Lemme, M., Körner, B. (2018b). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Päda­ gogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Netzwerk Neue Autorität in Schulen (2015). Broschüre Stärke statt Macht – Das Konzept der Neuen Autorität in der Schule. anCos Verlag GmbH, Bramsche. Erhältlich über https:// systemische-impulse.ch oder https://www.neueautoritaet.de Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde (3. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Peschel, F. (2012). Offener Unterricht. Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion. Teil 1: Allgemeindidaktische Überlegungen (Basiswissen Grundschule, Band 9). Baltmannsweiler: Schneider. Reichenbach, R. (2017). Ethik der Bildung und Erziehung (Grundstudium Erziehungswissenschaft, Band 4859). Stuttgart: UTB.

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Robinson, K., Aronica, L. (2015a). Creative schools: the grassroots revolution that’s transforming education. New York: Viking. Robinson, K., Aronica, L. (2015b). Wie wir alle zu Lehrern und Lehrer zu Helden werden. Salzburg: Ecowin. Rosa, H., Endres, W. (2016). Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim: Beltz. Rozovsky, J. (2015). The five keys to a successful Google team. https://rework.withgoogle.com/ blog/five-keys-to-a-successful-google-team/ (Zugriff am 25.01.2019). Schönangerer, W., Steinkellner, H. (Hrsg.) (2017). Neue Autorität macht Schule. Horn: Berger & Söhne. Seefeldt, C. (2017). Anders, als man denkt … Ein systemischer Blick auf lernende Organisationen. Journal für Schulentwicklung, 21 (1), 24–26. Seefeldt, C., Frey, R. (2018). Stärke statt Macht. In R. Schwyter, M. Spillmann (Hrsg.), Grundhaltung der Kooperation (S. 90–97). Aarau/Bern: Schiess. Weinblatt, U. (2016). Die Nähe ist ganz nah! Scham und Verletzungen in Beziehungen überwinden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

2.4 Auf den Anfang kommt es an! Neue Autorität in der frühkindlichen Entwicklung Martin Lemme und Silvia Lemme

In Seminaren sind wir wiederholt gefragt worden, ob das Konzept der Neuen Autorität auch bei Kindern im Vorschulalter anzuwenden sei. Dabei bezieht sich diese Frage in der Regel auf die Umsetzung von Sit-Ins und Ankündigungen. Diese methodische Vorgehensweise im Konzept der Neuen Autorität ist in der Regel eine Begegnung mit von Gewalt geprägten Eskalationssituationen. Insofern ist aus unserer Sicht die Vorgehensweise im Rahmen von frühkindlicher Entwicklung anzupassen. Auch wenn manche Verhaltensweisen im Alter von bis zu sechs Lebensjahren möglicherweise bei älteren Kindern und Jugendlichen als Gewalt definiert werden würden, weil sie ihre Eltern oder andere anspucken, beißen, schlagen oder treten, dies aber bei jüngeren Kindern noch nicht als so verletzend und gravierend wahrgenommen wird, erleben wir häufig eine große Hilflosigkeit im Umgang mit eben jüngeren Kindern. Eltern wie auch Erzieherinnen erleben sich nicht selten ratlos und suchen nach Hilfe und Unterstützung. Insofern geht es in diesem wie auch in anderen Kontexten vor allem um die Stärkung der Präsenz der beteiligten Personen. Lemme und Körner (2018) haben dies in ihrer Logik des Konzepts der Neuen Autorität beschrieben (siehe Abbildung 1 in Kapitel 2.2). Die Präsenz einer erziehungsverantwortlichen Person steht demnach in einem zirkulären und wechselwirkungsbedingten Zusammenhang mit Handlungen der Kinder und den Ereignissen um diese, mit denen sie umgehen. Eine gestärkte und stabile Präsenz hat entsprechend eine günstige Auswirkung auf die Beziehungsgestaltung und das Miteinander zwischen Erwachsenen und Kindern und damit auf die Entwicklung der Kinder. Die methodischen Überlegungen zur Stärkung und Wiederherstellung von Präsenz nennen Lemme und Körner »Haltungs- und Handlungsaspekte der Neuen Autorität«. Nun sind diese an mehreren Stellen schon ausführlich beschrieben worden (Lemme u. Körner, 2018; Kapitel 1.1 und 2.2). Insofern werden wir uns in diesem Beitrag mit ausgewählten Themen befassen, die für den Bereich der frühkindlichen Erziehung aus unserer Sicht besonders zu betrachten sind.

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Darüber hinaus hat sich das Konzept der Neuen Autorität mit der Idee der Wachsamen Sorge von einem Krisenkonzept zu einem umfassenderen pädagogischen Konzept entwickelt und damit auch Einfluss in der frühkindlichen Erziehung bekommen. Die entsprechende Umsetzung und jeweiligen Überlegungen werden wir im Folgenden näher beschreiben. Dabei stellen wir zunächst Überlegungen an zu (1) der Übertragung der Grundhaltungen der Neuen Autorität auf die Umsetzung einer gewaltfreien und demokratischen Pädagogik in der frühkindlichen Entwicklung für Eltern, Familien und Kitas. Dann gehen wir auf die aus unserer Sicht vorhandenen (2) besonderen Aspekte im Elterncoaching von Eltern mit Kindern im Vorschulalter ein. Einen weiteren Fokus legen wir auf (3) die Autorität der Erzieherinnen sowohl im Umgang mit den Kindern als auch mit deren Eltern. Dies beschreiben wir jeweils anhand eines Beispiels aus dem Elterncoaching und der Arbeit in Kitas, die die Umsetzung von Möglichkeiten zeigen.

Neue Autorität in der frühkindlichen Entwicklung in Kitas und im Coaching von Eltern Omer beschreibt in seinem Konzept das Prinzip der Wachsamen Sorge (2015), um eine umfassendere Idee von Pädagogik darzustellen. Dies ist in diesem Buch bereits an mehreren Stellen erläutert worden. Das zunächst als Krisenmodell für hocheskalierende Familiensysteme entstandene Konzept hat zur Wiederherstellung der elterlichen Präsenz und zur Beziehungsgestaltung sogenannte einseitige Maßnahmen entwickelt. Diese sind dann notwendig, wenn sich eine Beziehungskonstellation derart entwickelt hat, dass eine kooperative Klärung von Konflikten nicht mehr möglich erscheint, Schutz und Sicherheit wieder etabliert werden müssen. Maßnahmen wie das Ausrufezeichen oder das Sit-In gehören in diesen Zusammenhang. Eingeleitet werden die Vorgehensweisen auf diesem Grad der Wachsamen Sorge durch eine Ankündigung der einseitigen Schritte der Erziehungsverantwortlichen. Wie schon erwähnt, ist diese hohe Eskalation im frühkindlichen Alter nicht so häufig gegeben oder wird als solche nicht wahrgenommen, sodass die folgenden pädagogischen Überlegungen sich mehrheitlich auf den ersten und zweiten Grad der Wachsamen Sorge beziehen. Dabei geht es vorrangig um die Etablierung von Grundhaltungen und achtsamen Vorgehensweisen, die möglichen Eskalationszusammenhängen vorbeugen bzw. das Vorgehen bei ungünstigen Entwicklungen schon vorbereiten sollen. Auch fokussiert dies auf die grundlegend gestaltete Kooperation bei und mit den Eltern, die eigene Haltung, das Vorgehen im Team sowie die Gestaltung

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der Rahmenbedingungen. Gleichwohl werden wir später im Beitrag noch die Umsetzung einseitiger Maßnahmen im frühkindlichen Alter thematisieren. Für uns sind daher in unserem Vorgehen einige Grundhaltungen und Begrifflichkeiten besonders bedeutsam, auf die wir im Folgenden genauer eingehen werden: •• Darstellung einer systemischen Pädagogik •• Notwendigkeit dualer Beziehungserlebnisse für Kinder •• Gewaltfreie Erziehung – was ist das? ȤȤ Satyagraha, Swaraj, Ahimsa ȤȤ Demokratische Erziehung? •• Partizipation der Kinder •• Gesellschaftliche Bedeutung ȤȤ Begegnung der Kulturen Darstellung einer systemischen Pädagogik Lange Zeit war die Pädagogik im Kita-Bereich auf das einzelne Kind mit seinen jeweiligen Entwicklungsschritten und den dafür notwendigen Unterstützungsangeboten fokussiert. Auch Eltern haben diese Betrachtung so aufgegriffen und die Kita primär als qualitativ gute Betreuung ihrer Kinder wahrgenommen. Die Rolle der Erzieherin war vorrangig die Betreuung der Gruppe, die Durchführung von entsprechenden Förderangeboten und die Organisation des tages- wie auch jahreszeitlichen Ablaufs. In etlichen Kitas, die wir kennengelernt haben, gab es keine regelmäßigen Gesprächsangebote mit den Eltern, eher »Zwischen Tür und Angel«-Gespräche und insgesamt eine deutliche Unsicherheit im Umgang mit diesen. Andere Einrichtungen führten regelmäßige Förderplanungsgespräche durch, die auf die Entwicklung des Kindes fokussiert waren. Der Blick einer systemischen Pädagogik geht über diese Perspektive hinaus. Jedes Kind wird dabei als Teil eines Systems verstanden, welches es grundsätzlich und situativ beeinflusst. Dieses Prinzip der Zirkularität macht deutlich, dass ein Verhalten eines Kindes besser verstanden werden kann, wenn es im Kontext seines Auftretens interpretiert wird. Somit wird sein Verhalten beeinflusst durch die Interaktionen mit den anderen Kindern der Gruppe, seiner Umgebung, den weiteren Familienmitgliedern, den Eltern und den Erzieherinnen sowie der jeweils vorhandenen Atmosphäre. Die Gestaltung dieses Kontextes wiederum schafft Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Verhalten des Kindes. Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass Kinder für ihre Entwicklung Erziehungspersonen als Gegenüber benötigen, an denen sie sich entwickeln und orientieren können. In der Bindungstheorie wird von einem natürlichen und intuitiven Bindungsverhalten und der entsprechenden Suche danach ausgegangen (Bowlby, 2008), sodass Kinder sich

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dort, wo ihnen Bindung und entsprechende Aufmerksamkeit bei gleichzeitiger Absicherung ihrer Grundbedürfnisse Integrität, Sicherheit, Zugehörigkeit und Autonomie angeboten werden, eher kooperativ und bindungsannehmend verhalten. Diese Überlegungen werden auch von den gängigen neurobiologischen Konzepten bestätigt. So beschreibt Porges (2010, 2018) das Prinzip der Neurozeption (vgl. Kapitel 1.6), welche die fortwährende Absicherung des Menschen in Bezug auf seine Umgebung darstellt. Systemische Pädagogik meint also die Berücksichtigung dieser Wechselwirkungsprozesse und nutzt diese für die Gestaltung von Entwicklungsräumen von Kindern mit ihren erwachsenen Bezugspersonen. Im Kern macht dies deutlich, dass Entwicklung und vor allem Änderung eines störenden Verhaltens von Kindern nicht durch Strafen, Sanktionen oder Ausschluss möglich sind, sondern deren innere Zustimmung benötigen. Diese kann nach dem vorstehend Beschriebenen nur dann erreicht werden und letztlich die kindliche Entwicklung fördern, wenn die Erwachsenen entsprechend beziehungs- und bindungsorientiert vorgehen, das Kind quasi einladen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der vierjährige Junge, der sich weigert, seine Schuhe anzuziehen, dabei schreit und um sich schlägt, wird durch Schimpfen oder ärgerliches Verhalten der Erwachsenen tendenziell noch stärker verunsichert, wird sein Verhalten intensivieren, sich vielleicht gar nicht mehr beruhigen können. Erlebt das Kind die erziehungsverantwortliche Person hingegen ruhig und sicher, auch beharrlich, gleichwohl zugewandt, dann kann es sich eher beruhigen, sich am Angebot des Erwachsenen orientieren und ist dann auch eher in der Lage, sich aus seiner Verweigerung zu lösen. Damit sind das eigene Erleben der Erziehungsperson wie auch die äußere Wirksamkeit dabei das »Instrument«, mit dem sie arbeitet. Im Konzept der Neuen Autorität nennen wir dies Präsenz. Kinder benötigen duale Beziehungen »Am Du werden wir erst zum Ich«, wird Martin Buber zitiert (Buber, o. J.). Dieser Gedanke beschreibt aus unserer Sicht in eindrucksvoller Weise die Begleitung durch die Erziehenden, die Kinder in ihrer Entwicklung benötigen. Ulrich Egle zeigte auf der 16. Züricher Psychotraumatologie-Tagung im April 2011 einen Videoclip, der zunächst ein vergnügt handelndes, offensichtlich zufriedenes Baby zeigte, welches sich immer wieder bei seiner Mutter versicherte. Währenddessen spielte das Kind mit etwas, was noch nicht im Bereich der Kamera zu sehen war. Dann wurde das Gesicht der Mutter gezeigt, die ihren Sohn anstrahlte, zugewandt war und das Verhalten des Kindes auf diese Art und Weise unterstützte. Die dritte Einstellung zeigte dann eine sich um das Baby windende und schlängelnde Würgeschlange. Über das Anstrahlen, die

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ermutigende und ermunternde Rückmeldung der Mutter erhielt das Baby eine Sicherheitsbotschaft, die es entsprechend unvoreingenommen auf die Situation zugehen ließ. Bekannt ist möglicherweise auch das »Still Face Experiment« von Edward ­Tronick (2007). Er leitet in einem Video eine Mutter dazu an, zunächst in einem aktiven Dialog mit ihrem Kind zu sein. Das Baby ist sieben Monate alt. Nach einer Weile des Spiels dreht sich die Mutter kurz weg und schaut dann wieder zu ihrem Kind, diesmal allerdings mit einem ausdruckslosen Gesicht ohne Regung und Reaktion auf die Aktionen des Kindes. Nachdem das Kind zunächst die Kompetenzen und Kontaktoptionen aus der vorherigen Interaktion einsetzt, wird es bereits nach einer recht kurzen Zeit unruhig und kreischt, weint schließlich, um die Mutter wieder zu einem Dialog anzuregen, die diesen dann auch wieder aufnimmt und das Kind schnell beruhigen kann. »Psychologie Heute« berichtete im November 2018 in ihrer Online-Ausgabe, dass kleinere Kinder mit Schmollen oder Ärger auf ihre Eltern reagieren, wenn diese während des Zusammenseins wiederholt aufs Smartphone schauen oder sogar fernsehen. Dieser Prozess verstärke sich sogar gegenseitig: Je schlechter gelaunt die Kinder seien, desto häufiger würden sich die Eltern ihren technischen Geräten zuwenden. Dies seien die Ergebnisse einer US-Studie mit 172 Familien mit Kindern unter fünf Jahren. In weiteren Studien sei festgestellt worden, dass Kinder schlechter sprechen lernten, wenn Eltern während des Zusammenseins und Lernens abgelenkt würden. Der Kontakt sei geradezu durch die technischen Geräte bestimmt, was die Kontaktaufnahme für die Kinder unvorhersehbar mache (Ackermann, 2018). All diese Beispiele zeigen, dass Kinder für ihre Entwicklung die Sicherheit und das Gegenüber ihrer Bezugspersonen benötigen. Diese grundlegenden dyadischen Beziehungen sieht Bauer (2006, 2015) als notwendiges Element von Pädagogik. Er beschreibt damit auch den Umstand, dass die tatsächliche personelle Besetzung gerade in Krippen nicht ausreicht, um die Entwicklung der Kinder in angemessener Art und Weise zu begleiten, da die Erzieherinnen zu viele Kinder zu betreuen hätten und somit dem Bedarf der Kinder nicht gerecht werden könnten. Dies führt Bauer als einen Hintergrund an, warum Kinder in ihrer Selbststeuerung zunehmend Probleme hätten, was sich in Schule und Familie wie auch Gesellschaft immer mehr zeige. Dies hat entsprechend Konsequenzen für die Pädagogik in Kitas und für die Entschiedenheit der dort tätigen Erzieherinnen. Kinder, die in ihrer Entwicklung und der zum Teil umfangreichen Zeitspanne in der Kita keine Anleitung und kein klares Gegenüber erhalten, entwickeln sich in einer Selbstorganisation nach ihren eigenen Bedürfnissen. Heidi Keller, emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie, zeigte 2012 auf der 5. Tagung zur Neuen Autorität in Osnabrück ein Video, in dem ein Mädchen in einer Kita ein Spiel in der Hand hielt, mit wel-

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chem es zuvor gespielt hatte. Es fragte eine Erzieherin, wohin es das Spiel bringen solle. Diese meinte, das könne sie selbst entscheiden. Das Mädchen nahm das Spiel weiter mit und fragte eine andere Erzieherin, erhielt allerdings in etwa die gleiche Aussage. Schließlich ging sie in eine Raumecke und warf das Spiel auf den Boden, wobei der Deckel herunterfiel und der Inhalt sich verteilte. Das Kind schien offensichtlich überfordert. Keller beschrieb in ihren Beobachtungen, dass Kinder in Deutschland vielfach eine zu große Entscheidungskompetenz erhielten, die sie in ihren Möglichkeiten überfordere. Das wiederum habe Auswirkungen auf die sozialen Kompetenzen, die das Kind dabei entwickle, da es sich zunehmend mehr an den eigenen Bedürfnissen orientiere. So haben wir Eltern kennengelernt, die ihren Kindern möglichst umfassend deren Wünsche erfüllten und z. B. durchaus abends stundenlang neben den Kindern liegend selbst einschliefen oder ihnen zugestanden, sich egal zu welcher Tageszeit ihre Lieblingsgerichte aussuchen zu dürfen (komplementäre Erziehungseskalation). Die Aufgabe von Erzieherinnen in der Kita ist somit auch eine leitende und Ordnung schaffende für die Kinder. Viele Erzieherinnen sind unsicher, wie weit sie eingreifen dürfen, insbesondere dann, wenn die Eltern mit hohen Erwartungen an die Entwicklung des Kindes herangehen und selbst in einer komplementären Grundhaltung stecken. Es braucht aus unserer Sicht entsprechend eine Pädagogik, die sich an dem Werte-Dreieck der Neuen Autorität von Lemme und Körner (2018; vgl. Abbildung 3 in Kapitel 2.2) orientiert. Zum einen benötigen Kinder von Erwachsenen stete Anregungen, Ansprachen und Beziehungsabsicherungen. Zum anderen stellen die Erziehenden für die Kinder ein klares Gegenüber dar, welches auch zum Ausdruck bringt, wann eine persönliche Grenze oder eine soziale Regel überschritten ist. Die Reaktion dazu ist nicht flüchtig, sondern intensiv, beharrlich und deutlich – allerdings ohne den Beziehungsfaden zu verlieren, was letztlich auf einem deutlichen Maß eigener Selbstführung beruht. Drittens benötigt dieses Vorgehen eine hohe Transparenz, sodass die Kinder verstehen, was die Absicht im Vorgehen der Erwachsenen ist, und diese sich zugleich abstimmen, ihnen also eine gemeinsame Rahmung vermitteln. Das wiederum bedeutet eine regelmäßige Absprache von Eltern und Erzieherinnen über die gemeinsamen erzieherischen Vorgehensweisen. Wir kommen in Zusammenhang mit Präsenz darauf zurück. Gewaltfreie Erziehung Gewaltfreiheit in der Erziehung orientiert sich nach unserem Dafürhalten zunächst daran, dass die Erwachsenen die Kern-Bedürfnisse der ihnen anvertrauten Kinder achten und sie in ihrer Entwicklung diesbezüglich fördern.

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Das bezieht sich neben der Grundbefriedigung der physischen Bedürfnisse vor allem auch auf die Bedürfnisse nach Sicherheit, Integrität, Zugehörigkeit und Autonomie. Der Begriff der Gewaltfreiheit stammt ursprünglich aus dem politischen Gewaltfreien Widerstand nach Gandhi, der sich dabei an drei Grundprinzipien orientierte, die entsprechende Vorgehensweisen nach sich ziehen sollten. Zunächst ging Gandhi (1951) davon aus, dass jeder Mensch, der einem Ziel, einer Wahrheit verpflichtet sei, diesem auch folgen müsse (Satyagraha [Sanskrit] = Pflicht zur Wahrheit). In einer pädagogischen Übersetzung könnten wir sagen, dass es die Verantwortung der Erwachsenen ist, in einer steten Aufmerksamkeit die Kinder zu begleiten und sie in ihrer Entwicklung zu fördern. Die Übernahme dieser Aufgabe verpflichtet dabei zu einer kontinuierlichen Selbstreflexion für sich allein und im Team der Erziehenden. Das zweite Prinzip bezog Gandhi auf die Selbstkontrolle (Swaraj [­Sanskrit] = Selbstführung, Demut). Dabei geht es um die eigenen Anstrengungen, sich nicht auf Konflikte und Machtkämpfe einzulassen, sondern diesen möglichst zu widerstehen. Im pädagogischen Kontext gehört dazu auch, sich trotz der erzieherischen Verantwortung nicht von Respektlosigkeit leiten zu lassen, sondern die Integrität und Autonomie der Kinder zu achten. Das dritte Prinzip beschrieb Gandhi mit dem Verzicht auf Gewalt (Ahimsa [Sanskrit] = Gewaltfreiheit) und meinte damit, auf Gewalt mit gleichbleibender Beharrlichkeit gewaltlos zu antworten. Dies heißt im pädagogischen Kontext, auf ein gewaltorientiertes oder destruktives Verhalten mit Deeskalation und gleichbleibendem Kontakt zu reagieren. Dies zeigt sich nach unserem Dafürhalten in folgenden Verhaltensweisen: •• Regelverstöße müssen klar angesprochen werden, da Absprachen sonst ihre Bedeutung verlieren. Kinder benötigen ein Gegenüber, welches ihnen Grenzen des Verhaltens aufzeigt, ohne sie zu verurteilen. Daher wird das Verhalten angesprochen, nicht die Person. Ich-Botschaften ermöglichen den Ausdruck der eigenen Betroffenheit und zeigen zugleich Möglichkeiten der Veränderung auf. •• Ist die Situation hocheskaliert, dann benötigen alle Beteiligten erst eine Phase der Erholung. Dies bedeutet für die Erziehungsperson eine Selbstberuhigung und eine Zeit der Überlegung weiterer Schritte. Erst nach dieser Beruhigung kann Klärung stattfinden – auch für das Kind. Verstehen und Empathie sind nur möglich, wenn Zuhören und ruhiges Sprechen möglich sind. •• Die Klärung von kritischen Situationen benötigt einen direkten Kontakt. Dies bedeutet die (durchaus ggf. auch körperliche) Kontaktaufnahme zu dem Kind, sich auf die tatsächliche Augenhöhe des Kindes zu begeben und erst dann zu sprechen, wenn Blick- und ggf. Körperkontakt durch die

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erziehungsverantwortliche Person hergestellt ist, auch wenn das Kind diesen nicht erwidert. Ein Kind benötigt neben der Botschaft, welches Verhalten unerwünscht gewesen ist, auch Hinweise, welches alternative Verhalten stattdessen gewünscht und möglich gewesen wäre. In der Umsetzung ist nicht selten auch die Anleitung und Unterstützung seitens der Erwachsenen notwendig. Der Rahmen, in dem das Kind sich bewegt, muss entsprechend kindgerecht gestaltet sein. Permanente Mahnungen und Warnungen erhöhen die Unsicherheit und die Anspannung aller Beteiligten. Wiedergutmachungen und die Beteiligung an der Reparation von Schaden helfen deutlich mehr bei der sozialen Entwicklung von Kindern als Strafen. Diese stellen ein Machtungleichgewicht dar. Das Kind benötigt auch nach kritischem Verhalten eine Rückmeldung, dass es gemocht wird, weil es so ist, wie es ist. Diese Gesten von Beziehung sind notwendig, damit das Kind sich der Sicherheit seiner wesentlichen Beziehungen weiter gewiss sein kann. Adultismus beschreibt ein zwischen Kindern und Erwachsenen bestehendes Machtungleichgewicht und fokussiert Einstellungen und Verhaltensweisen Erwachsener, die auf der Basis einer tradierten gesellschaftlichen Rangordnung davon ausgehen, kompetenter als Kinder zu sein und entsprechend zu agieren (Friesinger 2017). Darin drückt sich ein Anspruch aus, der davon ausgeht, dass Kinder das zu tun haben, was die Erwachsenen von ihnen in den jeweiligen Situationen erwarten. Dies wiederum führt nicht selten schon allein durch diese Einstellung zu Konfliktmustern. Da Kinder von den sie umgebenden Bedingungen im frühkindlichen Alter abhängig sind, werden sie dazu neigen, die vermuteten Erwartungen der wesentlichen Erziehungspersonen zu erfüllen. Allerdings kann dies innerlich zum Erleben von Ärger und Beschämung führen. Die Folge davon ist im Laufe der Zeit, spätestens in der Pubertät, dass sich aggressive oder selbstdestruktive wie auch vermeidend ängstlich-depressive Verhaltensmuster entwickeln können. Für die pädagogische Praxis bedeutet dies zunächst, dass frühpädagogische Fachkräfte und Coaches in der Lage sein sollten, adultistisches Verhalten zu erkennen und zu benennen bzw. es den Eltern bei Beobachtung angemessen zurückzumelden, ohne wiederum selbst in ein diese abwertendes Kommunikationsmuster zu geraten. Beginnend bei sich selbst sollte es Ziel sein, einen Rahmen zu schaffen, in dem sich Kinder gleichwertig und als gleichberechtigte Persönlichkeiten angenommen erleben. Dies bedeutet nicht das, was landläufig als »Augenhöhe« bezeichnet wird, denn die Erwachsenen sind noch immer die Personen, die den Kindern eine entsprechende Orien-

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tierung und Anleitung geben. Es geht vielmehr darum, die unterschiedlichen jeweils berechtigten Bedürfnisse wahrzunehmen, sie anzuerkennen und dann nachvollziehbar auch für die Kinder auf dieser Grundlage eine Entscheidung für die jeweilige Situation zu treffen. Gemeinsam im Team und mit den Eltern der Kinder kann an der Thematik gearbeitet werden, um echte Partizipation zu erlangen und somit Adultismus einzugrenzen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema »Adultismus« geht es nicht darum, jegliche erzieherische Handlungen in Abrede zu stellen, sondern sich dem eigenen Machtanteil im Handeln zu stellen. Es ist für Kinder überlebenswichtig, Dinge von anderen, zunächst zumeist älteren Menschen zu lernen, da noch nicht genügend Informationen vorliegen, um Zusammenhänge verstehen und Gefahren einschätzen zu können. Doch dieses Lernen sollte stets auf respektvoller, freiwilliger Basis verlaufen, unbedingt nachvollziehbar und nicht von Kommandos oder Gehorsam geprägt sein. Auch ist es nicht das Ziel, Kinder wie kleine Erwachsene zu sehen und zu behandeln. Es geht zunächst einzig und allein darum, sie in ihrer Entwicklung und mit ihren Bedürfnissen ernst zu nehmen und sie nicht zu bevormunden (vgl. Richter, 2013; siehe auch Ritz, 2008). Partizipation in der frühkindlichen Entwicklung In der Pädagogik ist eine aus unserer Sicht zentrale Frage: Wem oder was dient das, was wir gerade tun? Im günstigsten Fall würde wohl die Antwort lauten: der Entwicklung der Kinder! Gleichwohl sind Erziehung und Pädagogik an vielen Stellen nicht so angelegt. Für Erziehungsverantwortliche ist es sicherlich eine Herausforderung, zwischen einer Führung im Sinne einer entwicklungsfördernden Rahmung für die Anvertrauten und einer dem Alter angemessenen Partizipation, also Mit- und Selbstbestimmung, zu balancieren. Und dies geschieht innerhalb der professionellen Pädagogik nicht selten unter einem hohen Kostendruck und bei Eltern unter Zeitdruck. Dies meint allerdings nicht die völlige Entscheidungsfreigabe für Kinder. Ein Beispiel: In einer Bäckerei stand vor uns lediglich eine Mutter mit ihrem ungefähr dreijährigen Kind. So groß die Freude war, dass es möglicherweise schnell gehen würde, so lange dauerte die Entscheidungsphase der beiden. Die Mutter fragte das Kind, welches Brötchen es denn haben wolle, und stellte alle einzeln vor. Das Kind war sich unsicher. Wenn es sich gerade eines ausgesucht hatte, entschied es sich wiederholt noch einmal um. Dieser Prozess zog sich über mehrere Minuten hin.

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Kinder an Entscheidungen und der Gestaltung ihrer Möglichkeiten zu beteiligen, bedeutet nicht ein Eintreten in langwierige Diskussionen, sondern das Wahrnehmen und Erfragen der Bedürfnisse und die entsprechenden Reaktionen darauf. Im Alltag stellen wir häufig fest, dass pädagogische Maßnahmen am Einhalten von durch Erwachsene festgelegten Rahmungen, Gruppenregeln und Abläufen orientiert sind, sodass sich Begegnungen und freie Zeiten mit den Kindern somit an den Arbeitsabläufen und Organisationsoptionen von Familien und Kitas orientieren. Im gesamtgesellschaftlichen Kontext wird dies als eine Folge der Funktionalität im Kapitalismus gesehen, sodass die Personen, die sich nicht an die damit verbundenen Regeln halten, die »Unnormalen« und damit »Behandlungsbedürftigen« darstellen. Natürlich sind Gruppenabläufe, Rituale und Vorgaben wichtig. Dennoch benötigen viele Kinder angepasste oder ggf. eigene Abläufe auch innerhalb von vorgegebenen Strukturen. Kinder an der Gestaltung ihrer Umgebungsstrukturen und ihrer eigenen Entwicklung partizipieren zu lassen, bedeutet, dass mit ihnen gemeinsam überlegt wird, wie Abläufe sein können. Je jünger die Kinder sind, desto mehr benötigen sie eine begrenzte Auswahl, aus der sie wählen können. Dies fördert das Erleben von Selbstwirksamkeit. Bei kritischen Ereignissen in der Gruppe von einzelnen oder zwischen mehreren Kindern sehen wir es als hilfreich an, über die Bedürfnisse und die Verhaltensweisen zu sprechen und lösungsfokussiert Möglichkeiten der Verbesserung anzugehen. Kinder können so auch als Unterstützer und Begleiterinnen motiviert werden. Auch die empathische Reflexion der vermuteten und erlebten Gefühle gehört zu diesem Prozess. So lernen Kinder eher die Verantwortung für die eigenen Gefühle und Handlungen zu übernehmen, da sie sich durch die neugierige und zugewandte Art der Erziehungsverantwortlichen mit sich selbst auseinandersetzen müssen und so mehr Zugang zu den eigenen Bedürfnissen wie auch zu denen der anderen bekommen. Gewalt, Radikalisierung und Ausgrenzung vermeiden Infolge der Ankunft vieler flüchtender Menschen in Deutschland, erst recht seit dem Herbst 2015, hat sich in Bezug auf die Begegnung fremder Kulturen ein erhebliches Konfliktpotenzial auch in Kitas und Schulen gebildet. In ein und derselben Einrichtung werden gegenwärtig wie zukünftig Kinder aus einem Elternhaus mit Bedenken gegenüber der Migrationsbewegung und womöglich sogar deutlich nationalistischen Tendenzen mit solchen aus den geflüchteten Familien selbst zusammenkommen. Beide Gruppen sind letztlich in der Begegnung von Angst geprägt, die letztere möglicherweise auch durch die Gräuel, die ihre Mitglieder psychisch, seelisch und existenziell in ihrem Herkunftsland (oder

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auch hier) erlebt haben sowie durch die neue Angst, hier in Deutschland ausgeschlossen zu sein und abgelehnt zu werden. Jesper Juul (2016) befürchtet damit einen unvermeidlichen Anstieg aggressiven und gewalttägigen Verhaltens, der sich jeweils aus dem Erleben von Angst nährt – einerseits aufgrund eines imaginären Werteverlusts, andererseits aufgrund des realen Verlusterlebens, für die Gesellschaft »nicht wertvoll« zu sein. Dieses unterschiedliche Angsterleben sei laut Juul die Wurzel von Aggression. Insofern seien die jeweiligen Erziehungsverantwortlichen gefordert, einen angemessenen Umgang mit diesen im Prinzip gesunden emotionalen Reaktionen zu finden, damit sie sich nicht in Gewalt äußern. Wir können davon ausgehen, dass Kinder (wie alle Menschen) zunächst ihre Grundbedürfnisse gestillt wissen wollen, bevor eine individuelle und kreative Entwicklung möglich ist. Diese sind vor allem das Erleben von persönlicher Sicherheit und Unversehrtheit, die eigene Integrität, die Zugehörigkeit zu einer sie umgebenden Gruppe und das Empfinden, für andere wertvoll zu sein. Daraus erschließt sich, was Erzieherinnen und Pädagogen in Kitas und Einrichtungen frühkindlicher Entwicklung diesbezüglich tun können. Gerade verwundbare Kinder bzw. solche mit traumatischen Erfahrungen in frühen Jahren haben – wie alle anderen– den Wunsch, gesehen und anerkannt zu werden, ohne dass sie dabei jedoch in Referenz zu einer spezifischen kulturellen Idee gebracht werden. Es sollte also entsprechend möglich sein, Kinder aus unterschiedlichen Kulturen ohne besondere Trennungen und Vorgehensweisen miteinander in Kontakt kommen zu lassen. Sollten therapeutische oder weitergehende unterstützende Maßnahmen notwendig sein, weil Kinder sich aus ihrem Erleben heraus destruktiv verhalten, so sollte die gesamte Familie Unterstützung und Therapie erhalten. Kinder bekommen so die Botschaft vermittelt, dass alle Beteiligten die Verantwortung für Veränderung übernehmen, wodurch für die Kinder das Erleben geschmälert wird, allein »nicht richtig« zu sein. Selbst bei Maßnahmen wie Physiotherapie, Ergotherapie oder auch Logotherapie empfehlen wir ausdrücklich, die Familien der Kinder mit einzubeziehen, da sie häufig Teil der Lösung für die Kinder sein können und diese sich somit eingebunden in ein Unterstützungsnetzwerk erleben. Manche Eltern werden dies möglicherweise anfangs ablehnen, da sich Eltern häufig zunächst als unzulänglich empfinden, wenn ihr Kind Aufmerksamkeit von Fachleuten auf sich zieht. Es geht in diesem Fall um das Initiieren eines dynamischen Dialogs, der Vertrauen in die Erzieherinnen schürt und ein ausreichendes Erleben von Sicherheit für die Eltern ermöglicht. Dazu ist für uns grundsätzlich ein stark transparentes Vorgehen im Dialog Voraussetzung. Lemme und Körner (2018) beschreiben zu dieser Art des Vorgehens verschiedene Möglichkeiten, die sich auf ihr sogenanntes Werte-Dreieck beziehen. Dabei wird der Dialog mit Eltern auf der einen Seite mit Angeboten an Kooperation, Begleitung und Unter-

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Arbeitsfelder in der Praxis

stützung sowie regelmäßigem Austausch versehen. Auf der anderen Seite werden Beobachtungen und auch Erwartungen deutlich beschrieben, ordnende und orientierende Angaben gemacht. Drittens wird in einem hohen Maße Transparenz im eigenen Vorgehen und Erleben gewährleistet, sodass Eltern quasi Beteiligte im Prozess der Entwicklung im Gruppenalltag der Kita sind. Im Umgang mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und in der Präventionsarbeit bezüglich daraus möglicherweise entstehender Gewalt lassen sich verschiedene Schritte differenzieren, die wir im Folgenden kurz erläutern möchten (s. Juul, 2016). •• Die Auseinandersetzungen mit eigenen Werten im Umgang mit den Kindern: Moralische Verurteilungen von kindlichen oder auch elterlichen Verhaltensweisen führen schnell zu Konflikten. Das bedeutet für die betreffende Einrichtung, dass sich das Team mit den eigenen Bildern und mora­lischen Werte­ vorstellungen zu Familie und Erziehung auseinandersetzt. Die gemeinsame Verständigung auf geltende Werte in der Kita kann dann mit entsprechend umgesetzten Handlungen untermauert werden. Auf diese Art und Weise können die Erzieherinnen zu Vorbildern im Umgang mit den Kindern werden und diese Rolle im Alltag auch für die Eltern vorleben. Wir kommen später noch auf die Haltungs- und Handlungsaspekte im Konzept der Neuen Autorität zurück. •• Empathische und zugleich beharrliche Ansprache der Kinder bei Fehlverhalten: Grundsätzlich kann Aggression als eine Botschaft des Kindes verstanden werden, dass es Unterstützung bei der Bewältigung einer Situation oder eines Umstandes benötigt. Schimpfen oder Erniedrigen als Antwort darauf bedeutet letztlich eine Steigerung der Unsicherheit des Kindes. Insofern benötigt das Kind ein empathisches und zugleich beharrliches Einwirken einer Erziehungsperson, die ihm die Botschaft gibt, dass das gezeigte aggressive Verhalten nicht in Ordnung ist, sie sich jetzt aber weiterhin sehr wohl als Unterstützerin des Kindes in der Entwicklung alternativer Handlungsmodelle sieht. •• Rituale und Routinen: Tägliche, wöchentliche wie auch jahreszeitliche Routinen und Traditionen bieten für Kinder eine klare Orientierung und Sicherheit. Insofern können in eine multikulturelle Kita entsprechende Rituale aus unterschiedlichen Kulturen eingebaut werden, sodass die Kinder sich in ihrer je eigenen Kultur wahrgenommen und im Erleben einer anderen Kultur eingeladen erleben. •• Philosophische Fenster: Juul (2016) empfiehlt auch sogenannte philosophische Fenster und meint damit den (in der Regel wöchentlichen) Austausch über wichtige Themen und Fragen des Lebens und des Alltags wie Freundschaft, Gefühle, Familie usw. Dabei können auch verschiedene Medien genutzt werden.

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•• Empathietraining: Das Einfühlen in das Erleben einer anderen Person und die Übernahme von spielerischen Perspektiven ermöglichen es Kindern schon früh, einen Umgang mit gesunder Scham und der Wahrnehmung der Konsequenzen des eigenen Handelns zu erleben. •• Achtsamkeitstraining: Insbesondere Kinder mit einem ablehnenden oder aggressiven Verhalten haben in der Regel den Bezug zum eigenen Erleben ihrer Gefühle und ihres Körpers verloren. Regelmäßige Achtsamkeitstrainings in der Gruppe ermöglichen Kindern einen spielerischen und doch fundamental wichtigen Zugang zum Verständnis des Ablaufs eigener Konfliktkreisläufe. •• Unterstützungsnetzwerke bilden: Ein Erziehungsraum für Kinder lässt sich am ehesten als ein Dorf beschreiben, welches um das jeweilige Kind herum entwickelt wird. So verstanden kann die Kita zu einem Raum werden, in dem das Kind erlebt, dass die dort tätigen Erwachsenen es in ähnlicher Art und Weise wie in einer Dorfgemeinschaft anleiten und in seiner Entwicklung begleiten. Eltern und auch andere Fachleute können frühzeitig in den Alltag hineingeholt und somit von den Kindern als zur Entwicklungswelt zugehörig erlebt werden. Kommt es dann später zu speziellen Notwendigkeiten in der Förderung einzelner Kinder, ist dies nicht mehr fremd für sie, sondern Ausdruck der gemeinsamen Vorgehensweise der Erziehenden.

Besondere Aspekte im Elterncoaching Das Vorgehen im Coaching von Eltern ist bereits an verschiedenen Stellen ausführlich beschrieben worden (Lemme u. Körner, 2018; Omer u. von Schlippe, 2016) und soll daher in diesem Beitrag nur kurz erläutert werden. Präsenz steht für uns im Mittelpunkt des Konzepts. Zentral ist also die Stärkung bzw. Stabilisierung der Präsenz von Eltern im Coaching. Lemme und Körner (2018) haben dazu einen Leitfaden im Konzept der Neuen Autorität entwickelt, der ein schrittweises Vorgehen ermöglicht: 1. Wer oder was braucht Schutz? 2. Wer oder was eskaliert? Wie hoch ist die Eskalation einzuschätzen? Was kann kurzfristig dazu beitragen, die Situation zu deeskalieren? 3. Um welches Verhalten geht es ganz genau? Welchem Verhalten soll begegnet werden? Und was genau ist das Problem? •• Welche Bedürfnisse und Motivationen stehen hinter dem gezeigten Verhalten?

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•• Wir wirkt sich dies auf die Präsenz der beteiligten Erziehungsverantwortlichen aus? 4. Welche Interventionen scheinen möglich, Präsenz (wieder-)herzustellen (Haltungs- und Handlungsaspekte)? 5. Was ist der nächste (ggf. noch so kleine) Schritt?

Diesem kann auch bei Familien bzw. Eltern mit Kindern im Vorschulalter grundsätzlich gefolgt werden, egal ob diese sich grenzüberschreitend oder ängstlich verhalten. Besonders kommen gerade in diesem Alter der Kinder die Ambitionen und Motivationen der Eltern im Umgang mit ihrer eigenen Rolle zum Tragen (siehe auch Lemme, 2017). Während im Jugendalter der Kontakt zwischen Eltern und Kindern schon von reichhaltigen eigenen Erfahrungen im Umgang miteinander geprägt ist, erleben wir sehr häufig, dass die Übernahme der Elternrolle sich gerade im jungen Alter der Kinder noch an den Erfahrungen der Eltern in ihrer eigenen Kindheit orientiert. Dies kann sich im Sinne von Abgrenzung gegenüber der selbst erlebten Erziehung ausprägen oder durch überzeugte Weitergabe der tradierten Werte. Entwicklungspsychologisch ist die Lebensphase bis zur Einschulung – insbesondere vom ersten bis zum dritten Lebensjahr – von einem Wechsel zwischen den Bedürfnissen Bindung und Autonomie geprägt. Erleben wir offene Aufmerksamkeit unserer Eltern, bedingungslose Liebe, egal was wir gemacht haben, gleichzeitig Freiheit, Zutrauen und Ordnung, dann erleben wir uns in der Regel auch selbstwertstark und entwickeln klare soziale Kompetenzen. Stefanie Stahl (2017, 2018) beschreibt dies anhand einer Brille, durch die wir die Welt, d. h. unsere subjektive Realität von dieser, wahrnehmen. So würden wir auch unsere Kinder durch eben diese Brille sehen. Eine unerfüllte Sehnsucht nach Bindung führe dann möglicherweise zur starken Bindung unserer Kinder an uns, was wiederum deren Entwicklung ungünstig beeinflussen könnte. Autonomiebestrebungen und Selbstständigkeitsanstrengungen der Kinder werden so unter Umständen als störend und konfliktträchtig wahrgenommen. Entsprechende Auseinandersetzungen sind die mögliche Folge. Hingegen könnte ein übergroßes Freiheitsbedürfnis die eigene autonome Seite als Eltern befördern, was dazu führen kann, dass die Bindungs- und Versorgungswünsche der Kinder als Einengungen und Stressfaktoren erlebt werden. Je älter die Kinder werden, desto stärker verfestigen sich die Muster des gegenseitigen Umgangs miteinander und führen nicht selten dann gerade in der Pubertät zu einem großen Eskalationspotenzial. Neben der »Brille« der Eltern, die möglicherweise auch noch charakterlich sehr unterschiedlich sind, können auch die Umstände

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der Elternschaft gegebenenfalls zu bedeutsamen Konstellationen führen, die im Elterncoaching zu beachten wären. So könnten die Phase der Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes zu einem Zeitpunkt erfolgen, der für die Eltern eventuell ungünstig und unerwartet erscheint. Möglicherweise ist mit der Geburt des Kindes zugleich auch die Trennung der Eltern verbunden. Und manche Eltern warten sehr lange auf ihr Kind, haben vielleicht unterschiedlichste Anstrengungen unternommen, um ein Kind zu bekommen, und entwickeln so gegebenenfalls große Erwartungen in und manchmal auch große Ängste um das Kind. So stehen im Elterncoaching für dieses Kindesalter häufig weniger die großen Schritte des Vorgehens wie Ankündigung und Sit-In im Vordergrund, sondern stärker die Interventionen, die wir vor allem auf der zweiten Stufe der Wachsamen Sorge kennen. •• Reflexion der eigenen Elternrolle, Betrachtung der eigenen Erfahrungen und Perspektiven in Bezug auf das Elternsein. Abgleich der Idealbilder von Elternsein (emotional-moralische Präsenzdimension). •• Übersetzen der Werte des elterlichen und kindlichen Handelns, um die dahinterliegenden Bedürfnisse und Motivationen erkennen zu können (intentionale Präsenzdimension). •• Abgleich von Ziel (Wofür ist das gut, was wir machen?) und Wirksamkeit (Passt mein Handeln zum Ziel?) im eigenen Handeln und entsprechende Änderungsoptionen (pragmatische und intentionale Präsenzdimension). •• Entwicklung von Deeskalations- und Selbstführungsstrategien zur Entspannung der Eskalationsmuster (internale Präsenzdimension). •• Dazu die Überprüfung der eigenen Körpersprache und Zugewandtheit im Kontakt zum eigenen Kind bezüglich Quantität und Qualität der gemeinsamen Zeit (physische Präsenzdimension). •• Überlegung und Gestaltung von Entlastungssituationen sowie die Stärkung der Kooperation und gegenseitigen Entlastung der Eltern untereinander (systemisch-interpersonale Präsenzdimension). Durch den Einsatz der vorstehenden methodischen Maßnahmen entwickeln sich in der Regel schnell und nachhaltig neue Muster des Umgangs miteinander, die häufig zum Erleben von Entlastung führen und ungünstigen Entwicklungen in der Regel vorbeugen. Eltern mit jüngeren Kindern sind nicht selten selbst sehr verunsichert und benötigen im Elterncoaching dann die Vermittlung von Sicherheit durch den Coach. Häufig fehlt es an Ideen und mut- sowie hoffnungmachender Unterstützung. Insofern ist der Coach selbst gefordert, Vorschläge für Umgangsweisen zu machen, um sich im Dschungel der Erziehungsratgeber gut zurechtzufinden,

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ohne dabei in Ratschläge abzurutschen. Nicht selten benötigt der Coach auch die Einnahme einer Expertinnenrolle, indem er klare Positionen vertritt und deutlich auf mögliche Gefahren hinweist. Ein Beispiel dazu: Die Eltern von Mia (6 Jahre) und Thea (4 Jahre) waren recht ratlos angesichts des Verhaltens ihrer beiden Töchter. Beide würden bei Anweisungen schreien und trotzen, es gebe viel Streit – meistens mit der Mutter, die hauptsächlich für die Erziehung und das Management des Alltags zuständig, zudem freiberuflich tätig war und mit einem hohen Anspruch an sich selbst beschrieben werden konnte. Der Vater war in Vollzeit berufstätig und tagsüber in der Regel abwesend. Die Mutter beschrieb, dass beide Kinder sehr »klammern« würden, sobald sie sich abwenden wolle. Sie erlebe sich vollkommen überfordert mit dieser Situation, schreie viel herum und führe dauernd Diskussionen mit den beiden Mädchen. Damit die sich hilflos fühlende Mutter nicht auch im Coaching in die Rolle der Bedürftigen kam, wurden zunächst die unterschiedlichen Beschreibungen des Alltags und des Erlebens von ihr und ihrem Mann ausgetauscht. Dabei achtete der Coach darauf, dass bei Wertungen die dahinterliegenden Absichten und Werte jeweils übersetzt und ausgesprochen wurden, sodass ein grundsätzlich wohlwollendes und lösungsfokussiertes Vorgehen sichtbar bleiben konnte. Weiter wurde im Prozess darauf geachtet, dass es vorrangig um das Erleben der Eltern, vor allem der Mutter, ging und nicht eine Fokussierung auf die Verhaltensänderung der Kinder stattfand. Das Vorgehen orientierte sich am Leitfaden zum Konzept der Neuen Autorität (Lemme u. Körner, 2018). Dabei war dem Coach wichtig, nicht in eine Bewertung der Handlungsweisen der Eltern zu geraten. Das Gespräch folgte also zum einen der Frage, welche gemeinsame Haltung in der Erziehung die Eltern hätten, und zum anderen, was bei ihnen jeweils passiere, dass sie dieser Haltung in ihrem Verhalten nicht mehr folgen könnten (Verlust ihrer Präsenz). Insbesondere für die Mutter konnte so über die verschiedenen Situationen gesprochen werden, ohne dass sie in eine Abwertung ihres eigenen Verhaltens verfiel. Gleichzeitig bekamen beide Elternteile recht schnell eine Idee davon, was sie verändern könnten – und zwar letztlich bei sich selbst, also ohne Sanktionen für die Kinder. Daraus folgten im nächsten Schritt zunächst Beobachtungsaufgaben für sich selbst vor und während der möglichen Konfliktsituationen – begleitet von dem Vorsatz, auf die eigene innere Ruhe zu achten und die Reaktionen zu verzögern. Dies führte allein schon zu Änderungen des Verhaltens beider Eltern, insbesondere bei der Mutter, und zur Möglichkeit, sich vom provokativen Verhalten der Kinder weitgehend unabhängig zu machen. Die Eltern achteten von nun an auf klare Ankündigungen ihres weiteren Verhaltens (Transparenz), mehrfach deutliches gemeinsames

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Auftreten (gegenseitige Unterstützung), regelmäßige Spiel- und Kontaktzeiten mit den Kindern, einzeln wie gemeinsam, sowie auf eigene Rückzugsmöglichkeiten. Am Ende dieses Coaching-Prozesses konnte vor allem beobachtet werden, dass beide Eltern wieder in einer klareren Rollendefinition ihrer Elternaufgaben waren, insbesondere die Mutter deutlich entspannter für sich und eindeutiger in ihren Aussagen war, sich mehr gemeinsame Familienzeiten ergeben hatten und auch der Arbeitsalltag der Familie veränderte Strukturen aufwies. Die Kinder reagierten mit deutlicher Ausgeglichenheit, die Konflikte hatten sich sowohl in der Quantität wie in der Qualität verändert.

Erzieherinnen als Autorität und die Autorität der Erzieherinnen Wie schon in anderen Kapiteln dieses Handbuchs beschrieben, speisen sich die Autorität und die damit verbundene Anerkennung durch die Eltern wie auch die Selbstwirksamkeit im eigenen Handeln aus der eigenen Präsenz der Erzieherinnen, Coaches etc. Lemme und Körner haben dazu eine Logik im Konzept der Neuen Autorität beschrieben (siehe Abbildung 1 in Kapitel 2.2). Diese beschreibt, dass Erzieherinnen mit ihrer Präsenz in einem zirkulären und wechselwirkungsbedingten Prozess mit dem Geschehen stehen, mit dem sie zu tun haben. Dies meint sowohl die Begegnungen mit den Kindern als auch mit deren Eltern. Die Beeinflussung dieser Situationen ist entsprechend vorrangig durch Stabilisierung und Stärkung der eigenen Präsenz möglich. Diese erfolgt in diesem Modell durch sogenannte Haltungs- und Handlungsaspekte.

Was ist Präsenz? Vereinfacht könnte man sagen, dass Erzieherinnen sich dann handlungsfähig erleben und eine Wirksamkeit im erzieherischen Handeln wahrnehmen, wenn sie sich in ihrer Präsenz stark und (selbst-)wirksam erleben. Erleben sie Probleme oder Handlungsunsicherheit, gar Hilflosigkeit, dann sind sie in diesem Terminus in ihrer Präsenz geschwächt. Präsenz beschreibt also zum einen den Status, aus dem heraus die betroffene Person handeln kann und der entsprechend erlebbar wird, zum anderen auch den Teil des Begegnungsraums im Kontakt mit den Kindern und Eltern. Ausgehend von der Ursprungsdefinition von Omer und von Schlippe (2016) beschreiben wir Präsenz heute in sechs »Präsenzdimensionen« (Abbildung 1, Lemme u. Körner, 2016a, 2016b, 2018; Lemme, 2017).

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Abbildung 1: 6 Präsenzdimensionen (Lemme u. Körner, 2018)

Die physische Präsenzdimension wird sichtbar durch »anwesendes« Verhalten, geistig wie körperlich. Das Ziel ist, dazubleiben und auszuhalten, statt sich abzuwenden, ausdauernd und beharrlich zu bleiben, statt fortzuschicken. Dort, wo Einfluss geltend gemacht werden soll, wird Präsenz qualitativ und quantitativ erhöht. Das Ziel ist, wieder in einen besseren Kontakt zu kommen, nicht, mehr Kontrolle zu erhalten. Entsprechend ist auch die Art und Weise der Präsenz entscheidend: Sie soll zu mehr Kooperation einladen. Dies drückt sich durch Empathie vermittelndes Körperverhalten in Mimik und Gestik genauso aus wie durch die körperliche Entschiedenheit, die in anderen Situationen durch das eigene Verhalten gezeigt wird. Ausgehend davon, dass wir mehrheitlich durch unsere Mimik und Gestik kommunizieren, bedarf es in der Überprüfung von Vorgehensweisen der eigenen Achtsamkeit. Das Erleben und Wissen um mögliche Handlungsoptionen auch in kritischen Situationen ermöglicht ein höheres Selbstwirksamkeitserleben. Dies nennen wir die pragmatische Präsenzdimension. Das Gefühl der Hilflosigkeit entsteht vor allem dann, wenn Erzieherinnen über keine weiteren Handlungsoptionen zu verfügen scheinen, sich stattdessen immer wieder in den gleichen Handlungsmustern von Streit, Reden und Schreien, Strafen oder auch Rückzug verlieren. Mit dem inneren Wissen, dass in der Regel die Umstände und das Verhalten anderer nicht verändert werden können, löst sich die Hilflosigkeit auf, wenn Erzieherinnen ihren Erfolg nicht vom Folgeleisten der Kinder abhängig machen, sondern beharrlich und schweigend anwesend bleiben oder die Klärung der Situation vertagen.

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Die internale Präsenzdimension meint, dass das Handeln von den eigenen Überzeugungen und dem reflektierten Überlegen bestimmt wird. Der Verlust von Selbstkontrolle kann durch eigene heftige emotionale Reaktionen, eskalierende Konflikte oder Reaktionen auf Atmosphären entstehen. Das Erleben, aus der eigenen Selbstführung zu handeln und damit weitgehend unabhängig vom Handeln oder den Reaktionen anderer zu sein, ist ein starker Wirkfaktor. Die emotional-moralische Präsenzdimension kann als Kongruenz zwischen Handeln und eigener Haltung beschrieben werden. Es geht dabei um die innere Überzeugung, dass das eigene Handeln angemessen und aus der inneren Perspektive »richtig« ist. Dies führt zur Wahrnehmung eines gestärkten Selbstwerterlebens. Zudem werden aus der äußeren Perspektive in der Regel Klarheit und Eindeutigkeit wahrgenommen. Die intentionale Präsenzdimension fokussiert die Absicht, aus der heraus Erzieherinnen handeln, und ist stärker, wenn deutlich ist, ob das Ziel bzw. das Vorgehen beziehungs- und entwicklungsstärkend, also eine Einladung zur Kooperation sind. Erzieher erleben sich stärker, wenn sie wissen, dass sie in guter Absicht handeln. Neben der Verbalisierung der eigenen Absichten drückt sich die Intentionale Präsenz in der Mimik und Gestik sowie im Verhalten aus. Die zentrale Frage, die sich aus unserer Sicht in diesem Zusammenhang stellt, ist: Wem oder was dient das, was wir gerade tun? Nicht nur, aber doch gerade in kritischen Situationen ist es hilfreich, um die Unterstützung seitens der Kolleginnen sowie der Leitung einer Einrichtung zu wissen. Allein dieses Wissen ermöglicht ein klareres und eindeutigeres Auftreten. Dies beschreiben wir als systemisch-interpersonale Präsenzdimension. Teams, die in guter Abstimmung und in sichtbarem Austausch sind, werden als stärker erlebt und erleben sich untereinander auch intensiver verbunden. Dies kann dann in besonderen Situationen bewusst eingesetzt werden, sodass sie nicht allein, sondern eben gemeinsam auftreten (bei Elterngesprächen oder Klärungen in der Gruppe). Dies wirkt deeskalierend wie auch beruhigend, da ein Konflikt, der geöffnet wird, in der Regel seine emotionale Kraft verliert. Auf eine detaillierte Darstellung der Haltungs- und Handlungsaspekte der Neuen Autorität (Lemme u. Körner, 2018) verzichten wir an dieser Stelle und verweisen auf die bekannten Publikationen. Darüber hinaus haben wir bereits im Zusammenhang mit unseren Überlegungen zur gewaltfreien Erziehung verschiedene dieser Aspekte thematisiert. Gleichwohl möchten wir jene fokussieren, die im Kontext frühkindlicher Erziehung besonders zu beachten sind:

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Gegenüber sein: Beharrlichkeit und Schweigen In unseren Fortbildungen werden wir wiederholt gefragt, ab welchem Alter Vorgehensweisen wie das Ausrufezeichen, das Schweigende Gespräch oder das Sit-In möglich erscheinen. Im eigentlichen Kern sind diese mit Schweigen verbundenen Maßnahmen Interventionen, die durch eine intensive emotionale Nachhaltigkeit einen Beziehungs- oder Resonanzraum bilden sollen, der die Verbesserung der Beziehung zwischen dem Erwachsenen und den Kindern wiederherstellt. Und dies geht letztlich in jedem Alter. Voraussetzung ist dabei zunächst, dass im Vorgehen eine einfache Sprache (möglicherweise auch bildlich über Piktogramme) verwendet wird, die dem Kind verständlich macht, worum es geht. Weniger ist hier erfahrungsgemäß mehr. Auch die Länge des Schweigens verkürzt sich mit geringerem Alter der Kinder, möglich und sinnvoll erscheint häufig auch Körperkontakt. Über diese intensive Kontaktzeit soll dem Kind sowohl Beruhigung und Sicherheit als auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten möglich werden. Es kann so frühzeitig lernen, sich mit der eigenen Scham konstruktiv auseinanderzusetzen. Strafen oder Bagatellisieren von schädigenden und grenzüberschreitenden Verhaltensweisen führen weder zu einer Einsicht noch zu einer inneren Auseinandersetzung mit dem Verhalten, sondern eher sogar zu einer Ausweitung. Wiedergutmachung und Gesten der Versöhnung Entsprechend sind auch Wiedergutmachungen und Gesten der Versöhnung zu verstehen. Das Kind wird durch eine möglicherweise wiederholte Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten angeleitet zu verstehen, was genau sein andere verletzendes Verhalten gewesen ist. Dies kann durch ein Bild oder Ähnliches ausgedrückt werden. Die gezeigte Geste der Wiedergutmachung folgt dann, wobei die Erzieherinnen darauf achten, dass es eine klare Begegnung mit Augenkontakt gibt. Das Team der Erziehungsverantwortlichen sichtbar machen In der Arbeit mit Eltern geht es vorrangig um die Stärkung des gemeinsamen erzieherischen Vorgehens. Eltern, auch wenn sie nicht zusammenleben, sind deutlich handlungsstärker, wenn sie sich diesbezüglich abstimmen. In vielen Kitas haben wir große Freiheitsgrade im pädagogischen Vorgehen mit den Kindern für die einzelnen Erzieherinnen erlebt. Diese führen dann nicht selten zu festen Gruppenteamkonstellationen und damit verbundenem

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Konkurrenzerleben unter diesen Teams, was wiederum den Dialog im Gesamtteam konfliktreicher werden lässt. Ausgangspunkt der Vorgehensweise im Konzept der Neuen Autorität ist, wie schon an verschiedenen anderen Stellen beschrieben, die Entwicklung einer gemeinsamen Wertehaltung im Gesamtteam. Sobald diese etabliert ist, lassen sich Absprachen von gegenseitigem Feedback vereinbaren. Wir schlagen beispielsweise vor, dass Erzieherinnen sich gegenseitig regelmäßig während ihrer pädagogischen Tätigkeit besuchen. Am Ende dieser gemeinsam verbrachten Arbeitszeit kann die Erzieherin auf Besuch den Kolleginnen eine konstruktive Rückmeldung über das Erlebte im gemeinsamen Tun geben. Eine solche Feedbackkultur hilft auch im Umgang mit Eltern. Erzieherinnen als Expertinnen Erzieherinnen sind Expertinnen für den Alltag der Kinder in der Kita, für die Anleitung von lernendem Spielen in der Gruppe sowie für entwicklungsdiagnostische Beobachtungen. Diese Haltung benötigt zunächst ein gewisses Selbstvertrauen, welches Stärkung durch entsprechende Fortbildungen und gemeinsamen Austausch benötigt. Auch konkrete Fallbesprechungen im Team helfen diesbezüglich. Mit der Rückmeldung von diesem Wissen und den damit verbundenen Beobachtungen können die Erzieherinnen sich mit den Eltern ergänzt durch deren Eindrücke austauschen. Sie sind nicht die Expertinnen für die Erziehung der Eltern, sondern diesbezüglich Unterstützer für diese. Eine solche Haltung ermöglicht eine gleichwürdige Begegnung, die das Ziel einer günstigen Entwicklung für die Kinder hat und weniger in Gefahr einer Konkurrenz gerät. Kooperation mit Eltern Die Begegnung von Eltern und Erzieherinnen ist durch ein frühzeitiges Miteinander und regelmäßige Austausch- und Reflexionsgespräche deutlich positiv gestaltbar. Vielfach entstehen regelmäßige Kontakte erst, wenn es sichtbare Probleme gibt. Wir empfehlen bei Aufnahmeklärung schon die Vereinbarung von regelmäßigen Gesprächen, die einen entsprechenden Rahmen mit Zeit und Ort haben. Dies, verbunden mit den obenstehenden Gedanken zur gegenseitigen Unterstützung bei gleichwürdiger Begegnung, sind gute Rahmenbedingungen für einen transparenten und offenen Austausch  – auch bei zunächst als problematisch erscheinenden Themen. In so einer Atmosphäre gelingen auch Vorgehensweisen, wie wir sie in dem folgenden Beispiel veranschaulichen.

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Marcel (4 Jahre) ging sehr gern in den Kindergarten und konnte sich dort sehr gut eingliedern, hatte viele Spielkontakte und Freunde. Sobald die Abholzeit nahte, wurde er unruhiger. Es kam regelmäßig zu Konflikten mit der Mutter bei der Abholung. So rannte er häufig vor der Mutter weg, versteckte sich, ließ sich von ihr suchen, ließ sich nicht anziehen, machte dies aber auch nicht selbstständig. Die Mutter versuchte dann mehrfach, ihn festzuhalten und ihm Schuhe und Jacke gegen seinen Willen anzuziehen. Dabei kratzte, schlug und trat er sie und spuckte sie an. Die Mutter war zunehmend hilflos. Die Situationen wurden von Erzieherinnen beobachtet. Sie sprachen die Mutter an, gemeinsam einen Umgang damit zu finden. So wurde folgender Plan entwickelt: Kurz vor der Ankunft der Mutter ging eine Erzieherin, zu der Marcel einen besonders guten Kontakt hatte, mit ihm in einen separaten Raum. Sie spielten ein Spiel miteinander. Die Erzieherin teilte ihm mit, dass sie beobachtet habe, was beim Abholen der letzten Tage passiert sei. Dies war ihm schon bekannt, da die Erzieherinnen ihn schon an den Tagen zuvor diesbezüglich angesprochen hatten. Sie sagte ihm auch, dass sie das Verhalten nicht okay finden würde, und fragte, was denn los sei, dass er so handeln müsse. Er berichtete, dass der Nachmittag immer so langweilig und es dagegen im Kindergarten so spannend sei. Die Mutter müsse nachmittags immer so viel machen und habe keine Zeit für ihn. Er müsse dann viel allein spielen, was er doof finden würde. Die Erzieherin machte ihm deutlich, dass sie das verstanden habe. Sie kündigte ihm an, dass die Mutter gleich kommen werde. Als diese eingetreten war, spielten sie zunächst das begonnene Spiel gemeinsam. Dann sprach die Erzieherin der Mutter gegenüber aus, was sie von Marcel gehört hatte. Sie fragte Marcel, ob sie das richtig verstanden habe und ob er noch was hinzufügen wolle. Er schüttelte den Kopf und sah etwas missmutig aus. Erzieherin und Mutter überlegten nun, wie der Nachmittag so gestaltet werden könnte, dass die Mutter, die vormittags arbeitete, sowohl die eigenen Aufgaben erledigen könnte als auch Zeit für Marcel finden würde. Es wurde eine Spielzeit vereinbart. Gemeinsam gingen sie auf den Flur, Marcel zog sich selbstständig an und erhielt von beiden Frauen viel Lob für sein Mitmachen beim Gespräch und dem Anziehen. An den nächsten Tagen wiederholten die drei diese Abholsituation. Allerdings waren die Konflikte deutlich weniger geworden, Marcel wirkte sichtbar entspannter. Gleichwohl wurde jeden Tag überlegt, ob es etwas Neues für den Nachmittag zu vereinbaren gebe. Dies war nur einmal in dieser Woche der Fall. Nach der ersten Woche wurde diese Situation in der nächsten Woche montags und donnerstags wiederholt, danach einmal wöchentlich. Marcel und seine Mutter waren deutlich zufriedener miteinander.

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Auf den Anfang kommt es an! Unsere Gedanken zum Abschluss Kinder benötigen Vertrauen, Ermutigung, Wertschätzung, Dialogpartner, ermutigende Unterstützung, herausfordernde Begleiterinnen, Lust und Freude (statt Angst, Ärger oder Gleichgültigkeit). Kinder probieren so lange, bis auch die schwierigsten Dinge gelingen, wenn sie entsprechend motiviert werden. Sie üben das Scheitern und das Gelingen. Sie lernen dies aus sich heraus. Kinder besitzen schon mit der Geburt phänomenale Fähigkeiten, einen enormen Willen und Ehrgeiz. Sie sind aufmerksam, haben Fantasie und können sich an sich selbst begeistern. Und sie können noch viel mehr … Doch zugleich benötigen sie erziehende Personen, die sie um ihrer selbst willen mögen, mit ihnen in einen transparenten und gleichwürdigen Austausch gehen und sie anleiten, in der gemeinsamen Beziehung zu wachsen. Dies hört sich zunächst nach einem hohen Anspruch an, doch gelingt es vielen Eltern und Erziehenden ohne langjährige Ausbildung, sich genau so mit den ihnen anvertrauten Kindern auseinanderzusetzen. Wie wir beschrieben haben, geht es aus unserer Sicht in der frühen Erziehung vorrangig um die eigene Präsenz. Entstehende Störungen und Konflikte, bestimmte Verhaltensweisen der Kinder sehen wir in einem zirkulären Zusammenhang. Man könnte auch sagen: als einen weniger geglückten Versuch, zwei Bedürfniskontexte in einen Einklang miteinander zu bringen. Im ungünstigsten Fall könnte es zu Anklagen und Schuldzuschreibungen dem Kind gegenüber kommen. In diesem Fall liegt der Versuch nahe, durch entsprechende Sanktionen und »Trainingsmaßnahmen« dem Kind dieses Verhalten abtrainieren zu wollen. Es würde dann stärker an den eigenen Interessen und Bedarfen der Erziehenden »erzogen« werden. Nicht selten führt dies zu mehr Konflikten. Auch die Selbstanklage der Erziehenden schafft wenig Änderungsoptionen, da sie in der Regel zu mehr Schuldbewusstsein und Scham führt, was den Kindern kein angemessenes Gegenüber mehr ermöglicht. Insofern scheint am ehesten der Weg der eigenen Auseinandersetzung der Erziehenden sinnvoll zu sein – die Überprüfung der eigenen Präsenz. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, sich in der eigenen Selbstführung zu reflektieren und die eigenen Möglichkeiten zu nutzen, um für die Kinder sowohl ein beziehungs- und bedürfnisorientiertes wie klares Gegenüber zu sein, an dem diese sich orientieren können, als auch die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und diese gleichwertig zu klären. In der Regel haben sich die Muster, die zu Problemen und Konflikten im frühen Kindheitsalter führen, noch nicht so verfestigt, wie dies später im Kontakt mit Jugendlichen und ihren Eltern sichtbar wird. Die Konfliktlösung wird

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daher im Alltag häufig durch schon kleine Änderungen möglich, wie wir in der Praxis immer wieder mit Staunen feststellen. Auf den Anfang kommt es an! Insofern sollten die vorangegangenen Überlegungen auch frühzeitig in Einrichtungen und Veranstaltungen zu frühkindlicher Pädagogik und der dazugehörigen Reflexion der Erziehenden präsent sein. Literatur Ackermann, S. (2018). Abgelenkte Eltern. Selbst kleine Kinder reagieren genervt, wenn sich ihre Eltern dem Smartphone statt ihnen zuwenden. Psychologie Heute, 11/2018, https://www. psychologie-heute.de/familie/39546-abgelenkte-eltern.html (Zugriff am 25.01.2019). Bauer, J. (2006). Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. München: Heyne. Bauer, J. (2015). Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens. München: Blessing. Bowlby, J. (2008). Bindung als sichere Basis. Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie. München: Reinhardt. Buber, M. (o. J.). »Am Du werden wir erst zum Ich«. https://www.zitate.eu/author/buber-martin-dr/zitate/280733 (Zugriff am 25.01.2019). Friesinger, T. (2017). Verfügbar unter http://www.friesinger-theresia.de/[23.04.2017]. Gandhi, M. K. (1951). Non-Violent Resistance (Satyagraha). Ahmedabad: Navajivan Publishing House. Juul, J. (2016). Gewalt und Radikalisierung vermeiden – eine Anleitung. http://www.kinder-­undwuerde.de/jesper-juul-gewalt-und-radikalisierung-vermeiden-eine-anleitung/ (Zugriff am 25.01.2019). Lemme, M. (2017). Schutz, Kontrolle und Neue Autorität in der Jugendhilfe – am Beispiel ElternKinder-Haus. In B. Hagen (Hrsg.), Pädagogische Arbeit in Mutter/Vater-und-Kind-Einrichtungen (S. 51–67). Dähre: Schöneworth. Lemme, M., Körner, B. (2016). »Neue Autorität« in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag. Heidelberg: Carl-Auer. Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Omer, H. (2015). Wachsame Sorge. Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Porges, S. W. (2010). Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation und ihre Entstehung. Paderborn: Junfermann. Porges, S. W. (2018). Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit. Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Lichtenau/Westf.: G. P. Probst. Richter, S. (2013). Adultismus: die erste erlebte Diskriminierungsform? Theoretische Grundlagen und Praxisrelevanz. http://www.kita-fachtexte.de (Zugriff am 08.02.2018). Ritz, M. (2008). »Kindsein ist kein Kinderspiel«. In P. Wagner (Hrsg.), Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung (S. 128– 136). Freiburg: Herder. Stahl, S. (2017). Jeder ist beziehungsfähig. Der goldene Weg zwischen Freiheit und Nähe. München: Kailash. Stahl, S., Tomuschat, J. (2018). Nestwärme, die Flügel verleiht. Halt geben und Freiheit schenken – wie wir erziehen, ohne zu erziehen. München: Gräfe und Unzer. Tronick, E. (2007). »Still Face Experiment«. https://www.youtube.com/watch?v=apzXGEbZht0 (Zugriff am 25.01.2019).

2.5 Elterncoaching in Gruppen in einer kinderund jugendpsychiatrischen Institutsambulanz Franziska Bieda

Vorbemerkung In der ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung1 werden Kinder mit einer großen Bandbreite an psychiatrischen Erkrankungen zur Diagnostik und Behandlung vorgestellt. Regelhaft finden diese Termine allein zwischen dem behandelnden Arzt oder Therapeuten und dem Kind/Jugendlichen mit dessen Eltern statt. In der täglichen Arbeit beobachten wir, dass manche Eltern bisher – teils aus Scham – mit niemandem über die kindlichen Verhaltensauffälligkeiten sprachen oder, wenn sie es doch taten, ihnen mit Unverständnis oder Abwertung begegnet wurde. Wir, als Team, sahen also den Bedarf, die Eltern in Kontakt mit anderen »betroffenen« Eltern zu bringen, mit den Eltern gemeinsam nach Wegen zu suchen, wie sie mit dem auffälligen Verhalten umgehen und ein mögliches Unterstützungsnetzwerk bilden können. Weiterhin beobachten wir, dass Eltern aufgrund der Auffälligkeiten im Verhalten ihrer Kinder häufig mit ungewöhnlichen, destruktiven und auch gewalttätigen Verhaltensweisen konfrontiert sind. Sie berichten von »Machtkämpfen«, Hilflosigkeit oder Ratlosigkeit. Die Eltern ziehen sich als Folge zurück, lassen gewähren oder geraten in eskalierende Konfrontationen, die zu weiterer Verzweiflung führen. So berichtete beispielsweise ein Vater, dass er, nachdem er das Zimmer der Tochter nicht mehr betreten durfte und sie auch sonst nicht mehr anschauen sollte, in Folge aus der gemeinsamen familiären Wohnung auszog. Die aus dem Konzept der Neuen Autorität hergeleiteten Haltungs- und Handlungsaspekte (Lemme u. Körner, 2018) und damit verbundenen Inter1

Dabei werden im Folgenden die Erfahrungen aus der kinder- und jugendpsychiatrischen Arbeit der Rheinhessen-Fachklinik Mainz für Kinder- und Jugendpsychiatrie, ‑psychotherapie und ‑psychosomatik als Berichtsgrundlage genommen. Dies stellt keine Verallgemeinerung für die Arbeit anderer Kinder- und Jugendpsychiatrien dar.

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Arbeitsfelder in der Praxis

ventionsmöglichkeiten scheinen uns gut geeignet, gemeinsame Wege mit den Eltern zu erarbeiten. Es geht uns darum, die von den Eltern beschriebene verloren gegangene Präsenz (nach Lemme u. Körner, 2018, S. 44 ff.) wiederherzustellen und damit auch verloren gegangene Bindungen zu erneuern oder neu aufzubauen. Die Eltern werden dabei unterstützt, die entstandenen Eskalationsprozesse zu erkennen und aus diesen auszusteigen, deeskalierend, beziehungsfördernd und handlungsorientiert vorzugehen. Der Fokus liegt dabei deutlich auf dem Verhalten der Eltern sowie den entsprechenden Möglichkeiten, dieses zu verändern (Omer u. von Schlippe, 2016, 2010; Lemme u. Körner, 2018). Die klassische Kinder- und Jugendpsychiatrie würde an dieser Stelle Verhaltensmodifikationsmöglichkeiten mit direktem Bezug auf die betroffenen Kinder überlegen. In der Regel nehmen Eltern von Kindern mit folgenden psychiatrischen Diagnosen oder beschriebenen Schwierigkeiten am ambulanten Elterncoaching teil: •• Störung des Sozialverhaltens, •• ADHS, •• Schulabsentismus, •• Zwangsstörungen, •• Angststörungen, •• Essstörungen. Eltern von Kindern mit den Diagnosen Schizophrenie oder bipolare affektive Störung haben wir bisher nicht in das ambulante Elterncoaching einbezogen, da diese Kinder oft zunächst stationär behandelt werden. Die Eltern werden in diesem Rahmen von dem behandelnden Arzt oder Psychologen in Einzelgesprächen betreut. Der fallführende Behandler, d. h. Arzt oder Psychologe der Ambulanz, bespricht mit den Eltern die Möglichkeit des Elterncoachings, gibt ihnen die Elterninformation mit und meldet die Eltern bei dem Kursleiter an. Der Kursleiter vereinbart mit den Eltern einen Termin zur Vorstellung. Die Eltern können sich auch direkt an den Kursleiter zur Terminvereinbarung wenden. Im Kennenlerntermin wird den Eltern das Konzept erklärt, und es erfolgt eine Auftragsklärung über Möglichkeiten der Unterstützung in der Elterngruppe und dem logistischen Rahmen. Im Anschluss werden die Eltern schriftlich für die Termine in der Gruppe eingeladen. Die Teilnahme ist also ausdrücklich freiwillig. Wir haben uns dafür entschieden, dass in unserer Arbeit eine Gruppengröße von zwölf Personen (sechs Elternpaaren) nicht überschritten werden soll. Dabei laden wir sowohl alleinerziehende Mütter und Väter sowie getrennt lebende

Elterncoaching in Gruppen

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Eltern als auch soziale Eltern ein. Die genaue Konstellation besprechen wir im Vorfeld mit dem Behandler und den Familien. Als weiteren wichtigen Schritt in der Entwicklung des Vorgehens haben wir Überlegungen zum zeitlichen Rahmen reflektiert. Die bisherigen Erfahrungen des Angebotes von sechs bis acht Terminen im wöchentlichen Rahmen von einer bis eineinhalb Stunden am Nachmittag brachten uns zu der Erkenntnis, dass es insbesondere für berufstätige Eltern, die den überwiegenden Teil der teilnehmenden Eltern ausmachen, nicht realistisch erschien, an so vielen Terminen stabil und regelmäßig sowie vollständig teilzunehmen und darüber hinaus die Ideen aus dem Coaching auch umzusetzen. Wir überlegten also gemeinsam, wann Eltern gut und möglichst »ohne Alltagsstress« teilnehmen könnten, und entschieden uns für Termine am Samstag. Parallel dazu sind die sonst üblichen Störfaktoren aus dem klinischen Alltag (z. B. Telefonanrufe, Fragen von Kollegen, Kriseninterventionen) reduziert. Dabei planen wir in der Regel insgesamt drei Termine von 09.00 bis 12.30 Uhr, wobei das Ende je nach Gruppe und aktuellem Diskussionsstand flexibel gehalten wird. Die Eltern haben dann insbesondere im ersten Termin genügend Zeit, anzukommen und von ihren Sorgen zu berichten. Im zweiten Termin bleibt genug Raum, um Handlungsschritte zu erarbeiten. Bei einem Abstand von vier Wochen steht außerdem genügend Raum zur Verfügung, dass die Eltern die Ideen aus dem Coaching umsetzen und erfahren können. Zwischen den Terminen und nach Abschluss der drei Termine ist der Kursleiter auch für Fragen, Rückmeldungen oder einen Austausch verfügbar. Im Folgenden werde ich den Ablauf und die Inhalte sowie das Vorgehen der einzelnen Termine beschreiben.

Erster Termin Der erste Termin dient zu Beginn dem Kennenlernen der Eltern untereinander sowie der Beschreibung der spezifischen Problematiken innerhalb der Familie durch die Eltern. Gemeinsam sollen dann die dahinterliegenden Handlungsmotivationen (Weinblatt, 2016) der Eltern sowie Möglichkeiten des Ausdrucks erarbeitet werden. Diese werden im weiteren Verlauf des Elterncoachings als Werte der Eltern bezeichnet. Im zweiten Teil werden mittels Rollenspielen und praktischen Übungen Deeskalationsstrategien erarbeitet und eingeübt.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Begrüßung und Kennenlernen Im ersten Schritt stellt die Kursleiterin ergänzend zum Kennenlerntermin sich selbst vor. Im zweiten Schritt stellen sich die Eltern der Reihe nach vor. Dabei wird folgender Leitfaden genutzt: •• eigener Name, •• Name meines Kindes, •• Alter meines Kindes, •• Klasse und Schulform meines Kindes. •• Über welches Verhalten meines Kindes sorge ich mich? Wir fragen bewusst nicht nach dem kindlichen Verhalten oder den gegebenen Diagnosen, sondern nach Themen, um die sich die Eltern sorgen. Dadurch soll bei den Eltern schon das gemeinsame Gefühl erzeugt werden, dass sie sich alle um verschiedene Verhaltensweisen und Entwicklungen sorgen. Es geht nicht darum, sich gegenseitig mit den Problemen zu »überbieten« oder in eine Art »Problemhypnose« einzusteigen. Die Sorgen werden dabei vom Kursleiter oder den Eltern notiert und an die Pinnwand geheftet. Übersetzung der Sorgen in dahinterliegende Werte Die Werte (Schutz, Kontakt/Beziehung, Wertschätzung sowie Respekt) werden vom Kursleiter auf der Pinnwand notiert, und die Eltern ordnen ihre Sorgen im Dialog mit dem Kursleiter und den anderen Teilnehmern den für sie passenden Werten auf der Pinnwand zu. Im kinder- und jugendpsychiatrischen Kontext hat eine Gruppe die Werte um den Wert der »Gesundheit« erweitert. Bei diesem Vorgehen wird uns immer wieder deutlich, dass die Eltern gar nicht erst in ein »Jammern« verfallen, sondern in einem wertschätzenden Umgang Verständnis für die Sorgen der anderen Eltern und die dahinterliegenden Werte aufbringen. Weiterhin unterstellt der Kursleiter mit diesem Vorgehen den Eltern die gute Absicht, nur das Beste für ihr Kind zu wollen. Auf dieser Grundlage entwickelt sich in den Gruppen in der Regel eine sehr konstruktive Arbeitshaltung, in der die Teilnehmer untereinander offen reden und Handlungsideen einbringen.

Elterncoaching in Gruppen

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Elterliche Präsenz Basierend auf der begonnenen Diskussion werden die Eltern eingeladen zu überlegen, was sie unter »elterlicher Präsenz« verstehen. Diese Gedanken werden erneut auf einem Flipchart gesammelt.

Übung 

Präsenz im Raum

Die Eltern werden gebeten, aufzustehen und im Raum umherzugehen. Dabei sollen sie sich vorstellen, sie gingen zu Hause durch ihre Wohnung oder ihr Haus. Sie gehen durch jeden Raum und spüren ihre Präsenz. Wie verändert sich ihre Stimmung? Ihre Körperhaltung? Gibt es Orte, an denen sie an bestimmte Konflikte mit ihrem Kind denken? Wie verändern sich ihre Stimmung und ihre Körperhaltung? Wann fühlen sie sich in ihrer Präsenz geschwächt? Die Gedanken und wahrgenommenen Gefühle oder Veränderungen in der Körperhaltung werden in der Gruppe unter Moderation der Kursleiterin ausgetauscht.

Präsenzfragebogen Der Präsenzfragebogen (Präsenzskalierung nach Lemme u. Körner, 2018, S. 68 f.) (Anhang 1) wird ausgegeben und von den Eltern ausgefüllt. In der Runde werden die Ergebnisse besprochen. Insbesondere der Punkt »Was denken Sie, welche Präsenzebene Sie stärken müssten, um eine angemessene Präsenz in dieser Situation zu entwickeln?« wird unter den Teilnehmern diskutiert. Es wird durch den Kursleiter verdeutlicht, dass im Verlauf immer wieder darauf zurückgekommen wird. Eskalationsdynamiken und De-Eskalationsstrategien Rollenspiele zu Eskalationsdynamiken Der Kursleiter bittet je zwei Teilnehmer, zwei Rollenspiele zu spielen: »Kind: Mama, ich gehe zu Marco. Mutter: Du gehst jetzt nicht zu Marco. Du machst erstmal deine Hausaufgaben. Kind: Du kannst mich mal. Ich gehe jetzt zu Marco. Wir haben uns verabredet. Mutter: Du gehst nicht eher aus dem Haus, bis deine Schulaufgaben fertig sind! Kind: Ach lass mich doch in Ruhe, du blöde Kuh! (Kind knallt die Tür und geht.)« (Engelking, 2012, S. 131 f.).

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Arbeitsfelder in der Praxis

Mutter: Aufstehen. Du musst zur Schule. Jugendliche: Ich habe heute keine Lust. Mutter: Du warst jetzt schon zwei Tage nicht. Jugendliche: Ich mag aber nicht. Ich habe auch Bauchschmerzen. Mutter: Dann gehen wir zum Arzt. Jugendliche: Nee, so schlimm ist es auch nicht. Mutter: Dann kannst du ja in die Schule. Jugendliche: Nee, ich habe keine Lust (dreht sich im Bett um und zieht sich die Decke über den Kopf). Mutter: Dann mach doch, was du willst!

Diese Beispiele sollen die beiden grundsätzlichen Eskalationsdynamiken verdeutlichen: die symmetrische Eskalation im ersten Beispiel als Ausdruck eines Machtkampfes und die komplementäre Eskalation im zweiten Beispiel als Ausdruck der Nachgiebigkeit. Mit den Eltern werden gemeinsam Eigenschaften von symmetrischen und komplementären Konflikten gesammelt und auf einem Flipchart notiert. Der Kursleiter ergänzt, wenn nötig, sodass folgende Eigenschaften aus Tabelle 1 deutlich werden: Tabelle 1: Arten von Konflikten (Omer u. von Schlippe, 2016, S. 63 ff.) Symmetrischer Konflikt

Komplementärer Konflikt

»Gleiches« wird mit »Gleichem« vergolten. Der Konflikt wird oft verschärft. Auf beiden Seiten ist der Kontrollverlust möglich!

Forderung wird nachgegeben. Dies zieht oft verstärkte Forderungen nach sich. Es besteht die Gefahr des Zusammenbruchs oder der Explosion, wenn zu viel nachgegeben wurde. Die Kommunikation ist geprägt von: »zu viel« Reden Überreden (auf Vernunft hoffen) Predigen

Die Kommunikation ist geprägt von: Drohen Anschreien Erniedrigen Strafen

Übung Schweigende Gruppenarbeit zum Thema »aggressives, unsicheres Verhalten« (Engelking, 2012, S. 118) Die Teilnehmer werden in zwei Kleingruppen aufgeteilt und sollen in der Gruppe folgender Frage schweigend nachspüren: »Was bestimmt mein Denken und Handeln, wenn ich mich sicher, unsicher, aggressiv fühle?« (Engelking, 2012, S. 118)

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Elterncoaching in Gruppen

Die Gedanken sollen schweigend auf ein Blatt geschrieben werden. Auch der Stift wird schweigend weitergegeben. Der Zettel wird an die Pinnwand gehängt und der jeweils anderen Gruppe vorgestellt.

Deeskalationsstrategien

Darauffolgend werden den Eltern folgende Deeskalationsstrategien (Tabelle 2) vorgestellt, schriftlich ausgeteilt und mit Übungen verdeutlicht. Tabelle 2: Deeskalationsstrategien und entsprechende Übungen Deeskalationsstrategie

Übung und Erklärung

Vermeiden Sie auf jeden Fall, sich in Eskalationen hineinziehen zu lassen. Stellen Sie das »Predigen«, Erklä­ ren, »Sich-den-Mund-fusseligReden«, Drohen, Anschreien und Debattieren ein.

Überlegen Sie, welche Konflikte es gibt. Was ist Ihnen wirklich wichtig, und wie können Sie darauf geplant/gezielt reagieren? Überlegen Sie sich ein Mantra, beispielsweise: »Ich kann anders reagieren!« Es wird mit den Eltern gemeinsam die Übung »Rückspulen« (Lemme u. Körner, 2018, S. 54 f.) durchgeführt.

Prinzip der verzögerten Reaktion und des »Schweigens« (Omer u. von Schlippe, 2016, S. 234)

Sie müssen nicht auf jede Forderung, Beschwerde, Anschuldigung oder Provokation sofort reagieren! Schieben Sie Ihre Reaktion auf! Nehmen Sie sich Zeit, Ihre Erwiderung zu planen! (z. B.: »Ich mag das nicht, ich komme darauf zurück.«) Nutzen Sie ein Mantra, beispielsweise: »Ich lasse mich nicht hineinziehen« oder »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!« Mit den Eltern wird die Übung zum »schweigenden Gespräch« (Lemme u. Körner, 2018, S. 131 f.) durchgeführt. Dabei werden die Eltern gebeten, sich zu zweit zusammenzusetzen. Einer repräsentiert dabei das Kind oder den Jugendlichen, der andere den Elternteil. Für einen Zeitraum von drei Minuten soll der Elternteil nun versuchen, in einer offenen, kon­ struktiven Körperhaltung, jedoch schweigend, beim Kind zu sitzen. Im Anschluss werden die Rollen getauscht, und die Übung wird wiederholt. Es erfolgt ein gemeinsamer Austausch über die Erfahrung aus dem Rollenspiel.

Ich-Botschaften

Nutzen Sie eine elternzentrierte Kommunikation/ Ich-Botschaften, z. B.: »Ich bin nicht länger bereit, … zu akzeptieren«, »Ich werde … tun!« Vermeiden Sie kindzentrierte Botschaften/Du-Botschaften, z. B.: »Du wirst dein Verhalten ändern!« Vermeiden Sie Vorwürfe, Verallgemeinerungen und Vergleiche, z. B.: »Bei dir ist das immer so!«

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Arbeitsfelder in der Praxis

Deeskalationsstrategie

Übung und Erklärung

Betonen Sie, dass es nicht um ein Besiegen geht.

Probieren Sie eine Kommunikation ohne Machtdemonstration oder Machtformulierung. Vermeiden Sie Erniedrigungen (also das Erleben des Verlierens/Besiegtwerdens).

Vermeiden Sie Belehrung. Halten Sie Ihre Mitteilung konstruktiv.

Elterliche Aufsicht ist nicht mit Kontrolle gleichzusetzen. Bieten Sie Kommunikation, die an Regeln erinnert und die Zugehörigkeit zur Familie bestätigt, z. B.: »Hier zu Hause machen wir das …« »In unserer Familie schlagen wir uns nicht!« »Du gehörst zu unserer Familie.« Die Zugehörigkeit zur Familie hängt dabei nicht von Einhaltung der Regeln ab und sollte nicht in Frage gestellt werden.

Treten Sie bestimmt auf.

Handeln Sie aus Überzeugung. Die Geschichte »Vater mit dem Sohn« (­Peseschkian, 1979; siehe Anhang 2) wird zum Abschluss vorgelesen.

Zweiter Termin Im zweiten Termin geht es um die klare Benennung von destruktiven Verhaltensweisen durch die Eltern. Die Priorität des Handelns wird mithilfe der »3+1-Körbe-­ Methode« (Lemme u. Körner, 2018, S. 232 f.) erarbeitet. Im Anschluss werden daraus Handlungsstrategien abgeleitet. Was ist wirklich wichtig? Durch das Bewusstmachen der elterlichen Ziele kann ein Ausstieg aus Konflikten erarbeitet und Handlungsschritte können geplant werden. Die Eltern werden zu folgender Übung angeregt:

Übung 

3+1-Körbe-Methode (Lemme u. Körner, 2018, S. 232 f.)

»Bitte schreiben Sie alle problematischen und nicht problematischen Verhaltensweisen jeweils auf einen Zettel.« Anschließend stellen die Eltern die Verhaltensweisen vor und ordnen sie unter Moderation und Anleitung der Kursleiterin den entsprechenden Körben (Tabelle 3) zu. In der Regel erfolgt hierbei auch ein angeregter Austausch der Teilnehmer zu der Wertigkeit von bestimmten Verhaltensweisen der Kinder oder Jugendlichen.

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Elterncoaching in Gruppen

Tabelle 3: 3+1-Körbe-Methode (Lemme u. Körner, 2018, S. 232 f., nach Weinblatt, 2009) Grüner »Akzeptanzkorb«

Die Verhaltensweisen sind zwar »ärgerlich«, jedoch für Alter oder andere Faktoren »normal« (z. B. unaufgeräumtes Kinderzimmer). Mantra: »Darüber regen wir uns jetzt nicht mehr auf!« Diese Verhaltensweisen werden zukünftig nicht als »Einladung« für Auseinandersetzungen genommen.

Gelber »Kompromisskorb«

Das Verhalten ist langfristig nicht akzeptabel, derzeit aber nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Hier besteht die Bereitschaft, zu verhandeln, Kompromisse einzugehen und Entgegenkommen zu signalisieren. Auch kann das Anbieten eines strukturierten Rahmens hilfreich sein.

Roter »Limitkorb«

Dieser Korb ist der kleinste. Hier werden Verhaltensweisen eingeordnet, die auf keinen Fall akzeptiert werden. Es muss die Bereitschaft bestehen, viel Mühe und Aufwand zu investieren. Verhaltensweisen, die mit der Sicherheit des Kindes zu tun haben (z. B. selbstzerstörerische Maßnahmen, körperliche Übergriffe), müssen hier eingeordnet werden.

Weißer »Bewahrungskorb«

In diesen Korb kommen alle positiven Verhaltensweisen. Diese sollen künftig durch wertschätzende Kommunikation verstärkt werden.

Handlungsschritte Im Weiteren werden die Eltern dazu aufgefordert, sich die Themen aus dem Limitkorb genauer anzusehen und zu überlegen, in welche Richtung sich das ungewollte Verhalten des Kindes ändern soll im Sinne von elterlichen Zielen. Weiterhin werden die Themen des Bewahrungskorbs näher betrachtet und Maßnahmen gesucht, durch die diese Verhaltensweisen wieder mehr Raum und Zeit einnehmen. Dabei ist die Moderation der Kursleiterin notwendig. Auch sie macht dabei Vorschläge für Handlungsschritte im Sinne der Neuen Autorität. Es hat sich in der Arbeit bewährt, dass diese Ideen schriftlich festgehalten werden (Anhang 3). Dies schafft eine höhere Verbindlichkeit der Umsetzung und dient bereits als grundlegende Überlegung zum Formulieren einer »Ankündigung« (Lemme u. Körner, 2018, S. 125 f.; Ollefs u. von Schlippe, 2012, S. 69 f.; Omer u. von Schlippe, 2016, S. 235 f.). Während der Erarbeitung der Handlungsschritte sollen folgende Werte in der Moderation deutlich werden: •• Die Eltern übernehmen Verantwortung, dass es anders wird.

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Arbeitsfelder in der Praxis

•• Die Eltern können ihre Haltung und Handlungsschritte kontrollieren und planen. •• Es wird betont, dass sich das Verhalten des Kindes nicht ändern oder kontrollieren lässt. •• Das Verhalten des Kindes hat eine Funktion. Dabei werden von der Kursleiterin auch Kommunikationsvorschläge eingebracht, beispielsweise folgende: •• »Wir können dich nicht kontrollieren, aber wir können … tun!« •• »Ich bin da, auch wenn es schwierig ist!« •• »Wir werden … tun!« •• »Wir bleiben beharrlich!« (Je nach zeitlichem Rahmen und Notwendigkeit wird an dieser Stelle die Geschichte der »Frösche im Milchtopf« vorgelesen; ursprünglich eine Fabel des griechischen Dichters Aesop.) Parallel dazu erarbeiten wir aktuell eine »Ideenbörse«. An dieser sind bereits Handlungsschritte durch die Kursleiterin als Anregungen für die Eltern hinterlegt. In den nächsten Elterngruppen sollen dabei weitere Handlungsschritte gesammelt werden.

Dritter Termin Im dritten Termin werden die Eltern im Formulieren einer »Ankündigung« (Lemme u. Körner, 2018, S. 125 f.; Ollefs u. von Schlippe, 2012, S. 69 f.; Omer u. von Schlippe, 2016, S. 235 f.) unterstützt. Die praktische Umsetzung wird in Rollenspielen eingeübt. Gleichzeitig werden Schritte der »Beziehungspflege« erarbeitet.

Übung »Ankündigung« (Lemme u. Körner, 2018, S. 125 f.; Ollefs u. von Schlippe, 2012, S. 69 f.; Omer u. von Schlippe, 2016, S. 235 f.) Die Eltern werden gebeten, sich vorzustellen, sie würden die Themen aus dem Limitkorb, ihre elterlichen Ziele sowie die zuvor erarbeiteten Handlungsschritte ihrem Kind gegenüber in einer Art Brief klar formulieren. Anschließend werden sie gefragt, was sich ändern würde. Die Ideen der Eltern werden gesammelt und auf einem Flipchart notiert. Weiterhin werden die Eltern gefragt, was sich weiter ändern würde, wenn sie den Brief dem Kind gemeinsam, vielleicht auch in Anwesenheit anderer, vorlesen würden. Weitere Ideen werden gesammelt und ebenfalls auf dem Flipchart notiert.

Elterncoaching in Gruppen

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Der Sinn der Ankündigung wird durch die Kursleiterin vorgetragen: Sie … •• dient als Ritual für einen neuen Anfang; •• präzisiert die gemeinsamen Ziele der Eltern; •• lässt die Eltern handeln; •• lässt das nicht mehr akzeptierte Verhalten überschaubar werden: Es bekommt Konsistenz und Ordnung, wird klarer; •• bereitet im Sinne der Deeskalation das Kind darauf vor, was sich konkret verändern wird; •• kündigt dabei die elterliche Verhaltensänderung und den elterlichen Protest an; •• stellt eine Musterunterbrechung dar, weil sie die »Wortfülle« und Wortgefechte eindämmt; •• setzt keine Drohung wie »wenn … dann« voraus, welche den »Kampf ums Gewinnen« anheizen würde; •• vermittelt den Kindern die Botschaft: »Wir tun das, weil wir dich lieben!« Es werden den Eltern Ideen für das Formulieren einer Ankündigung (orientiert an Lemme u. Körner, 2018) angeboten: •• Wir sind in Sorge um dich! •• Wir nehmen wahr: (Verhalten beschreiben, z. B. gewalttätiges Verhalten, Schuldistanz, Delinquenz). •• Wir werden das nicht länger hinnehmen. •• Wir werden Folgendes machen: (Handlungsschritte beschreiben, z. B. Kontakt aufnehmen zu …; Informieren von …; darauf achten, dass …; Dokumentieren von …; Protest zeigen durch …; dich wiederholt ansprechen auf …; präsent sein durch …) •• Wir können und werden dich NICHT zwingen. •• Du bist uns wichtig, du bist unser Kind, wir lieben dich! Weiterhin wird zur Verdeutlichung ein Beispiel einer Ankündigung (Anhang 4) vorgelesen. Anschließend werden die Eltern gebeten, selbst eine Ankündigung zu formulieren. Die Themen aus dem roten Limitkorb sowie dem Bewahrungskorb sowie die erarbeiteten Handlungsschritte bilden dafür die Grundlage. Der Kursleiter bietet dabei seine Unterstützung an und klärt offene Fragen. Ergänzend werden mit den Eltern Überlegungen zu Form und Zeitpunkt (nach Omer u. von Schlippe, 2016) der Ankündigung thematisiert: •• Sie sollte zu einem ruhigen Zeitpunkt gemacht werden. •• Sie sollte in ruhigem, klarem (keinesfalls drohendem) Ton verfasst sein.

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Arbeitsfelder in der Praxis

•• Es ist besser, wenn jener Elternteil die Ankündigung verliest, der bisher eher nachgiebig war. •• Sie übermittelt die Botschaft, dass sich die Eltern in der Angelegenheit einig sind und demonstriert allein dadurch oft schon eine Veränderung. •• Es ist eine gute Idee, sie vom Blatt abzulesen; das gibt Sicherheit, und sie kann dem Kind auf diese Weise auch ausgehändigt werden (wenn es z. B. den Raum verlässt). •• Die schriftliche Form verleiht mehr Wertigkeit. •• Bei der Befürchtung, das Kind könnte mit Gewalt reagieren, ist es ratsam, eine dritte Person einzuladen, was das Gewaltrisiko mindert. Im Rollenspiel werden die Ankündigungen vorgetragen. Dabei wird versucht, verschiedene Situationen auszuprobieren und das Gefühl einer Ankündigung sowohl in der Position der Eltern als auch in der Position der Kinder/Jugendlichen erlebbar zu machen. Mögliche Reaktionen (Lemme u. Körner, 2016) der Kinder oder Jugendlichen auf eine Ankündigung werden mit den Eltern besprochen: •• »Das Kind wird sich nicht sofort als Reaktion auf die Ankündigung verändern. •• Falls das Kind während der Ankündigung weggeht, dann sollte diese schriftlich im Zimmer hinterlassen werden. Die Eltern sollten aber zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal wiederkommen und die Ankündigung wiederholen. •• Falls das Kind anfängt zu diskutieren, provozieren und zur Eskalation anregt, dann ruhig entgegnen: ›Wir müssen es tun!‹ •• Falls das Kind konkrete und konstruktive Vorschläge vorbringt, dürfen die Eltern die Reaktion hinauszögern, um sich darüber zu besprechen: z. B. »Wir werden darüber nachdenken!« Beziehungspflege – Gesten der Wertschätzung und der Liebe Mit den Eltern werden anschließend der Beziehungspflege dienende Gesten der Wertschätzung und der Liebe thematisiert und deren Bedeutung parallel zu den oben erarbeiteten Maßnahmen besprochen. Dabei werden zunächst Gesten gesammelt, die die Eltern aktuell verwenden oder in der Vergangenheit verwendet haben. Diese werden auf einem Flipchart notiert. Der Sinn der Gesten (orientiert an Lemme u. Körner, 2018) wird während des Sammelns erklärend erläutert: •• Sie erfolgen unabhängig vom Verhalten des Kindes, d. h., die Eltern machen

301

Elterncoaching in Gruppen

•• •• •• ••

ihr Verhalten nicht vom Verhalten des Kindes abhängig (»Ich entscheide selbst, wann und wie ich meine Wertschätzung zeige!«). Dies wiederum stärkt den Beziehungsfaden. Sie werden nicht als Belohnung/Bestechung verstanden. Durch die Beziehungsgesten fällt es dem Kind schwerer, sich von den Eltern abgelehnt zu fühlen. Die Glaubwürdigkeit der Eltern (»Wir sind an einer guten Beziehung interessiert«) wird erhöht.

Anschließend werden die Eltern gebeten, für sich Überlegungen anzustellen und zu notieren (Anhang 5). Falls nötig werden den Eltern Vorschläge für Gesten durch die Kursleiterin vermittelt und auch schriftlich mitgegeben: •• Äußern Sie mündliche oder auch schriftliche Äußerungen, die Wertschätzung und Respekt gegenüber dem Kind, seinen Talenten und Fähigkeiten ausdrücken. •• Tun Sie Ihrem Kind etwas Gutes, wie die Speise, die das Kind besonders mag zuzubereiten oder ein symbolhaftes Geschenk überreichen. •• Schlagen Sie eine gemeinsame Aktivität vor; beispielsweise eine gemeinsame sportliche Aktivität, einen Film anschauen oder ins Kino gehen. •• Begleiten Sie Ihr Kind bei seinen Hobbys. •• Bringen Sie Ihrem Kind eine Zeitschrift mit, die sowohl Ihr Kind als auch Sie gerne mögen und die Basis für Gespräche darüber sein könnte. •• Verbringen Sie wertvolle Zeit mit dem Kind, d. h. immer dann, wenn Ihr Kind mit einer Frage, einem Anliegen zu Ihnen kommt oder einfach nur den Kontakt zu den Eltern sucht, gehen Sie darauf ein. •• Bedauern Sie mögliche gewalttätige Reaktionen in der Vergangenheit. •• Die Gesten sollten auf Dauer angelegt sein. Beispielsweise ist einmal pro Woche etwas zu unternehmen und spezielle Zeit zu reservieren beziehungsstiftender als einmalig das Kino zu besuchen. Abschlussrunde Die Eltern werden gebeten, noch bestehende Fragen aus dem Elterncoaching zu thematisieren. Die Kursleiterin bietet außerdem an, die gesammelten Kontaktdaten der Teilnehmer den anderen Teilnehmern zur Verfügung zu stellen. ***

302

Arbeitsfelder in der Praxis

Anhang 1: Präsenzskalierung (nach Lemme und Körner, 2018, S. 68 f.; adaptiert für die KJP) Stellen Sie sich eine Situation mit Ihrem Kind vor, in der Sie sein/ihr Verhalten als schwierig erlebt haben und in der Sie nicht so handeln konnten, wie Sie es eigentlich wollten. Schätzen Sie nun auf der Skala von 1–10 Ihre Präsenz ein. 1 = schwach/10 = stark Körperliche Präsenz

1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10

Ich bin körperlich und geistig anwesend, mit den Gedanken in der Situation. Ich stehe fest und sicher, bin aufgerichtet und offen. Handlungsfähigkeit

1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10

Ich kann handeln. Ich weiß, was ich tun kann. Ich habe einen »Plan B«. Ich muss nicht sofort entscheiden und das Kind muss nicht so sein, wie ich es will. Selbstkontrolle

1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10

Ich kann mich bei Eskalationen selbst kontrollieren und steige nicht in die Eskalation ein. Meine Erwartungen an mich selbst in schwierigen Situationen entsprechen meinen Handlungen. Mein Handeln ist weitgehend unabhängig vom Verhalten meines Gegenübers. Überzeugung

1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10

Ich bleibe da, auch wenn es schwierig ist. Ich bin bereit, mich auseinanderzusetzen. Ich bin von dem, was ich tue, überzeugt. Ich bleibe wertschätzend und standhaft. Absicht

1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10

Ich nehme Kontakt auf und zeige mein Interesse an der Beziehung, auch in schlechten Zeiten. Das, was ich tue, entspricht dem, was ich als Ziel anvisiere. Mein Handeln ist beziehungsorientiert.

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Elterncoaching in Gruppen

Netzwerk

1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 – 10

Ich bin nicht allein. Ich weiß, wen ich ansprechen kann. Ich melde mein Handeln in diesem Netzwerk transparent zurück. Welche Präsenzebenen fielen Ihnen schwer einzuschätzen, welche leicht? Was denken Sie, welche Präsenzebene Sie stärken müssten, um eine angemessene Präsenz in dieser Situation zu entwickeln? Wie könnten Sie die einzelnen von Ihnen eingeschätzten Werte um jeweils einen Wert erhöhen oder kleiner werden lassen? Was müssten Sie verändern, um dies zu tun? Was denken Sie, welche Präsenz zu stark ist, wie könnten Sie diese ggf. besser ausbalancieren?

Anhang 2 (Peseschkian, 1979) Ein Vater zog mit seinem Sohn und einem Esel in der Mittagshitze durch die staubigen Gassen einer Stadt. Der Sohn führte und der Vater saß auf dem Esel. »Der arme kleine Junge«, sagte ein vorbeigehender Mann. »Seine kurzen Beinchen versuchen mit dem Tempo des Esels Schritt zu halten. Wie kann man so faul auf dem Esel herumsitzen, wenn man sieht, dass das kleine Kind sich müde läuft.« Der Vater nahm sich dies zu Herzen, stieg hinter der nächsten Ecke ab und ließ den Jungen aufsitzen. Es dauerte nicht lange, da erhob schon wieder ein Vorübergehender seine Stimme: »So eine Unverschämtheit. Sitzt doch der kleine Bengel wie ein König auf dem Esel, während sein armer, alter Vater nebenher läuft.« Dies tat dem Jungen leid und er bat seinen Vater, sich mit ihm auf den Esel zu setzen. »Ja, gibt es so was?«, sagte eine alte Frau, »So eine Tierquälerei! Dem armen Esel hängt der Rücken durch, und der junge und der alte Nichtsnutz ruhen sich auf ihm aus. Der arme Esel!« Vater und Sohn sahen sich an und stiegen beide vom Esel herunter und gingen neben dem Esel her. Dann begegnete ihnen ein Mann, der sich über sie lustig machte: »Wie kann man bloß so dumm sein. Wofür hat man einen Esel, wenn er einen nicht tragen kann?« Der Vater gab dem Esel zu trinken und legte dann die Hand auf die Schulter seines Sohnes. »Egal, was wir machen«, sagte er, »es gibt immer jemanden, der damit nicht einverstanden ist. Ab jetzt tun wir das, was wir selber für richtig halten!« Der Sohn nickte zustimmend.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Anhang 3 Themen aus Limitkorb

Handlungsschritte zum Umgang mit Themen aus Limitkorb

Themen des Bewahrungskorbs

Maßnahmen, um Verhaltensweisen aus dem Bewahrungskorb mehr Raum und Zeit zu geben

Welche Person kann mich unterstützen? In welcher Form?

Anhang 4 Lieber Justin! Wir haben große Sorge um Dich, da wir dich in letzter Zeit nicht mehr oft sehen, nicht wissen, mit wem du dich triffst, und wir so viel Streit miteinander hatten. Wir, deine Eltern, werden Deine Beschimpfungen und Dein Schreien nicht mehr dulden und werden daher Folgendes tun: Wir haben uns als Eltern Hilfe geholt bei Frau Bieda aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Auch Du kannst dort mit hinkommen, wenn Du das möchtest! Wir informieren Andrea und Tobias von den Vorfällen bei uns und werden sie um Unterstützung bitten. Bei Streit werden wir zunächst aus dem Raum gehen und wiederkommen, wenn wir uns alle beruhigt haben.

Elterncoaching in Gruppen

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Wir werden die Eltern deiner Freunde aufsuchen, sie informieren und sie um Hilfe bitten. Und wir werden zu Dir in Dein Zimmer kommen, Dich besuchen, auch schweigend sitzen. Dies machen wir, damit wir wieder netter und ruhiger miteinander umgehen. Wir lieben Dich sehr! Deine Eltern

Anhang 5 Welche Formen der Wertschätzung und Liebe mit dem Kind wären vorstellbar?

Welche früheren gemeinsamen Aktivitäten gab es? (Möglicherweise wurden diese in Ärger auf das Kind eingestellt → vielleicht als Strafe seitens des Kindes verstanden) Die Gesten sollten an Interessen oder Vorlieben des Kindes und der Eltern geknüpft werden.

Wenn Ihnen keine Gesten einfallen, gibt es vielleicht Personen (Freunde, Verwandte etc.), die Ideen haben?

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Arbeitsfelder in der Praxis

Literatur Engelking, U. (2012). Grenzen setzen ist nicht schwer, sie einzuhalten umso mehr! Manual zur Durchführung eines Elterncoachings zum bewussten Umgang mit elterlicher Präsenz. In A. von Schlippe, M. Grabbe (Hrsg.), Werkstattbuch Elterncoaching. Elterliche Präsenz und gewaltloser Widerstand in der Praxis (3. Aufl., S. 113–166). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Lemme, M. (2012). Familie Aufmerksam. Ein integriertes Modell für Elterncoaching, Gruppenund Einzeltherapie bei Kindern mit der Diagnose AD(H)S unter Einbeziehung des Konzepts der elterlichen Präsenz. In A. von Schlippe, M. Grabbe (Hrsg.), Werkstattbuch Elterncoaching. Elterliche Präsenz und gewaltloser Widerstand in der Praxis (3. Aufl., S. 205–222). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Lemme, M., Körner, B. (2016). Seminarhandout »Präsenz als Quelle von Autorität«. Nicht veröffentlicht. Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Päda­ gogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Ollefs, B., von Schlippe, A. (2012). Manual für das Elterncoaching auf der Basis des gewaltlosen Widerstands. In A. von Schlippe, M. Grabbe (Hrsg.), Werkstattbuch Elterncoaching. Elterliche Präsenz und gewaltloser Widerstand in der Praxis (3. Aufl., S. 47–101). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Streit, P. (2016). Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern. Göttingen: Vanden­ hoeck & Ruprecht. Omer, H. (2016). Wachsame Sorge. Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Peseschkian, N. (1979). Der Kaufmann und der Papagei. Orientalische Geschichten in der Positiven Psychotherapie. Frankfurt a. M.: Fischer. Schlippe, A. von, Grabbe, M. (Hrsg.) (2012). Werkstattbuch Elterncoaching. Elterliche Präsenz und gewaltloser Widerstand in der Praxis (3. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Weinblatt, U. (2009). Unveröffentlichtes Seminarmanuskript. Weinblatt, U. (2016). Die Nähe ist ganz nah! Scham und Verletzungen in Beziehungen überwinden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

2.6 Neue Autorität in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und psychischen Störungen Markus Bernard

Sowohl im praktischen Alltag als auch in der fachlichen Diskussion wird in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung immer häufiger eine besonders herausfordernde Personengruppe beschrieben. Es handelt sich dabei um Kinder und Jugendliche, die zusätzlich zu einer geistigen Behinderung auch noch psychische Störungen aufweisen. Diese Klientel lässt die klassischen Systeme der Geistigbehindertenpädagogik immer öfter an ihre Grenzen stoßen (vgl. Hennicke, 2016; Soltau, 2014). Dieser Beitrag versucht nun Notwendigkeiten und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie das Konzept der Neuen Autorität zu einer Verbesserung der Begleitung dieser Kinder und Jugendlichen beitragen kann. Zunächst wird in einer groben Zusammenstellung die aktuelle Forschungslage genannt. Im Anschluss widmen sich die Ausführungen konkret den Besonderheiten dieser Kinder und Jugendlichen. Dadurch wird die Notwendigkeit der Entwicklung eines heilpädagogisch-therapeutischen Umfelds für die Begleitung dieser Kinder und Jugendlichen offensichtlich. Der zweite Teil befasst sich mit Handlungs- und Haltungsaspekten des Konzepts der Neuen Autorität und dem Modell der Wachsamen Sorge. Bezogen auf einzelne praktische Beispiele werden diese Prinzipien der Neuen Autorität mit Methoden der Geistigbehindertenpädagogik verknüpft. Dieses Vorgehen zielt auf die Klärung der Frage, welche Veränderungen im pädagogischen Handeln im Umgang mit diesen Kindern und Jugendlichen durch den Bezug auf die Neue Autorität hilfreich und notwendig sind.

Eine neue Personengruppe? Die Ausgangslage Wissenschaftliche Beschreibung Diese spezielle Personengruppe wird seit einigen Jahren immer häufiger explizit beschrieben und wissenschaftlich untersucht. Soltau weist auf diverse Studien

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Arbeitsfelder in der Praxis

im In- und Ausland hin, die seit dem Jahr 2000 mit übereinstimmenden Ergebnissen eine deutlich erhöhte Prävalenz für psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung aufweisen (vgl. Soltau, 2014, S. 41 ff.). Diese internationalen Erkenntnisse werden auch durch neuere Forschungen im Inland untermauert, wie z. B. durch die umfassend angelegte Studie »Schülerschaft im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung« aus dem Jahr 2012. Diese ermittelte einen Anteil von 40–60 % an auffälligen Schülern (vgl. Dworschak, Kannewischer, Ratz u. Wagner, 2012). Eine erschreckend hohe Zahl von betroffenen Kindern und Jugendlichen wird auch durch Kollegen aus schulischen und nichtschulischen Bereichen bestätigt. Grenzen der Betreuung Betreuung und Begleitung dieser Personengruppe bringen alle daran Beteiligten an ihre Grenzen. Eltern versuchen, unter Aufbringen fast übermenschlicher Kräfte, dem eigenen Kind gerecht zu werden, Erziehung und Fürsorge aufrechtzuerhalten. Es kommt zu Unverständnis, Angst und massiven Übergriffen. Lehrer sehen keinen Weg mehr, den Klassenkameraden, geschweige denn den Betroffenen selbst, gerecht zu werden. Schadensbegrenzung steht im Mittelpunkt des Handelns (vgl. Hennicke, 2016; Häusler, 2017). Wohngruppen mit hochmotivierten Teams implodieren unter der Macht der Verhaltensauffälligkeiten. Statt Geborgenheit und Halt zu bieten, entwickelt sich ein Klima von Ablehnung und Ausgrenzung. Kinder und Jugendliche werden gerade in diesen besonders sensiblen Krisensituationen separiert oder weitergereicht, was die Betroffenen noch mehr verunsichert und zu einer Zunahme an Verhaltensauffälligkeiten führt. Diese Kinder und Jugendlichen sprengen mit ihren massiven und oft skurrilen Verhaltensweisen private und professionelle Erziehungssysteme, und es entsteht Hilflosigkeit auf allen Seiten. Letztlich bleibt die Aufnahme in kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken, von denen in Deutschland gerade 10 % »ein spezielles ambulantes oder stationäres Behandlungsangebot für diesen Personenkreis vor[halten]« (Hennicke, 2014, S. 147). Unzureichende Versorgungssituation Ein Lichtblick in diesem Zusammenhang ist die Klinik am Greinberg, eine Spezialklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Würzburg. Seit nunmehr sechs Jahren gibt es diese Anlaufstelle für alle Betroffenen, Familien und Betreuer. In enger multiprofessioneller

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Zusammenarbeit werden hier bis zu 15 Patienten stationär behandelt. Die gute Zusammenarbeit von Ärzten, Psychologen, Therapeuten, Sozial- und Heilpädagogen, Lehrern und dem Pflegepersonal in einem sehr speziellen und geschützten Rahmen führen häufig zu positiven Verhaltensveränderungen bei den Kindern und Jugendlichen. Ein zentrales Problem stellen aber die sehr wenigen Plätze für eine nachstationäre Unterbringung dar. Immer wieder ist trotz Anfrage verschiedenster Wohnheime im gesamten Bundesgebiet kein Platz für die Patienten zu finden. Trotz einer abgeschlossenen und erfolgreichen klinischen Behandlung ist eine Entlassung nicht möglich. Die Betreuung einer derart unterstützungsbedürftigen Klientel erfordert eine so außerordentliche räumliche, finanzielle und fachliche Ausstattung, dass die meisten Einrichtungen davor zurückschrecken. Es zeigt sich aber auch, dass der Umgang mit diesen Kindern und Jugendlichen im täglichen Miteinander eine Modifizierung bisher verwendeter erzieherischer Maßnahmen erfordert. Kreativität und ein Höchstmaß an Flexibilität, oft auch ein Umdenken sind vonnöten.

Um wen geht es? Beschreibung der Personengruppe Bevor im Folgenden Möglichkeiten der Anpassung des pädagogischen Handelns beschrieben werden, ist es notwendig, die hier beschriebene Klientel noch einmal genau zu betrachten. All diese Kinder und Jugendlichen sind in ihrer Lebens- und Erfahrungswelt gescheitert und haben dadurch – so scheint es oft – jeglichen Halt verloren. Zugleich erschwert ihnen die kognitive Einschränkung die Fähigkeit, Situationen realistisch zu erfassen, und die Möglichkeit, handlungsfähige Lösungsstrategien zu entwickeln. Zu beobachten sind: •• fehlende Handlungssicherheit und -kompetenz in unterschiedlichsten Lebensbereichen; •• wenig bis keine Flexibilität in Bezug auf Beziehungen, Situationen und Lebenslagen; •• mangelnde soziale Fähigkeiten im Umgang mit Erwachsenen, Gleichaltrigen, Konflikten und altersangemessenen Aufgaben; •• erhöhtes Schutzbedürfnis durch fehlendes Sicherheitserleben. Einschränkungen im alltäglichen Handeln Fehlende Handlungskompetenz lässt diese Kinder und Jugendlichen bereits in alltäglichen Situationen an ihre Grenzen kommen. Dies führt nicht selten zu unverständlichem Verhalten, das als Verhaltensstörung interpretiert wird.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Als O. mit neun Jahren bei uns einzog, boten wir ihm zunächst einfache Spielmaterialien an, wie z. B. Plastiktiere. Diese schmiss er häufig durch den Raum, schlug sie auf den Boden oder biss darauf herum. Erst nach und nach wurde uns bewusst, dass er weder mit derartigem Spielmaterial vertraut war noch die dargestellten Tiere kannte. Nach geraumer Zeit seiner Form der Exploration konnte er sich auf ein Spiel einlassen.

Geringe Flexibilität Flexibilität setzt ein hohes Maß an Verständnis für Situationen voraus. Daran mangelt es diesen Kindern und Jugendlichen aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen. Unverständnis führt zu Unsicherheit, die häufig in Verhaltensauffälligkeiten mündet. S. (15 Jahre) geht immer mittwochs zu einem Praktikum in die Berufsschulstufe. Bei der Tagesplanung erfährt sie, dass dies heute nicht der Fall sein und sie den Tag in ihrer angestammten Klasse mit bekanntem Ablauf verbringen wird. Sie wiederholt diese Tatsache mehrfach, nickt und zeigt Zustimmung. Am Ende der Einheit »Tagesplanung« bleibt sie auf ihrem Stuhl sitzen und beginnt, mit den Händen und dem Kopf zu wackeln. Auf die Bitte, sich nun auf ihren Ruheplatz zu begeben, wird ihr Blick starr, und sie beginnt, nach Kindern und Erwachsenen zu greifen und diese zu zwicken.

Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion Soziale Interaktion stellt sich für viele dieser Kinder und Jugendlichen als äußerst schwierig dar. »Es fällt ihnen schwerer […], soziale Situationen zu erfassen, Zusammenhänge zu verstehen, adaptive Handlungsstrategien zu entwickeln, soziale Konflikte zu lösen und eigene Affekte und Impulse zu steuern« (Sarimski, 2012, S. 43). N. (13 Jahre) ist ein agiler Jugendlicher mit leichter Intelligenzminderung und zwanghaftem Verhalten. Im Laufe von zwei Jahren lernte er längere und intensivere Einheiten an seinem Arbeitsplatz zu bewältigen. Im dritten Jahr in dieser Klasse kam ein neuer Kollege mit ins Team und übernahm die Begleitung in einzelnen Stunden. Obwohl die Aufgaben, der Ablauf und die Räumlichkeiten gleich blieben, fiel N. erneut in längst überwundene Verhaltensweisen zurück. Er unterbrach minütlich seine Arbeit, um Stifte zu spitzen, seinen Pullover an- und auszuziehen, stand auf und lief herum. Auf die Bitte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, reagierte N. mit Ablehnung, sprang auf und beschimpfte den neuen Kollegen.

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Auch im Umgang mit Gleichaltrigen werden die Schwierigkeiten im sozialen Miteinander deutlich. Extrem gestörtes Nähe-Distanz-Verhalten, Fehleinschätzung von Reaktionen anderer und ambivalente Strategien im Umgang mit Konflikten erschweren allen Interaktionspartnern das gemeinsame Handeln in hohem Maße. Dazu zählen z. B. fehlender Blickkontakt, plötzliche überschwängliche Freude mit Umarmen und Küssen, Weglaufen oder inadäquate Lautstärke in der Kommunikation und andere verwirrende Verhaltensweisen, die sich zum Teil rasant schnell abwechseln. In der Pausensituation auf dem Schulhof läuft O. grunzend und schreiend zwischen Gruppen von Mitschülern hin und her. Ab und zu lacht er laut und euphorisch. Auf Nachfrage gibt er an, dass er mit den Kindern spiele. Obwohl die anderen Kinder sich offensichtlich von ihm abwenden und ihn bitten, damit aufzuhören, berichtet er im Anschluss begeistert vom gemeinsamen Spiel in der Pause.

Diese inadäquaten Umgangsformen provozieren natürlich ablehnende Reaktionen der Gleichaltrigen, es entwickelt sich ein Teufelskreis. Erhöhtes Schutzbedürfnis Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das offensichtliche Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz. Bei einigen Kindern zeigt sich dies im ständigen Abfragen von Abläufen oder personeller Besetzung der Gruppen und Klassen. Andere Kinder und Jugendliche können diesen Schritt aufgrund starker kognitiver Einschränkungen nicht zielgerichtet gehen, sondern reagieren bei der Suche nach Sicherheit oft mit autoaggressiven Verhaltensweisen. L. (zwölf Jahre) ist ein nichtsprechendes Mädchen mit starker Intelligenzminderung. Wie angetrieben läuft sie den ganzen Vormittag durch die Gruppe und schaut in jedes Zimmer. Immer wieder greift sie recht rabiat nach Erwachsenen, um diese an unterschiedliche Orte zu führen. An manchen Tagen steigert sich diese Umtriebigkeit, sie wird laut, übergibt sich auf den Boden oder beginnt, ihren Kopf zu schlagen.

Diese Sicherheitssuche kann sich derart ausweiten, dass die alltäglichen Handlungsnotwendigkeiten überdeckt werden und die Kinder und Jugendlichen sich darin verlieren. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die hier beschriebenen Kinder und Jugendlichen in weiten Teilen ihres Alltags haltlos und in ihrer Handlungs-

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fähigkeit massiv eingeschränkt sind. Die Hauptaufgabe der erzieherischen Begleitung dieser Kinder und Jugendlichen liegt zuerst darin, dieses Grundbedürfnis zu bedienen und für die Betroffenen einen stabilen Rahmen zu schaffen, der Sicherheit gewährt. Dies ist Grundvoraussetzung für jegliche Weiterentwicklung. Für diese herausfordernde Aufgabe bedarf es eines speziellen heilpädagogisch-therapeutischen Settings.

Was können wir tun? Veränderung des pädagogischen Handelns Prinzipien der Neuen Autorität als Grundlage eines heilpädagogisch-therapeutischen Handelns Für die Entwicklung eines derartigen heilpädagogisch-therapeutischen Umfelds können Prinzipien des Konzepts der Neuen Autorität als handlungsleitend nutzbar gemacht werden. Der systemische Grundgedanke in dem auf Haim Omer zurückgehenden Konzept bietet mit der Beschreibung von Haltungs- und Handlungsaspekten eine fundierte Basis für Veränderungen in der alltäglichen Arbeit von Erziehungsverantwortlichen. Der klare Hinweis auf eine veränderte Haltung den Kindern und Jugendlichen gegenüber bietet Erwachsenen eine Möglichkeit, sich der Hilflosigkeit in schwierigen Erziehungssituationen zu entledigen und selbst wieder Sicherheit zu gewinnen. Im Gegensatz zu dem Versuch, die Kinder und Jugendlichen durch dauerhaftes Einwirken und Behandeln zu verändern, geht es um eine Entscheidung der Erziehenden, das eigene Handeln derart zu verändern, dass notwendiger Halt hergestellt werden kann. Im Konzept der Neuen Autorität wird dies mit dem Begriff der Präsenz »als Quelle der Autorität« (Lemme u. Körner, 2018a, S. 20) beschrieben. Wachsame Sorge im heilpädagogisch-therapeutischen Handeln Mithilfe des Stufenmodells der Wachsamen Sorge können notwendige Ebenen analysiert werden, auf denen erzieherische Präsenz gestärkt werden muss. Damit wird es möglich, »eine Form von Autorität, die sich nicht aus Kontrollbedürfnis heraus versteht« (Omer, 2010, S. 69), im pädagogischen Alltag zu implementieren. Die drei Stufen der Wachsamen Sorge werden beschrieben als: 1. offene Aufmerksamkeit 2. fokussierte Aufmerksamkeit 3. einseitige Maßnahmen

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Im Folgenden werden diese drei Stufen mit Haltungs- und Handlungsaspekten der Neuen Autorität verknüpft. Praktische Beispiele verdeutlichen, wie das Konzept der Wachsamen Sorge in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und psychischen Störungen zum Tragen kommt. Austausch und Gemeinschaft auf der Stufe der offenen Aufmerksamkeit

Die offene Aufmerksamkeit ist geprägt durch zugewandte Begleitung der Kinder und Jugendlichen mit dem Ziel, eine tragfähige Beziehung zu entwickeln. Zeit, Interesse und Gemeinsamkeit stehen hier im Vordergrund. Eine liebevolle Atmosphäre lässt Vertrauen entstehen. Diese gesunde Basis kann in eventuellen Krisen Halt geben. Für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und psychischen Störungen bieten sich auf dieser Stufe Maßnahmen folgender Haltungs- und Handlungsaspekte an: Gesten der Beziehung, Netzwerk und Unterstützung sowie Selbstkontrolle. Gesten der Beziehung als ein Haltungs- und Handlungsaspekt der Neuen Autorität basieren auf der Erkenntnis, dass für eine gelingende Erziehung eine klar erkennbare und authentische Beziehung zwischen Erwachsenem und dem Kind bzw. Jugendlichem vorhanden sein muss. Für den Erziehenden ist es Pflicht und Wunsch zugleich, diese Beziehung zu gestalten und zu fördern. Dies gelingt am besten in entspannter Situation. Gesten der Beziehung sind vielfältig, müssen individuell und situativ angepasst sein und zielen nicht auf eine direkte Verhaltensänderung des Kindes ab. Sie sind geleitet durch die grundlegende Haltung, sich als Erwachsener im Erleben der Kinder und Jugendlichen präsent machen zu wollen (vgl. Lemme u. Körner, 2018b, S. 142 ff.). Am Freitag findet immer Schwimmunterricht statt, und ein Teil der Kollegen geht mit vier Kindern in die Schwimmhalle. Nach der Rückkehr sind alle stets müde und durstig. An einem Freitag erkläre ich einer der Kolleginnen, die nicht beim Schwimmen dabei ist, dass sie die Rückkehr der Schwimmer gut vorbereiten soll. Ich weise darauf hin, dass es statt um die reine Versorgung vielmehr um die Gestaltung von Beziehung gehen soll. Daraufhin deckt sie den Tisch besonders schön mit Servietten, mischt Saft in den Tee und begrüßt alle bereits an der Tür. Den Kindern sagt sie, dass sie sich am Tisch erholen können, und die Kollegen schickt sie in eine kurze Pause. Anschließend sitzen wir gemeinsam mit den Kindern am Tisch und unterhalten uns bei Saft und Obst über die Freuden des Schwimmbadbesuchs – das Gefühl der Gemeinschaft übermannt uns beinahe, und die Kinder genießen die harmonische gemeinsame Zeit sichtlich.

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Netzwerkarbeit und Unterstützerkreise sind ein weiterer wichtiger Handlungsaspekt im Konzept der Neuen Autorität. Ein gemeinschaftlicher Austausch zwischen Eltern, Lehrern, Erziehern und weiteren beteiligten Personen stärkt die Position jedes Einzelnen. Ein kontinuierlicher und offener Austausch fördert das Vertrauen untereinander und schafft zugleich Klarheit und Sicherheit für die Kinder und Jugendlichen. Eine einfache Form des transparenten Austauschs zwischen den Systemen kann ein strukturiertes Übergabeprotokoll sein. Diese Übergabezettel kursieren mit dem Kind zwischen Wohnheim, Schule und Elternhaus und bieten dadurch eine größtmögliche Transparenz über den Verlauf und die Geschehnisse der gesamten Woche. Vor allem Kinder und Jugendliche mit schwerer Beeinträchtigung sowie Störungen und Erkrankungen auf verschiedenen Ebenen benötigen eine psychologische, medizinische und pädagogische Begleitung. Die Installation enger Netzwerke zwischen Erziehern, Lehrern und Ärzten verbessert den Austausch. Es gilt Netzwerke und Abläufe zu entwickeln, die wegen ihrer klaren Strukturen leicht umsetzbar sind sowie das gegenseitige Verständnis fördern. Im wöchentlichen Konsildienst werden beispielsweise die bei uns lebenden Kinder und Jugendlichen in den Blick genommen und die aktuellen Befindlichkeiten multiprofessionell bewertet. In vielen Fällen sind in diesem Rahmen auch die Eltern oder die Kinder und Jugendlichen selbst mit am Tisch und können somit unsere Arbeitsweise erleben. Im gleichberechtigten Austausch kann so die Idee, »die Finger an deren Puls zu haben« (Lemme u. Körner, 2018b, S. 148), in konkretester Form erfahrbar werden. Selbstkontrolle ist sehr eng mit Selbstfürsorge verwoben. Es geht in diesem Handlungsaspekt darum, bei sich bleiben zu können und für sich zu sorgen. Diese Fähigkeit ermöglicht es, Wertschätzung auch durch schwere Situationen hindurch aufrechtzuerhalten. Die zentrale Botschaft den Kindern und Jugendlichen gegenüber lautet: Ich bin für dich da! Ich bleibe für dich da! Ich setze mich für dich ein! Gerade bei nichtsprechenden, blinden, taubblinden oder anderweitig stark eingeschränkten Kindern und Jugendlichen ist diese Aufgabe psychisch und körperlich sehr fordernd. Hinzu kommen immer wiederkehrende Übergriffe, die aufrichtige Zugewandtheit erschweren. Unter diesen Voraussetzungen bei sich bleiben zu können und dauerhaft dem Druck standzuhalten, benötigt emotionalen Abstand. Daher ist es notwendig, Räume zum Austausch für die Mitarbeiter zu schaffen. Tägliche Übergaben mit Kollegen, wöchentliche Teamsitzungen, Supervision und enge Begleitung durch den psychologischen Fachdienst stellen insofern für unseren Bereich einen wichtigen Faktor dar. Alle beschriebenen Vorgehensweisen auf der Ebene der offenen Aufmerksamkeit signalisieren: Wir sind präsent! Wir wissen voneinander! Wir achten aufeinander!

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Struktur und Routinen auf der Stufe der fokussierten Aufmerksamkeit

Die Ebene der fokussierten Aufmerksamkeit wird erreicht, wenn sich Verhaltensweisen ändern, verschlechtern und Schwierigkeiten auftreten. Mit dem Übergang auf die zweite Stufe erhöht sich die Aufmerksamkeit jedes Einzelnen, Informationen werden ausgetauscht und Netzwerke aktiviert. Da sich die hier gemeinten Kinder und Jugendlichen vor allem dadurch auszeichnen, dass sie dauerhaft krisenhaftes Verhalten an den Tag legen, sind viele der alltäglichen Maßnahmen bereits auf der Ebene der fokussierten Aufmerksamkeit zu verorten. Durch präventive Handlungen bietet sich hier die Möglichkeit, pädagogisch-interaktiv statt sanktionierend-reaktiv Einfluss zu nehmen. Strukturierende Elemente und Routinen dienen als präventive Maßnahmen, um Sicherheit zu schaffen, Beziehung zu erhalten und Entwicklung zu ermöglichen. Erfolgreiche Maßnahmen für die praktische Arbeit mit der hier beschriebenen Klientel auf der Stufe der fokussierten Aufmerksamkeit bietet das TEACCH-Konzept. Dabei handelt es sich um ein umfassendes, ganzheitliches und entwicklungstherapeutisches Konzept mit dem Ziel, autistischen und anderweitig kommunikativ eingeschränkten Men­schen Sicherheit zu geben, um selbstständiges Handeln zu ermöglichen. »Durch Strukturierung wird Orientierung ermöglicht und die Bewältigung von Anforderungen erleichtert. Somit fördert sie das Gefühl von Sicherheit und Kompetenz« (Häußler, 2005, S. 52). Zen­trale Bereiche der Strukturierung im TEACCH-Konzept sind dabei Raum, Zeit und Handlung. Die wertschätzende Klarheit des Konzepts wird im Folgenden mit den Handlungsaspekten der Transparenz, der Deeskalation und der Selbstkontrolle verknüpft. Der Handlungsaspekt der Transparenz erfordert von Erziehungspersonen, verbindlich in Aussagen und Handlungen zu sein und dadurch Verlässlichkeit für die Kinder und Jugendlichen zu bieten. Diese Form von Sicherheit kann beispielsweise durch klar strukturierte Arbeitsplätze erhöht werden. Zudem legt der TEACCH-Ansatz besonderen Wert auf die Übersichtlichkeit der Aufgaben. Sowohl das Material als auch die Arbeitsplätze sind derart aufgebaut, dass zentrale Fragen zum Arbeitspensum geklärt sind: Was soll ich tun? Wie viele Aufgaben sind zu erledigen? Wann bin ich fertig? Was kommt nach der Arbeit? Der Aufbau der individuellen Arbeitsplätze gewährt Sicherheit und ist vor allem unabhängig von bestimmten Personen – Selbstständigkeit wird durch Vorhersagbarkeit erweitert. Diese Form der Strukturierung kann in alle Lebensbereiche übertragen werden und Sicherheit im Alltag erhöhen. Deeskalation auf der Stufe der fokussierten Aufmerksamkeit kann durch präventive Strukturierungsmaßnahmen erleichtert werden. Routinen und konsequente Wechsel zwischen Erholungs- und Aktivitätsphasen orientieren sich an Empfehlungen des TEACCH-Konzepts, Zeit und Raum klar zu definieren. Bei

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besonders schnell agitierten Kindern und Jugendlichen ist es notwendig, präventiv alle Aktivitäten in einer ruhigen Situation zu beginnen und zu beenden. Hierfür sind individualisierte und fest installierte Ruheplätze zu schaffen: ein Sitzsack in einer geschützten Ecke, ein eigenes Zimmer mit Sofa oder die Möglichkeit zur Bewegung an der frischen Luft. Der Idee des Haltungsaspekts der Selbstkontrolle folgend, sich nicht in schwierige Situationen hineinziehen zu lassen, können Visualisierungshilfen als Unterstützung genutzt werden. Aufgaben, Abläufe und Regeln, nach Vorgaben des TEACCH-Ansatzes zu konkretisieren, unterstützt dabei Erwachsene und Kinder gleichermaßen. Bildkarten, Tagespläne und Bezugsobjekte statt übermäßigen Sprachgebrauchs verdeutlichen Aufforderungen und notwendige Schritte. Ein einfacher Hinweis auf den feststehenden Plan minimiert soziale Interaktion, ohne die Beziehung zu beenden. Dies fördert Klarheit im Miteinander, kann Missverständnisse durch fehlende Kommunikationsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen verhindern und fokussiert Aufmerksamkeit. Auf der Ebene der fokussierten Aufmerksamkeit bieten die strukturierenden Methoden aus dem TEACCH-Konzept Möglichkeiten, der grundlegend angespannten Lage der Kinder und Jugendlichen Rechnung zu tragen. Durch eine angepasste Struktur des Umfelds ist es möglich, Präsenz und Sicherheit zu gewährleisten. Auch in instabilen Situationen erleben alle Beteiligten Handlungsfähigkeit. Im Alltag wird deutlich: Wir sind wachsam! Wir sind vorbereitet! Wir geben Halt! Protest und Deeskalation auf der Stufe der einseitigen Maßnahmen

Diese Ebene wird erreicht, wenn es zu Situationen oder Verhaltensweisen kommt, die den Bruch der Beziehung möglich erscheinen lassen oder beteiligte Personen in Gefahr bringen. Die Verantwortung, in diesem Fall zu handeln, liegt einseitig auf Seite der Erwachsenen. Zentrale Aufgaben sind in diesem Fall, Schutz zu bieten und Sicherheit herzustellen. Der maßgebliche Handlungsaspekt ist hier der von Protest/ Gegenüber/ Widerstand. Neue Autorität beschreibt damit die Aufgabe, im gewaltlosen Widerstand sowohl zerstörerisches Verhalten einzudämmen als auch zugleich intensiv für die Aufrechterhaltung der Beziehung einzustehen. Eine einfache und häufig erfolgreiche Methode kann dabei beispielsweise ein Personalwechsel im Umgang mit den Kindern und Jugendlichen als »Möglichkeit […] der Vernetzung, Verzögerung und Öffentlichkeit« (Lemme u. Körner, 2018b, S. 70) sein. Eine offene Atmosphäre des Austauschs im Team ist Grundlage für diese Möglichkeit, in angespannten Phasen durch gegenseitige Unterstützung Ruhe und Sicherheit zu erreichen.

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Immer wieder kommt N., ein 13-jähriger Junge, aufgrund seiner zwanghaften Verhaltensweisen in Konflikte mit Betreuern, weil er ständig die Kleidung wechseln will. Mal kratzt es ihn hier, mal ist ihm zu warm oder die Hose zwickt. Dies führt nicht selten zu verbalen Auseinandersetzungen mit diesem Jungen. Ein weiterer Kollege kommt hinzu und verbalisiert: »Bei euch ist es ganz schön laut. Ich habe gerade Zeit und würde anbieten, mit dir, N., kurz in den Nebenraum zu gehen, um deine Fragen mit den Klamotten zu klären. Dann kannst du wieder mit Hr. F. hier deine Aufgaben bearbeiten.« Anstatt der klassischen Vorstellung, man untergrabe durch das »Einmischen« in eine pädagogische Situation die Autorität des Kollegen, stützt man sich gegenseitig mit dem Ziel, die gemeinsame Aufgabe friedlich und gewinnbringend zu lösen.

In angespannteren Situationen müssen die Vorgehensweisen dem Verhalten angepasst und, wenn notwendig, auch verstärkt werden. Grundsätzlich gelten dennoch stets die Grundprinzipien des gewaltlosen Widerstands, der Beharrlichkeit und des Wunsches nach Kooperation. S. kommt trotz strukturierender Abläufe und geplanter Pausenzeiten regelmäßig in sie überfordernde Situationen. Dann greift sie auf alte Verhaltensmuster zurück, versucht zu zwicken, beißt sich und andere und ist nicht mehr selbstständig steuerungsfähig. In vergangenen Jahren wurde versucht, dieses Verhalten durch Abwehr oder Time-out-Maßnahmen zu beherrschen. Nachhaltige Erfolge stellten sich dabei nicht ein, und es kam vielmehr zu immer massiveren Ausbrüchen ihrerseits. Diese lange geübten Verhaltensweisen zu verändern, benötigte die Entscheidung, sich dem übergriffigem Verhalten zu stellen, ohne selbst in die Spirale der Gewalt zu geraten. Kommt es zu Übergriffen durch S., wird die direkte Interaktion nur noch durch eine Person aufrechterhalten. Diese Person spricht mit S., instruiert die Kolleginnen und Kollegen und übernimmt damit unmissverständlich die Führung dieser Situation. Die Aufgabe der Person ist es, S. mitzuteilen, dass ihr aggressives Verhalten nicht geduldet wird, und sie zu bitten, sich zu ihrem Ruheplatz, einem Sitzsack im Nebenraum, zu bewegen. Des Weiteren wird diese Person den anderen Kolleginnen klare Anweisungen geben, z. B. andere Kinder aus dem Raum zu bringen, die Tür zu öffnen oder die Bildkarte »Sitzsack« zu holen. Dann positioniert die Kollegin die anwesenden Personen um S. mit angemessenem Abstand. Sie zeigt S. die Bildkarte und wiederholt beharrlich den Auftrag, sich zum Ruheort zu bewegen. Es ist eine sehr ruhige, konzentrierte Situation. Bereits bei der ersten Krise zeigte sich S. durch die Klarheit sehr beeindruckt, musste bald schmunzeln und fragte, warum alle jetzt hier herumstehen würden. Die beharrlichen Aufforderungen durch eine Person wurden wiederholt und Körperkontakt vermieden. Nach einigen Minu-

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ten löste sich die körperliche Anspannung bei S. Konkrete Verhaltensbeschreibungen durch die leitende Person, wie »Du atmest jetzt viel leichter«, »Du wippst mit dem Fuß«, »Du lächelst«, eröffneten wieder Kontakt mit S. Schließlich konnte S. von allen Kolleginnen zum Sitzsack begleitet werden. Dort angekommen gab es Applaus, und man freute sich gemeinsam mit S. Beim täglichen Abschlusskreis in der Klasse berichteten wir auch den anderen Schülerinnen, dass S. es trotz Überforderung und Anspannung geschafft hatte, zur Ruhe zu kommen.

Auf der Ebene der einseitigen Maßnahmen vereinen sich die zuvor getroffenen präventiven Haltungs- und Handlungsaspekte zu einem Krisenkonzept. Sicherheitsgebende Schritte sind abgesprochen und eingeübt. Deeskalierender Umgang in diesen Situationen ermöglicht es, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Im Umgang mit den Kindern und Jugendlichen wird deutlich: Wir sind da! Wir bleiben da! Du bist uns wichtig!

Was war, was kommt? Ergebnis und Ausblick Bei dem hier vorgestellten Versuch, Haltungs- und Handlungsaspekte der Neuen Autorität in die erzieherische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und psychischen Störungen zu integrieren, handelt es sich nur um eine beispielhafte Zusammenstellung möglicher Maßnahmen und Vorgehensweisen in der Begleitung dieser herausfordernden Klientel. Dennoch zeigt sich bereits hier, welches Potenzial einer Adaption des Konzepts der Neuen Autorität für die Geistigbehindertenpädagogik innewohnt. Insbesondere erscheint bemerkenswert, wie sich eine veränderte Haltung der Erziehungsverantwortlichen auf die Herangehensweise an diese Klientel auswirken kann. Als Antwort auf die Frage nach notwendigen Aufgaben der Erziehungssysteme in diesem Bereich kristallisieren sich drei zentrale Prinzipien heraus: Sicherheit herstellen – Beziehung erhalten – Entwicklung ermöglichen. Sicherheit herstellen in der Haltung, sich diesen Kindern und Jugendlichen zuzuwenden, und der Entscheidung, für diese einzustehen. Hierzu gilt es zunächst Sicherheit für die Mitarbeiter herzustellen. Rechtliche, fachliche und organisatorische Aspekte müssen dabei geklärt und transparent kommuniziert werden. Erst das ermöglicht es, sichere Orte für diese Kinder und Jugendlichen zu schaffen. Beziehung erhalten mit dem Ziel, durch verstärkte Präsenz im Leben der Kinder und Jugendlichen mit ihnen in Kontakt zu treten, Beziehung sichtbar werden zu lassen und aufrechtzuerhalten. Dies wird z. B. erreicht durch auf-

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richtiges Interesse für das Gegenüber, Wertschätzung der Person und Klarheit im Kontakt. Auch auf kollegialer Ebene bieten diese Maximen die Voraussetzung für eine offene, vertrauensvolle Zusammenarbeit im Team. Und letztlich Entwicklung ermöglichen als zentrales Ziel jeglicher Erziehungsversuche im Sinne einer größtmöglichen Entfaltung aller Beteiligten. Hierzu zählt die Verbesserung pädagogischen Handelns durch kollegiale Reflexion und Fortbildungen ebenso, wie z. B. die transparente Entwicklung von Förderund Lernzielen mit und für die Kinder und Jugendlichen in multiprofessioneller Zusammenarbeit. Eine Ausweitung der Methoden für den praktischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung basierend auf dem Konzept der Neuen Autorität scheint unter diesen Voraussetzungen sehr sinnvoll und kann damit als ein möglicher nächster Schritt in der fachlichen Diskussion angesehen werden. Hierfür könnten die Haltungs- und Handlungsaspekte auf eine erweiterte Nutzbarkeit in heilpädagogisch-therapeutischen Settings hinterfragt werden. Bei einer folgenden theoretischen Auseinandersetzung ließe sich fragen, inwieweit die hier herausgearbeiteten Prinzipien der Sicherheit, Beziehung und Entwicklung bereits in anderen Worten durch das Werte-Dreieck der Neuen Autorität (vgl. Lemme u. Körner, 2018b, S. 83 ff.) beschrieben werden. Literatur Dworschak, W., Kannewischer, S., Ratz, Ch., Wagner, M (2012). Verhaltensstörungen bei Schülern im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Bayern. In Ch. Ratz (Hrsg.), Verhaltensstörungen und geistige Behinderung (S. 67–82). Oberhausen: Athena. Häusler, M. (2017). Hat sich die Schülerschaft verändert – oder die Schule? Anmerkungen zur Situation an Förderzentren mit dem FS Geistige Entwicklung in Bayern. Spuren, 60 (1), 38–42. Häußler, A. (2005). Der TEACCH Ansatz zur Förderung von Menschen mit Autismus. Einführung in Theorie und Praxis. Dortmund: modernes lernen. Hennicke, K. (2014). Zur Struktur der psychosozialen Versorgung geistig behinderter Kinder und Jugendlicher mit zusätzlichen psychischen Störungen. In K. Hennicke, T. Klauß (Hrsg.), Problemverhalten von Schüler(innen) mit geistiger Behinderung (S. 130–156). Marburg: Bundesvereinigung Lebenshilfe. Hennicke, K. (2016). Grenzen der Beschulbarkeit. Ein Erfahrungsbericht über ein gravierendes Gesundheitsproblem. Heilpädagogische Forschung, 42 (3), 160–168. Lemme, M., Körner, B. (2018a). »Neue Autorität« in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag (3. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Lemme, M., Körner, B. (2018b). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Päda­ gogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Omer, H., von Schlippe, A. (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Ratz, Ch. (Hrsg.) (2012). Verhaltensstörungen und geistige Behinderung. Verhaltensstörungen und geistige Behinderung. Lehren und Lernen mit behinderten Menschen, Bd. 24. Oberhausen: Athena.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Sarimski, K. (2012). Zur Bedeutung von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung. In Ch. Ratz (Hrsg.), Verhaltensstörungen und geistige Behinderung (S. 39–54). Oberhausen: Athena. Soltau, B. (2014). Prävalenz von emotionalen und Verhaltensproblemen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und die psychotherapeutische und psychiatrische Versorgung aus Sicht der Eltern. In K. Hennicke, T. Klauß (Hrsg.), Problemverhalten von Schüler(innen) mit geistiger Behinderung (S. 40–46). Marburg: Bundesvereinigung Lebenshilfe.

2.7 Psychotherapie und Verantwortung und Autorität Martin Lemme

In meiner mehr als 25-jährigen Erfahrung als (psychologischer) Psychotherapeut (mit Zulassung im Kassensystem für Kinder, Jugendliche und Erwachsene) ist mir deutlich geworden, dass eine erfolgreiche Entwicklung in einer Psychotherapie von einigen zentralen Aspekten abhängt: •• dem Vertrauensverhältnis zwischen Psychotherapeutin und Klient sowie dessen Wahrnehmung von Sicherheit; •• der inneren Überzeugung von den eigenen Möglichkeiten der Klientinnen; •• den äußeren Systembedingungen der Klienten (psychosoziale Belastungen, Einfluss auf und Kontrolle auf von Änderungsmöglichkeiten, Unterstützungsoptionen). In der Literatur über Psychotherapie ist darüber bereits viel geschrieben worden. Diese drei Faktoren kennen wir auch als Resilienzfaktoren. In meiner Entwicklung als Psychotherapeut mit unterschiedlichen Ausbildungen (Psychodrama, Verhaltenstherapie, Rational-Emotive Therapie, Systemische Therapie, Psychodynamische Traumatherapie, PEP – Prozessorientierte und Embodiment-fokussierte Psychologie u. a. m.) habe ich meine praktische Arbeit inzwischen am Konzept der Neuen Autorität orientiert. Was ich damit meine, möchte ich an folgenden Themen erläutern und praktisch beschreiben: •• (Neue?) Autorität der Psychotherapeutin, •• Psychotherapeutische Präsenz, •• Präsenzerleben der Klientin, •• Haltungs- und Handlungsaspekte in der Psychotherapie.

(Neue?) Autorität des Psychotherapeuten Aus Berichten vieler Klientinnen, Intervisionen mit Kolleginnen sowie Darstellungen von Supervisanden (ich bin ebenfalls als Supervisor tätig) habe ich

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Arbeitsfelder in der Praxis

leider häufig Hinweise darauf bekommen, dass Psychotherapeuten ihren Klientinnen eindimensionale Ratschläge oder auch einseitige Bedingungen für die Fortführung von Psychotherapie formuliert haben. Während Formulierungen wie »Sie müssen jetzt Folgendes unbedingt tun, da geht kein Weg dran vorbei!« vielleicht noch nachvollziehbar sind, waren für mich Aussagen wie »Wenn Sie sich nicht von Ihrem Mann trennen, dann breche ich die Therapie ab!« oder »Ich behandele Sie nur, wenn Sie dieses Medikament nehmen!« unglaublich und erschütternd. Die Haltung, die aus meiner Sicht daraus spricht, ist die einer patriarchalisch geprägten Autorität, die glaubt zu wissen, was der Klient benötigt, und dies auch anweist, es letztlich besser zu wissen glaubt. Diese Haltung hat auf verschiedene Art und Weise in der Geschichte schon Kritik erlebt. So wird z. B. Steve de Shazer (2002) folgende Aussage zugeschrieben: »Nehme ich wahr, dass ich glaube zu wissen, was besser für meine Klienten ist, dann stehe ich auf, gehe zum Fenster und öffne dieses, setze mich darunter, nehme eine Aspirin und warte, bis der Anfall vorübergeht!« Gleichwohl ist die Haltung der Psychotherapie in ihrem Grundsatz zunächst patriarchalisch ausgerichtet, denn sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Verhaltenstherapie galt der Psychotherapeut in der Medizin als derjenige, der wissen musste, das zugrunde liegende Problem für die Klientin ursächlich zu erklären und eine Möglichkeit der Heilung aufzuzeigen. Paul Verhaeghe weist auf einen als Witz gemeinten Ausspruch von Sigmund Freud hin: »Es gibt, so behauptete er [Freud], drei unmögliche Berufe: Erziehen, Kurieren und Regieren. In seiner Zeit betraf das drei männliche Rollen: Väter, Ärzte und Politiker« (Verhaeghe, 2016, S. 57). Verhaeghe kritisiert eine Ausprägung des Psychotherapeuten, die sich auf die patriarchalische Position der traditionellen Lehrerfigur bezieht, sodass der Vater es letztlich besser wisse. Dies spiegelt sich auch noch in der heutigen Diskussion wider, wenn in der Legitimation der Psychotherapie mit evidenzbasierten Studien argumentiert wird, um die Wirksamkeit der eigenen Behandlungsmethode zu belegen. Diese Überlegungen bringen zwei aus meiner Sicht fatale Aspekte zutage: 1. Klientinnen kommen in der Regel unter Leidensdruck zu Psychotherapeuten. Das Ziel einer Psychotherapie sollte entsprechend die Wiederherstellung der Selbstwirksamkeit unter Berücksichtigung aller Resilienzfaktoren sein. Stattdessen wird der Klient an dieser Stelle eher bevormundet, also nicht als selbstkompetente und entscheidungsfähige Person dargestellt. Dies läuft nach meinem Dafürhalten einer modernen Psychotherapie zuwider. 2. So eine eher patriarchalisch angelegte Psychotherapie kann nur funktionieren, wenn alle Beteiligten daran glauben. Fällt die Zustimmung einer der Beteiligten weg, dann fällt auch die erfolgreiche Wirksamkeit im Ver-

Psychotherapie und Verantwortung und Autorität

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laufe des Prozesses weg. In der Psychotherapie erleben wir dies durch kritisches Nachfragen der Klientinnen oder auch das Scheitern des Klienten an unseren vorgegebenen Schritten. Macht die Klientin möglicherweise nicht das, was wir vorschlagen, oder zögert sie, dann sprechen wir nicht selten von »Widerstand«. In einem patriarchalischen Konzept von Psychotherapie müssten wir diesen als Weigerung des Klienten verstehen. Diesem Widerstand müssten wir dann mit weiteren Forderungen oder der Drohung des Therapieabbruchs begegnen. In manchen Prozessen wird möglicherweise die Diagnose intensiviert, vielleicht eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, somit der Erkrankungsgrad erhöht. Wir kommen so in die Gefahr einer symmetrischen Eskalation mit dem Widerstand und dies in Verbindung mit gegenseitiger Scham und Beschämung. Insofern kann ich nachvollziehen, wie Lacan in seinem Buch »Die Ethik der Psychoanalyse« (1996) meinte, dass Scham das Gefühl sei, was am besten zur Vaterschaft im Sinne des Patriarchats passe. Eine 18-jährige Klientin beschrieb mir, dass sie nach einer Weile der Anwendungen ihrer vorherigen Psychotherapeutin an diese die Rückmeldung gab, dass die Interventionen ihr helfen würden, obwohl sie dies nicht so wahrgenommen hatte. Ihre Therapeutin sei so beharrlich in ihren technischen Anwendungen geblieben, dass sie meinte, sie müsse ihr jetzt den Glauben an ihr Tun vermitteln, damit die Psychotherapie helfen könnte. Gleichwohl nahm die Klientin an, dass sie selbst »nicht richtig« sei und deswegen die sonst wohl erfolgreichen Interventionen eben nicht greifen würden. Insofern geriet die Klientin in eine komplementäre Eskalation mit den Interventionen und übernahm in eigener Nachgiebigkeit die Verantwortung für den fehlenden Erfolg der Therapie. Dies bestätigte sie fatalerweise in dem eigenen negativen Selbstbild, wie sie selbst beschreiben konnte.

Die Art des Besserwissens und der Bevormundung von Klienten hat im Umgang mit Kindern und Jugendlichen den Namen »Adultismus« erhalten (Friesinger, 2017; Ritz, 2008). Adultismus meint, dass Erwachsene in alltäglichen Dingen den Kindern zu verstehen geben, dass diese noch nicht kompetent genug und noch nicht weit genug entwickelt seien. Daraus resultiere, dass es der Erwachsene aufgrund seiner Erfahrung besser wisse und das Kind dies entsprechend zu befolgen habe. Diese Haltung finden wir auch im Umgang mit Klientinnen wieder – nur eben im Umgang mit Erwachsenen. Es gibt Situationen, in denen das einseitige Eingreifen der Psychotherapeutin dringend erforderlich ist, z. B. bei ernst zu nehmenden Suizidankündigungen. Dann ist Schutz durch Non-Suizid-Verträge, stationäre Unterbringungen u. Ä. m.

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Arbeitsfelder in der Praxis

zu gewährleisten. Andererseits findet sich die Haltung der Bevormundung durchaus bei manchen Medikationen oder Fixierungen in der Psychiatrie. Paul Verhaeghe geht in seinem Buch »Autorität und Verantwortung« auf die verschiedenen Zusammenhänge näher ein und vermutet, dass z. B. überhöhte Erwartungen an den Psychotherapeuten oder die Ärztin dazu führen, dass diese zu einem solchen Handeln greifen (Verhaeghe, 2016). Die Aufgabe der Psychotherapeutin habe sich dahingehend verändert, dass in Therapien häufig der Auftrag enthalten sei, den Klienten wieder dem System funktionsfähig anzupassen. Da der Psychotherapeut allerdings weder eine neue Beziehung noch eine neue Arbeit oder sonstige Rahmenbedingungen beeinflussen könne, finde er keine Mittel der Verbesserung, was letztlich zu Frustration und entsprechenden Handlungsmustern wie vorstehend beschrieben führen könne. Auch die Psychodiagnostik scheint sich eher funktional zu entwickeln, wobei Psychotherapie folglich ein Verfahren ist, das den psychisch erkrankten Menschen wieder funktionsfähig im Sinne der gesellschaftlichen Erwartungen machen sollte. Diesbezüglich ist häufig genug gerade vom volkswirtschaftlichen Schaden der Depressionserkrankungen einschließlich Burn-out geschrieben und gesprochen worden, was u. a. zu einer Veränderung der deutschen Psychotherapie-Rahmenbedingungen v. a. der Kurzzeittherapie-Anerkennung geführt hat. Zudem haben viele Krankenkassen extrabudgetär und zum Teil auch Arbeitgeber durch vermittelnde Anbieter Kurzzeittherapie-Programme mit finanziell attraktivem Anreiz für die Psychotherapeutinnen auf den Weg gebracht, um die Erkrankten schnell wieder funktional herzustellen. Evidenzbasierte Vorgehensweisen fokussieren vorrangig auf die Wiederherstellung des gesellschaftlich funktionalen Menschen. Grundsätzlich scheint es wenig ratsam, einen Klienten gesundheitlich und funktional wiederherzustellen, damit er im gleichen System erneut an ebendiesen Rahmenbedingungen erkrankt. Die Thematik der Funktionalität findet sich insbesondere auch in der Psychodiagnostik für Kinder und Jugendliche wieder. Viele Diagnosen (wie Hyperkinetische Störungen und Störungen des Sozialverhaltens) orientieren sich auch in der Diagnostik an Verhaltensnormen, die von den Kindern in den Kontexten von Schule, Gruppe, Jugendhilfe und Familie erwartet werden, weniger an den persönlichen Möglichkeiten der betroffenen Personen. Kinder und Jugendliche speziell mit diesen, aber auch anderen Diagnosen kommen in der Regel nicht freiwillig in eine Psychotherapie, sondern sind »geschickte« Klienten – geschickt von Lehrerinnen, Eltern und/oder ärztlich- psychologischen Kolleginnen. Wer von den für Kinder und Jugendliche zugelassenen Psychotherapeuten hat die Not von Eltern in der Anmeldung nicht schon vernommen: »Wir brauchen

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ganz dringend für unseren Sohn eine Psychotherapie, da sonst ein Ausschluss aus der Schule droht. Wir müssen nur einen Platz nachweisen, das fordert die Schule von uns«? Abgesehen davon, dass erfahrungsgemäß ein spontan freier Therapieplatz in der Regel nicht verfügbar ist, geben die handelnden Erwachsenen (Eltern, Lehrerinnen, Jugendamtsmitarbeiter …) ihre eigenen Handlungsoptionen an jemanden ab, die sie als vermeintliche Expertin für diesen Zusammenhang sehen. Bekanntermaßen hat eine Psychotherapie, wenn überhaupt bei Kindern, eine eher langfristige Wirkung (Wartezeit, Kurzzeit- und Langzeittherapie …). In dieser Zeit warten die Erziehungsverantwortlichen in der Regel auf Änderungen durch die Psychotherapie, sind dabei im eigenen Handeln gelähmt, der Kontakt zum Kind wird in der Regel kritischer und etwaige Einflussfaktoren wie der Kontext oder Beziehungsfaktoren werden wenig bis gar nicht verändert. Der Psychotherapeut kommt mit der Zeit unter Druck, und wenn das Kind bzw. der Jugendliche sein Verhalten nicht verändert, gilt auch die Psychotherapie als gescheitert, da die Funktionalität des Kindes/Jugendlichen nicht wiederhergestellt worden ist. Seit Jahren übernehme ich nur noch Psychotherapieaufträge aus dem Kinder- und Jugendbereich, in denen Jugendliche ein eigenes Anliegen haben oder die gesamte Familie zur Sitzung kommt oder – die häufigste Variante – ich die Eltern begleite, wieder stärker in ihrer Präsenz wirksam zu sein. Schon seit Beginn der Psychotherapieforschung hat sich herausgestellt, dass die wirksamsten und nachhaltigsten Therapien von der Qualität der Beziehung zwischen Psychotherapeut und Klientin abhängen und eben nicht von den Interventionen. Das Wissen und Werk von Carl Rogers mit der Patientenbzw. Personenzentrierten Psychotherapie hat diese Grundlage in alle Psychotherapien hineinfließen lassen. Gerade habe ich aufgrund einer sogenannten »Burn-out-Diagnose« zwei Klientinnen geholfen, aus ihrem Beruf auszusteigen und über Berentung sowie alternative Tätigkeiten ein neues Wirksamkeitserleben und Zufriedenheitsgefühl zu erleben, erfolgreiche Therapien aus meiner Sicht, da sich die Klienten wieder persönlich und emotional wie körperlich ganzheitlich erleben. Wenn also der Psychotherapeut nicht der Heiler und Retter seiner Klientinnen sein kann und sein sollte, seine Beauftragung im Sinne gesamtgesellschaftlicher Funktionalisierung ein Überbleibsel eines pyramidalen Autoritätsverständnisses ist, dann zeigt sich, dass dieses Bild von Autorität nicht mehr zeitgemäß ist und bei den mittlerweile vielen aufgeklärten Klientinnen nicht mehr passt. Welches Bild von heilender Autorität lässt sich dann im Rahmen von Psychotherapie (und nach meinem Dafürhalten auch anderen Heilberufen) durchführen, und was ist dafür notwendig?

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Arbeitsfelder in der Praxis

Eine neue Autorität für Psychotherapeuten benötigt eine andere Interpretation und Praxis im Zusammenhang mit der eigenen Autorität. Aus meiner Sicht könnten drei Eckpunkte Autorität interpretiert und entsprechend in Handlung umgesetzt werden (Abbildung 1).

Abbildung 1: Drei Eckpunkte von Anerkennung der Autorität (eigene Darstellung nach Arendt, 1954)

Aus der Perspektive der Neuen Autorität beschäftigt sich der erste Eckpunkt mit der Übernahme der eigenen Verantwortung im Sinne von Demut. Mit dem Wissen um die Wirkweisen und Handlungsgrenzen von Psychotherapie ist es für Psychotherapeutinnen notwendig, die eigene Rolle im Prozess detailliert zu klären. Es bedarf einer genauen Auftragsklärung, wobei ein Auftrag dann erfolgt, wenn die Klientin ein aus eigener Kraft erreichbares Ziel vor sich hat. Ist das Ziel von anderen Zusammenhängen abhängig, dann bleibt es die Aufgabe des Psychotherapeuten, dies zu kennzeichnen und sichtbar zu machen, dem Klienten zu helfen, ein für ihn entsprechend erreichbares Ziel anzugehen. Die Psychotherapeutin wird an dieser Stelle weniger zu einer Heilsbringerin, die quasi Zauberkräfte und besondere Wirksamkeiten hat, sondern eher zu einem Coach, der dem Klienten hilft, seine ihm möglichen Schritte und Wege zu gehen. Dies ist zugleich eine im Sinne der Würde gleichrangige Begegnung, da sie die Klientin nicht abhängig vom Psychotherapeuten und dessen Wissen, sondern den Klienten zum Experten seiner eigenen Möglichkeiten macht. Eine paternalistische oder adultistische Verhaltensweise wird an dieser Stelle vermieden. Diese Haltung ist geprägt von folgenden Handlungsoptionen: •• klare Aussagen über die Annahme von Aufträgen und Grenzen der eigenen Tätigkeit; •• ehrliche Benennung von eigenen Positionen, ggf. auch Kontra-Positionen; •• klare Übernahme von Verantwortung und Grenzsetzungen, wenn es um Schutz und Sicherheit z. B. in Zusammenhang mit Suizidgefährdung oder Gefährdung anderer geht;

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•• Übernahme der Expertenrolle, wenn es um ein fachliches oder auch erfahrungsvalidiertes Wissen geht. Dies bedeutet letztlich auch, dass eine Psychotherapeutin klar in der Ablehnung von Psychotherapieanfragen sein sollte, von denen sie weiß, dass sie nicht hilfreich sein wird. Das führt uns zum zweiten Eckpunkt, der Anerkennung der Autorität des Psychotherapeuten, die mit dem in der Psychotherapie stärksten Wirkfaktor verbunden ist: der Beziehung und der Persönlichkeit der Psychotherapeutin. Im Konzept der Neuen Autorität ist der Psychotherapeut dafür verantwortlich, dass er die Anerkennung seiner Autorität durch seine Klientinnen bekommt. Diese erwirbt er durch •• eine Haltung von Empathie und fokussierter Konzentration auf die Anliegen und die Möglichkeiten der Klientin; •• eine Haltung von Neugier und Interesse sowie eine gute Erinnerung an die vorherigen Sitzungen und Erzählungen der Klientinnen, sodass diese sich in ihrer Einzigartigkeit wahrgenommen erleben; •• Vermittlung von Sicherheit und Schutz, vorrangig durch Rückfragen und auch Anfragen nach Erlaubnis für möglicherweise riskante oder provokative Interventionen; •• eine Haltung der Zuversicht, sodass der Klient Möglichkeiten der Entwicklung und Verbesserung sieht; •• damit verbunden eine Haltung der Akzeptanz, des Mitleids und des Trostes, die auch vermittelt, dass manches Leiden nicht überwindbar sein wird; •• Humor, denn dort, wo gelacht werden kann, sind Sicherheit und Entwicklung möglich. Der dritte Eckpunkt der Anerkennung psychotherapeutischer Autorität hängt nach meinem Dafürhalten von Faktoren der Transparenz und Würde ab, sodass Psychotherapie für die Betroffenen oder auch von außen Beobachtende ein nachvollziehbarer Prozess wird, der darstellbar und in seiner Ausrichtung erklärbar ist. Ist der Klientin klar, welchem Ziel die therapeutischen Interventionen dienen und unter welchen Voraussetzungen sie wirksam sind, wird die Klientin diesen eher zustimmen, als wenn diese spontan und eher zufällig wirken, keinen Zusammenhang, keine klare therapeutische Strategie sichtbar machen. Eine Psychotherapie, die beispielsweise abwartet, was die Klientin in die Sitzung mitbringt, ohne eine gesamte Zielrichtung sichtbar gemacht zu haben, bleibt letztlich zufällig und ohne roten Faden. Dieser Gedanke lässt sich natürlich für alle anderen ärztlichen oder auch beraterischen Kontexte analog denken. So wird

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Arbeitsfelder in der Praxis

dieser dritte Eckpunkt der Anerkennung der Autorität einer Psychotherapeutin durch Maßnahmen wie diese gestärkt: •• Verbindlichkeit, •• Mitteilung eigener Absichten und Überzeugungen, •• Rückmeldung eigener Wahrnehmungen und Beobachtungen, •• Erläuterung von Sinn und Ausrichtung der Hilfe, •• ausschließlich offene Absprachen mit allen Beteiligten, Partizipation der Klienten auf allen Ebenen bis hin zur Aktenführung, •• Transparenz und Nachvollziehbarkeit über Vorgehen, Prozesse und Abläufe. Diese Orientierung in der Psychotherapie kann aus unserer Sicht in ein Werte-Dreieck (siehe Abbildung 3 in Kapitel 2.2) übersetzt werden, das die Anerkennung der vorstehend genannten Eckpunkte auf eine werteorientierte Handlungsebene hebt.

Psychotherapeutische Präsenz In der systemischen Therapie ist die Rolle des Psychotherapeuten von jeher anders beschrieben, als wir dies aus den traditionellen Psychotherapien kennen. Sie wird als eigener Einflussfaktor in dem Prozess gesehen, kann demnach nicht eine objektive Beobachtungsposition einnehmen. Die Psychotherapeutin ist durch ihr Wirken und allein schon ihrer Begegnung mit der Klientin selbst Wirkfaktor des Prozesses. Daher kommt der Auftragsklärung besondere Bedeutung zu. Diesbezüglich hat vor allem Steve de Shazer einen speziellen Fokus gesetzt. Seine Unterscheidung von »Klagenden, Besuchern und Kunden« (de Shazer, 2002) ermöglicht der Psychotherapeutin ein Vorgehen, welches sich an den Belangen und Bedürfnissen, also den eigenen Aufträgen der Klienten orientiert. Erst wenn ein Klient tatsächlich einen für sich selbst formulierten Auftrag und ein entsprechendes attraktives Ziel hat, kann aus der Sicht de Shazers Psychotherapie im Sinne des Klienten wirksam sein. Daraus resultiert für die Psychotherapeutin, dass sie ein Ziel gemeinsam mit dem Klienten vereinbart, welches durch dessen Aktionen und Handlungen sowie Einstellungsänderungen allein erreichbar ist. Der Psychotherapeut wird dadurch nicht vorrangig zum Experten für die Veränderung, sondern eher zum Coach oder der Begleiterin der Klientin zum Erreichen deren Ziels. Damit ist die Psychotherapeutin verantwortlich für die Rahmung des Prozesses in der Psychotherapie, auch für die Gestaltung des sicheren Ortes für den Klienten, aber nicht für das Ergebnis des Gesamtprozesses.

Psychotherapie und Verantwortung und Autorität

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Im Fokus des Konzepts der Neuen Autorität steht die Präsenz der handelnden Personen. Dabei wird in diesem Zusammenhang zunächst auf die Präsenz der Psychotherapeutin geschaut. Weiter unten im Kapitel wird die Präsenz der Klientin selbst im Rahmen der Psychotherapie beschrieben. Omer und von Schlippe (2016) haben Präsenz zunächst für Eltern mit einem Handlungsaspekt, einem Erlebensaspekt und einem Unterstützungsaspekt beschrieben. Stephen Porges (2018) spricht von therapeutischer Präsenz im Rahmen seiner Polyvagal-Theorie (siehe Kapitel 1.6) und meint dabei im Kern die Möglichkeiten der Psychotherapeutin, durch bestimmte Aspekte ihrer eigenen Präsenz bei Klientinnen und auch sich selbst neurophysiologische Zustände zu aktivieren, die beiden das Gefühl von Sicherheit vermitteln und wahrnehmen lassen. Therapeutische Präsenz wird demnach möglich, wenn sich der Psychotherapeut während seiner Arbeit völlig im gegenwärtigen Augenblick befindet. Porges führt dies auf mehrere sich gleichzeitig manifestierende Dimensionen zurück: die physische, die emotionale, die kognitive und die relationale. Diese Dimensionen ähneln sehr den Präsenzdimensionen von Lemme und Körner (2018). Danach arbeitet die Psychotherapeutin im Vorfeld einer Therapiesitzung an der eigenen Präsenz im Sinne der Achtsamkeit und Vorbereitung. Sie ist im Besitz ihrer Präsenz geerdet und mit dem eigenen integrierten und gesunden Selbst im Kontakt (vgl. Porges, 2018). Sie ist zudem offen »für das im Augenblick Schmerzliche« und erlebt im betreffenden Moment »ein umfassendes Gefühl des Raumes und der Erweiterung des Gewahrseins und der Wahrnehmung« (­Porges, 2018, S. 192). Hartmut Rosa (2016) nennt solche Momente des Erlebens Augenblicke der »Resonanz«. Dabei liege die Absicht auf dem gemeinsam formulierten Ziel des Heilungsprozesses des Klienten. Diese Präsenz des Psychotherapeuten wirke sich bei der Klientin so aus, dass diese sich gesehen und verstanden erleben und sicher fühlen könne, was dem Zugang zur eigenen Präsenz ausdrücklich dienlich sei. Ein empirisch validiertes Modell von therapeutischer Präsenz wird in weiteren Publikationen beschrieben (Geller, 2013; Geller u. Greenberg, 2002, 2012). Damit bestätigt Porges über seine Polyvagal-Theorie, dass die Fokussierung der Psychotherapeutin auf sich selbst die entscheidende Voraussetzung dafür ist, »dass er dem Klienten gegenüber einen Zustand der Eingestimmheit und Responsivität entwickeln kann. […] Ihre Fähigkeit zur Responsivität und zur Nutzung wirksamer Interventionen und Techniken basiert auf dieser eingestimmten Verbundenheit und der Fähigkeit, im gegenwärtigen Augenblick mit dem Erleben des Klienten zu räsonieren« (Porges, 2018, S. 193). In der Regel kommen Klientinnen dann zur Psychotherapie, wenn sie selbst nicht mehr weiter wissen, in Not sind. Viele Klientinnen schämen sich beim Berichten ihrer Probleme, gestehen eigene Niederlagen ein oder sind in Ver-

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zweiflung am Verhalten anderer Personen, an der Entwicklung ihres Körpers (auch an Krankheiten) oder an den Umständen ihres Lebens. Wie alle Menschen prüfen sie aus dieser Haltung heraus intuitiv, ob die Situation für sie sicher und damit auch heilsam sein kann. Porges (2010) nennt diesen Prozess »Neurozeption« und differenziert drei hierarchisch organisierte Emotionsregulationsebenen (siehe Kapitel 1.6). Viele Klienten, denen ich begegnet bin, fangen erst zögernd an zu berichten und beobachten, wie der Therapeut auf sie einwirkt. Erleben sie zunehmend mehr Sicherheit, können sie sich entspannen und differenziert berichten. Ist dies nicht der Fall, geraten sie auch in der Psychotherapie unter emotionalen Stress, Reflektieren und Denken, auch Zuhören, werden schwieriger. Im schlimmsten Fall wird die Hilflosigkeit so groß, dass sie keinen Ausweg mehr sehen. Wie Porges schon mit »therapeutischer Präsenz« beschrieben hat, ist der wesentliche Faktor, der die Sicherheit des Klienten gewährleistet, die Präsenz der Therapeutin selbst. Lemme und Körner (2018) gehen von sechs Präsenzdimensionen aus (siehe Abbildung 3 in Kapitel 2.2). Physische Präsenzdimension Meint die Quantität und Qualität der Anwesenheit des Psychotherapeuten, seinen eigenen Körperausdruck (Mimik, Gestik, Interaktion …) und die Qualität des Da-Seins. Aus Kapitel 1.6 wissen wir, dass über diese Faktoren sowie über die Stimme, die Atmung, den Blick, die Kopfneigung und auch die Raumatmosphäre vermittelt wird, ob eine Situation sicher ist oder nicht. Auch der Grad der Entspanntheit des Psychotherapeuten spielt eine große Rolle. Dieser Grad sollte im Idealfall für Aufmerksamkeit und Gelassenheit gleichermaßen sorgen. Letztlich bedeutet dies auch eine hohe Achtsamkeit sowie Sorgsamkeit der Psychotherapeutin für sich selbst. Gesundheitliche Einschränkungen wirken sich natürlich auch auf die physische Präsenz aus. Pragmatische Präsenzdimension Beschreibt die Handlungskompetenz des Therapeuten. Er ist in diesem Sinne präsent, wenn er Ideen des Vorgehens hat, eine Stringenz und Logik in seinem Handeln erkennen lässt und sich sicher im Umgang mit dem Thema des Klienten zeigt. Wechselnde Methoden und wenig Struktur im Vorgehen führen eher zur Unsicherheit. Die Hilflosigkeit des Therapeuten wird sich im Sinne der Spiegelphänomene (Bauer, 2006; siehe auch Kapitel 1.6) auch bei der Klientin widerspiegeln.

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Internale Präsenzdimension Meint, dass das Handeln des Therapeuten nicht von inneren emotionalen Zuständen oder äußeren Umständen kontrolliert, sondern von den eigenen Überzeugungen und dem reflektierten Überlegen bestimmt wird. Das Wissen um das Handeln aus der eigenen Überzeugung und damit weitgehend unabhängig vom Handeln oder den Reaktionen anderer ist ein starker Wirkfaktor. Durch die Vermittlung von emotionaler Sicherheit und Regulation zeigt die Therapeutin dem Klienten, dass es ausschließlich um dessen Belange geht. Außerdem bietet sie damit ein Modell für den Klienten an, an dem dieser neue Erfahrungen machen kann. Dabei geht es nicht um eine abstinente Haltung, sondern um Empathie bei Beibehaltung der eigenen Selbstführung. Emotional-moralische Präsenzdimension Kann als Kongruenz von Handeln und eigener Haltung des Therapeuten beschrieben werden. Es geht dabei um die innere Überzeugung, dass das eigene Handeln angemessen und aus der inneren Perspektive »richtig« ist. Dies führt zur Wahrnehmung eines gestärkten Selbstwerterlebens. Zudem werden aus der Perspektive der Klientin in der Regel Klarheit und Eindeutigkeit wahrgenommen. Diese Überzeugung führt häufig zu Handlungsenergie, deutlichem Antrieb und klarem Handeln. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass die Überzeugung des Therapeuten oder der Ärztin die Wirksamkeit von Medikamenten und Verordnungen deutlich erhöht. Gleichzeitig wird die Therapeutin für den Klienten wieder zu einem Modell, welches im Sinne der Spiegelphänomene Hoffnung, Zuversicht und Selbstüberzeugung beim Klienten erzeugen kann. Die eigene Überzeugung führt zu größerer Beharrlichkeit und mehr Durchhaltevermögen, was die langfristigen Erfolgsaussichten erhöht. Intentionale Präsenzdimension Kann als moralische Stimme der emotional-moralischen Präsenz beschrieben werden. Sie beinhaltet die Absicht, aus der heraus der Therapeut handelt. Die intentionale Präsenz ist stärker, wenn deutlich ist, ob das Ziel bzw. das Vorgehen des Therapeuten an den Zielen der Klientin orientiert ist oder stärker eigene Absichten fokussiert. Ist seine Absicht stärker daran orientiert, der Klientin zu vermitteln, was er denkt, was sie tun müsse oder was als nächster Schritt notwendig sei, schwächt ihn das in seiner Vorgehensweise und seiner Gesamt-

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präsenz. Neben der Verbalisierung der eigenen Absichten drückt sich die intentionale Präsenz in der Mimik und Gestik sowie im Verhalten aus. Die zentrale Frage, die Therapeuten sich aus unserer Sicht in diesem Zusammenhang stellen sollten, ist: Wem oder was dient das, was wir gerade tun? Systemisch-interpersonale Präsenzdimension Nicht nur, aber doch gerade in kritischen Situationen ist es hilfreich, um die Unterstützung anderer zu wissen. Allein dieses Wissen ermöglicht uns ein klareres und eindeutigeres Auftreten und eine größere Selbstachtsamkeit. Therapeutinnen gelten gerade in Zusammenhang mit großem Leid ihrer Klienten nicht selten als sekundär traumatisiert. Supervision und Intervision sind diesbezüglich hilfreiche und in der Regel verfügbare Optionen. Ich habe meinen Klientinnen schon häufiger von meinen Kolleginnen berichtet. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass Klienten sehr aufmerksam sind und in der Regel viel annehmen, wenn ich ihnen berichten kann, was die Kollegen zu der konkreten Situation im Leben der Klientin gesagt haben. Wieder ist der Therapeut ein Modell für analoge Überlegungen des Klienten und lädt so intuitiv zu eigenen Rücksprachen ein. In der Psychotherapie haben wir auf diese Art und Weise einen doppelten Präsenzprozess. Wie vorstehend beschrieben wirkt die Psychotherapeutin über ihre Präsenz und kann durch sie für den Klienten möglicherweise hilfreich sein. Dabei hat sie die Aufgabe, mit entsprechender Achtsamkeit für die Haltungen und Handlungen zu sorgen, die sie benötigt, um diese Präsenz zu stabilisieren. Der zweite Prozess bezieht sich auf das Erleben des Klienten. Für ihn gilt ebenso, dass sein Erleben und Wahrnehmen seiner sozialen Umwelt seine Präsenz beeinflussen und diese wiederum seine Umwelt. Präsenz und soziale Umwelt beeinflussen sich somit wechselwirkungsbedingt und zirkulär. Wir können entsprechend auch für den Klienten ein Präsenzmodell beschreiben und dann überlegen, mit welchen Haltungs- und Handlungsaspekten dieser wiederum seine Präsenz stärken kann, die ihn zu einer größeren Sicherheit im sozialen Kontakt führt.

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Präsenz von Klientinnen Physische Präsenzdimension (Körper und Anwesenheit) Diese macht sich im Alltagsleben von Klienten an ihrer Gesundheit, am körperlichen Erleben, am Wohlsein fest. Handicaps und Schmerzen schränken diese sehr ein. Wir wissen auch, dass regelmäßige sportliche Aktivität das eigene Wohlsein erhöht, eine entsprechende Ernährung eine wichtige Grundlage von Gesundheit ist. Menschen mit depressiven Erkrankungen erleben beispielsweise schon morgens einen Unterschied, wie sich der Körper anfühlt. Nehmen sie eine Schwere wahr, dann ist in der Regel auch der Tag schon vorbestimmt. Im Kapitel zur Neurobiologie (1.6) wird beschrieben, in welcher Art und Weise die körperlichen Funktionen unsere Gefühlslage beeinflussen. Besonders intensiv wird der Verlust der körperlichen Präsenzdimension deutlich, wenn es um Probleme mit dem Körperschema geht, wie wir dies aus dem Bereich der sogenannten Essstörungen wissen. Die Ablehnung des eigenen Körpers oder einzelner Bereiche von diesem führt massiv zu einem Verlust physischer Präsenz. Wer hingegen mit sich voll und ganz einverstanden ist, eine hohe Selbstakzeptanz hat, wird dies auch durch seine Körperhaltung zeigen. Neben der Qualität spielt auch die Quantität eine Rolle. Ein Mensch, der sich überall hinbegeben kann, egal wie groß die Menschenmenge ist, die er vorfindet, wird sich in seiner Präsenz deutlich sicherer und getragener erleben als jemand, der sich stark absichern muss. Pragmatische Präsenzdimension (Handlungsfähigkeit) Die pragmatische Präsenzdimension lässt sich ähnlich wie für den Psychotherapeuten erläutern. Erlebt sich ein Mensch im Umgang mit seinen Themen handlungskompetent, weiß er, was er tun kann, um sich zu organisieren, dann ist die Handlungsfähigkeit gegeben. Depressiv handelnde Menschen wissen aufgrund ihrer Situation häufig nicht, wie sie sich organisieren sollen, benötigen entsprechend Anleitung ihrer Tagesstrukturierung. Menschen mit Erleben von Angst und Panik geraten nicht selten in große Hilflosigkeit. Eine konkrete Anleitung im Umgang mit dem körperlichen Erleben, intensives Üben erhöht die Handlungskompetenz im Umgang mit den befürchteten Situationen.

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Internale Präsenzdimension (Selbstkontrolle) Im Zusammenhang mit der internalen Präsenzdimension stellt sich, wie oben schon dargestellt, die Frage: Wer oder was steuert mich in meinem Handeln? Für viele Klientinnen bedeutet dies, einen Umgang mit der inneren Selbstführung zu bekommen. Die Vermeidung von befürchteten Situationen steuert häufig intensiv das eigene Verhalten und Leben. Viele Menschen halten Situationen aus, von denen sie wissen, dass dies ungünstig ist. Aus Angst vor möglicherweise negativ erlebten Konsequenzen ihres Handelns behalten sie dieses Verhalten bei. Wenn der innere Antrieb reduziert ist, dann steuert dieser das Verhalten, obwohl die betroffene Person durchaus weiß, dass Veränderung notwendig wäre. Emotional-moralische Präsenzdimension (Überzeugung, Authentizität) Die eigene Überzeugung im Handeln stellt für viele Klientinnen einen Grad des eigenen Wohlfühlens dar. Wir haben die emotional-moralische Präsenzdimension oben schon im Sinne der Kongruenz des Handelns mit den inneren Überzeugungen beschrieben. Die dem eigenen Denken und Handeln zugrunde liegenden Überzeugungen und Motivationen sind klassische Kernthemen von Psychotherapie. Insbesondere in der systemischen Therapie geht es um Perspektivwechsel, die es möglicher machen, zufrieden zu leben. Insofern lässt sich die Übertragung dieser Präsenzdimension sicher leicht gestalten. Wenn jemand überzeugt ist von dem, was er tut, dann wird er sich auch als stärker im eigenen Handeln erleben. Intentionale Präsenzdimension (Absicht) Auch die eigene Absicht, die Klärung der intentionalen Präsenzdimension, ist in vielen Psychotherapien ein zentrales Thema. Wenn ein Mensch etwas tun muss, beispielsweise in der beruflichen Tätigkeit, was ihm sinnlos oder zumindest wenig funktional-konstruktiv erscheint, dann wird sich dies auch auf seine Wahrnehmung seiner gesamten Präsenz auswirken. Eine Person, die hingegen eine klare Idee bzw. ein klares Ziel des eigenen Vorgehens hat, wird sich in ihrer Präsenz entsprechend deutlich stärker wahrnehmen und mehr Einfluss auf ihre soziale Umwelt nehmen. An dieser Stelle wird deutlich, welch große Bedeutung eine eindeutige Auftragsklärung im Vorgehen hat, sodass die Klientin ein sinnvoll anzustrebendes Ziel für sich selbst im Vorgehen sieht.

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Systemisch-interpersonale Präsenzdimension (Eingebundenheit, Unterstützung) Die Eingebundenheit in und Zugehörigkeit zu einem System ist ein fester salutogenetischer Faktor, der in der Psychotherapie in allen Richtungen beachtet wird. Die systemisch-interpersonale Präsenzdimension beschreibt das Erleben des Klienten in diesem Bereich. Unzufriedenheit in der Partnerschaft führt nicht selten erst zur Wahrnehmung von Krisen, Einsamkeit erhöht die Wahrscheinlichkeit vieler Erkrankungen. Interessanterweise kann es auch mal ein Zuviel an systemisch-interpersonaler Präsenz geben, wenn Klientinnen so viele Kontakte haben, dass ihnen die Zeit für sich selbst fehlt. In allen Richtungen der Psychotherapie werden viele dieser vorstehenden Themenbereiche, hier Präsenzdimensionen genannt, bearbeitet, fokussiert, in Veränderung gebracht. Ausgehend von den Erfahrungen, die im Coaching von Eltern gemacht worden sind, habe ich einige der methodischen Ideen und Überlegungen aus dem Konzept der Neuen Autorität auf das Vorgehen in der Psychotherapie übertragen. Lemme und Körner (2016a, 2016b, 2018) haben die Vorgehensweisen und Haltungshintergründe im Konzept der Neuen Autorität Haltungs- und Handlungsaspekte genannt und sie, an anderer Stelle umfassender nachzulesen, beschrieben (Lemme u. Körner, 2018). Ich möchte hier die Überlegungen vorstellen und Vorgehensweisen fokussieren, die ich im Rahmen der Psychotherapie mit Erwachsenen eingesetzt habe.

Die Haltungs- und Handlungsaspekte der Neuen Autorität in der Psychotherapie Meine grundsätzliche Haltung im Vorgehen ist geprägt von einer klaren Lösungsorientierung, einer systemischen Grundhaltung und hypnosystemischen Vorgehensweisen. Dabei achte ich auf eine konkrete Auftragsklärung, halte mich mit Interpretationen und Bewertungen zurück und nehme häufig eine Haltung des Nichtwissens ein. Weiter ist mir die Würdigung der bisherigen Leistungen besonders wichtig. Zudem habe ich weiter oben beschrieben, in welcher Haltung ein Psychotherapeut meines Erachtens Sicherheit für die Klientinnen entwickelt und in seiner Präsenz besonders wirksam wird. Ich nutze auch regelmäßig PEP nach Michael Bohne (2016). Auch dies habe ich an anderer Stelle ausgeführt (Lemme u. Körner, 2018; Lemme, 2019, im Druck).

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Die tragische Sicht Ich halte eine »tragische Sicht« (vgl. Omer, Alon u. von Schlippe, 2014) als eine wichtige Grundhaltung in der Psychotherapie für notwendig. Dabei hält die Psychotherapeutin sich mit Lösungs- und Heilsversprechungen zurück. »In der tragischen Sicht wird eher die Begrenztheit aller Versuche gesehen, die Welt zu verbessern, sie sieht eher die grundsätzliche Unverfügbarkeit eines Menschen für einen anderen – es wird nie eine endgültige Lösung geben« (Omer, Alon, von Schlippe, 2014, S. 66). Das bedeutet, davon auszugehen, dass es auch notwendig und nicht abwendbar ist, mindestens vorübergehend ein gewisses Leiden aushalten zu müssen. In dem Wissen, nicht alles grundsätzlich und sofort verändern zu können, lassen sich eher einzelne, besonders wichtige Perspektiven fokussieren. Zudem drückt sich in der tragischen Haltung aus, dass eine Kontrolle über das Verhalten anderer Menschen nicht möglich ist. In einer Kultur, die gern Abläufe kontrolliert und vorhersagbar macht, stellt dies für viele sicher auch eine Enttäuschung dar. Gleichwohl entlastet dieses Wissen auch, denn wenn der Einzelne keine Kontrolle über das Verhalten eines anderen hat, dann ist er auch nicht für dessen Verhalten und die daraus entstehenden Konsequenzen verantwortlich. Das wiederum fokussiert auf das eigene Handeln und die eigene Einstellung. Dies bedeutet entsprechend die Akzeptanz der Umstände, die nicht (sofort) veränderbar sind, sowie die Fokussierung auf die Möglichkeiten des eigenen Handelns. Ich verdeutliche dies, indem ich bestimmte Grundannahmen im Gespräch ausdrucksvoll und beharrlich wiederhole: •• Die Erlebnisse, die in der Vergangenheit liegen, lassen sich nicht mehr verändern. Wir können schauen, was uns hilft, die jetzigen und zukünftigen Bedingungen zu verändern. •• Wir können niemanden gegen seinen Willen verändern. Das erscheint notwendig zu akzeptieren und braucht vielleicht einen langen Atem, um wieder die Bereitschaft zur Kooperation herzustellen. •• Alles, was sich schnell und mit einem Streich verändern lässt, kann genauso auch wieder in die andere Richtung kippen. •• Die größte Kraft der Veränderung ist die Beharrlichkeit. Die Unterstellung der guten Absicht bei sich selbst und anderen Eine weitere zentrale Haltung im Umgang mit Klientinnen ist die Unterstellung einer Absicht, die nicht auf der Annahme von möglicherweise guten oder schlechten Eigenschaften aufbaut, sondern dem Wunsch nach Wachstum und Entwicklung entspringt. Dabei fokussiere ich sowohl die Unterstellung der eige-

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nen Absicht als auch die des anderen. Dies ist ein Bestandteil der »tragischen Sicht« ebenso wie die Perspektive, die der Humanismus (nach Carl Rogers, Marshall Rosenberg, Abraham Maslow) einnimmt. Demnach wird nicht die destruktive Seite eines Verhaltens bagatellisiert, sondern die Möglichkeit der Einflussnahme über eine mindestens hypothetisch unterstellte positive Eigenschaft gestärkt. Der in diesem Sinne negativ handelnde Mensch wird durch die Unterstellung einer an Bedürfnissen orientierten Absicht selbstwertstärker gemacht und kann so (hoffentlich) alternative Handlungen entwickeln. Um dies zu ermöglichen, nutze ich u. a. die Überlegungen von Weinblatt (2016) zum »Systemic Mirroring«. Dies steht in Zusammenhang mit stark lösungsfokussierten Fragestellungen und einer entsprechenden Ausrichtung. Ein Klient war sehr ärgerlich über sich, weil er erneut eine Situation vermieden hatte, die er sich zur Bewältigung vorgenommen hatte. Während der Schilderung schlug ich ihm folgende Übersetzung vor: »Sie haben sich also geschützt, um sich in der Situation nicht zu überfordern und sich noch ein wenig besser vorbereiten zu können.« Entscheidungen überprüfen und öffentlich machen Kommt es im Verlauf der Sitzungen zu Entscheidungen hinsichtlich einzuleitender Veränderungen, so motiviere ich die Klientinnen, diese laut, manchmal sogar im Stehen, im Sinne einer Affirmation auszusprechen. Das Erleben und ggf. Korrigieren der eigenen Präsenz beim Sprechen erhöht die Intensität des Vorgehens. Zudem schreiben die Klientinnen sich ihre Entscheidungen auch auf. Wir überlegen, wem sie dies mitteilen können, damit sie sich deutlicher selbstverpflichten. Eine Klientin schrieb daraufhin direkt aus der Psychotherapie einer Freundin eine entsprechende Nachricht, versehen mit der Bitte, sie bei der Umsetzung ihrer Entscheidung zu unterstützen. Selbstführung wiederfinden Auch die aus dem Vorgehen im Elterncoaching bekannten Strategien der Selbstkontrolle und Deeskalation (s. Lemme u. Körner, 2018) finden hier Anwendung. In dem Moment, wo etwas ausgesprochen worden, ein Gefühl öffentlich ist, das eine Klientin spürt, ist es wieder gestaltbar. Auch die Mitteilung eigener Betroffenheit an andere sorgt in der Regel für eine erste Entlastung von innerem und äußerem Aufruhr. Wie wir aus den neurobiologischen Überlegungen

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(Kapitel 1.6) und den vorstehenden Aspekten in diesem Kapitel wissen, sorgt die neurozeptive Wahrnehmung im günstigsten Fall für eine Aktivierung unseres SES (Social Engagement Systems)und somit für eine günstigere Reflexion der eigenen Möglichkeiten. Viele Beispiele aus der Psychotherapie von ängstlichem und zwanghaftem Verhalten und dem Erleben von Panikattacken sind ebenfalls bekannt. Ich schlage Klientinnen gern das Vertagen als eine Möglichkeit vor. Dies hat sich auch im Umgang mit sich selbst als hilfreich herausgestellt. Eine Klientin berichtete, dass sie gelernt habe, sich nicht mehr umgehend über ihre Misserfolge zu ärgern und sich sofort abzuwerten, sondern die Reflexion über ihr Verhalten auf eine spätere Zeit zu vertagen, wo sie dann ruhiger auf sich schauen könne. Unterstützer anfragen Ein wesentliches Element im Konzept der Neuen Autorität ist die Einbindung von Unterstützerinnen für verschiedenste Aufgaben und die damit verbundene Veröffentlichung. Die Funktionen dieser Personen sind dabei ebenso unterschiedlich, wie dies aus dem Elterncoaching bekannt ist: Begleiten, Entlasten, Vermitteln, Bezeugen, Motivieren, Erinnern u. Ä. m. Die Unterstützer übernehmen damit Aufgaben, die die Klientin im Sinne ihrer Zielerreichung benötigt. Der ggf. notwendige Aufbau eines sozialen Netzwerkes gehört zu einer differenzierten Psychotherapie grundlegend dazu. Gesten der Beziehung zu sich selbst und anderen Viele Klientinnen glauben, dass sie erst wieder gut mit sich selbst umgehen dürften, wenn sie dies »verdient« hätten. Eine zentrale Vorgehensweise in meinen Psychotherapien ist folgende Intervention: »Stellen Sie sich jeden Morgen vor, dass dieser Tag ein Tag wäre, wo Sie es am Abend verdient hätten, sich selbst eine Geste der Beziehung zu schenken, weil Sie stolz auf sich sind. Welche Geste könnten Sie sich schon im Laufe des Tages schenken, weil Sie Ihr Bestes geben werden und dies jetzt schon wissen?« Ansonsten verwenden wir Gesten des Verzeihens und der Versöhnung sowie Gesten der Wiedergutmachung in dem Sinne, wie dies auch aus dem Elterncoaching bekannt ist. Dabei achten wir in der Psychotherapie vielfach auf die Beziehung des Klienten zu sich selbst, die zu einer größeren Selbstakzeptanz führt. Hier finden sich auch bei PEP sehr bewährte Tools (Bohne, 2016).

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Ankündigungen Wenn innerhalb der Auftragsklärung mit Klientinnen deutlich geworden ist, welches positive und erreichbare Ziel anvisiert werden soll, wenn möglicherweise auch schon die Schritte dazu sichtbar geworden sind, mindestens aber die innere Entscheidung getroffen wurde, dann schreibe ich mit Klientinnen Ankündigungen. Diese sind formuliert als Ankündigungen für sich selbst. Selbstverständlich sind Ankündigungen auch möglich als Mitteilung für andere über die eigenen nächsten Schritte. Wie aus der Verwendung im Elterncoaching bekannt (vgl. Kapitel 3.1 »Das Announcement«; dazu auch Lemme u. Körner, 2018), formulieren die Klientinnen ihr Ziel, die Schritte, die sie zur Zielerreichung unternehmen wollen, und aus welcher Absicht heraus sie dies tun wollen. So lautete eine Ankündigung einer 22-jährigen Klientin mit bulimischen Verhaltensweisen: »Ich habe beschlossen, dass ich mich nicht mehr von meiner Erkrankung bestimmen lassen will. Mein Ziel ist sogar, von ihr unabhängig zu werden und mich selbst nicht mehr zu verurteilen, wenn ich unzufrieden mit mir bin und kotze. Daher werde ich täglich darauf achten, dass ich für mich etwas Positives mache, den Body- und Gefühls-Scan [eine Achtsamkeitsübung, Anm. d. Verf.] mehrfach durchführe und die Ergebnisse in mein Gefühlstagebuch schreibe. Sobald ich merke, dass ich mich aufgrund meines Verhaltens über mich ärgere, werde ich die Verzeih-Übung [Tool aus PEP, Anm. d. Verf.] durchführen. Ich mache das, damit ich wieder zufriedener sein kann und mich mehr lieben lerne!« Die Ankündigung wird schriftlich verfasst und im Stehen laut wiederholt vorgelesen. Dies ist eine Aufgabe für die Zeit zwischen den Therapiesitzungen. Ich motiviere Klientinnen auch, die Ankündigung vor Zeuginnen zu verlesen. Die Variation der Möglichkeiten ist groß. So schrieb eine Klientin ihrer schwer traumatisierten Zwillingsschwester, die sich durch multiple Persönlichkeiten ausdrückte, eine Ankündigung, die ein konstruktiv erlebter Persönlichkeitsanteil sich selbst im Umgang mit einem anderen, stark destruktiv wahrgenommenen Anteil gemacht hatte. Die Reaktion war verblüffend und führte zu einer deutlichen Entspannung des inneren Konflikts. Sit-Ins und Schweigende Gespräche Wie schon in Kapitel 1.1 kurz beschrieben wurde und in Kapitel 3.2 ausführlicher dargelegt werden wird, haben sich der Charakter und die Vielfältigkeit von SitIns im Laufe der Entwicklung deutlich erweitert. In diesem Sinne begleite ich auch Klientinnen in der Umsetzung von Schweigen bei Konflikten mit ande-

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ren erwachsenen Personen. Der Ablauf ist dabei ähnlich wie bereits bekannt. Dabei wird vorrangig auf den demonstrativen Wunsch verwiesen, wieder in einen besseren Kontakt oder zu guten Konfliktlösungen zu kommen. Die Einleitungsgedanken einer Klientin, die einen starken Konflikt mit ihrem Partner hatte, lauteten so: »Ich leide sehr unter unserem Streit, den wir haben, und ich will, dass wir wieder besser miteinander umgehen und sprechen. Das kann ich aber nicht allein, da brauche ich deine Unterstützung. Um dir sichtbar zu machen, wie wichtig mir das ist, sitze ich hier und schweige. Ich freue mich über Vorschläge von dir.« Das Schweigen kann in der Länge variieren und bei guten Vorschlägen beendet werden. Bei wiederkehrenden Vorwürfen und destruktiv erlebten Verhaltensmustern motiviere ich die Klienten, mit folgenden Überlegungen zu antworten: »Das hat uns bisher auch nicht geholfen«, oder: »Mir reicht das nicht.« Das Schweigen wird dann fortgesetzt. Der Abschluss des Schweigens erfolgt mit dem Hinweis: »Mir ist das so wichtig, dass ich mich weiter für Lösungen einsetzen werde!« Die Differenzierung von Schweigendem Gespräch und Sit-In hängt mit der Länge des Schweigens zusammen. Lemme und Körner (u. a. 2013, 2018) empfehlen, das Schweigende Gespräch in einer Länge von bis zu drei Minuten und das Sit-In mindestens zehn Minuten oder länger durchzuführen. In ihrer Erfahrung hat sich gezeigt, dass zwischen der dritten und der zehnten Minute die unruhigste Zeit im Rahmen des Elterncoachings wahrgenommen wird. In der psychotherapeutischen Arbeit sind diese Abgrenzungen sicherlich weniger notwendig. Allerdings sollte auch im Erwachsenenbereich darauf geachtet werden, dass bei notwendigem Schutz ein Sit-In durch Unterstützerinnen begleitet wird.

Der Schlussstein kommt noch lange nicht In diesem Beitrag habe ich mich mit der Autorität und Präsenz der Psychotherapeutin sowie mit der Präsenz und den Möglichkeiten von deren Stärkung bei Klienten befasst. Seitdem ich 2002 das Konzept der Neuen Autorität kennengelernt habe, hat es sukzessive meine therapeutische, supervisorische und lehrende Tätigkeit beeinflusst. Dies sind die bisherigen Entwicklungen und Erfahrungen. Ich sehe sie eher wie einen Meilenstein, der an einem Weg steht, dessen Zielort lange noch nicht sichtbar ist. Insofern freue ich mich über weitere Entwicklungen und werde wohl auch eigene weitere Erfahrungen dazu machen. Ein Schlussstein ist dieser Beitrag also wohl noch lange nicht.

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2.8 Präsenz und Resonanz in Supervision Martin Lemme und Bruno Körner

Supervision ist als Reflexionsinstrument und -setting aus der psychosozialen, psychiatrischen und psychotherapeutischen wie beraterischen Arbeit schon lange nicht mehr wegzudenken, häufig als Qualitätsstandard festgeschrieben. Dabei sind die verschiedenen Formen höchst unterschiedlich und gehen von fallkonzentrierter Supervision (teilweise mit fachlicher Unterstützung durch Kinder- und Jugendpsychiaterinnen/-psychiater oder anderen spezifischen Fachkompetenzen) bis hin zu allgemeiner systemischer Supervision des gesamten Tätigkeitsfeldes. Auch in anderen Tätigkeitskontexten gehört sie zum Standardrepertoire. Das Konzept der Neuen Autorität stellt Präsenz (von Eltern, Erziehungsverantwortlichen, Coaches, Psychotherapeutinnen, Führungskräften) in den Mittelpunkt, was somit auch für die Supervision gilt. Präsenz wird dabei von Lemme und Körner (2018) als Erlebensebene von Handlungen, Ereignissen und Situationen beschrieben, könnte demnach mit anderen Worten im weitesten Sinne als die Erfahrung von (Selbst-)Wirksamkeit und Handlungsfähigkeit bezeichnet werden. In ihrer Logik im Konzept der Neuen Autorität (siehe u. a. auch Kapitel 2.7) stellen die Autoren die zirkulären und wechselwirkungsbedingten Zusammenhänge der Präsenz dar und orientieren daran das methodische Vorgehen mit einer entsprechenden gewaltfreien Haltung. Diese grundsätzliche Überlegung gilt demnach auch für Supervision. Lediglich der Kontext und die Verantwortungszusammenhänge verändern sich je nach Tätigkeitsfeld der Supervisionskunden. Die methodischen Vorgehensweisen, die für die Supervision hier vorgestellt werden, finden größtenteils auch Anwendung in der Beratung und dem Coaching von Familien und anderen Erziehungssystemen (Lemme u. Körner, 2018). Im folgenden Beitrag werden wir uns auf verschiedene Überlegungen zur Supervision fokussiert auf das Konzept der Neuen Autorität beziehen und methodische Ideen vorstellen. Dabei stellen wir das Präsenzmodell als eine Möglichkeit vor, sowohl die eigene Präsenz und die eigenen Haltungen wie Handlungen zu reflektieren als auch das Präsenzerleben und damit das Hand-

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lungsniveau des Supervisionsteams bzw. der Supervisandinnen zu erfassen. Dabei verdeutlichen wir auch, dass das Erfassen der Erlebensdimensionen von Präsenz für uns ein hochkomplexes, auch körperorientiertes Verfahren ist. Damit ist Präsenz unser Grundlagenmodell als Ausgangsposition für Supervision und andere Kontexte, also weit über die früheren Überlegungen zur elterlichen Präsenz hinaus. Anhand der Polyvagal-Theorie (Porges, 2010, 2018), der Wachsamen Sorge (Omer, 2015) und des Step-Modells der Niveaus der Handlungsfähigkeit (van Kaldenkerken, 2014) beschreiben wir die Nutzung des Präsenzmodells für Supervision wie auch der damit einhergehenden Selbstreflexion im Prozess. Möglich werden nach unserem Dafürhalten so Resonanzräume (Rosa, 2018a, 2018b) der Entwicklung in Supervision. Die vorgestellten Methoden werden in Verbindung mit den Handlungsniveaus gebracht und vorgestellt. Angeregt wurden wir dabei sehr von einem Artikel von Carla van Kaldenkerken (2018) und den Überlegungen in einem gemeinsamen Seminar mit Harald Kurp im Dezember 2018.

Wie? Präsenzerleben als Grundkonzept der Supervision im Konzept der Neuen Autorität Supervision wird häufig als Reflexion über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen oder auch Familien bzw. Abläufen und Prozessen verstanden. Wir verstehen Supervision als Erlebensprozess von Zusammenhängen in einem spezifischen Kontext. Erleben und Erfahren ist im Sinne systemischer Logik »flüchtig« (siehe auch Kapitel 1.3), sodass wir beschreiben können, was wir subjektiv wahrgenommen und persönlich erlebt haben, nicht aber für alle objektivierbaren Tatsachen beschreiben können. Dies macht deutlich, dass wir vor allem über das eigene Erleben einen nachträglichen Zugang zu einer Erfahrung haben, was wiederum auch die Grundlage möglicher Änderungsoptionen beschreibt. Im Kern lässt sich also die Logik des Vorgehens so beschreiben, dass der größtmögliche Einfluss zur Änderung eines Umstandes bzw. einer (sozialen) Situation durch den eigenen Perspektivwechsel sowie den Wechsel eigener Haltungs- wie Handlungsoptionen möglich ist. Dies hat zur Folge, dass es im Kern um die Verantwortungsübernahme der eigenen Erfahrungseindrücke geht, was primäre und schnelle Interventionen zur Änderung des Verhaltens anderer außerhalb von Schutzmaßnahmen ausschließt. Supervision möchte in der Regel durch die Reflexion eines Geschehens und Handelns eine veränderte Praxis erreichen. Das Vorgehen von Menschen

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hat viel mit eigenen Gewohnheiten, Perspektiven und/oder Wahrnehmungsphänomenen (Filtern, »Ohren« und »Augen«) zu tun. Somit reicht in der Regel kein einfaches Sprechen über Veränderungen, sondern es benötigt in der Reflexion auch die anderen Optionen unserer Wahrnehmung: des Körpers, der eigenen Emotionen, der inneren Überzeugungen und Wertevorstellungen, der eigenen Absicht im Handeln, der pragmatischen eigenen Möglichkeiten sowie der möglichen Unterstützungsoptionen und Kontextbedingungen. Mit anderen Worten und unseren Begriffen ausgedrückt: Wir benötigen in der Absicht der Änderung eines Verhaltens die Reflexion unseres Präsenzerlebens. Da wir unser Präsenzmodell als bereits bekannt voraussetzen bzw. dieses an anderer Stelle (Lemme u. Körner, 2018; Kapitel 1.1, 2.4, 2.7) bereits beschrieben worden ist, seien hier nur noch einmal kurz die Präsenzdimensionen genannt: Physische Präsenzdimension meint die Quantität und Qualität in der Anwesenheit der handelnden Person, also Körperausdruck (Mimik, Gestik, Interaktion …) und die Qualität des Da-Seins. Die Zugewandtheit und die Raumatmosphäre spielen gleichermaßen eine Rolle, um Sicherheit und Entspannung für die Supervision oder die jeweilige Tätigkeit zu ermöglichen. Pragmatische Präsenzdimension beschreibt die Handlungskompetenz des Handelnden. Er ist in diesem Sinne präsent, wenn er Ideen des Vorgehens hat, eine Stringenz und Logik in seinem Handeln erkennen lässt und sich sicher im Umgang mit dem Thema des Klienten zeigt. Wechselnde Methoden, wenig Struktur im Vorgehen sowie eigene Hilflosigkeit führen eher zu Unsicherheit. Internale Präsenzdimension meint, dass das Handeln nicht von inneren emotionalen Zuständen oder äußeren Umständen kontrolliert, sondern von den eigenen Überzeugungen und dem reflektierten Überlegen bestimmt wird. Der Verlust von Selbstkontrolle kann durch eigene heftige emotionale Reaktionen, eskalierende Konflikte oder Reaktionen auf Atmosphären entstehen. Emotional-moralische Präsenzdimension kann als Kongruenz von Handeln und eigener Haltung des Therapeuten beschrieben werden. Es geht dabei um die innere Überzeugung, dass das eigene Handeln angemessen und aus der inneren Perspektive »richtig« ist. Dies führt zur Wahrnehmung eines gestärkten Selbstwerterlebens. Zudem werden aus der Perspektive der Klientin in der Regel Klarheit und Eindeutigkeit wahrgenommen. Intentionale Präsenzdimension beinhaltet die Absicht, aus der heraus jemand handelt, für wen oder was das eigene Handeln sinnvoll ist. Sie ist stärker, wenn deutlich ist, ob das Ziel bzw. das Vorgehen an den Zielen der Klientin orientiert sind und insgesamt eine positive energetische Perspektive eröffnen. Neben der Verbalisierung der eigenen Absichten drückt sie sich in der Mimik und Gestik sowie im Verhalten aus.

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Systemisch-interpersonale Präsenzdimension beschreibt die soziale Eingebundenheit der handelnden Person. Wer um seine eigene Unterstützung weiß, in einen sozialen und zugleich wertschätzenden und fehlerfreundlichen Kontext von Kooperation eingebunden ist, der handelt überzeugter und stärker. Die Qualität der erlebten Kooperation eines Teams hat maßgeblichen Anteil an der Handlungsfähigkeit des Einzelnen wie des gesamten Teams. Die Reflexion der Präsenz kann über die Fragen und Skalierung der einzelnen Präsenzdimensionen (Lemme u. Körner, 2018; Lemme u. Körner, 2018: WabenSet) und das Präsenzkarussell erfolgen. Dies wird weiter unten noch beschrieben. Aus der Reflexion der eigenen Präsenz lassen sich entsprechende Ideen entwickeln, in welcher Form jene wieder gestärkt bzw. stabilisiert werden kann. Diese Ideen haben wir als Haltungs- und Handlungsaspekte beschrieben: Haltung/Entscheidung/Werte; Selbstführung/Deeskalation; Transparenz/Öffentlichkeit; Unterstützung/Netzwerke; Gesten der Beziehung und der Verzeihung/Versöhnung/Wiedergutmachung; Protest/Gegenüber/Widerstand (Lemme u. Körner, 2018, Lemme u. Körner, 2018: Waben-Set; s. v. a. auch Kapitel 1.1, 2.2 sowie Abbildung 4). Dabei kann natürlich auch schon präventiv überlegt werden, welche Präsenzdimensionen des Einzelnen bzw. des Teams stabilisiert werden sollen. Wir kommen darauf in Zusammenhang mit der Wachsamen Sorge zurück. Mit der Präsenz werden sämtliche Ebenen des persönlichen Erlebens erfasst (eben auch die körperliche und die emotionalen). Daher sollten die Präsenzdimensionen auch allesamt überprüft werden. Für die jeweiligen Wahrnehmungs- und Erfahrungsebenen gilt es dann, entsprechende Optionen des Handelns zu finden.

Wann was? Die Differenzierung von Niveaus der Supervision anhand der Polyvagal-Theorie, der Wachsamen Sorge sowie des Step-Modells Die Anfragen an Supervision sind in unserer Erfahrung höchst unterschiedlich. Da gibt es die Darstellung und Reflexion eines erlernten Handelns in der Ausbildungssupervision, die regelmäßige standardisierte Supervision als Qualitätsmerkmal oder die situative, in der Regel konflikt- oder problembezogene Supervision und sicher noch andere mehr. Gerade die Letztgenannte erleben wir in der Anfrage, manchmal auch in Verbindung mit einem Fortbildungsanteil, dann, wenn Supervision nicht regelmäßig bzw. nicht selbstreflexiv durchgeführt worden ist, sodass Situationen entstanden sind, in denen die Emotionen hochgekocht, Grenzerfahrungen auch körperlicher Art oder andere Formen der

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Nicht-Funktionsfähigkeit des zu supervidierenden Systems gemacht worden sind. In manchen Kontexten wird Supervision dann sogar verordnet. Ziel dabei ist es, die Funktionsfähigkeit des Systems wiederherzustellen. Zu den damit verbundenen moralischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen wurde schon im Kapitel 2.7 zur Psychotherapie Stellung bezogen. Die Supervisorin ist dann in ihrem Selbstverständnis gefragt, ob und in welchem Umfang sie diesbezüglich vorgehen will. Wir kommen im Laufe des Beitrages darauf zurück. Allein die vorstehende Aufzählung beschreibt schon sehr unterschiedliche Voraussetzungen von Supervision, die das Vorgehen des Supervisors mitbestimmen – sogar die Überlegung, ob er oder sie sich überhaupt darauf einlässt. Bevor wir dies anhand von Modellen in diesem Beitrag weiter reflektieren, ist uns persönlich noch ein Hinweis auf die Präsenz der Supervisorin wichtig. Die Übernahme von Supervision sollte von Neugier, Interesse und eigenen Ressourcen geprägt sein. Auch hier stellt sich schnell die Frage des eigenen Erlebens der Präsenzdimensionen. Supervisionen, die der Supervisor nicht mit einem hohen Präsenzerleben durchführen kann oder bei denen er einen entsprechenden Präsenzverlust im Laufe des Prozesses erlebt, führen, solange es nicht gelingt, die eigene Präsenz zu stabilisieren oder wieder zu stärken, in der Regel nicht zu befriedigenden und überzeugenden Ergebnissen bei allen Beteiligten, die Supervisorin mit eingeschlossen. Aus unserer Sicht lassen sich drei Orientierungsoptionen nutzen, um die Angemessenheit von Supervision und der dann jeweils möglichen Methoden zu reflektieren: die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges (2018), die Wachsame Sorge nach Omer im Konzept der Neuen Autorität (2015) sowie das Step-­Modell der Niveaus der Handlungsfähigkeit nach van Kaldenkerken (2014). Durch die Verbindung der Wahrnehmung und der Nutzung von physiologischen Prozessen, Gesprächsinterventionen und atmosphärischen Bedingungen kann so ein Resonanzraum in Supervision entstehen. Polyvagal-Theorie Wie bereits in Kapitel 1.6 dargestellt, beschreibt Stephen Porges in seiner Polyvagal-Theorie, dass wir in sozialen Situationen schon vor der Bewusstseinsschwelle im autonomen Nervensystem eine automatische Abklärung unseres Sicherheitsgrades durchführen. Er nennt dies den Prozess der Neurozeption. Dabei werden innere körperliche Informationen ebenso verarbeitet wie Wahrnehmungen über das Verhalten des Gegenübers. Die inneren Informationen gelangen über den sogenannten »smarten« ventralen Vagusnerv (Teilnerv des Parasympathikus) zum Gehirn. Dieser Teil des zweigliedrigen Vagusnerves ist

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mit nahezu allen inneren Organen verbunden. Zugleich hat er Auswirkungen auf eine Vielzahl von Muskelgruppen, die relevant für unsere Interaktion mit anderen Menschen sind (z. B. Innenohrmuskel, Kopfbeuger, Gesichtsmuskulatur …). Das innere Erleben und unsere Mimik und Gestik stehen somit in einer direkten Wechselwirkung miteinander. Die äußeren Wahrnehmungen über unsere Sinnesorgane sowie unser inneres Wissen über Mimik und Gestik anderer Menschen werden gleichzeitig mitverarbeitet. Bevor wir bewusst über eine bestimmte Situation nachdenken, sind also schon die Grundsatzfragen für unser Sicherheitsempfinden geklärt, die diesbezüglich grundlegenden Emotionen und körperlichen Bereitstellungen aktiv. In seinem Konzept beschreibt Porges weiter drei hierarchisch angeordnete Verarbeitungsmechanismen, die je nach Einschätzung des Sicherheitsgrads aktiv werden. Kommt es zu der Wahrnehmung von klarer Sicherheit und Entspannung, dann sind wir in der Lage, alle unsere sozialen, interaktiven wie kommunikativen Kompetenzen zu nutzen. Empathisches Einfühlen wie auch kognitives Reflektieren sind dann möglich. Dieser Zustand wird von Porges als Social Engagement System (SES, deutsch in etwa: soziales Aktivierungssystem) bezeichnet. Dann ist die distanzierte Betrachtung von Prozessen, das distanzierte Betrachten möglich. Auch aufdeckende Vorgehensweisen der Supervision können eingesetzt werden, weil diese als neue Informationen und nicht als Bedrohlichkeit betrachtet werden können. Kommt es zur Wahrnehmung einer Bedrohung, wird das nächste hierarchisch untergeordnete sympathische System aktiv. Die Reaktionsmuster sind hier eingeschränkt und durch die Optionen Kampf oder Flucht, Bereitschaft zur Eskalation oder Vermeidung gekennzeichnet. Heftige Emotionen erschweren also die arbeitsbezogene Fähigkeit der Reflexion von Prozessen. Auslöser können dafür gerade in supervisorischen Zusammenhängen ungeklärte Teamkonflikte, »schräge Kommunikationen« (siehe Kapitel 1.3) oder individuelle Vorerfahrungen sein. Da die Reflexionsfähigkeit innerhalb dieses ersten Defensivsystems des Menschen nicht bzw. nur eingeschränkt gegeben ist, werden im Rahmen von Supervision an dieser Stelle zunächst beruhigende und deeskalierende Maßnahmen notwendig. Möglicherweise ist auch eine Konfliktklärung vorrangig, bevor weiter an den sogenannten sachlichen Themen gearbeitet werden kann. Aufdeckende Verfahren sind hier nicht zu empfehlen, darstellende wie Skulpturen insoweit, wie sie eine verstehende und deeskalierende Absicht vermitteln. Das Übersetzen von Werten und Absichten wie auch das wohlwollende Doppeln können hilfreich sein. Insgesamt ist zu beachten, dass in solchen Situationen die Bereitschaft zum Einfühlen (Empathie) in die Position des anderen deutlich verringert ist, sodass Perspektivwechsel als Experimente nur vorsichtig einzusetzen sind. Mit körperlich begleiteten Interventionen gelingt es

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in der Regel schneller, die aufkommenden Emotionen zu beruhigen. Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse können dann wieder betrachtet und zum eigentlichen Thema gemacht werden. Ist die Bedrohung so massiv, dass auch der Austausch über die Situation nicht mehr möglich ist, wird im Kern das zweite Defensivsystem des Menschen aktiv. Über den sogenannten dorsalen Vagusnerv (der zweite Teil des Nervus Vagus) werden neurovegetative Erregungsprozesse aktiv, die gelegentlich die Handlungsfähigkeit verschwinden lassen. Tauchen diese Impulse auf, sind sie nicht durch Austausch und Gespräch kontrollierbar oder zu beruhigen. Im Gegenteil führt längeres Reden nicht selten zu mehr Hilflosigkeitserleben. Sollte dies passieren, so sind körperliche Verfahren zur Emotionsregulation ausgesprochen hilfreich. Wir wenden an dieser Stelle das Verfahren PEP an, welches von Michael Bohne (2011, 2016) entwickelt worden ist und auf bekannte Klopftechniken hypnosystemischer Verfahren aufbaut. Durch diesen Zusammenhang wird deutlich, warum es aus Supervisionssicht notwendig ist, die körperliche Ebene mit einzubeziehen. Van ­Kaldenkerken (2018) macht dies ebenfalls intensiv deutlich und sieht an manchen Stellen eine Vorfahrt für körperliche Interventionen. Die Überprüfung dieser körperlichen Ebene führen wir durch die Reflexion einer Situation anhand der Präsenzdimensionen durch, da wir die Tiefe und die Auswirkungen von persönlichen Beteiligungen frühzeitig sichtbar machen können. Damit wird auch in der Analyse sichtbar, welche Tiefe die Betroffenheit der Beteiligten hat und was dann für die Supervision zu beachten ist. Wachsame Sorge Als ein Kernmodell im Gesamtkonzept der Neuen Autorität ist die Wachsame Sorge (Omer, 2015) bereits an mehreren Stellen in diesem Buch beschrieben worden (siehe u. a. Kapitel 1.1 sowie 2.2). Daher soll sie hier nur kurz erläutert und in ihrer Bedeutung für die Supervision dargestellt werden. Das Vorgehen des Konzepts der Neuen Autorität ist im Zusammenhang mit der elterlichen Präsenz zunächst ein Krisenkonzept gewesen. Es ging um die Möglichkeit, wie in hocheskalierten Familiensystemen wieder Dialog und Kontakt hergestellt werden können. Mit der vorstehend beschriebenen Polyvagal-Theorie lässt sich erklären, dass die dritte Stufe der Wachsamen Sorge Interventionen bereitstellt, die aus der Eskalation der beiden als Defensivsysteme beschriebenen Reaktionsmuster von in einem Zustand der Unsicherheit befindlichen Menschen herausführen und wieder mindestens auf der zweiten Stufe der Wachsamen Sorge Begegnung und Kontakt möglich werden lassen. Diese Maß-

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nahmen auf der dritten Stufe werden als einseitige Maßnahmen beschrieben, weil sie nicht von der Zustimmung der betroffenen Personen abhängig gemacht werden, sondern die Verantwortung einseitig von den Menschen übernommen wird, die dann in der Erziehungsverantwortung stehen und bleiben. Auf den Kontext der Supervision übertragen bedeutet das, dass einseitige Maßnahmen dann erforderlich werden, wenn eine Supervisorin feststellt, dass ein Team oder eine Person nicht in der Lage zu Reflexion und Gespräch bzw. Austausch ist. Gleichwohl ist die Verantwortungslage der Supervisorin anders als die von Eltern im Elterncoaching, sodass die Zustimmung für das weitere Vorgehen wie selbstverständlich eingeholt werden muss. Einseitige Maßnahmen könnten die Unterbrechung eines Prozesses mit der Mitteilung des Supervisors sein, dass er aktuell keine Reflexionsfähigkeit wahrnimmt und daher zu eigenen Schritten der Entscheidung kommt. Diese Entscheidungen könnten der Abbruch oder die Unterbrechung der Supervison, der Vorschlag bzw. die Erwartung von Klärungsgesprächen oder die Erwartung der Übernahme von Führungsaufgaben durch die Leitung sein. Ein Praxisbeispiel: In einem Team mit vereinbarter Fall- und Teamsupervision zeigte sich wiederholt ein schon länger vorhandener Konflikt zwischen zwei Kolleginnen, der vor einiger Zeit wieder aufgelebt war, allerdings keine Klärung gefunden hatte. Zudem war eine Kollegin befreundet mit der Leiterin dieses Teams, die nicht an der Supervision teilnahm. Dieser dem Supervisor zunächst unbekannte Konflikt führte mehrfach zu Irritationen bei Fallvorstellungen und Rollenübernahmen bei Skulpturen und anderen methodischen Vorgehensweisen. Als dies mehrfach sichtbar geworden war, fragte der Supervisor die Klärung dieses Konflikts als Grundlage weiterer Prozesse an. Diese Klärung wurde im Team unter den Beteiligten abgelehnt und war zudem so mit Verletzungen besetzt, dass der Supervisor seinerseits die Supervision unterbrach und der Leitung seine Beobachtungen mitteilte, da ihm der ursprüngliche Auftrag nicht mehr möglich schien. Diese Entscheidung war zuvor dem Team bekannt gegeben worden. Die zweite Stufe der Wachsamen Sorge ist von direkter Ansprache und Öffnung im System geprägt, sodass quasi aus einer Metaperspektive auf den Supervisionsprozess geschaut werden kann. Dabei können alle Maßnahmen der Konfliktklärung möglich sein, wobei die Mediation wohl schon zur dritten Stufe der Wachsamen Sorge zu zählen ist. Das Klopfen zur Selbstberuhigung oder andere, die laufenden Muster unterbrechenden und deeskalierenden Vorgehensweisen würden wiederum im weitesten Sinne noch zur zweiten Stufe zählen, da der Supervisor noch in der Verantwortung des Prozesses bleiben kann und die grundsätzliche Bereitschaft wie Möglichkeit besteht, wieder zur Reflexionsfähigkeit von Arbeitsprozessen zurückzukehren.

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Die erste Stufe der Wachsamen Sorge ist stark vergleichbar mit den Möglichkeiten des SES von Porges, da auf dieser Stufe davon auszugehen ist, dass alle Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion in Bezug auf die Reflexionsprozesse möglich sind. Insofern wären alle methodischen Optionen einschließlich aufdeckender Maßnahmen möglich. Gleichwohl bereiten wir uns an dieser Stelle schon darauf vor, Handlungsoptionen für entstehende Krisen zur Verfügung zu haben (Methoden, Absprachen zur Vernetzung u. Ä. m.). Ein wenig kann man sich das sicher so vorstellen, wie die Entwicklung eines Notfallplans für einen möglichen Super-GAU. Dazu zählt die Absprache, wann und in welcher Form die Leitung oder andere Personen hinzugeholt werden können. Doch auch dies ist in Supervision außerhalb vom Konzept der Neuen Autorität durchaus üblich. Wir setzen im gemeinsamen Vorgehen Verfahren ein, die eine grundlegende Sprache über eigene Betroffenheiten möglich machen. Insbesondere die Reflexion der Präsenzdimensionen führt dazu, dass alle Beteiligten in einem Supervisionsprozess schon bei der Reflexion in eine Sprache und ein Modell einsteigen, was es möglich macht, auch über persönliche Anteile, körperliche Resonanzen und emotionale Spiegelungen zu sprechen. Auch den Leitfaden und das Werte-Dreieck (siehe »3) Mit welchen Methoden?« Weiter unten im Text) setzen wir bewusst und zielgerichtet ein, damit diese Methoden auch unter Stressbedingungen anwendbar bleiben, da sie schon eingeübt sind. Die Aufgabe auf dieser Ebene der Wachsamen Sorge ist dementsprechend, für eine Interaktion und die entsprechenden formalen Muster zu sorgen, die nachhaltig auch in kritischen oder konfliktbesetzten Supervisionssituationen greifen und Orientierung in persönlicher Betroffenheit geben. Die Aufgabe der Supervisorin ist dementsprechend, unabhängig von der eigenen Person und den eigenen Fähigkeiten Muster und Formate an das Team weiterzugeben, die stabilisierende Werte- und Kommunikationsmuster etablieren. Niveaus der Handlungsfähigkeit (Step-Modell) Van Kaldenkerken (2014) beschreibt in ihrem Modell sogenannte »Niveaus der Handlungsfähigkeit« und meint damit Ebenen, die mit körperlich-emotionalen Verfassungen und sprachlichen Fähigkeiten bzw. Einschränkungen verbunden sind, die Handlungs-, Sprach- und Denkfähigkeit stark verändern und mit unterschiedlichen Interventionen beantwortet werden. Die jeweilige Handlungsfähigkeit wird anhand der folgenden sieben Ebenen dargestellt. Sensation: Der Erfolg des eigenen Vorgehens ist größer, als dies zu Beginn angedacht war. Die Kooperation, der Projektverlauf, die Beratung übertreffen deutlich die erhofften Ziele und Erwartungen. In der Beratungsarbeit sollen

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die erreichten Ergebnisse verifizierbar, wiederholbar werden. Das Vorgehen ist klar beschreibbar und wird auf andere Bereiche und Projekte angewendet. Auf dieser Ebene sind alle unten beschriebenen methodischen Optionen einsetzbar. Aus unserer Sicht würde an dieser Stelle im Sinne des Konzepts der Neuen Autorität die Achtsamkeit vor allem auf die Prozesse gerichtet werden, die dazu beitragen können, dieses Niveau lange aufrechtzuerhalten. Dazu gehört vor allem die Etablierung von Kooperations- und Kommunikations- sowie auch Reflexionsprozessen, die so zum Standardrepertoire des Vorgehens werden. Auch das Werte-Dreieck (Lemme u. Körner, 2018) als mögliches Reflexionsmodell weiterer Überlegungen ist hier nutzbar. Selbstverständlichkeit: Die Handlungsfähigkeit passt genau zur Aufgabe, alles ist so, wie es sein soll. Erwartungen und Ziele stellen sich hundertprozentig ein. Selbstverständlichkeiten wie berufliche und soziale Routinen werden häufig hingenommen, als gegeben vorausgesetzt und nicht explizit wahrgenommen. Hier sollen vor allem die Routinen und Selbstverständlichkeiten sichtbar gemacht werden. Diese sollen dann über entsprechende Muster und Reflexionsangebote weiter vertieft und letztlich formatiert werden. Aus unserer Sicht ist dies ein möglicher Ansatz der Nutzung aller Methoden zur Reflexion der eigenen Präsenz sowie des Einsatzes der Haltungs- und Handlungsaspekte, die neben den vorhandenen Optionen noch neue Möglichkeiten und Perspektiven anregen können. Auch die Intensivierung von Kooperations- und Unterstützungsprozessen erscheint uns hier sinnvoll. Ebenfalls kommt das Werte-Dreieck zum Einsatz. Aufgabe: Das eigene Niveau der Handlungsfähigkeit, die dazu notwendigen Rahmenbedingungen und Ressourcen sowie das Wissen aller um den optionalen Lösungsweg und die entsprechende Motivation sind zur Erreichung eines Zieles vorhanden, allerdings ist es noch nicht erreicht. Hier sollen all jene Möglichkeiten überlegt werden, die zur Erledigung dieser Aufgabe möglicherweise ergänzt oder formuliert werden müssen. Das würde Trainings, Weiterbildungen, Fachberatung oder Standards umfassen. Aus unserer Sicht ist dieses Handlungsniveau innerhalb der Supervision im Konzept der Neuen Autorität gut geeignet für zeitweilige kurze Inputs, um das Verhaltensrepertoire der Beteiligten zu erweitern. Das Einüben von gemeinsam körperlich erlebbaren Maßnahmen wie Ankündigung, Schweigendes Gespräch oder auch Sit-In können solche Optionen darstellen und die Kooperation untereinander als Wirkfaktor verstärken. Im Kern geht es um die Vertiefung der Haltungs- und Handlungsaspekte. Gleichwohl würden wir auch schon Fragestellungen aus dem Leitfaden (Lemme u. Körner, 2018) übernehmen, damit neben der wahrgenommenen Aufgabe auch die Reflexion von möglicherweise vorhandenem Schutz- und Deeskalationspotenzial thematisiert wird.

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Problem: Bei einem vorhandenen Problem stehen nicht alle Ressourcen zur Verfügung. Entweder ist einigen oder allen Handelnden der Lösungsweg nicht bekannt, oder es fehlt an Zeit, Wissen, Personal und/oder Entscheidungsbefugnissen. Es wird eine Diskrepanz erlebt, und die Hindernisse auf dem Weg zum gewünschten Ergebnis erscheinen als sehr groß. Die Stimmung dabei ist allerdings sachlich, Emotionen wie Ärger sind auf die Sache bezogen, diagnostisch nutzbar und legen sich bei einer zügigen Lösungsfindung in der Sache wieder. Wir arbeiten an dieser Stelle vor allem mit dem Leitfaden. Er strukturiert das Vorgehen an der Sache, klärt die Fragestellung noch einmal genau ab und ermöglicht ein empathisches Vorgehen sowie auch die Selbstreflexion nach entsprechender Vorarbeit. Konflikt: Es fehlen nicht nur wichtige Ressourcen, sondern die Einschätzungen über die Ausgangssituation, das gewünschte Ergebnis und/oder die Lösungswege sind unklar, strittig, umkämpft. Für die Beteiligten steht viel auf dem Spiel, wofür es sich für sie zu kämpfen und entsprechende Risiken einzugehen lohnt. Die Sache rückt in den Hintergrund, die Kontrahenten agieren emotional, leidenschaftlich und sehr engagiert. Es wird heftig gestritten, aber es sind noch keine nicht wiedergutzumachenden Schäden eingetreten. Die Akteure haben die Auseinandersetzung insofern unter Kontrolle, als sie noch im Kontakt sind, sich an Regeln halten und darauf achten, dass die Konfliktkosten in einem angemessenen Verhältnis zum Streitwert stehen. An dieser Stelle ist ein klares und strukturiertes Vorgehen notwendig. Die Kernaufgabe auf dieser Ebene ist die Beruhigung der Konflikte, möglicherweise die Klärung oder auch die Vertagung an eine andere Stelle oder einen anderen Ort. Van Kaldenkerken empfiehlt Konfliktmediation (sachbezogen) oder Mediation als Möglichkeiten. Im Konzept der Neuen Autorität wären auch kurze Skulpturenmaßnahmen zur Verdeutlichung der Konfliktdynamiken möglich, ebenso die Erläuterung von symmetrischer und komplementärer Eskalation. Wir übersetzen an dieser Stelle häufig die Anliegen und Werte, manchmal auch mit Doppeln und aktiver Alter-Ich-Übersetzung (siehe Systemic Mirroring nach Uri Weinblatt, 2016). Darüber hinaus bieten wir an, soweit dies die Zustimmung der Teams findet, den Konflikt anhand der Übung »Rückspulen« zu reflektieren. Jede und jeder Einzelne aus dem Team soll dann für sich die Situation aus der eigenen Erinnerung in »Slow Motion« gedanklich und imaginativ zurückspulen – bis zu dem Zeitpunkt, wo die betroffene Person hätte noch anders um- oder einlenken können. Fokussiert wird dann auf die Frage, was denn die eigentliche Absicht hinter ebendiesem Beginn der Konfliktauseinandersetzung gewesen ist. Darüber hinaus setzen wir die Verfahren der PEP nach Bohne (2011, 2016) ein – insbesondere den Umgang mit den sogenannten »Big Five« und dem »Klopfen«

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an sich. Dies sind körperbezogene und hypnosystemische Interventionen zur schnellen Deeskalation und Beruhigung, zum Teil auch zur Eliminierung von Konflikten (siehe auch Lemme u. Körner, 2018). Katastrophe: Wenn der Kontakt abbricht, gemeinsame Regeln nicht mehr gelten und die Verhältnismäßigkeit aus dem Blick geraten ist, wird von einer »Katastrophe« gesprochen. Die Verantwortung für die Steuerung des Konfliktgeschehens ist den Beteiligten abhandengekommen. Als Katastrophen können Machtmissbrauch, Suchtverhalten, Korruption oder Mobbing genannt werden. Belastende Emotionen, tiefe Enttäuschung und Misstrauen haben sich verselbstständigt. Die Akteure leiden unter den Schäden der Auseinandersetzung, machen sich das gegenseitig zum Vorwurf und bleiben dadurch aneinander gebunden. Ein Ausstieg aus der Eskalation erscheint nicht möglich. Therapie und Konfliktcoaching sind im Step-Modell empfohlen – das Ziel ist, weiteren Schaden zu vermeiden. An dieser Stelle geht es in der Regel um Führungsentscheidungen, wie im o. g. Beispiel verdeutlicht. Für die Supervisorin ist dies der Zeitpunkt sogenannter einseitiger Maßnahmen nach der Idee der Wachsamen Sorge, welches weiter oben schon beschrieben wurde. Insbesondere in psychosozialen Einrichtungen mit der Verantwortung für besonders schutzbedürftige anvertraute Personen ist die Funktionalität wiederherzustellen, auch wenn dies besonderer Maßnahmen der Leitung bedarf. Supervision ist an dieser Stelle nicht mehr möglich. Auflösung: Die Ressourcen (Respekt, Geduld, Zeit, Geld, Kompetenz, Gesundheit …) sind erschöpft. Das Ende der Kooperation bzw. der Abhängigkeit der Akteure voneinander wird real ins Auge gefasst. Einige oder mehrere Beteiligte wählen als Lösung den Weg der Trennung und setzen diesen auch mindestens in ihrem Handeln (beispielsweise durch Bewerbungen auf andere Stellen oder andauernde Krankschreibungen) um. Im Vorgehen eines Supervisors hieße dies, den Abschied zu begleiten, möglicherweise bleibenden Schaden noch zu mildern. Da dieses Kapitel sich mit Supervision beschäftigt, ist dies die zweite Ebene nach der »Katastrophe«, wo es im Konzept der Neuen Autorität vorrangig um Aufgaben von Führung geht.

Mit welchen Methoden? Nun wurden im Verlauf dieses Beitrags schon wiederholt die verschiedenen Möglichkeiten des Vorgehens aufgelistet, allerdings ohne sie bisher zu erläutern. Dies soll nun nachgeholt werden. Insgesamt steht für uns im Konzept der Neuen Autorität die Präsenz (von Eltern, Erziehungsverantwortlichen, Führungskräften,

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Therapeutinnen und Beratern wie auch Superivsorinnen) im Fokus. Die Präsenzreflexion ist sowohl als Grundlage für das diagnostische wie auch das interventionsbezogene Vorgehen geeignet und lässt sich daher aus unserer Sicht sowohl für den Bereich der Beratung als auch der Supervision sehr gut nutzen. Wie oben beschrieben empfiehlt van Kaldenkerken entsprechende Vorgehensweisen und macht deutlich, dass an der Haltung, dem Gesichtsausdruck und der Stimmlage wie auch der Art und Weise der Interaktion im Team zu erkennen ist, ob sich jemand im Problem-, Konflikt- oder gar Katastrophenzustand befindet. »Die für Supervision notwendige Reflexionsfähigkeit, Kreativität, die dialogischen Qualitäten in der Kommunikation und komplexe Nachdenklichkeit sind nur möglich, wenn wir uns sicher fühlen und in entspannter, gelassener körperlicher Verfassung sind« (von Kaldenkerken, 2018, S. 7). Dies lässt sich nach der Polyvagal-Theorie gleichsetzen mit dem Zustand des SES bzw. im Konzept der Wachsamen Sorge mit deren erster Stufe. Van Kaldenkerken betont die »Vorfahrtsregel« (S. 7) für körperliche oder körperlich begleitete Interventionen, wenn heftige Gefühle das Denken einschränken, automatisierte Stressreaktionen das Verhalten steuern und geplantes Handeln nicht mehr gelingt. Derart hocheskalierte Systeme erleben und benennen die Beteiligten dann als Katastrophe, somit sind echte Not und Stress im Spiel. Die Defensivsysteme des Menschen (s. Porges, 2018 u. Kapitel 1.6) sind dann so aktiv, dass rational-sprachliche Zugänge nicht mehr möglich sind. Dies ist dann der Moment der einseitigen Maßnahmen im Konzept der Neuen Autorität, also der dritten Stufe der Wachsamen Sorge. Über die Feststellung der jeweiligen Erfahrung von Präsenz kann grundsätzlich überprüft werden, auf welchem Niveau sich auch immer die Beteiligten in der Supervision befinden. Wir können also insgesamt festhalten, dass die Erfassung des Erlebens der Präsenzdimensionen eine Grundlage bietet, die dann im weiteren Vorgehen Anhaltspunkte für das vorhandene Handlungsniveau wie auch dementsprechend die verschiedenen Methoden gibt. Spätestens ab der Stufe »Konflikt« sollte so im Vorgehen darauf geachtet werden, eine sichere Basis, einen Resonanzraum der Sicherheit zu erstellen. Dies wurde in Kapitel 2.7 zur Psychotherapie bereits beschrieben und wird weiter unten in Zusammenhang mit der Person des Supervisors noch einmal thematisiert. Im Konzept der Neuen Autorität werden zudem immer wieder nahezu ritualisierte Verfahren eingesetzt, insbesondere als einseitige Maßnahmen im Sinne der Wachsamen Sorge, z. B. Ankündigungen und Schweigender Protest, aber auch die 3+1-Körbe-Methode (Weinblatt, 2009) und andere mehr. In allen bisherigen Supervisionen unter Berücksichtigung des Konzepts haben diese Vorgehensweisen neben einer in der Regel deutlichen Wirksamkeit in Bezug auf die betroffenen Personen vor allem auch nachhaltige (körpererinnerungs-

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bezogene) Auswirkungen auf das Erleben der Präsenz gehabt, die diese Interventionen umsetzen – bei Teams gerade auch mit Blick auf ihre Verbindung untereinander. Präsenzdimensionen, Präsenzskalierung und Präsenzkarussell Die verschiedenen Übungen, Fragestellungen und Erläuterungen zu den Präsenzdimensionen sind bei Lemme und Körner (2018) zu finden und werden hier nicht weiter beschrieben. Übungen und Fragen zur Reflexion der Präsenzdimensionen (Abbildung 1) sind auch als Methoden-Tool zu erhalten1.

Übung Präsenzkarussell Vorbereitung: Raum und Zeit (0,5 Std.), angenehmer Ort, Stühle/Kissen als Repräsentanten sowie Schreibzeug. Als Variante/Ergänzung kann Sie eine Kollegin bei der Reflexion unterstützen. Durchführung: Setzen Sie sich in die Mitte des Raumes. Um sich herum positionieren Sie die Stühle/Kissen als Repräsentanten der Präsenzdimensionen. Nun erinnern Sie sich an bzw. vergegenwärtigen Sie sich in Ihrer Vorstellung die Situation, über die Sie reflektieren wollen. In einem nächsten Schritt nehmen Sie die vorstehend formulierten Reflexionsfragen zu den einzelnen Präsenzdimensionen und denken in Bezug auf diese Fragen an die konkrete Situation. Ihre Gedanken, Eindrücke, Erinnerungen und Wahrnehmungen dazu schreiben Sie auf. Notieren Sie sich auch einen Skalenwert, wie auf dem Arbeitspapier »Präsenzskalierung«. Nachdem Sie alle Präsenzdimensionen einmal durchgegangen sind, überlegen Sie, was Sie machen könnten, um den jeweiligen Skalenwert zu verändern. Notieren Sie sich Ihre jeweiligen Ideen. Am Ende entscheiden Sie, welchen der möglichen Änderungsschritte Sie gehen möchten. Diesen schreiben Sie sich als Affirmation auf.

1

Materialien erhältlich über SyNA creativ, https://www.neueautoritaet.de/index.php?ziel=creativ (Zugriff am 28.01.2019).

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Variante: Der Supervisand setzt oder stellt sich in die Mitte des Raumes, sechs Repräsentanten für die Präsenzdimensionen sitzen oder stehen um sie/ihn herum. Weitere Personen im Raum bekommen Beobachtungsaufgaben (Veränderungen in Körperhaltung, Mimik, Gestik, Sprache, Wortwahl …). Der Supervisor bringt den Supervisanden nacheinander mit dem jeweiligen Repräsentanten der Präsenzdimensionen in Kontakt. Dieser Repräsentant formuliert die Reflexionsfragen für den Supervisanden, der entsprechend seine Anmerkungen und Überlegungen laut ausspricht. Der Supervisor macht die Notizen, wie schon vorstehend beschrieben, und übergibt diese an den jeweiligen Repräsentanten. In der zweiten Runde mit der Überlegung zur Veränderung der Skalenwerte liest der Repräsentant die Einschätzungen bzw. Rückmeldungen der Beobachterpositionen vor und meldet ebenfalls seine eigenen Wahrnehmungen als Unterstützung zurück. Sind diese Änderungen etwas, was die jeweilige Präsenzdimension stärken könnte? Die Änderungsideen werden wieder notiert. In der dritten Runde melden die Repräsentantinnen die Änderungsideen zurück. Die daraus folgenden nächsten Schritte werden als Affirmationen notiert und dem Supervisanden schriftlich mitgegeben. Variante als Aufstellung: Der Supervisand wählt für sich als Fokus einen Repräsentanten und stellt diesen im Raum auf. Dann stellt er die Präsenzdimensionen in Beziehung zum Fokus auf. Danach wählt er einen guten Beobachtungsort. Der Supervisor leitet die Aufstellung lösungsfokussiert an. Der Supervisand nimmt die Position seines Fokus ein, wenn die Lösungsoption in der Aufstellung steht. Die möglichen Änderungen werden als Affirmationen für den Supervisanden schriftlich erfasst. Erweiterungen: Diese Aufstellung ist auch als Blindaufstellung eine hervorragende Möglichkeit zum Herausarbeiten von Änderungsoptionen. Zudem ermöglicht eine freie Position in der Aufstellung weitere Perspektiven. Der Repräsentant für diese Position wird nicht klar benannt und nach dem Fokus und den Repräsentanten der Präsenzdimensionen an einer Position aufgestellt. Danach bewegt er sich entsprechend der eigenen Wahrnehmung und des Prozesses.

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Präsenzskalierung (Lemme u. Körner, 2018) Stellen Sie sich eine Situation mit einem anderen Menschen vor, dessen Verhalten Sie als schwierig erlebt haben, in der Sie nicht so handeln konnten, wie Sie es eigentlich wollten. Das kann ein (eigenes) Kind/ ein/e Jugendliche/r, Partner/-in, Mitarbeiter/-in, Schüler/-in oder Vorgesetzte/r sein. Schätzen Sie nun auf der Skala von 1-10 Ihre Präsenz ein. 1= schwach/10= stark Physische Präsenz (Körperlich) 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 - 10 • Ich bin körperlich und geistig anwesend, achtsam und wachsam. • Ich bin in meiner Energie und Kraft, stehe fest und sicher, bin aufgerichtet und offen. Pragmatische Präsenz (Handlungsfähigkeit) 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 - 10 • Ich kann handeln. • Ich erlebe mich als (selbst-)wirksam. Ich weiß, was ich tun kann. Ich habe einen "Plan B". • Ich muss nicht sofort entscheiden und mein Gegenüber muss nicht so sein, wie ich es will. Internale Präsenz (Selbstkontrolle) 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 - 10 • Ich erlebe mich in meiner Selbstkontrolle. • Ich kann mich bei Eskalationen selbst kontrollieren und steige nicht in die Eskalation ein. • Meine Erwartungen an mich selbst in schwierigen Situationen entsprechen meinen Handlungen. • Mein Handeln ist weitgehend unabhängig vom Verhalten meines Gegenübers, des anderen, der Umstände. Emotional-Moralische Präsenz (Überzeugung, Authentizität) 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 - 10 • Ich habe wenig Angst vor auftauchenden Emotionen, ich sehe sie bedürfnisorientiert. • Ich bleibe da, auch wenn es schwierig ist und harre aus. Ich bin bereit, mich auseinanderzusetzen, ein Gegenüber zu sein. • Ich bin von dem, was ich tue überzeugt. • Ich bleibe wertschätzend und standhaft. • Ich drücke mein Selbstwertgefühl durch Klarheit und Eindeutigkeit aus. Intentionale Präsenz (Absicht) 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 - 10 • Ich bleibe in der Beziehung, ich nehme Kontakt auf und zeige mein Interesse an der Beziehung, auch in schlechten Zeiten. • Das, was ich tue, entspricht dem, was ich als Ziel anvisiere. Mein Handeln ist beziehungs- und entwicklungsorientiert. Interpersonale Präsenz (Unterstützung, Netzwerk) 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 – 8 – 9 - 10 • Ich bin nicht allein. Ich weiß, wen ich ansprechen kann. • Ich kann mich auf meine Kollegen/mein Team verlassen. Ich bin mir ihrer Wertschätzung sicher. • Ich bin in ein Netzwerk/Team eingebunden, welches mein Verhalten nicht bewertet, so dass ich entsprechend selbstwirksam handeln kann. • Ich melde mein Handeln in diesem Netzwerk transparent zurück, binde mich aktiv ein. Welche Präsenzebenen fielen Ihnen schwer einzuschätzen, welche leicht? Was denken Sie, welche Präsenzebene Sie stärken müssten, um eine angemessene Präsenz in dieser Situation zu entwickeln? Wie könnten Sie die einzelnen von Ihnen eingeschätzten Werte um jeweils einen Wert erhöhen oder kleiner werden lassen? Was müssten Sie verändern, um dies zu tun? Was denken Sie, welche Präsenz zu stark ist, wie könnten Sie diese ggf. besser ausbalancieren? Wie würde Ihr Gegenüber Ihre Präsenzebenen einschätzen? Wo entstehen große Unterschiede?

Stand 01.03.19

Abbildung 1: Übung Präsenzskalierung (Lemme u. Körner, 2018, S. 68 f.)

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 Übung Rückspulen Thema: Selbstkontrolle/Deeskalation Diese Übung ist als Imaginationsübung gedacht, die auch mit einer Rückwärtsbewegung im Raum kombiniert werden kann. Anleitung: »Bitte suchen Sie sich im Raum einen Platz, wo Sie ca. einen halben bis einen Meter Raum haben, um rückwärtsgehen zu können. Erinnern Sie sich jetzt bitte an den letzten Konflikt, den Sie mit einer Ihnen nahestehenden Person gehabt haben. Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten den Ablauf des Konflikts auf DVD aufgenommen und könnten langsam und schrittweise den Ablauf noch einmal rückwärtsspulen, um ihn genauer zu analysieren. Sie befinden sich jetzt in der Zeitphase unmittelbar nach dem Konflikt. Bitte erinnern Sie sich, wie Sie sich gefühlt, was Sie gespürt und wahrgenommen haben. Gehen Sie nun langsam rückwärts und spulen Sie in Ihrer Erinnerung noch einmal zurück, was jeweils zuvor kleinschrittig passiert ist. Gehen Sie weiter und weiter zurück, lassen Sie sich Zeit, damit Sie sich an so viele Details wie nur eben möglich erinnern. Gehen Sie so weit zurück, bis Sie an einen Punkt in Ihrer Erinnerung kommen, an dem Sie sich möglicherweise hätten anders entscheiden können zu handeln oder aber in Ihnen sich etwas deutlich verändert hat (Gefühl, Selbstkontrolle …). Bleiben Sie an diesem Erinnerungsort stehen. Überlegen Sie jetzt, wie Sie möglicherweise hätten anders handeln können, um den Konflikt abzuwenden. Was wäre möglicherweise anders gewesen, wenn Sie die Klärung des Konflikts vertagt oder Ihr Tempo reduziert oder sich ein Mantra vorgesprochen hätten, was Ihnen ermöglicht hätte, sich nicht provozieren zu lassen? Bitte suchen Sie sich jemanden, um sich darüber auszutauschen.« Reflexion im Plenum. Alternativ können sich Eltern in Coaching-Situationen an einen Konflikt mit ihren Kindern erinnern. In der Supervision könnte eine als kritisch beschriebene Situation im Kontakt mit dem Klientensystem gewählt und »zurückgespult« werden. In der Diskussion erinnert der Supervisor/Therapeut/Coach/Seminarleiter an die Möglichkeiten der eigenen Selbstkontrolle. Er motiviert zu einem nächsten kleinen Schritt der Veränderung und macht Vorschläge für Möglichkeiten. Diese Übung stellt eine Variante einer ähnlichen Übung von Eia Asen (2013) dar.

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Werte-Dreieck Wir können beschreiben, dass sich die Haltung des Konzepts der Neuen Autorität in einem Werte-Dreieck bewegt, welches die Ecken »Beziehung/Kooperation, Gegenüber/Ordnung und Transparenz/Würde« hat (siehe Abbildung 3 in Kapitel 2.2). Die Maßnahmen und Interventionen, die sich für uns aus dem Coaching ergeben, orientieren sich an ebendiesen Eckpunkten. Die Schaffung eines Resonanzraumes der Begegnung hat einen beziehungs- und kooperationsgestaltenden Aspekt, der Angebote und Möglichkeiten schafft. Dieser bleibt beharrlich im Angebot enthalten, da es um die Wiederherstellung gemeinsamer Gestaltungs- und Entwicklungselemente geht. Dies gilt sowohl in Erziehung und Pädagogik wie auch in Führung. Gleichzeitig benötigt annähernd jeder Prozess jemanden, die oder der deutlich macht, welche Unterschiede zu beobachten, welche Werte und Grenzen möglicherweise verletzt, welche Prinzipien und Ordnungen wiederherzustellen sind. Wir nennen dies den Aspekt des Gegenübers bzw. der Ordnung. Da Hilflosigkeit in Teams zu eingeengten Sichtweisen führt, benötigt der Supervisor in seinem Handeln auch Aspekte, die Orientierung für seine Kunden darstellen. An dieser Stelle wird die Allparteilichkeit des Supervisors in besonderem Maße deutlich, da er auch Positionen beziehen könnte, die zunächst kritisch von den Beteiligten gesehen werden. Die Schaffung von Kooperationsbeziehungen in Beratung und Supervision bewegt sich häufig zwischen den Polen von Kooperationsangeboten einerseits und Ordnung im Vorgehen andererseits. Gerade in Zwangskontexten zeigt sich dies besonders deutlich. Daher wird ein dritter Aspekt benötigt, der quasi eine Verbindung zwischen den beiden Polen schafft. Wir nennen diesen den Aspekt der Transparenz und Würde. Dieser Aspekt bezieht sich auf die Frage, ob und inwieweit eine Transparenz über das Vorgehen sowie über die Absicht und das Ziel vorhanden ist, eben das »Wofür«. Dabei fokussiert die Würde auf die Einhaltung der grundlegenden Werte von Sicherheit, Autonomie, Integrität und Zugehörigkeit. Die Umsetzung in der Supervision kann im Sinne einer Selbstreflexion oder einer repräsentierenden Wahrnehmung erfolgen. Im Raum werden die drei Ecken positioniert, indem die Pole durch einen Bodenanker (alternativ Stuhl oder auch Repräsentanten) sichtbar gemacht werden. Die Supervisorin stellt die drei Ecken vor und formuliert einige Fragen und Gedanken, an denen sich die Supervisanden orientieren können. Der Fokus bzw. die Fragestellung werden entsprechend formuliert.

Präsenz und Resonanz in Supervision

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Im Rahmen der Selbstreflexion werden die Supervisandinnen eingeladen, sich innerhalb des markierten Dreiecks zu bewegen, sowohl in den Eckpolen als auch im Zwischenraum des Dreiecks. Sie sollen darüber nachdenken und nachfühlen (Körper, Atmosphäre), welche Eindrücke und Interventionen bzw. Erfahrungen sie in Bezug auf die Fragestellung gemacht haben oder in diesem Moment machen. Der anschließende Austausch trägt die Eindrücke und Erfahrungen der Beteiligten zusammen. Daraus können weitere Schritte entwickelt werden. Im Rahmen einer repräsentierenden Wahrnehmungsaufstellung werden Repräsentantinnen für die beteiligten Personen oder Systeme in diesem Dreieck positioniert oder durchwandern den entstandenen Raum. Durch entsprechende hypnosystemische Befragung und lösungsfokussierte Vorgehensweise können so alternative Perspektiven für die nächsten Schritte entstehen. Ergänzt werden kann diese Art der repräsentativen Wahrnehmung durch Repräsentanten für den Fokus und/oder das Wofür des entsprechenden Projektes. Repräsentierende Visualisierungen mit dem Fokus und dem Wofür Skulpturen und Aufstellungen finden in Supervisionen häufig und mannigfaltig Verwendung. In diesem Vorgehen geht es speziell um die repräsentierende Visualisierung (Darstellung) und Reflexion der eigenen Absicht in Bezug auf die aktuell eigene Position – und somit um eine Reflexion, die erweiterte Perspektiven und Selbstüberprüfung möglich machen kann. So werden anhand von Repräsentantinnen zum einen der Fokus, also die Perspektive des Teams oder der einzelnen Supervisandin, zum anderen das angestrebte Ziel, das Wofür des Projektes bzw. Handelns, und drittens das wahrgenommene zugehörige System aufgestellt. In diesem Fall kann (zunächst) nur der Fokus verändert werden, um eine neue Perspektive einnehmen zu können. Alternativ kann auch die Sichtweise des Wofür eingenommen werden, was dann möglicherweise weitere Ideen zum Prozess und derzeitigen Stand ermöglicht. Diese Visualisierung kann von einer Person aus einem Team stellvertretend aufgestellt werden. Gleichwohl können Variationen und Änderungen der anderen Teammitglieder in weiteren Durchgängen angegangen werden. Dies ermöglicht über körperliche und letztlich repräsentierende, morphologische Darstellungsformen den Zugang zur Reflexion verschiedener Positionen, die auch aus einer schon vorhandenen emotionalen Betroffenheit wieder heraushelfen könnten.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Mit welcher supervisorischen Perspektive? Haltung der Supervisorin und Bedeutung für die Praxis Wir gehen in unserer Logik im Konzept der Neuen Autorität davon aus, dass die Präsenz des Supervisors ein wesentlicher Einflussfaktor für die gelingende Gestaltung von Supervision ist. Beim Lesen dieses Beitrags kann möglicherweise der Eindruck entstehen, dass es hier nun doch primär um die Einschätzung der Präsenz der Supervisanden gehen könnte. Diesem Eindruck möchten wir entgegenwirken. Selbstverständlich geht es um die Klärung der Optionen, die ein Team oder auch eine einzelne Person mitbringen, da auf diese Art und Weise eine notwendige Auftragsklärung möglich wird. In vielen Supervisionen hat sich gezeigt, dass die Klärung des Auftrags auch im Nachhinein zu einem verbesserten und zufriedenstellenderen Prozess geführt hat. Das Wissen um die Ebenen der Handlungsniveaus bzw. der Stufen der Wachsamen Sorge wie auch der körperlichen Aufnahmeoptionen ist dafür zwingend notwendig. Sollte ein Supervisor dies nicht oder nur gering beachten, gerät er schnell in eine Defensive, letztlich in den Verlust eigener Präsenz. Insofern beschreiben wir in der Logik des Konzepts der Neuen Autorität eine Vielschichtigkeit und Spiegelung der verschiedenen Prozesssysteme. Die Wahrnehmung der Präsenz ist demnach zur Klärung des Auftrags und des Handlungsniveaus des Teams genauso erforderlich wie für das Handlungsniveau der Supervisorin selbst. Ist sie in ihrer eigenen Präsenz geschwächt, kann sie letztlich keine Möglichkeiten und Räume der Sicherheit für die Supervisandinnen herstellen. Ist dies allerdings nicht gegeben, so kann auch nur wenig wahrscheinlich ein gelingender, vor allem selbstreflektierender Prozess in der Supervision selbst stattfinden. So weist van Kaldenkerken zu Recht darauf hin, dass der Raum als Resonanzrahmen »noch wesentlich mehr Möglichkeiten als nur die Arbeit mit Bodenankern, Zeitlinien und anderen Markierungen« (von Kaldenkerken, 2018, S. 9) bietet. Die Wirkfaktoren von Nähe und Distanz, von Ausdruck in Mimik und Gestik wie in der gesamten Haltung und Handlung des Vorgehens beeinflussen den Kontakt, den Prozess und auch die Atmosphäre. Je stärker die Supervisorin in ihrem Vorgehen Sicherheit und Stärke im Vorgehen zeigt, desto mehr ist die Gestaltung eines Resonanzraumes der Entwicklung in der Supervision möglich. Dabei geht es sowohl um die Haltung als auch die Handlung, die somit spiegelfunktionsartig auf das Team Auswirkungen haben können. (Diesbezüglich wurde schon in Kapitel 2.7 zur Psychotherapie auf dieses Phänomen verstärkt eingegangen, weshalb hiermit darauf verwiesen sei.) Das Gegenteil wäre möglicherweise im psychosozialen Kontext, dass sich der Supervisor und das Team gegenseitig im Suchen von Methoden zur Verhaltensänderung anderer

Präsenz und Resonanz in Supervision

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überbieten, schlimmstenfalls auch diagnostisch massiver werden und so machtvolle Instrumente nutzen, die das Vorgehen nicht mehr aus einem gewaltfreien, an innerer Stärke orientierten Raum gewährleisten würden, sondern eben diesen verlassen (siehe Werte-Dreieck; Lemme u. Körner, 2018). »Wenn wir uns klar machen, dass Leiblichkeit immer auch Räumlichkeit und Leibgedächtnis immer auch Raumgedächtnis ist, wird Raum nicht nur eine wirkungsvolle Umgebung, sondern auch Intervention« (van Kaldenkerken, 2018, S. 9). Diese Überlegung bestätigt, dass die Supervisorin im eigenen Vorgehen zunächst ihre eigene Präsenz im Vorgehen reflektiert und gleichzeitig quasi in einem Parallelprozess die Niveaus und Stufen der Handlungsfähigkeit der Supervisandinnen ermittelt und sichtbar macht. Ein solcher Prozess wird im Konzept der Neuen Autorität stets nachvollziehbar und transparent übermittelt. Daran zeigt sich zudem, dass Supervision sich für uns nicht ergebnisorientiert, sondern lösungsfokussiert darstellt. Der Lösungsfokus meint damit die Zielperspektive, die von den Supervisanden in der Supervision angestrebt wird und auf deren Weg der Realisierung der Supervisor ihnen hilft, und nicht primär ein funktionales Ergebnis, welches von jemandem Dritten möglicherweise gefordert wird. Dieser Gedanke mag für systemische Supervisorinnen selbstverständlich sein. Wir erleben allerdings gerade in psychosozialen Kontexten, dass Supervisionen wie die eigenen Handlungen darauf ausgerichtet werden, Ergebnisse im Sinne von Verhaltensänderung bei anderen Personen zu erwirken. So könnte auch eine diesen Beitrag lesende Supervisorin in die Versuchung geraten, über die Anwendung der verschiedenen vorstehend beschriebenen methodischen Ideen jeweils den Handlungsniveaus der Supervisandinnen angepasst zu intervenieren, ohne zu überprüfen, wie ihre eigene Präsenz in Bezug auf den Supervisionsprozess von ihr wahrgenommen wird. Dies würde im Konzept der Neuen Autorität bedeuten, selbst den Wahrnehmungsbezug zum supervidierten Prozess aus den Augen zu verlieren. Wir empfehlen die Selbstreflexion mit einzubeziehen, weil dadurch in der Regel das eigene Handeln umfangreicher und vielfältiger, letztlich auch stärker kontextbezogen bleibt.

Und was noch? Präsenz bzw. die Reflexion des Erlebens der Präsenzdimensionen ist unser Grundlagenmodell als Ausgangsposition für Supervision und andere Kontexte, in denen wir tätig sind. Unser Anliegen dieses Beitrags ist gewesen, diese sowohl als Grundlage der Selbstreflexion für das eigene Handeln im supervisorischen Prozess nutzbar zu machen als auch eine Möglichkeit der Ein-

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Arbeitsfelder in der Praxis

schätzung für Supervisandinnen zu beschreiben, in welcher Haltungs- und Handlungslage diese sich befinden, um entsprechend angemessen vorgehen zu können. Dabei haben wir vorrangig konfliktbezogene und emotionale Handlungseinschränkungen betrachtet, die das Reflexions- und damit das Handlungsniveau schon physisch erklärbar einschränken. Entsprechend können methodische Optionen umgesetzt werden. Durch dieses zunächst schlicht wirkende und doch komplexe Vorgehen können intensive Resonanzräume der Entwicklung im Rahmen von Supervision entstehen, was wir so immer wieder erlebt haben. Supervision ist letztlich ein zirkulärer, wechselwirkungsbedingter Prozess, der nur bedingt zu steuern ist. Die bestmöglichen Einflüsse sind aus unserer Sicht vor allem durch die Wahrnehmung der eigenen Präsenz und der damit verbundenen Haltungs- und Handlungsaspekte möglich. Durch die Aufstellungsansätze wird schon seit langer Zeit ein erlebensorientiertes Verfahren in Supervisionen eingesetzt. Dabei wird allerdings in der Regel der Prozess zwischen den Supervisorinnen und deren Klienten oder Kundinnen bzw. deren Projekt fokussiert. Wir gehen davon aus, dass es zunehmend an der Zeit ist, die Präsenz und die daraus folgenden Möglichkeiten des Supervisors in den Supervisionsprozess mit einzubeziehen. Gelingende Supervision wird sich sehr häufig daran orientieren, wie und in welcher Form die Supervisorin im Prozess erlebt wird, wie sie selbst wirksam wird, welche Präsenz sie zeigt. Wir können also einen doppelten Prozess beschreiben, der offensichtlich Wechselwirkungen aufeinander hat, wie in diesem Beitrag dargelegt wurde. Im Rahmen von regelmäßiger Supervision und damit erwünschter Qualitätssicherung haben wir allerdings auch festgestellt, dass ein Team in die Gefahr geraten kann, sich desto weniger auf Supervisionsprozesse einzulassen, je selbstverständlicher diese möglicherweise sind. So haben wir erlebt, dass im Rahmen von Supervisionen mindestens einige Teammitglieder anwesend waren, die kein eigenes Reflexionsanliegen formulieren konnten. In der Durchführung und auch Vereinbarung von Supervision bleibt demnach für uns die Frage im Vordergrund: Wem oder was dient die Supervision? Wofür ist diese gut? Manchmal, so scheint es uns, gerät Supervision (durchaus ebenso wie Beratung, Coaching und Psychotherapie) in die Gefahr, eine vorgegebene Funktionalität wiederherzustellen, die möglicherweise nicht kompatibel mit den festgestellten Handlungsniveaus bzw. Stufen der Wachsamen Sorge eines Teams oder eines Supervisanden ist. An dieser Stelle wird die Supervisorin möglicherweise zunehmend gesellschaftspolitisch aktiv oder mindestens achtsam sein müssen. Bei Nichtbeachtung wäre wohl die Gefahr vorhanden, selbst Anteil zu haben an einer Wiederherstellung von angestrebten Zuständen, die den Interessen der beteiligten Menschen zuwiderläuft. Dies wäre aus unserer Sicht

Präsenz und Resonanz in Supervision

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ein Verlust von Würde in der Supervision. Eine entsprechende Positionierung, eine einseitige Maßnahme oder eine Intervention im Sinne des Werte-Dreiecks wären dann möglicherweise erforderlich. Angeregt durch van Kaldenkerken (2018) stellt sich für uns auch noch die Frage, was denn eigentlich passieren könnte, wenn die gesellschaftliche Entwicklung sich funktionaler und schneller entwickelt, als es die Möglichkeiten der Neuroplastizität, der menschlichen Leibbegrenztheit und seinen Möglichkeiten möglich machen. Die Reflexion der eigenen Präsenz könnte dann schlimmstenfalls zur Resignation und Selbstaufgabe führen, da wir dann möglicherweise unsere Grenzen besonders intensiv erleben. Und welche Aufgabe hätte dann in diesem Kontext eine Supervision? Somit hat Supervision wohl auch einen gesellschaftspolitischen Auftrag, wenn sie sich so versteht, wie sie hier beschrieben ist. Die Reflexion der Prozesse in Beratung und Supervision hat somit schon jetzt eine präventive Bedeutung. Je nachdem, ob wir uns noch auf der ersten oder schon auf der zweiten Stufe der Wachsamen Sorge bzw. noch auf der Problem-/Aufgaben- oder doch schon auf der Konfliktebene befinden: Es hat offensichtlich Sinn, komplexe Erfahrungspotenziale in die Supervision mit einzubeziehen und sich selbst auch als Teil der Intervention und der Möglichkeiten (wieder) zu verstehen. Literatur Asen, E. (2013). So gelingt Familie. Hilfen für den alltäglichen Wahnsinn. Heidelberg: Carl-Auer. Bohne, M. (2011). Bitte Klopfen! Anleitung zur emotionalen Selbsthilfe (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Bohne, M. (Hrsg.) (2016). Klopfen mit PEP. Prozess- und Embodimentfokussierte Psychologie in Therapie und Coaching (3. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Omer, H. (2015). Wachsame Sorge. Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Porges, S. W. (2010). Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Paderborn: Junfermann. Porges, S. W. (2018). Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit. Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Lichtenau/Westf.: G. P. Probst. Rosa, H. (2018a). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (2. Aufl). Berlin: Suhrkamp. Rosa, H. (2018b). Unverfügbarkeit. Ein fundiertes Plädoyer für eine Gesellschaft, die der Verfügbarkeit der Welt Grenzen setzt. Aus der Reihe »Unruhe bewahren«. Salzburg: Residenz. van Kaldenkerken, C. (2014). Wissen was wirkt. Modelle und Praxis pragmatisch-systemischer Supervision. Hamburg: tredition. van Kaldenkerken, C. (2018). Embodiment und Supervision. Überblick, Ansätze und Relevanz für Supervision. Supervision – Zeitschrift für Beraterinnen und Berater, 36 (3), 4–11. Weinblatt, U. (2016). Die Nähe ist ganz nah! Scham und Verletzungen in Beziehungen überwinden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Weinblatt, U. (2009). Unveröffentlichtes Seminarmanuskript. Materialien – erhältlich bei SyNA creativ: www.neueautoritaet.de Bruno Körner und Martin Lemme (2018). Neue Autorität – Haltungs- und Handlungsaspekte 2.0. Bruno Körner und Martin Lemme (2018). Präsenzkarten als Waben-Set. Bruno Körner und Martin Lemme (2018). Therapeutisch-pädagogischer Leitfaden zum Vorgehen im Konzept der Neuen Autorität.

2.9 Neue Autorität und Führung in Unternehmen Frank Baumann-Habersack

Mit der Veröffentlichung der ersten Auflage von »Mit neuer Autorität in der Führung« im Jahr 2015 übertrug ich das Konzept von Haim Omer und Arist von Schlippe systematisch und umfassend auf den Führungskontext. Auch wenn Autorität und Führung, insbesondere im wirtschaftlichen Kontext, immer wieder einmal Themen für Bücher waren, blieb es ein Randthema – obgleich es den Kern der Wirksamkeit von Führung ausmacht. Doch durch die sogenannte digitale Transformation unserer Gesellschaft, in der es u. a. um vernetzte, transparente und gleichwertige Zusammenarbeit geht, bekommt das Thema eine zentrale Bedeutung. Auch wenn vielen Menschen das noch überhaupt nicht klar ist. Denn in einem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld, welches sich schnell sowie unvorhersagbar ändert, braucht es Menschen in Organisationen, die sich ebenfalls schnell und vor allem kreativ daran anpassen können. Bisherige sogenannte »Best practice«-Fälle, also in der Vergangenheit erfolgreiche Handlungsmuster, lassen sich, wenn überhaupt, nicht mehr einfach auf ein gegenwärtiges oder gar zukünftiges Problem übertragen. Der Grund: Das Umfeld, in dem das Handlungsmuster früher erfolgreich war, gibt es so immer weniger. Und viele erfolgreiche Handlungsmuster in der Vergangenheit beruhten auf der einen kongenialen Führungskraft mit einem »Super-Gehirn«, die einen perfekten Plan ausbrütet, Anweisungen erlässt, Gehorsam erwartet und die Ausführung kontrolliert. Über- und Unterordnung, Anweisung, Gehorsam, Ausführung, Kontrolle und Bestrafung oder Belohnung sind die Grundmuster dieser traditionellen Form von Autorität – und damit auch von Führung. So liegt es sehr nahe, dass bei den heutigen wie den zukünftigen Anforderungen die traditionelle Autorität nicht mehr wirksam sein kann. Autorität, so sie denn zu Wirksamkeit führen soll, ist neu zu denken. Die neue, horizontale Autorität in der Führung scheint die Antwort auf die Frage zu sein, wie Führung im 21. Jahrhundert gelingen kann – in einer digitalen, vernetzten, sich schnell und unvorhersagbar verändernden Wissens-

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Arbeitsfelder in der Praxis

gesellschaft. »Horizontal« drückt damit eine Haltung der Gleichwertigkeit aus, unabhängig von der Hierarchieposition. Diese neue Haltung zu Autorität lässt sich in sieben Elemente gliedern.

Die sieben Elemente der Neuen Autorität in der Führung Tabelle 1 zeigt die Elemente zunächst in einer einfachen Gegenüberstellung. Jedes dieser Elemente der neuen, horizontalen Autorität erkläre ich im Anschluss ausführlicher. Tabelle 1: Die sieben Elemente der Neuen Autorität Traditionelle, autoritäre (alte) Autorität

Zukunftsgerichtete, horizontale (neue) Autorität

Belastete Beziehungen und Distanz

Präsenz

Misstrauen und Kontrolle

Selbstführung

Vereinzelung und Konkurrenz

Führungskoalition

Sanktionen und Strafen

Wiedergutmachung/Ausgleich und Verzeihung

Intransparenz (Entscheidung, Vorgehen)

Transparenz

Handlungsdruck und Eskalation

Beharrlichkeit und Deeskalation

Andere müssen sich verändern

Reflexion

Element 1: Präsenz Wichtigster Hebel für eine neue Haltung zu Autorität ist die Präsenz einer Führungskraft. Präsenz ist gerade für Führungskräfte eine entscheidende Anforderung, weil sie zwei wichtige Themenfelder berührt: •• Die ethische Verantwortung: Führungskräfte, die sich für ihre Mitarbeiterinnen interessieren, beziehen sich in der Interaktion nicht mehr nur auf ihre Funktionsautorität (potestas), sondern auf die Verantwortung, der sie durch Übernahme ihrer Position zugestimmt haben. •• Die persönliche Involviertheit: Einer für die Ziele des gesamten Unternehmens eintretenden Führungskraft ist es persönlich wichtig, dass ihre Mitarbeiterinnen sich weiterentwickeln und gute Arbeit leisten. Sobald beides vorhanden ist, entsteht ein hohes Maß an Präsenz. Präsenz lässt sich noch weiter differenzieren (vgl. Crone, Girolstein u. Quistorp, 2010, S. 50 f.;

Neue Autorität und Führung in Unternehmen

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Omer u. von Schlippe, 2016, S. 35) in Präsenz in der Interaktion, innere Präsenz und systemische Präsenz. Viele Unternehmen mit mehrfachen Matrix-Strukturen (disziplinarische Führungskraft, fachliche Führungskraft, weitere »Dotted line«-Berichtslinien, Projektleitung usw.), aber auch vernetzte Organisationen halten durch die geringe persönliche Anwesenheit der Führungskräfte die Beziehungen zu den Mitarbeiterinnen über Distanz aufrecht – auch wenn das bewusst sicher nicht das Ziel ist. Es ist ein Nebeneffekt, der sich durch diese Organisationsstrukturen bildet und der dysfunktional auf die Präsenz wirkt. Richard Sennett beschreibt eine weitere, sehr subtile Form von autoritärer Führung, die sich insbesondere in unserer Wissensgesellschaft weiter etabliert hält. Es geht um ein Führungsverhalten, das sich über zur Schau gestellte Autonomie bildet. Damit sind Führungskräfte gemeint, die zwar oberflächlich gesehen an ihren Mitarbeitern interessiert sind, die aufgeschriebenen Unternehmensleitlinien eines Miteinanders vordergründig erfüllen und auch körperlich präsent auftreten. Ihnen fehlt aber eine wirkliche emotionale und persönliche Bindung, eine echte, nicht paternalistische Fürsorge für die Menschen. Ihr Hauptinteresse gilt eher ihrem eigenen Fortkommen und ihrer Autonomie als einer erfüllenden Zusammenarbeit. So kann eine Führungskraft sich von ihren Mitarbeiterinnen und deren Anerkennung abkoppeln und die anderen dies auch spüren lassen, in dem Sinne: »Ich brauche euch nicht. Ihr seid mir egal!« Diese Haltung kippt allerdings schnell in Kälte und Distanz um. Denn der ethischen Verantwortung wird zwar Genüge getan, es fehlt aber die persönliche Involviertheit (vgl. Sennet, 2008). Solches Verhalten einiger Führungskräfte lässt sich nicht nur aus einer individuellen Perspektive erklären. Viele Führungskräfte werden auch durch autoritäre, strukturelle Kontextfaktoren, z. B. individuelle Bonussysteme oder abgrenzende Karriereprogramme, eingeladen, sich zu solchem Verhalten verführen zu lassen. Unsere kulturellen Verhältnisse haben sich heute so weit gewandelt, dass eine Führung aus der Distanz, so wie es im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert der Gepflogenheit entsprach, heute vielerorts gar nicht mehr möglich ist: »Wer heute versucht, die Distanz zu wahren, handelt nicht wie eine Person, deren erhöhter Status selbstverständlich ist, sondern wie jemand, der sich vor Statusverlust schützen will« (Omer u. von Schlippe, 2010, S. 42). Autorität und der damit verbundene Respekt entwickeln sich aus Nähe, Interesse und Fürsorge. Wenn beziehungsgestaltende Führungshandlungen berechenbar, erkennbar und nachvollziehbar sind, dann entwickelt sich auf der Beziehungsebene ein Gefühl der Sicherheit bei den Mitarbeiterinnen.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Auf menschlicher Ebene gestaltet sich eine Arbeitsbeziehung prinzipiell unabhängig von den Inhalten oder den Ergebnissen. Sie führt dann zum gemeinsamen Erfolg, wenn sie wertschätzend, konstant und sogar fördernd ist. Idealerweise vergrößert die Führungskraft gezielt die Autonomie von Mitarbeiterinnen, damit diese sich persönlich weiterentwickeln und auf einer gleichwertigeren Ebene Nähe zur Führungskraft aufbauen können. »Zusammenarbeit wird nicht mehr als Gehorsam erlebt, sondern als Wahlmöglichkeit« (Omer u. von Schlippe, 2010, S. 46). Das heißt nicht, dass niemand gute Arbeitsergebnisse anstrebt. Erfolg ist auch erfüllend und stärkt das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Die Maßstäbe der ethischen Verantwortung und der persönlichen Involviertheit werden jedoch auch auf der Seite der Mitarbeiterinnen angelegt. Die Präsenz der Führungskraft entsteht dadurch, dass sie sich mit ihren Werten und inneren Überzeugungen gegenüber einer Mitarbeiterin als Beziehungspartnerin positioniert und die unausgesprochene Botschaft als Haltung vermittelt: »Wie auch immer du dich verhältst, ich bin zwar deine Chefin, aber wir arbeiten gemeinsam an demselben Ziel.« Dazu kommt ihre Fähigkeit, nicht nur Nähe anzubieten, sondern auch selbst Nähe auszuhalten, auch und gerade in konflikt- oder krisenhaften Kommunikationssituationen. Präsenz meint, dass sich eine Führungskraft aktiv beteiligt, dass sie sich mitverantwortlich fühlt für Ergebnisse, dass sie sich interessiert einmischt und sich immer wieder als konstruktive »Reibefläche« anbietet. In der Praxis wird dem jedoch oft entgegengehalten: •• Keine räumliche Nähe, keine Zeit. In Organisationen, in denen die Führungskräfte entweder räumlich extrem weit von ihren Mitarbeiterinnen entfernt sitzen oder in denen die Führungskräfte so überlastet sind, dass sie zeitlich gar nicht in der Lage sind, Nähe zu zeigen, kommt das Prinzip der Präsenz an seine Grenzen. Eine Lösungsmöglichkeit sehe ich darin, diesen Aspekt auf mehrere Menschen zu verteilen – z. B., indem man sie an die Basis delegiert (rotierende Führung), Projektleiterinnen ernennt oder in ganz neuen Arbeitsformen wie Scrum oder in neuen Organisationsformen wie Soziokratie denkt. •• Erdrückende Nähe, falsche Rolle. In Unternehmen kommt es nicht selten zu Fällen von erdrückender Nähe: Es gibt sie, die Chefinnen, die sich auf Fachebene in jede »Schraubenfrage« einmischen, die überall im Weg stehen, die wertvolle Arbeitszeit damit verschwenden, mit ihren Mitarbeiterinnen inhaltsleere »Führungsgespräche« zu führen. Hier gilt die Empfehlung »Mehr Präsenz zeigen« auf eine andere Weise. Es muss erst einmal die eigene Führungsrolle präzise und professionell verstanden werden, um zu erkennen, was Nähe bedeuten soll. Präsenz heißt

Neue Autorität und Führung in Unternehmen

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hier zuallererst, als Führungskraft den Mitarbeiterinnen sicht- und fühlbar Verantwortung zu lassen. •• Strukturelle, unbeeinflussbare Veränderungen. Eigentlich gehört zu der unausgesprochenen Botschaft, mehr Präsenz zu zeigen, auch noch hinzu: »Was auch immer passiert, ich bleibe deine Chefin.« Diese Haltung können Führungskräfte in den meisten Organisationen allerdings nicht (glaubwürdig) einnehmen (außer vielleicht die Eigentümerinnen von Familienunternehmen, wenn sie operativ tätig sind), da es nicht in ihrem Einflussbereich liegt, wie lange sie in einem Unternehmen bleiben oder nicht. So könnte es sein, dass sie »reorganisiert«, also einfach versetzt oder entlassen werden. Element 2: Selbstführung Führung konzentrierte sich in den Vorstellungen einer traditionellen, autoritären Haltung gern darauf, dass jemand anderes über Kontrolle gelenkt werden müsse. Ein Kind hatte zu gehorchen, eine Mitarbeiterin das zu tun, was ihr aufgetragen wurde. Punkt. Dies führte und führt zu zahlreichen Frustrationen, denn mein Gegenüber ist prinzipiell immer ein freier, von mir unabhängiger Mensch. Es steht nicht in meiner Macht, sie wie eine Marionette zu führen. In der Vergangenheit wurden zahllose »Tools« entwickelt, mit denen Führungskräfte versuchten, diese Kontroll-Kluft zwischen Führender und zu Führender zu überwinden. Zumeist vergeblich. Statt aber das sinnlose Unterfangen der Führung via Kontrolle aufzugeben, verstärkten viele ihre Bemühungen – um das Ausbleiben des Erfolgs dann als eigenes Scheitern zu erleben. Kontrolle sichern

Traditionelle Führungsansätze setzen auf Kontrolle und Gehorsam – und deren Vertreterinnen können sich auch nichts anderes vorstellen, um sich selbst zu behaupten. Wenn eine Mitarbeiterin den Anweisungen der Chefin nicht folgt, erlebt diese das als Kontroll- und Autoritätsverlust. Oder sie entwickelt die Fantasie, dass dies drohen könne, wenn sie nicht »sofort durchgreift«. Jedes Infragestellen des eigenen Führungsverhaltens seitens der Mitarbeiterinnen wird als Berechtigung zur Bestrafung interpretiert. Deshalb schränkt eine Führungskraft alter Schule im Sinne einer vorweggenommenen Konsequenz die Autonomie ihrer Mitarbeiterinnen kontinuierlich ein, z. B. durch Kontrollstrukturen. Oder sie verhängt sofort Sanktionen oder droht diese zumindest an. Auf diese Weise versucht eine Vertreterin der traditionellen, autoritären Führung, ihre Autorität zu stärken. Tatsächlich aber löst sie auf der Beziehungsebene

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Arbeitsfelder in der Praxis

bei den Mitarbeiterinnen eher Ablehnung aus. Diese fühlen sich verunsichert und gehen auf Distanz. Dadurch gewinnt die Führungskraft weder Macht noch wird ihr Autorität zugeschrieben. Vielmehr legt sie sich gewissermaßen selbst Fesseln an. Sie beschränkt sich auf die Position der strengen Anweiserin und argwöhnischen Kontrolleurin ihrer Mitarbeiterinnen, immer aus der Angst heraus, dass diese bei Nachlassen der Überwachung »sofort auf den Tischen tanzen«. Starke Führungskräfte kontrollieren sich selbst

Die Vertreterinnen einer neuen, horizontalen Autorität in der Führung verzichten auf Kontrolle und Gehorsam. Stattdessen versuchen sie konsequent, nur über Selbstkontrolle zu führen. Dahinter steht die Überzeugung, dass das Verhalten einer Mitarbeiterin nur irritiert und inspiriert, niemals jedoch wirksam kontrolliert werden kann. Die Führungskraft agiert aus der Verantwortung heraus, sowohl für die einzelne Mitarbeiterin als auch für das Gesamtunternehmen, also für die Gemeinschaft aller Mitarbeiterinnen und die gemeinsamen Unternehmensziele. Sie kann deshalb nicht nur, sondern sie muss Entscheidungen treffen, Grenzen ziehen, Leistung einfordern – im Sinne der unternehmerischen Ziele. Von willkürlichen Entscheidungen kann dann nicht die Rede sein. Sobald sich die Führungskraft auf ihre Verantwortung besinnt und ihr eigenes Verhalten hinterfragt, gewinnt sie Freiheit. Sie ist dann nicht mehr gefangen im Hin und Her zwischen Anordnen, Kontrollieren und Bestrafen. Stattdessen stößt sie Prozesse an, zeigt Notwendigkeiten auf und beharrt darauf, dass Leistung entsprechend den Vereinbarungen erbracht wird. All das geschieht nicht, um ihre Macht zu demonstrieren, sondern weil nur so der Erfolg des Unternehmens möglich wird. Jedes Unternehmen ist sofort produktiver, wenn Führungskräfte sich nicht auf ihre eigene Ehre, ihren Stolz und auf den Sieg über ihre Mitarbeiterinnen fokussieren, sondern auf das, wofür sie bezahlt werden: Rahmenbedingungen zu schaffen, zu ermutgen und zuzulassen, dass Ziele erreicht werden. Um auf diesen Kurs zu kommen und dort zu bleiben, braucht es ein hohes Maß an Impulskontrolle, an Selbstbeherrschung. Element 3: Führungskoalition Dieses Element ist in Organisationen am schwierigsten umzusetzen. Der Prozess ist auch sehr langwierig, denn vielerorts arbeiten Führungskräfte eher gegeneinander als miteinander. Haim Omer und Arist von Schlippe beschreiben eindrucksvoll, dass in der

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Erziehung gerade die Einbeziehung der Öffentlichkeit und die Vernetzung von Eltern, Schule, Jugendamt sowie Freundinnen dazu führen können, dass sich schwierig verhaltende Jugendliche wieder in ihr Umfeld integriert werden. Dies setzt aber bei allen Unterstützerinnen Wohlwollen und den Willen zur Kooperation mit und für die Jugendlichen voraus. Genau diese Haltung gibt es jedoch in den typischen Unternehmen der westlichen Welt zumeist nicht. Viele Führungskräfte kooperieren gerade aus taktischen Gründen nicht miteinander, weil sie sich immer auch in einem Konkurrenzverhältnis zueinander sehen. Viele kämpfen schließlich täglich gegeneinander um Budgets, Personal und andere Ressourcen. Die Vertreterinnen einer traditionellen, autoritären Führung lassen somit eine wichtige Ressource ungenutzt: den Schulterschluss mit anderen Führungskräften. Status legitimiert Macht

In den Unternehmen, die sich intern stark auf vertikale Hierarchien und Machtdynamiken fokussieren, gibt es tendenziell keine Koalitionen unter Führungskräften. Stattdessen greift die typische Führungskraft in Diskussionen immer auf die Funktionsmacht ihrer Autoritätsposition (potestas) und auf ihren durch die nächsthöhere Position verliehenen Status als Mittel zur Durchsetzung zurück. Tauchen Probleme auf, handelt sie im Alleingang. Der Grund: Wer um Hilfe bittet, gilt in einer solchen Führungskultur als schwach. In meiner Praxis erlebe ich es immer wieder, dass Koalitionen unter Führungskräften sogar von der Geschäftsleitung bewusst gestört und unterbunden werden. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Solidarisch verbundene Führungskräfte können das hierarchische Machtgefüge in einem Unternehmen leicht destabilisieren. Als Konsequenz werden Führungskräfte nicht nur auf der mittleren Ebene regelmäßig ausgetauscht, nicht selten völlig unvorbereitet, wobei die Hintergründe der Personalentscheidungen vielfach intransparent bleiben. Diese Willkür erzeugt sowohl bei den Mitarbeiterinnen an der Basis als auch bei den Führungskräften auf den mittleren Ebenen das Gefühl, der Macht der Unternehmensleitung hilflos ausgeliefert zu sein. Das Gleiche gilt aber auch eine Ebene höher für Vorstände und Aufsichts- bzw. Verwaltungsräte. Die Stärke der Kooperation

Unternehmen, deren Führungskräfte nach den Prinzipien der neuen, horizontalen Autorität führen, agieren bewusst im Verbund mit anderen Führungskräften. »Im Gegensatz zur Autorität früherer Zeiten betrachtet sich die Vertreterin der neuen Autorität nicht mehr als einsame Führungskraft, die über

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Arbeitsfelder in der Praxis

ihre Untergebenen herrscht, sondern als Mitglied einer Arbeitsgemeinschaft, die Stärke und Legitimität aus der gegenseitigen Unterstützung schöpft« (Omer u. von Schlippe, 2010, S. 52). Wer sich in einen Führungskreis eingebunden fühlt, dem fällt es viel leichter, bestimmte Werte und die Ausrichtung auf bestimmte Ziele gegenüber seinen Mitarbeiterinnen einzufordern. Kollegialität, der Schulterschluss mit Gleichgesinnten, schafft Sicherheit und ein Gefühl der Rückendeckung. Ist potestas nur eine leblose Amtsgewalt, die sich aus einer bürokratischen Struktur ergibt, so verbinden sich in einer Führungskoalition die innere Verpflichtung und die persönliche Involviertheit jeder einzelnen Führungskraft zu einer enormen Stärke – zu echter, zu neuer Autorität, die in ihrer Wirkung meilenweit über die zuweilen sinn- und herzlose potestas hinausreicht. In einem solchen Gefüge müssen Mitarbeiterinnen nicht mehr gezwungen werden, sich einer Führungskraft unterzuordnen. Sie fügen sich vielmehr freiwillig in die Gemeinschaft ein, folgen den gemeinsamen Regeln und Zielen – aus Überzeugung. Entscheidungen werden in Bezug zum jeweiligen Ziel transparent gemacht. Element 4: Wiedergutmachung/Ausgleich und Verzeihung Eine neue, horizontale Autorität lehnt Bestrafung ab. Für viele Führungskräfte ist das schwer vorstellbar. Anfangs auch für mich, immerhin gehöre ich selbst noch zu einer Generation, in deren Kindheit Ohrfeigen, In-der-Ecke-Stehen und Stubenarrest zu den normalen Erziehungsmethoden zählten. Omer und von Schlippe sprechen sich konsequent gegen solche Maßnahmen aus und stellen an die Stelle der Sanktion die Wiedergutmachung. Ziel dieses Wesenszuges sei es, ineinander verbissene Kontrahentinnen voneinander zu lösen: »Versöhnungsgesten […] dienen dazu, die verfestigten Erwartungen der Konfliktpartner, die als ›feindselige Wahrnehmungsfelder‹ […] in die Dynamik selbsterfüllender negativer Prophezeiungen hineinführen, aufzuweichen« (Omer u. von Schlippe, 2009, S. 248). Wiedergutmachung können auch Führungskräfte selbst leisten. Dabei geht es um eine selbst erbrachte und nicht gekaufte Leistung als Geste, sich wieder in die Gemeinschaft zu integrieren. Da Menschen und damit auch Gruppen sehr unterschiedlich sind, gilt es, die Geste zu finden, die zu den Menschen und zur Kultur im Unternehmen passt. Und natürlich soll sie auch zur Persönlichkeit derjenigen passen, die die Wiedergutmachung leistet. Alles andere ist unglaubwürdig und erreicht nicht die gewünschte Wirkung.

Neue Autorität und Führung in Unternehmen

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Sanktionen demotivieren

In traditionell hierarchisch organisierten und autoritär (aber kooperativ verpackt) geführten Unternehmen werden Mitarbeiterinnen – ich formuliere es absichtlich martialisch – bei Sanktionen häufig öffentlich »an die Wand« gestellt. Im Normalfall holt die Führungskraft zu einem Vergeltungsschlag via Strafversetzung aus. Die Palette reicht vom Mobbing oder der Missachtung über öffentliche Demütigung bis zu einer internen Isolierung durch den Ausschluss aus informellen Zirkeln. Boni werden gestrichen, vielleicht folgt sogar eine Kündigung. In schweren Fällen hat die Betroffene einen solchen Gesichtsverlust erlitten, dass sie sich intern wie extern nicht mehr rehabilitieren kann. »Als alltägliche Form von Bestrafung hat das Schamgefühl in den westlichen Gesellschaften den Platz der Gewalt eingenommen«, stellt Richard Sennett eine treffende Diagnose (Sennett, 2008, S. 125). Beschämung ist im Sinne der autoritären Führung die stärkste und (indirekt) legitimierte Form der Bestrafung. Sind Mitarbeiterinnen jedoch Beschämungen und Erniedrigungen wiederholt ausgesetzt, kann das Gefühl verloren gehen, überhaupt noch eine eigene Würde zu haben (vgl. Baer u. Frick-Baer, 2008). Die Mitarbeiterin fühlt sich klein, die Führungskraft wirkt dadurch größer und mächtiger. Die Folge: Die Beziehungsebene wird gestört oder sogar nachhaltig beschädigt. In einem autoritären System ist die Führungskraft die Vollstreckerin von Konsequenzen. Es gibt keine (öffentlichen) Anzeichen von Versöhnung von ihrer Seite. Manchmal sogar das Gegenteil: Fehlverhalten wird noch Jahre später »aufgewärmt«, z. B. über Einträge in Personalakten. Versöhnung setzt Energien frei

Ganz anders sieht es in Unternehmen aus, die nach den Prinzipien der neuen, horizontalen Autorität geführt werden. Auch wenn einer Mitarbeiterin ein Fehler unterläuft – sei es bewusst oder versehentlich –, wird diese nicht bestraft, nicht ausgegrenzt. Vielmehr erhält sie die Chance, den entstandenen Schaden »wiedergutzumachen« und sich auf diese Weise in der Gemeinschaft zu rehabilitieren. Das heißt: Auch wenn das Fehlverhalten nicht toleriert wird, bleibt die Beziehung zur Mitarbeiterin positiv. Die Führungskraft ist nur Begleiterin und Unterstützerin der Mitarbeiterin in der Phase des Schadensausgleichs. Sie zeigt auch öffentlich Gesten der Wertschätzung, um die Beziehung zu stärken, und behält damit ihre Position als Repräsentantin des Unternehmens und wohlwollende »Hüterin« der Gemeinschaft sowie der Unternehmensziele. In dieser Position der Stärke hat sie es nicht nötig, vergangene Fehler immer wieder zu thematisieren. Ihre Aufgabe liegt vielmehr darin, die blockierten Energien der Mitarbeiterinnen freizusetzen.

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Arbeitsfelder in der Praxis

In den Jahren der Arbeit mit dem Konzept der Neuen Autorität in der Führung hat sich zumindest in Wirtschaftsunternehmen immer mehr gezeigt, dass das Wort »Wiedergutmachung« zu Irritationen führt. Mittlerweile spreche ich von »Ausgleich sozialer Konten«. Element 5: Transparenz In einer Unternehmenskultur, in der das Aufdecken von Fehlern anderer ein Karrierebeschleuniger ist, kann der Wunsch nach Transparenz nicht Wirklichkeit werden. Das Gleiche gilt für Strukturen, in denen sogenannte »Abteilungssilos« einen Vorteil daraus ziehen, Informationen vor anderen Abteilungen zurückzuhalten. Etwa weil ein Informationsvorsprung zu einem höheren Budget im Folgejahr führt, weil weniger Mitarbeiterinnen entlassen werden müssen – oder sei es nur, weil die »Silo-Chefin« durch den Informationsvorsprung ihren Vertrag verlängert bekommt … Mangelnde Transparenz liegt häufig auch in der starken tayloristischen Fragmentierung von Organisationen begründet, die die Menschen seit der Industrialisierung sozialisiert hat. Sie wurden darauf gepolt, nur auf ihren unmittelbaren Arbeitsbereich zu schauen. Und wessen Fehler durch Transparenz erzeugende Systeme aufgedeckt wurde, sah sich früher oder später damit konfrontiert, mit einer »Ersatzinvestition« durch eine nachfolgende »Humanressource« ersetzt zu werden. Im Zeitalter der digitalen Transformation, wo alles miteinander vernetzt wird, was vernetzt werden kann, gelten die Regeln von vernetzter Software: Unter anderem braucht jedes Systemelement zu jeder Zeit transparenten Zugriff auf alle Informationen. Sonst funktionieren sich selbst steuernde und lernende Systeme nicht. Durch die Vernetzung von »Maschine« und Mensch werden die Regeln der Software auch zu sozialen Regeln. Erst dann ist das Gesamtsystem wirksam. Das bedeutet für Transparenz: Alle Informationen müssen für alle Beteiligten verfügbar sein. Dass das keine theoretische Überlegung ist, weiß jede, die schon erfolgreich mit agilen Arbeitsformen wie Scrum, Kanban oder Design Thinking gearbeitet hat. Denn eines der zentralen Erfolgskriterien dieser Methodiken ist schnelles Lernen aus Fehlern – u. a. durch Transparenz. Fehlervertuschen als Zeichen der Angst

In autoritär geführten Unternehmen gehört es zum Alltag, dass Führungskräfte alle Fehler, eigene oder diejenigen von Mitarbeiterinnen, schnell vertuschen. Denn sind die Missstände erst einmal bekannt, muss nach der traditionellen

Neue Autorität und Führung in Unternehmen

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Führungslogik eine Schuldige ausfindig gemacht und abgestraft werden. Die Führungskraft jedoch, die öffentlich sanktioniert wurde, verliert in diesem System ihre Autorität. Darüber hinaus steigt der Druck auf die Führungskräfte, wenn ihre Wertschätzung ausschließlich über ihr Fachwissen definiert wird. Jede falsch bestellte Schraube führt dann unweigerlich zu einem gefühlten Autoritätsverlust. Dieser Druck wird in der Wissensgesellschaft künftig weiter steigen, da Führungskräfte längst keinen Wissensvorsprung mehr vor ihren Mitarbeiterinnen haben. Eine Wertschätzung, die nur dem größten Fachwissen gezollt wird, ist lediglich ein Aspekt von Autorität und wird für Führungskräfte in Zukunft zum einen immer mühsamer zu erringen sein, zum anderen verliert sie an Relevanz. Transparenz als Zeichen gemeinsamer Verantwortung

Fehler werden unter der Führung einer neuen, horizontalen Autorität als Chancen verstanden, gemeinsam weiter zu lernen. Es unterbleiben die Schuldsuche oder die Beschämung. Genau das verleiht Führungskräften jedoch Autorität: Wer auch in schwierigen Situationen bereit ist, Präsenz zu zeigen, wer Verantwortung übernimmt und dabei das Gewicht seiner ethischen Verpflichtung wie auch seiner persönlichen Involviertheit voll in die Waagschale wirft, der verfügt mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Augen seiner Mitarbeiterinnen über Stärke. Weil (Fach-)Wissen in einem solchen System nur noch als eine mögliche Quelle der Wertschätzung gilt, relativiert sich dessen Bedeutung. Eine fachliche Fehleinschätzung führt nicht gleich zum Verlust der Autorität. Im Gegenteil, wer offen mit seinen Fehlern umgeht, stärkt jene sogar. Unternehmen, die mit Transparenz auf allen Ebenen arbeiten, kommen nicht nur mit Fehlentwicklungen auf der Sachebene besser zurecht. Sie wissen auch, mit Herausforderungen im zwischenmenschlichen Bereich erfolgreich umzugehen. Bringt etwa eine Mitarbeiterin kontinuierlich nicht die erwartete Leistung, so wird diese nicht auf einem unbedeutenden Posten »geparkt« und dort quasi versteckt. Das Gleiche gilt für unterforderte Mitarbeiterinnen. Sie werden nicht mehr auf ihren Positionen beschwichtigt und auf bessere Zeiten vertröstet. Führungskräfte, die sich für Transparenz stark machen, haben keine Angst, ihre Probleme offenzulegen. Darin liegt eine große Chance für alle Beteiligten. So finden im Idealfall alle eine Position, auf der sie ihre Potenziale besser zum Wohle des Unternehmens und ihrer Entwicklung einbringen können. Der wichtigste Aspekt der Transparenz liegt allerdings darin, dass Mitarbeiterinnen ihren eigenen Beitrag zum Ganzen verstehen und somit Motivation durch Sinn entsteht.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Element 6: Beharrlichkeit und Deeskalation Wer aus dem Teufelskreis der Machtkämpfe aussteigen will, findet meiner Erfahrung nach einen echten Rettungsanker in den Prinzipien der Beharrlichkeit und der Deeskalation. Dahinter steht ein kompletter Perspektivenwechsel: Statt nach einem Fehltritt einer Mitarbeiterin sofort zum Vergeltungsschlag auszuholen, tut die Führungskraft erst einmal gar nichts Dramatisches. Sie bekräftigt lediglich ihre Position der Stärke (»Ich kann und will dieses Verhalten nicht akzeptieren, werde mich beraten und komme wieder auf Sie zu«) und bleibt auf der Beziehungsebene präsent sowie im Kontakt mit ihrer Gegenüber (hierbei wird deutlich, wie die einzelnen Elemente ineinander wirken). Im Sinne der Selbstführung konzentriert sich das Verhalten der Führungskraft (vgl. Omer u. von Schlippe, 2016, S. 71) •• nicht auf die Mitarbeiterin (»Sie müssen sich verändern!«), sondern auf sich selbst (»Ich bin nicht bereit, das länger hinzunehmen«), •• außerdem nicht auf das Resultat der Intervention (»Sie werden sich verändern!«), sondern auf die Intervention selbst (»Es ist meine Pflicht als Führungskraft, mich Ihrem Verhalten zu widersetzen«). Verzögertes Handeln als Zeichen von Schwäche

Nach den Vorstellungen der traditionellen Autorität operiert Führung auf der Zeitschiene nach dem Postulat der Dringlichkeit: »Unbotmäßigkeit und Provokation sind auf der Stelle zu vergelten. Verzögerung gilt als Schwäche« (Omer u. von Schlippe, 2009, S. 250). Dies führt zu Stress bei Führungskräften und damit meist zu überzogenen Reaktionen, bedingt durch starke Affekte. Im akuten Streit kommt es sogar dazu, dass die angedrohten Sanktionen im Sekundentakt verschärft werden: »Ich streiche Ihnen nicht nur X, sondern auch Y, und wenn Sie jetzt nicht sofort tun, was ich sage, dann streiche ich Ihnen auch noch Z.« In dieser Dynamik geht es nur noch darum, wer als »Siegerin« aus dem Streit geht. Tatsächlich erleiden in einem solchen Machtkampf regelmäßig beide Kontrahentinnen einen Gesichtsverlust – und die Beziehungsebene zwischen beiden wird erheblich gestört, wenn nicht sogar zerstört. Ziele erreichen mit Beharrlichkeit und Deeskalation

Omer und von Schlippe empfehlen, in einer brisanten, konfliktbeladenen Situation nicht sofort zu eskalieren, sondern vielmehr erst abzuwarten, bis die Emotionen wieder auf einem normalen Level angekommen sind und man wieder vernünftig miteinander sprechen kann: »Abwarten ist wichtig, impulsive

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Reaktionen können verwunden werden; das Streben nach Sieg wird durch die Haltung einer Präsenz mit langem Atem ersetzt …« (Omer u. von Schlippe, 2010, S. 250). Häufig wird hierbei das Bild gebraucht: Das Eisen schmieden, wenn es kalt ist – oder zumindest lauwarm, möchte ich hinzufügen. Mit dieser Haltung kann die Führungskraft in Ruhe und mit Blick auf die gemeinsamen Ziele die betroffenen Personen involvieren sowie sich auf ihre ethische Verpflichtung als Führungskraft besinnen. Außerdem positioniert sie sich (auch wenn das im Konzept der neuen, horizontalen Autorität nicht mehr an erster Stelle steht) auf diese Weise als sichere Repräsentantin des Hierarchiesystems (also in Bezug auf ihre potestas), sofern das in der Struktur und Kultur der betreffenden Organisation noch notwendig ist. Statt in einen Machtkampf einzusteigen, unterstreicht die Führungskraft also lediglich, dass ein bestimmtes Verhalten nicht toleriert wird – von ihr nicht und auch von der Führungskoalition sowie dem gesamten Team nicht. So markiert eine Führungskraft beharrlich und unbeirrt die gemeinsam definierten Grenzen. Und so können alle Beteiligten ihr Gesicht wahren. Die Führungskraft bleibt mit dieser Haltung in Führung und stützt ihre eigene Stärke, indem sie ankündigt, sich in Ruhe selbst nächste Schritte zu überlegen. Oder sich in schwierigen Fällen gemeinsam mit anderen Führungskräften zu beraten. Mithilfe des verzögerten Handelns erhält die Führungskraft Zeit für angemessene und umsichtige Lösungen – die Wahlmöglichkeiten steigen, der Stress sinkt. Zeit wird zu einer Quelle der Stärke. Element 7: Reflexion Dieser Aspekt ist im ursprünglichen Konzept von Omer und von Schlippe explizit nicht vorgesehen. Meine Erfahrung in der Praxis zeigt jedoch, dass er im Rahmen von Entwicklung unverzichtbar ist. Autorität entwickelt sich in einer Beziehung zwischen Menschen immer durch einen permanenten, nie endenden Verhandlungsprozess über Führung und Gefolgschaft. Eine solche Entwicklung kann jederzeit zum Stillstand kommen und sich verhärten, wenn sie nicht gezielt im Fluss gehalten wird. Insbesondere Unternehmensspitzen neigen dazu, bestimmte Vorstellungen über Autorität in Beton zu gießen (Stichwort »Corporate Architecture«) oder in Ritualen zu verfestigen. Im Kern soll dies dazu beitragen, nicht immer wieder neu über die Art der Führung verhandeln zu müssen, sondern langfristig sicherstellen zu können, dass der aktuelle Stil der Führung der Zielerreichung dient.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Doch eine fehlende Reflexion von aktuellen Führungsmustern und -verhaltensweisen kann schnell zum Nachteil für das Unternehmen werden. Bedingungen sowie Ziele wandeln sich ständig und erfordern oft ein ganz neues Führungsverhalten. Unbewegliche Vorgesetzte, die Führung nicht regelmäßig reflektieren, werden dann nicht nur zu einer autoritären Instanz, deren Werte »der Geschichte und der Zeit […] trotzen« sollen (Sennett, 2008, S. 24), sondern auch zum Bremsklotz der Unternehmensentwicklung. Autorität muss jedoch ein ständiger Such- und Verhandlungsprozess bleiben, auch wenn das Energie kostet. Nur so ist sie mit den jeweiligen Herausforderungen der globalen Wirtschaft, des lokalen Markts und der konkreten Mitarbeiterinnen immer wieder neu in Einklang zu bringen. Das gilt auch für das Konzept der neuen, horizontalen Autorität als Ganzes. Im Moment mag es hilfreich und passend sein. In ein oder zwei Dekaden ist es vielleicht schon wieder weniger nützlich, weil sich radikal vernetzte Mitarbeiterinnen ganz anders organisieren, als wir uns das heute vorstellen können. Aus den Erfahrungen mit »antiautoritären« Konzepten in den 1970er Jahren wissen wir jedenfalls, dass sich nicht jede neue Idee zum Thema »Autorität« bewährt. Eine kritische Begleitung und Reflexion neuer Experimente ist also jederzeit ratsam. Gerade vor dem Hintergrund der Geschichte Deutschlands ist es elementar wichtig, dass Führungskräfte ihre eigenen Erfahrungen mit Autorität reflektieren. Wer heute mit Mitte vierzig auf dem Höhepunkt ihrer Karriere steht, hat womöglich in ihrer Kindheit beides erlebt: Auf der einen Seite stand ein negativer Umgang mit Autorität durch die eigenen, noch von der Ära der autoritären Persönlichkeiten geprägten Eltern und Großeltern. Auf der anderen Seite wurde ein ebenfalls wenig hilfreicher Umgang mit Autorität durch Freundinnen der Eltern, Lehrerinnen oder Erzieherinnen praktiziert, die von radikal antiautoritären Konzepten überzeugt waren. Es liegt auf der Hand, dass eine Führungskraft mit einer solchen Vergangenheit Reflexionsbedarf rund um das Thema »Autorität« hat. Das Prinzip des »Weiter so«

Ein großes Problem der autoritären Führung besteht darin, dass deren Vertreterinnen sich schwertun, die eigene Haltung zu reflektieren und überhaupt infrage zu stellen. Es wird so geführt, wie »schon immer« geführt wurde. Dabei bleiben eigene Auffälligkeiten durch eine autoritäre Erziehung unerkannt – und so kann es unbewusst zu ungünstigen Dynamiken kommen. Entweder prägen Kämpfe um Macht und Dominanz mit den Mitarbeiterinnen den Alltag, wobei sich die Führungskraft in eine starre Position des »Immersiegen-­Müssens« manövrieren kann und dadurch ihre Wirksamkeit erheblich

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einschränkt. Oder es kommt zu Dominanzversuchen von unten. Mit immer neuen Forderungen wird die Führungskraft zur Dienstleisterin der eigenen Mitarbeiterinnen gemacht – und bemerkt dies nicht einmal, weil der verspürte Zwang gewohnt ist und nicht als solcher wahrgenommen wird. Die Befehle kommen diesmal allerdings nicht durch einen autoritären Vater, sondern von ähnlich gestrickten Mitarbeiterinnen. Führungskräfte der alten Schule sind sich auch nicht der Auswirkungen ihrer Haltung auf die Beziehung zu ihren Mitarbeiterinnen bewusst. Wenn Probleme auftauchen, richtet sich die Kritik ausschließlich an die jeweilige Mitarbeiterin. Die Führungskraft blendet eigene Anteile an der Gesamtsituation aus. In einem solchen Umfeld ist Führung an sich deshalb niemals Gesprächsthema. Fragen nach Emotionen in Bezug auf Nähe oder Distanz, Ängsten oder Unsicherheiten im Umgang mit der Führungskraft, nach Hoffnungen und Erwartungen der Mitarbeiterinnen werden als absurd abgetan (»Psychogeschwätz für Weicheier«), bagatellisiert oder im Keim erstickt. Ehrliche Reflexion verleiht Autorität

Im Idealfall reflektieren Führungskräfte ihren eigenen Umgang mit Autorität und die damit verbundene innere Haltung. Außerdem stellen sie auch ihr eigenes Verhalten in den Beziehungen zu ihren Mitarbeiterinnen infrage. Wenn Probleme oder Konflikte mit Mitarbeiterinnen in Bezug auf Arbeitsaufträge auftauchen, geht es für sie nicht mehr um die »Schuldfrage«. Stattdessen reflektiert die Führungskraft das eigene Vorgehen, die aktuelle Beziehung, und sie sucht den Dialog mit ihrer Mitarbeiterin (um mehr über deren Haltung und die Gründe für deren Verhalten zu erfahren). Mit dieser Einstellung werden Mitarbeiterinnengespräche weniger genutzt, um formalistisch Gesprächsbögen abzuarbeiten und auszufüllen, sondern vor allem dazu, um gemeinsam mit der Mitarbeiterin die Qualität der Führungsbeziehung zu reflektieren. Beispielhafte Fragen für beide Seiten könnten sein: »Wovon sollte es mehr geben?«, »Wovon sollte es weniger geben?«, »Was soll so bleiben?«. Und wie im richtigen Leben: Nicht jeder Wunsch geht in Erfüllung. Er ist ein Ausgangspunkt für einen gemeinsamen Dialog zwischen Führungskraft und Mitarbeiterin.

Wie gelingt ein Anfang in der Führungspraxis? Es ist zwar wünschenswert, an allen sieben Elementen mit der Transformation zu beginnen. Doch ich erlebe immer wieder in der Praxis, dass auch schon einzelne Teile des Konzepts sehr wirkungsvoll sind.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Ein Beispiel: die Ankündigung von Widerstand innerhalb eines Management-Teams. Der türkischstämmige Mit-Gründer und brillante Technikkopf eines schnell wachsenden internationalen Start-up-Unternehmens in Schweden, mit mittlerweile rund fünfzig Mitarbeitenden, ist nicht nur dessen Anteilseigner. Er sitzt auch im sogenannten Board, einer Art Verwaltungsrat, an welchen das Management-Team zu berichten hat, und bekleidet parallel dazu zudem die Funktion des Technikchefs (Chief Technology Officer) im Management-Team. Im Management-Team um den deutschen CEO schätzt man den CTO für seine Technikbrillanz, ohne die das Unternehmen kein innovatives Produkt und damit auch keine Zukunft hätte. Bei mehreren Management-Teamsitzungen äußerte der CTO Kritik gegenüber der schwedischen Vertriebschefin im Gremium, weil einige potenzielle Aufträge nicht erteilt wurden. Die Kritik wurde meist in einem lautstarken, affektbeladenen Monolog ausgeschüttet. Doch auch der marokkanische Engineering-Chef im Gremium wurde bei Fehlern in seinem Verantwortungsbereich von dem CTO häufig in dieser Art kritisiert. Im Gremium des Management-Teams war man sich einig, dass die Analysen des CTO richtig und wichtig waren, auch wenn manche Ursachen der Fehler oder verpassten Chancen außerhalb des Einflusses des Unternehmens lagen. Jedoch war vor dem Hintergrund der konsensbasierten, freundlich wirkenden schwedischen Arbeitskultur nicht nur sein affektbeladener, aburteilender Kritikstil immer weniger akzeptabel. Auch fühlten sich die Mitglieder des Gremiums nicht gewürdigt in ihrem vollen Einsatz für das Unternehmen. Das führte dazu, dass das Verhalten des CTO nicht mehr akzeptiert wurde, obgleich man ihn als Menschen und Technikkopf grundsätzlich sehr schätzte. Wenn Einzelne aus dem Management-Team das Verhalten des CTO kritisierten, kam es häufiger vor, dass er sich aus dem Social Intranet demonstrativ entfernte, was die gesamte Firma mitbekam, sodass sich die Mitarbeitenden fragten, ob der CTO nicht mehr im Unternehmen sei. Auch tauchte er plötzlich für zwei Wochen unter, ohne Absprache im Management-Team, und war nicht mehr zu erreichen. Gerade am Anfang wusste keine seiner Management-Kolleginnen damit umzugehen. Der CEO befand sich in einem Dilemma: Sein Impuls war, den CTO aus dessen Funktion und dem Management-Team zu entlassen, um die Arbeitsfähigkeit und die Arbeitskultur zu schützen. Gleichzeitig war der CTO wichtig, um das Technikteam weiterzubringen, Fehler zu analysieren und Lösungen zu finden, damit das einzigartige Produkt wie auch die Firma weiterwuchsen. So erarbeitete ich mit dem CEO eine Ankündigung, die den Widerstand des restlichen Management-Teams formulierte. Diese Ankündigung wurde als Entwurf

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im übrigen Management-Team beraten. In einer der Folgesitzungen las der CEO die Ankündigung im Beisein der restlichen Management-Teammitglieder dem CTO vor. Lieber XY, wir schätzen Dich sehr, Deinen Humor und Deine Kollegialität, uns bei Problemen zu helfen. Deine Analysen bei Fehlern sind immer passend, und sie helfen uns und damit unserem Unternehmen echt weiter. Was wir nicht mehr akzeptieren können und wollen, ist die Art, wie Du Deine Kritik äußerst. Die Lautstärke Deiner Kritik, Dein Monolog, der uns keinen Raum gibt, mit Dir darüber zu sprechen. Dieses Verhalten verletzt uns, weil wir genauso wie Du unser Bestes für die Firma geben. Mit diesem Verhalten von Dir entfernst Du Dich aus unserem Team. Wir möchten, dass Du Teil unseres Management-Teams bleibst. Jedoch möchten wir Dir mit diesem Brief mitteilen, dass wir uns Deiner Art, Kritik zu äußern, ab sofort widersetzen werden, solltest Du dieses Verhalten weiterhin zeigen. Wir werden uns in so einem Fall zurückziehen und beraten, wie wir darauf angemessen reagieren. Dies werden wir Dir danach mitteilen, um Dich dabei zu unterstützen, Teil unseres Teams zu bleiben. Wir freuen uns auf unsere gemeinsame Zukunft. Seit dieser Ankündigung hat der CTO sein affektives Verhalten nicht mehr gezeigt. Das Team musste sich nicht einmal beratend zurückziehen, um die Grenze zu markieren.

Ausblick Dass die Haltung und das Konzept der neuen, horizontalen Autorität auch in dem Kontext »Führung« zukunftsweisend sind, zeigt sich u. a. daran, dass mehr und mehr Beraterinnen und Coaches die Ideen aus meinem Buch aufgreifen und in ihre Arbeit integrieren. Gleichwohl befinden wir uns immer noch am Anfang. Im Rahmen meiner Arbeit entwickle ich (gemeinsam mit Kollegen) das Konzept kontinuierlich weiter. Der Prüfstein für die erfolgreiche Weiterentwicklung ist die Wirksamkeit in der Führungspraxis. Im Sinne der Haltung der neuen, horizontalen Autorität freue ich mich auf die Vernetzung mit Ihnen über [email protected] bzw. www.twitter.com/frankbauha.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Literatur Baumann-Habersack, F. (2017). Mit neuer Autorität in Führung. Die Führungshaltung für das 21. Jahrhundert (2. Aufl.). Wiesbaden: Springer. Baer, U., Frick-Baer, G. (2008). Vom Schämen und Beschämtwerden. Bibliothek der Gefühle, Band 4. Weinheim: Beltz. Crone, I., Girolstein, P., Quistorp, S. (2010). Führung in unsicheren Zeiten. Entschiedenes Plädoyer für ein neues Autoritätsverständnis. Systhema, 24, 1, 43–55. Omer, H., von Schlippe, A. (2009). Stärke statt Macht: »Neue Autorität« als Rahmen für Bindung. Familiendynamik, 34, 3, 246–254. Omer, H., von Schlippe, A. (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. v. (2016). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Sennett, R. (2008). Autorität. Berlin: Berlin Verlag.

2.10  Neue Autorität in der Gemeinde Katharina Barandun, Harald Ebert, Burkhard Hose, Stefan Lutz-Simon und Stefan Ofner

Wie können die Ideen der Neuen Autorität und des gewaltlosen Widerstands im öffentlichen Raum spürbar und sichtbar werden? Wie kann ein gesellschaftliches Miteinander entwickelt werden, das getragen ist von gegenseitigem Respekt und konstruktivem Umgang mit Konflikten? Das sind die wesentlichen Fragen, die in diesem Kapitel bearbeitet werden. Wir werden anhand von vier Beispielen aus der Schweiz, aus Deutschland und aus Österreich verdeutlichen, worauf es unserer Meinung nach ankommt und wie eine zivilgesellschaftliche Initiative das Miteinander im Gemeinwesen stärken kann. Im ersten Teil beschäftigt sich Katharina Barandun mit interkultureller Siedlungsarbeit und Väterbeteiligung in einem Stadtteil von Zürich. Im anschließenden Beitrag von Stefan Lutz-­Simon, Harald Ebert und Burkhard Hose wird das »Würzburger Modell« einer zivilgesellschaftlich-öffentlichen Zusammenarbeit für Menschenrechte vor Ort beschrieben. Im dritten Teil gibt Stefan Ofner einen Überblick über ein Pilotprojekt zur zivilgesellschaftlichen Handlungsfähigkeit bei gewaltbereitem Verhalten von Jugendlichen, das 2015–2017 vom österreichischen Innenministerium gefördert und in der Stadtgemeinde Ansfelden, nahe Linz an der Donau, durchgeführt wurde. Und zu guter Letzt wird anhand eines Briefes an das österreichische Innenministerium ein Beispiel für eine Form des Bürgerprotests dargestellt.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Neue Autorität und Zivilcourage Im Fokus der interkulturellen Siedlungsarbeit: Interventionen im öffentlichen Raum

Katharina Barandun Die Herausforderung eines guten nachbarschaftlichen Zusammenlebens in einem sich schnell entwickelnden oder einem sogenannten »belasteten« Quartier liegt in den Fähigkeiten, die unterschiedlichen Menschen für ein Engagement zu gewinnen. In der Regel sind die fehlende Identifikation mit dem Lebensraum, eine wenig gepflegte Nachbarschaft und die damit einhergehende mangelnde soziale Kontrolle die Ursache von Problemen im Zusammenleben. Die soziale Stadtteilentwicklung hat an Bedeutung zugenommen und verlangt nach interdisziplinären bzw. multidisziplinären Perspektiven sowie erfolgreichen Interventionsprogrammen. Die Fachliteratur, aber auch die Praxis hat sich bei der Frage, mit welchen Strategien die Migrationsbevölkerung erfolgreich in Partizipationsprozesse mit eingebunden werden kann, schwergetan. An diesem Punkt setzte das Integrationsprojekt »Fit in die Zukunft« (Barandun, 2012) an, welches von 2004 bis 2006 in der Siedlung Luchswiese in Zürich-Schwamendingen mit dem Ziel umgesetzt wurde, das interkulturelle Zusammenleben in der Siedlung zu verbessern, die Partizipation zu fördern und das Empowerment der Beteiligten zu unterstützen. Das Besondere an dem Projekt war, dass insbesondere Väter mit Migrationshintergrund miteinbezogen wurden und es ihnen gelang, das Problem der Gewalt im öffentlichen Raum durch ihre verstärkte Präsenz im Außenraum zu lösen. Dadurch wurde eine Veränderung der zuvor unzumutbaren Situation mit den Jugendlichen in ihrem Wohnumfeld erreicht. Dabei haben die Väter direkt erfahren, was ihr Engagement bewirkte, da sie selbst Einfluss auf die Situation nehmen konnten. Ausgehend von den positiven Projektergebnissen werden im folgenden Beitrag praktische Lösungsmodelle der sozialraumorientierten Partizipation in Wohnsiedlungen vorgestellt. Das von Haim Omer entwickelte Konzept der Neuen Autorität erweist sich dabei auch als Methode für die Elternarbeit in der interkulturellen Siedlungsarbeit als relevant.

Neue Autorität in der Gemeinde

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Methoden und Grundsätze Die Resultate aus verschiedenen Projekten1 belegen, dass sich direkte Investitionen und Interventionen in interkulturellen Wohnsiedlungen auszahlen. Im interkulturellen Siedlungskontext vermögen Mitbeteiligungsprozesse das nachbarschaftliche Zusammenleben so zu regulieren, dass Betroffene zu Beteiligten werden. Empowerment (Befähigung, Hilfe zur Selbsthilfe) und Partizipation (Mitbeteiligung) setzen bei den Ressourcen und Potenzialen an und bilden das Fundament für eine nachhaltige Selbstregulierung. Zwar kann sich anfänglich das Konfliktpotenzial erhöhen, da die Mieterschaft sich mehr und direkter miteinander auseinandersetzen muss. Mittel- bis langfristig jedoch wird das soziale Lernen durch die Partizipationsmöglichkeit gestärkt. Partizipation will aber gelernt sein. Viele Menschen aus anderen Kulturen sind – bedingt durch ihre Herkunft (kollektive/diktatorische Systeme) oder aufgrund von Erfahrungen im Aufnahmeland – es nicht gewohnt, nach ihrer Meinung gefragt bzw. zur Mitarbeit aufgefordert zu werden. Die Möglichkeit, das eigene Lebensumfeld mitzugestalten, ist ihnen fremd. Erklären und Informieren allein genügt oft nicht. Es braucht auch eine gezielte Motivationsarbeit. Der Aufbau von Partizipation erfolgt schrittweise. Abbildung 1 zeigt die Projektorganisation auf drei Ebenen auf. Dabei unterscheidet sich die Strukturelle Grundlage (Auftraggeberin und Institutionalisierte Anlässe), von den personellen Maßnahmen (Teilprojekte durch Freiwilligenarbeit) und der systemischen Grenze (Fachinstitutionen aus dem Sozialraum). Im Kontext interkultureller Siedlungen darf die Bildung von partizipativen Prozessen und Strukturen nicht dem Zufall überlassen werden. Partizipations- und Planungsprozesse müssen durch Fachpersonen (Siedlungscoaches) in Gang gebracht und nachhaltige Strukturen für das Zusammenleben aufgebaut werden. Die Berufsbezeichnung »Siedlungscoach« steht allgemein für die Begleitung nachbarschaftlicher Prozesse. Im Projekt »Fit in die Zukunft« waren im Aufgabenprofil des Siedlungscoaches auch Aufgaben der Sozialarbeit (aufsuchende Arbeit mit Familien und Einzelfallhilfe) enthalten. Hier wurden die verschiedenen Zielgruppen kontinuierlich aktiviert, einbezogen und in ihrem Mitwirken gestärkt. Die Kenntnis über die Zielgruppen und ihrer Lebenswelten ist Voraussetzung für das Gelingen jedes Partizipationsprojektes, denn es braucht an die Zielgruppe angepasste Konzepte und Flexibilität in der Umsetzung. Ein

1 Siehe dazu http://www.barandun-interkultur.ch/publikationen/index.html (Zugriff am 28.01.2019).

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Abbildung 1: Projektorganisation Siedlung Luchswiese

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wichtiger Punkt dabei ist das Arbeiten an unüblichen Zeiten. Abendtermine und Wochenendeinsätze sind relevant, um die Betroffenen auch zu erreichen. Der allgemeingültige Leitsatz »Fördern und Fordern« war auch im Projekt »Fit in die Zukunft« wichtig. Fördern meint im Sinne von Empowerment, die Zielgruppen zu motivieren, die Verantwortung für ihre Anliegen zu übernehmen, und sie zu befähigen, die Lösungen selbst zu erarbeiten. In der Projektarbeit ging es darum, die Betroffenen zu überzeugen, dass sie selbst etwas verändern können, und sie gleichzeitig dazu aufzufordern, sich aktiv an der Verbesserung ihrer Wohnumgebung zu beteiligen. Fördern und Fordern stehen immer im Zusammenhang von Bedarf und Bedürfnissen. Forderungen können gestellt werden, wenn Bedürfnisse der Zielgruppe erkannt und die erforderten Maßnahmen im sozialen Kontext der Betroffenen sichergestellt sind. Um die Handlungsfähigkeit der Betroffenen zu begünstigen, muss der Fokus auf die Aktivierung der vorhandenen oder verschütteten Ressourcen und Kompetenzen gerichtet werden. Da die Prozesse dem sozialen Kontext unterliegen, ist darauf zu schauen, wie die Prozessorganisation den Zugang zu den Potenzialen der jeweiligen Zielgruppen herstellen kann. Hier stellen sich folgende Fragen: •• Wie organisieren die Zielgruppen ihre Lebenswelten? •• Welche Handlungskompetenzen haben sie? •• Welche Lebensperspektiven verfolgen sie? •• Wie versuchen sie, dies im Alltag umzusetzen? Die Akzeptanz des Siedlungscoaches schafft die Basis für die Diskussion heikler Themen wie den Umgang mit Gewalt, das Rollenverständnis und andere wichtige Integrationsfragen. Voraussetzung dazu ist eine offene und respektvolle Haltung sowie eine Gesprächskultur, die auf Augenhöhe stattfindet. Ein gegenseitiger Lernprozess und eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Ansichten sind möglich, wenn der direkte Kontakt zu den betroffenen Menschen gesucht wird und die Vertrauensbasis gegeben ist. Partizipation als Konfliktprävention durch Neue Autorität Die eigene Betroffenheit und der Prozess, aus Betroffenen Beteiligte zu machen, sind der Schlüssel zur erfolgreichen Partizipation. So können die komplexen Prozesse eingeleitet werden, unabhängig davon, ob die Initiative von der Stadtentwicklung, von Quartier- und Jugendarbeitenden oder von Privatpersonen ausgeht, und zugleich auch unabhängig davon, mit welcher Zielgruppe Partizipation umgesetzt werden soll. In den folgenden Abschnitten werden anhand von

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Arbeitsfelder in der Praxis

Praxisbeispielen Erfahrungen aus dem Projekt »Fit in die Zukunft« aufgezeigt und erläutert – denn ohne Partizipation ist die Methode der Neuen Autorität im öffentlichen Raum kaum umsetzbar. Es verlang die konsequente Einhaltung der Partizipationsstufen: 1. Nichtbeteiligung 2. Information 3. Mitwirken 4. Mitentscheiden 5. Selbstverwaltung Ausgangslage: Nichtbeteiligung

Eines der größten Probleme zu Beginn des Projektes stellte die Situation mit den Jugendlichen dar. In der warmen Jahreszeit war der Pavillon im Innenhof der Siedlung abends und nachts bevorzugter Aufenthaltsort sowohl der Jugendlichen aus der Siedlung als auch solcher von auswärts. Die Bewohnerschaft fühlte sich in ihrer Nachtruhe massiv gestört, und das Verhalten der Jugendlichen wurde als bedrohlich wahrgenommen. Abfall (wie leere Flaschen, teilweise auch Spritzen) wurde liegen gelassen. Polizeieinsätze und die durch die Verwaltung eingesetzte Sicherheitsfirma brachten keine wesentliche Beruhigung der Situation. Dies veranlasste die Verwaltung, andere Wege zu gehen und die bis dahin nicht in die Fragen der Problemlösung einbezogene Mieterschaft neu an Lösungen der Probleme zu beteiligen. Die Zusammenarbeit mit den Vätern aus der Siedlung zahlte sich letztlich aus: Nicht zuletzt durch die verstärkte Präsenz der Väter im Außenraum wurde eine Veränderung der unzumutbaren Situation mit den Jugendlichen in ihrem Wohnumfeld erreicht. Information

Der Stufe Information wurde innerhalb des Projektes sehr viel Aufmerksamkeit und Zeit gewidmet. Denn wenn die Menschen nicht verstehen, was gemeint ist und worum es geht, können sie auch nicht partizipieren. Dabei handelt es sich nicht nur um sprachliches, sondern auch um kulturelles und politisches Verständnis. In der Siedlung Luchswiese kommt die Mehrzahl der Familien aus Ländern, in denen demokratische Strukturen eher unbekannt sind. Menschen, die aus diktatorischen Politgefügen stammen, sind es oft nicht gewohnt, Entscheidungen für die Gemeinschaft außerhalb der eigenen Familie zu treffen. Türschwellenarbeit und das Einsetzen von hierarchischen Mitteln durch die Anwesenheit der Liegenschaftsverwaltung können anfänglich hilfreich sein – besonders, wenn Väter mit Migrationshintergrund für partizipatorische Prozesse gewonnen werden sollen.

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Vertrauen schaffen durch Beziehungsarbeit

Die Beziehungspflege stand im Vordergrund der Projektarbeit. Eine direkte Mieterschaftsbefragung ist die Grundvoraussetzung für die Erarbeitung von Zielsetzungen und Maßnahmen sowie der Initiierung der Mitbeteiligung in interkulturellen Siedlungen. Durch die Methode der aktivierenden Befragung (vgl. Lüttringhaus, 2003) sind Informationen auf verschiedenen Ebenen für die Fachpersonen und die Betroffenen zugänglich. Die dazu benötigten Zeitressourcen müssen von Anfang an im Projektkonzept mit eingeplant werden. Den Sozialraum aus Sicht der Mieterschaft zu erfassen und einen Rollenwechsel zu vollziehen, bedeutet, dass nicht nur die Fachkräfte Wissensträger, sondern auch die Betroffenen Experten in ihrem Wohnumfeld sind. Sie verfügen über Wissen aus ihren Lebenswelten, ihrem sozialen Raum und über Ressourcen, welche für alle Beteiligten einen gemeinsamen Nutzen bringen können. Auf dieser Ebene schafft der persönliche Kontakt eine Vertrauensbasis und bereitet den Weg zur Partizipation vor. Türschwellenarbeit versteht sich als Gehstruktur. Wir brauchen Sie als Aufforderung zur Partizipation und Gut, dass Sie da sind, denn Sie sind der/die wichtigste Akteur/-in im finden von Problemlösungen. Dies fordert eine Grundhaltung von Wertschätzung und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Derartige Aufforderungen widersprechen der Definition von Partizipation und Freiwilligkeit nicht. Abholen, Anrufen, Erinnern und persönliches Motivieren sind Arbeitsgrundlagen eines interkulturellen Quartiermanagements. Um die soziale Wirklichkeit der Betroffenen kennenzulernen, stellen sich folgende Fragen: •• Welche Handlungskonzepte sind in den Lebenswelten der Betroffenen vorhanden? •• Welche Einschätzung zur Verbesserung des friedlichen Zusammenlebens hat die Mieterschaft? •• Welche Schlüsselpersonen aus der Mieterschaft gibt es? •• Welche Ressourcen sind in den Institutionen im Sozialraum vorhanden? Partizipation braucht Kommunikation

In die Wirksamkeit von schriftlichen Informationen (auch übersetzt in verschiedene Sprachen) wird von allen Seiten viel investiert und über sie diskutiert. Kommunikation in einer interkulturellen Siedlung ist komplex. Die Menschen versuchen, in verschiedenen Formen miteinander in Verbindung zu treten – durch Handlungen, Gestik und Mimik, Sprache oder andere Mitteilungsarten. Das Ziel von Kommunikation sind Mitteilung, Verstanden werden und Verständigung. Die Verständigung in der gleichen Sprache bietet zwar die Gewähr, dass der überwiegende Teil der Botschaft beim Empfänger ankommt. Das heißt

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aber noch nicht, dass der Inhalt des Gesagten verstanden wird. Die Schichtzugehörigkeit kann die Verständigung genauso beeinträchtigen wie kulturelle Codes (vgl. Barandun, 2012, S. 33). Fachpersonen, die sich mit Partizipationsprozessen in interkulturellen Siedlungen auseinandersetzen, wissen, dass Kommunikation nicht nur durch Sprachkompetenz bestimmt wird. Die Kommunikationsfähigkeit setzt die Schlüsselqualifikation der interkulturellen Kompetenzen voraus: (aufmerksames) Zuhören, Beobachten und Interpretieren, Analysieren, Bewerten und Zuordnen kultureller Elemente wie Sitten und Gebräuche und deren Anerkennung. Wird unter Partizipation das Mitwirken möglichst aller Beteiligten verstanden, kann dies mit dem Verteilen schriftlicher Informationen in verschiedenen Sprachen allein nicht erreicht werden. Es braucht persönliche Kontakte und Gespräche, manchmal Erklärungen. Um im konkreten Fall der Siedlung Luchswiese die Kommunikationskompetenz der Mieterschaft nachhaltig zu fördern, wurden während der Projektphase Schritt für Schritt klare Strukturen erarbeitet. Dazu mussten verschiedene »Möglichkeitsräume« geschaffen werden. Gemeint sind »vielseitig bespielbare« Räume, die sich nicht nur im Bau und im öffentlichen Außen- oder Innenraum zeigen, sondern auch in »Denkräume[n] in Mitwirkungsgefäßen« (Emmenegger, 2016, S. 9). Möglichkeitsräume sind Grundlagen einer gelingenden Partizipations- und Aushandlungskultur und lassen Zeit und Raum für persönliches Gestalten aller betroffenen Zielgruppen. Das Einfordern der Mitverantwortung ist in der Siedlung Luchswiese dank der Schaffung von positiven Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten gelungen. Mitwirken

Gerade in interkulturellen Siedlungen kann man nicht davon ausgehen, dass die Mieterschaft sich allgemein und aus Freude am Engagement für das Gemeinschaftsleben in der Siedlung einsetzt. Es braucht Interessengruppen (IG), oder anders formuliert: Schicksalsgemeinschaften, um die konkreten Lösungen für vorhandene Probleme miteinander auszuhandeln. Im Projekt wurde die aufsuchende Mieter/-innenbefragung in Form von Haussitzungen durchgeführt. Diese haben wesentlich zum Projekterfolg beigetragen und waren ein wichtiges Instrument zur Konfliktprävention und um miteinander im Gespräch zu bleiben. So konnten gemeinsame Regeln des guten Zusammenlebens ausgehandelt werden, um weitere Konflikte zu vermeiden. Für die Verwaltung und vor allem für den Siedlungscoach bestand die Herausforderung darin, den manchmal mühsamen und aufreibenden Pro-

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zess auszuhalten und stets den Weg statt das Ziel ins Zentrum zu stellen. Nicht Aktivismus oder rasche Ergebnisse waren gefragt, sondern die konsequente Beachtung der verschiedenen Stufen der Partizipation. Aus den verschiedenen Interessengruppen formte sich eine Arbeitsgruppe, welche übergeordnete Aufgaben wahrnahm und als Bindeglied zwischen Mieterschaft und Liegenschaftsverwaltung agierte. Die Gruppe wurde durch den Siedlungscoach minimal begleitet. Ziele der Haussitzungen waren: •• In-Gang-Setzen des Mitwirkungsprozesses, Projektinformation und Sensibilisierung der Betroffenen; •• Evaluierung persönlicher Fähigkeiten und Ressourcen, die für das Projekt nutzbar gemacht werden können, und Erhebung von Schlüsselpersonen; •• Förderung von Nachbarschaftskontakten und Stärkung einer respektvollen Kommunikation untereinander; •• Benennung aktueller Probleme beim Zusammenleben in der Hausgemeinschaft und der Siedlung mit anschließender Priorisierung und gemeinsamer Erarbeitung konkreter Lösungen; •• Erarbeiten von Regeln im Zusammenleben der gemeinschaftlich genutzten (Außen-)Räume. Die Haussitzungen legten das Fundament, um den Partizipationsprozess in Gang zu bringen. Die daraus erstandenen jährlichen Mieterversammlungen haben sich als fester Bestandteil (Möglichkeitsraum) des Zusammenlebens etabliert. Die Ziele der Mieterversammlungen waren: •• Stärkung des Wir-Gefühls, das »Einander-Erleben« als Siedlungsgemeinschaft und die gemeinsame Zusammenarbeit für die Kultur des Zusammenlebens; •• Gemeinsame Diskussion und Bearbeitung aktueller Problemstellungen; •• Informationsbeschaffung zu siedlungsinternen Aktivitäten sowie Motivation zur Mitarbeit; •• Brückenbildung zwischen den Anliegen der Mieterschaft und denjenigen der Verwaltung. Mitentscheiden

Für eine Mitentscheidung müssen demokratische Strukturen geschaffen werden. Beteiligte müssen von Anfang an in die Partizipationsprozesse miteinbezogen werden. Die aufgebauten Siedlungsstrukturen bieten die Möglichkeit, »Mitentscheidung« zu lernen. Partizipation ist ein langwieriger Prozess. Dabei sollten folgende Punkte beachtet werden:

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Arbeitsfelder in der Praxis

•• Es verlangt viel Zeit, Geduld, Hartnäckigkeit und Verhandlungsgeschick, um die Betroffenen für Partizipation zu gewinnen. •• Ein souveräner Umgang mit schwierigen Situationen erfordert eine Haltung von Empathie und Humor seitens der Fachleute wie auch seitens der Bewohner. •• Die realistische Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen des Engagements der Betroffenen verhindert Frustration bei allen Beteiligten. •• Sichtbare Teilerfolge müssen Anerkennung finden und positiv kommuniziert werden. •• Die Fokussierung auf die verschiedenen Zielgruppen erlaubt eine effiziente Strukturierung in der Projektarbeit, um die vorhandenen Ressourcen optimal zu nutzen. Selbstverwaltung

Es ist nicht realistisch, von der Mieterschaft einer interkulturellen Siedlung, wie sie sich in der Siedlung Luchswiese präsentiert, eine weitgehende Selbstverwaltung zu erwarten. Man muss Abschied nehmen von allzu romantischen Ideen der Selbstverwaltung. Im Kontext von interkulturellen Siedlungen ist die Selbstverwaltung wenig zeitgemäß, sie bleibt vielfach ein auf Mittelschicht-Siedlungen beschränktes Modell. Umso gefragter sind neue und andere Formen, um Beteiligte und Betroffene in die Verantwortung einzubinden. Im Fall der Siedlung Luchswiese zeigt sich, dass bei angemessener Unterstützung die Bereitschaft vorhanden ist, Probleme anzugehen und gemeinsam zu lösen. Die Tragfähigkeit der aufgebauten Siedlungsstrukturen und des nachbarschaftlichen Zusammenlebens muss jedoch realistisch eingeschätzt werden, denn in interkulturellen Siedlungen ist immer mit multiplen Problemstellungen zu rechnen. Neue Autorität im interkulturellen Siedlungskontext Der öffentliche Raum ist ein Ort, an dem sich alle Menschen mit gleichen Rechten und Pflichten aufhalten können. Das Problem der Jugendgewalt im öffentlichen Raum hat sich heute allgemein zugespitzt. In der Siedlung Luchswiese versuchten Anwohner in Einzelaktionen, Kontakt mit den Jugendlichen aufzunehmen – mit dem Resultat der gegenseitigen Gewalteskalation. Viele Anwohner fühlten sich machtlos und distanzierten sich von diesem Problem. Solche Dynamiken bergen eine große Gefahr, weil sie Zeichen eines Verlustes von Stimme und Status sind. Gewalt in der Öffentlichkeit ist ein ernst zu nehmender Sachverhalt und darf nicht heruntergespielt werden. Sie bedroht die Gemeinschaft und bringt fehlenden Zusammenhalt zum Ausdruck. Jede Gewalttat stellt die

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Sicherheit infrage und ist deshalb Angelegenheit der Gemeinschaft respektive der Siedlung oder des Quartiers. Um dem Kreislauf der Gewaltspiralen ein Gegengewicht zu setzen, braucht es ein positives Miteinander. So ist es möglich, Konflikte in Beziehung und Kooperation anzugehen, um positive Reaktionen und einen positiven Kreislauf in Gang zu bringen. In der Siedlung Luchswiese wurde deutlich, dass vor allem Väter Mühe bekundeten, ihre Erziehungsrolle in der schweizerischen Gesellschaft einzunehmen. Sie fühlten sich in ihrer Erziehungsaufgabe oft hilflos und schämten sich, weil sie das Gefühl hatten zu versagen. Auf der Suche nach lösungsorientierten und nachhaltigen Methoden wurde klar, dass in Belangen des öffentlichen Raums der direkte Einbezug der Väter zentral war. Der interkulturelle Vätertreff der Siedlung Luchswiese hat gezeigt, dass sich direkte Investitionen im öffentlichen Raum lohnen, wobei der Prozess fachlich begleitet werden muss, wenn eine erfolgreiche Intervention gelingen soll. Auch hier ist die Voraussetzung des methodischen Handelns die Kenntnis der Lebenswirklichkeiten der männlichen Migranten, um daraus eine sorgfältige Planung und Durchführung der Maßnahmen abzuleiten respektive sie an diese Lebenswirklichkeiten anzupassen. Im Projekt »Fit für die Zukunft« arbeiteten die Väter mit den randalierenden Jugendlichen im Innenhof gemeinsame und respektvolle Verhaltensregeln für das Zusammenleben aus. Externe Fachpersonen und Institutionen für Gewaltprävention begleiteten den Prozess anwaltschaftlich. Um die Mitbeteiligung der Väter zu erwirken, wurden dieselben Methoden angewendet, wie sie bereits in den Partizipationsstufen beschrieben sind. Es bedurfte dreier Sitzungen, um die Väter zu überzeugen, dass sie selbst eine Verbesserung der Situation herbeiführen könnten. Mit großer Skepsis ließen sie sich auf das Abenteuer ein. Sie fühlten sich zunächst verunsichert und wünschten sich fachliche Unterstützung im Umgang mit den Jugendlichen. Der Übergang von der IchStimme zur Wir-Stimme änderte die Grundlage der elterlichen Autorität. Die Väter gingen gemeinsam nach draußen und waren im Innenhof präsent. Sie kamen mit den Jugendlichen ins Gespräch, konfrontierten sie durch Präsenz, wenn sie sich nicht an die Regeln hielten. Die Auswertung in der Vätergruppe ergab, dass die Väter mit dem Resultat sehr zufrieden waren. Sie waren stolz, weil sie aktiv geworden waren und die Situation selbst beeinflussen konnten. Sie freuten sich, dass sie mit den Jugendlichen guten Umgang gefunden und auch keine Angst mehr vor ihnen hatten. Die Erfahrungen des gemeinsamen Tuns bewirkten einen neuen Zusammenhalt unter den Vätern. Daraus entstanden ist ein regelmäßiger Treffpunkt für die Väter aus der Siedlung. Wenn nötig, werden die Jugendlichen dazu eingeladen, miteinander zu diskutieren und gemeinsam Aktuelles zu besprechen; für die Männer sind auch der Kontakt untereinander

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sowie gemeinsamer Spaß wichtig. Die Haltung der Liegenschaftsverwaltung und des Siedlungscoaches nach dem Motto »Fördern und Fordern« sowie »Wir brauchen Sie!« hat zum Erfolg beigetragen. Die Verantwortung wurde nicht mehr an die Polizei oder die Sicherheitsfirma delegiert. Die Väter nahmen das Problem mit den Jugendlichen selbst in die Hand und lösten es mit fachlicher Unterstützung nachhaltig. Maßnahmen

•• Sensibilisierung für die Beteiligung und Gründung einer Interessengemeinschaft (IG Väter). •• Telefonalarm: Die aktiven Väter bildeten ein Netz (Allianz) und erstellten eine Telefonliste. Wenn es Probleme gab, gingen sie mindestens zu dritt nach draußen. •• Gezielte Schulung von Schlüsselpersonen: Ein Vater aus dem Kosovo wurde direkt in die Projektentwicklung einbezogen und gezielt in der Funktion als Schlüsselperson geschult. Von der Verwaltung erhielt er eine 10-Prozent-Stelle mit folgenden Aufgaben: Organisation des Vätertreffs, Verwaltung des Jugendraums, Tandem (Einführung von Neumietern), Hilfshauswart. •• Sit-Ins im Außenraum der Siedlung. •• Der gegenseitige Respekt wurde erhöht, indem die Jugendlichen in den Vätertreff eingeladen wurden. Die Jugendlichen verstanden, dass sie selbst auch Verantwortung für die Siedlung und für ihr Verhalten übernehmen mussten. •• Durch die Vernetzung wussten die Väter, wo und wie sie sich bei weiteren Eskalationen Hilfe holen konnten. •• Es wurde ein Jugendraum eingerichtet, der bis heute von den Jugendlichen häufig genutzt und von einem Vater verwaltet wird. •• Seit Dezember 2005 finden monatliche Treffen statt, nach Bedarf werden externe Fachpersonen eingeladen. Es nehmen regelmäßig zwischen sechs und zwölf Väter teil. Dabei werden Themen wie elterliche Autorität, Gefahren und Risiken im Internet, eigene Erfahrungen mit Gewalt, Zusammenarbeit mit der Schule oder die Lehrstellensuche aufgegriffen. Neben der Wissensvermittlung ist der Erfahrungsaustausch sehr wichtig. Wirkungskreis

•• Die aktiven Väter  – insbesondere die Schlüsselpersonen  – haben auch mediale Anerkennung erhalten. •• Die Väter konnten bei den wenigen Interventionen direkt erleben, was ihre Präsenz bewirken kann.

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•• Da das Projekt eine Leuchtturmfunktion für andere Kreise der Stadt dargestellt hat, wurden weitere Schlüsselpersonen für neue Projekte ausgebildet. So konnte die wichtige Arbeit in die Verstetigung geführt werden und über das Teilprojekt des Vätertreffs hinaus Wirkung zeigen2. Methode der Neuen Autorität

Die Väter haben mit der Methode der Neuen Autorität gearbeitet: Präsenz und Wachsame Sorge Partizipation braucht Beziehung und muss gesteuert werden. Methoden und Grundsätze müssen mit den Lebenswelten der Zielgruppen kompatibel sein. Selbstkontrolle und Eskalationsvorbereitung Partizipation im Setting der interkulturellen Siedlungsarbeit ist ein langwieriger und stetiger Prozess, der viel abverlangt. Grundsätze der Neuen Autorität brauchen in der Umsetzung Hartnäckigkeit und Durchhaltewillen. Unterstützungsnetzwerk und Bündnisse Das Netzwerk von externen Fachpersonen und sozialen Organisationen im Quartier unterstützt die Nachhaltigkeit der umgesetzten Maßnahmen (Wir-­ Gefühl). Protest und gewaltloser Widerstand Öffentlicher Raum ist Raum für alle mit gleichen Rechten und Pflichten. In den Sit-Ins im öffentlichen Raum werden durch Präsenz gemeinsame Werte sichtbar. Durch die direkte Begegnung wird Kommunikation möglich. Gesten der Wertschätzung und Versöhnung Respektvolle und aktive Nachbarschaft: Väter gründen einen interkulturellen Vätertreff und stärken so die Kommunikation untereinander. Wiedergutmachungsprozesse Möglichkeitsräume aufbauen und gemeinsam Regeln aushandeln, damit es auch nach Vorfällen, bei denen Schaden entstanden ist, gemeinschaftlich weitergehen kann.

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Väter Forum Zürich (www.stadtzuerich.ch/ssd/de/index/gesundheit_und_praevention/suchtpraevention/familie_freizeit/vaeterforum.html).

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Nachhaltigkeit In Bottom-up-Projekten wie dem Projekt »Fit in die Zukunft« ist die Förderung von Netzwerken durch den Siedlungscoach unerlässlich. Eine wichtige Querschnittsaufgabe besteht darin, bestehende professionelle Netzwerke und Organisationen im Quartier mit dem Bedarf aus den entstandenen Teilprojekten (Interessengruppen) zu verknüpfen. Auch die Beschaffung von Ressourcen (Räume, Finanzen) ist eine Aufgabe des Siedlungscoaches. Es braucht einen differenzierten und professionellen Blick, um die Lebensrealitäten der betroffenen Zielgruppen mit entsprechend geeigneten externen Fachpersonen zu vernetzen. Die Rolle als brückenbauende Person benötigt Geschick im Aushandeln von Chancen und Grenzen der verschiedenen Akteure. Wenn es gelingt, die Zielgruppen mit externen Fachpersonen so zu vernetzen, dass sich eine Vertrauensebene bildet, kann eine Win-win-Situation entstehen, die über die Projektphase hinaus wirksam bleibt. Diese Netzwerke unterstützen die Nachhaltigkeit der umgesetzten Maßnahmen. Der Aufbau und die aktive Pflege solcher Kontakte müssen frühzeitig in die Projektplanung miteinbezogen werden. Gutes Strukturieren der Prozesse und eine koordinierte Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteure führen zum Erfolg und verstärken die Integrationsprozesse. Um erfolgreiche Partizipationsprojekte in interkulturellen Siedlungen voranzutreiben, benötigt es einen Paradigmenwechsel von einer defizitorientierten zu einer ressourcenorientierten Haltung aller Beteiligten. Ressourcen zu fördern bedeutet, den Handlungsspielraum der Betroffenen zu erweitern, sodass sie die Möglichkeit bekommen, ihren eigenen Lebensraum positiv wahrzunehmen und zu verändern. Sozialräumlich denken heißt, sich nicht in erster Linie auf Einzelfälle zu konzentrieren, sondern sowohl individuelle als auch kollektive Anliegen im Zusammenhang mit dem Bedarf und den Bedürfnissen in Siedlungen, Quartieren oder Stadtteilen zu verstehen, zu benennen und anwaltschaftlich zu vertreten. Damit der angestrebte Paradigmenwechsel als solcher vonstattengehen kann, ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unumgänglich. Aus den verschiedenen Blickwinkeln in der Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachpersonen und Organisationen entsteht eine Bündelung von Ressourcen. Kritisches Reflektieren und Aushandeln von Differenzen müssen transparent gestaltet werden – und die Aktivitäten sollen gemeinsam mit den Betroffenen umgesetzt werden. Grenzen der Partizipation im interkulturellen Siedlungskontext Selbstverständlich zeigt das Projekt »Fit für die Zukunft« auch Grenzen in der interkulturellen Siedlungsarbeit auf. So ist es trotz intensiver Motivationsarbeit

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nicht gelungen, die Mehrheit der Bewohner/-innen zur Teilnahme an Siedlungsaktivitäten zu motivieren. Nicht allen Mädchen ist es erlaubt, den Mädchentreff aufzusuchen, weil die Eltern einen schlechten Einfluss auf ihre Töchter befürchten. Viele Mütter und Väter arbeiten auch abends und an Wochenenden, sodass ihnen Zeit und Energie fehlen, um sich in der Wohnsiedlung zusätzlich zu engagieren. Manche Bewohner/-innen haben mit finanziellen, familiären und anderen Problemen zu kämpfen und sind deshalb schwer für Gemeinschaftsaktivitäten zu gewinnen. Die Erfahrung in der Siedlung Luchswiese hat aber gezeigt, dass auch eine verpflichtete Minderheit schwierige Situationen entschärfen kann. Die aktiven Betroffenen haben in vielen Stunden freiwilliger Mitarbeit Verantwortung für ihr Wohnumfeld und ihr Zusammenleben übernommen. Dabei haben sie gelernt, vermehrt Sorge für ihren Lebensraum und das nachbarschaftliche Zusammenleben zu tragen. Erfolgreiche Interventionen im öffentlichen Raum – Empfehlungen Wohnen ist für viele Menschen zum »Konsumgut« geworden: Man bezahlt für ein Dach über dem Kopf, für Elektrizität und Heizung – die Pflege der Außenräume überlasst man jedoch den Profis. Dies funktioniert in einer sich rasch differenzierenden und individualisierenden Gesellschaft nicht mehr. Es braucht ein neues Wohnkonzept, das über die grundlegende Versorgung hinausgeht: Die Mieterschaft pflegt nicht nur ihre Wohnung, sondern auch Mitverantwortung für ihr Umfeld und die Beziehungen. Die Mieterschaft verfügt in der Regel über genügend Kompetenzen, die Probleme im Zusammenleben selbst zu meistern. Erfahrungen mit ähnlichen Projekten zeigen jedoch, dass vielen Mieterinnen und Mietern Wissen und Selbstvertrauen fehlen, Probleme im Zusammenleben selbst anzupacken. Die Basis liegt in einer guten Kommunikation zwischen Vermieter und Mieterschaft. Eine Zusammenarbeit der Wohnbauträger mit einer Fachperson aus der Gemeinwesen- oder Sozialarbeit (Siedlungs­coach) und die Nutzung von Synergien sind sinnvoll und nötig. Das Erkennen einer Problemlage seitens der Wohnbauträger und der Wille zur Veränderung sind wichtige Voraussetzungen für die interkulturelle Projektarbeit. Es braucht geeignete Strukturen und Gefäße (Möglichkeitsräume), um Partizipation zu ermöglichen und die Eigenverantwortung zu stärken. Partizipation ist jedoch nicht der einfachste Weg und verbunden mit einer Veränderung des Selbstverständnisses im Umgang miteinander – weg von der technischen Verwaltung, hin zu dienstleistungsorientierter Kundenbetreuung und einer Kooperation trotz unterschiedlicher Interessenlagen. Dies erfordert von beiden Seiten ein hohes Maß an Sensibilität und Verhandlungsgeschick, um sich zwischen den Interessen der Wohn-

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bauträger und denen der Sozial- und Gemeinwesenarbeit zu bewegen und die übergeordneten Zielsetzungen nicht aus den Augen zu verlieren. Um die Annäherung zwischen Immobilienbewirtschaftung und Integration zu ermöglichen, benötigt die Praxis wissenschaftliche Studien, die die Zusammenhänge zwischen gutem nachbarschaftlichem Zusammenleben, der Eindämmung von Vandalismus und häufigem Mieterwechsel aufzeigen. Praxis und Wissenschaft müssen für die Durchführung solcher Projekte zusammenarbeiten. Die Entwicklung solch innovativer Bildungskonzepte gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Zukunft. Arbeiten mit migrantischen Vätern In den Diskussionen rund um die engagierten Väter mangelt es an positiven Bildern, vor allem bei der Betrachtung bzw. Darstellung von Vätern mit Migrationshintergrund. Die fehlende Sensibilität in der Wahrnehmung dieser Väter führt oftmals zu einem stigmatisierten Image, welches sie pauschal als wenig kompetente Empfänger von Hilfe- und Sozialleistungen, gewaltaffin und patriarchal abwertet. Väter mit Migrationshintergrund sind dabei aber mehr denn je auf Anerkennung ihrer Ressourcen angewiesen, denn ihnen kommt in den Integrationsprozessen ihrer Familien eine zentrale Bedeutung zu. In den unmittelbaren Begegnungen mit diesen Vätern wird schnell deutlich, dass der Außenblick auf und die vorherrschende Meinung über die Zielgruppe mit der Realität wenig zu tun hat. Wer sich als Fachperson der Arbeit mit migrantischen Vätern zuwendet, ist mit kursierenden Stereotypen und Negativklischees konfrontiert. Um den Zugang zu diesen Vätern zu erhalten, muss die Fachwelt die oft negativ geprägten Bilder über die Zielgruppe revidieren. Nur durch die gegenseitige Öffnung kann der Umgang mit Differenz und Vielfalt grundlegend verbessert werden. Denn auch die Väter stehen vor der Herausforderung, ambivalente und widersprüchliche Positionen den sich außerhalb ihrer Kontexte bewegenden Fachpersonen verständlich zu machen. Aus dem Blickwinkel der Väter als Ressourcenträger ist es notwendig, dass sich Fachpersonen mit deren Lebenswirklichkeit vertraut machen. Die Erfahrung zeigt, dass durchaus Anknüpfungspunkte zu finden sind, wenn dieser Lebenswirklichkeit Interesse entgegengebracht wird. Dadurch können auf Seite der Fachpersonen neue Sichtweisen entstehen, um auf einer Vertrauensbasis mit den Vätern weiterführend über Integrations- und Erziehungsfragen zu diskutieren. Eine Haltung ohne vorgefasstes Urteil ist die Voraussetzung für eine solche Begegnung. Konflikte gehören zum Zusammenleben – die Frage ist, wie damit umgegangen wird. Es braucht institutionalisierte Gefäße, die in erster Linie dem Aus-

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tausch und der Begegnung dienen und nicht nur als Krisenintervention gesehen werden. Diese Maßnahmen können sich auf ein einzelnes Gebäude, eine Siedlung und dessen Umfeld, ein ganzes Quartier oder einen Stadtteil konzentrieren. Wenn Vielfalt als Chance und nicht als Problem wahrgenommen wird, sind Partizipation und Integration möglich. Voraussetzung dafür sind das Wissen über Gemeinsamkeiten und eine Grundhaltung von Interesse, Neugier, Geduld und Offenheit für interkulturelle Fragen.

Eine wachsame Zivilgesellschaft für eine wehrhafte Stadt Das »Würzburger Modell« einer zivilgesellschaftlich-öffentlichen Zusammenarbeit für Menschenrechte vor Ort

Stefan Lutz-Simon, Harald Ebert und Burkhard Hose Alles begann mit einem Übergriff in der Würzburger Straßenbahn. Ein Unbekannter schlug einer Mitarbeiterin der Jugendbildungsstätte Unterfranken Anfang 2006 von hinten auf Kopf und Schulter. Tatwerkzeug war ein kompakter Gegenstand, eingewickelt in eine Zeitungsrolle. Tatort: Linie 5 – Stadtteil Grombühl. Gut geplant, kurz vor dem Ausstieg und ohne die Möglichkeit, den Täter direkt zu belangen, machte der sich aus dem Staub. Zurück blieben leichte Verletzungen und viel Wut. Einziges Tatmotiv offenbar: das Kopftuch, das die Kollegin trug. Die Schilderung im Kreis der Kolleginnen und Kollegen nach Ankunft an der Arbeitsstätte führte zu großer Empörung. Dem Hinweis auf eine polizeiliche Anzeige gegen Unbekannt begegnete die Kollegin mit Schulterzucken. »Was soll das schon bringen? Ich kenne solche Momente. Die Anzeige wird im Sand verlaufen.« Und dem war dann auch so. Ermutigt durch die Kolleginnen und Kollegen, wurde der Täter der Polizei gegenüber so gut wie möglich beschrieben, wurde über diese in der regionalen Zeitung mit der Bitte um Mithilfe gesucht, wurde ins Ungewisse hinein dem Tatbestand letztlich erfolglos nachgegangen. Dass die Anzeige gestellt wurde, war dennoch wichtig: der Statistik wegen.

Nach dem Übergriff geschah aber noch etwas anderes. Die Jugendbildungsstätte arbeitet seit ihrer Öffnung an und mit Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen. Kaum eine Form von Alltagsdiskriminierung bleibt dabei unentdeckt. Jetzt aber war eine Schwelle überschritten, die nicht mehr nur die strafrechtliche Verfolgung eines Übergriffs nach sich ziehen sollte: Dieser Angriff auf die persönliche Würde eines Menschen war auch die Geburts-

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stunde des Würzburger Bündnisses für Zivilcourage. Bis heute gilt seit diesem Übergriff im Bündnis ein klarer Grundsatz: Jeder Angriff auf die persönliche Würde eines Menschen aufgrund willkürlicher vermeintlich trennender Merkmale ist ein Angriff auf alle, die hier in der Region Würzburg friedlich und in guten Absichten miteinander leben möchten. Das Bündnis ist inzwischen ein gemeinnütziger eingetragener Verein mit dem Namen »Würzburger Bündnis für Demokratie und Zivilcourage e. V.«. Warum der Zusatz »für Demokratie« bei der Vereinsgründung 2018 aufgenommen wurde, wird später deutlich. Am Anfang stand die Verletzung der persönlichen Würde einer Frau. Verletzt wurde dabei aber noch viel mehr – die feste Überzeugung, dass es Regeln für unser Zusammenleben gibt, die nicht anzufragen sind. Die Idee: Wenn möglichst viele Vereine und Verbände, Einrichtungen und Institutionen in einem Bündnis einander ihre Solidarität zusichern, diese Regeln immer wieder in den Mittelpunkt aktueller Ereignisse zu stellen, sich das Versprechen geben, physischen oder psychischen Diskriminierungsmomenten aktiv zu begegnen, wenn das jenseits von politischer oder weltanschaulicher Ordnung und jenseits von aktuellem parteipolitischem Tagesgeschehen geschieht, dann könnte das Auswirkungen mit Blick auf ein positives Stadtklima haben. Viel mehr noch, es könnte dazu beitragen, all jenen zu begegnen, die unter einseitigen Vorurteilen und in Missgunst agieren. Ein Bündnis, das sich letztlich auch auf den Weg macht, um den vereinfachenden Populisten unserer Tage und ihren Diskursverschiebungen zivilgesellschaftlich entgegenzutreten; all jenen also, die nicht bereit sind, ihr Handeln an der einfachsten Regel des Zusammenlebens messen zu lassen, wie sie in Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland beschrieben ist: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Zwölf Jahre nach der Gründung dieses Bündnisses leben wir in demokratiebrüchigen Zeiten. Als unverrückbar geglaubte freiheitlich-demokratische Errungenschaften werden von rechtspopulistischen Agitatoren infrage gestellt. Völkische Gedanken werden wie selbstverständlich laut gedacht. Diskurse verschieben sich. Der Rechtsstaat besitzt Mittel, um sich gegen jede Form von Diskriminierungen zu wehren. Das ist gut so. Es zählt zum grundlegenden politischen Auftrag aller gewählten Mandatsträger, die demokratischen Errungenschaften dieser Gesellschaft zu verteidigen und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die Demokratie stärken. Es ist Auftrag der Gerichte, diesbezüglichen Verfehlungen nachzugehen und der Würde des Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Aber bei alledem braucht eine wehrhafte Demokratie immer auch die Mitwirkung und Wachsamkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die rechtsstaatlichen Möglichkeiten können dabei über die Abgabe einer Stimme verändert

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werden, aber das Kreuz in der Wahlkabine entlastet den Einzelnen und die Einzelne nicht davon, sich der Grundlage unseres Zusammenlebens immer wieder bewusst zu werden. Im Alltag entscheiden wir alle, ob chauvinistische, rassistische, homophobe oder behindertenfeindliche Sprüche oder gar Übergriffe sich zunehmenden Raum erobern oder entschiedene Begegnung erfahren. Ein verletzender Kommentar an der Kasse des Supermarktes braucht die Erwiderung. Die verschlossene Tür in Diskotheken einer Gruppe von Menschen gegenüber, die nichts miteinander gemeinsam haben, außer Afrodeutsche zu sein, muss zum Protest führen. Verächtliche Blicke auf Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, frauenfeindliche Sprüche auf dem Männerklo, verbale Angriffe auf kopftuchtragende Frauen – es gibt so viele alltägliche Diskriminierungsmomente, die nach unmittelbarer Mitmenschlichkeit schreien. Wo hier Einzelne couragiert eingreifen, kann sich vieles verändern. Von hier aus ist der Schritt nicht mehr weit zu zivilgesellschaftlichen Bündnissen, die den Blick auf die Würde des Menschen schärfen und einander Solidarität zusichern. Denn hinter alltäglichen Diskriminierungen stecken nicht selten hartnäckige Strukturen, festgefahrene Denkmuster oder gesellschaftlich eingespielte Praxen. Bündnis und Ombudsrat Das Würzburger Bündnis für Demokratie und Zivilcourage stellt sich dieser Aufgabe, den Blick für alltägliche Verwerfungen zu schärfen. Bald schon nach Gründung war klar, dass es dabei immer zwei Ebenen gibt, auf der Achtsamkeit erforderlich ist: im Hinblick auf allgemeingesellschaftliche Entwicklungen und im Hinblick auf persönliche und unmittelbare Diskriminierungserfahrungen. Um Letzteren nachgehen zu können bedarf es Antidiskriminierungsstrukturen, verstanden als kommunale Aufgabe und mit verbindlichen Handlungsmöglichkeiten. Dass die Stadt Würzburg in einem längeren Dialog mit dem Würzburger Bündnis für Demokratie und Zivilcourage sich dabei für die Einrichtung eines Ombudsrates entschieden hat, darf als großer Erfolg gewertet werden. Seit dem Stadtratsbeschluss am 23. September 2010 setzt sich der Ombudsrat mit einzelnen Diskriminierungsfällen auseinander, bearbeitet sie im verschriftlichten Fallmanagement und steht als Anwalt hinter jenen, die ihn aufsuchen oder um Unterstützung bitten. Die Besonderheit dieser Antidiskriminierungsstruktur: Der Ombudsrat ist ganz stark verbunden mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, die den Blick für die verschiedensten Diskriminierungsmomente aus ihrem je eigenen Selbstverständnis mitbringen. Er setzt sich zusammen aus den gewählten Sprecherinnen und Sprechern des Bündnisses, das mittlerweile von über achtzig dieser Organisationen getragen

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wird. Das Mandat, im Namen der Stadt zu agieren, erhalten die einzelnen Mitglieder dabei über die Stadt selbst. In diesem Zusammenspiel zivilgesellschaftlicher Kräfte, über deren Vertreterinnen und Vertreter ausgestattet mit einem städtischen Mandat, stecken Wachsamkeit und Wehrhaftigkeit gleichermaßen. Auf diese Weise ist der Ombudsrat über die Jahre zu einem »Stachel im Fleisch« geworden, den sich die Stadt Würzburg leistet, weil es ihr ernst ist um die Würde des Menschen im Alltag, auch dann, wenn es z. B. um diskriminierende Strukturen in der eigenen Behörde geht. Es ist die Stärke eines zivilgesellschaftlichen Bündnisses, aus der heraus eine formale kommunal autorisierte und angebundene Antidiskriminierungsarbeit geleistet wird. Das »Würzburger Modell« und die Prinzipien der Neuen Autorität In der Übersetzung in konkrete Handlungsschritte hat der Ombudsrat bemerkenswerte Parallelen zur Arbeit von Haim Omer, Professor für Klinische Psychologie an der Universität Tel Aviv, entwickelt. Omer stellt seine Neue Autorität in den Kontext von familialen Beziehungen in der Erziehungs- und Beratungsarbeit. Sein Verständnis von Autorität grenzt sich radikal von Fantasien der Über- und Unterordnung, von Siegern und Besiegten ab und baut vielmehr auf Menschenwürde und die Ächtung jeglicher Form von Beschämung und Diskriminierung. Der Ombudsrat wendet Omers Handlungsprinzipien auf die Ausgestaltung von zivilgesellschaftlichen Beziehungen und Strukturen an. Omer und Ombudsrat stehen in der Tradition der gewaltfreien, antirassistischen Menschenrechtsarbeit von Gandhi. Omer wendet zentrale Theoreme Gandhis auf das komplizierte Verhältnis von Freiheit und Regel innerhalb von Familien an und nimmt besonders in den letzten Jahren die Bedeutung der Einbindung von Familien in größere Gemeinschaften in den Blick. Der Ombudsrat überschreitet den vorpolitischen Raum und arbeitet an der demokratischen Ausgestaltung und Weiterentwicklung der Lebenswirklichkeit von Zivilgesellschaften und Kommunen. Auch hier steht das Narrativ der gelungenen diskriminierungsfreieren Vermittlung von Regel und Freiheit im Mittelpunkt. In Anlehnung an Omer können die Handlungsprinzipien des Ombudsrates als »Präsenz« einerseits und »gestufte Aufmerksamkeit« andererseits beschrieben werden. Die »offene Aufmerksamkeit« bedeutet dabei für das kommunale Zusammenleben: »Wir sind da!«, »Mit uns darf gerechnet werden!« Die Möglichkeit der Würzburger Bürgerinnen und Bürger, den Ombudsrat, verbunden mit einem qualifizierten Beschwerdemanagement, anrufen zu können, wirkt bereits für sich. Bei der »fokussierten Aufmerksamkeit« als Folge kon-

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kret empfundener und an den Ombudsrat herangetragener Diskriminierung geht es im ersten Schritt nicht um die Frage, ob eine Handlung, Bemerkung etc. als diskriminierend empfunden wird oder nicht. Empfindungen sind immer subjektiv und bedürfen erst einmal keiner Bewertung, sondern der Empathie. Als nächster Schritt folgen Beratung und Mediation zwischen den Beteiligten, soweit dies möglich und zielführend scheint. Der Ombudsrat zieht sich zurück, wenn Gerichte tätig werden. Nachhaltig schwierige Fragestellungen oder ganz offensichtlich beabsichtigte Diskriminierungen, die derzeit die Grundüberzeugungen von Demokratie infrage stellen, legt der Ombudsrat in die Hände des Bündnisses für Demokratie und Toleranz zurück. Das gilt auch, wenn diskriminierende Haltungen und Verhaltensweisen im zivilen Raum nachhaltig zementiert scheinen oder wenn die Balance von öffentlicher Regel und persönlicher Freiheit aus dem Lot zu geraten droht. Die aktive Zuwendung erfolgt z. B. durch die Zuführung einer immer wieder auftretenden Fragestellung in den öffentlichen Diskurs im Rahmen von Aktionen, Ausstellungen, Trainings, Workshops etc. Es hat sich bewährt, nicht auf aufgeheizte Situationen unmittelbar zu reagieren, sondern Unterbrechungen auf den Weg zu bringen. In einem genügend großen zeitlichen Abstand und nach eingehender Beratung kann in Krisensituationen den dahinterliegenden Fragestellungen wirkungsvoller nachgegangen werden – Haim Omer würde das »Eisen schmieden, wenn es kalt ist«. Ein besonderes Format sind die »Freitagsgespräche«. Wenn der Ombudsrat eine gewisse Häufung und Verdichtung von Anfragen und Beschwerden Würzburger Bürgerinnen und Bürger zu einem Themenbereich erkennen kann, lädt er jeweils wichtige Akteure zum Gespräch, um gemeinsam über die Weiterentwicklung der kommunalen Kultur – und durchaus auch achtsamen Streitkultur – zu beraten. Das »Würzburger Modell« und seine Narrative von einem »neuen Wir« Am Anfang des Würzburger Bündnisses für Zivilcourage stand der Bericht einer jungen Frau, die ihre Diskriminierungserfahrung mit Kolleginnen und Kollegen geteilt hat. Dieser Moment und die Reaktion des Umfeldes sind für das Bündnis zu einer Art »Gründungserzählung« geworden. Zu jeder Veranstaltung, bei der die Arbeit des Bündnisses und des Ombudsrates vorgestellt wird, gehört diese Erzählung dazu. Aus der konkreten Geschichte eines Menschen leitet sich das Selbstverständnis von Bündnis und Ombudsrat ab: »Wenn du eine Diskriminierungserfahrung in unserer Stadt machst, dann ist das nicht nur dein Problem, mit dem du irgendwie zurechtkommen musst. Deine Erfahrung geht uns alle an, weil wir gemeinsam in einer Gesellschaft leben wollen, in der

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Menschen in ihrer Würde respektiert werden.« Allein die Wiederholung der Gründungserzählung erzeugt schon so etwas wie ein »neues Wir«. Dieses Wir grenzt sich nicht ab von »den anderen«, sondern verbindet Menschen in ihrer Verschiedenheit in Solidarität (siehe auch Hose, 2016). Konkret bedeutet dies: Wenn ein Mensch z. B. aufgrund seiner Behinderung eine Diskriminierungserfahrung macht, kann er sich im »Würzburger Bündnis für Demokratie und Zivilcourage e. V.« der Solidarität des Schwulen- und Lesbenzentrums genauso sicher sein wie jener der Jüdischen Gemeinde. Und wird einem jungen Mann offensichtlich wegen seiner Herkunft bzw. Abstammung der Zugang zu einer Diskothek oder einem Club verwehrt, dann betrifft dies aus der Sicht des Bündnisses genauso den katholischen Jugendverband oder die Bahnhofsmission, die dem Bündnis angehören. Diese Gründungserzählung betrifft aber auch die Zusammenarbeit im Sprecherinnen- und Sprecherrat des Bündnisses oder im Ombudsrat. Grundsatz dieser Zusammenarbeit ist die Kollegialität. Die »Kraft von den Seiten« ist das innere Handlungsprinzip, in dem sich die einzelnen Mitglieder des jeweiligen Gremiums in ihrem Handeln verankert wissen. Dies verhindert eine Vereinzelung und auch die Überforderung im Engagement. Gerade in einer gesellschaftlichen Situation, in der zunehmend spaltende Narrative die Stimmung und auch die reale Politik bestimmen, bietet das »Würzburger Modell« eine wirkliche Alternative an: Mit der Gründungserzählung und anderen expliziten Beispielen ermutigt es Menschen dazu, mit ihrer konkreten Geschichte aus der Vereinzelung herauszutreten, sich »Kraft von den Seiten« zu holen und sich verbunden zu wissen. Während die Unterscheidung von »Wir« und »die anderen« Menschen als Einzelne in der Gesellschaft bewusst isoliert oder durch Gruppenzuweisungen markiert, stellt das »Würzburger Modell« in seinem Handeln wie in seinen starken Narrativen die alten Markierungen mit ihren impliziten Abwertungen aktiv infrage und realisiert bereits durch seine Erzählungen den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einem »neuen Wir«.

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Pilotprojekt »Couragierte Gemeinde« – eine Übersicht Stefan Ofner 2014 erhielt das Institut für Neue Autorität Österreich (INA) zusammen mit anderen Kooperationspartnern den Zuschlag für ein zweijähriges Pilotprojekt im Zuge des KIRAS-Sicherheitsforschungsprogramms des österreichischen Innenministeriums mit dem Titel »Couragierte Gemeinde – Produktentwicklung zur zivilgesellschaftlichen Handlungsfähigkeit bei gewaltbereitem Verhalten von Jugendlichen«. Die Stadtgemeinde Ansfelden in Oberösterreich stellte sich als Pilotgemeinde zur Verfügung. Das Projekt dauerte von Oktober 2015 bis September 2017. Im Folgenden lesen Sie einen Kurzüberblick und die Ergebniszusammenfassung. »Couragierte Gemeinde« zielt darauf ab, den sozialen Frieden in der betreffenden Gemeinde zu sichern und ein respektvolles, konstruktives Miteinander zu schaffen. Die Gemeinde richtet mit Unterstützung dieses Projektes ein Bündnis gegen Gewalt und Vandalismus ein. Gemeindevertreter/-innen, Jugendliche, Vereinsobleute, Pädagoginnen und Pädagogen, aktive Bürger/-innen und Polizei bringen sich konstruktiv in das Bündnis ein. Mit wertschätzender Grundhaltung gegenüber jeder Person und zugleich Wachsamer Sorge pflegt das Bündnis den guten Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen der Gemeinde. Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen sich wohl und sicher fühlen können.

Abbildung 2: Einladung an die Bürgerinnen und Bürger, Teil 1

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Abbildung 3: Einladung an die Bürgerinnen und Bürger, Teil 2

Die Handlungsfähigkeit der Gemeinde wird mit den sozial innovativen Methoden der Neuen Autorität gestärkt. In den Abbildungen 2 und 3 sehen Sie die Einladung an die Bürgerinnen und Bürger zur Teilnahme an dem Projekt. Ziele Mit der Umsetzung des Projektes »Couragierte Gemeinde« können Gemeinden Nachbarschaftsstreitigkeiten, Diskriminierung, Gewalt, Vandalismus, Mobbing, also verschiedensten Konflikten entgegentreten. Bürgerinnen, Eltern, Vertreterinnen von Organisationen, Pädagoginnen und Jugendliche •• stärken ihre Handlungsfähigkeit, •• gründen das Netzwerk Zivilcourage und  •• binden Jugendliche und Bürgerinnen in die kommunale Gemeinschaft ein.  Lärm, Vandalismus, Gewalt und Diskriminierung treten in vielen Gemeinden oder Stadtteilen auf. Gemeindevertreterinnen und Bürgerinnen stehen problematischen Verhaltensweisen oft ohnmächtig gegenüber. Handlungsunfähigkeit und Resignation, aber auch Ärger machen sich breit. Die »Couragierte Gemeinde« zielt darauf ab, die Handlungsmöglichkeiten und die Präsenz der Erwachsenen zu stärken und gleichzeitig das konstruktive Miteinander in gegenseitiger Wertschätzung zu fördern. Grundlage dabei ist das Konzept der Neuen Autorität. Erwachsenen-Präsenz, Selbstkontrolle und Eskalationsvorbeugung, respektvolles, gedeihliches Miteinander, Protest und gewaltloser Widerstand sowie Gesten der Wertschätzung und der Versöhnung sind wichtige Säulen in diesem Konzept.

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Planung, Abstimmung Abbildung 4 stellt eine Übersicht des geplanten Ablaufs des Projektes dar. Im Vorfeld trifft sich eine Projektgruppe (Leitgremium), in der alle Fraktionen und Personen vertreten sind, die die Gemeinde einlädt. Die Projektgruppe sammelt die zu bearbeitenden Problemfelder, entscheidet über organisatorische Details, die begleitende Öffentlichkeitsarbeit und den Umgang mit den Ergebnissen.

Abbildung 4: Ablauf des Projektes »Couragierte Gemeinde«

Information und Netzwerkgründung  Bewohner/-innen und Einrichtungen wie Schulen werden zu den Ideen des Projektes sowie zu Haltungen und Methoden der Neuen Autorität informiert. In der Gemeinde wird ein Netzwerk für Zivilcourage etabliert. Dieses setzt sich aus einfachen Bürgern und Bürgerinnen sowie Personen aus gemeinnützigen Einrichtungen, Vereinen, der Wirtschaft und sonstigen Organisationen zusammen.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Training Die Personen des Netzwerks Zivilcourage absolvieren ein Training für Zivilcourage und Neue Autorität. Schulungsthemen sind: couragiertes Vorgehen und die Haltungen und Interventionsmöglichkeiten der Neuen Autorität, bestmögliche Vernetzung der Personen und Institutionen, Herstellen von direktem Kontakt zu Jugendlichen und Verdeutlichung, dass es um ein friedliches, gedeihliches Miteinander geht. Konkrete Maßnahmen in der Umsetzung Im Netzwerk Zivilcourage werden zu den vorliegenden Problemfeldern konkrete Lösungsansätze erarbeitet und von Aktionsgruppen direkt vor Ort umgesetzt, z. B. Kooperations- und Konfrontationsgespräche mit Jugendlichen, aufsuchende Präsenz einzelner Personen und Gruppen, Widerstandsmaßnahmen bei problematischen Verhaltensweisen und Versammlungen von Jugendlichen, Gesten der Wertschätzung, Initiieren gemeinsamer Aktivitäten. Zusammenfassung und Ergebnisse Viele Gemeinden klagen über Probleme mit ihren Jugendlichen und wünschen sich ein besseres soziales Miteinander. Bürgerinnen und Bürger stehen dem Verhalten Jugendlicher oft ohnmächtig gegenüber. Das Projekt »Couragierte Gemeinde« zielt darauf, die zivilgesellschaftliche Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen, den sozialen Frieden zu stärken und ein respektvolles, wertschätzendes und konstruktives Miteinander zu fördern. Grundlegender Ansatz war das von dem Psychologen Haim Omer entwickelte Modell der Neuen Autorität; dieses galt es in der Projektkommune zu implementieren. In Schulen, Familien und Unternehmen sind die Neue Autorität und ihre Prinzipien bereits bewährt. Ihre Übertragung auf den Kontext einer österreichischen Gemeinde bedeutete jedoch eine soziale Innovation. Denn Kommunen bündeln Interessen, wie Wohnen, Arbeiten und Freizeit. Unterschiedlichste Akteure spielen zusammen, wie Familien, Nahversorger, Vereine, Polizei und die Gemeindepolitik. Eine Bedarfserhebung im Rahmen des Projektes ergab eine dementsprechend große Zahl unterschiedlicher, teilweise divergierender Bedarfe. Ein Netzwerk Zivilcourage wurde konzipiert, das in der Lage war, mit Einrichtungen am Ort zu interagieren und selbstorganisierte Leistungen für den sozialen Frieden zu erbringen. Insbesondere wurden Informations- und Kommunikationsbedarfe erfasst und in Anforderungen an die IKT-Lösungen

Neue Autorität in der Gemeinde

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abgebildet. Das Konzept der Neuen Autorität wurde in die Strategie der kommunalen Bürgerbeteiligung integriert. In der Stadtgemeinde Ansfelden wurde das Projekt »Couragierte Gemeinde« experimentell entwickelt und, in enger Zusammenarbeit mit Bürgermeister, Stadtamt, Jugendkoordination und lokalen Einrichtungen, probeweise getestet. Ein Steuerungsteam wurde gebildet. Rund 200 Bürgerinnen und Bürger besuchten die Veranstaltungen (Infoabend zum Projekt, siehe Abbildung 1, Vortrag der Polizei, Schulungen). Bei den Schulungen wurden konkrete und aktuelle Problemstellungen erfragt und diskutiert. Dann wurden Lösungen erarbeitet, und es wurde z. B. der Umgang mit Vermüllung oder nächtlichem Lärm an öffentlichen Parkplätzen, wo sich Jugendliche und junge Erwachsene zum Feiern treffen, trainiert. Ein weiterer Projektteil war die konkrete Umsetzung der Ideen der »Couragierten Gemeinde« in einer weiteren Problemzone. Dabei handelte es sich um einen Schulhof, der von mehreren Schulen, dem Hort und einem Verein genutzt wurde. Die Probleme waren: Aufenthalt von schulfremden Personen (anderen Kindern und Jugendlichen, Eltern etc.), Nutzung des Platzes als Spielzone und damit verbundene Lärmbelastung auch untertags, Nutzung des Platzes als Partyzone am Abend inklusive damit verbundener Vermüllung. Es wurden fünf Treffen aller Beteiligten organisiert (Lehrer, Schuldirektoren, Vereinsmitglieder, Hortleiter, Hortbetreuer, Schulwarte) und verschiedene Maßnahmen überlegt, aber trotz eines guten Arbeitsklimas konnte leider in diesem Beispiel keine gemeinsame Strategie gefunden werden. Im Nachhinein konnten wir dabei feststellen, wie wichtig es ist, zu Beginn mit allen Beteiligten die Auftragsfrage (Was ist das Ziel?) eindeutig zu klären und ein festes Bündnis zu schmieden. Ein Tool-Kit »Handwerkskoffer Couragierte Gemeinde« wurde erarbeitet und steht interessierten Gemeinden für die Anwendung zur Verfügung. Das Tool-Kit umfasst die Konzeption sowie zahlreiche Hilfsmittel, die den Prozess der Entwicklung hin zu einer »Couragierten Gemeinde« unterstützen können. So finden sich dort etwa die Prinzipien der Neuen Autorität sowie Grundsätze der Netzwerkbildung erklärt. Das Kit enthält des Weiteren Curricula für die Schulungen, Hilfsmittel für die Bürgerkommunikation und die Bedarfserhebungen und IKT-Lösungskonzepte. Den »Handwerkskoffer Couragierte Gemeinde« gibt es in physischer wie digitaler Form. Die Verbreitung der Ergebnisse und Erfahrungen erfolgte u. a. über Pressekonferenzen, ORF- und Pressebeiträge, wissenschaftliche Veröffentlichungen und eine gut besuchte Fachtagung im ABC (Anton-Bruckner-Centrum) Ansfelden. Eine Marktstudie zeigt ein Interesse fast aller befragten Gemeinden an einer Umsetzung des Projektes und somit ein vorhandenes Marktpotenzial.

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Arbeitsfelder in der Praxis

Eine Evaluation weist auf kritische Erfolgsfaktoren hin, wie etwa die Netzwerkbildung, die Schulungen und – in der praktischen Umsetzung – den Schulterschluss der Erwachsenen. Der Nachweis eines erfolgreichen Einsatzes und der Wirksamkeit der Maßnahmen der »Couragierten Gemeinde« ist gelungen. Das Projekt hat sich als ein Werkzeug für den sozialen Frieden in Gemeinden erwiesen, mit dem Bürgerinnen und Bürger ein wertschätzendes Miteinander schaffen können. Die Gemeinden brauchen dabei jedoch finanzielle Unterstützung von den politisch Verantwortlichen, um das Projekt implementieren zu können. Wenn Sie nähere Informationen zum gesamten Projekt der »Couragierten Gemeinde« wünschen, können Sie beim Institut für Neue Autorität (INA) per Mail den ausführlichen Endbericht anfordern: [email protected].

Bürgerprotest Im Zuge der Herbstklausur 2018 der Mitglieder des INA-Kompetenznetzwerkes brachte eine Kollegin eine Zeitung mit, die regional weit verbreitet und beliebt ist, und zeigte uns darin eine Seite, auf der halbseitig eine Werbeeinschaltung des österreichischen Innenministeriums zu lesen war. Das Thema der Kampagne war: »Verhaltenstipps bei Terror und Amok«. Diese Kampagne wurde in vielen Zeitungen und auch sozialen Medien lanciert. Wir merkten, dass wir betroffen waren und dass wir unseren Protest gegen diese Form der Verantwortlichen, für vermeintlich mehr Sicherheit zu sorgen, zum Ausdruck bringen wollten. So formulierten und übermittelten wir folgenden Text: Sehr geehrter Herr Innenminister Kickl, geschätzte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Innenministeriums! Wir möchten Ihnen eine Rückmeldung geben und auch unseren Protest ausdrücken. Wir sind eine Gruppe von Psychologinnen, Pädagoginnen, Therapeutinnen, Lehrerinnen […] und arbeiten u. a. mit den Ideen des Gewaltlosen Widerstandes von M. Gandhi und dem Konzept der neuen verbindenden Autorität von Haim Omer. Das bedeutet, dass wir in unsere tägliche Arbeit mit Eltern, Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen […] Prinzipien wie Gewaltfreiheit, Respekt, Beharrlichkeit, Transparenz miteinfließen lassen. Wir sehen es als unsere Pflicht an, Position zu beziehen zu Ihrer jüngsten Kampagne »Verhaltenstipps bei Amok und Terror«. Wir können Ihre gute Absicht nachvollziehen, Bürgerinnen und Bürger zu informieren, wie sie sich im Fall der Fälle verhalten sollen. Bei einigen sorgt das sicher auch

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für ein gesteigertes Sicherheitsempfinden. Zugleich wird bei einem großen Teil der Bevölkerung durch die Art Ihrer Kampagne Angst ausgelöst: Es gibt eine ständige Bedrohung, die allzeit über uns hereinbrechen kann. Wir leben in einem der sichersten Länder weltweit und sind überzeugt davon, dass das der falsche Fokus ist, den Sie hier setzen. Aus unserer Sicht ist der beste Weg zu einem größeren Sicherheitsgefühl der Menschen, für ein Miteinander zu sorgen, wo niemand ausgegrenzt wird und wir respektvoll miteinander umgehen und jeder, Mann oder Frau, Inländer oder Personen mit Migrationshintergrund, menschenwürdige Bedingungen und gleiche Chancen vorfinden und sich so sicher fühlen kann. Im Projekt der »Couragierten Gemeinde«, das von Ihrem Ministerium dankenswerterweise im Zuge des KIRAS-Sicherheits-Programms 2016 & 2017 gefördert wurde, setzen wir genau das um (Hinschauen, Einmischen, Verantwortung übernehmen – für mehr Sicherheit). Und auch bei unserer Tagung heuer im März in Wien mit dem Titel »Auf dem Weg zu einem respektvollen WIR!« war das unser Ziel und es waren ja auch neben Teilnehmerinnen vom Stadtschulrat, der Richtervereinigung, der Kinder& Jugendhilfe […] Vertreterinnen Ihres Ministeriums, vor allem Wiener Polizistinnen und Polizisten, dabei. Aus psychologischer Sicht lassen sich Ängste am besten überwinden, indem wir ihnen den Nährboden entziehen. Das bedeutet, dass wir Menschen, ob in Therapie, Pädagogik oder im sozialen Zusammenleben, ermutigen, sich dem Fremden und Unbekannten mit gesunder Vorsicht anzunähern, um Vertrauen zu entwickeln. Wir alle können das: Wir vertrauen dem Bäcker, der Straßenbahnfahrerin, dem Taxifahrer, dem Bergführer […] dass sie es gut mit uns meinen und uns sicher ans Ziel bringen. Das Prinzip Vertrauen ist der zentrale Schlüssel für unser Sicherheitsempfinden, und da können wir alle positiv mit beitragen. Wir würden uns eine Kampagne wünschen, in der das thematisiert wird, und nicht Terror und Amok im Fokus stehen. Gerne bringen wir dazu auch unsere Ideen ein und beteiligen uns, wenn Sie das möchten. Wir werden diese Botschaft auch für andere Personen transparent machen. 25. September 2018 Mit freundlichen Grüßen Stefan Ofner, Linz; Christiane Leimer, Linz; Heidi Jungbauer, Perg; Michaela Fried, Seitenstetten/Eisenstadt; Ulli Sommer, Pöttsching; Christine Schmutz, Amstetten; Renate Sprügl, Deutsch Kaltenbrunn; Erich Breier, Wien; Andrea Weiss, Windischgarsten; Christian Nobis, Linz; Karin Kurz, Korneuburg; Marietta Ruspeckhofer, Schlierbach; Simon Brandstätter, Wien; Karoline Amon-Dreer, Rangersdorf; Herwig Thelen, Graz, Wolfgang Binder, Söding; Martin Fellacher, Rankweil

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Arbeitsfelder in der Praxis

Literatur http://www.barandun-interkultur.ch/downloads/bfh_brunnenhof_schlussbericht.pdf (Zugriff am 29.01.2019). Barandun, K. (Hrsg.) (2012). Partizipation in interkulturellen Siedlungen. Erfolg durch Väter­ beteiligung. Zürich: Seismo. Emmenegger, B. (2016). Möglichkeitsräume schaffen. Magazin P&G, Dezember 2016, 8–9. Emmenegger, B., Fanghänel, I., Müller, N. (2017). Nachbarschaften in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen als Zusammenspiel von gelebtem Alltag, genossenschaftlichen Strukturen und gebautem Umfeld – Ein Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit. KTI Forschungsprojekt 2014– 2017. Luzern: FH Zentralschweiz. Hose, B. (2016). Aufstehen für ein neues Wir! Asslar: adeo. Lüttringhaus, M., Richers, H. (2003). Handbuch Aktivierende Befragung. Konzepte, Erfahrungen, Tipps für die Praxis. Nr. 29. Bonn: Verlag Stiftung Mitarbeit.



3  Vertiefende Aspekte

3.1 Das Announcement – Von jetzt an wird es anders Petra Girolstein

Um groß zu sein, sei ganz: Entstelle und verleugne nichts, was dein ist. Sei ganz in jedem Ding. Leg, was du bist, in dein geringstes Tun. So glänzt in jedem See der ganze Mond, denn er steht hoch genug. Para ser grande, sê inteiro: nada Teu exagera ou exclui. Sê todo em cada coisa. Põe quanto és No mínimo que fazes. Assim em cada lago a lua toda Brilha, porque alta vive. (Fernando Pessoa, 1933/1986, S. 172)

Lieber Marvin, vor vielen Jahren haben wir uns für dich entschieden. Wir wollten dich als unser Kind haben und mit dir zusammenleben. In all den Jahren hat sich viel Liebe zwischen uns entwickelt. Wir haben dich sehr gern und schätzen, was du kannst und bist. In der letzten Zeit häufen sich in unserem Leben Dinge, die wir nicht mehr haben wollen. Sie belasten uns sehr, so wollen wir nicht mit dir zusammenleben. Du greifst uns körperlich an, hast zum Beispiel Papa neulich die Treppe hinuntergeschubst. Du drohst, uns zu töten. Du zerstörst unsere Sachen, zum Beispiel die CDs und das Telefon. Wir lieben dich, und wir wollen friedlich mit dir zusammenleben. Von jetzt an werden wir alles, was wir können, dafür tun, um das zu erreichen. Bei alldem werden wir keine Gewalt anwenden und dich nicht erniedrigen.

Das Announcement – Von jetzt an wird es anders

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Wir suchen Hilfe bei unseren Freunden, sie werden uns und dich unterstützen. Wir wissen, dass wir dich nicht besiegen können, und das wollen wir auch gar nicht. Wir kämpfen nicht gegen dich, sondern um dich. Du bist unser Sohn, auch wenn du noch andere Eltern hast. Deshalb werden wir alles tun, um unser Zusammenleben erträglicher und besser für uns alle zu machen. Wir betonen noch einmal, dass uns viel an dir, Marvin, liegt. Deshalb wünschen wir uns so sehr eine Verbesserung. Papa und Mama (Die Namen in diesem Brief und alle in diesem Beitrag folgenden Namen wurden verändert.) Diese Botschaft ließen Herr und Frau Fährmann ihrem Pflegesohn Marvin zukommen. Sie betraten unangekündigt sein Zimmer, setzten sich auf sein Bett, trugen ihren Brief vor und übergaben ihn an den 16-jährigen Jungen. Seitdem sind drei Jahre vergangen. Der Brief liegt immer noch auf Marvins Nachttisch.

Er ist als »Ankündigung« zu verstehen, in der Sprache der Neuen Autorität als »Announcement« (vgl. z. B. Omer u. von Schlippe, 2004, S. 235 ff.; Omer u. Streit, 2016, S. 105 ff.; Lemme u. Körner, 2018, S. 236 ff.). Das Announcement markiert den Beginn einer neuen Phase, eines neuen Beziehungsangebots an den Adressaten, einer neuen Positionierung und Haltung des Schreibenden. In meiner Erfahrung als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Supervisorin und Elterncoach wurde die Arbeit mit dem Announcement in vielen Fällen zu einem bedeutsamen und wirkungsvollen Vorgehen der beraterischen und therapeutischen Arbeit. In diesem Beitrag soll der Einsatz des Announcements anhand unterschiedlicher Beispiele in verschiedenen Arbeitsbereichen und mit methodischen und inhaltlichen Modifikationen beschrieben werden. Der Fokus liegt zum einen bei der praktischen Anwendung, zum anderen bei der Bedeutung und der Frage der Wirksamkeit. Das Beispiel von Marvins Familie im Rahmen des Elterncoachings dient als Ausgangspunkt für die Beschreibung der Strategie. Ihm folgen Beispiele aus pädagogischen und therapeutischen Kontexten sowie solchen von Führung und Leitung und die Frage nach dem Sinn der Beschäftigung mit der eigenen Positionierung sowie der Einbettung in den weiteren Beratungsprozess. Doch zunächst zurück zu Marvin. Als Marvin sechs Jahre alt war, kurz vor seiner Einschulung, wurden er und seine Geschwister aus der Familie genommen und kamen in eine Notaufnahmegruppe. Später wurden sie auf verschiedene Pflegefamilien verteilt. In ihrer Herkunftsfamilie hatten sie eine Mischung aus Gewalt, unberechenbarer Zuwendung und Verwahrlosung erlebt.

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Vertiefende Aspekte

Frau Fährmann war eine engagierte Schulleiterin, und ihr Mann arbeitete als Betriebswirt im Management eines großen Unternehmens. Beide wollten eine Familie gründen, konnten aber keine leiblichen Kinder bekommen. Sie entschieden sich für ein Pflegekind und widmeten sich mit großem Engagement und viel Liebe dieser Aufgabe. Sie informierten sich über die Bedeutung traumatischer Erlebnisse in der Kindheit und waren voller Verständnis für die auffälligen Verhaltensweisen, die Marvin im Lauf der Zeit entwickelte. Er war ein charmantes und fantasievolles Kind, das sich in Gruppen und Schulklassen schwertat. Die Pflegeeltern sorgten für eine passende Beschulung und hielten engen Kontakt zu Lehrern und Therapeuten. Als Marvin mit etwa 14 Jahren begann, sich sehr respektlos ihnen gegenüber zu verhalten, sie beleidigte, bedrohte und sie körperlich anging, sahen sie auch dies vor dem Hintergrund der früher erlebten Traumata und versuchten stets verständnisvoll zu reagieren. Als Marvins Übergriffe zunahmen und sie sich zu Hause nicht mehr sicher fühlen konnten, wurden sie zunehmend hilfloser, ohne die liebevolle Beziehung zu ihrem Sohn zu verlieren. Zuerst fiel es ihnen schwer, zwischen dieser sehr starken gewachsenen Bindung und ihrem Widerstand gegen Marvins destruktives Verhalten zu unterscheiden. Vielmehr fühlten sie sich hin- und hergerissen und in einer immer stärker werdenden Eskalationsschleife gefangen. Als sie begannen, ihre elterliche Haltung mit Worten zu beschreiben, gelang diese Unterscheidung immer besser. Ihre Position wurde prägnanter, und beide Seiten der Beziehung wurden klarer: die unkündbare, liebe- und verständnisvolle Bindung sowie gleichzeitig der Widerstand gegen Marvins übergriffiges und respektloses Verhalten, vor welchem Hintergrund auch immer es entstanden sein mochte. Mit der Formulierung ihres Briefes an Marvin wandelte sich ihre Haltung. Es war ein Prozess über mehrere Wochen, in denen sie um Worte rangen, sich miteinander auseinandersetzten, stritten, kooperierten und immer klarer definierten, wie sie sich ihrem Sohn gegenüber positionierten. Der Brief war vor allem für die Eltern bedeutsam und erst in zweiter Linie für Marvin. Er wurde zur Ankündigung einer neuen Phase elterlicher Präsenz, zum Announcement.

Announcement als Selbstklärung Viele Menschen, die uns konsultieren, wünschen sich, das Verhalten eines anderen möge sich verändern. Manche wünschen sich Verhaltensalternativen für sich selbst, damit der andere daraufhin anders reagieren möge. Die meisten brauchen Unterstützung dabei, ihre eigene Haltung in der jeweiligen aktuellen Situation zu beschreiben, eigene Beweggründe und Hintergründe zu verstehen und sich daraufhin mit einer neuen Sicherheit zu verorten. Diese neue »Positionierung«

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macht es einfacher, über eigene Verhaltensmöglichkeiten nachzudenken, die als neues Beziehungsangebot verstanden werden können. Doch wie kann diese Unterstützung aussehen? Beraterinnen und Therapeuten können den Blick weiten über das unmittelbar angebotene Problem hinaus. Beim Fragen und Sprechen über eigene biografische Hintergründe, über die individuelle Bedeutung dessen, was gerade geschieht, über bisherige Erfahrungen, Hoffnungen und Enttäuschungen entsteht ein neuer Blick auf die eigene Person und Situation. Bereits 1805 schrieb Heinrich von Kleist »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«: »Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. […] ich will, daß du aus der verständigen Absicht sprechest, dich zu belehren […]. Der Franzose sagt, l’appétit vient en mangeant, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l’idee vient en parlant« (Kleist, 1805/1986, S. 2). Die Idee kommt beim Reden und lässt die eigene Haltung zu einem bestimmten Thema konturierter werden. Irvin Yalom beschreibt dies als »chimney-sweeping«: »Vielleicht müssen Sie lernen, sich klarer auszudrücken, und zwar sich selbst gegenüber. In diesen Tagen habe ich erkannt, daß die philosophische Kur darin bestehen muß, auf die eigene, innere Stimme hören zu lernen. […] ›Chimney-sweeping‹ – […] [d]en Kamin fegen hieß soviel wie einen Stopfen ziehen, damit sie den Kopf freibekäme und ihr Bewußtsein von allen störenden Gedanken reinigen könnte« (Yalom, 1996, S. 273). Die eigene Stimme wird klarer, wenn ich weiß, wie und warum sie entstanden ist. Im nächsten Schritt geht es darum, sie mit der jeweiligen Situation in Verbindung zu bringen mit der Frage: Was genau möchte ich wem mitteilen? Wenn die Mitteilung in eine schriftliche Botschaft gebracht wird, dann gewinnt sie an Wert und Gewicht. Diese eigene Positionierung ist auch Teil des Announcements. In der psychotherapeutischen Arbeit sind Briefe nicht neu. Wir lassen Briefe schreiben, wenn es um Trauerarbeit geht, ums Abschiednehmen oder um das Einnehmen eines neuen Blickwinkels (vgl. z. B. Neumann, 2015; White u. Epston, 2013). Das Announcement (im Folgenden immer synonym mit der »Ankündigung« verwandt) ist der Brief, der die Beziehung einem anderen Menschen gegenüber beschreibt und das Angebot einer veränderten Bindungsbeziehung enthält. Das Announcement ist immer als Botschaft eines Menschen an einen oder mehrere andere Menschen zu verstehen. Es ist kein Vertrag, der andere muss dem nicht zustimmen oder damit einverstanden sein. Die Ankündigung unterstützt darin, »meine Gedanken zu verfertigen« (s. o.), sie klarer in Worte zu fassen und damit für mich selbst verstehbarer zu machen. So fällt es leichter, die eigene Position zu beschreiben, aus der heraus ich mich

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Vertiefende Aspekte

künftig verhalten werde. Dieses Verhalten wird unter Umständen anders sein als vorher, denn eine neue Haltung gebiert neue Verhaltensweisen. Ich werde andere Dinge tun oder lassen als vorher – ab jetzt wird es anders. So dient das Announcement in erster Linie der Selbstreflexion und der eigenen Klärung. Klarheit wiederum unterstützt Beharrlichkeit, Standhaftigkeit und die Entwicklung kreativer Ideen. Erst in zweiter Linie wirkt die Ankündigung beim Empfänger, und dies auf sehr unterschiedliche Weise. Für Marvin war das Announcement so wertvoll, dass er es auf seinem Nachttisch hütet. Andere Kinder zerreißen es, nehmen es nicht an, hängen es über das Bett oder werfen es ins Klo. Dasselbe ist von anderen Adressaten zu berichten, denn inzwischen findet das Announcement auch Anwendung unter Paaren, in professionellen Helferbeziehungen, es wird von Kindern an die Eltern geschrieben oder vom Chef an die Mitarbeiterinnen (vgl. auch Lemme u. Körner, 2018, S. 236 ff.).

Announcement als Ankündigung des Widerstands Arist von Schlippe und Haim Omer veröffentlichten in einem ihrer ersten gemeinsamen Bücher im »Anhang für Eltern« (Omer u. von Schlippe, 2004, S. 229 f.) eine Anleitung für »die Ankündigung«. In dieser Struktur stand der formulierte Widerstand der Eltern gegen das destruktive Verhalten des Kindes im Vordergrund. Die »3+1-Körbe-Methode« (nach Weinblatt, 2009, s. a.: Omer u. von Schlippe, 2004, S. 223 ff.; Lemme u. Körner, 2018, S. 232 ff.) bietet eine gute Grundlage dazu, herauszufinden, gegen welches Verhalten genau der Widerstand sich richtet. Zunächst werden alle unerwünschten Verhaltensweisen des Kindes gesammelt und jedes Verhalten auf einen Zettel geschrieben. Dabei ist es wichtig, wirkliches Verhalten zu beschreiben und nicht mit Überschriften zu arbeiten. »Hält sich nicht an Regeln« wird konkretisiert in »Steht ohne zu fragen vom Essenstisch auf und läuft davon« oder »Stellt nach 22 Uhr die Musik in ihrem Zimmer laut an«. Auch »Kommt zu spät nach Hause« ist zu uneindeutig. Wer definiert, was »zu spät« ist? Vielleicht sprechen die Eltern von Minuten am Nachmittag, während die Therapeutin an Stunden in der Nacht denkt! Auf dem Zettel könnte z. B. stehen: »Kommt etwa zweimal wöchentlich am Abend bis zu zwei Stunden zu spät nach Hause«. Schon dieses Konkretisieren der Verhaltensweisen und die Beschreibung als Handlung im Gegensatz zur Zuschreibung (»Sie ist frech, respektlos, übergriffig, faul, verlogen etc.«) hilft den Eltern bei der Besinnung darauf, worum es eigentlich geht. Dabei dürfen sie so viele Verhaltensweisen aufschreiben, wie sie wollen. Vor allem Eltern, die bereits mehrere Hilfemaß-

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nahmen erlebt haben und beratungserfahren sind, genießen diesen Prozess, in dem sie unzensiert alles benennen dürfen, was sie stört, ohne nach dem »guten Sinn«, den »Ressourcen, die darin stecken«, oder eigenen Anteilen an diesem Verhalten befragt zu werden. Sind alle Zettel gesammelt, beginnt der nächste Arbeitsschritt, die Sortierung in die drei Körbe: •• den großen für alle Verhaltensweisen, die zwar ärgerlich, nervenraubend und unerwünscht, aber im weitesten Sinn »normal« sind; •• den mittleren für diejenigen Verhaltensweisen, die nicht tolerierbar sind, aber zunächst nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehen; •• den kleinen (roten) Korb, in dem nicht mehr als drei Zettel liegen dürfen mit denjenigen Verhaltensweisen, welche die Eltern nicht länger hinnehmen wollen und wogegen sie Widerstand leisten wollen. Diese Sortierarbeit braucht oft die Unterstützung einer Beraterin und kann sich durchaus über längere Zeit hinziehen. Manchmal scheint es nicht nachvollziehbar, warum »Lässt Essensreste im Zimmer schimmeln« im kleinen Korb liegt und »Verprügelt die kleine Schwester« im großen. Manchmal hat der Vater andere Vorstellungen von dem, was wichtig ist, als die Mutter, oder ein Erzieherteam einer stationären Einrichtung merkt, dass jeder von ihnen an anderen Verhaltensweisen des Kindes arbeitet. Dann ist diese Arbeit ein erster Schritt zu mehr Kooperation und gemeinsamer Bündelung der Kräfte. Darüber hinaus bildet sie auch die Basis für die Kooperation zwischen Berater und Eltern, denn die Beraterin kann nur dann fördernd unterstützen, wenn sie die Beweggründe der Eltern nachvollziehen kann und Anschluss an deren Werte findet. Es kann auch ein weiterer Korb verwendet werden. Oftmals ist dies der »Ressourcenkorb« (auch »Bewahrungskorb«, vgl. Lemme u. Körner, 2018, S. 234), den viele Kollegen von Anfang an dazustellen. Nach meiner Erfahrung scheint es sinnvoll, ihn erst dann hinzuzunehmen, wenn der Erziehende selbst auf Ressourcen oder zu Bewahrendes zu sprechen kommt. Auch andere vierte Körbe sind denkbar, so z. B. der »Sorgenkorb«, wenn immer wieder Sorgen thematisiert werden, oder der Korb für die bedenklichen Verhaltensweisen der Mutter, wenn sie selbst davon spricht. Die im kleinen Korb befindlichen Verhaltensweisen sind diejenigen, welche im Announcement der Erziehenden an das Kind benannt werden. Die Erwachsenen verpflichten sich, alles dafür zu tun, dass dieses Verhalten sich ändert, ohne aber an das Kind zu appellieren. Die Botschaft ist stets: Wir werden es künftig anders machen. Wir holen uns Unterstützung, damit uns das besser gelingt. Wir tun es, weil uns an der Beziehung zu dir viel liegt und wir sie verbessern wollen.

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Vertiefende Aspekte

Das Announcement ist somit eine Musterunterbrechung, indem der Widerstand der Eltern gegen bestimmte Verhaltensweisen des Kindes explizit benannt wird.

Announcement als Beziehungsbotschaft Jede Ankündigung des Widerstands ist immanent auch eine Beziehungsbotschaft. Daneben gibt es Announcements, die ausdrücklich die Beziehung thematisieren. Auf irgendeine Art und Weise ging Bindung verloren, das Zusammenleben wurde schwierig oder wird als lieblos beschrieben, die Familienrollen sind durcheinander geraten und fühlen sich »falsch« an. Wenn die Erwachsenen dies beklagen, ohne dass es um sehr destruktive Verhaltensweisen der Kinder geht, dann dient das Announcement dazu, eben jene Rollen neu zu definieren, neue Beziehungsangebote zu machen und einen neuen Rahmen des Zusammenlebens anzubieten. Ich hatte eine Reihe solcher Ankündigungen begleitet, als ich 2006 Uri Weinblatt traf und ihm davon berichtete. Ich war verunsichert, da ich Announcements als Geste des Widerstands gelernt hatte. »Sicher«, sagte ich, »das Announcement ist keine Liebeserklärung …« »Why not?«, antwortete Uri. Bei dieser Art von Ankündigungen steht nicht der Widerstand gegen bestimmte Verhaltensweisen im Vordergrund, sondern die Beziehungsqualität. Die Botschaft ist das Bemühen um eine andere Art des Kontakts als die bisher gelebte. Vanessa (14 Jahre) z. B. zeigte zunehmend selbstverletzendes Verhalten, ritzte sich an Armen und Beinen und zog sich mehr und mehr zurück. Sie hatte einige Monate in einer psychiatrischen Klinik verbracht, verletzte sich aktuell nicht mehr, verbrachte den Tag nach der Schule jedoch abgeschieden in ihrem Zimmer. Sie lebte allein mit ihrer Mutter, der Vater war unbekannt und die wechselnden Partner der Mutter hatten die Familie immer wieder verlassen. Um die Übergangsphase von der Klinik nach Hause zu unterstützen, war eine sozialpädagogische Familienhilfe für Vanessa installiert worden. Das Mädchen zeigte keinerlei Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Beraterin Laura und zog sich immer mehr zurück. Nachdem Laura verstanden hatte, dass es nicht darum ging, dass sie eine gute Beziehung zu Vanessa haben sollte, sondern es ihre Aufgabe war, die Mutter dabei zu unterstützen, die Beziehung zu deren Tochter neu zu gestalten, änderte sie ihren Arbeitsauftrag und schloss einen neuen Kontrakt mit der Mutter. Bereits nach kurzer Zeit formulierte die Mutter folgende Botschaft:

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Liebe Vanessa, wir haben schwere Zeiten hinter uns. Du warst lange in der Klinik, und wir haben uns wenig gesehen. Seit Februar bist du wieder zu Hause, und am Anfang war die Stimmung besser. Doch mehr und mehr ziehst du dich zurück und nimmst keinen Anteil an unserem gemeinsamen Leben. Du sprichst nicht mit mir, und ich weiß gar nicht so richtig, wie es dir geht. Ich bedaure das sehr, und ich mache mir große Sorgen um dich. Es tut mir auch leid, dass ich mich in den vergangenen Jahren nicht so um dich gekümmert habe, wie du es gebraucht hättest. Das soll ab jetzt anders werden! Ich werde alles dafür tun, dass wir wieder miteinander sprechen. Ich möchte erfahren, wie es dir geht und was für dich wichtig ist. Laura unterstützt mich dabei, und wenn du möchtest, ist sie auch für dich da. Ich werde mir mehr Zeit für dich nehmen, dir zuhören und dich dabei anschauen. Du bist mir so wichtig, du bist mein Kind, und ich liebe dich. Deine Mama

Es hat den Anschein, dass es für Erziehende noch schwieriger ist, neue Bindungsangebote zu machen, wenn es keine destruktiven Verhaltensweisen gibt, denen man sich widersetzen kann. Verhaltensweisen kann man beschreiben, in Worte fassen, und meist ist es möglich, deren Sinn oder Unsinn zu erkennen und zu bewerten. Hat man sie für sich definiert, kann man sich neu positionieren und alternative Handlungsschritte überlegen. Doch wenn der Bruch der Bindung ein eher schleichender Prozess war, der nicht eindeutig mit Verhaltensproblemen des Jugendlichen in Verbindung gebracht werden kann, dann spielen Schuldund Schamgefühle der Eltern eine noch größere Rolle. »Wir leben in einer Kultur, in der sehr hohe Erwartungen an Eltern gerichtet werden. […] Bei solch hohen Standards ist es kein Wunder, dass viele Eltern sich unzulänglich fühlen. Sie empfinden Scham in Bezug auf ihre Erziehung, denn bei diesen hohen Standards werden die meisten Eltern irgendwann versagen, und dann wird ihre Erziehung von Scham durchdrungen« (Weinblatt, 2016, S. 120). Scham verführt zu dramatischen Handlungen oder zum Rückzug – alles scheint besser, als sie zu spüren. Sie ist schwer besprechbar und nicht einfach zu regulieren. Wenn es Elternpaaren oder Kollegen im Erziehungsalltag gelingt, sich gegenseitig zu ermutigen, zu kritisieren, Anteil aneinander zu nehmen und einander zu beraten, dann gibt es gute Chancen, Scham in einem zu bewältigenden Rahmen zu halten. Doch wenn die Partnerin fehlt oder Themen wie Missbrauch und Schutzlosigkeit hinzukommen, dann ist es nach meinen Erfahrungen noch schwieriger, Schritte in eine neue Bindung und Beziehungsgestaltung zu gehen. Das Announcement hilft dabei, eine neue Sprache der Stärke zu finden, die bei diesem Übergang unterstützt.

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Vertiefende Aspekte

Daniela (15 Jahre) z. B. wandte sich an eine Nachbarin und gestand ihr, dass sie seit über einem Jahr von einem Mann, ebenfalls aus der Nachbarschaft, sexuell missbraucht werde. Die Nachbarin begleitete Daniela zum Jugendamt, dort wurde sie in Obhut genommen, weil sie nicht mehr nach Hause zu ihrer Mutter wollte. Daniela wechselte bald in eine feste Wohngruppe. Ihre Mutter, die mit Danielas kleinem Halbbruder von einem anderen Vater zusammenlebte, war fassungslos und wollte, dass Daniela zu ihr zurückkehrte. Doch wann immer sie in die Einrichtung ging, um ihre Tochter zu sehen, überbrachte eine Erzieherin ihr die Botschaft, Daniela wolle keinen Kontakt. Die Mutter bat, ihrer Tochter auszurichten, sie sei nun jeden Donnerstag von 16 bis 18 Uhr im Foyer der Einrichtung und warte auf Daniela. In dieser Zeit schrieb sie fortan Briefe an ihre Tochter. Es war eine Art kontinuierliches Beziehungs-Announcement, in dem sie schrieb, wie sie alles erlebt hatte, wie leid es ihr tat, von den Übergriffen nichts bemerkt zu haben, und wie sehr sie sich wünschte, wieder Kontakt zu Daniela zu haben. Sie schrieb davon, wie der Bruder sich entwickelte, wie er nach der Schwester fragte und wer sonst sich nach ihr erkundigt hatte. Sie dachte über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft nach und versicherte, immer Danielas Mutter zu bleiben und alles dafür zu tun, dass es ihr gut gehe, ob zu Hause oder an einem anderen Ort. In den ersten Wochen erhielt die Mutter ihre Briefe der vergangenen Woche ungeöffnet zurück, dann wurden sie nicht mehr zurückgegeben, und nach weiteren Wochen antwortete Daniela zum ersten Mal. Nach fast vier Monaten fand das erste Treffen zwischen Mutter und Tochter statt.

Announcement als Botschaft an mich selbst Marc (13 Jahre) war von seiner Mutter Nadine als Säugling adoptiert worden, während sie in einem karitativen Projekt in Guatemala arbeitete. Das Neugeborene lag irgendwann in einem Körbchen vor dem Kinderheim. Nadine nahm den Jungen bei sich auf, um ihm das Heimleben in einer großen Gruppe zu ersparen. Die Adoption verlief problemlos. Von Anfang an zog sie ihn allein groß, auch nachdem sie mit dem Dreijährigen nach Deutschland zurückgekehrt war. Nadines Beziehung zu Marc wurde schwierig, als er etwa elf Jahre alt war. In der Schule und in seinem Freundeskreis gab es keinerlei Probleme, während er sich von seiner Mutter mehr und mehr zurückzog und sie den Eindruck hatte, nicht mehr an ihn heranzukommen. Nadine war von Sorge durchdrungen, gleichzeitig hielt sie ihre Ängste vor Marc verborgen und thematisierte sie nicht. Sie fühlte sich schuldig, ihn damals aus seinem Kontext gerissen und für sich allein behalten zu haben, ihm nie einen Vater geboten und ihre eigenen Nähebedürfnisse mit dem Kind gestillt zu haben.

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Diese Scham hielt sie davon ab, mit Freunden darüber zu sprechen. Sie glaubte sich und Marc in der Gefahr, einander zu verlieren, und in der Tat distanzierten sie sich immer mehr voneinander. Nadine wusste immer weniger, mit wem und wo er seine Tage verbrachte, und traute sich nicht nachzuforschen. Später stellte sich heraus, dass Marc ihre Zurückhaltung für Desinteresse hielt und er deshalb weniger von sich erzählte. So waren beide in einem Teufelskreis gefangen, in dem ihre Beziehung litt. Nadine griff den Vorschlag ihrer Beraterin auf, eine Art Ankündigung für sich selbst zu schreiben. Darin beschrieb Nadine ihre Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen, die sie gehabt hatte, als sie Marc bei sich aufnahm. Sie erzählte ihre gemeinsame Geschichte und wie der Junge wuchs, selbstständiger wurde und mehr und mehr Autonomie entwickelte. Sie schrieb darüber, wie er sie heute anders brauchte als früher und wie auch bei ihr sich neue Freiräume entwickelten und ihre Beziehung sich veränderte. Sie schrieb ihre Geschichte und fand Anerkennung für das, was sie geleistet hatte. Es schien, als fände im Laufe des Schreibens eine Art »gute Distanzierung« von Marc statt. »Es ist ein bisschen wie Ablösung«, sagte sie. Damit entwickelte sich ein neuer Blick auf ihn, der nicht nur sorgenvoll war, sondern interessiert und neugierig, kritisch und fordernd. »Ich werde von jetzt an deine Mutter sein«, schrieb sie, »nicht deine Retterin. Ich werde dich fragen, wenn ich etwas von dir wissen möchte, und werde dich nicht um Erlaubnis bitten, um Anteil an deinem Leben zu haben. Ich habe Anteil, ich werde ihn immer haben, denn du bist mein Sohn, auch wenn ich dich nicht geboren, sondern gefunden habe.« Diese Ankündigung wurde nie an Marc übergeben. Als sie für Nadine stimmig war, entschied sie, sie für sich zu behalten. Sie hatte erkannt, dass es um ihren eigenen Entwicklungsprozess ging, um ihre eigene Unsicherheit in ihrer Rolle, für die sie kein Modell hatte. Damit wollte sie Marc nicht belasten. Sie ließ offen, ob er sie viel später vielleicht einmal erhalten sollte.

Die Beispiele veranschaulichen, dass die Ankündigung immer beides ist, Ausdruck des Widerstands und Beziehungsangebot. Je nach Kontext steht die eine Seite mehr im Vordergrund als die andere. Ähnlich verhält es sich mit dem Adressaten: Das Announcement ist immer Selbstverpflichtung und insofern eine Botschaft an mich selbst wie gleichzeitig eine Ankündigung für das betroffene Kind. Der Hintergrund, die Absicht und die Personen, die gestärkt werden sollen, bestimmen, ob ich es mehr für die eine oder für die andere Seite schreibe.

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Vertiefende Aspekte

Announcement als Ritual Manche Erziehende fragen: »Wieso soll ich das aufschreiben? Ich hab es ihr doch schon gesagt«, oder: »Ich habe es ihm sogar schon mal in einem Brief geschrieben, das muss ich nicht noch einmal«, oder: »Ich gebe ihr den Brief, aber Vorlesen find ich künstlich.« Die Kraft der Ankündigung speist sich aus zwei Quellen: der Selbstreflexion, während die Erwachsenen die Botschaft formulieren und sich damit auseinandersetzen, und der Musterunterbrechung. Diese Musterunterbrechung markiert den Übergang vom Vergangenen in die Zukunft. Ab jetzt wird es anders – deshalb verhalten wir uns heute anders als bisher. Es erfolgt eine geplante Übergabe der Botschaft, meist so, dass sie – mit oder ohne Zeugen – verlesen und übergeben wird. Die Übergabe des Announcements ist somit eine besondere Handlung. Sie wird in diesem Moment auch nicht diskutiert, sondern sollte für sich stehen. Verständnisfragen können beantwortet werden, sofern es wirklich um Verständnis geht, Diskussionen werden bestenfalls vertagt (vgl. Omer u. von Schlippe, 2016, S. 236). Die besondere Handlung wird in Erinnerung bleiben, sowohl bei den Erwachsenen als auch beim Kind. Sie ist ein Ritual (vgl. z. B. Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 2011; Imber-Black, Roberts u. Whiting, 1995), das den Übergang vom bisherigen zum künftigen Verhalten begleitet. Diese »Schwellenphase« unterbricht das alte Muster und stellt ein neues in Aussicht. Der Übergang wird sowohl in Worte gefasst als auch durch die Form des Briefs sozusagen materialisiert, man kann die Botschaft immer wieder lesen oder verlesen, sie wird bleiben. Den Rahmen bildet die gemeinsame symbolische Handlung, die Übergabe erfolgt an einem bestimmten Ort durch bestimmte Menschen, manchmal unter Zeugen. Was vielleicht gewaltig klingt erfolgt doch oft auch sehr einfach. Zum Beispiel wird die Ankündigung im Zimmer des Kindes vom Vater vorgetragen, sie wurde von beiden Eltern unterschrieben und wird nach etwa drei Minuten Zusammensein übergeben. Je nach Kontext und Dringlichkeit (vgl. Lemme u. Körner, 2018, S. 125 f.) kann die Inszenierung jedoch auch viel größer sein: Das Kind wird an den Familientisch gebeten, an dem seine Eltern, die sozialpädagogische Familienhelferin, die beiden Betreuer aus der Tagesgruppe, der älteste Bruder des Kindes, der bereits eine eigene Familie hat, und der Stadtteilpolizist Platz genommen haben. Das Announcement wurde von allen Anwesenden unterschrieben. Die Mutter trägt es vor und gibt es danach an jeden der Anwesenden weiter, die jeweils noch etwas Persönliches hinzufügen. Am Schluss landet es bei dem Jungen, zusammen mit einem besonderen Stein, den ein Betreuer und der Junge einmal gemeinsam gefunden haben und der ihn künftig an die Botschaft erinnern soll.

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Announcement in unterschiedlichen Kontexten Ursprünglich als Instrument für die Arbeit mit Eltern gedacht, ist die Ankündigung ebenso nutzbar von Erziehenden, die im professionellen Kontext ihre Beziehung zum Kind gestalten: von den Erzieherinnen der Tagesgruppe, dem Einzelbetreuer, den Sozialpädagoginnen in der stationären Wohngruppe, dem Erzieher im Kindergarten, der Lehrerin in der Schule etc. Ein Announcement sollte stets authentisch formuliert sein und für die jeweilige professionelle Beziehung passen (vgl. Lemme u. Körner, 2018, S. 127). So wird man im professionellen Kontext weniger von Liebe sprechen als vielleicht von Sympathie, Zuneigung, Wertschätzung oder Zugehörigkeit. Die meisten professionellen Kontakte enden irgendwann, mit dem Abschluss der Beratung, dem Ende des Hilfeplanzeitraumes oder dem Übergang in ein anderes Hilfeszenario, sodass keine unendliche Beziehung in Aussicht gestellt werden sollte. Die Botschaft gilt eben für die Dauer des Kontakts, egal ob der über wenige Monate oder viele Jahre geht. Vor allem bei der Ankündigung in der Jugendhilfe kommen manchmal Bedenken auf: Wenn ich so engagiert Beziehung und Bindung anbiete, wie ist es für das Kind, wenn ich es verlasse oder wenn es die Einrichtung verlassen muss? Mache ich es damit nicht noch schlimmer? Die Antwort ist eindeutig: Nein. Wie kurz die Beziehung auch gewesen sein mag, so macht das Kind doch eine Bindungserfahrung, vielleicht eine von wenigen wichtigen und manchmal die einzige in seinem bisherigen Leben. Der Schmerz ist vielleicht größer bei der Beendigung des Kontakts, doch auch eine schmerzliche Erfahrung ist eine Bindungserfahrung, die das Kind reicher macht. Wenn die Endlichkeit des professionellen Kontakts selbstverständlich mit bedacht wird und wenn mit dem aus welchen Gründen auch immer nahenden Ende bedachtsam umgegangen und dieses gut vorbereitet wird, dann wird das Kind den Beziehungsschatz in Erinnerung behalten und kann mit anderen Beziehungen daran anknüpfen. In Seminaren oder Workshops frage ich oftmals nach eigenen Erfahrungen mit »relevanten Dritten«, mit Menschen, die zu einer guten Entwicklung beitrugen, weil sie mit ihrer besonderen Präsenz im Leben als Kind oder Jugendlicher auftauchten oder anwesend waren. Benannt werden stets Menschen, die prägnante Beziehungsangebote machten, keine dramatischen, keine wahnsinnig ungewöhnlichen. Eher wandten sie sich dem Kind auf eine authentische, selbstverständliche Art zu, zeigten Interesse, Neugier und Wertschätzung. Vor diesem Hintergrund kann das Announcement eines Erziehers wichtig für die Entwicklung des Kindes sein, gerade weil der einzigartigen Beziehung eben dieses Erziehers zum Kind Bedeutung beigemessen wird. Gleichwohl soll-

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Vertiefende Aspekte

ten die Verfasser keine Zustimmung oder gar Dankbarkeit erwarten. Auch die »relevanten Dritten« der Seminarteilnehmer wissen zum größten Teil nicht um die Anerkennung, die ihnen nachträglich zuteilwird. Adrian (18 Jahre) wurde von den Sozialpädagogen Markus und Beate betreut. Er lebte allein in einer von der Jugendhilfe bezahlten Einzimmerwohnung und hatte gerade eine Berufsausbildung begonnen. Nach den ersten guten Wochen der Betreuung begann er, vereinbarte Termine immer häufiger abzusagen. Die Pädagogen klingelten weiterhin beharrlich bei ihm und hinterließen Zettel, auf denen stand, dass sie wiederkommen würden. Als Adrian schließlich (nach etwa zwei Wochen) genervt öffnete, erhielt er folgende Botschaft: Hallo Adrian! Wir, Beate und Markus, wir haben uns entschieden, dir heute einen Brief zu schreiben. Was wir dir zu sagen haben, ist uns sehr wichtig. Wir haben mit dir diese Wohnung gesucht und gefunden, sie eingerichtet und wir haben in den vergangenen Monaten viel miteinander geschafft. Aber in letzter Zeit, konkret: am 11.05., am 18.05., am 20.05. und am 23.05., hast du uns die Tür nicht aufgemacht. Besonders Beate gegenüber warst du unverschämt, du hast sie beschimpft und aus der Wohnung gedrängt. Wir kennen dich auch anders – kooperativ, gut gelaunt, kraftvoll, manchmal traurig, ruhig, freundlich. Gerade deshalb wollen wir, dass du dein Verhalten änderst. Lass uns rein, arbeite mit uns zusammen! Wir werden alles, was wir können, dafür tun, dass es zwischen uns wieder besser wird! Wir wollen nicht gegen dich kämpfen, höchstens mit dir! Also dann! Markus und Beate Adrian war vor allem erstaunt, keine Standpauke oder Sanktionen zu erhalten, sondern eher eine Einladung zum Wiedereinstieg in die Kooperation.

Announcement in der Schule Auch Lehrerinnen schreiben Ankündigungen an ihre Schüler (vgl. Lemme u. Körner, 2016). Dies können sowohl Einzelkontakte sein als auch Botschaften an Gruppen oder ganze Klassen. Frau Stolz war Schulsozialarbeiterin an einer Realschule. Ihre Beratungen waren geschätzt von Lehrern, Schülerinnen und Eltern, und zu der Schulleiterin hatte sie

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guten Kontakt. Es häuften sich die Beschwerden über die Klasse 9b, in der es eine Reihe von Schülerinnen und Schülern gab, die in steigendem Maß den Unterricht störten, Regeln verletzten und die Lehrerinnen und Lehrer beleidigten. Die Klassenlehrerin hatte Frau Stolz mehrfach als Beraterin genutzt, doch ihre Interventionen blieben erfolglos. Das Verhalten der Schüler verschlimmerte sich in dem Maß, in dem die Hilflosigkeit der Lehrerin wuchs. Frau Stolz entschied sich, keine übliche »Klassenstunde« abzuhalten, in der über das Verhalten der Schüler gesprochen werden würde, sondern stattdessen ein Announcement zu verfassen. Es wurde von der Klassenlehrerin, der Schulleiterin, allen Fachlehrern und ihr selbst unterschrieben. Das gesamte Klassenkollegium betrat an einem Vormittag den Klassenraum und stellte sich vor die Kinder, während die Klassenlehrerin das Announcement verlas: Ihr Schülerinnen und Schüler der Klasse 9b! Wir haben uns entschieden, heute mit euch zu sprechen und diesen Brief zu schreiben. Der Brief wird hier im Klassenzimmer an der Wand hängen. Wir möchten euch Folgendes sagen: Die Atmosphäre in eurer Klasse hat sich sehr verändert, inzwischen kommt kein Lehrer mehr gerne hierher. Ihr beleidigt die Lehrer, ihr befolgt ihre Aufforderungen nicht und ihr stört den Unterricht. Das betrifft natürlich nicht alle, doch auch diejenigen, die nicht aktiv stören, tragen nicht dazu bei, dass es besser wird. Wir sind nicht länger bereit, das so hinzunehmen, und werden von jetzt an auf Regelverstöße oder unangemessenes Verhalten von euch reagieren. Wir informieren einander darüber, und es kann sein, dass Einzelne von euch vorübergehend in andere Klassen geschickt werden. Auch Elterngespräche sind möglich. Es werden Einzelgespräche mit Schülern stattfinden. Wir haben kein Interesse daran, euch zu bestrafen, doch wir wollen wieder gerne mit dieser Klasse arbeiten. Deshalb wird von jetzt an einiges anders sein als vorher. Die Schulleiterin ergänzte: »Einige der Einzelgespräche werden auch mit mir stattfinden, und ich werde auf dem Laufenden bleiben über alles, was hier geschieht. Ich möchte, dass ihr Schüler euch hier wohlfühlt, und ich will, dass meine Lehrer gern zur Arbeit kommen. Beleidigungen werden hier nicht geduldet.« Die Unterschriften wurden verlesen. Die Lehrerinnen hatten Blickkontakt zu den Schülern gehalten. Frau Stolz sagte: »Wir gehen jetzt, und der Schultag geht wie geplant weiter.« In den folgenden Wochen fanden viele Einzelgespräche mit Schülern statt, die immer zu zweit geleitet wurden, entweder die Klassenlehrerin oder Frau Stolz waren jeweils dabei. Es fanden bisher keine Elterngespräche statt, denn das Verhalten der Schüler verbesserte sich in ungeahntem Maß. Nach vier Wochen fand dann die »Klas-

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senstunde« statt, in der Frau Stolz mit den Schülerinnen über die Ereignisse der vergangenen Wochen sprach. Viele Schüler meldeten sich zu Wort, und einige thematisierten, was sie selbst zu weiteren Verbesserungen beitragen könnten (für weitere Beispiele siehe Lemme u. Körner, 2016, S. 102 f.).

Announcement für Führungskräfte Bei der Ankündigung für Führungskräfte handelt es sich um eine Botschaft an die Mitarbeiterinnen. Ist diese Strategie im Führungskontext überhaupt erwägenswert? Wie oben beschrieben, ist das Announcement vor allem »Beziehungsinstrument«, ein Hilfsmittel, um verloren gegangene oder nie dagewesene Bindung neu zu initiieren und entsprechende klare und eindeutige Angebote zu machen. Das Announcement dient der Beziehungsgestaltung – dies sollte im Kontext der Führungsrolle neu definiert werden. Für viele Menschen spielen berufliche Beziehungen zu anderen Menschen eine große Rolle, manchmal eine größere als familiäre Bezüge. Dies hängt sowohl mit veränderten gesellschaftlichen Strukturen zusammen (in Frankfurt/Main gab es z. B. 2016 unter 415.000 Haushalten 228.000 Single-Haushalte, vgl. Majic, 2016) als auch mit der speziellen Dynamik in Familienunternehmen (siehe z. B. Kapitel 1.3) und Pionierorganisationen. Als »relevante Dritte« werden oftmals die ersten Lehrherren, die erste Chefin oder eine besondere Führungsperson benannt. Führungskräfte haben Entwicklungsverantwortung für ihre Mitarbeiterinnen, indem sie Personalentwicklung und Coaching betreiben, Weiterbildungen fördern und den Fähigkeiten entsprechende, angemessen fordernde Aufträge vergeben. Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen familiären Rollen und denen in der Arbeitswelt, aber auch viele Unterschiede (z. B. die Unkündbarkeit familiärer Beziehungen oder die sich im Lebenszyklus verändernden Beziehungen zwischen Kindern und Eltern). Wir sollten uns davor hüten, in beiden Lebensbereichen undifferenziert mit denselben Instrumenten umzugehen. Lemme und Körner (2018, S. 177 ff.) schlagen vor, statt von Beziehungen von »Kooperationen« zu sprechen, um die auf Aufgaben und Projekte gerichtete Kontextbezogenheit der Zusammenarbeit zu fokussieren. Eine Ankündigung in der bisher beschriebenen Form und Struktur ist vor diesem Hintergrund nur bedingt umsetzbar. Doch man kann die Auseinandersetzung mit der eigenen inneren Haltung durchaus nutzen, auch wenn sie nicht in eine schriftliche Botschaft an die Mitarbeiterin mündet.

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Herr Sander leitete ein Team mit 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern engagiert und mit viel Freude. Er legte viel Wert auf eine verständnisvolle Kooperation mit den Mitarbeitern, dies war auch sein Ziel in Problemlösungsgesprächen, die stets auf eine einvernehmliche Einigung hinauslaufen sollten. Bisher war ihm dies in den meisten Fällen gelungen. Zu Konflikten kam es immer dann, wenn er für längere Zeit nicht anwesend war, z. B. in seinem Urlaub oder wenn er auf Arbeitstagungen unterwegs war. Seine Stellvertreterin und die Mitarbeiter stritten sich heftig über beliebige Kleinigkeiten und verlangten von ihm, dass er diese Konflikte regle, sobald er wieder da war. Nachdem Herr Sander für sich erkannt hatte, dass dieses Muster für die Autonomie und Entwicklung der Mitarbeiter nicht förderlich war und für ihn selbst immer ärgerlicher wurde, entschied er, es künftig anders zu machen. Er formulierte: Ich bin nicht damit einverstanden, dass Sie sich so verhalten, dass es stets zu Eskalationen mit XY kommt, wenn ich nicht da bin. Ich fordere Sie auf, so zu arbeiten, sich zu regulieren und ihre Kooperation zu gestalten, dass Sie konstruktiv zusammenarbeiten und die auftretenden Konflikte auf angemessene Art miteinander lösen. Wenn Sie dabei Unterstützung brauchen, leiste ich die gerne, doch nicht, wenn es von Ihrer Seite keinerlei nachvollziehbare Anstrengungen gab, in diesem Sinn zu wirken. Dieses Announcement schrieb er nur für sich auf, als Erinnerung daran, mit welcher Haltung er den Streithähnen künftig entgegentreten wollte. Er beschrieb, dass er dabei eine bisher nicht genommene Schwelle überschritt, vor der das Feld des Verständnisses und des Einvernehmens lag und hinter der das Feld der Positionierung, des Unverständnisses und der Einsamkeit liegen könnte. »Doch das gehört dazu«, sagte er und nahm diesen Satz als Anker mit, um vor den anstehenden Gesprächen die Hürde zu überschreiten.

Solcher Art »Selbst-Announcement« lässt sich im Coaching von Führungskräften gut nutzen. Im fortlaufenden Beratungsprozess kann man das Schriftstück hervorholen, um zu erkennen, was sich verändert hat und was nicht und was infolgedessen heute anders formuliert werden müsste als an dem relevanten Punkt in der Vergangenheit. Man kann Rückschau halten und in die Zukunft blicken (Was denken Sie, was in zwei Jahren hier stehen sollte?). Doch auch die »klassische Ankündigung«, die an die Mitarbeiter gerichtet ist und ihnen vorgetragen wird, kann in bestimmten Fällen zur Anwendung kommen. Frau Haller war Zahnärztin und hatte die Praxis eines Kollegen übernommen. Sie war überzeugte Vertreterin eines kooperativen Führungsstils und ließ dem medizinischen Fachpersonal alle Freiheiten, ihre Arbeitsorganisation untereinander und

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mit den Patienten selbst zu gestalten. Das Team der Fachangestellten hatte sie komplett von ihrem Vorgänger übernommen. Der hatte seine Praxis sehr rigide strukturiert geleitet, jede Aufgabe selbst kontrolliert, teils gestraft (»Dann räumen Sie die Spülmaschine noch einmal aus und dann wieder ein, bis Sie es können«), war gefürchtet unter seinen Angestellten und bot eine sehr klare Orientierung. In dem neuen Gestaltungsraum entstanden viele Streitigkeiten unter den Kolleginnen, die sie der Zahnärztin stets vortrugen mit der Bitte um Lösung. Darüber hinaus wurden Patienten in die Konflikte involviert, die sich daraufhin bei der Ärztin beschwerten oder künftig ausblieben. Frau Haller initiierte einen Teamberatungsprozess, in dessen Rahmen Einzelgespräche mit jeder Helferin stattfanden. In diesen Gesprächen wurde deutlich, wie sehr die Angestellten Halt und Struktur vermissten und dass sie Anleitung zu einer selbstständigeren Arbeit brauchten. Sie formulierten konkrete Wünsche an ihre Chefin. Die wiederum erkannte, dass sie ihre Angestellten auf dem Weg von der patriarchal geführten Praxis hin zum kooperativen Team begleiten, fördern und anleiten musste. Das nahm sie an, forderte aber auch die Bereitschaft zur Eigeninitiative und zur Kooperation untereinander. Sie schrieb folgende Botschaft: Liebe Frau Schmidt, Frau Müller, Frau Hinz, Frau Kunz und Frau Alles, ich mache mir seit einiger Zeit Gedanken um unsere Zusammenarbeit in der Praxis. Ich schätze Ihre vielen Erfahrungen und Ihre individuellen Fähigkeiten – vielleicht habe ich das in letzter Zeit zu selten gesagt. Das soll anders werden. Wir haben bereits gemeinsam darüber gesprochen, dass Sie und ich darunter leiden, dass wir bisher noch nicht zu einer guten Zusammenarbeit gefunden haben. Dies betrifft Ihr Mitarbeiterinnenteam und die Zusammenarbeit mit mir. Ich habe Unterstützung für uns bei Frau G. gesucht und freue mich sehr über Ihr Engagement während der bisherigen Treffen. Es gibt einiges, was verbessert werden sollte, und ich möchte Ihnen mitteilen, woran mir besonders liegt: •• Wenn es Konflikte zwischen Ihnen gibt, sollten Sie versuchen, sie untereinander zu lösen, bevor Sie uns ansprechen. •• Sie haben unterschiedliche Schwerpunkte bei der Versorgung der Patienten übernommen, z. B. Assistenz bei den Behandlungen, Zahnreinigung, Verwaltung, Labor usw. Erledigen Sie diese Aufgaben selbstständig, doch beharren Sie nicht darauf! Unterstützen Sie sich gegenseitig! •• Wenn es Irritationen oder Unzufriedenheiten in Bezug auf mich gibt, so sprechen Sie mich bitte an. Ich gebe gerne weitere Hinweise, wenn Sie bei der Versorgung der Patienten unsicher sind. Ebenso gehe ich auf Ihre Kritikpunkte ein. Doch ich werde nicht mehr hinnehmen, dass Sie Unstimmigkeiten über die Patienten austragen.

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Es liegt mir am Herzen zu betonen, dass ich auf keine von Ihnen verzichten will. Ich werde weiterhin das mir Mögliche dafür tun, dass sich unsere Zusammenarbeit nachhaltig verbessert. Frau Dr. Haller Frau Haller trug diese Botschaft in einer Teamsitzung vor. Das Blatt behielt sie bei sich, es schien ihr angemessener. Der Beratungsprozess ging noch etwa ein Jahr weiter. Er bestand von da an in erster Linie aus Coaching-Terminen mit der Ärztin sowie vierteljährlich stattfindenden Teamtreffen, abwechselnd mit und ohne Frau Haller. In der Folge verließ eine Helferin die Praxis, und eine neue Kraft wurde eingestellt. Es kommt nach wie vor zu Auseinandersetzungen unter den Kolleginnen, die sie aber in viel größerem Maß allein regeln. Frau Haller berichtet, dass die Teamsitzungen sich am meisten verändert haben. Während die Angestellten früher die Tagesordnungspunkte der Chefin abnickten und keine eigenen Beiträge lieferten, melden die Angestellten sich nun zu Wort und nutzen das Teamtreffen als Forum für Fragen der Organisation und Kooperation.

Announcement-Variationen Während die ursprüngliche Idee darin bestand, die sich neu entwickelnde eigene Haltung in Worte zu fassen, zu verschriftlichen und dem Kind zu übergeben, haben sich mittlerweile sehr individuelle und kreative Modifikationen entwickelt. Wenn die kreativen Ideen Ausdruck der besonderen Beziehung zu dem betreffenden Kind sind, dann sollten sie nach meiner Erfahrung unterstützt und genutzt werden. Einige Anregungen dazu: Für sehr kleine Kinder, die noch nicht oder nicht gut lesen können, ist es möglich, ein Symbol zu übergeben und die verbale Botschaft kurz und prägnant dazuzusagen. Eine SOS-Kinderdorfmutter malte ein Bild für einen Dreijährigen, der die anderen Kinder mit Essen bewarf. Das Bild zeigte ein Kind, das einen Ball zu anderen Kindern warf, und ein anderes Kind, das am Tisch saß und seinen Teller auslöffelte. Ein Hort-Erzieher bastelte ein Bodenpuzzle, bei dem man die Teile jeweils herumdrehen konnte. Auf der einen Seite war erwünschtes, auf der anderen unerwünschtes Verhalten abgebildet. Ein Bezugsbetreuer im Heim nahm in einem anderen Fall mehrere Schatzkästchen, in die er jeweils Gegenstände und Zettel legte, auf denen Botschaften zu

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Verhalten und Fähigkeiten eines Kindes standen. Die Kästchen versteckte er im Wald und lud das Kind zu einer Schatzsuche ein. Eine Erzieherin in einer Kita verband mit einem Jungen, der sich sehr destruktiv verhielt, das gemeinsame Interesse fürs Gitarrenspiel. Die Erzieherin konnte gut spielen, der Junge wollte es gern lernen. Die Erzieherin erfand ein Announcement-Lied, das sie ihm auf der Gitarre vorspielte und ‑sang. Ein Heimerzieher-Team wollte eine Botschaft an einen Jungen senden, der für längere Zeit mit einer Auslandsmaßnahme unterwegs war und bald zurückkommen würde. Ihnen war wichtig, dass das Zusammenleben anders würde als vorher. Wissend, dass der Junge es hasste zu lesen, drehten sie einen Videofilm, in dem jeder der Beteiligten zu Wort kam und persönliche Sätze an ihn richtete. Eine Mutter, die selbst kaum schreiben konnte, schrieb und malte abwechselnd einen Text für ihre Tochter, welche die erste Klasse besuchte und gerade auf diese Art lesen lernte.

So lassen sich vielfältige Variationen finden, wann immer dies passt und für die angestrebte Beziehung förderlich ist. Die begleitenden Symbole sollten nicht von der eigentlichen Botschaft ablenken, sondern sie eher unterstreichen. Je authentischer und individueller eine solche Botschaft ist, desto wirksamer ist sie für deren Sender und umso größer ist die Chance, dass sie auch für den Adressaten eindrücklich wird und einen Beitrag zur Musterveränderung leisten kann.

Announcement – und was dann? Diese Frage stellen fast alle Eltern, Erziehenden und Lehrerinnen. Sie fragen: Wenn ich meine Position gefunden und sie ausgedrückt habe, wenn ich mit aller Vehemenz formuliert habe, wogegen ich mich wende und was ich gern anders hätte – was folgt denn darauf? Systemisch betrachtet, wissen wir es nicht. Mit Gregory Bateson (1988) denken wir, dass es in der Welt der lebenden Formen instruktive Interaktion nicht gibt. Da ich nicht weiß, welche Reaktion dem Announcement folgen wird (sowohl Reaktionen des Kindes und der Umgebung als auch meine eigenen!), kann ich nicht vorhersehen, was später nützlich sein könnte. Andererseits ist es gut, Strategien und Verhaltensmöglichkeiten in petto zu haben, unabhängig von der nicht vorhersehbaren Reaktion (vgl. Lemme u. Körner, 2018, S. 128 ff.). Man kann fragen, was jede Beteiligte tun könnte, um die Situation zu verbessern. Dabei ist es hilfreich zu fragen: Was kann das Kind gut? Was würde es gern gut können? Wie lässt sich sein Verhaltensmuster erklären? Was kann man

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daraufhin darüber sagen, was es vermisst? Was könnte es heute brauchen? Von wem? Welche vielleicht verrückt anmutenden Ideen gibt es zur Verbesserung der Situation? Was können welche Unterstützer dazu beitragen? Was könnten die Erziehenden gut brauchen, um Kraft und Energie zu tanken und durchzuhalten? Was wurde bisher nicht versucht? Welche noch so kleinen Schritte gibt es, die das bisherige Muster verändern könnten? Was kann wer aus seinen Erfahrungen beitragen? Was hat schon einmal geklappt, woran kann man anknüpfen? Was würden andere relevante Menschen (die »relevanten Dritten«) dazu sagen, was man tun könnte? Wie genau kann Gefahr eingedämmt werden? Welche Rettungsmöglichkeiten gibt es für Worst-Case-Szenarien? Wie sehen Beziehungsgesten aus? Je pragmatischer diese Fragen beantwortet werden, desto besser. Die Erziehenden erhalten Anregungen, ihr Zusammenleben mit dem Kind anders zu gestalten, mit denen sie sofort beginnen können. Diese neue Handlungsfähigkeit eröffnet Denk- und Möglichkeitsräume auch für den Fall, dass das destruktive Verhalten eskaliert und beharrliche Gegenmaßnahmen gefordert sind.

Vorfälle und Beharrlichkeit Auch Rückfälle sind Vorfälle. Wenn nach einer Phase guter Entwicklung die destruktiven Verhaltensweisen sich wieder zeigen, dann bedeutet dies nicht, dass alles umsonst war. Viele Prozesse brauchen mehr Zeit, als wir ihnen zunächst zugestehen wollen, Geduld und Beharrlichkeit sind gefragt (vgl. Lemme u. Körner, 2018, S. 139). Die Besinnung auf das einst geschriebene Announcement kann dabei ebenso unterstützen wie dessen Veränderung oder das Verfassen eines neuen Announcements. Auch Marvins Eltern, die gute Erfahrungen damit gemacht hatten, griffen darauf zurück: Im Laufe der drei Jahre währenden Beratungsarbeit hatten sie immer wieder Bezug darauf genommen, auch Marvin sprach manchmal mit seinen Eltern darüber (»Was ihr da geschrieben habt, ist ja schon viel besser geworden«) und zeigte es zum Beispiel seinem besten Freund. Als es neue Herausforderungen im Zusammenleben gab, hatten die Eltern den dringenden Wunsch, die neue Situation in Worte zu fassen und ein aktuelles Announcement für Marvin zu schreiben: Lieber Marvin, nun leben wir seit langer Zeit als Familie zusammen, und du bist volljährig geworden, du bist nun erwachsen und kannst deine eigenen Entscheidungen treffen. All die Jahre mit dir als Kind und Jugendlichem waren ereignisreich. Es war

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manchmal richtig stürmisch, doch dann glätteten die Wogen sich wieder, und immer waren wir froh, dass es dich gibt! Du hast so vieles geschafft, darauf sind wir sehr stolz! Jetzt musst du noch selbstständiger werden, dann kannst du bald ohne uns leben. Über den Weg dahin schreiben wir dir heute! Denn auch für uns beginnt ein neuer Lebensabschnitt: Mama ist krank geworden und wird nicht mehr lange arbeiten. Wir, Mama und Papa, überlegen, wie wir unser Leben weiter gestalten, mit weniger Geld, mehr Zeit, aber eben auch älter. Wir können nicht mehr alles wie früher. Wir müssen und werden unser Zusammenleben auch mit dir ändern: •• Wir sind nicht damit einverstanden, dass du nicht arbeitest. Von nun an werden wir alles dafür tun, dass du arbeitest, egal ob im Rahmen einer Ausbildung oder anders. •• Wir werden darauf bestehen, dass du Einkäufe übernimmst und zum Beispiel beim Tragen schwerer Lasten hilfst. •• Wir werden demnächst zu zweit in Urlaub fahren und gehen davon aus, dass du unser Haus gut hütest. Wir werden mehr als früher darauf achten, dass du uns unterstützt. Wir machen das nicht, um dich zu ärgern, sondern weil wir es mehr als früher brauchen und weil wir noch eine Zeit lang mit dir zusammenleben wollen. In dieser Zeit kannst du fit werden zum Alleinleben! Das werden wir von nun an im Auge behalten, und wir werden unser Verhalten verändern. Auf ein neues gutes Zusammenleben! Mama und Papa

Das Announcement ist keine Zauberpille, doch nach meiner Erfahrung ein wirksames Stärkungsmittel. Im Elterncoaching lenkt es den Blick zunächst weg vom Kind auf die klagenden Eltern. Es erfragt die eigene innere Positionierung in Bezug auf Widerstand, auf Werte und Beziehungsangebote. Es fokussiert und konkretisiert, worum und um wen es geht. Es kann zu einer kraftvolleren und klareren Sprache verhelfen. Als Selbstverpflichtung fordert es heraus – die Schreiberin wie den Adressaten. Es kann zum kontinuierlichen Begleiter werden, der immer wieder die Frage stellt: Was genau möchte ich? Was ist mir wertvoll, und was bin ich dafür zu tun bereit?

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Literatur Bateson, G. (1988). Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Crone, I., Girolstein, P., Quistorp, S. (2010). Führung in unsicheren Zeiten. Entschiedenes Plädoyer für ein neues Autoritätsverständnis. Systhema, 24, 1, 43–55. Girolstein, P. (2013). Boris auf hoher See: Neue Autorität im Elterncoaching. In M. Grabbe, J. Borke, C. Tsirigotis (Hrsg.), Autorität, Autonomie und Bindung: Die Ankerfunktion bei elterlicher und professioneller Präsenz (S. 265–279). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Girolstein, P., Schnitzspan, E., Flath, S. (2006). Bei Haim sah alles so leicht aus … In C. Tsirigotis, A. von Schlippe, J. Schweitzer-Rothers (Hrsg.), Coaching für Eltern. Mütter, Väter und ihr »Job« (S. 118–132). Heidelberg: Carl-Auer. Imber-Black, E., Roberts, J., Whiting, R. A. (Hrsg.) (1995). Rituale. Rituale in Familien und Familientherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Kleist, H. von (1805/1986). Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In S. Streller (Hrsg.), Heinrich von Kleist – Werke und Briefe in vier Bänden. Frankfurt a. M.: Insel, zitiert nach: Internetausgabe. Version 11.02.2002 Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn. Lemme, M., Körner, B. (2016). »Neue Autorität« in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag. Heidelberg: Carl-Auer. Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Majic, D. (2016). Stadt der Singles. Frankfurter Rundschau, 28.11.2016, https://www.fr.de/frankfurt/cdu-org26591/stadt-singles-11082140.html (Zugriff am 29.01.2019). Neumann, K. (2015). Systemische Interventionen in der Familientherapie. Berlin: Springer. Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2009). Stärke statt Macht: »Neue Autorität« als Rahmen für Bindung. Familiendynamik, 34 (3), 246–254. Omer, H., Streit, P. (2016). Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern. Göttingen: Vanden­ hoeck & Ruprecht. Pessoa, F. (1933/1986). Ode VIII. In F. Pessoa, Alberto Caeiro – Dichtungen, Ricardo Reis – Oden. Zürich: Ammann. Weinblatt, U. (2009). Unveröffentlichtes Seminarmanuskript. Weinblatt, U. (2016). Die Nähe ist ganz nah! Scham und Verletzungen in Beziehungen überwinden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Welter-Enderlin, R., Hildenbrand, B. (Hrsg.) (2011). Rituale – Vielfalt in Alltag und Therapie. Heidelberg: Carl-Auer. White, M., Epston, D. (2013). Die Zähmung der Monster. Der narrative Ansatz in der Familientherapie (7. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Yalom, I. D. (1996). Und Nietzsche weinte. München: Goldmann.

3.2 Fokus Sit-In Claudia Seefeldt und Uri Weinblatt

Das Sit-In – eine wichtige Demonstrationsform im gewaltfreien Widerstand Der wohl bekannteste als Sit-In bezeichnete Protest wurde von vier afroamerikanischen Studenten am 1. Februar 1960 in Greensboro, North Carolina, in einem Restaurant der Woolworth-Gruppe veranstaltet, das nur für Weiße bestimmt war. Die vier jungen Männer blieben über mehrere Stunden bis zum Ladenschluss schweigend auf den Barstühlen am Lunchtresen sitzen, um gegen Segregation und Diskriminierung und für gleichberechtigte Bürgerrechte zu protestieren. Es folgten weitere Sit-Ins – mittlerweile unterstützt durch viele afroamerikanische und weiße Frauen und Männer. Die Protestierenden besetzten abwechselnd die Stühle an den Lunchtresen. Im Laufe dieser Proteste wurden sie sowohl von Polizisten als auch von Zivilisten beschimpft, erniedrigt, beschmutzt und geschlagen. Es gelang den Protestierenden jedoch, ihre gewaltfreie und passive Haltung beizubehalten, bis schließlich ein halbes Jahr später, am 25. Juli 1960, das Woolworth-Management allen Läden der Firmengruppe verordnete, die Segregation aufzugeben.1 Der Sitzstreik entwickelte sich schließlich zu einer vielfach genutzten Demonstrationsform auch für spätere friedliche Protestaktionen – wie z. B. die Sitzblockaden im Zusammenhang mit der Anti-Atomkraft-Bewegung. Das Besondere am Sit-In ist, dass sich der Protestierende absichtlich in eine sehr verletzliche Position begibt. Ordnungshüter sollen so davon abgehalten werden, mit Gewalt gegen die Demonstrierenden vorzugehen und die Situation zu eskalieren.

1

Für Videobeiträge zu den Sit-Ins in Greensboro siehe z. B. https://www.youtube.com/watch?v=Rmjt0 kJF0A (CBS News, Zugriff am 29.01.2019); https://www.youtube.com/watch?v=ooqTXv5phoc (Studies Weekly, Zugriff am 29.01.2019).

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Das Sit-In als geeignetes pädagogisches Werkzeug? Als Haim Omer die Idee des gewaltfreien Widerstands Ende der 1990er Jahre entwickelte, war es naheliegend, auch die Werkzeuge des gewaltfreien Widerstands auf ihre pädagogische Tauglichkeit hin zu überprüfen und zu entwickeln. Dabei stand die Positionierung der Erziehenden gegen ein bestimmtes problematisches Verhalten bei gleichzeitigem beziehungsorientiertem und deeskalierendem Handeln im Vordergrund. So wurde neben der »Ankündigung« das Sit-In zu einer der wichtigsten Interventionen des von Omer und seinen Mitarbeitenden entwickelten Programms, um die Präsenz der Erziehenden zu stärken. Omer und von Schlippe haben die Vorgehensweise sinngemäß folgendermaßen beschrieben (Omer u. von Schlippe, 2016, S. 237; Omer u. von Schlippe, 2010, S. 149): Die Eltern wählen einen geeigneten Zeitpunkt, um das Kind in seinem Zimmer aufzusuchen (Kind und Eltern sollten relativ entspannt sein). Die Intervention soll nicht in unmittelbarer zeitlicher Nähe einer aggressiven Auseinandersetzung oder einer gewalttätigen Handlung stattfinden, sondern mehrere Stunden oder Tage später ganz nach dem Motto: »Das Eisen schmieden, wenn es kalt ist!« Die Eltern platzieren sich wenn möglich in der Nähe bzw. vor der Zimmertür – am besten auf dem Boden. Sie sagen in etwa Folgendes: »Wir können dein Verhalten nicht mehr hinnehmen und stellen uns gegen … (benennen Sie ganz konkret das jeweilige nicht akzeptierte Verhalten des Kindes). Wir bleiben hier sitzen und warten auf deinen Vorschlag, wie du dein Verhalten ändern willst.« Danach bleiben die Eltern maximal eine Stunde möglichst still sitzen und warten auf einen konstruktiven Vorschlag. Mögliche Verhaltensweisen des Kindes und eine angemessene Reaktion der Eltern werden vorab – gegebenenfalls mit dem Coach/Therapeuten – besprochen. Falls das Kind Vorwürfe, Beschimpfungen oder Drohungen ausspricht, bleiben die Eltern still oder wiederholen, was sie bereits zu Beginn des Sit-Ins gesagt haben. Die Eltern sollen auf keinen Fall auf provokatives Verhalten einsteigen, sondern die Situation durch ihre Entschlossenheit und Ruhe deeskalieren. Sie sollen dem Kind nicht drohen und sich nicht in eine Diskussion hineinziehen lassen. Falls das Kind zu weinen beginnt, können die Eltern einen beruhigenden Satz sagen wie z. B.: »Du bist uns wichtig.« Sollte das Kind Bedingungen stellen wie z. B.: »Wenn ihr mir das neue iPhone kauft, werde ich mich bessern«, können die Eltern darauf antworten: »Diesen Vorschlag können wir nicht akzeptieren.«

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Das Kind könnte auch vollkommen unbeeindruckt auf die Aktion der Eltern reagieren und sie ignorieren, Kopfhörer aufsetzen und Musik hören oder eine Serie im Internet anschauen, auch dann bleiben die Eltern über den verabredeten Zeitraum im Zimmer und schweigen. (Beim nächsten Sit-In können sie vorbereitend das WLAN abschalten.) Falls das Kind aus dem Zimmer läuft, brechen die Eltern das Sit-In vorzeitig ab und wiederholen es zu einem späteren Zeitpunkt – möglicherweise unter Zuhilfenahme von Unterstützern. Sollte das Kind einen Vorschlag machen, den es in der Vergangenheit schon mal gemacht hat oder der für die Eltern nicht überzeugend erscheint, können die Eltern sagen: »Das haben wir schon probiert und es hat nicht funktioniert. Hast du noch einen anderen Vorschlag?« Sollte das Kind aber einen Vorschlag machen, der vielversprechend klingt, können die Eltern das Sit-In beenden, z. B. mit dem Satz: »Wir geben deinem Vorschlag gern eine Chance«, und das Zimmer verlassen. Sollte das Kind keinen Vorschlag machen, verlassen die Eltern nach der verabredeten Zeit das Zimmer, z. B. mit dem Satz: »Wir haben heute noch keine Lösung gefunden.« Wichtig ist, dass sich die Eltern während des Sit-Ins oder unmittelbar danach nicht zu einer Drohung oder Warnung hinreißen lassen. Dazu bedarf es einer guten Vorbereitung des Sit-Ins. Falls die Möglichkeit besteht, dass das Kind gewalttätig reagiert, kann es hilfreich sein, dass sich Freunde oder Verwandte während und nach der Intervention im Haus aufhalten. Auch darüber wird das Kind zu Beginn des Sit-Ins informiert: »Da wir befürchten, dass du gewalttätig werden könntest, haben wir XY eingeladen.« Die Anwesenheit einer oder mehrerer Personen neben den Eltern wirkt mit hoher Wahrscheinlichkeit deeskalierend. Es gibt sicher noch weitere mögliche kreative Verhaltensreaktionen des Kindes. Wichtig ist, dass es den Eltern gelingt, über einen bestimmten Zeitraum ruhig ihre Präsenz und ihre Entschiedenheit gegen das problematische Verhalten zu demonstrieren. Nach Beendigung des Sit-Ins nehmen die Eltern ihren üblichen Tagesablauf wieder auf, ohne auf das Sit-In oder eventuell genannte Vorschläge einzugehen. Auch die Nachbereitung für die Zeit nach der Intervention ist wichtig. Es ist gut möglich, dass das Kind sein problematisches Verhalten vorerst beibehält. Es ist aber auch möglich, dass sich – obwohl es vielleicht keinen Vorschlag während des Sit-Ins eingebracht hat – sein Verhalten verbessert. Ob das Kind während des Sit-Ins einen Vorschlag bringt oder nicht, ist nicht

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von hoher Bedeutung, sondern vielmehr der entschiedene Ausdruck der elterlichen Präsenz und Sorge. Sollte das problematische Verhalten in den Wochen nach einem Sit-In weiter andauern, kann das Sit-In mehrere Male wiederholt werden – neben den anderen Interventionen wie Versöhnungsangeboten, weiteren Präsenzdemonstrationen und dem Einbezug von Unterstützern. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre konnten viele praktische Erfahrungen in der Durchführung von Sit-Ins gesammelt werden. Dies hat dazu geführt, dass sich die zugrunde liegenden Prinzipien veränderten, die Handhabung der Intervention flexibler und, ja, auch weicher wurde und Variationen entstanden (siehe Tabelle 1: Vergleich der Prinzipien damals und heute). Zu Beginn lag der Fokus des Sit-Ins auf der Stärkung der Erziehenden durch eine deutliche Präsenzdemonstration. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass die Intervention ein sehr geeignetes Mittel darstellt, um die Verbindung zwischen Kind und Erziehenden zu stärken (Weinblatt, 2014). Das ungewöhnliche Setting fördert die Beziehung und gegenseitiges Verständnis, verhärtete Positionen werden aufgegeben. Die Funktion des Schweigens sah man in den Anfängen vor allem als Möglichkeit der Deeskalation und als Unterstützung der Selbstkontrolle der Erziehenden. Der innere Prozess bei den Erziehenden und beim Kind, der durch dieses Setting ermöglicht wird, rückte erst später in den Vordergrund. Durch die Stille und den Zeitrahmen können das Kind und die Erwachsenen in Kontakt mit ihren Emotionen kommen. Die Verantwortungsübernahme für schwieriges Verhalten (wiederum sowohl auf Seiten des Kindes als auch auf Seiten der Erziehenden) wird dadurch begünstigt. Während in den Anfängen den Eltern konsequentes Schweigen abverlangt wurde, neigen wir heute dazu, die Eltern aufzufordern, einzelne verbindende Sätze zu sagen, wenn sie dies für stimmig und passend halten. Solche Sätze könnten lauten: »Wir tun das, weil du uns wichtig bist!«, »Wir wissen auch nicht mehr weiter, aber wir geben dich nicht auf« oder »Es ist schwer für dich, und es ist schwer für uns!« Wenn zwischen den Sätzen immer wieder Phasen des Schweigens und der Reflexion entstehen, ist das schon hilfreich. Konsequentes Schweigen war oft sehr schwer für die Eltern und wurde – häufig zu Recht – als zu kalt und als Machtdemonstration empfunden. Es gibt aber auch Situationen, in denen die Eltern froh sind, nicht unmittelbar auf eventuelle Anschuldigungen oder Vorwürfe des Kindes antworten zu müssen, weil sie ganz einfach mit einer Antwort überfordert sind, gleichzeitig aber durch ihre Präsenz ihren Willen deutlich machen, gemeinsam mit ihrem Kind durch diese schwierige Phase zu gehen.

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Auch die Zeitdauer ist sehr viel flexibler geworden. Während früher von bis zu sechzigminütigen Interventionen ausgegangen wurde, raten wir heute zu viel kürzeren Sit-Ins. Durch die Ausdehnung der Anwendungsbereiche des gewaltfreien Widerstands über Familien hinaus in Schulen, Kinder- und Jugendeinrichtungen und Gemeinden wurden die Interventionen entsprechend angepasst. Im Schulsetting wäre es auch schlicht aus Mangel an zeitlichen Ressourcen schwierig, mit mehreren Lehrpersonen und den Eltern ein einstündiges Sit-In zu koordinieren. Eine Lehrkraft kann z. B. während der Pause, nachdem sie einen einleitenden Satz in Bezug auf das problematische Verhalten und ihre Intention, eine Veränderung zu unterstützen, gesagt hat, eine Minute schweigend neben dem Kind auf einer Bank verbringen. Eine Minute kann manchmal ziemlich lang sein … Im Schulkontext dauern Sit-Ins in der Regel zwischen zehn und zwanzig Minuten, in Kinder- und Jugendeinrichtungen sowie im Elternhaus in der Regel dreißig bis fünfundvierzig Minuten. Auch die Anzahl der Personen kann variieren. Während in den Anfängen keine Intervention allein durchgeführt wurde, kann es heute durchaus sinnvoll sein, dass eine Mutter/ein Vater oder eine Erzieherin aus der Wohngruppe ein Sit-In allein durchführt. Das hat auch damit zu tun, dass diese Interventionen ursprünglich vor allem für problematisches Verhalten in Zusammenhang mit Gewalttätigkeit entwickelt wurden und das Thema »Sicherheit« zentral war. Heute ist z. B. das Thema »Rückzug« wichtiger geworden, und es geht vielmehr um die Wiederherstellung einer Verbindung zwischen Kind und Erziehendem. Vielfach setzen sich Eltern deshalb auch neben das Kind, wenn zugleich Stützen und Begleiten als Botschaft vermittelt werden sollen. Die Absicht dahinter ist, dass das Sit-In nicht als machtorientiertes, sondern als entschiedenes und verbindendes Vorgehen vermittelt werden soll.  In Jugendwohngruppen sitzen die Teammitglieder manchmal aufgrund der häufig kleinen Zimmer auf dem Flur. Auch erleben wir in schulischen oder sozialpädagogischen Einrichtungen immer wieder Sit-Ins mit einer ganzen Klasse oder einer Wohngruppe und mehreren erwachsenen Personen. Die beschriebenen Unterschiede haben wir in Tabelle 1 dargestellt.

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Tabelle 1: Vergleich der Prinzipien damals und heute Prinzip damals

Prinzip heute

Fokus worauf?

•• Fokus auf Erwachsene

•• Fokus auf die Verbindung und Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen

Wozu?

•• Stärkung der Erwachsenen •• Positionierung der Erwachsenen

•• Stärkung der Erwachsenen •• Verhärtete Positionen aufweichen •• Beziehung fördern •• Verständnis schaffen

Rolle des Schweigens?

•• Werkzeug zur Deeskalation •• Selbstkontrolle

•• Werkzeug zur Deeskalation •• Selbstkontrolle •• Verantwortungsübernahme •• Kontakt mit den eigenen Emotionen

Wie?

•• konsequentes Schweigen •• relativ zeitintensive Sit-Ins •• Intervention immer mit mehreren Erwachsenen

•• Schweigen und verbindende Sätze •• flexible Gestaltung: von einer Minute bis zu dreißig Minuten •• flexible Gestaltung: 1 zu 1 1 zu 2/3/4 … 2/3/4 … zu 2/3/4 …

Zeit – Ruhe – Nähe Das Sit-In ist im Grunde genommen eine Intervention, die es den Erziehenden wie auch dem Kind ermöglichen soll, neue und vor allem andere Erfahrungen mit konflikthaften Situationen zu machen als bisher. Es ist eine Demonstration von erzieherischer Präsenz, Sorge und Entschiedenheit. Die Prinzipien des gewaltfreien Widerstands zielen darauf ab, eine (Wieder-)Herstellung der Verbindung zum Kind und das (Wieder-)Erlangen eines Zustandes, in dem Erziehende ihre Rolle und das Kind seine kindliche Rolle wieder annehmen können, zu unterstützen. Diese Prinzipien haben drei wichtige Komponenten: Zeit, Nähe und Ruhe. Zeit Es ist eine fundamentale Erkenntnis aus dem gewaltfreien Widerstand, auf den Faktor Zeit zu setzen und nicht unmittelbare Ergebnisse oder Veränderungen zu erwarten. Es ist wichtig, über eine Strategie zu verfügen, die Zeit in Verbindung mit Geduld und Entschiedenheit nutzt, um Einfluss auszuüben. Wir wissen, dass Kinder – unbewusst oder bewusst – sehr geschickt darin

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sind, Zeit zu ihrem Vorteil zu nutzen. Sehr früh lernen sie, dass – wenn sie nur lange genug Druck ausüben –, sie ihren Willen bekommen oder ihre Eltern zu Handlungen verleiten, die diese später bereuen. Erziehende ihrerseits tappen immer wieder in die Falle, Probleme sofort lösen zu wollen. Der Zeitfaktor wird zum Machtfaktor für das Kind und zum Ohnmachtsfaktor für den Erziehenden. Sätze wie »Wenn du nicht sofort deine Hausaufgaben machst/nach Hause kommst/aufhörst zu stören, dann werde ich …« sind auf Dauer nicht wirklich hilfreich. Das Kind ist so automatisch in einer mächtigeren Position, und vermutlich verfügt es über sehr viel Zeit … Ein über lange Zeit entwickeltes problematisches Verhalten wird sich in aller Regel nicht im Handumdrehen lösen lassen. Das heißt, dass sich Erziehende von der Erwartungshaltung einer unmittelbaren Verbesserung der Situation verabschieden und sich auf einen längeren Prozess einstellen sollten. Für das Sit-In einigen sich die teilnehmenden Erwachsenen auf eine bestimmte Zeit, die sie bei dem Kind möglichst ruhig sitzen werden. Nicht nur für das Kind mag die Zeit sehr langsam vergehen, sondern auch für die Erwachsenen. Gleichzeitig berichten viele Eltern nach dem Sit-In, dass sie schon lange nicht mehr so viel Zeit ohne eine Eskalation oder zermürbende Diskussion mit ihrem Kind verbracht haben. Und auch beim Kind können sich durch dieses besondere Setting Gedanken formen und Gefühle auftauchen, die ihm durch die vielen Konfrontationen oder das »Aus-dem-Weg-gehen« lange nicht mehr bewusst waren. Nicht selten macht es die Zeit möglich, dass sowohl die Eltern als auch das Kind verschiedene Phasen von Irritation, Widerwillen, Ärger, Wut, Traurigkeit und schließlich vielleicht Verständnis für die Situation des anderen durchlaufen – ein erster Schritt für eine Annäherung! Man könnte das Sit-In als eine Art »Time-in« statt eines »Time-out« bezeichnen. Wenn die Erwachsenen die Fähigkeit entwickeln, flexibel mit Zeit umzugehen, kann auch ein Prozess emotionaler Regulierung in Gang kommen – für alle Beteiligten. Ruhe – »Silence is golden« Die Schweigephasen während eines Sit-Ins unterstützen Reflexion und Einsicht. Die üblichen Diskussions- und Eskalationsmuster werden unterbrochen. Das Schweigen und die Ruhe ermöglichen einen anderen Blick auf uns selbst und auf unseren Beitrag zu den schwierigen Verhaltensweisen, sowohl aufseiten der Erziehenden als auch aufseiten des Kindes. Wir haben Ruhe und Zeit, unsere Gedanken zu ordnen, neue Perspektiven zu erkennen und eventuell verloren gegangene Empathie wiederzufinden.

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Ein gängiges Sprichwort in Zusammenhang mit den Interventionen des gewaltfreien Widerstands, das unser israelischer Kollege Idan Amiel gern benutzt, ist: »When dialogue ends, non violent resistance starts, and when non violent resistance ends, dialogue starts.« Der Dialog zwischen Erziehenden und Kind ist selbstverständlich der Königsweg. Wenn Erziehende aber mit Reden keine Veränderung des problematischen Verhaltens erreicht haben, kann Stille Raum schaffen, um dem Kind zu ermöglichen, zu einem inneren Dialog mit sich selbst zu finden und Verantwortung für das problematische Verhalten zu übernehmen. In Familien, in denen es häufig zu verbaler Eskalation kommt, kann eine gemeinsame Zeit der Stille eine Unterbrechung eines wohlbekannten Musters darstellen. Die Erziehenden bekommen die Möglichkeit, eine wertvolle Erfahrung von Selbstkontrolle und effektiver Deeskalation zu machen. In Familien, in denen nur noch wenig gesprochen wird, kann ein Sit-In zu ersten Gesprächsangeboten führen. Oftmals brechen Kinder, die sich sehr zurückgezogen haben und kaum mehr von ihren Eltern erreicht werden, ihr Schweigen während eines Sit-Ins, und der Weg für eine Wiederherstellung der Beziehung wird frei. Selbstverständlich raten wir unter solchen Umständen, dass die Eltern dann einen vorsichtigen Dialog mit ihrem Kind beginnen und nicht weiter schweigen. Die passenden Reaktionen der Eltern während eines Sit-Ins hängen also auch stark vom problematischen Verhalten des Kindes ab. Nähe Neben den Faktoren Zeit und Ruhe ermöglicht ein Sit-In Nähe  – ein entscheidender Faktor, um eine Verhaltensänderung zu erzielen (Weinblatt, 2016). Während eines Sit-Ins nutzen die Eltern (oder Lehrkräfte, Wohngruppenbetreuende etc.) ihre physische Präsenz als zusätzliche Dimension ihrer erzieherischen Präsenz. Die physische Nähe kann über den Zeitraum hinweg auch zu einem Gefühl der Verbundenheit führen. Insbesondere, wenn sowohl das Kind als auch die Erwachsenen sich hilflos und überfordert mit der seit Längerem andauernden schwierigen Situation fühlen und bereits erfolglos vieles ausprobiert haben, um die Situation zu ändern. Gerade dieses gemeinsame Realisieren von Unvermögen kann zu einer Annäherung, gegenseitigem Verständnis und sogar Hoffnung führen. Die Intention der Erwachsenen, in Verbindung zu bleiben – auch wenn es schwierig ist, und auch wenn (noch) keine Lösung im Raum steht –, wird durch die beharrliche physische Nähe deutlich. Es gelingt, sowohl für das

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Kind als auch für die Erwachsenen, wieder in Kontakt mit ihren Gefühlen zu kommen. Statt reflexartig das Schwierige zu verdrängen oder zu rationalisieren, wird es erlebt und gemeinsam durchgestanden. Diese Gefühle sind wichtig, um eine intrinsische Motivation für eine Veränderung zu generieren. Wir gelangen somit zu der Schlussfolgerung, dass ein Sit-In ohne Emotionen kein gutes Sit-In ist (siehe hierzu auch Kapitel 1.6).

Vor und nach dem Sit-In Wir möchten an dieser Stelle nochmals mit Nachdruck auf die Wichtigkeit einer sorgfältigen Vor- und Nachbereitung des Sit-Ins hinweisen. Mit jeder Intervention sind Hoffnungen und Fantasien verbunden. Das führt nicht selten zu Enttäuschungen und einem Gefühl des Scheiterns, sollte die Intervention nicht so verlaufen und zu den Ergebnissen führen, wie man sie sich ausgemalt hat. Umso wichtiger ist es, sich im Vorfeld damit auseinanderzusetzen, was alles während und nach der Intervention passieren könnte und wie die Erziehenden jeweils darauf reagieren können. Wie bereits weiter oben beschrieben, sollten mögliche Reaktionen des Kindes während und nach der Intervention besprochen werden, mit dem Ziel, dass sich die Erziehenden keinesfalls zu einer Eskalation verleiten lassen und ihre Selbstkontrolle gestärkt wird. Darüber hinaus kann es hilfreich sein, auf mögliche emotionale Reaktionen der Erziehenden einzugehen. Das Sit-In kann auch für die Erwachsenen eine intensive Erfahrung sein. Das besondere Setting – Zeit, Ruhe und Nähe – kann eine Achterbahnfahrt der Gefühle auslösen. So kann es z. B. vorkommen, dass eine Mutter ein starkes Bedürfnis bekommt, ihr Kind in den Arm zu nehmen. Das ist grundsätzlich natürlich eine schöne Geste und kann auch angebracht sein – insbesondere, wenn kaum mehr Kontakt zwischen Eltern und Kind stattfindet. Sollte dies in der Familiendynamik aber ein gängiges Muster sein und das Kind diese Geste für den Erhalt des Status quo nutzen, wäre dieses Verhalten eher kontraproduktiv. Beziehungs- und Versöhnungsangebote können und sollen vor und nach der Intervention ohne Bezugnahme auf die Intervention und unabhängig vom Verhalten des Kindes in jedem Fall gemacht werden. Nach dem Sit-In sollte die Familie zu ihrer üblichen Routine zurückkehren. Das Kind wird nicht auf das Sit-In angesprochen – nicht einmal mit einer Anspielung. Auch sollten keine Drohungen, ein Sit-In zu wiederholen, ausgesprochen und keine Entschuldigungen oder Erklärungen abgegeben werden. Dies würde die Intervention eher schwächen.

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Falls das Kind wissen möchte, wozu die Intervention diente, können die Eltern einen Satz aus der Ankündigung wiederholen: »Wir werden alles tun, damit dieses Verhalten aufhört« oder »Wir sind präsenter in deinem Leben. Du bist uns wichtig.« Im Schul- und Institutionenkontext kann es sehr hilfreich sein, innerhalb einer Inter- oder Supervision das Sit-In vorgängig mit Stellvertreterinnen durchzuspielen. Das ist oftmals aufschlussreicher und zeitsparender als viele Diskussionen.

Praxisbeispiele Sit-In im Elternhaus David und Christiane suchten ein Elterncoaching auf, da ihre Tochter Sabrina ihnen gegenüber immer wieder aggressives Verhalten zeigte. Die 15-jährige Sabrina, eine talentierte und hochgepriesene junge Tänzerin, hatte immer wieder Wutausbrüche zu Hause und wiederholt den Schulunterricht versäumt. Immer wenn die Eltern versuchten, mit ihrer Tochter zu reden, fing sie an zu fluchen, sie zu beschimpfen und zog sich in ihr Zimmer zurück – nicht ohne geräuschvoll ihre Zimmertür zuzuknallen. Christiane, die Mutter, war selbst Schulleiterin von Beruf und schämte sich sehr für das Verhalten ihrer Tochter. Sie versuchte alles, um ihre Tochter dazu zu bewegen, wieder in die Schule zu gehen, besorgt sowohl um den Ruf der Tochter als auch um ihren eigenen. Während des Elterncoachings wurden die Eltern sorgfältig auf die Durchführung eines Sit-Ins vorbereitet. Der Coach sprach mit ihnen alle möglichen Reaktions­ weisen Sabrinas während und nach dem Sit-In im Vorfeld durch. Tags darauf betraten die Eltern mit einem Gemisch aus Enthusiasmus, Aufregung und mulmigem Gefühl Sabrinas Zimmer und sagten: »Wir sind gekommen, weil wir nicht länger akzeptieren können, dass du in der Schule fehlst. Du verletzt dich selbst damit und auch uns. Wir werden hier sitzen bleiben und auf einen Lösungsvorschlag von dir warten.« Die erste Reaktion von Sabrina war Überraschung und Unglauben über das Verhalten ihrer Eltern. Sie war es nicht gewohnt, dass diese gemeinsam ihr Zimmer betraten, auf dem Fußboden saßen und sie auf diese Art herausforderten. Sie begann zu schreien: »Haut aus meinem Zimmer ab, oder ihr werdet es bereuen!« Die Eltern reagierten nicht. »Habt ihr mich nicht gehört? Raus! Haut ab!« Die Eltern schwiegen, wohlwissend, dass jedes weitere Wort ihrerseits zu einer Eskalation geführt hätte. Sabrina näherte sich der Tür, hielt inne und kehrte schließlich zurück auf ihren Platz auf dem Bett.

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Nach einigen Minuten sagten die Eltern erneut: »Wir müssen eine Lösung finden …« Darauf erwiderte Sabrina aufgebracht: »Findet doch selbst eine! Ich hasse euch!« Mit der Zeit wurden Sabrinas Reaktionen sanfter. Nach etwa zehn Minuten wurde sie ruhiger und schien nachdenklich zu werden. Die Eltern sagten sanft: »Wir finden einen Weg aus diesem Schlamassel …«, und Sabrina antwortete: »Ich weiß nicht, was ich tun soll, versteht ihr denn nicht?« Nach einer weiteren halben Stunde, die sich für die Eltern wie eine Ewigkeit anfühlte, hörten sie ihre Tochter sagen: »Okay, ich werde versuchen, morgen in die Schule zu gehen …« Die Eltern fragten: »Wie wirst du das anstellen? Wie können wir helfen?« Sabrina antwortete: »Lasst mich endlich allein, und ich werde es schon schaffen!« »Das haben wir schon versucht, und es hat nicht geklappt. Wir wissen, dass du keine Lust auf Schule hast und du dich dort nicht wohlfühlst …«, erwiderten die Eltern. Sabrina wurde wieder ganz still. Nachdem sie noch weitere fünf Minuten schweigend im Zimmer der Tochter verbracht hatten, erhoben sie sich und verließen den Raum. Zwei Stunden später traf Christiane ihre Tochter in der Küche an. Die Mutter fragte leise: »Darf ich dich umarmen?« Sabrina ging auf ihre Mutter zu, und die beiden umarmten sich, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Am nächsten Tag ging Sabrina zur Schule.

Die Wirkung eines Sit-Ins ist natürlich nicht immer so unmittelbar und effektiv. Oft zeigt sich eine Verhaltensänderung erst nach einigen Tagen. Dieses Praxisbeispiel verdeutlicht aber sehr schön, wie während eines Sit-Ins Stärke und Mitgefühl kombiniert werden können. Es konnten sowohl klare Grenzen gesetzt als auch die Verbindung zwischen Eltern und Tochter gestärkt werden. Sit-In in der Schule Benjamin (zwölf Jahre) fiel seit einiger Zeit immer wieder durch störendes Verhalten in der Klasse auf. Er beschimpfte andere Kinder, aber auch einige Lehrpersonen, er machte Stifte oder andere Gegenstände, die nicht ihm gehörten, kaputt und verließ manchmal einfach das Klassenzimmer während des Unterrichts. Die Klassenlehrerin und auch die Schulleiterin waren seit Beginn der Vorfälle in engem Kontakt mit seiner alleinerziehenden Mutter. Die Mutter hatte auch zu Hause immer wieder heftige Auseinandersetzungen mit ihrem Sohn. Durch häufigen Kontakt auf Augenhöhe zwischen Klassenlehrerin und Mutter gelang es, ein gegenseitiges Vertrauens- und Unterstützungsverhältnis aufzubauen. Nachdem die Mutter im Beisein der Klassenlehrerin, der Schulleiterin, eines Fachlehrers und des Hauswarts Benjamin eine Ankündigung vorgelesen hatte und Benjamin sowohl durch einzelne Mitglieder des Kollegiums als auch durch seinen Großvater und eine Freundin auf

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die Ankündigung angesprochen worden war, verbesserte sich sein Verhalten. Das Unterstützernetz demonstrierte auf vielfältige Weise Präsenz (WhatsApp-Nachrichten, Präsenz im Klassenzimmer, Beziehungsgesten). Zwei Wochen später kam es jedoch wieder zu einem Vorfall: Benjamin nannte eine Lehrerin »dumme Kuh«. Die Klassenlehrerin und die Mutter beschlossen, ein Sit-In durchzuführen. Sie verabredeten sich über die Mittagszeit. Neben den beiden Frauen kamen auch der Hauswart und der Großvater dazu. Für das Sit-In wurde der Raum der Schulsozialarbeiterin genutzt. Dort gab es einen runden Tisch, an dem sich die Erwachsenen versammelten. Die Klassenlehrerin holte Benjamin vom Mittagstisch ab und bat ihn, ihr zu folgen. Benjamin war sichtlich überrascht, als er in den Raum der Schulsozialarbeiterin geführt wurde und dort auf seine Mutter, seinen Großvater und den Hauswart traf. (Der Hauswart hatte eine gute Beziehung zu Benjamin. Er war ein junger, muskulöser Mann mit vielen Tätowierungen, und Benjamin suchte in den Pausenzeiten oft seine Nähe.) Als Benjamin sich gesetzt hatte, sagte die Klassenlehrerin: »Wir sind hier, weil wir nicht länger akzeptieren können, dass du Lehrpersonen oder Mitschüler beschimpfst. Wir werden hier sitzen bleiben und auf einen Lösungsvorschlag von dir warten.« Benjamin begann sich sofort zu rechtfertigen: »Das ist mir so rausgerutscht. Frau Müller macht einfach so einen doofen Unterricht. Andere Kinder ziehen auch über Frau Müller her und reden schlecht über sie. Warum bin immer ich der Blöde?« Die Klassenlehrerin wiederholte nochmals: »Wir können nicht akzeptieren, dass du Lehrpersonen oder Mitschüler beschimpfst.« Benjamin setzte noch ein weiteres Mal an, verstummte aber bald. Seiner Mutter fiel es sichtbar schwer zu schweigen. Sie und auch der Großvater sahen Benjamin halb bittend, halb auffordernd an. Benjamins Mutter konnte sich schließlich nicht mehr zurückhalten und sagte: »Benjamin, ich weiß doch, du kannst auch anders. So sag doch was!« Benjamin zuckte nur mit den Schultern. Die Klassenlehrerin lächelte der Mutter zu und sagte zu Benjamin: »Du bist uns wichtig! Wir möchten, dass dein guter Ruf wiederhergestellt wird.« Benjamin schwieg und wurde sichtlich ruhiger. Nach weiteren fünf Minuten legte der Großvater, der neben Benjamin saß, seine Hand auf Benjamins Arm. Benjamin schien berührt durch diese Geste, blieb aber still. Nach weiteren drei Minuten beendete die Klassenlehrerin das Sit-In mit den Worten: »Wir haben heute noch keine Lösung gefunden. Du kannst wieder zu deinen Klassen­kameraden in die Pause gehen. Wir sehen uns später in der nächsten Klassenstunde.« Benjamin verließ das Zimmer zusammen mit dem Hauswart, der ihm beim Hinausgehen aufmunternd auf die Schultern klopfte. Die Klassenlehrerin, der Großvater und die Mutter blieben noch eine Weile und tauschten ihre Gefühle und Gedanken während des Sit-Ins aus. Sie verabredeten, für den restlichen Tag zu ihren normalen Gewohnheiten überzugehen und Benjamin nicht auf das Sit-In anzusprechen.

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Zwei Tage später legte Benjamin Frau Müller nach der Unterrichtsstunde eine Schokolade, die er am Vortag von seinem Großvater geschenkt bekommen hatte, auf ihr Pult. Sein Verhalten besserte sich fortan beständig – auch wenn immer mal wieder die eine oder andere Präsenzdemonstration nötig wurde.

Nicht immer gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule so kooperativ und konstruktiv wie in diesem Beispiel. Es ist auch möglich, ein Sit-In ohne die Mitwirkung von Eltern durchzuführen. Wir raten allerdings sehr dazu, transparent mit den Eltern zu bleiben und sie über alle Schritte zu unterrichten. Statt von Sit-In kann auch von einem Schweigenden Gespräch (Lemme u. Körner, 2018) gesprochen werden, dieser Begriff ist eventuell weniger negativ besetzt. Wichtig ist allerdings, dass die teilnehmenden Lehrpersonen die Haltung, mit der ein Sit-In durchgeführt werden sollte, verstanden haben und es nicht als eine Form der Strafe verstehen, sondern vielmehr als eine sowohl beziehungsorientierte als auch entschiedene Präsenzdemonstration.

FAQ Wie oft sollte ein Sit-In durchgeführt werden? In der Regel sind nicht mehr als drei Sit-Ins nötig, und selbst das ist schon eher die Ausnahme. Das Sit-In ist eine besondere Intervention und eine außergewöhnliche Erfahrung sowohl für Eltern als auch für das Kind. Daher wäre ein inflationärer Gebrauch dieser Intervention eher kontraproduktiv und würde die Wirkung und besondere Qualität schmälern. Ist das Sit-In eine Form von Bestrafung? Nein. Wenn wir Strafen nutzen, wollen wir, dass die Bestrafung »wehtut« und das Kind davon abhält, die problematische Verhaltensweise zu wiederholen. Ein Sit-In soll das Kind nicht bezwingen oder kontrollieren. Es ist vielmehr eine Möglichkeit, das Kräfteverhältnis innerhalb der Familie wieder zu normalisieren, die Eltern zu stärken und vor allem Zeit, Ruhe und Nähe zu Reflexion (für alle Beteiligten) zu ermöglichen, die im besten Fall die Beziehung zwischen Erziehenden und Kind verbessert.

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Kann auch nur ein Elternteil ein Sit-In durchführen? Grundsätzlich schon, auch wenn wir es bevorzugen, dass beide Eltern anwesend sind bzw. alleinerziehende Eltern von Unterstützern begleitet werden. Das ist insbesondere wichtig bei sehr gewaltbereitem und impulsivem Verhalten. Die Anwesenheit von zwei oder mehr Erwachsenen verringert in der Regel die Wahrscheinlichkeit von Aggressionen und massiver Eskalation. Bei alleinerziehenden Eltern kann beispielsweise auch der Patenonkel, die Patentante oder ein anderer wohlgesinnter Verwandter oder Bekannter der Familie einspringen. Kann ein Sit-In zu einer weiteren Eskalation führen? Das spezielle Setting und die Intensität eines Sit-Ins fordern das Kind/den Jugendlichen heraus. Dennoch kommt es sehr selten zu gefährlichen Situationen. Sollten die Eltern eine gewalttätige Reaktion des Kindes erwarten (beispielsweise, dass es Gegenstände zerstört, sich selbst gefährdet oder Vater oder Mutter körperlich angreift), dann ist es ratsam, entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, wie z. B. mehr Erwachsene zu involvieren. Diese können sich in der Nähe aufhalten (z. B. im Wohnzimmer oder in der Küche) oder aber auch am Sit-In teilnehmen, abhängig von der Größe des Raums, in dem das Sit-In stattfinden soll. Das Sit-In sollte keinesfalls wie eine Drohung oder Machtdemonstration wirken. Auch aus diesen Gründen ist darauf zu achten, dass eine geringe Raumgröße nicht zu viele Erwachsene verträgt. Letztendlich ist es die Haltung, mit der die Erwachsenen das Sit-In durchführen, die wirksam ist. Selbstkontrolle, der Verzicht auf Machtdemonstrationen und der tiefe Wunsch, eine Veränderung der Situation zu erreichen, werden sich auf das Kind übertragen. Ist ein Sit-In immer wirksam? Die Wirksamkeit der Intervention hängt von vielen Faktoren ab. Eine achtsame Planung der Durchführung und der möglichen Reaktionen des Kindes ist essenziell. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das Verhalten der Eltern an den Tagen vor der Durchführung eines Sit-Ins einen starken Einfluss haben kann. In jedem Fall soll das Sit-In dann durchgeführt werden, wenn alle Beteiligten sich in einer einigermaßen entspannten Situation befinden. Akute Konflikte können ein Sit-In negativ beeinflussen.

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Bei Eltern, die im Vorfeld Versöhnungs- und Beziehungsgesten angeboten und sich eher deeskalierend (z. B. mithilfe der Drei-Körbe-Arbeit) verhalten haben, zeigt ein Sit-In erfahrungsgemäß bessere Resultate. Vermutlich ermöglicht dieses entgegenkommende und besonnene Verhalten seitens der Eltern dem Kind, das Sit-In als Intervention mit wohlwollender und sorgender Absicht zu erfahren. Literatur Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Päda­ gogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Anhang 4: Das Handbuch zum gewaltlosen Widerstand – Eine Anleitung für Eltern. Koautoren: U. Weinblatt, C. Avraham-Krehwinkel in H. Omer, A. von Schlippe, Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl., S. 237–241). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Weinblatt, U. (2014). The ›sit-in‹ – A demonstration of parental presence. Context, 132, 4–6. Weinblatt, U. (2016). Die Nähe ist ganz nah! Scham und Verletzungen in Beziehungen überwinden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

3.3 Fokus Wiedergutmachung Stefan Ofner und Stefan Fischer »Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.« (Konfuzius)

Vorbemerkungen (Stefan Ofner) In meinem über zehnjährigen Engagement als Psychologe im Gefängnis habe ich eine eindrückliche Beobachtung gemacht: Unzählige Männer sitzen mehr oder weniger »brav« ihre Strafe ab. Fragt man sie, warum sie im Gefängnis sind und wie es eigentlich dazu gekommen ist, dass sie straffällig wurden, haben sie eine starke Tendenz, die Schuld dafür bei anderen zu suchen. Die schwierige Kindheit, die Eltern, die nicht da waren, die Ex-Frau, die sie betrogen, der Chef, der sie ausgenutzt, die Richterin, die nur den Frauen geglaubt hat, all das waren Erklärungen, die ich zu hören bekam. In der Tätertherapie nennen wir das, was sich hier zeigt, etwas zynisch »Verantwortungsabgabesystem« (VAS). Diese Männer waren den Weg zur Verantwortungsübernahme für die persönliche Schuld noch nicht gegangen. Sie erlebten sich klassisch in der Opferrolle. Warum?, fragte ich mich. Was machte es ihnen so schwer? Bei vielen hatte ich nach eingehenden Gesprächen den Eindruck, dass sie sehr früh eine Strategie der Verteidigung, der Abwehr als dominante Strategie, mit eigenen Fehlern umzugehen, etabliert hatten. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts hat Sigmund Freud und etwas später im Besonderen Anna Freud, in ihrem Meisterwerk »Das Ich und die Abwehrmechanismen« (1936/2006), systematisch die Abwehrstrategien beschrieben, die wir Menschen nutzen, um unser psychisches Überleben zu sichern. Auch die moderne Psychologie beschäftigt sich mit der Frage, wie wir unsere Wirklichkeiten letztendlich selber konstruieren, um emotional im Gleichgewicht zu bleiben und erlebte Dissonanzen zu neutralisieren oder in Wohlbefinden und Zufriedenheit überzuleiten. Als ein Vertreter des positiven Konstruktivismus hat das Paul Watzlawick in seinem Buch »Wie wirklich ist die Wirklichkeit?« (1976) treffend beschrieben. Matthias Horx zitiert in seinem Buch »Zukunft wagen« den Publizisten David DiSalvo, der meint, dass wir »nach Sicherheit und dem Gefühl gieren, recht zu haben«, »um jeden Preis Kontrolle haben wollen« und

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»versuchen, Reue und Bedauern mit allen Mitteln zu vermeiden« und nennt dies das »Happy-Brain-Syndrom« (Horx, 2013, S. 75). Demzufolge konstruieren wir unsere Erzählungen immer so, dass wir in einer Komfortzone bleiben. Meine Hypothese zu der defizitären Fähigkeit der Verantwortungsübernahme der Männer im Gefängnis lautete – neben dem natürlichen Einfluss von Charaktereigenschaften, Persönlichkeitsmerkmalen und seelischen Tendenzen hin zum Gleichgewicht, zur emotionalen und geistigen Komfortzone –, dass sie schlicht und ergreifend niemanden hatten, der es ihnen beigebracht hätte. In unserem Beitrag zur Wiedergutmachung soll es vor allem darum gehen, wie wir Erwachsenen aus Sicht der Neuen Autorität ganz praktisch dafür sorgen können, dass zuallererst wir unserer Verantwortung gerecht werden und für die Einhaltung und Wiederherstellung der zentralen Werte unseres Zusammenlebens eintreten. Die Werte, auf die wir uns hier beziehen, sind vor allem Schutz und Sicherheit sowie Respekt und Wertschätzung. Das oberste Ziel ist es, die geschädigten Personen zu entschädigen und ihnen wieder zu einem Gefühl der Sicherheit zu verhelfen. Wir werden später sehen, dass eine erfolgreiche Wiedergutmachung auch dazu führt, dass am Ende noch zwei weitere zentrale Werte gestärkt werden: die Beziehung untereinander an sich und die Entwicklung, oder besser, die Reifung von Personen.

Rahmenbedingungen Es ist von zentraler Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung und das Erwachsenwerden, dass wir von Personen begleitet werden, die in wachsamer Sorge für uns da sind, uns unterstützen und uns ermutigen, mehr und mehr für unser Leben Verantwortung zu übernehmen, auch dann, wenn wir Fehler gemacht haben oder durch unser Verhalten Schaden entstanden ist. Der folgende Abschnitt dieses Buches setzt sich mit der Praxis der »Ent-Schädigung«, vor allem im pädagogischen Kontext, auseinander. Er ist in drei Teile gegliedert: die Beschreibung der Prinzipien der Wiedergutmachung, die Verdeutlichung der Gesprächsführung beim schwierigsten Teil, der Verantwortungsübernahme, und Praxisbeispiele aus dem privaten Bereich sowie dem Schulkontext. Wiedergutmachung als Ent-Schädigung setzt immer voraus, dass es eine mehrheitlich geschädigte Person gibt und einen oder eine(n) mehrheitliche(n) »Schädiger« oder »Schädigerin«. Ich setzte an dieser Stelle »Schädiger« und »Schädigerin« bewusst unter Anführungszeichen. Das soll verdeutlichen, dass es einen »Schädiger« nur in Bezug auf einen Schaden gibt. Wir müssen hier besonders achtsam mit den Begriffen umgehen, denn wir wissen, wie schnell

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Prozesse der Etikettierung ablaufen können. Wir kennen das aus Beschreibungen wie »Die ist immer Opfer!«, und schon wird nicht mehr die Person gesehen, die bezogen auf ein Geschehen Geschädigte ist, sondern die Person wird verkürzt als Opfer bezeichnet, oder auch als Täter. Wiedergutmachung wird dann zum Thema, wenn durch eine persönliche Handlung relevanter Schaden entstanden ist, entweder seelischer, körperlicher oder materieller Art. Von relevantem seelischem Schaden sprechen wir dann, wenn es z. B. zu einer massiven Beleidigung oder Beschimpfung gekommen ist und die Würde einer Person dadurch stark verletzt wurde. Körperlicher Schaden entsteht bei einer physischen Verletzung, ein Bluterguss z. B. durch einen Faustschlag, und materieller Schaden, wenn z. B. die Fensterscheibe zerschlagen oder das Lieblingsspielzeug gegen die Wand geworfen wurde und in 13 Stücke zerbrach. Wir merken bei diesen Vorfällen, dass eine einfache Entschuldigung nicht ausreicht, dass es mehr braucht in diesen Situationen. Eine Mediation wäre auch nicht passend, um für Verantwortungsübernahme zu sorgen, da es nicht Aufgabe der geschädigten Person ist, sich um die Entschädigung Gedanken zu machen. Im Nachhinein kann eine Mediation sinnvoll sein, z. B. bei der Aushandlung der Umsetzung der Wiedergutmachung, aber nicht als Wiedergutmachung an sich. Bei der Wiedergutmachung ist zuallererst der »Schädiger« gefordert, für die Reparatur des Schadens und die Wiederherstellung des beschädigten Vertrauens zu sorgen. Dass dieser oft Unterstützung dabei braucht, ist nachvollziehbar. Wie das aussehen kann, werde ich im Folgenden genauer beschreiben. Persönliche Identität, das Selbstbild und in weiterer Folge das Selbstvertrauen einer Person entstehen aus einem fortlaufenden, konsequenten inneren Prozess der Abgleichung von Selbst-Wahrnehmung, Selbst-Erfahrung, eigenen Idealbildern einerseits und von Rückmeldungen, Beurteilungen, Ermutigungen und Erwartungen bedeutsamer Personen uns gegenüber andererseits. Wenn wir »Gutes« tun, so können wir mit Anerkennung und dem Recht auf Zugehörigkeit rechnen. Tun wir »Böses«, machen wir also Fehler, verletzen andere oder richten Schaden an, dann wissen wir, dass das nicht in Ordnung ist, und wir bekommen Angst, diese Zugehörigkeit zu verlieren. Scham spielt dabei eine zentrale Rolle im Sinne der Sicherung unserer Zugehörigkeit und kann in diesem Zusammenhang als »Hüterin der Menschenwürde« gesehen werden, wie Leon Wurmser (1998) das einmal so stimmig beschrieben hat. Die Verantwortung für eigene Fehler zu übernehmen, muss gelernt werden, das war schon immer so. Wir lernen dies vor allem durch Beobachtung anderer und durch eigene positive Lernerfahrungen als geschädigte Person oder als »Täter«. Das bedeutet, dass wir kompetente, wohlwollende und entschlossene

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Erwachsene brauchen, die uns den beschädigten Wert (z. B. Schutz und Sicherheit, wenn ich jemanden verletzt habe) aufzeigen, uns nicht als Person dafür verurteilen, was wir gemacht haben, und uns zuversichtlich und konsequent dabei unterstützen, den Schaden wieder zu reparieren. Heute wachsen viele junge Menschen in einer tendenziell ichbezogenen, verantwortungsabgebenden bzw. -vermeidenden Umwelt auf. Die Suche nach den/ dem/der »Schuldigen« suggeriert von klein auf, dass die Verantwortung, auch für persönliche Schuld, tendenziell »da draußen«, bei den anderen, zu suchen ist. Eine sozialpsychologische These dazu ist, dass der moderne Mensch generell stärker »außengeleitet« ist, das bedeutet, dass er dazu tendiert, sich stärker »im Außen« (andere Personen, Autoritäten, Medien, Moden, Strömungen etc.) zu orientieren, als sich auf einen inneren »Werte«-Kompass zu verlassen. Großartig beschrieben wurde diese These schon in den 1950er Jahren von David Riesman in seinem soziologischen Standardwerk »Die einsame Masse« (1967), wie wir bei Heinz Bude erfahren. Dieser fasst in seinem Buch »Gesellschaft der Angst« vorzüglich zusammen: »Der seelische Kreiselkompass innerer Gleichgewichtsbildung wird durchs soziale Radargerät der Registrierung der Signale anderer ersetzt. […] Der außengeleitete Charakter fühlt sich abhängig vom Urteilsspruch der Altersgenossen, er verbündet sich mit den modischen Trends und herrschenden Meinungen und schweigt im Zweifelsfall lieber, als anzuecken und gegenzuhalten« (Bude, 2014, S. 24 f.). Der moderne Mensch lebt in einer Spannungssituation, die man wie folgt beschreiben könnte: Zur Ich-­Optimierung sucht er die Orientierung bei den anderen, und sein Entscheidungskriterium, ob er richtigliegt, ob er auf dem richtigen Kurs ist, ist das eigene Wohlbefinden, das gute Gefühl bei der Sache. Die Orientierung an moralischen oder religiösen Geboten ist mehrheitlich dem Vergleich mit den anderen gewichen, ich bin selbst verantwortlich für mein Glück und kann mich letztendlich nur auf mein Gefühl verlassen. Yuval Harari beschreibt diese Entwicklung in seinem Bestseller »Homo Deus« überzeugend, wenn er sagt: »Von klein auf sind wir einem wahren Trommelfeuer an humanistischen Schlagworten ausgesetzt, die uns den Rat geben: ›Hör auf dich selbst, folge deinem Herzen, sei dir selbst gegenüber aufrichtig, vertraue dir selbst, tu das, was sich gut anfühlt‹« (Harari, 2017, S. 304 f.). Der moderne Mensch ist letztlich auf sich selbst zurückgeworfen und nicht selten überfordert, in einer Welt der Überflutung mit Meinungen, Vorstellungen, Bildern und Urteilen. Aus diesem Blickwinkel ist es leicht zu verstehen, wie notwendig heute Autoritäten sind, die sich nicht drehen wie ein Segel im Wind und die für die wesentlichen Werte einstehen, ob in der Kirche, der Politik, der Bildung oder der Wissenschaft. Und wir können erkennen, wie groß die Notwendigkeit ist,

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dass der Einzelne über die Fähigkeit verfügt, Autoritäten auch immer wieder infrage zu stellen. Aber nun zurück zu der Frage, wie Kinder und Jugendliche lernen können, dazu zu stehen, wenn sie einmal einen Fehler gemacht haben, also zu eigener »Ver-Antwortung« zu gelangen oder, anders formuliert, für die eigene Person und das eigenen Verhalten »geradezustehen«. Wie können sie einen inneren Kompass entwickeln, der sie entsprechend sozialen und moralischen Leitlinien agieren lässt, und so eine stabile Verankerung in der auf den genannten Werten basierenden Gemeinschaft finden? Wiedergutmachung ist ja nur möglich, wenn wir unsere Fehler erkennen können, nur dann können wir sie korrigieren und »wieder gut machen«. Gelingt das nicht, wird die »Last« der Fehler immer schwerer und ein guter Ausgleich immer aussichtsloser. Dies beobachten wir sehr häufig in Schulen, dass nämlich diese Zuschreibungen, wie etwa »Schläger« oder auch einfach nur »Der ist halt so/der war schon immer so« sehr schnell einsetzen und sich dann nur schwer wieder auflösen lassen. Wenn wir da nicht rasch gegensteuern, führt das oft zur Stigmatisierung der Betreffenden, die sich sehr negativ auf die weitere Entwicklung der Person und der Klasse oder Gruppe auswirken kann. Im folgenden Abschnitt werden wir beschreiben, wie es gelingen kann, persönliche Verantwortungsübernahme zu ermöglichen, um sich dann mit der Frage zu beschäftigen, was notwendig ist, um Wiedergutmachungsprozesse erfolgreich zu gestalten. Wir werden uns auch auf die wichtigen Beiträge von Haim Omer in »Stärke statt Macht« (Omer, 2009; Omer u. von Schlippe, 2010) beziehen und unsere eigenen Überlegungen und Weiterentwicklungen einbauen. Meine Darstellungen sind zum einen wesentlich beeinflusst von den Ideen und Gedanken meines allzu früh verstorbenen Freundes und Wegbegleiters Hans Steinkellner. Er war ein fachlich herausragender Pionier der Neuen Autorität in Österreich. Zum anderen spreche ich von meinen praktischen Erfahrungen in der Arbeit mit Eltern, Lehrern sowie in vielen Fort- und Weiterbildungen speziell zum Thema »Wiedergutmachung«. Und ich spreche als Vater von zwei wunderbaren, lebendigen und manchmal auch »schlimmen« Kindern, David und Sophie.

Prinzipien der Wiedergutmachung Können wir Kinder oder Jugendliche lehren, Verantwortung zu übernehmen? Und wenn ja, wie? Ja, wir können Kindern beibringen, wie das geht. So, wie wir sie dabei unterstützen können, laufen oder sprechen zu lernen, respektvoll mit

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Schulkolleginnen oder Nachbarskindern umzugehen oder ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten. Es bedarf aber dabei eines Rahmens, in dem das gelingen kann. Der Rahmen, den wir zur Verfügung stellen, ist wesentlich von unserer inneren Haltung uns selbst, den anderen Menschen, den Tieren und Dingen gegenüber geprägt. Der Rahmen, den wir zur Verfügung stellen, ist gekennzeichnet von den zentralen Werten Sicherheit, Wertschätzung, Beziehungsstärke sowie Entwicklung und den Kerngedanken dieser neuen, ermöglichenden Autorität. Herwig Thelen hat das einmal in einem persönlichen Gespräch treffend mit »Verbindlichkeit, Selbstermächtigung und angemessene Erwartungen« beschrieben. Die Verbindlichkeit drückt sich in zweierlei Form aus, der Verbindlichkeit in meiner Rolle (Ich bin deine Mutter, dein Lehrer etc. und bleibe es) und der Verbindlichkeit in der Verantwortung: Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass sich alle sicher fühlen können, dass bei Schaden Entschädigung erfolgt und dass der/die geschädigte Person entschädigt, versorgt und entlastet wird und sich wieder sicher fühlen kann. Und du kannst aus deinen Fehlern lernen und wieder gut zur Gruppe, zur Klasse, zur Gemeinschaft gehören. Ziel ist die Selbstermächtigung, was so viel bedeutet wie: die Personen in die eigene Stärke und das Erleben von Selbstwirksamkeit zu begleiten. Und damit das möglich werden kann, müssen wir auch die Bereitschaft und den Mut haben, Erwartungen an sie heranzutragen, um ihnen die essenzielle Botschaft zu übermitteln, dass wir an sie glauben. Glauben bedeutet in diesem Kontext, auf das zu vertrauen, was man noch nicht sieht, was noch nicht aktualisiert ist (Verhalten, Fähigkeiten etc.), so würde es die moderne Psychologie sagen. Also darauf zu vertrauen, dass in diesem Kind, in diesem Menschen das Potenzial angelegt ist, das lernen zu können, es schaffen zu können.

Grundsätze der Wiedergutmachung •• Wo Schaden ist, muss es Ent-Schädigung geben! Ein Grundsatz, der in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben unabdingbar ist. Haim Omer und Arist von Schlippe haben ihn prominent im Konzept der Neuen Autorität etabliert (Omer u. von Schlippe, 2016, 2010). In sämtlichen Weltreligionen finden sich in ihren zentralen Schriften Geschichten und Beschreibungen, wie der Mensch gottgefällig leben und das Heil, das Paradies, das Nirwana erreichen kann und was mit ihm geschieht, oder besser, was er zu tun hat, wenn er fehlt, sündigt, Schuld auf sich geladen hat.

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Nicht nur in persönlichen Beziehungen sehen wir die stabilisierende Wirkung des Ausgleichs, wenn Leid geschehen ist und Fehler gemacht wurden, auch auf makropolitischer Ebene sehen wir die Bedeutung des Grundsatzes der Entschädigung. Wo immer es nicht zu Ausgleich von Unrecht, Gewalt, zur Versöhnung gekommen ist, herrschen Dissonanz, Misstrauen, Krieg, dauern nationale oder ethnische Konflikte über Jahrzehnte und produzieren unendliches Leid. Sozialpsychologisch beforschte schon in den 1960er Jahren James Stacey Adams menschliche Austauschprozesse, vor allem im Zusammenhang mit Motivation. In seiner »Equity«-Theorie (Adams, 1965) beschreibt er Themen wie Fairness und Gerechtigkeit. Unumstritten ist heute, dass wir grundsätzlich schon sehr früh lernen, dass sich Fairness und Gerechtigkeit lohnen und ein wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenhalts sind. •• Wir alle machen Fehler. Das gehört zu unserem Menschsein dazu. Wir müssen nicht perfekt sein. Was die Idee dieser Neuen Autorität auch so sympathisch macht, ist die Tatsache, dass sie aus einem humanen, zeitgemäßen Menschenbild herausgewachsen ist. Gerade im Kontext der Leistungsgesellschaft tut das unglaublich gut. Wir akzeptieren unsere Fehlbarkeit, stemmen uns nicht dagegen und versuchen nicht, einen Schein zu wahren, perfekt sein zu müssen, keine Fehler machen zu dürfen. Ganz nach einem wichtigen Leitsatz in unserem Konzept gesprochen (»Name it, to tame it!«), nennen wir die Dinge beim Namen, auch unsere eigenen Schwächen. Wir dürfen dabei nicht unsere enorme Vorbildwirkung gerade auf Kinder und Jugendliche vergessen. Wenn Erwachsene den Mut haben, die Größe haben, auch eigene Fehler einzugestehen und die eigene Unvollkommenheit anzunehmen, wirkt das nicht nur beruhigend auf andere, im Sinne der Erlaubnis, auch Fehler machen zu dürfen, sondern auch verbindend. •• Was wir lernen müssen, ist, diese Fehler zu korrigieren, damit ein respektvolles, konstruktives Miteinander über die Zeit möglich ist oder wieder möglich wird. Was uns als Menschen, als Familie, als Schulgemeinschaft zusammenhält, ist, wo wir uns miteinander gefreut, miteinander etwas geleistet, miteinander etwas geschafft haben, kurz, wo wir eine gute Zeit miteinander hatten oder die Erfahrung gemacht haben, auch eine Schwierigkeit miteinander überstanden, »überwunden« zu haben. Wenn man so will, sind diese gelungenen zwischenmenschlichen Kontakte und Erfahrungen der Kitt in unseren Beziehungen. Unserer Tendenz, den Problemen aus dem Weg zu gehen, gilt es gegenzusteuern. Unsere Tendenz, Verantwortung abzulehnen oder zu verschieben, ist zwar menschlich, blockiert aber die Entwicklung und führt nicht selten zu Kontaktabbruch und Beziehungsende.

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Umsetzung – der Prozess der Wiedergutmachung Wir helfen, einen Weg zur Wiedergutmachung zu finden, und wir unterstützen bei der Ausführung. Wir sprechen auch davon, dass wir eine »Rampe« bauen für das Kind. Es ist schwer, zur eigenen Verantwortung zu stehen, und es stellt oft eine fast unüberwindbare Hürde dar. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass Erwachsene in eine Unterstützungsposition, eine Position des Ermöglichens kommen und nicht nur in einer Position des Forderns verharren. Das beschreiben wir in dem Bild »Wir bauen eine Rampe«, durch die es möglich wird, die Hürde zu überwinden. Dabei sind die Haltung und die Zusage an den anderen gemeint: »Ich bin an deiner Seite«, im Gegensatz zu der Position: »Du hast uns das eingebrockt, du löffelst die Suppe auch wieder aus!« Die Unterstützungsposition drückt sich auch in der Anerkennung des Umstandes aus, dass »gut Ding Weile braucht«, dass es also ein innerer und äußerer Prozess ist hin zur Verantwortungsübernahme, dass diese sich nicht erzwingen lässt. Und wir nehmen eine ermutigende Haltung ein, die sich im Zutrauen auf die Fähigkeiten des Kindes ausdrückt, dass dieses es auch wirklich schaffen kann. So sagen wir z. B.: »Wir tun dies, damit deine Weste wieder sauber wird!«, oder: »Wir schaffen das gemeinsam aus der Welt!« Und wir setzen auch hier auf das Prinzip des Reifens und sagen: »Du musst nicht sofort entscheiden! Lass dir Zeit!« Aus unserer Erfahrung braucht es immer zwei Elemente: Verantwortungsübernahme: Wir erarbeiten gemeinsam einen schriftlichen Bericht darüber, was das Kind getan hat und dass es das Verhalten bedauert. Verantwortungsübernahme erfolgt genau in dem Moment, wo sich unser Verhalten mit der Emotion der Scham verbindet, wenn spürbar wird, dass es der Person jetzt leidtut. Den Moment erleben auch wir als Begleiter oder Zeugen eindrücklich, und wir können dann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die Person die Verantwortung jetzt zu sich nimmt, wenn auch in uns ein Moment der Scham, der peinlichen Berührtheit auftaucht. Das ist deshalb so, weil Emotionen die Tendenz haben, ansteckend zu wirken, wir synchronisieren uns mit dem anderen und vermutlich spielen die sogenannten Spiegelneuronen und der von ihnen ausgelöste Mechanismus der motorischen Aktivierung gleicher zuständiger Hirnregionen eine wichtige Rolle. Eine Geste des guten Willens, der Wiedergutmachung für das Opfer, den oder die geschädigte Person. Dabei geht es nicht nur darum, ein Geschenk zu machen, sondern in erster Linie bezeugt es die gute Absicht der Person, die Schaden angerichtet und Grenzen verletzt hat. Jeder von uns kennt die Erfahrung, von einer anderen Person geschädigt worden zu sein. Sei es eine persönliche Beleidigung, eine riskante Aktion eines Autofahrers, bei der ich

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in Gefahr gebracht wurde, eine bewusste Missachtung eines Kollegen. Stellen wir uns als »Geschädigte« die Frage, was wir brauchen, um mit dieser Person oder der Situation wieder im Reinen zu sein, brauchen wir im besten Fall zwei Erfahrungen: Zum einen soll die Person klar bekennen: »Ich habe es gemacht«, egal ob absichtlich oder unabsichtlich, und: »Es tut mir jetzt leid«, also die Verantwortung zu sich nehmen. Und zum anderen brauchen wir, um wieder vertrauen zu können, ein Zeichen des Bemühens, des guten Willens, der guten Absicht, so etwas nicht wieder zu machen. Bei der Erarbeitung der Wiedergutmachung mit Kindern und Jugendlichen achten wir darauf, dass diese Geste etwas Konkretes ist: eine sorgfältig gemachte Zeichnung, ein selbst gebasteltes Flugzeug, ein Zeitgeschenk wie z. B. eine Tennis-Trainingsstunde. Aus unserer Erfahrung ist es wichtig, dass es keine auferlegte Wiedergutmachung ist, sondern wir die Person in einen inneren Prozess begleiten, darüber nachzudenken, wie sie der anderen Person eine Freude machen kann. Haim Omer hat einmal im Zuge eines persönlichen Gesprächs treffend formuliert, dass die Wiedergutmachung die »Verführung zum Guten« ist. Das hat mir sehr gut gefallen, und ich verwende dieses Bild auch in meinen Seminaren. Die Geste soll auch deshalb etwas Konkretes sein, damit das Kind zudem ein gutes Gefühl bekommt, sich selbst positiv wahrnehmen und erleben kann, wie es gleichsam etwas Gutes in die Welt bringt. Das ist von unschätzbarem Wert, die Erfahrung zu machen, dass ich etwas Gutes, Positives, Wertvolles in die Welt bringen kann. Dabei ist es wichtig, dass wir den Prozess unterstützen, indem wir zum Beispiel auf die Fähigkeiten und Talente des Kindes achten, diese fördern und helfen, sie zum Vorschein zu bringen.

Unterstützer einbinden Wenn es sinnvoll erscheint, kann man auch Unterstützer einbinden. Das hat sich vor allem dann bewährt, wenn es dem Kind, dem Jugendlichen besonders schwerfällt, zu seiner Verantwortung zu stehen. Oft ist es mit einer etwas neutraleren Person leichter, daran zu arbeiten, als z. B. mit dem eigenen Vater oder dem Klassenvorstand. Unterstützer können z. B. gebeten werden, den Brief gemeinsam mit dem Kind zu schreiben oder auch, es bei den Überlegungen zu unterstützen, was eine angemessene Geste sein könnte. Manchmal ist es auch sinnvoll zu überlegen, wer allein durch seine Zeugenschaft mithelfen kann, indem er oder sie z. B. die Botschaft übermittelt: »Ich weiß auch Bescheid, und ich finde, deine Eltern haben recht, wenn sie sagen: ›Entschädigung muss sein.‹ Wenn du möchtest, helfe ich dir dabei!«

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Einseitige Entschädigung In speziellen Fällen, aus meiner Erfahrung betrifft das in etwa 10 % der Wiedergutmachungsfälle, kommt ein wesentliches Prinzip der Neuen Autorität zum Tragen: das Prinzip der einseitigen Schritte. Im Wissen, dass wir den anderen nicht kontrollieren, nicht zwingen können, und aus der Überzeugung, dass eine Entschädigung geschehen muss, machen wir in besonderen Situationen die Wiedergutmachung selbst. Unsere Botschaft an die geschädigten Personen, dass wir für Entschädigung sorgen, muss aufrichtig und verlässlich sein. Das bedeutet dann eben auch, dass wir uns in letzter Konsequenz nicht vom Gegenüber, also in diesem Fall von der Person, von der Schaden ausgegangen ist, abhängig machen. Wir sagen dann z. B.: »Leider ist es dir und uns bisher noch nicht gelungen, für Entschädigung zu sorgen. Da schon einige Zeit vergangen ist, haben wir entschieden, von unserer Seite für Entschädigung zu sorgen. Du bist aber nach wie vor eingeladen, und wir trauen dir das zu, zu einem späteren Zeitpunkt deinen Teil der Verantwortung zu übernehmen.«

Ehrgefühl achten und für Transparenz sorgen Eine wesentliche Facette der neuen, zeitgemäßen Autorität ist die Bereitschaft, das eigene Denken und Handeln offenzulegen. Wir wissen heute, dass das entscheidend ist für die Legitimierung unserer Autorität und für die Prävention von weiterer Gewalt. Transparenz steht am Beginn und am Ende eines jeden erfolgreichen Wiedergutmachungsprozesses. Die beteiligten Personen einzubinden und zu informieren, dass wir handeln (Pflicht), wofür wir handeln (Werte) und wie wir handeln (Schritte und Prozesse), stärkt das Vertrauen in unsere professionelle Kompetenz und führt zu mehr und intensiverer Mitarbeit. Dabei ist zu beachten, dass wir vor allem bei den Veröffentlichungen besonders auf das Ehrgefühl aller Beteiligten achten, denn der Grat zwischen Transparenz und öffentlicher Beschämung ist oft ein sehr schmaler.

Die Kunst der Gesprächsführung hin zur Verantwortungsübernahme Der aus unserer Erfahrung schwierigste Teil ist der der Verantwortungsübernahme. Oft kommt von Eltern oder Sozialpädagoginnen der Einwand, Wiedergutmachung ginge bei der Tochter oder dem Burschen nicht, weil sie/er »null

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Einsicht« habe, also kein Verständnis für seine Schuld. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass es keine Einsicht braucht, um den Prozess der Wiedergutmachung zu starten. Im Idealfall ist es so, dass die Einsicht und die Verantwortungsübernahme rasch da sind, wie in unserem Praxisbeispiel aus dem familiären Bereich weiter unten zu sehen sein wird. Oft ist es aber so, vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen, dass es ihnen nicht leichtfällt und es ein längerer Prozess ist, bis sie dahin kommen. Das bedeutet für uns, dass wir uns wieder einmal gut verankern in der Dimension der Zeit, denn die Zeit ist unser Freund, unsere Freundin. Bevor wir nicht in die Präsenz gefunden haben, das heißt, uns keinen Stress mehr machen, beginnen wir gar nichts. Die Verankerung im Jetzt ist der Schlüssel zu allen Schritten, die wir im Sinne der Neuen Autorität planen und umsetzen.

Entschlossenheit vermitteln und Führung geben Erst aus dieser Verankerung in der Präsenz können wir Entschlossenheit vermitteln und Führung übernehmen. Entschlossenheit bedeutet, dass wir genau wissen, was wir tun und wofür wir es tun. Wir wissen, dass wir als wohlwollende Gemeinschaft die Verantwortung haben, für unsere Werte einzustehen, und wir müssen die Courage haben, Führung zu übernehmen. Detailreich und klar beschrieben hat das Haim Omer in seinem Buch »Wachsame Sorge« (2015). Die Qualität der Ankerfunktion, die wir für das Kind, den Jugendlichen einnehmen und ausfüllen, ermöglicht diesem erst, sich selbst zu verankern. Führung bedeutet in diesem Zusammenhang auch, dass wir die Phänomene genau benennen und nicht »um den heißen Brei herumreden«.

Die Rampe bauen, Brücken herstellen Eine weitere wichtige Idee für den Gesprächsführenden ist die des »Brückenbauens« oder, wie wir es weiter oben genannt haben, »eine Rampe für das Kind zu bauen«. Wir nutzen dabei genau die Überzeugungen und Bilder, die es leichter machen, in eine Kooperation einzusteigen. »Wir alle machen Fehler!«, »Wir schaffen das jetzt aus der Welt!«, »Wir tun dies, damit deine Weste wieder sauber wird!« oder »Wir sind überzeugt, dass es richtig ist, um deinen Ruf wiederherzustellen!« sind verschiedene Möglichkeiten, die inneren kon­ struktiven Stimmen des Gegenübers anzusprechen. Wir laden ein, auch diese Perspektiven einnehmen zu können.

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Widerstände nutzen Es ist davon auszugehen, dass im Verlauf der Begleitung hin zur Verantwortungsübernahme Widerstände auftreten, die sich in Verleugnung, Verdrehungen oder auch Aggressivität ausdrücken können. Wesentlich dabei ist, diese Widerstände ernst zu nehmen und nicht per se abzuwehren oder kleinzureden. Hier geht es vielmehr darum, dass der Gesprächspartner sich sicher sein kann, dass er in seiner Wahrnehmung ernst genommen und nicht abgewertet wird. Wir sind der Überzeugung, dass hinter jedem Verhalten nie eine rein negative Triebfeder steckt, und diese herauszufinden, ist oft der entscheidende Wendepunkt in den Gesprächen. So kann z. B. hinter einer Beleidigung der Wunsch verborgen sein, selbst wertgeschätzt zu werden, oder hinter einer gewalttätigen Aktion der Versuch, aus der Ohnmacht herauszutreten. Hilfreich dabei ist die saubere Trennung von Person und Verhalten. So können wir z. B. der Person sagen: »Dass du den anderen beleidigt hast, war nicht in Ordnung, dein Bedürfnis, auch gesehen zu werden, kann ich aber sehr wohl ebenfalls erkennen.« So ist es wahrscheinlich, dass es der Person mehr und mehr möglich wird, eine differenzierte Sichtweise zu dem eigenen Verhalten zu entwickeln und auch auf den Pfad der Verantwortungsübernahme zu wechseln.

Die Unterstützungsposition einnehmen Aus meiner Erfahrung ist dieser Punkt von enormer Wichtigkeit. Der Begleiter im Prozess vermittelt von Anfang an die Botschaft: »Ich bin an deiner Seite, ich bin nicht gegen dich und möchte dich nicht zu etwas bringen, was du nicht möchtest.« Stattdessen senden wir die Botschaft: »Ich weiß, dass es nicht leicht ist, aber du bist nicht allein, und ich werde dich dabei unterstützen, den Schaden zu reparieren.« Die Unterstützungsposition zu untermauern, erfolgt nicht nur sprachlich, sondern vor allem auch körperlich. Ich als Begleiter begebe mich an die Seite der Person, die ich unterstützen möchte. So verkörpern wir auch den wesentlichen Leitsatz der Neuen Autorität: »Ich will dich nicht besiegen, aber ich werde beharren, weil es wichtig ist und du es mir wert bist und ich an dich glaube!«

In die Täterverantwortung begleiten, nicht in das Opfergefühl Wir müssen darauf achten, dass wir die Person im Prozess stringent in die Verantwortung als »Schädiger« hineinbegleiten. Das gelingt am besten, wenn

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wir bei dem bleiben, was die Person gemacht hat, also bei den Phänomenen. Wir sagen z. B.: »Und dann hast du ihm mit der Hand ins Gesicht geschlagen.« Das ist hilfreich und unterstützt die Person, in ihre Verantwortung zu kommen. Der weiter oben schon erwähnte Grundsatz »Name it, to tame it!« wird wirksam. Ich nenne das auch gern den »Rumpelstilzchen-Effekt«. Indem wir das Schwere, »Böse«, Tragische genau beim Namen nennen, verliert es wie im Märchen der Gebrüder Grimm seine zerstörerische Kraft, es wird uns auch ein Teil der Angst davor genommen. Es ist also die Verbindung von dem klaren, mutigen Benennen der Dinge und der Botschaft »Ich bin da, und ich bleibe da, weil du mir wichtig bist. Ich verurteile dich nicht, dein Verhalten schon!«. Wilfred Bion, der große Psychoanalytiker, hat das »Containment-Modell« (1961) beschrieben. Genau das ist es, was hier erlebbar wird, dass wir dem Kind die Botschaft übermitteln: »Ich kann das (aus-)halten, was du jetzt erlebst, und werde dich nicht wegstoßen, verurteilen, ablehnen. Ich gehe mit dir darüber hinaus!« Wir halten sozusagen gemeinsam die Scham aus, und dadurch, dass der Erwachsene es in Worte fassen kann, Beschreibungen anbieten kann, wird die Scham erträglich und Verantwortungsübernahme möglich. So sagen wir an dieser Stelle zum Kind: »Und jetzt tut es dir leid, dass du ihm ins Gesicht geschlagen hast.« Manchmal fällt es uns in der Begleiterrolle schwer, die Geduld aufzubringen, bei den Phänomenen zu bleiben und zu warten, bis die Scham auftaucht. Was wir dann intuitiv öfters machen, ist meist nicht hilfreich. Wir sagen z. B.: »Stell dir vor, dir würde jemand ins Gesicht schlagen, wie ginge es dir dann?« Das ist deshalb nicht klug, da wir von dem Weg hin zur Verantwortung als »Täter« auf einen anderen Pfad wechseln, nämlich in ein Opfergefühl. Dies kann zu anderen Zeitpunkten hilfreich sein, um Empathie zu fördern, an dieser Stelle des Prozesses empfehlen wir aber, bei der Grenzverletzung und dem angerichteten Schaden zu bleiben. Im Folgenden möchte ich einen klassischen Gesprächsverlauf mit den typischen Herausforderungen skizzieren. Es handelt sich um ein Gespräch mit dem 14-jährigen Michael, der seinem zwei Jahre jüngeren Bruder aus Neid das neue Smartphone, das der bekommen hatte, im Zorn zerstört hat. Das Gespräch führt sein Onkel, der als Unterstützer eingebunden wurde, nachdem die Versuche der Eltern, an der Wiedergutmachung zu arbeiten, noch nicht gefruchtet haben. Onkel:  »Lieber Michael! Hallo, ich komm jetzt zu dir, weil ja das Thema der Wiedergutmachung für deinen Bruder noch offen ist. Du kennst ja den Grundsatz ›Wo Schaden ist, werden wir für Entschädigung sorgen‹, und ich möchte dir jetzt hel-

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fen, die Verantwortung dafür zu übernehmen, damit wir es aus der Welt schaffen. Passt es für dich jetzt? Ich denke, es dauert nicht lange.« Michael:  »Wenn es sein muss! Aber er hat ja angefangen!« Onkel:  »Erzähl mal, wie war das für dich?« Michael:  »Der geht mir schon seit seiner Geburt auf die Nerven!« Onkel:  »Mhh. Erzähl mal, wie war das vor drei Wochen?« Michael:  »Schon in der Früh hab ich mich über das verwöhnte Baby geärgert, als er beim Frühstück, weil er so unbeholfen ist, meinen frisch gepressten Orangensaft umgeschüttet hat. Die Mama hat nur gesagt: Reg dich nicht so auf! Super! Ich mach mir meinen Orangensaft und soll mich dann nicht aufregen, wenn er weg ist.« Onkel:  »Das heißt, du warst da sehr verärgert und hast dich nicht verstanden gefühlt?« Michael:  »Ja, genau!« Onkel:  »Mhh. Das kann ich verstehen. Und was war dann?« Michael:  »Dann sind wir einkaufen gefahren, und wieder war ich der Trottel. Ich musste den Einkauf zum Auto tragen, und der Kleine hat sein Eis geschleckt und gelacht. Mein Dad hat nur gesagt: Er ist ja viel schwächer als du!« Onkel:  »Versteh ich dich richtig, dass du dich da wieder nicht ernst genommen gefühlt hast, obwohl es dein Vater vielleicht gar nicht so gemeint hat?« Michael:  »Ja, genau! Das mit dem Handy geschieht dem verzogenen kleinen Balg schon recht. Ich mach sicher keine Wiedergutmachung!« Onkel:  »Lass dir Zeit, ich bin nicht so schnell. Wie ist es nach dem Einkaufen weitergegangen?« Michael:  »Dann bin ich zu einem Freund, und das war super. Wir haben am Computer gespielt, und seine Mutter hat leckere Knödel gemacht. Um 15 Uhr musste ich aber wieder zu Hause sein und auf meinen Bruder aufpassen. Ich wollte aber noch so gern bei Lars bleiben.« Onkel:  »Ist da der Ärger auf deinen Bruder noch mehr geworden?« Michael: »Ja.« Onkel:  »Was war dann, als du wieder zu Hause warst?« Michael:  »Da hat es nicht lange gedauert, und ich hab mich geärgert, weil ich das Ladekabel für mein Handy nicht gefunden habe. Und dann ist mein doofer Bruder in seinem Ohrensessel gesessen, hat mit seinem neuen, viel zu teuren Handy gespielt und blöd gegrinst, als ich gesagt habe: Ich finde mein Kabel nicht. Und da ist mir der Faden gerissen, und ich bin hin und hab’s ihm aus der Hand gerissen und es gegen die Wand geknallt, dass es hin war.« Onkel:  »Da warst du so wütend, dass es dir gereicht hat?« Michael:  »Ja, genau.« Onkel:  »Das kann ich verstehen, weil du dich so geärgert hast. Wenn du jetzt noch-

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mals hinschaust und dich fragst, wie das aus heutiger Sicht für dich ist, wie’s dir damit geht, dass du sein Handy zerstört hast?« Michael:  »Das hat er verdient, weil er so blöd gegrinst hat.« Onkel:  »Du hast dich geärgert, weil du dein Kabel nicht gefunden hast, und dann hast du auch noch den Eindruck gehabt, er lacht dich aus. Ich verstehe. Und du hast ja erzählt, dass du dich an diesem Tag schon öfters geärgert hast über ihn und deine Eltern. Ich kann das gut verstehen und finde auch, dass du recht hast, wenn du denkst, dass du da öfters benachteiligt wurdest. Ich bin ja so wie du der Älteste der Geschwister, und mir ist das auch oft voll auf den Sack gegangen, weil ich als Ältester der Gescheitere sein musste und nachgeben musste. Ich hab mich auch oft geärgert. Wenn du möchtest, rede ich auch mal mit deinen Eltern darüber oder auch gern gemeinsam, wie das gelingen kann, dass sie mit dir auch gerechter umgehen. Auch wenn sie das vielleicht nicht absichtlich machen, so ärgert es dich trotzdem. Was hältst du davon?« Michael:  »Ja, das wäre schon gut, denke ich. Dann hab ich endlich auch mal einen Fürsprecher.« Onkel:  »Ja, fein, dann machen wir uns was aus und reden mal gemeinsam darüber. Wenn du jetzt nochmals hinschaust zu dem, wo du vor lauter Zorn das Handy an die Wand geschleudert hast, dass es kaputt gegangen ist: Wie denkst du jetzt darüber? Wie geht’s dir damit, dass du das gemacht hast?« Michael:  »Ja, das war auch irgendwie scheiße.« Onkel:  »Meinst du damit, dass dir das heute leidtut, dass du das kaputt gemacht hast?« Michael:  »Ja, das war blöd.« Wichtig ist, auch eine schriftliche Darstellung zu machen. Das hat den Vorteil, dass wir dadurch das Tempo aus dem Prozess rausnehmen können und zudem danach einen Brief für die geschädigte Person haben. Wir können z. B. immer wieder nachfragen, wie wir das Erzählte formulieren könnten, und dadurch gewinnen wir Zeit. Wir alle haben eine mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz, an den Stellen, wo es unangenehm wird, wo wir auch Angst haben, schneller zu werden, um das Unangenehme, das Angstmachende hinter uns zu bringen. Hier braucht es Geduld und beharrliche Führung. Ich vergleiche das gern mit der Situation des Bergführers, der mich über schwere Passagen, wo wir auch am Seil gehen müssen, bei Kletterpassagen z. B., sicher und ruhig führt, sodass wir den Gipfel gut erreichen können.

Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich das in den Gesprächsverlauf im obigen Beispiel nicht eingebaut. Wir möchten aber ausdrücklich empfehlen, das Gespräch und die Botschaft auch zu verschriftlichen. Beginnen kann man damit, dass man die Frage stellt: »Willst du den Brief schreiben, oder soll ich

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Vertiefende Aspekte

es verschriftlichen?« Manchmal ist es auch klüger, den Brief im Nachhinein gemeinsam zu verfassen. Uns muss auch bewusst sein, dass es manchmal mehrere Anläufe braucht, bis es möglich ist, zur Verantwortungsübernahme zu kommen. Hilfreich ist dabei das Beschreiben des tatsächlichen Verhaltens. Dort ist der Punkt, wo die Verknüpfung von persönlichem Verhalten und der Emotion der Scham stattfinden kann, wo wir also in die »Täterverantwortung« begleiten.

Praxisbeispiele Familiärer Kontext Das erste unserer Fallbeispiele ist ein persönliches aus dem familiären Bereich. Ich verwende es oft auch als Beispiel in meinen Fortbildungsseminaren, da es sehr gut den Prozess der Wiedergutmachung veranschaulicht, und ich auch ein wenig stolz bin, wie gut uns das gelungen ist. Als meine Tochter Sophie mit der Grundschule begann, folgten bald die ersten Einladungen zu Geburtstagsfeiern der anderen Kinder. Und so war sie wieder einmal eingeladen, diesmal bei der Feier von Mona, die im Partyraum eines Museums stattfand. Ich brachte sie hin und holte sie drei Stunden später wieder ab. Beim Abholen war Sophie gut gelaunt und wir gingen nach Hause. Zu Hause durfte sie dann noch mit ihrem älteren Bruder die Nachrichtensendung für Kinder schauen, bevor sie zu Bett ging. Während der Nachrichtensendung klingelte mein Telefon, und die Mutter einer Klassenkollegin von Sophie, die auch auf der Party war, meldete sich und sagte: »Guten Abend, Herr Ofner, ich muss Ihnen sagen, dass Ihre Tochter heute bei der Party richtig gemein war zu meiner Tochter Hanna und zu ihr mehrmals gesagt hat: ›Geh weg, du bist hässlich, wir wollen dich nicht!‹ Hanna ist dann sehr traurig nach Hause gekommen. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Tochter damit aufhört!« Ich war betroffen, sagte ihr, dass ich mit meiner Tochter darüber reden würde, bedankte mich für die Information und sagte, dass ich mich bei ihr melden würde, wenn ich mit Sophie gesprochen hätte. Ich war versucht, gleich auf Sophie zuzugehen, doch dann erinnerte ich mich an einen unserer Leitsätze: »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!« So ließ ich Sophie noch in Ruhe die Sendung zu Ende schauen, dann bat ich sie, zu mir zu kommen, da wir noch etwas besprechen müssten. Ich begann mit den Worten: »Mein Schatz, die Mama von der Hanna hat angerufen …« Ich konnte nicht mehr weiterreden, denn Sophie erwiderte sofort: »Ich

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mach es eh nie wieder, nie wieder!« Dann begann sie zu weinen, und ich nahm sie in den Arm. Sie schluchzte, und ich sagte: »Mein Schatz, wir alle machen Fehler. Was ist denn gewesen mit der Hanna?« Sie schluchzte weiter, aber langsam beruhigte sie sich und erzählte, was gewesen war. Sie habe mit zwei anderen Freundinnen allein spielen wollen, und da sei immer wieder die Hanna dazugekommen, und das habe sie nicht gewollt. Sie habe sie aber eigentlich auch nicht beleidigen wollen. Ich fragte, was wir jetzt tun könnten, und sie sagte, dass sie sich was überlegen werde für die Hanna. Sie wusste schon, »wie der Hase läuft«, denn ihr älterer Bruder hatte schon öfters, wenn er gemein gewesen war zu ihr, eine Wiedergutmachung für sie gemacht. Ich ließ ihr ein wenig Zeit und fragte dann, ob sie eine Idee hätte. Sie ging in ihr Zimmer und begann eine Zeichnung zu malen für Hanna. Sophie liebt Blumen und zeichnete eine schöne Blumenwiese, und dann fragte sie noch, ob sie aus der Süßigkeiten-Box etwas aussuchen könne, was ich ihr erlaubte. Dann überlegten wir gemeinsam, wie und wann sie die Wiedergutmachung an Hanna überbringen könnte. Wir legten fest, dass wir es morgen gleich in der Früh in der Garderobe der Schule machen könnten, und sie wünschte sich, dass ich dabei bin. So rief ich die Mutter von Hanna an und fragte sie, ob es für sie so passe. Ich wusste, dass sie Hanna immer in die Schule brachte. So trafen wir uns am nächsten Morgen vor Schulbeginn in der Garderobe, und es wurde eine schöne Übergabe, bei der Sophie auch sagen konnte, dass es ihr leid tue. Beide Kinder hatten eine Freude, und Hanna nahm die Wiedergutmachung gern an. Ich vereinbarte mit der Mutter von Hanna, dass wir nächste Woche noch einmal telefonieren würden, um zu schauen, wie es den beiden miteinander gehe. Ich fragte auch in den nächsten Tagen Sophie noch zwei-, dreimal, wie es ihr mit Hanna so gehe und ob sie sich wieder vertrügen.

Schulischer Kontext (Stefan Fischer) Im Folgenden werden wir noch zwei Beispiele von Wiedergutmachungsprozessen im schulischen Kontext darstellen. In beiden wird sichtbar, wie achtsam die Pädagoginnen und Pädagogen die Prozesse begleiten. In Klammern und kursiv geschrieben sind zum besseren Verständnis die jeweils zum Tragen kommenden Prinzipien und Handlungsaspekte der Neuen Autorität angegeben. Beispiel »Rauferei auf dem Schulhof«: Alle Namen der Beteiligten sind aus Gründen der Anonymisierung geändert. Die beteiligten Personen sind Dimitri, acht Jahre, Osman, neun Jahre, Herr Friedrich, Sozialpädagoge, Herr Gottwald, Erzieher, Herr Hausmann und Herr Arnold, Aufsichten, Frau Tauner, Klassenlehrerin von

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Vertiefende Aspekte

­Dimitri, Frau Ludwig und Frau Mertens, Klassenerzieherinnen von Dimitri und Osman, Frau Schmidt, Sozialpädagogin der Schulstation, und Frau Müller, Sozialpädagogin. Hofpausensituation: Im Zuge der Wachsamen Sorge und der pädagogischen/ professionellen Präsenz unterstützen der Erzieher Herr Gottwald und der Sozialpädagoge Herr Friedrich an der Wedding-Schule die zuständigen Aufsichtspersonen temporär während der Hofpause (Unterstützer/-innen-Netzwerk). In dieser wird der Sozialpädagoge Herr Friedrich von ein paar Kindern angesprochen, dass ein Junge, Dimitri, ein Feuerzeug besäße und es auch benutzen wolle. Daraufhin macht sich der Sozialpädagoge Herr Friedrich auf den Weg über den weitläufigen Schulhof, um den Jungen ausfindig zu machen (Entscheidung/Haltung/Werte). Der Erzieher Herr Gottwald schlägt einen anderen Weg ein und sieht plötzlich, wie der gesuchte Dimitri mit Händen und Füßen auf ein anderes Kind, Osman, massiv einprügelt. Der Erzieher Herr Gottwald geht dazwischen und schafft es, Dimitri zu Herrn Hausmann, einen Aufsicht habenden Erzieher, zu begleiten. Dieser geht mit Dimitri zur Schulstation der Wedding-Schule, wo ein Erstgespräch mit der dortigen Sozialpädagogin Frau Schmidt stattfindet. Der Sozialpädagoge Herr Friedrich und der Erzieher Herr Gottwald kümmern sich nun um den am Boden liegenden Osman und fragen, welche Hilfe und Unterstützung er benötigt. Gemeinsam mit dem hinzueilenden Lehrer Herrn Arnold (Aufsicht) wird eingeschätzt, dass der Junge keine ärztliche Behandlung benötigt. Dies meldet der Junge auch zurück (Schutz). Um sich ein genaueres Bild von der Situation zu machen, befragen die Erwachsenen Osman und zwei Jungen, die das Geschehen am Rande beobachtet haben. Osman wird mitgeteilt, dass die Erwachsenen ihn ansprechen werden, sobald sie eine Idee haben, wie weiter verfahren werden soll (verzögerte Reaktion). Bis zum Ende der Hofpause erhöht das pädagogische Personal den Fokus auf die Jungen (fokussierte Aufmerksamkeit). Die Erwachsenen vereinbaren nach Beendigung der Hofpause, dass der Erzieher Herr Gottwald Dimitri von der Schulstation abholt und der Sozialpädagoge Herr Friedrich vor dem Klassenraum wartet, um der Klassenlehrerin Frau Tauner die Beobachtungen mitzuteilen. Während der Unterricht durch Frau Tauner bereits begonnen hat, unterhalten sich der Erzieher Herr Gottwald und der Sozialpädagoge Herr Friedrich mit Dimitri, um mehr davon zu erfahren, was aus Sicht des Jungen auf dem Schulhof passiert ist, was durch einen beharrlichen, konfrontativen und wertschätzenden Gesprächsstil gelingt. Die Klassenlehrerin Frau Tauner sieht im weiteren Verlauf von einer (Schul-)Strafe ab, weil der Erzieher Herr Gottwald und der Sozialpädagoge Herr Friedrich den Nutzen und die Sinnhaftigkeit von Strafe infrage stellen (Selbstkontrolle/Deeskalation). Stattdessen soll die Wiedergutmachung als geeignete Methode genutzt werden, um Dimitri die Möglichkeit zu geben, Verantwortung für sein destruktives Verhalten zu übernehmen und den entstandenen Schaden bei Osman wiedergutzumachen.

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Im Anschluss werden die Informationen an die Klassenerzieherinnen Frau Ludwig und Frau Mertens weitergegeben, um den Eltern der beiden Kinder telefonisch zu berichten, wie die Schule weiter verfahren wird (Transparenz/partielle Öffentlichkeit). Die Klassenerzieherin Frau Mertens vereinbart mit Dimitri, dass er sich am Wochenende (gemeinsam mit der Kindesmutter) eine Wiedergutmachung überlegen soll. Da Dimitri nichts einfällt, überlegt die Klassenerzieherin Frau Mertens gemeinsam mit ihm, welche Wiedergutmachungsleistungen hilfreich sein können. Dimitri überlegt sich, dass er einen Entschuldigungsbrief gestaltet und ein Loom-Freundschaftsband bastelt. Ein Wiedergutmachungsgespräch wird vereinbart. Die Sozialpädagogin Frau Müller, die ein soziales Training in der Klasse von Dimitri durchführt, hat sich bereit erklärt, bei diesem Gespräch unterstützend dabei zu sein. Bis zum Gespräch fragt Osman immer wieder nach, wann es genau stattfindet. Daran ist festzustellen, dass dem Jungen eine Konfliktklärung sehr wahrscheinlich wichtig und ernst ist und er bestimmt, wann es für ihn wieder gut ist. Die Klassenerzieherin Frau Mertens und die Sozialpädagogin Frau Schmidt erleben in einer angenehmen Gesprächsatmosphäre beide Jungen offen und gewillt, sich wieder zu vertragen. Dimitri hat die Möglichkeit, sich zu entschuldigen und die gebastelten Dinge zu überreichen, was Osman sehr gut annehmen kann. An den Tagen danach sprechen Dimitri und Osman den Sozialpädagogen Herrn Friedrich unabhängig voneinander an und berichten freudestrahlend, dass das Gespräch gut abgelaufen und zwischen ihnen wieder alles okay sei. Im nachträglichen Austausch der beteiligten pädagogischen Fachkräfte werden alle auf den gleichen Wissensstand des Prozesses gebracht. Ein Abschlussgespräch bringt diesen Verlauf zu einem guten Ende.

Das Beispiel soll deutlich machen, dass es sich immer lohnt, als Erwachsener über die eigene pädagogische Haltung, Verantwortung, professionelle Präsenz und »Wirkung« nachzudenken und auch, wie und wodurch dies erreicht werden kann. Beispiel »Verkauf von Silvesterknallern an einer Berliner Grundschule«: Zwei Jungen, A (Organisator) und B (Verkäufer), Fünftklässler einer Grundschule, entdecken auf der Geburtstagsfeier in einem Versteck der Eltern von Junge A Silvesterknaller. Gemeinsam entwickeln sie die Idee, die Knaller auf dem Schulhof zu »verticken«. Sie packen die Böller ordentlich in kleine Päckchen und überlegen sich auch einen gewissen Mengenrabatt. Knaller, die keinen Zünder mehr haben, wollen sie besonders günstig verkaufen. Sie einigen sich darauf, dass sie die Knaller nur Kindern ab einem Alter von zehn Jahren anbieten, da sie davon ausgehen, dass der Umgang damit ab diesem Alter

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erlaubt sei. Weiter einigen sich beide Schüler, dass Junge B für die Verkaufstätigkeit eine bestimmte Menge an Knallern von Junge A gratis bekommt. Wie erfahren nun die Mitarbeiter der Schule davon? Ein Schüler einer dritten Klasse beobachtet in der Hofpause, dass die beiden Jungen A und B die Knaller an zwei Schüler einer anderen fünften Klasse verkaufen. Er mischt sich unter die Schülertraube und bekundet Interesse. Nach dem Erwerb von zwei Knallern geht er damit zu seiner Klassenerzieherin und berichtet ihr von dem Vorfall (Vertrauen). Diese wendet sich an die Kollegin der Schulsozialarbeit und teilt die Informationen mit. Daraufhin setzt sich das Team der Schulsozialarbeit zusammen und überlegt weitere Schritte, die sich folgendermaßen darstellen lassen: •• Recherche zu den Knallern, •• Gespräche mit den betroffenen Kindern, um mehr von der Situation und Lage zu erfahren, •• Kontaktaufnahme zu allen zuständigen Pädagoginnen und Pädagogen, •• Wer muss noch informiert werden? (partielle Transparenz), •• Gemeinsam mit der Schulleitung Festlegung eines Termins zu einem Krisengespräch mit den Betroffenen und Beteiligten noch vor den Sommerferien, •• Kontaktaufnahme zum Präventionsbeauftragten der Polizei mit der Bitte um Unterstützung. Die Schulleitung beruft am kommenden Tag eine außerordentliche Dienstberatung ein, um alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Grundschule zu informieren (Stufe zwei der Wachsamen Sorge – Fokussierung der Aufmerksamkeit), dass sich noch immer versteckte Knallkörper auf dem Schulgelände befinden könnten. Gemeinsam wird mit der Schulleitung beschlossen, dass es eine Gewaltmeldung an die Polizei geben wird. In den Einzelgesprächen mit den beiden Jungen erfahren die Erwachsenen, dass bereits drei weitere Kinder von anderen Klassen durch den Erwerb auf dem Schulhof im Besitz von Knallern seien. Diese Schüler werden ebenfalls zu einem Gespräch eingeladen und geben ihre Knaller ab. Des Weiteren wird bekannt, dass es in der Klasse der beiden Befragten zahlreiche Mitwisser gibt. Besonders abenteuerlich ist die Information, dass die beiden Jungen noch eine besondere Aktion vorhatten: Im Rahmen des naturwissenschaftlichen Unterrichts möchte die Lehrerin mithilfe eines Vulkan-Modells einen Ausbruch simulieren. In diesem stecken zwei Knaller der beiden Schüler. Es kann nur erahnt werden, was alles Schlimmes hätte passieren können. Im Austausch und in der Abstimmung unter den Erwachsenen beschließen diese, dass eine Ankündigung an die Klasse verfasst und mitgeteilt wird (Protest/Gegenüber/Widerstand – siehe hierzu auch die detaillierten Informationen zu den Mög-

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lichkeiten der »Ankündigung« in Kapitel 3.1). Um nicht in Hektik zu verfallen, überhastete Aktionen zu starten und schulische Maßnahmen festzulegen, entscheiden die Mitarbeiter der Grundschule, dass sie nach den Sommerferien weiterberaten werden (verzögerte Reaktion). Dies wird in der Ankündigung so auch mitgeteilt. In dem Krisengespräch vor den Sommerferien, an dem neben den Klassenverantwortlichen auch die Eltern, die Polizei und die Schulsozialarbeit teilnehmen, wird bereits mit den Schülern darauf hingearbeitet, Verantwortung für ihre »Tat« zu übernehmen, um dann nach den Sommerferien über Wiedergutmachungsideen nachzudenken und diese umzusetzen.

Denn dort, »wo Schaden entstanden ist, muss es Entschädigung geben«. Einsicht auf Kommando und der daraus resultierenden »gespielten Einsicht« wäre an dieser Stelle nicht zielführend. Auch mit der Unterstützung der Polizei werden die beiden Jungen in dem Gespräch wertschätzend mit ihrer Aktion konfrontiert. Ihnen wird aber auch die »Rampe gebaut«, Scham konstruktiv zu spüren, ohne Beschämung auszulösen, um gestärkt und verantwortungsvoll aus diesem Prozess hervorzugehen. Dies ist ein ganz sensibler Moment und erfordert eine hohe Professionalität, Entschlossenheit und Empathie sowie ausgeprägtes Feingefühl der Erwachsenen (Haltung/Entscheidung/Werte/Klarheit). Nach den Sommerferien laden die Erwachsenen die beiden Verursacher zu einem Wiedergutmachungsgespräch ein. Neben der Schulsozialarbeit ist mindestens eine klassenverantwortliche Person dabei. In diesem Beispiel ist es der Klassenerzieher, der in dem Wiedergutmachungsprozess eine maßgebliche und unterstützende Rolle bei der Planung und Umsetzung der Wiedergutmachungen spielt (Unterstützung, Netzwerk). Außerdem arbeiten die Erwachsenen mit einem Schüler, der Silvesterknaller gekauft hat, an einer Wiedergutmachung. Die Entscheidung ist darin begründet, da er Streitschlichter der Grundschule ist und somit eine gewisse Vorbildfunktion für die Schülerinnen und Schüler innehat. Der Klassenerzieher betreut die drei Jungen hauptsächlich bei ihren Wiedergutmachungsleistungen und hält die anderen Erwachsenen auf dem jeweils aktuellen Stand. Nachdem alle Vorhaben erfüllt sind, findet ein Abschlussgespräch statt. Erwachsene, die daran nicht teilnehmen können, werden über den erfolgreichen Abschluss informiert. Ebenso wird der Klasse mitgeteilt, dass die Einschätzung der Erwachsenen ergab, dass es nun wieder gut ist. Eine zentrale Frage sei an dieser Stelle erwähnt: Wer entscheidet, wann etwas wodurch und wie wieder gut ist? Diese Frage muss in jedem Prozess neu gestellt und beantwortet werden.

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Literatur Adams, J. S. (1965). Inequity in social exchange. In L. Berkowitz (Ed.), Advances in experimental social psychology. Vol. 2 (pp. 267–299). New York: Academic Press. Bion, W. R. (1961). Experiences in groups. London: Tavistock. (Dt.: Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Stuttgart: Klett-Cotta, 1971) Bude, H. (2014). Gesellschaft der Angst. Hamburg: Edition HIS. Freud, A. (1936/2006). Das Ich und die Abwehrmechanismen (19. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer. Harari, Y. N. (2017). Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München: C.H. Beck. Horx, M. (2013). Zukunft wagen. Über den klugen Umgang mit dem Unvorhersagbaren. München: DVA. Omer, H. (2009). Stärke statt Macht. »Neue Autorität« durch Beziehung. Vorträge (Mp3-CD). Müllheim (Baden): Auditorium Netzwerk. Omer, H. (2015). Wachsame Sorge. Wie Eltern für ihre Kinder ein guter Anker sind. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Riesman, D., Glazer, N., Reuel, D. (1967). Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlung des amerikanischen Charakters. Mit einer Einführung von Helmut Schelsky (11. Aufl.). Reinbek. Shermer, M. (2012). The believing brain: From ghosts and gods to politics and conspiracies – How we construct beliefs and reinforce them as truths. New York: St Martin’s Griffin. Watzlawick, P. (1996). Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn – Täuschung – Verstehen (22. Aufl.). München: Piper. Wurmser, L. (1998). Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten (3. Aufl.). Berlin: Springer.

3.4 Neue Autorität und psychische Störungen Herwig Thelen

Einführende Gedanken Wenn wir klinischen Praktiker Arbeitshypothesen aufstellen, so haben wir Forschern und Forscherinnen gegenüber einen Vorteil: Die Anwendung muss nur funktionieren, und wir müssen nicht beweisen, warum. Voraussetzung für dieses saloppe Vorgehen ist einerseits eine stetige Beschäftigung mit aktuellen und verlässlichen wissenschaftlichen Quellen und andererseits die Bereitschaft, unsere Arbeitshypothesen sofort durch bessere zu ersetzen, sobald sich neues, verbrieftes Wissen einstellt. Für Menschen ohne psychiatrische oder psychotherapeutische Ausbildung ist das weite Feld der seelischen Erkrankungen oft eine beängstigende Büchse der Pandora, die man besser nicht öffnet. Dies steht im krassen Gegensatz dazu, dass die meiste Begegnungs- und Betreuungszeit, die Menschen mit psychischen Störungen erleben, mit eben diesen »Laien« stattfindet. Es erscheint also durchaus angemessen, einfache Modellvorstellungen beizusteuern, die diese Begegnungen bereichern können. Hier also eine Zusammenschau meiner praktischen Erkenntnisse über die Arbeit mit Neuer Autorität und psychischen Störungen.

Psychische Störungen oder nur Selbstverteidigungsmuster? Auf die Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Würde eines Menschen ist umso genauer zu achten, je mehr dieser Mensch auf unser Wohlwollen angewiesen ist. Eine Ärztin, die uns Blut abnimmt, ein Lehrer, der unser Wissen prüft, oder die Polizeistreife, die uns nach zu schneller Fahrt abmahnt, tun gut daran, diese Handlungen so vorzunehmen, dass wir uns weder verletzt, überrumpelt noch herabgewürdigt fühlen. Wird das nicht beachtet, erfahren wir eine Grenzüberschreitung – wir beginnen, spontane Muster der Selbstverteidigung aufzubringen, um nicht überwältigt zu werden. Theoretisch könnten wir reife Abgrenzungs-

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botschaften formulieren, in der Hoffnung, dass der andere seine Überschreitung erkennt und beide erhobenen Hauptes aus der Situation gehen können. Doch oft passiert das Gegenteil. Unsere Selbstverteidigung ist impulsiv und unreif, sie reicht von wehleidigem Gezeter und übertriebener Unfreundlichkeit bis zu schamerfüllter Unterwerfung. Oder aber, die Grenzüberschreitungserfahrung wird abgespalten, verdrängt, und führt zum Beziehungsabbruch. Wir sagen zwar nichts, gehen aber nie wieder zu dieser Ärztin, schimpfen hinterrücks über den Lehrer oder erschrecken unangemessen stark bei jeder zukünftigen Begegnung mit der Polizei. In gewisser Weise sind das dieselben seelischen Schutzmaßnahmen, wie wir sie bei Traumafolgestörungen beobachten. Ein Trauma ist eine heftige Lernerfahrung in einer Situation des Ausgeliefertseins. Sie wird bewusst oder unbewusst abgespeichert, damit wir beim nächsten Mal besser vorbereitet sind. Als Einziger nicht mitspielen zu dürfen, einen ekelerregenden Geruch aushalten zu müssen, eine unvergesslich abschätzige Bemerkung einzustecken – und schon würden wir am liebsten ausrasten, davonlaufen oder uns die Decke über den Kopf ziehen. Wir alle kennen das gut genug, um uns theoretisch in Traumaerfahrungen einfühlen zu können. War die Gefährdung jedoch sehr heftig, fand sie in sehr frühen und sensiblen Entwicklungsphasen statt oder war sie gar lange überdauernd und immer wiederkehrend, so bringt der Organismus eine breite Palette von Alarmsignalen und Überlebensstrategien hervor, um einer neuerlichen Vernichtungserfahrung zu entgehen. Menschen mit solchen Erfahrungen entwickeln Beziehungsangebote, die ihr Umfeld stark beeinflussen oder gar manipulieren können, nicht aus dem Wunsch nach Überlegenheit heraus, sondern um die Kontrolle über die Situation zu behalten. Hilfreiche Vertiefungen diesbezüglich finden sich in diesem Handbuch in Angela Eberdings Kapitel 3.5, »Vom Verlust zum Gewinn – Posttraumatisches Wachstum und Neue Autorität in der Jugendhilfe«.

Arbeitshypothese zu psychischen Störungen Aktuelle Auffassungen darüber, wie sich unsere Persönlichkeit konstituiert, legen die Ansicht nahe, dass psychische Störungen nichts anderes sind als sich chronisch manifestierende seelische Schutzmaßnahmen. In der systemischen Psychiatrie war dieser Gedanke schon vor der aktuellen Flut an neurobiologischen Daten stark vertreten. Ruf (2013) beschreibt in seiner Einführung in die systemische Psychiatrie anschaulich, wie Symptomkreisläufe durchbrochen werden können, indem sie als Schutzreaktionen positiv konnotiert werden. Stephen Porges’ Polyvagal-Theorie (2010, 2018) oder weitere neurobiologisch

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fundierte Forschungsergebnisse von Allan N. Schore (2009), Daniel J. Siegel (2012), Jon G. Allen, Peter Fonagy und Anthony W. Bateman (2016), Gerhard Roth und Nicole Strüber (2017) oder Jaak Panksepp und Lucy Biven (2012) weisen allesamt auf die grundlegende Bedeutung basaler Stressverarbeitungsvorgänge im Zusammenhang mit psychischen Störungen hin. Eine übersichtliche Zusammenfassung bieten beispielsweise Ogden, Minton und Pain in ihrem 2009 auf Deutsch erschienenen Buch »Trauma und Körper«. In meiner praktischen Arbeit mit Betroffenen, Angehörigen oder Menschen aus dem Helfersystem versuche ich nun, das nicht immer leicht zu verstehende systemische und neurobiologische Wissen in anschauliche Modellvorstellungen zu fassen. Das »Internal Family Systems Model« (IFS) von Richard C. Schwartz (2012) bietet beispielsweise ein anschauliches Modell zur Unterscheidung verschiedener innerer Störungsanteile. Wie viele andere beschreibt auch Schwartz krankheitswertige Symptome als Schutzmaßnahmen, die dazu dienen, einen gekränkten inneren Selbstanteil vor weiteren Angriffen zu schützen. Damit Schutz entstehen kann, muss ich mir andere »vom Leib halten«, ich muss also Verhaltensweisen hervorbringen, die manipulierenden Charakter haben. Das beginnt bei so basalen Affekten wie Wut und Überängstlichkeit, funktioniert aber auch über Selbstverletzung, Verweigerung, Depression oder Verwahrlosung. Die Verhaltensweisen mit Oxytocin-Beteiligung (sexuelles und nichtsexuelles Bindungsverhalten, Dominanz) bzw. jene mit Dopamin-­ Beteiligung (Risikoverhalten, Pseudo-Heldentaten und Suchtverhalten) spielen dabei eine bedeutende Rolle bei der Angstdämpfung. Aus diesen sogenannten Management-Kräften baut sich zunehmend eine Art »Mauer« auf, die den Blick auf die ungeschützte Persönlichkeit (meist mit der Metapher »Selbst« oder »gekränktes inneres Kind« bezeichnet) immer weniger zulässt. Aus Sicht des Gehirns sind diese Symptome gelernte Verhaltensweisen, die sich bei Erfolg immer stärker manifestieren. Sie wandern in das implizite Gedächtnis in den Basalganglien und können nicht mehr gelöscht werden. Wenn sie über konkrete Trigger hinaus generalisierend und situationsübergreifend angewendet werden, besteht die Gefahr, dass die Schutzmauer die eigentliche Persönlichkeit bis zur Unkenntlichkeit verdeckt. Das Ziel wäre es nun, diesen Prozess zum einen zu stoppen, indem wir gegen die manipulative Wirkung der Schutzmaßnahmen in den Widerstand gehen (Stoßdämpferhaltung), und zum anderen dem verletzlichen Selbstanteil längerfristig zu neuen, konstruktiven Lernerfahrungen zu verhelfen (Ankerhaltung). Diese Erfahrungen des Gelingens sollen die Fähigkeit zur psychischen Abwehr nicht auslöschen, sondern nur ergänzen. Ziel ist es also, die Mauer nicht zum Einstürzen zu bringen, sondern sie nur so elastisch wie möglich zu machen.

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Mysterium Eskalation Viele Familien und auch pädagogische Teams stellen sich so auf, dass es nur ja nicht zu Eskalationen kommt. So manches wird dabei unter den Teppich gekehrt und still geduldet. Oder aber, Eskalationen werden überdramatisiert und führen nicht selten zum Beziehungs- oder Betreuungsabbruch. Oft werden Betroffene nach imposanten Eskalationen stationär aufgenommen, jedoch zum Erstaunen der Einweiser sehr schnell wieder entlassen. Die Ratlosigkeit, die folgt, ist nachvollziehbar. Die Eskalation wirkt besonders bedrohlich, wenn man implizit davon ausgeht, dass mit ihr die Schwelle zu einer neuen Kaltblütigkeit überschritten wurde und dieses oder noch ärgeres Verhalten nun regelmäßig folgen wird. Oder man schreibt dem Eskalationsverhalten ansteckende Wirkung zu und hat schon Horrorvisionen darüber, wie es wäre, wenn alle anderen sich jetzt auch so verhalten würden. Das medizinische Personal auf den Stationen gibt jedoch zu Recht Entwarnung: Der Sturm ist vorbei, es liegen weder Selbstnoch Fremdgefährdung vor. Das lässt Eskalationen für Laien immer mehr zum Mysterium werden. Was sollten wir also wissen? Zum einen sind Eskalationen traumabedingte Reaktionen auf ein Gefühl der Ausweglosigkeit, dem wir mitunter vorbeugen können. Wir sollten gewahr bleiben, dass das Gefühl des Ausgeliefert-Seins den eigentlichen Motor der Traumafolgestörung darstellt. Unsere Erwartungen an komplex traumatisierte Menschen sollten daher nie zu wertend oder zu eng und ohne Ausweg sein. Auch gebrochene Versprechen oder überbordende Gefühlsanwandlungen können bei bindungssensiblen Menschen Eskalationen triggern. Meist häufen sich dabei kleinere Kränkungen über mehrere Vorstufen hinweg an, die aber erst bei genauem Hinsehen sichtbar werden. Zum anderen lassen sich Eskalationen durchaus als Erschöpfungsphänomene betrachten. Das Aufrechterhalten der Schutzmaßnahmen ist so anstrengend wie das Lächeln einer Stewardess. Es zehrt, irgendwann geht es nicht mehr, und dann kommt die Entladung. In beiden Fällen wird jedoch klar: Eskalationen sind punktuell in ihrer Bedeutung überschätzt. Sie haben wenig Aussagekraft darüber, wie sich jemand langfristig entwickelt. Natürlich sollten die problematischen Folgen einer Eskalation im klassischen Sinne eine Wiedergutmachung erfahren, aber eben auch in erster Linie, um sie abzuschließen und aus der Welt zu schaffen. Sie sollten uns nicht den Blick auf wesentlichere Dinge verstellen: Wenn wir mit psychischen Störungen arbeiten wollen, dann vorwiegend mit der »Mauer«, und nicht mit der Eskalation. Versierte Trauma-Expertinnen widersprechen dieser vereinfachenden Darstellung zwar dahingehend, dass die Wortwahl der Betroffenen im Trauma-State großen Aufschluss über das ursprüngliche Traumathema bietet, aus Gründen der Konzeptklarheit verzichte

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ich jedoch hier auf diesen Aspekt und empfehle zur Vertiefung das Konzept der Neuro-Deeskalation von Christoph Göttl (2018).

Zwischen Beschützen und Überfordern Extreme Affektlagen sind also so gut wie immer der sichtbare Anteil einer inneren (somatischen) Unruhe, die positiv auf besonnene Führung, nicht jedoch auf kognitive Erklärungen oder Erregung reagiert. Haim Omer und Eli Lebowitz (2015) beobachten dabei in Bezug auf ängstliche Kinder folgendes Phänomen: So wie Eltern stehen auch professionelle Personen den ängstlichen Akzentuierungen oft extrem gegenüber – entweder zu beschützend oder zu fordernd. Das hat damit zu tun, dass sie sich für die gegenwärtige Gefühlslage ihres Gegenübers verantwortlich fühlen. Sie wollen unangenehme Gefühle sofort »wegmachen«, entweder durch Trost und Ablenkung oder indem sie das Gefühl für unangemessen erklären. Erstaunlicherweise hindert dieses absichtsvolle Vorgehen das Gefühl eher daran, von selbst abzuklingen. Das würde es nämlich mit Sicherheit machen. Daniel J. Siegel (2012) geht sogar so weit zu behaupten, dass diese Vergänglichkeit unserer Gemütszustände unsere größte Ressource sei. Affekte funktionieren also eher wie Angebote des Organismus. Ich kann nicht verhindern, dass sie in den Vordergrund treten. Wenn sie jedoch nicht gedanklich oder durch Handlung »befeuert« werden, klingen sie von selbst wieder ab. Ich kann das Angebot also nutzen oder eben nicht. Schwerer nachzuempfinden sind für die meisten von uns komplexe Bindungstraumatisierungen als Folgen von Vernachlässigungen oder chronischen Bedrohungen durch frühe Bindungspersonen. Was wir über dieses weite Feld wissen sollten, ist, dass viele Betroffene unter einem fundamentalen Empfinden des Nicht-angenommen-Seins leiden, dass heute als Grundlage unzähliger psychischer Erkrankungen betrachtet wird. Als Faustregel kann dabei folgender Grundsatz gelten: Je deutlicher Menschen die Grenzen der mittleren Erregungszustände verlassen, egal ob manisch oder aggressiv nach »oben« oder depressiv verweigernd bis erstarrt nach »unten«, desto mehr profitieren sie von Bindung, von purer Präsenz, die momentan nichts anderes will, als den anderen auszuhalten.

Pure Präsenz und pure Bindung Die unbedingte Voraussetzung für die Arbeit mit dem »Widerstand gegen die Störung« ist die Fähigkeit, dem ungeschützten Selbstanteil einer Person so

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gewaltlos wie möglich gegenüberzutreten. Wir wollen ja den Beweis erbringen, dass es sich lohnt, diese Verletzlichkeit zuzulassen, da man dafür mit neuen, friedvollen Lernerfahrungen belohnt wird. Hier gilt wie im Sit-In: Schweigen ist Gold. Die Haltung der puren Präsenz nährt sich aus dem Wissen, wie schwer es meinem Gegenüber gefallen ist, diesen Schritt in die Schutzlosigkeit zu gehen, wie anstrengend es war, die Fassade so lange aufrechtzuerhalten, und letztlich auch aus meiner notwendigen Geduld dahingehend, dass es viele derartige Lernerfahrungen brauchen wird, um zu einem inneren Frieden zu finden. Ich feiere keinen Sieg und gebe auch keine lockeren Kommentare ab, ich bin eher Zeuge eines stillen Wunders, darf eine Schulter zum Anlehnen sein, bleibe jedoch an der Seite und bin weder konfrontativ noch vereinnahmend.

Der aktuelle Entwicklungsbedarf Egal ob Familie oder pädagogisches Team, die ersten Schritte müssen immer gemeinsam geklärt werden, im Idealfall sogar im Beisein des oder der Betroffenen. Wer zählt zum wohlwollenden Helferkreis? Wo bekommen wir Informationen, die den Symptomtragenden besonders gerecht werden? Gibt es bereits diagnostische Abklärungen? Was sagen die Befunde? Welche Erfahrungen haben vorangegangene Teams mit der Person gemacht? In sozialpädagogischen Teams herrscht eine erschreckende Unwissenheit bezüglich der oben genannten Fragen, meist mit der Begründung, den Betreffenden »möglichst offen« gegenübertreten zu wollen. Viele sind auch frustriert wegen des deskriptiven Charakters von Diagnosen und wegen des Mangels an sich daraus ableitenden Handlungsempfehlungen. Es hat sich innerhalb dieser Zielgruppen bewährt, die Frage nach der Diagnose mit der Frage nach dem aktuellen Entwicklungsbedarf zu ersetzen. Um den zu ermitteln, stellt man dem Team die Fragen: »Was fehlt zurzeit dafür, dass die Person in einer offeneren oder selbstbestimmteren Wohn- oder Ausbildungssituation stehen könnte?«, »Warum nicht Regelschule? Warum nicht erster Arbeitsmarkt?«, oder Ähnliches. Auf diese Fragen gibt es meist sehr konkrete Antworten, die in vielen Fällen mit der psychischen Abwehr der Person und somit mit ihrem (von außen zugeschriebenen) aktuellen Entwicklungsbedarf zu tun haben. Um dem dabei entstehenden moralischen Dilemma Rechnung zu tragen, lohnt es sich, die ethischen Anforderungen der systemischen Therapie als Maßstab heranzuziehen. Notwendig erscheint in der Frage nach dem Entwicklungsbedarf ein genaues Abwägen zwischen der Konstruktneutralität (wie respektlos dürfen wir gegenüber den Wirklichkeitskonstruktionen der Betroffenen sein?)

Neue Autorität und psychische Störungen

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und der Veränderungsneutralität (ob Veränderung oder Nicht-Veränderung besser ist, entscheiden die Betroffenen selbst), wie es beispielsweise bei Ruf (2012) anschaulich beschrieben wird. In der Praxis hat es sich bewährt, aus den vielen anekdotischen Beschreibungen der Teammitglieder erst einmal Übersicht über die Verhaltensweisen zu erlangen, beispielsweise mit der »3+1-Körbe-Methode«. Diese Methode nach Ross W. Greene (2001) ist in der Literatur zur Neuen Autorität umfassend beschrieben worden (vgl. z. B. Lemme u. Körner, 2018). Für uns relevant ist die Frage: Kommen psychiatrische Symptome in den roten Korb, und wenn ja, in welcher Form? Wenn wir den roten Korb so verstehen, dass wir seinem Inhalt über längere Zeit besondere Abstimmung in einer klaren Wir-Haltung angedeihen lassen, bleibt bei diesem Zugang letztlich nur noch der aktuelle Entwicklungsbedarf im roten Korb. Da alle weiteren »roten« Verhaltensweisen (Lügen, Beschimpfen, Bedrohen etc.) meist nur Varianten von Defensivverhalten darstellen, verlieren sie in diesem Denken ihre Alleinstellungsmerkmale und werden eher dem Entwicklungsbedarf untergeordnet oder dem gelben Korb zugerechnet. Die gängige Praxis der Neuen Autorität empfiehlt, bezüglich der Verhaltensweisen im roten Korb eine Ankündigung des Widerstands gegen das Verhalten zu machen (Omer u. von Schlippe, 2016, 2010). In der Anwendung der Neuen Autorität in Begegnungen mit psychisch belasteten Menschen hat es sich bewährt, zwei Arten von Widerstand zu unterscheiden: den unangekündigten Widerstand durch die Stoßdämpferhaltung und den angekündigten Widerstand durch die Ankerhaltung.

Die Stoßdämpferhaltung Zur Ermittlung der notwendigen Stoßdämpferhaltung versuchen wir, den Ziegelsteinen im Mauermodell Namen zu geben. Dabei geht es weniger um eine möglichst vollständige Aufzählung, sondern mehr darum, gemeinsame Muster in verschiedenen Manipulationen zu erkennen. Als kleine Orientierungshilfe (siehe Tabelle 1) können dabei die drei Überlebensstrategien der Stressabwehr gelten: Haben wir es eher mit Kampfmustern zu tun (Aggression, Autoaggression, Dominanz, Manie) oder eher mit Fluchtmustern (Verweigerung, Sucht, Lügen) bzw. mit Mustern der Erstarrung (Dissoziation, Depression, Verwahrlosung, Opferhaltung)? Die Quelle dieser Zuordnungen ist immer der eigene Körper. Vorausgesetzt, ich kenne meine eigenen Zuspitzungen und kann diesen Eigenanteil kontrollierend in Abzug bringen, stellt sich immer die Frage: Was macht dieses Verhalten mit mir? Dort, wo sich mehrere Teammitglieder regelmäßig manipuliert fühlen, liegt vermutlich eine starke Defensivkraft vor.

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Vertiefende Aspekte

Tabelle 1: Defensivstrategien Beispiele häufig genannter Defensivstrategien

Möglicher Stress-Bereich

Wut/Aggression

Kampf

Selbstverletzung

Kampf

Fäkalsprache/Drohen

Kampf

Sexuelle Übergriffigkeit

Kampf

Dominanz

Kampf

Manie

Kampf

Zwanghaftigkeit

Flucht

(Leistungs-)Verweigerung

Flucht

Lügen, Stehlen

Flucht

Suchtverhalten, exzessiver (Medien-)Konsum

Flucht

Risikoverhalten

Flucht

Albernheit, Blödelei, Zynismus

Flucht

Übertriebene Sorge um andere

Flucht

Distanzlosigkeit

Erstarrung

Depressivität, Dissoziation

Erstarrung

Opferhaltung

Erstarrung

Überängstlichkeit

Erstarrung

Körperliche Verwahrlosung

Erstarrung

Unterwürfigkeit

Erstarrung

Anmerkung zu Tabelle 1: Interessant ist hier neben der Zuordnung zu den Mustern der Stressabwehr auch die erstaunliche Übereinstimmung mit den von Panksepp und Biven (2012) beschriebenen Affektiven Grundbahnungen (SEEKING, FEAR, RAGE, LUST, CARE, PANIC/ GRIEF und PLAY). Es scheint so zu sein, dass sich affektives Repertoire besonders gut zum Aufbau von Schutzverhalten eignet, da es andere so unmittelbar berührt.

Ähnlich wie bei der klassischen Ankündigungsarbeit beginnen wir mit jenen Verhaltensweisen, die aktuell am wirkungsvollsten sind. Zentrales Mittel ist hierbei, die manipulative Wirkung auf mich selbst zu unterbinden. Wir beschließen beispielsweise, den Selbstverletzungen pragmatisch zu begegnen oder das Lügen keinesfalls persönlich zu nehmen oder uns von den Tränen nicht in unserer Erwartung erweichen zu lassen. Wir unterstützen uns im Team oder im Unterstützungskreis gegenseitig dabei, den Manipulationen zu widerstehen. Wie schon

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Neue Autorität und psychische Störungen

im Kapitel 1.5, »Gedanken zu Achtsamkeit und Selbststärkung«, erwähnt, ist die von Haim Omer, Nahi Alon und Arist von Schlippe (2007) beschriebene »tragische Sicht« hier das Mittel der Wahl. Wir befinden uns gemeinsam in einem Dilemma: Du möchtest mich steuern, ich lasse es nicht zu, gehe aber nicht weg. Ich bleibe also gleichzeitig bei dir und bei mir. Ich respektiere Gefühl, übernehme aber keinen Auftrag. Ich bleibe selbstbestimmt bei meiner Erwartung an dich. Ich baue aber kleine Brücken, die es dir erleichtern sollen, aus der Rigidität oder aus dem Chaos herauszufinden.

Sichtbare Trigger

Gekränktes Selbst

Unbewusste Trigger

SchutzVerhalten

Eskalation Wiedergutmachung

Gewaltloser Widerstand

Abbildung 1: Die Person schützt ihre verletzlichen Selbstanteile durch manipulatives Defensivverhalten

Wenn mehrere Menschen abgestimmt in diese Stoßdämpferhaltung gehen, kommt Bewegung in die Mauer (siehe Abbildung 1). Dies führt anfangs gelegentlich zu einem Anstieg von Eskalationen, mündet aber, dramaturgisch ganz ähnlich wie im Sit-In, in einer Weichheit und Offenheit, der gegenüber wir verpflichtet sind, in die Haltung der puren Präsenz zu gehen. Für diese Haltung gibt uns Haim Omer ein verblüffendes Übungsfeld. Im klassischen Sit-In sind wir durch unser Schweigen weder angriffig noch defensiv. Durch unser beharrliches Bleiben verkörpern wir Entschlossenheit, aber auch Toleranz und Annahme. Wir stehen zu unserem Gegenüber und halten ihn oder sie aus – ein kathartischer Moment, in dem es trotz höchster Verletzlichkeit für die Betroffenen weder zu Schädigung, Abwertung oder Maßregelung kommt noch zu Pathos oder Lob (siehe Abbildung 2).

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Vertiefende Aspekte

Sichtbare Trigger

Verletzliches Selbst

Unbewusste Trigger

Pure Präsenz

Abbildung 2: Geht die Manipulation ins Leere, stellt sich Verletzlichkeit aber auch Bewältigung ein

Die Ankerhaltung Ein psychisch belasteter Mensch verdient, dass wir, wenn notwendig, achtsam in die Verantwortungsbeziehung wechseln. Das heißt, dass wir aus dem Mechanismus »Wie du mir, so ich dir« aussteigen und in eine einseitige Selbstbestimmtheit und Führungsrolle finden. Jedoch nicht, um ihn oder sie zu entmündigen, sondern primär, um Lern- und Trainingssituationen für die spätere Anwendung in der Realität zu schaffen. Die meisten Betroffenen erleben sich nämlich als besonders schwerer oder unheilbarer Einzelfall. Dieses Gefühl verstärkt sich auch noch dadurch, dass Betroffene oft abgewertet oder nach einem Fehltritt gefragt werden, was sie sich denn »dabei gedacht« hätten. Auf diese Frage finden sie naturgemäß keine Antwort. In meinem Verständnis sollte der rote Korb weniger mit »besorgniserregendem« Verhalten gefüllt sein, sondern mit Aspekten des psychischen Entwicklungsbedarfs, auf den wir wohl abgestimmt, transparent und gemeinsam mit allen Helfern und Helferinnen unser Augenmerk richten. Wir müssen also lernen, über einen Entwicklungsbedarf offen zu sprechen. Wann? Natürlich »wenn das Eisen kalt ist«. In den Eskalationen ist es meist so, dass die Ursache für die Negativgefühle nichts mit der aktuellen Situation zu tun hat. Wir reagieren in der Gegenwart oft über, weil wir, unbewusst angetriggert, an Schrecken, Abwertungen und Bedrohungen aus der Vergangenheit erinnert werden. Kurz gefasst: Auch der bedrohlich wütende Jugendliche hat Angst vor uns (indem er uns mit frühe-

Neue Autorität und psychische Störungen

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ren Angreifern verwechselt). Kurze Realitätsprüfungen können dabei sehr hilfreich sein, um das anflutende Muster zu unterbrechen: Passiert mir das wirklich hier und jetzt? Wohin gehört das? Will ich wirklich so darauf reagieren? Hier wird die Rolle klar, die wir unterstützend einnehmen können: Ankerhaltung in Bezug auf psychische Störungen heißt, unser Gegenüber beharrlich und regelmäßig in dieser Realitätsprüfung zu unterstützen und ihm oder ihr größtmögliche Gefahrenlosigkeit im Hier und Jetzt zu vermitteln. Diese Art von Widerstand gegen ein Routinemuster kann in eine klassische Ankündigung gegossen sein. Der Unterschied ist lediglich, dass wir den Betroffenen oder die Betroffene offen einladen, mit uns gemeinsam in den Widerstand gegen das parafunktionale Muster zu gehen. Der nicht verhandelbare Teil ist meist das »Markieren« des Verhaltens. Wir kündigen beispielsweise an, dass wir immer nur dann, wenn wir das Gefühl haben, ein Muster könne noch unterbrochen werden, ein bestimmtes »Mantra« aussprechen werden, z. B. »Lass es gut sein«. Wenn das Verhalten schon im Gange ist, werden wir es mit »Mach es wieder gut« markieren. Die Markierungen sollten so formuliert sein, dass der Betreffende sie auch als Selbstinstruktionen in sein Repertoire aufnehmen kann. Eine andere Grundformel wäre z. B.: »Das ist nur ein Affekt. Soll er die Situation beherrschen oder du?« Hier ein Beispiel einer Ankündigung im Rahmen der Arbeit mit Neuer Autorität und psychischen Störungen: Lieber X! Wie alle hier in diesem Haus hast du ein Recht darauf, freundlich und respektvoll behandelt zu werden. Du hast viele Jahre deines Lebens in Unsicherheit verbracht, seelisch wie körperlich. Dabei bist du aus gutem Grund vorsichtig geworden. Obwohl du hier in Frieden lebst, behandelst du uns immer wieder so, als ob wir deine Feinde wären. Du schreist uns an und versuchst, uns mit Fluchen und Drohen von dir fernzuhalten, vor allem, wenn wir etwas von dir erwarten. Es ist nicht leicht für uns, freundlich und respektvoll zu bleiben, wenn du Dinge sagst/tust wie … Wir suchen keinen Schuldigen und sind auch nicht böse auf dich, aber deine EgoStimme, dein »Innerer Kämpfer« ist zu laut. Man könnte glauben, er hat das Kommando über dich, nicht du. Wir werden nun gemeinsam Widerstand gegen diese innere Stimme leisten. Jedes Mal, wenn du sehr aufgeregt bist, obwohl du in Sicherheit bist, werden wir einen besonderen Satz sagen. Wir werden sagen: … (z. B. »X, lass es gut sein«) Das sind deine Geheimworte, und wir werden sie immer nur dann sagen, wenn es dein »Innerer Kämpfer« mit dem Toben (Verweigern, Abschweifen …) übertreibt, sonst nie. Vielleicht fallen dir selbst ja auch bessere Geheimworte ein. Du kannst uns

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Vertiefende Aspekte

selbstverständlich bei diesem Widerstand unterstützen. Wir wissen, dass es hartes Training braucht, um ein so gewohntes Muster aufzugeben. Wir werden dich nicht schonen, aber jeden kleinen Erfolg wertschätzen. Auch du bist ein disziplinierter Kämpfer, wenn du dein tägliches Muskeltraining machst. Mit genau diesem Durchhaltevermögen, wird es dir gelingen, über deine Vergangenheit hinauszuwachsen. Deine Betreuer, Peter, Karin …

Gute Gewohnheiten aufbauen Wenn ein Verhalten zur Gewohnheit wird, beginnt es sich selbst zu stabilisieren. Gewohnheiten werden vom Gehirn belohnt, und das aus gutem Grund: Automatisiertes Verhalten braucht wenig Energie und macht mentale Kapazitäten frei. Daher ist Langfristigkeit von besonderer Bedeutung. Letztlich ist der Weg zum erfolgreichen Begleiten von Menschen mit psychischen Störungen davon abhängig, ob es uns gelingt, die Betroffenen für sich selbst zu begeistern und ihren Körper als kompetenten Partner, aber auch als eigenwillige und manchmal übertreibende Instanz zu betrachten. Die wesentliche Komponente ist das Aushalten – sowohl den sensomotorischen Anflutungen gegenüber als auch auf der Beziehungsebene. Alle oben beschriebenen Faktoren können wir nur wirken lassen, wenn wir bereit sind, längerfristig in Verbindlichkeit zu gehen, wenn wir der Person Ermächtigung erteilen, also Selbstheilung in Form von Nachreifung zutrauen, und letztlich lernen, die Angemessenheit unserer Erwartungen objektiv mithilfe einer wohlwollenden Gemeinschaft zu prüfen, damit nicht die unvermeidlichen Enttäuschungen dazu führen, immer weniger vom anderen zu erwarten. Was Betroffene lernen können: Ich sage: »Eine Stimme in mir« statt »ich«. Ich sage: »Ich will« statt »Ich muss«. Ich muss es nicht machen. Ich mache es wieder gut. Ich werde wissen, was zu tun ist. Ich fange schon mal ohne euch an.

Neue Autorität und psychische Störungen

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Zusammenfassende Gedanken Die Neue Autorität erinnert uns daran, dass es möglich ist, einseitige Führungsund Selbstführungsmaßnahmen zu ergreifen, ohne dabei die Beziehung zu verletzen. Dies gilt in der Begegnung mit Menschen, deren seelisches Gleichgewicht längerfristig verloren gegangen ist, als besonders herausfordernd. Hilfreich erscheinen mir dabei die folgenden Auffassungen: •• Wir alle sind am liebsten selbstbestimmt. Wir sehnen uns jedoch auch nach Führung, aber nur wenn die Komplexität der Gegebenheiten es erfordert. •• Extreme Affektlagen erzeugen Komplexität in zwischenmenschlichen Begegnungen. Extremverhalten ist so gut wie immer der sichtbare Anteil einer inneren Über- oder Untererregung, die positiv auf besonnene Führung, nicht jedoch auf kognitive Erklärungen oder zusätzlichen Stress reagiert. •• Psychische Extreme sind Anpassungsversuche an eine als bedrohlich erlebte Umwelt. Sie treten in den Hintergrund, wenn es den Betroffenen längerfristig gelingt, im Zustand innerer Verletzlichkeit vertrauensvolle menschliche Begegnungen zu durchleben. Diese Begegnungen entstehen dann, wenn der mit verantwortungsvoller Begleitung betraute Mensch: ȤȤ dem oder der Betroffenen mit angemessenen Erwartungen begegnet; ȤȤ sich vom steuernden Anteil des Extremverhaltens nicht aus seiner Selbstbestimmtheit bringen lässt; ȤȤ dem oder der Betroffenen insbesondere in den Momenten der Schutzlosigkeit uneigennütziges Wohlwollen, meist in Form von schweigender Anteilnahme, entgegenbringt. Die Denkschule der Neuen Autorität stellt für dieses erregungsstabilisierende Potenzial ideale Werkzeuge zur Verfügung: •• Ausstieg aus dem Beziehungsmachtkampf durch selbstkontrollierte Präsenz statt Kontrollversuchen (»Wenn, dann«) oder Symmetrie (»Wie du mir, so ich dir«); •• Ersetzen von Kampf und Vergeltung durch gewaltlose Beharrlichkeit; •• Ersetzen von Strafe oder Katastrophendenken durch Versöhnungshaltung (Wiedergutmachung); •• Einseitiges Handeln durch Selbstverankerung in Werten bei größtmöglicher Achtung der Beziehung.

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Vertiefende Aspekte

Literatur Allen, J. G., Fonagy, P., Bateman, A. W. (2016). Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta. Göttl, C. (2018). NeuroDeeskalation in hocheskalativer Gewalt, Aggression, Selbstverletzung und traumatischem Distress. http://www.kinder-jugendpsychiatrie.at/neurodeeskalation (Zugriff am 30.01.2019). Greene, R. W. (2001). The explosive child. A new approach for understanding and parenting easily frustrated, chronically inflexible children (2nd ed.). New York: Harper. Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Ogden, P., Minton, K., Pain, C. (2009). Trauma und Körper. Ein sensumotorisch orientierter psychotherapeutischer Ansatz. Paderborn: Junfermann. Omer, H., Alon, N., von Schlippe, A. (2007). Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Lebowitz, E. (2015). Ängstliche Kinder unterstützen. Die elterliche Ankerfunktion (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Panksepp, J., Biven, L. (2012). The Archaeology of mind: Neuroevolutionary origins of human emotions. New York: Norton & Company. Porges, S. W. (2010). Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation und ihre Entstehung. Paderborn: Junfermann. Porges, S. W. (2018). Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit. Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Lichtenau/Westf.: G. P. Probst. Roth, G., Strüber, N. (2017). Wie das Gehirn die Seele macht (7., überarb. Aufl.). Stuttgart: KlettCotta. Ruf, G. D. (2013). Einführung in die systemische Psychiatrie. Heidelberg: Carl-Auer. Schore, A. N. (2009). Affektregulation und die Reorganisation des Selbst (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Schwartz, R. C. (2008). IFS. Das System der Inneren Familie. Ein Weg zu mehr Selbstführung (Kindle Edition). Norderstedt: Books on Demand. Siegel, D. J. (2012). Mindsight. Die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation. München: Goldmann.

3.5 Vom Verlust zum Gewinn – Posttraumatisches Wachstum und Neue Autorität in der Jugendhilfe Angela Eberding

Vorbemerkung Kinder und Jugendliche fordern Pflegeeltern und andere professionelle Erziehungsverantwortliche durch traumabasiertes destruktives Verhalten heraus, und das nicht erst, seit die Zahl der minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten in der Jugendhilfe gestiegen ist. Jegodtka und Luitjens (2016) sprechen von herausgeforderten, vom Leben überwältigten jungen Menschen, die mit ihrem überwältigenden Verhalten hilflos machen. Eine bedeutende Minderheit leidet noch lange Zeit nach einem traumatischen Erlebnis unter manifesten Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung (Zöllner, Calhoun u. Tedeschi, 2006). Einem weit größeren Teil von Menschen gelingt es jedoch, den Faden ihrer Entwicklung wieder aufzunehmen, obwohl sie in ihrer Kindheit Lebensereignissen ausgesetzt waren, in denen sie existenzielle Ängste erlebt haben, in denen ihr Vertrauen sowie ihre körperliche und seelische Integrität missbraucht wurden, in denen sie Schmerzen erlitten und Einsamkeit durchlebt haben. Sie können die »Erzählung ihres Lebens« neu schreiben (Hantke u. Görges, 2012). Erziehungsverantwortliche in Pflegefamilien und Einrichtungen der Jugendhilfe können hier einen wichtigen Beitrag leisten um eine gute Weiterentwicklung zu fördern. Ich möchte im Folgenden einige wichtige Komponenten vorstellen, die eine solche Entwicklung begünstigen.

Traumapädagogisches Wissen Traumatische Erlebnisse verursachen einen existenziellen Bruch. Alle psychischen und physischen Abwehrmechanismen und Verarbeitungsstrategien des Menschen sind damit überfordert, die Geschehnisse zu verarbeiten (s. hierzu

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Vertiefende Aspekte

ausführlich z. B. Ogden, Minton u. Pain, 2010; Hantke u. Görges, 2012; Jegodtka u. Luitjens, 2016). Wie gravierend dieser Bruch erlebt wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab: •• Entwicklungsreife, •• frühere und aktuelle Belastungen, •• ein-, mehrmalige oder chronische Gewalt, •• Herbeiführung der Gewalt durch eine Naturkatastrophe, einen Unfall oder durch Menschen. Immer wird die Fähigkeit eines Menschen gefordert, sich dem Schmerz zu stellen und sich neu zu orientieren.  Die Symptome, die Kinder und Jugendliche als Zeichen einer Überforderung entwickeln können, hat Lackner (2004, S. 35 ff.) wie folgt zusammengefasst: •• ein erhöhtes Erregungsniveau (Unruhe, Schreckhaftigkeit, erhöhte Wachsamkeit, Schlaf-, Konzentrationsstörungen, aggressives Verhalten, Wut, Schreien …), •• wiederkehrende, sich aufdrängende Erinnerungen an das Geschehene (Flashbacks, Alpträume), •• sich wiederholende Verhaltensweisen (posttraumatisches Spielen, Malen, traumaspezifische Träume), •• Ängste (spezifische, unspezifische, generalisierte), •• Vermeidungsverhalten (Situationen, Dinge, Gespräche, Gedanken …), •• regressives Verhalten (Rückfall in frühere Entwicklungsphasen bzgl. Sauberkeit, Sprache, Selbstständigkeit), •• Dissoziation als Selbstschutz (Abspalten, Verdrängen, Ausblenden …), •• eine veränderte Haltung und Einstellung gegenüber dem Leben, der Zukunft und anderen Menschen (Vertrauensverlust in Beziehungen und die eigene Zukunftsperspektive, negatives Selbstbild, Selbstabwertung, Schuldgefühle …), •• körperliche Symptome (erhöhte oder herabgesetzte Schmerzempfindlichkeit, Schwindel, Herzrasen, Appetitlosigkeit …). Hantke und Görges (2012) fragen berechtigt, ob es sich hier um Symptome handelt oder um »Überlebensstrategien«, eine Art genetisches Programm, mit dem Ziel, das Überleben zu sichern. Damit wäre das herausfordernde Verhalten von Kindern und Jugendlichen ein »normales«, körper- und hirngesteuertes Verhalten als Reaktion auf ein überwältigendes Lebensereignis.

Posttraumatisches Wachstum und Neue Autorität in der Jugendhilfe

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So dramatisch Traumata in das Leben eines Kindes oder Jugendlichen eingreifen können, die Folgen können wieder heilen. Entscheidend ist, was vorher war und was danach geschieht. Das Leben und die Erfahrung von überwundenen Schwierigkeiten lassen uns wachsen und psychische Widerstandskraft entwickeln – auch als Resilienz bekannt. Werner und Smith (1982) führen Resilienz auf drei Faktoren zurück (siehe auch Lemme u. Körner, 2013; Lackner, 2004): •• Eigenschaften, Fähigkeiten, Temperament des Kindes, die positive Reaktionen in einem sozialen Umfeld auslösen; •• emotionale Bindungen zu wichtigen Bezugspersonen, die die Kompetenzen des Kindes, Vertrauen und Selbstständigkeit fördern; •• externe Unterstützersysteme, soziales Eingebundensein. Kinder, denen wir in der Jugendhilfe begegnen, verfügen oft über ein erstaunliches Maß an Resilienz, trotz oder vielleicht auch wegen überwundener familiärer Schwierigkeiten sowie aufgrund von tragfähigen Unterstützersystemen z. B. in Schule, Peergroup, (Groß-)Familie, WG oder Pflegefamilie. Resilienz, auch nachträglich entwickelte, sowie die Art und Weise, wie hilfreiche Unterstützersysteme zur Heilung beitragen, entscheiden in großem Maße, ob ein dramatisches bedrohliches Geschehnis erfolgreich überwunden wird und daraus eine positive Veränderung und damit ein posttraumatisches Wachstum möglich werden.

Salutogenetischer Blick Im Gegensatz zur Pathogenese (Wissenschaft von der Entstehung und Entwicklung einer Erkrankung) nimmt die Salutogenese (Wissenschaft von der Entstehung und Entwicklung der Gesundheit) die Bedingungen für gesundes Sein und Heilung in den Fokus. Jegodtka und Luitjens formulieren in diesem Zusammenhang eine zentrale Frage systemischer Traumaarbeit folgendermaßen: »Was kann in pädagogischen Kontexten dazu beigetragen werden, dass die kränkende (pathogene) Wirkung der oft dramatischen Lebensereignisse gering gehalten wird bzw. dass gesundheitsunterstützende (salutogene) Strategien und Ressourcen aktiviert werden?‹ Es geht also darum, die Chance zu erhöhen, dass sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen in gesunder Weise ihrer selbst bemächtigen« (Jegodtka u. Luitjens, 2016, S. 39). Die Autorinnen berufen sich auf die Forschungsergebnisse von Aaron Anto­ novsky (1997). Um ein traumatisches Erlebnis zu überwinden, gilt es, ein Kind

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Vertiefende Aspekte

oder eine Jugendliche darin zu unterstützen, sein/ihr Kohärenzgefühl wieder zu stärken. Menschen brauchen das zuversichtliche Gefühl, dass das, was passiert, für ihr eigenes Leben sinnvoll, verstehbar, einzuordnen und (in großen Teilen) kontrollierbar ist. Ein traumatisches Erlebnis zerstört dieses Zuversichtsgefühl. Das Erlebte ist weder sinnvoll noch verstehbar, auch nicht einzuordnen, und es entzieht sich jeglicher Kontrolle. Kinder und Jugendliche brauchen trotz, ja wegen ihrer Erlebnisse und ihrer traumabasierten destruktiven Verhaltensweisen soziale Unterstützung. Diese hilft die pathologische Reaktion auf posttraumatischen Stress zu regulieren. Bei der Bewältigung eines Traumas spielen folgende Aspekte eine zentrale Rolle: 1. Erleben von Schutz und Sicherheit 2. Schaffung eines beständig gewaltfreien Rahmens, eindeutige Haltung in Bezug auf Ablehnung von Gewalt 3. Anerkennung und Entprivatisierung des Leides 4. Da-sein, Zuhören, Trösten 5. Konzepte des inneren und äußeren sicheren Ortes 6. verlässliche Strukturen, vorhersehbare Handlungsabläufe, Stabilisierung 7. kontinuierliche Beziehungsangebote 8. Förderung der Selbstwahrnehmung und Selbstberuhigung 9. Teilhabe an sozialen Prozessen, Unterstützung, Freundschaften, kontinuierliche Beziehungsangebote, soziale Traumabearbeitung 10. Ressourcenaktivierung unter Einbeziehung aller Beteiligten 11. Vermeiden von Über- oder Unterforderung, Schaffen von Kontexten, die Veränderung ermöglichen 12. Kooperation von Familie und Angehörigen der beteiligten Helfersysteme 13. Entlastung der Kinder von Elternaufgaben bzw. Aufgaben der Erziehungsverantwortlichen Erziehungsverantwortliche, die traumatisierte Kinder und Jugendliche begleiten und diese traumapädagogischen Aspekte berücksichtigen, brauchen Stärke und Unterstützung. Das erhöht die Chancen, dass ein Trauma überwunden werden kann, dass posttraumatisches Wachstum, also Gewinn aus Verlust entsteht. Inhaltlich kann das bedeuten, dass posttraumatisch gewachsene Menschen ihr »neues« Leben und ihre persönlichen Beziehungen intensiver wertschätzen und sich ihrer eigenen Stärken bewusster sind.

Posttraumatisches Wachstum und Neue Autorität in der Jugendhilfe

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Haltung und Methoden der Neuen Autorität Das Konzept der Neuen Autorität bietet Haltungen und Interventionen, die ein posttraumatisches Wachstum in fast allen genannten traumapädagogischen Aspekten unterstützen. Sie zielen darauf ab, die Erziehungsverantwortlichen zu stärken, damit diese in einer tragfähigen Beziehung und mit gewaltlosen Interventionen den beruflichen Herausforderungen gerecht werden und sich vom überwältigenden Verhalten der überwältigten Kinder und Jugendlichen nicht überwältigen lassen. Ich möchte im Folgenden einige wichtige Haltungen und Interventionen an anonymisierten Beispielen vorstellen. Gute Beziehung Den zentralen Fokus legt das Konzept der Neuen Autorität auf eine gute Beziehung, für die der Erziehungsverantwortliche die Verantwortung übernimmt. Haltung: »Wir möchten, dass du bleibst!« Beispiel: Frau M. und Herr K. sind als Pflegestelle bei einem Jugendhilfeträger angestellt. Sie haben Geschwister (Ahmad, neun Jahre, und Melika, neun Jahre) aufgenommen. Ein Gefühl von Ahmad – das täglich mehrfach getriggert wird – ist, ungerecht behandelt zu werden. Dann wird er aggressiv, zerstört Gegenstände, beschimpft seine Pflegemutter und insbesondere seine jüngere Schwester, die er gelegentlich auch schlägt. Frau M. und Herr K. fühlen sich durch dieses Verhalten so weit überfordert, dass sie glauben, Ahmad nicht in der Familie halten zu können. Einerseits wollen sie die Geschwister nicht trennen, andererseits aber auch nicht beide abgeben. Sie steigen in eine längere Supervisionsphase ein. In einer frühen Supervisionsphase arbeiten die Eltern gemeinsam mit mir nach der »Körbe-­ Methode« (s. Lemme u. Körner, 2018, S. 232 ff.). So können wir erarbeiten, dass Ahmad ein liebenswerter, kluger und intelligenter Junge ist (blauer Korb), dass sie Verhaltensweisen wie verbale und körperliche Gewalt in ihrer Familie aber nicht mehr dulden werden (roter Korb). Sie holen sich im Verlauf Unterstützung durch die pädagogische Leitung der Einrichtung, die zuständige Mitarbeiterin des Jugendamtes und den Vormund von Ahmad. Gemeinsam wird dem Jungen angekündigt, dass alle Erwachsenen alles in ihren Möglichkeiten Stehende tun werden, damit er gemeinsam mit seiner Schwester in der Pflegestelle bleiben kann, dass sie seine Beschimpfungen und das Schlagen aber nicht mehr dulden. Herr K. kündigt an, an jedem Wochenendtag mindestens eine Stunde mit Ahmad etwas zu unternehmen,

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Vertiefende Aspekte

und das Jugendamt setzt eine Erziehungsbeistandschaft ein, die ihn zwei Stunden in der Woche zu sportlichen Aktivitäten begleitet. Jeden Abend wird eine gemeinsame Spiel- oder Fernsehstunde für die Familie installiert (gute Zeiten). Ahmad wird dabei begleitet, nach Beschimpfungen und Schlägen Wiedergutmachungen zu leisten (s. z. B. Lemme u. Körner, 2018, S. 136 ff.). Die Erwachsenen werden sich gegenseitig sowohl über destruktive als auch über positive Entwicklungen informieren.

Hier wurden die traumapädagogischen Aspekte 1 (Erleben von Schutz und Sicherheit für Frau M. und Herrn K. sowie Ahmad und Melika), 2 (gewaltfreier Rahmen), 6 (verlässliche Strukturen, vorhersehbare Handlungsabläufe), 7 (kontinuierliche Beziehungsangebote), 9 (Teilhabe an sozialen Prozessen) und 12 (Kooperation von Helfersystemen) berücksichtigt. Haltung: »Ich nehme mir Zeit« Beispiel: Familie F. hat zwei sechs- bzw. achtjährige Schwestern in Pflege genommen, nachdem sich deren Eltern (Schwester und Schwager von Herrn F.) gemeinsam suizidiert haben. Die Mädchen zeigen unterschiedliche Symptome, sie schweigen jedoch über das Erlebte. Nach einer Fortbildung kaufen sich die Pflegeeltern das Buch »Wie Pippa wieder lachen lernte. Ein Bilderbuch für Kinder« (Pal-Handl, Lackner u. Lueger-Schuster, 2004). Die Pflegeeltern teilten den Zwillingen mit, dass sie sich nun jeden Abend nach dem Essen eine halbe Stunde Zeit nehmen werden, um ihnen aus dem Buch vorzulesen und mit ihnen zu reden, wenn die beiden das wollen. Dabei würden sie es sich gemütlich machen, mit Kerzen, schöner Musik und einem Lieblingsgetränk.

Hier wurden die traumapädagogischen Aspekte 3 (Entprivatisierung des Leides, da dies an Beispielen von Pippa beschrieben wird), 4 (Da-sein, Zuhören, Trösten), 6 (verlässliche Strukturen), 7 (kontinuierliche Beziehungsangebote) und 11 (Schaffung von Kontexten, die Veränderung ermöglichen, so wie bei Pippa auch) berücksichtigt. Gewaltfreiheit Haltung: »Ich werde/wir werden alles in unseren Möglichkeiten Stehende tun, damit es in unserem Haus, in unserer Familie, in unserer WG keine Gewalt gibt.« Beispiel: Der 15-jährige Mike lebt – nach vielen verschiedenen Stationen – seit eineinhalb Jahren in einer intensivpädagogischen WG. Seinen Vater kennt er nicht. Seine Mutter ist alkoholkrank, mit vielen schlechten und wenigen guten Zeiten. Sie

Posttraumatisches Wachstum und Neue Autorität in der Jugendhilfe

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verspricht ihm immer wieder viel und hält es selten ein. Mike ist oft wütend, besonders auf Frauen, die ihn »verraten«. Dann greift er die pädagogischen Mitarbeiterinnen an, schubst sie auf der Treppe, stellt sich ihnen in den Weg und beschimpft sie übel. Später tut ihm das leid. Er entschuldigt sich mit dem Argument, er sähe in solchen Momenten »rot« und könne sein Verhalten nicht mehr steuern. Nach einer Fortbildung können die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der WG dies als traumabasiertes destruktives Verhalten von Mike einordnen (hohes Erregungsniveau, aufkommende Erinnerungen, Dissoziation). Mit Mike wird dies besprochen. Er wird darin begleitet, seine Körpersignale vor dem »Rot-Sehen« zu erkennen. Die Pädagogen spiegeln ihm, wie sie diese Körpersignale wahrnehmen (starrer Blick, Kurzatmigkeit, angespannte Körperhaltung). Sie teilen dem Fußballfan Mike mit, dass sie ihm künftig durch eine gelbe Karte zeigen werden, wenn sie diese Körpersignale wahrnehmen, um eine Unterbrechung der Dissoziation zu ermöglichen. Darüber hinaus wird mit ihm in »guten Zeiten« eingeübt, durch welche Signale (Geräusch, Geruch, Geschmack …) er ggf. aus dem »Rot-Sehen« geholt werden kann. Es wird angekündigt, dass alle im Team so handeln werden.

Hier wurden die traumapädagogischen Aspekte 1 (Erleben von Schutz für Mike als »Täter« und Sicherheit für das Team), 2 (gewaltfreier Rahmen), 6 (vorhersehbare Handlungsabläufe), 8 (Förderung der Selbstwahrnehmung), 10 (Ressourcenaktivierung) und 11 (Schaffen von Kontexten, die Veränderung ermöglichen) berücksichtigt. Trennung von Person, Bedürfnis oder Gefühl und Verhalten Haltung: »Du bist uns wichtig!« oder »Ich liebe dich.« Beispiel: Der 17-jährige Suat lebt in einer WG für unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Nach traumatisierenden Erlebnissen in seiner Heimat und auf der Flucht hat er Ein- und Durchschlafprobleme. Wenn er schlecht und wenig geschlafen hat, steht er morgens nicht auf, um in die Schule zu gehen. Gleichzeitig weiß er, wie wichtig es für seinen Verbleib im Land ist, dass er die Schule besucht und Deutsch lernt. Nach einer Fallbesprechung setzt sich seine Bezugsbetreuerin in ihrem nächsten Dienst mit ihm zusammen. Sie berichtet aus der Besprechung: »Suat, wir haben dich als starken, freundlichen, klugen und hilfsbereiten jungen Mann kennengelernt. Wir wissen, wie gern du in Deutschland leben möchtest. Du bist uns wichtig! Deshalb werden wir dich dabei unterstützen, regelmäßig in die Schule zu gehen. Wir haben uns Folgendes überlegt: Nächste Woche zieht Ibraim aus. Dann bekommst du sein Zimmer. Es liegt zum Garten, und du wirst nachts nicht mehr durch Menschen auf der Straße gestört. Darüber hinaus werde ich mit dir in ein Lampengeschäft gehen.

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Vertiefende Aspekte

Wir werden eine Lampe aussuchen, die so leuchtet, dass du dich weniger fürchten musst, wenn du nachts aufwachst. Dann wird deine Nachtruhe erholsamer sein. Der Frühdienst wird dich mit einer Tasse deines Lieblingstees wecken.«

Hier wurden die traumapädagogischen Aspekte 5 (äußerer sicherer Ort), 6 (verlässliche Strukturen, vorhersehbare Handlungsabläufe), 7 (kontinuierliche Beziehungsangebote) und 11 (Schaffen von Kontexten, die Veränderung ermöglichen) berücksichtigt. Haltung: »Dein Verhalten macht uns Sorgen!« oder »Wir sind mit deinem Verhalten nicht einverstanden.« Beispiel: Noch einmal Suat: In derselben Fallbesprechung einigt sich das Team darauf, dass es (erziehungsverantwortlich und in Sorge um die Sicherheit von Suat) nicht mehr damit einverstanden ist, dass Suat unregelmäßig in die Schule geht. Auch dies teilt ihm die Bezugsbetreuerin mit. Sie kündigt an, dass sich das Team Unterstützung (hilfreiche Freunde und Verwandte über Skype, Lehrerin, Schulsozialarbeiter, Vormund) holen wird, sollten sie es allein nicht schaffen, ihn zum Schulbesuch zu bewegen. Hier wurden darüber hinaus noch die traumapädagogischen Aspekte 9 (Teilhabe an sozialen Prozessen) und 12 (Kooperation von Familie und Angehörigen anderer beteiligter Helfersysteme) berücksichtigt.

Selbstkontrolle und Deeskalation Haltung: »Ich lasse mich nicht provozieren/hineinziehen.« Beispiel: Bei Herrn R. leben in einer sozialpädagogischen Lebensgemeinschaft fünf Jungen zwischen sieben und 19 Jahren. Als letzten Jungen hat er den siebenjährigen Timo aufgenommen, der im Alter von einem Jahr von seinen drogenabhängigen Eltern in eine Bereitschaftspflegefamilie wechselte und seither in zwei WGs und einer Pflegefamilie gelebt hat. Timo reagiert auf fast jede Begrenzung mit nervenzerreibendem, oft lang anhaltendem Schreien. Das provoziert sowohl Herrn R. als auch die anderen Jungen, manchmal bis zu körperlichen Auseinandersetzungen. Da es im Moment unmöglich erscheint, dieses Verhalten von Timo zu beenden oder wenigstens abzumildern, beschließt Herr R. folgende Maßnahme: Er kauft für sich und die vier älteren Jungen Ohropax. Diese werden mit roten »Papiertüten« unübersehbar gemacht. Herr R. teilt Timo Folgendes mit: »Lieber Timo, wir freuen uns alle, dass du jetzt bei uns lebst. Zusammenleben heißt auch, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Im Moment ist es so, dass du laut und lange schreist, wenn du deinen Willen nicht bekommst. Ich akzeptiere nicht mehr, dass du unseren Ohren

Posttraumatisches Wachstum und Neue Autorität in der Jugendhilfe

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damit so wehtust. Ich möchte dich nicht mehr in deinem Zimmer einschließen, wenn es uns zu laut wird, und ich möchte es in jedem Fall verhindern, dass die anderen Jungen versuchen, dir den Mund zuzuhalten oder dich sogar zu schlagen. Wir werden uns deshalb immer diese Stöpsel in die Ohren stecken, wenn es uns zu laut wird.«

Hier wurden die traumapädagogischen Aspekte 1 (Erleben von Schutz für alle Mitglieder der Lebensgemeinschaft), 2 (gewaltfreier Rahmen, Ablehnung von Gewalt) und 6 (vorhersehbare Handlungsabläufe) berücksichtigt. Unterstützung, Netzwerke Haltung: »Ich bleibe nicht allein und hole mir Unterstützung.« Beispiel: Noch einmal Herr R. und Timo: Wurden vorher Türen und Fenster geschlossen, wenn Timo seine »Schreianfälle« hatte, so werden sie nun geöffnet. In Beisein von Timo werden die nächsten Nachbarn darüber informiert und um Unterstützung gebeten. Sie haben verschiedene Ideen: Mit Timo spazieren gehen, mit ihm den Hund ausführen, ihm etwas vorlesen, mit ihm eine Nachspeise für die Familie herstellen …

Hier wurden die traumapädagogischen Aspekte 4 (Da-sein, Zuhören), 6 (verlässliche Strukturen, Stabilisierung), 9 (Teilhabe an sozialen Prozessen), 11 (Schaffen von Kontexten, die Veränderung ermöglichen) und 12 (Kooperation von Familie und Angehörigen anderer beteiligter Helfersysteme) berücksichtigt. Transparenz Haltungen: »Ich mache mein/unser Handeln deutlich.«

»In unserer WG gilt ab sofort folgende Regel: ›Wo Schaden entstanden ist, braucht es eine Wiedergutmachung.‹« Beispiel: In einer Mädchen-WG wurde eine Zeit lang sehr viel gestohlen. Das triggerte fast alle WG-Mitglieder, die in ihrem Leben viele Grenzüberschreitungen erlebt hatten, deren persönliche Bedürfnisse und ihr Eigentum oftmals nicht respektiert worden waren. Konnte die »Täterin« ermittelt werden, erarbeitete eine der Pädagoginnen mit ihr die persönliche Verantwortungsübernahme und unterstützte sie dabei, eine Geste des guten Willens zu finden und zu überreichen. Die Mädchen konnten so erfahren, dass ihre Bedürfnisse und ihr Eigentum ab jetzt geachtet würden. Meist war es auch für die »Täterin« eine gute Erfahrung, dass ein entstandener Schaden wiedergutgemacht werden konnte, dass sie nicht mehr mit einem

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Vertiefende Aspekte

schlechten Gewissen herumlaufen musste und nach der Wiedergutmachung auch wieder Teil der Gruppe war. Es gibt auch folgenden Vorfall: Lisa sind wertvolle Schminkutensilien entwendet worden, und die »Täterin« ist nicht zu ermitteln. Mit Unterstützung des Teams einigen sich die Mädchen, dass Lisa ein Recht darauf hat, dass ihr der Schaden ersetzt wird. Sie backen gemeinsam an einem Samstag Kuchen und verkaufen ihn an einem Stand auf einem Nachbarschaftsfest. Vom Erlös werden die Schminkutensilien ersetzt. Es macht allen so viel Spaß, dass sie sich vornehmen, auf diese Art und Weise weiterhin Geld zu »verdienen«, um ihr Zuhause zu verschönern.

Hier wurden die traumapädagogischen Aspekte 1 (Erleben von Schutz), 6 (verlässliche Strukturen, vorhersehbare Handlungsabläufe), 9 (Teilhabe an sozialen Prozessen), 10 (Ressourcenaktivierung unter Einbeziehung aller Beteiligten) und 10 (Schaffen von Kontexten, die Veränderung ermöglichen) berücksichtigt. Geduld und Beharrlichkeit Verlässliche Strukturen und vorhersehbare Handlungsabläufe geben Sicherheit, Stabilisierung und Beruhigung. Geduld und Beharrlichkeit von Erziehungsverantwortlichen ermöglicht dies. Interventionen müssen nicht sofort wirken. Sie können später auch dann wirken, wenn sie ein- oder zwei- oder mehrmalig wirkungslos geblieben sind. Haltung: »Ich bleibe dran.« Beispiele: Beziehungsgesten, wie bei Ahmad und den Schwestern, Suad und Timo werden unabhängig vom Verhalten der Kinder und Jugendlichen gezeigt. Mike wurden von allen Teammitgliedern immer wieder gelbe oder rote Karten gezeigt, und es wurde auch immer wieder wie angekündigt reagiert. Die gebastelten »Ohrenstöpsel« wurden immer wieder benutzt und die Nachbarn immer wieder informiert, wenn Timo schrie. Wiedergutmachungen wurden in der Mädchen-WG immer wieder eingefordert und begleitet, selbst wenn die »Täterin« nicht zu ermitteln war.

Insofern wurden die traumapädagogischen Aspekte 1 (Erleben von Schutz) und 6 (verlässliche Strukturen, vorhersehbare Handlungsabläufe, Stabilisierung) in allen Beispielen berücksichtigt.

Posttraumatisches Wachstum und Neue Autorität in der Jugendhilfe

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Der Gewinn Traumapädagogische Begleitung und Neue Autorität ergänzen sich in ihren Haltungen produktiv. Zentral sind hier die Verantwortung für eine gute Beziehung sowie die Gewaltfreiheit zu nennen. Eine Ressourcenaktivierung ist für alle an der Interaktion Beteiligten möglich. Die Beispiele zeigen, in welchem Maße die beiden Konzepte zu einem posttraumatischen Wachstum von Kindern und Jugendlichen beitragen können. Es gewinnen aber auch die Erwachsenen. Indem sie zwischen Person und Verhalten trennen und um traumabasiertes destruktives Verhalten wissen, können sie handeln – durchaus kreativ, wie die Beispiele zeigen. Das reduziert die Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Durch die Schwerpunktsetzung auf das eigene Verhalten erleben sich Päda­ goginnen in viel größerem Maße unabhängig vom Verhalten der Kinder. Sie werden auf gewalttätiges Verhalten kaum noch mit Gewalt antworten, wovon – neben den Kindern und Jugendlichen – sie selbst und ihr Auftraggeber profitieren. Durch die Fokussierung auf eine gute Beziehung wird den Kindern seltener die Retraumatisierung durch einen weiteren Beziehungsabbruch zugemutet. Professionelle Pädagogen erleben sich deshalb als erfolgreicher in ihrer Arbeit und sind zufriedener. Es profitieren auch das Team und das Helfersystem. Durch eine gemeinsame Haltung wird die Verantwortung geteilt. Niemand muss mehr allein handeln. Die »Profis« autorisieren sich gegenseitig, indem sie ins »Wir« gehen. Das stärkt den Einzelnen und das Team. Auch das führt wiederum zu einer Verringerung von gewalttätigem oder destruktivem Verhalten und zu mehr Sicherheit in der Familie, der WG, zu Hause, am Arbeitsplatz. Letztlich kann traumabasiertem destruktivem Verhalten mit mehr Stärke, Handlungsfähigkeit, Teamgeist und Leichtigkeit begegnet werden. Damit übernehmen die Erziehungsverantwortlichen ihre Aufgaben, und die Kinder und Jugendlichen sind davon entlastet (traumapädagogischer Aspekt 13).

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Vertiefende Aspekte

Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese – Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag Hantke, L., Görges, H.-J. (2012). Handbuch Traumakompetenz. Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik. Paderborn: Junfermann. Jegodtka, R., Luitjens P. (2016). Systemische Traumapädagogik. Traumasensible Begleitung und Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern. Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht. Lackner, R. (2004). Wie Pippa wieder lachen lernte. Fachliche Hilfe für traumatisierte Kinder. Wien/New York: Springer. Lemme, M., Körner, B. (2013). Sichere Orte: Verankerung und Verantwortung nach Psychotraumata. In M. Grabbe, J. Borke, C. Tsirigotis (Hrsg.), Autorität, Autonomie und Bindung: Die Ankerfunktion bei elterlicher und professioneller Präsenz (S. 233–265). Göttingen: Vanden­ hoeck & Ruprecht. Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung. Heidelberg: Carl Auer Ogden, P., Minton, K., Pain, C. (2010). Trauma und Körper. Ein sensumotorisch orientierter psychotherapeutischer Ansatz. Paderborn: Junfermann. Pal-Handl, K., Lackner, R., Lueger-Schuster, B. (2004). Wie Pippa wieder lachen lernte. Ein Bilderbuch für Kinder. Wien/New York: Springer. Werner, E. E., Smith, R. S. (1982). Vulnerable but invincible: A study of resilient children. New York: McGraw-Hill. Zöllner, T., Calhoun, L. G., Tedeschi, R. G. (2006). Trauma und persönliches Wachstum. In A. Maercker, R. Rosner (Hrsg.), Psychotherapie der posttraumatischen Belastungsstörungen (S. 36–45). Stuttgart: Thieme.

3.6 Neue Autorität interkulturell – Menschen aus patriarchalen Systemen mit Neuer Autorität begegnen Angela Eberding und Martin A. Fellacher

In vielen Bereichen hat Ende des letzten Jahrhunderts eine Spezialisierung stattgefunden. Sei es in der Medizin, der Psychotherapie oder der sozialen Arbeit. Menschen, die Unterstützung suchten, wurden in spezialisierte Einrichtungen, an Spezialisten verwiesen. In den vergangenen Jahren fanden langsam ein Umdenken und dadurch teilweise eine Zusammenlegung von früher parallel betriebenen Einrichtungen statt. Dennoch werden wir, wenn wir das Konzept der Neuen Autorität vorstellen, immer wieder gefragt, ob denn dies auch für »diesen« speziellen Bereich »funktioniere«. So passiert dies auch, wenn es um die Arbeit mit Menschen mit Migrationsbiografien geht. Eine erste Antwort darauf geben wir gern, indem wir auf den Ursprung und die Entwicklung des Konzepts der Neuen Autorität verweisen. Haim Omer selbst wuchs in Brasilien auf, als Sohn jüdisch-polnischer Eltern, die den Nationalsozialismus in einem Konzentrationslager überlebt hatten. Als junger Erwachsener emigrierte er nach Israel, wo er nach dem Ableisten seines Militärdienstes Psychologie studierte und später auch an der Universität in Tel Aviv lehrte. Sein Team in Israel besteht aus Menschen, die großenteils selbst Migrationserfahrungen aus ihren Familien kennen. Mit dem Konzept der Neuen Autorität – hier im Speziellen dem Aspekt des gewaltfreien Widerstands – beruft sich Omer von Beginn an auf die Ideen des politischen Widerstands von Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Beim Schreiben dieses Beitrags greifen wir ebenfalls auf Erfahrungen in unterschiedlichsten kulturellen Settings zurück. Wir legen unsere Auslandserfahrungen in der Türkei und in Papua-Neuguinea zusammen mit unseren beruflichen Erfahrungen mit Menschen, die der Arbeit wegen migriert sind oder aus ihrer Heimat flüchten mussten. Und gerade die Differenzierung zwischen den teils sehr unterschiedlichen Erfahrungen ermöglicht uns, einen Gesamtblick auf die Herausforderungen und Chancen in interkulturellen Settings zu bekommen.

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Vertiefende Aspekte

Vorüberlegungen zum Kulturbegriff In Zusammenhang mit Kultur zeichnete sich in den letzten Jahren ein interessanter Wandel in der Vorsilbe ab: Während die »multikulturelle« Gesellschaft ein Nebeneinander verschiedener Kulturen in einer Gesellschaft beschrieb, setzte der Begriff »Interkulturalität« die Menschen mit verschiedenen Hintergründen in Beziehung zueinander und versuchte, den defizitären durch den Ressourcenblick zu ersetzen. So wurde auch häufig der Begriff der »Transkulturalität« verwendet, mit dem Hinweis darauf, dass kulturelle Identität jeweils mit nationaler Herkunftsidentität gleichgesetzt werde und damit der Begriff der Interkulturalität der Komplexität der kulturellen Mischidentitäten moderner Individuen nicht gerecht werden könne (Ehret, 2009). Die Ethnologin Dorothy Louise Zinn merkte bereits 2002 an, dass es genauso schwierig sei, einem toleranten Menschen ein reflektiertes Verständnis von Kultur zu vermitteln, wie einem, der ein ungeniert rassistisches Weltbild habe (Zinn, 2002). Die Gefahr dabei bestehe für transkulturell kompetente Fachkräfte vor allem darin, in eine Essenzialisierungslogik einzustimmen, die sich aus einem oft privilegierten Wissen über die andere Kultur ergibt. Die Klienten machten dadurch mitunter die Erfahrung, dass sie als »die Migrantin« wahrgenommen würden, und ihren Subjektstatus verlören (Ehret, 2013). Allerdings können wir davon ausgehen, dass sich unterschiedliche Lebenserfahrungen von Menschen, die durch nationalstaatlich orientierte Ausrichtung der Zulassungspolitik gewaltvoll als »andere« repräsentiert sind, nicht auf ihre Herkunftskultur reduzieren lassen (Ehret, 2013). Denn obwohl in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte neben anderen potenziell diskriminierungsrelevanten Merkmalen wie Rasse, Geschlecht, Sprache, politische und sonstige Überzeugung auch die nationale oder soziale Herkunft genannt sind, ist heute in den EU-Richtlinien in den Anwendungen des Gleichheitsgrundsatzes ein Verbot von Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit ausgenommen (Scherr, 2011). Einige Autorinnen weisen heute darauf hin, dass im deutschsprachigen Raum in offiziellen Kontexten nicht mehr von »Rasse« gesprochen, dass dafür aber der Begriff »Kultur« dazu benutzt werde, die Fremdheit und das Anderssein der anderen zu konstituieren (Ehret, 2009). Die Logik, die eine Festschreibung des anderen auf seine Andersartigkeit und des eigenen auf die ursprünglichen Werte bei gleichzeitiger Nivellierung innerer Differenzen bedeutet, trägt – oft mit guter Absicht der toleranten Menschen – ihren Teil dazu bei. Zu guter Letzt sei noch das Gedankenmodell der »Übersozialisation« erwähnt, in dem der Mensch als »Ausführender seiner Kultur« konzipiert ist und

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seine Fähigkeit, sich reflexiv und situativ zum eigenen kulturellen Wissen zu verhalten, völlig unterschätzt wird (Diehm u. Radtke, 1999). Es wird davon ausgegangen, dass durch die Kenntnisse der Kultur Rückschlüsse auf das individuelle Verhalten gemacht werden können, was empirisch jedoch nicht belegbar ist. Baumann (1999) beschreibt, dass Kultur keinesfalls als Vervielfältigungsmaschine funktioniere, in der jedes Individuum die kulturellen Vorgaben seines Herkunftssystems reproduziert, sondern eher wie eine »Jam-Session«. Das entstandene musikalische Produkt sei je nach Zusammensetzung der Instrumente, der Fertigkeit und Zusammensetzung der Spielenden, dem Kontext und dem Zeitpunkt der Session, ein neues, im Vergleich zum vorhergehenden verändertes. Wenn ich also einem Patienten oder einer Klientin mit Migrationshintergrund mit einem essenzialistischen Verständnis seiner oder ihrer Kultur entgegentrete, entlarvt sich meine Handlungsweise nicht nur als entmündigend, sondern mit Sicherheit auch als wenig erfolgreich, da mein Gegenüber sich nicht so verhalten wird, wie ich es mir aufgrund meiner Übersozialisationslogik vorstelle (Ehret, 2009).

Patriarchale Systeme bei uns und bei anderen Gerade Menschen, die aus muslimischen Ländern zu uns kommen, sehen sich oft mit Kritik konfrontiert an der nicht vorhandenen Gleichberechtigung der Geschlechter in ihrer Heimatkultur. Zugleich wird ihnen – hier lebend – unterstellt, dass die Frauen »bei ihnen zu Hause« nichts zu sagen hätten. Diese Vorhaltungen passieren gern aus einem Gefühl der Überlegenheit der eigenen, »unserer« Kultur heraus. Dabei werden aber einige wichtige Tatsachen übersehen. So ist die Entwicklung einer Gesellschaft, in der Frauen gleiche Rechte haben sollen, auch in unseren Breitengraden noch jung und verläuft langsam. Vor gerade ungefähr hundert Jahren, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde das Frauenwahlrecht in Deutschland und Österreich eingeführt, in der Schweiz dauerte es bis 1990, ehe es in allen Kantonen umgesetzt war. Erst Ende der 1970er Jahre wurde den Frauen in Deutschland das Recht eingeräumt, auch ohne die Erlaubnis ihres Mannes eine Arbeitsstelle anzunehmen. In Österreich wurde gleichzeitig sexualisierte Gewalt innerhalb der Ehe erstmals 1979 unter Strafe gestellt, während dies in Deutschland noch bis 1997 dauerte. Dies bedeutet, dass auch unsere Gesellschaft noch sehr stark von Bildern geprägt ist, die ein Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau sehen. Die völlige Gleichstellung der Geschlechter ist bei uns bis heute nicht erreicht, und

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Vertiefende Aspekte

auch öffentlich wird immer wieder infrage gestellt, ob denn dies überhaupt ein angemessenes Ziel sei. Unterschiede in der Bezahlung und Benachteiligungen bei der Besetzung von Führungspositionen fallen meist zum Nachteil der Frauen aus, während Männer weitgehend bei der Rechtsprechung der Familiengerichte benachteiligt werden, da Kindererziehung immer noch als Sache der Frauen angesehen wird.

Gewalt bei uns und bei anderen An folgendem Beispiel ist zu sehen, dass es mit »den« Werten einer (gesamten) Gesellschaft schwierig ist: Während Österreich 1989 das vierte Land weltweit war, das ein Gewaltverbot in der Erziehung gesetzlich verankert hat, gaben laut dem 5. österreichischen Familienbericht (2010) 36 % der Eltern in Österreich und 39 % derer in Deutschland an, den sogenannten »Klaps« für zulässig zu halten. Ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben Kinder in Deutschland erst seit dem Jahr 2000, in Ländern wie Frankreich, England und der Schweiz wurde es bis heute nicht gesetzlich verankert.

Umgang mit eigenen Stereotypen Wenn wir davon ausgehen, dass eine interkulturelle Begegnung eine »Jam-Session« ist (siehe oben), dann versteht sich von selbst, dass wir Teil davon sind. Wir können uns nicht herausnehmen und so tun, als ob wir die Situation nur von außen wahrnehmen würden. Im ersten Schritt ist es deshalb wichtig, dass wir uns unserer eigenen stereotypen Bilder bewusst werden, wenn wir über »die Türkin«, »den Afghanen« oder – viel naheliegender – »den Österreicher«, »die Preußin« usw. sprechen. In der Begegnung sind wir gefordert, neugierig zu sein und uns davon überzeugen zu lassen, dass unsere Stereotype maximal ein Hilfskonstrukt sind, um gewisse Dinge für uns zu ordnen. Damit können wir jedoch nie der Person, die uns gegenübersitzt, oder ihrem System gerecht werden. Es gehört aber auch zu den zentralen Aufgaben von professionellen Erziehungsverantwortlichen z. B. in Schulen, Kindertagesstätten oder Einrichtungen der Jugendhilfe, Abläufe zu strukturieren. Dabei wird alles »Fremde« in der Regel erst mal als (zusätzlich) störend erlebt. In manchen Systemen werden diese »Störfaktoren« separiert, wie z. B. Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache in eigene Schulklassen. In anderen Systemen ist dies jedoch nicht möglich.

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Bleiben wir mit unserem Blick bei den Defiziten hängen, weil wir z. B. organisatorischen Aufwand betreiben müssen, um einen Dolmetscher zu einem Gespräch hinzuzuziehen, bringen wir oft eigene Fachkompetenz nicht zur Geltung. Wird Diversität jedoch als Grundbedingung modernen Lebens verstanden, die für uns alle bedeutend ist, dann eröffnen sich plötzlich neue Möglichkeiten (Ehret, 2009).

Bewusstsein über die eigenen Werte In der öffentlich-politischen Diskussion wird vor allem seit dem Jahr 2015, als innerhalb weniger Monate einige hunderttausende Geflüchtete nach Mitteleuropa kamen, immer wieder ein verpflichtender Wertediskurs für die Zugewanderten gefordert. Meist kommt diese Forderung aus populistischen Gruppierungen rechtsnationaler Parteien, die damit implizieren, dass unsere Gesellschaft ein den Zugewanderten überlegenes Wertesystem habe. Ein Beispiel für einen zu vermittelnden Wert war immer wieder die Gleichstellung der Geschlechter. Wie weiter oben schon beschrieben, ist dies jedoch kritisch zu sehen. Je mehr wir uns unserer eigenen Werte bewusst sind, desto sicherer können wir sie allerdings in der direkten Begegnung vermitteln und vertreten. Wir sprechen dabei aber von »unseren Werten«, die natürlich in ein Wertesystem der Gesellschaft, in der wir sozialisiert wurden, eingebettet sind, ohne anzunehmen, dass jede und jeder in unserer Umgebung exakt dieselben Werte vertreten würde. Interkulturelle Kompetenz ist für uns ein zentraler Wert im Umgang mit anderen, unabhängig davon, wie nah oder fremd sie uns sind. Dazu gehört für uns eine Haltung von Offenheit und Neugierde für das Verbindende und die Unterschiede, für soziokulturelle und familiäre Hintergründe unseres eigenen Verhaltens wie dessen des Gegenübers. Dazu kommt ein beharrlich ressourcenorientierter Blick auf die Situation. Solange – auch fremde – Werte und Regelsysteme nicht schaden, treten wir ihnen mit Respekt entgegen. Gewalt, auch Gewalt in der Erziehung, schadet – auch die Watsche! Sie entwürdigt, schmerzt und eskaliert. Gewalt gegen Kinder wird in Deutschland wie in Österreich bestraft. Wenn wir, als Erziehungsverantwortliche in Schule, Kindergarten oder Einrichtungen der Jugendhilfe bzw. -wohlfahrt, Kinder nicht vor (familiärer) Gewalt schützen, machen wir uns strafbar. Auf diese Entwicklung in unseren Herkunftskulturen sind wir stolz. Interkulturelle Kompetenz meint nicht, solche positiven Entwicklungen nur einheimischen Kindern zugutekommen zu lassen. Und: Die Werte einer Familie stehen nicht über dem Kinderschutz, völlig unabhängig von deren Herkunft!

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Vertiefende Aspekte

Exkurs: Systemische Fragen In einer Haltung von Respekt, Offenheit und Neugierde zu fragen, bedeutet Informationsgewinn. Hier einige Beispiele für Informationsfragen: •• Wie wird Ihr Name in Ihrer Familiensprache ausgesprochen? Hat er eine besondere Bedeutung? Wenn ja, welche? •• Wie wollen Sie von mir angesprochen werden? •• Wann … sind Sie/Ihre Eltern nach … ausgewandert? •• Wer ist zuerst gekommen? •• Wie war zu Hause Ihre Familie organisiert – Hierarchie, Regeln, Familienleben? •• Welche Sprache – außer Deutsch – sprechen Sie noch? •• Welche – außer Ihren deutschen/österreichischen, … – Wurzeln haben Sie noch? Systemische Fragen dienen darüber hinaus der Aktivierung von Ressourcen und dem Aufdecken von neuen Möglichkeiten und Wirklichkeitskonstruktionen. Sie fragen »nach Beschreibungen und Verhaltensunterschieden […], danach, was […] beschrieben wird und was mögliche andere Beschreibungen sein könnten« (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 251). Wir möchten hier in Anlehnung daran folgende Frageformen unterscheiden: Unterscheidungsfragen fragen nach Unterschieden, Einschätzungen nach den bisherigen Lösungsfortschritten, z. B. in Form von Skalenarbeit (1–10) oder prozentual z. B.: •• Wer in Ihrem Team schätzt das Verhalten von XY in der Wohngemeinschaft als problematisch/unproblematisch ein? Hypothetische Fragen fragen nach einem »als ob …«, um im »Kopfkino« neue Ideen zu entwerfen und aus »Sackgassen« hinauszudenken, z. B.: •• Gesetzt den Fall, Sie wären in Ihrer Heimat (in der Heimat deiner Eltern): Für wen wäre ein Verhalten wie Ihr/dein gerade gezeigtes dann ein Problem? Was würde unternommen werden, damit es besser/weniger/ungefährlicher würde? Verbesserungsfragen und Fragen nach Ausnahmen fragen nach Szenarien des »Besserwerdens«, nach möglichen Wegen aus der Krise und nach »besseren Zeiten«, z. B.: •• Wer in Ihrer Familie würde als Erstes bemerken, dass es Ihnen besser geht?

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Zukunftsfragen eröffnen neue Möglichkeitsräume und ermuntern zu einem »positiven Kopfkino« in der Zukunft, z. B.: •• Wo wirst du in einem Jahr sein, wenn es dir hier, in diesem Land, gut geht, und wo, wenn es dir in deinem Heimatland/im Heimatland deiner Eltern gut ginge? Solcherlei Fragen »können geeignet sein, interkulturelle Kontexte zu erhellen und die Relativität der Standorte von Klientensystem, Berater und Supervisor zu verdeutlichen« (von Schlippe, El Hachimi u. Jürgens, 2013, S. 113). Wir werden im Folgenden einige hilfreiche systemische Fragen vorstellen, mit denen wir verdeutlichen möchten, welche Chancen darin bestehen, mit der Haltung der Neuen Autorität nach dem PINA-Modell (Fellacher, 2017) im interkulturellen Kontext zu beraten.

Präsenz und Beziehung Eine übliche traditionell-autoritäre Reaktion von Erziehungsverantwortlichen (in Familie, Schule, der Jugendhilfe etc.) bei kindlichem »Fehlverhalten« war und ist eine Vergrößerung der Distanz (ins Zimmer schicken, aus der Schule verweisen, eine andere Einrichtung suchen). Im Modell der Neuen Autorität dagegen wird die Distanz verringert, die Präsenz der Erwachsenen erhöht und der Fokus auf eine gute Beziehung gelegt. Hier ist das Bild der »Wachsamen Sorge« eine hilfreiche Brücke. Mögliche Fragen: •• Wer in Ihrer Familie/Ihrem Team macht sich Sorgen um das Kind/den Jugendlichen? Wer noch? Wer wenig, wer mehr, wer ganz große? •• Würden sich in Ihrem Heimatland/im Herkunftsland deiner Eltern dieselben Personen Sorgen machen? Wenn ja, was würden diese Personen tun? Wenn nein, wer würde sich dann Sorgen machen? •• Was – außer Drohen, Beleidigen, Beschämen, Schlagen – haben Sie schon einmal probiert? Wie ging es Ihnen dabei? Wenn Sie das Gleiche oder etwas Ähnliches jetzt tun würden, wie würde es Ihnen gehen? •• Gesetzt den Fall, Sie würden etwas Neues/anderes probieren: Was könnte das sein? Wer könnte Sie dabei unterstützen? Wen könnten Sie zurate ziehen? •• Wie sehen in Ihrer Herkunftskultur Beziehungsgesten aus? Gesetzt den Fall, ich wollte Ihnen zeigen, dass ich Sie schätze: Was könnte ich tun, was Sie aus Ihrer kulturellen Heimat kennen? •• Wie hat Ihre Mutter/Ihr Vater Ihnen gezeigt, dass Sie geliebt werden?

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Vertiefende Aspekte

Mögliche Fragen zur Verbesserung der Beziehung: •• Wie begrüßen Sie sich in Ihrer Heimat/Familie? Wie möchten Sie von mir begrüßt werden? Wie wird Ihr Name ausgesprochen? •• Mit welchen Ritualen, Geschenken, Gesten wird in Ihrem Heimatland/im Heimatland deiner Eltern eine gute Beziehung gefestigt? Gesetzt den Fall, wir würden das in der WG ausprobieren: Wie würde es dir gehen? Wer kann uns dabei unterstützen? Wie können wir mit diesen Personen in Kontakt treten, auch wenn sie nicht vor Ort sind? •• Womit haben Sie Ihr Kind/den Jugendlichen schon einmal überraschen können, womit haben Sie ihm oder ihr schon einmal eine große Freude gemacht? Gesetzt den Fall, Sie würden dies (oder etwas anderes) wieder tun: Wie würde es Ihnen damit gehen? •• Welche Interessen hat das Kind/der Jugendliche? Gibt es vielleicht auch gemeinsame Interessen? Könnten Sie etwas aus dem Interessensbereich des Kindes/Jugendlichen gemeinsam unternehmen? Wichtig bei der Anleitung zu Beziehungsgesten ist der Hinweis, dass diese keine »Belohnung« sind, sondern unabhängig vom (Wohl-)Verhalten des Kindes, also auch nach Auseinandersetzungen und oder destruktiven Verhaltensweisen erfolgen sollen. Sie richten sich an die Person und nicht an deren Verhalten. Die Eltern bzw. professionellen Erziehungsverantwortlichen sollten darauf vorbereitet sein, dass die Kinder Beziehungsgesten auch zurückweisen können.

Selbstkontrolle Eine weitere übliche traditionell-autoritäre Reaktion von Erziehungsverantwortlichen bei kindlichem »Fehlverhalten« war und ist der Versuch, das Kind/den Jugendlichen zu kontrollieren. Die Neue Autorität dagegen spricht von der Illusion der Kontrolle und legt einen Schwerpunkt auf die Selbstkontrolle der Erziehungsverantwortlichen. Fragen danach in interkulturellen Kontexten könnten lauten: •• Welche Strategien der Selbstkontrolle kennen Sie aus den Kulturen, mit denen Sie aufgewachsen sind? •• Wenn Ihnen keine einfallen, wen könnten Sie fragen? •• Gesetzt den Fall, Sie würden diese Strategien anwenden: Wie würde es Ihnen gehen – besser oder schlechter? •• Was würden Ihre Eltern, Freunde, Kolleginnen etc. sagen, wenn Sie versuchen würden, in Auseinandersetzungen mit Ihrem Kind/dem Jugend-

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lichen nicht mehr an Gewinnen oder Verlieren zu denken, sondern stattdessen nach einer guten Lösung zu suchen?

Differenzierung von Verhalten und Person Die gedankliche und damit auch verbale Trennung von Person und Verhalten ermöglicht es uns als Beraterinnen und Therapeuten wie auch den Erziehungsverantwortlichen, einen liebevollen und ressourcenorientierten Blick auf das Gegenüber zu behalten oder neu zu bekommen, auch wenn wir sein oder ihr Verhalten nicht akzeptieren können oder dürfen. Wenn Person und Verhalten gleichgesetzt werden, dann ist der- oder diejenige ein »Schwein«, auch wenn er oder sie sich nur in einer bestimmten Situation »schweinisch« verhalten hat. Kein Kind ist »nur gewalttätig«, sondern es hat immer auch konstruktive und kooperative Anteile, und hilflose Eltern sind nicht grundsätzlich schlechte Eltern. Die Trennung von Person und Verhalten ermöglicht es, einerseits Wertschätzung oder Liebe zu zeigen und andererseits zugleich Widerstand gegen destruktives Verhalten deutlich zu machen. Beides kann unterschiedlich kulturell »gefärbt« sein. Fragen könnten hier z. B. lauten: •• Wie könnten Sie Ihrem Kind/Jugendlichen deutlich machen, dass Sie es/ ihn/sie lieben und schätzen, jedoch mit seinem/ihrem Verhalten nicht einverstanden sind? •• Kinder glauben manches Mal daran, dass sie nicht gemocht werden, wenn man sie kritisiert. Wie können Sie Ihrem Kind zeigen, dass Sie es lieben, obwohl Sie klar gegen das Verhalten protestieren (müssen)? •• Wie haben Ihre Eltern Ihnen ihre Liebe gezeigt? Was davon würden Sie heute genauso und was anders machen? •• Was haben Ihre Eltern Ihnen gesagt oder getan, wenn sie mit Ihrem Verhalten nicht einverstanden waren? Was davon würden Sie heute genauso und was anders machen? •• Gesetzt den Fall, es gäbe hier kulturelle Unterschiede: Welche könnten es sein?

Verzögerung und Beharrlichkeit Die meisten von uns sind mit traditioneller Autorität groß geworden. »Schmiede das Eisen, solange es heiß ist«, kennen wir genauso wie zugewanderte Familien aus traditionellen Kulturen. Hier zu Verzögerung zu »verführen«, braucht

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schon Beharrlichkeit und die Erfahrung, in welch großem Maß dies sowohl das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht verringert als auch die Gefahr, symmetrisch zu eskalieren, also mit Gewalt auf gewalttätiges Verhalten zu reagieren. Mögliche Fragen: •• Gibt es in Ihrer Kultur ein Sprichwort mit der Bedeutung »Schmiede das Eisen, solange es heiß ist«? Gibt es in Ihrer Kultur die Vorstellung, dass nur das funktioniert? Haben Sie schon einmal eine andere Erfahrung gemacht? Als Kind? Als Erziehungsverantwortlicher? •• Können Sie sich vorstellen, in einer bestimmten Situation, in der Ihr Verhalten zu weiteren unguten Eskalationen geführt hat, künftig etwas anderes zu probieren? Wie würde es Ihnen dann gehen? Wir alle hoffen, dass eine kluge oder auch nur gut gemeinte oder eine mutige Intervention dazu führt, dass das Gegenüber sein Verhalten verändert. Die Neue Autorität geht nicht davon aus. Sie zielt nicht einmal darauf ab. Ihr ist es wichtig, dass eine gute Beziehung zwischen den Beteiligten erhalten bleibt bzw. wiederhergestellt wird und dass die Hilflosigkeit der Erziehungsverantwortlichen abnimmt. In der Zusammenarbeit mit traumatisierten (geflüchteten) Menschen ist dies eine Herausforderung. Renate Jegodtka und Peter Luitjens bezeichnen traumatisierte Kinder und Jugendliche als »besonders herausgeforderte und überwältigte junge Menschen« (Jegodtka u. Luitjens, 2016, S. 26), die nach wiederholten Grenzüberschreitungen ein traumabasiertes destruktives Verhalten zeigen und damit auch professionelle Erziehungsverantwortliche herausfordern. Gerade hier helfen Beharrlichkeit und Geduld, um die jungen Menschen darin zu unterstützen, in einem gewaltfreien, liebevollen und strukturierten Alltag den Faden ihrer Entwicklung wieder aufzunehmen.

Wiedergutmachung Jedes »Opfer«, aber, wie unser Kollege Stefan Ofner sagt, »auch jede/r Täter/ in hat ein Recht auf Wiedergutmachung«. Die Idee von Wiedergutmachung (neben Strafe und darüber hinaus) gibt es in jeder Kultur1.

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Siehe z. B. http://islam-pedia.de/index.php?title=Reue#Lass_der_b.C3.B6sen_Tat_eine_gute_ folgen (Zugriff am 31.01.2019).

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Mögliche Fragen: •• Kennst du aus deiner Herkunftskultur Wiedergutmachungen? •• Hast du schon einmal eine Wiedergutmachung erfahren oder selbst gemacht? Hatte diese irgendwelche kulturellen Färbungen oder Besonderheiten? •• Wer könnte dich (aus deinem Heimatland) unterstützen, eine gute Wiedergutmachung zu finden?

Unterstützung und Netzwerk Traditionelle Autorität im »guten« Sinne bedeutete früher bei uns und in vielen traditionellen Kulturen, in einer Großfamilie bzw. im ganzen Dorf aufzuwachsen. Sich heute Unterstützung zu holen, scheint schwieriger geworden zu sein. Sich Hilfe zu holen, wird oft damit gleichgesetzt, das »Gesicht zu verlieren«, es allein »nicht zu schaffen«, jemandem Einblick in die »Privatsphäre« zu gewähren. Wir machen oft die Erfahrung, dass es zugewanderten Familien leichter fällt, in Netzwerken zu denken und handeln. Mögliche Fragen: •• Welche Unterstützer/-innen haben Sie in Ihrem deutschen Umfeld? Wen könnten Sie noch brauchen? •• Welche Unterstützer/-innen haben Sie in Ihrem heimatlichen Umfeld? Wen könnten Sie noch brauchen? Können wir Sie darin unterstützen, dieser Person einen Besuch zu ermöglichen? Können wir Sie darin unterstützen, mit dieser Person Kontakt aufzunehmen, z. B. über Mail, Skype o. Ä.? •• Wo würden Sie nach Unterstützung suchen? Unter den Frauen oder den Männern? In Ihrer Generation? Bei Älteren? In der Familie? Im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft? Bei Professionellen? Wenn ja, bei welchen? Würden Sie dafür Geld bezahlen müssen? •• Wäre dein Problem/deine Sorge im Heimatland deiner Eltern größer oder kleiner? Wer könnte dich unterstützen, damit es oder sie kleiner wird? Was würde diese Person tun? Gibt es jemanden hier, der oder die etwas Ähnliches tun könnte?

Transparenz Das eigene Verhalten in einer (Teil-)Öffentlichkeit und gegenüber einem Kind bzw. Jugendlichen transparent zu machen, fällt vielen Erziehungsverantwortlichen – unabhängig von ihren kulturellen Wurzeln – schwer. Auch hier spie-

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len die Scham (über das Geschehen) und der Wunsch nach »Schutz« für die »Täter/-innen« eine Rolle. Geheimhaltung schützt jedoch selten das Kind, sondern meist nur das destruktive Verhalten. Mögliche Fragen: •• Wer wusste Bescheid, wenn du (oder andere Jugendliche) in deiner Heimat »Mist« gebaut hast (haben)? •• Wie haben diejenigen, die Bescheid wussten, reagiert? Haben sie dich unterstützt? •• Wann wurden Schule oder ggf. Polizei informiert und durch wen? •• Was wäre anders, wenn Sie über das destruktive (gewalttätige) Verhalten Ihres Sohnes/Ihrer Tochter mit den Menschen sprechen würden, die ebenfalls in Sorge um ihn oder sie sind? Würde Ihre Sorge weniger oder mehr?

Protest und Widerstand Dieser Bereich der Neuen Autorität ist eine Herausforderung sowohl für Familien, die aus patriarchalen Systemen stammen und oft keine Alternative zur traditionellen Autorität kennen, als auch für solche aus westlichen Kulturen, die das »Wohl« der Kinder über alles stellen und hilflos sind, wenn diese sich destruktiv verhalten. Mögliche Fragen: •• Kennen Sie es, dass Sie auf Regelüberschreitungen (Verhalten wie Lügen, Klauen, Beschimpfen, Schlagen) keine Reaktion gezeigt haben, weil Sie das Verhalten des (Ihres) Kindes entschuldigt haben? Wie ging es Ihnen damit? •• Kennen Sie Strafen als Folge eines solchen Verhaltens hier oder aus Ihrer Kindheit in Ihrem Herkunftsland? Wie ging es Ihnen damit? Als Kind? Als Erwachsener? •• Wie haben die Erwachsenen/Sie als Erwachsene gezeigt, dass dieses Verhalten nicht mehr akzeptiert wurde? •• Wenn Sie geschlagen worden sind, wie ging es Ihnen? Hätten Sie sich eine andere Form von Reaktion (Protest, Widerstand) gewünscht? Wenn ja, welche? •• Sie wissen, dass es in Deutschland und Österreich verboten ist, Kinder zu schlagen. Solange Sie hier leben: Was (außer Gewaltanwendung) könnten Sie tun? Würden Sie gern Verhalten XY ausprobieren? Einmal? Über eine Woche?

Neue Autorität interkulturell –

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Schlussfolgerung: Die Haltung entscheidet Traditionell-autoritäre und damit patriarchale Werte und Normen haben (mit wenigen Ausnahmen und oft nur über einen kurzen Zeitraum) jahrtausendelang das Denken und Verhalten von Menschen mehr oder weniger stark geprägt, über alle Kultur- und Religionsgrenzen hinweg. Dies verändert sich nun mit den sich verändernden Arbeits- und Lebensbedingungen – nicht überall gleichzeitig und nicht im gleichen Tempo. Gleichzeitig sind durch Globalisierung, Medialisierung, wegen Kriegen, Gewalt und Armut weltweit immer mehr Menschen »auf Wanderschaft«. Deutschland ist ein Einwanderungsland. 2016 hatten 34,1 % aller Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren, die in Deutschland leben, einen Migrationshintergrund (bpb, 2018). Alle, die in professionellen Zusammenhängen (Schule, Kindertagesstätte, Jugendhilfe, Beratung und Therapie) mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, treffen vielfach auf traditionell-autoritär begründete Verhaltensweisen von Kindern, Jugendlichen, Eltern und auch Kollegen. Unabhängig von ihrer familiären Herkunftskultur greifen Menschen – auch Erziehungsverantwortliche – auf bekannte Muster und Verhaltensweisen zurück, wenn sie sich ohnmächtig fühlen, wenn das Verhalten von Kindern und Jugendlichen herausfordernd, destruktiv oder gefährdend ist. Wenn wir uns die Frage stellen, welche alternativen Möglichkeiten es gibt, auf solche Verhaltensweisen zu reagieren, ohne zu kulturalisieren, aber dabei gleichzeitig die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und Werte zu berücksichtigen, dann lautet unsere Antwort: die Neue Autorität in Verbindung mit interkultureller Kompetenz. Beiden Konzepten liegen Haltungen zugrunde, die es ermöglichen, sich für ein friedfertiges Miteinander einzusetzen. Sie ermöglichen Eltern und professionellen Erziehungsverantwortlichen einen Ausweg aus Gewalt und Eskalationen, eine Kompetenzerweiterung, die Verbesserung der Arbeitszufriedenheit sowie die Verbesserung der Zusammenarbeit im Team, mit anderen beteiligten Helfersystemen und mit Eltern (die überwiegend ihre »eigene« Familien- und Erziehungskultur verteidigen werden). Mit diesen Haltungen keine Antworten zu geben, sondern so zu fragen, dass die Betroffenen selbst ihre eigenen Problemlösestrategien sowie Ressourcen entdecken und neu entwickeln können, ist das Anliegen unseres Beitrags gewesen.

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Vertiefende Aspekte

Literatur Baumann, G. (1999). The Multicultural riddle. Rethinking national, ethnic and religious identities. New York: Routledge. Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2018). Zahlen und Fakten. Die soziale Situation in Deutschland. Menschen mit Migrationshintergrund III. https://www.bpb.de/nachschlagen/ zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/150599/migrationshintergrund-iii (Zugriff am 31.01.2019). Diehm, I., Radtke, F.-O. (1999). Erziehung und Migration. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. Ehret, R. (2009). Die Kulturfalle. Plädoyer für einen sorgsamen Umgang mit Kultur. In S. Golsabahi, T. Stompe, T. Heise (Hrsg.), Jeder ist weltweit ein Fremder. Beiträge zum 2. Kongress des DTPPP in Wien 2008 (S. 47–55). Berlin: VWB. Ehret, R. (2013). Zum Subjektwiederherstellungsmodus. Eine ethnologisch-psychoanalytische Auslegung von Differenz und Fremdheit. In T. Heise, R. Ehret, J. Küchenhoff, I. Özkan, S. Golsabahi (Hrsg.), Die Herstellung von Differenz. Beiträge zum 6. Kongress des DTPP in Liestal 2012 sowie in Hamm 2012 (S. 27–32). Berlin: VWB. Fellacher, M. A. (2017). Die Handlungsebenen der Neuen Autorität. Einführung in die Neue Autorität für Interessierte. https://pina.at/XooWebKit/bin/download.php/2f17a_642f8240e1/PINA_ Handlungsebenen%20der%20Neuen%20Autorit%C3 %A4 t.pdf (Zugriff am 30.01.2019). Jegodtka, R., Luitjens, P. (2016). Systemische Traumapädagogik. Traumasensible Begleitung und Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Österreichisches Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend (2010). 5. Österreichischer Familienbericht  – auf einen Blick. https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/III/ III_00157/imfname_190012.pdf (Zugriff am 30.01.2019). Scherr, A. (2010). Diskriminierung und soziale Ungleichheiten. Erfordernisse und Perspektiven einer ungleichheitsanalytischen Fundierung von Diskriminierungsforschung und Antidiskriminierungsstrategien. In U. Hormel, A. Scherr (Hrsg.), Diskriminierung. Grundlagen und Forschungsergebnisse (S. 35–60). Wiesbaden: VS Verlag. Schlippe, A. von, El Hachimi, M., Jürgens, G. (2013). Multikulturelle systemische Praxis. Ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervision. Heidelberg: Carl-Auer. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (2016). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen (3. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Zinn, D. L. (2002). Pacem in terris: Problems in Reading a »multiethnic« television variety show. In R. D. Grillo, J. C. Pratt (Eds.), The Politics of recognizing difference. Multiculturalism I­ talian ­style (pp. 197–217). Aldershot: Ashgate.

3.7 Die Kraft der Klarheit – Auswege aus der Rechtfertigungsfalle Ruth Tillner

Im Herbst 2014 rief mich eine Kollegin an und meinte: »Ruth, du musst etwas tun! Ich habe mich schon wieder vor meinem Chef gerechtfertigt, und ich habe mich total klein gefühlt. Das soll mir nicht wieder passieren!« Das war das Startsignal, dass ich mich mit dem Mechanismus der Rechtfertigung auseinandergesetzt habe. Der Bitte dieser Kollegin bin ich nachgekommen und habe ein Seminar kreiert, welches »Die Rechtfertigungsfalle« hieß. Dieses Thema begegnet mir immer wieder im beruflichen sowie im privaten Kontext. Wenn ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, fragen würde: »Kennen Sie das, sich zu rechtfertigen?«, dann würden Sie sicherlich mit »Ja« antworten. Und Sie würden bemerken, dass Sie sich in dem Moment, in dem Sie sich rechtfertigen, oder auch im Nachhinein nicht wohlfühlen. Wir lernen von klein auf, welches Verhalten »richtig« oder »falsch« oder »erwünscht« bzw. »nicht erwünscht« ist. Nach der Erfüllung von erwünschtem Verhalten erfahren wir oftmals eine Belohnung, bei nicht erwünschtem Verhalten Bestrafung oder Missachtung. Als Kinder sind wir darauf angewiesen, von den Erwachsenen geliebt zu werden, und es ist wichtig für Menschen, sicher gebunden zu sein. »Bei einem Kind meint Bindung seine besondere, anhaltende und emotional begründete Beziehung zu seinen Eltern oder beständigen Bezugspersonen. Insofern handelt es sich um ein wesentliches Merkmal der ElternKind-Beziehung. Auch wenn dieses biologisch begründete Bedürfnis nach Nähe zu einer Bindungsperson, die in Situationen von Kummer, Angst und Stress als sichere Basis zur Verfügung steht, im Kindesalter am deutlichsten zu beobachten ist, besteht es doch lebenslang, von der Wiege bis zum Grab« (Schleiffer, 2009, S. 40). Die erlebte Bindung begleitet uns ein Leben lang, und damit hängt auch die Entwicklung unseres Selbstbewusstseins zusammen. Wir können nur ein gesundes Selbst-Bewusst-Sein entwickeln, wenn wir wissen, dass es Menschen gibt, die zu uns halten und uns unterstützen. Wichtig ist es, lernen zu dürfen, dass Fehler erlaubt sind. Nicht nur als Kind sind wir bemüht zu gefallen und

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wünschen uns, geliebt zu werden. Wir möchten als einzigartig wahrgenommen werden. »›Natürlich‹, sagte der Fuchs. ›Du bist für mich nur ein kleiner Junge, ein kleiner Junge wie hunderttausend andere auch. Ich brauche dich nicht. Und du brauchst mich auch nicht. Ich bin für dich ein Fuchs unter Hundertausenden von Füchsen. Aber wenn du mich zähmst, dann werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzigartig sein. Und ich werde für dich einzigartig sein in der ganzen Welt …‹« (Saint-Exupéry, 1943/2016, S. 66). Dieser Wunsch nach Anerkennung und auch nach Einzigartigkeit verführt uns, anderen gefallen zu wollen. Es ist uns wichtig, dass diese uns wichtigen Menschen eine gute Meinung von uns haben und wir in ihrer Achtung einen hohen Stellenwert besitzen. Das möchten wir nicht verlieren oder sogar verspielen. Wenn wir uns unsicher sind, wie unser Gegenüber unser Handeln auffasst, führt dies oftmals dazu, dass wir uns Handeln bzw. unser Verhalten rechtfertigen. Wir hoffen, dass unser Gegenüber unser Handeln bzw. Verhalten ebenso als richtig auffasst wie wir. Das Gleiche gilt auch für Meinungen, die wir vertreten. Männer und Frauen sind unterschiedlich abhängig von der Meinung anderer. Es gibt viele Untersuchungen, die sich mit dem Thema »Sozialisation von Mädchen und Jungen« beschäftigen. Vielfach wird die Meinung vertreten, dass es keine signifikanten Unterschiede in der Erziehung von Mädchen und Jungen gebe. Doch ist das Verhalten von Jungen und Mädchen schon im Kleinkindalter unterschiedlich, und diese Differenz ist auch bei Erwachsenen zu beobachten. Schon nach der Geburt eines Kindes zeigt sich, dass sie unterschiedliche Geschenke erhalten, und auch die Babykleidung ist eindeutig anders. Das setzt sich bei den größer werdenden Kindern fort. Nach wie vor wird geschlechtsspezifisches Spielzeug gekauft und verschenkt. Auch die Erwartungen an das Verhalten von Mädchen und Jungen zeigen, dass es hier Rollenstereotype gibt. Von Mädchen wird eher ein freundliches, zugewandtes und angepasstes Verhalten erwartet, während Jungen eher frech, selbstbewusst und dominant auftreten dürfen. Das Vorurteil, dass Jungen generell aggressiver als Mädchen sind, lässt sich statistisch nicht beweisen, es wird jedoch eine Tendenz sichtbar, dass sie durchschnittlich häufiger aggressives Verhalten praktizieren. Auch kann nicht bestätigt werden, dass Mädchen mehr an Personen interessiert, abhängiger und geselliger sind. Auch ist ihr Selbstwertgefühl nicht schlechter als das der Jungen. Sie geben jedoch ab dem achten Lebensjahr selbst an, eher Ängste zu haben (vgl. Hagemann-White, 1984). In meiner beruflichen Tätigkeit u. a. als Supervisorin und Beraterin wird immer wieder deutlich, dass sich Frauen in Partnerschaft, Teams und anderen Kontexten eher für die Aufrechterhaltung und die Pflege von Beziehungen ver-

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antwortlich fühlen als Männer und dies letzten Endes auch tatsächlich stärker umsetzen. Dieses Verhalten lernen Mädchen und Jungen gleichermaßen von ihren Eltern und in anderen sozialen Beziehungen. Daraus resultiert, dass Frauen sensibler auf die Erwartungen von anderen reagieren und viel mehr Wert darauf legen, »gemocht« zu werden. Um nicht anzuecken, als »männlich«, dominant oder sogar zickig gesehen zu werden, formulieren Frauen ihre Anliegen oftmals vorsichtiger und stellen Sachverhalte nicht als Tatsachen dar, sondern präsentieren sie eher als eine Frage. »›Männer und Frauen kommunizieren anders, auch bei den Grünen‹, sagt Renate Künast, 61, Exbundesministerin und acht Jahre lang Fraktionsvorsitzende. Als Beispiel schildert sie dann eine Szene aus dem Parteirat, die ihr bei dem Thema immer einfällt. ›Sagt mal, müssten wir nicht erst einmal folgende zwei Fragen klären?‹, fragte Künast damals. Von den Anwesenden kam keine Reaktion. Kurze Zeit später redete Jürgen Trittin, ›sagte fast das Gleiche wie ich, aber in einem anderen Duktus‹. Der habe keine Frage gestellt, sondern klar heraus gesagt: ›Ich sage, wir klären jetzt zwei Dinge vorab: erstens, zweitens.‹ Künast drückt den Rücken durch und reißt die Augen auf: ›Bei einigen hat man schon die Hacken unten zusammenschlagen hören‹, witzelt sie« (Müller, 2017). In Poesiealben von Mädchen stand früher oftmals zu lesen: »Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein«, oder auch: »Bescheidenheit ist eine Zier«. Diese und andere Sätze prägten und prägen das Verhalten von Mädchen und Frauen. Das zeigt auch das zitierte Beispiel, wie Renate Künast ihr Anliegen in eine Frage kleidet und Jürgen Trittin eine Forderung aufstellt. In Reden im Bundestag ist dieses Verhalten ebenfalls des Öfteren zu beobachten. Frauen »verniedlichen« ihre Thesen mit einem Anhängsel: »…, oder?«, »…, denken Sie nicht auch?« Frauen meinen, sich oftmals rückversichern zu müssen, ob andere ihre Gedanken, Meinungen etc. gutheißen können. Frauen drücken sich nicht klar aus. Die Angst, »männlich« zu wirken, zu fordernd zu sein, zu dominant, lässt Frauen ihr Licht unter den Scheffel stellen. Frauen schämen sich, wenn sie das Gefühl haben, nicht dem Rollenbild zu entsprechen. Interessant ist an dieser Stelle dabei die Frage: Welchem Rollenbild? Gibt es überhaupt noch ein gesellschaftlich einheitlich gültiges Rollenbild, und wenn ja: Inwieweit ist dies kulturell bedingt bzw. inwieweit sind es die eigenen Ideen, die eigene Verinnerlichung von der Vorstellung des Rollenbildes? Hinter dem Empfinden von Wut und Schuld verbergen sich oft ein Gefühl der Scham und eine Sehnsucht, respektvoll behandelt zu werden (vgl. Larsson, 2012). Das Gleiche zeigt sich m. E. auch bei der Rechtfertigung. Hinter der Rechtfertigung verbirgt sich ein Gefühl der Scham. Anja Meulenbelt schrieb

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einst in ihrem Buch »Die Scham ist vorbei«, dass Frauen sich wegen ihres Frauseins nicht mehr schämen müssten und ihre Bedürfnisse leben sollten, ungeachtet der gesellschaftlichen Normen (Meulenbelt, 1978). Dieses Buch war wegweisend für die Frauenbewegung und für die Emanzipation von Frauen. Starke Frauen sind durch oder in der Tradition der Frauenbewegung sozialisiert worden. Autonomie und Bewusstsein der eigenen Kompetenz stellen für Frauen hohe Werte dar. Ein auf Autonomie und Stärke ausgerichtetes Wertesystem gibt wenig Raum für Anlehnungsbedürfnis, Hingabe, Abhängigkeit und Schwachsein. Diese Seiten dürfen nicht nach außen dringen. Sie sind aber in uns, in unseren unbewussten Anteilen verankert. C. G. Jung spricht hier von der »Schattentheorie« (vgl. Storch u. Storch, 2016, S. 69 ff.). Diese Theorie trifft nicht nur auf Frauen zu, sondern gleichermaßen auch auf Männer. Wenn wir mit unseren unliebsamen Anteilen konfrontiert werden, schämen wir uns. Udo Baer schreibt in »Vom Schämen und Beschämtwerden«, dass es sich hier um den »intimen Raum« handelt, »um den es bei der Beschäftigung mit Scham in erster Linie geht, [es] umfasst den Körperraum. Alles, was wir innerhalb des Körpers empfinden, gehört zum Körperraum, alles, was außerhalb ist, gehört nicht zu ihm. Die Grenze des Körperraums ist weitgehend identisch mit der Oberfläche unserer Haut. Der Körperraum ist das Eigenste, was der Mensch hat, der Körperraum ist der Mensch« (Baer u. Frick-Baer, 2008, S. 17). Scham hat mehrere Facetten. Sie ist zum einen eine Hüterin, die uns davor schützt, verletzt zu werden. Zum anderen kann sie aber auch ein Hindernis in der eigenen Entwicklung sein, »wenn sie uns überwältigt und unseren Kontakt zu uns selbst und zu anderen Menschen unterbricht« (Chu u. de las Heras, 2014, S. 6). In jeder Kultur kennen Menschen das Gefühl der Scham, und es ist oftmals eines der unangenehmsten Gefühle sowie oftmals auch mit Schmerz verbunden. Uri Weinblatt führt in seinem Buch »Die Nähe ist ganz nah!« aus, dass »neurowissenschaftliche Forschungen [gezeigt haben], dass dieselben Gehirnregionen sowohl körperlichen Schmerz als auch den Schmerz durch soziale Zurückweisung und sozialen Ausschluss verarbeiten« (Weinblatt, 2016, S. 44). Das Gleiche gelte auch, wenn wir Scham empfinden. Wenn wir uns rechtfertigen, empfinden wir Scham aus den verschiedensten Gründen. Einer der wichtigsten, den ich schon zu Beginn des Beitrags aufgeführt habe, ist der, dass wir uns wünschen, dass andere eine gute Meinung von uns haben. Wir möchten Menschen, vor allem die, die uns nahe- oder in der Hierarchie über uns stehen, nicht enttäuschen. Oftmals sind wir von uns selbst enttäuscht und schauen nicht, ob unser Gegenüber ebenso empfindet, und wir rechtfertigen uns, weil wir denken, dass das von uns erwartet wird. Wenn Menschen sich verletzt oder auch unterlegen fühlen, nehmen sie ihre Scham nicht

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wahr. Sie verspüren Empörung, sie sind verletzt, empfinden das Verhalten des/ der anderen als unverschämt. Die Reaktion hierauf kann sich in einer Rechtfertigung äußern oder sogar in einer Form des destruktiven Verhaltens. »Scham gehört zur Familie der Emotionen (zusammen mit Schuld, Verlegenheit und Stolz), die man als ›selbst-bewusst‹ bezeichnet […]. Das bedeutet, wenn Scham hervorgerufen wird, so werden auch Prozesse der Selbstbeurteilung und Selbstreflexion in Gang gesetzt. Wenn wir Scham empfinden, beurteilen wir unser Verhalten oder uns als Person negativ. Da Scham zu den selbst-bewussten Emotionen zählt, sollte man eigentlich erwarten, dass es für uns leicht zu erkennen ist, wenn wir dieses Gefühl verspüren. Allerdings entzieht sich Scham meistens unserem Bewusstsein und unserer Kenntnis« (Weinblatt, 2016, S. 50). Daher zeigen wir auch die Reaktion der Rechtfertigung schneller, als uns unsere Motivation der Rechtfertigung bewusst ist. In der Regel reagieren wir schnell und denken nicht ausreichend nach, bevor wir antworten. Wir schauen nicht auf unsere Gefühle. Die Achtsamkeit für sich selbst wird nicht ernst genommen. Wir bedienen eher andere als uns selbst. Wir haben früh gelernt, Situationen oder auch Menschen zu bewerten. In unserer Gesellschaft fallen diese Bewertungen über andere, über uns selbst oder über Situationen häufig negativ aus. Der Niklas Luhmann zugeschriebene Satz »Vertrauen ist die Bereitschaft, das Risiko einzugehen, dem anderen eine gute Absicht zu unterstellen«, ist nicht immer ausführbar. Das gilt vor allem in Zeiten, in denen wir nicht voll in unserer Kraft sind, in Zeiten, in denen wir nicht zufrieden mit uns sind oder andere Dinge uns stark in Anspruch nehmen. Die Frage ist jedoch, müssen wir uns überhaupt rechtfertigen? Bislang habe ich noch keinen Menschen getroffen, der/die gesagt hätte: »Wenn ich mich rechtfertige, fühle ich mich wohl.« Es sind immer negative Gefühle damit verbunden und zumeist auch dieses: »Da habe ich mich klein gefühlt!« Wenn wir im Rechtfertigungsmodus sind, sind wir auf der Kinderebene und nicht im ErwachsenenIch. Das möchte in der Regel kein Erwachsener. Aber wie oft rechtfertigen wir unser Handeln anderen gegenüber oder für unser selbst mit Sätzen wie »Ich musste ja«, »Ich konnte nicht anders«, »Ich hatte keine andere Wahl« oder »Es wurde doch von mir verlangt«. Vielfach beginnen wir mit dem Wort »aber«, wenn wir uns rechtfertigen. Mit diesen oder ähnlichen Sätzen oder Worten geben wir die Verantwortung für unser Tun ab. Wir werden klein. Ein Weg aus dieser Rechtfertigungsfalle ist u. a., Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen, das Handeln zu erklären oder zu begründen und u. U. Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Wenn wir uns falsch verhalten oder einen Fehler gemacht haben, so ist es notwendig, dieses auch zu benennen und die

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Verantwortung dafür zu übernehmen. Wenn das gegeben ist, bewegen wir uns auf der Erwachsenenebene. Maslow ging in seiner Theorie der Bedürfnishierarchie bzw. der Bedürfnispyramide von fünf grundlegenden Bedürfnissen im Menschen aus, die das menschliche Handeln vorprogrammieren (vgl. Wikipedia, 2019a). Rosenberg (2012) sieht sogar neun Bedürfnisse am Werk, nach deren Erfüllung Menschen in ihrem Handeln streben. Wenn wir uns rechtfertigen, werden unserem Empfinden nach bestimmte Bedürfnisse nicht erfüllt, allen voran das Bedürfnis nach Wertschätzung und Anerkennung. Es ist der Versuch, mithilfe der Rechtfertigung wieder Anerkennung und Wertschätzung zu erlangen – sei es von anderen oder von uns selbst. Da mit einer Rechtfertigung auch manchmal eine Schuldzuweisung einhergeht, enthält sie nicht nur selbstzerstörerische, sondern auch aggressive Anteile. Der Grat zwischen Unterwürfigkeit und Aggression ist recht schmal. Im folgenden Beispiel möchte ich diese These illustrieren. Im Rahmen einer Mediation in einem Krankenhaus zwischen der Frühschicht und der Spätschicht auf einer Station ging es um die Einhaltung von bestimmten Arbeitsabläufen in den jeweiligen Schichten. Die Personalabteilung hatte den Auftrag zur Mediation gegeben, da beide Gruppen nicht mehr in der Lage waren, eine Übergabe zu gewährleisten, und somit viele Informationen nicht mehr weitergegeben wurden. Die Mitarbeiterinnen der Spätschicht machten den Kolleginnen der Frühschicht den Vorwurf, ihre Aufgaben nicht zu erledigen, sodass sie in ihrer Schicht immer einen hohen Anteil an Mehrarbeit hätten. Zu Beginn der Gespräche rechtfertigten sich die Mitarbeiterinnen aus der Frühschicht, dass sie das Arbeitspensum auch gar nicht schaffen könnten, und brachten zahlreiche Beispiele vor. Unter anderem führten sie an, dass am Morgen ja auch immer die Visite stattfinde und sie in dieser Zeit ihrer Arbeit auf der Station nur bedingt nachkommen könnten. Die Kolleginnen aus der Spätschicht wollten die Argumente nicht anerkennen und führten zur Bestärkung an, dass auch der Chefarzt schon gesagt habe, er sei mit der Arbeit der Frühschicht nicht zufrieden. An dieser Stelle kam eine sehr aggressive Stimmung auf. Es wurden Schuldzuweisungen hin- und hergeschoben, wer was wann mache und nicht mache. Sehr schnell wurde deutlich, dass die Mitarbeiterinnen aus beiden Schichten das Gefühl hatten, die jeweils andere würde ihre Arbeit und ihre Belastung nicht anerkennen. Dieses Gefühl spitzte die Situation so zu, dass eine Zusammenarbeit zwischen den Schichten nicht mehr möglich war. Es war in der Mediation gut erlebbar: Je mehr Argumente ausgetauscht wurden, je mehr versucht wurde, die eigene Position zu untermauern, desto mehr gab es bei einigen Teilnehmerinnen den Reflex der Flucht bzw. des Angriffs –

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Rechtfertigung vs. Schuldzuweisung. Erst als klar wurde, was jede von ihnen benötigte, um das Anliegen der anderen zu sehen, war es möglich, Lösungen zu finden. In Konflikten ist es sehr wichtig, dass sich die Konfliktparteien ihrer eigenen Bedürfnisse bewusst sind und diese auch ohne Scham äußern können. Das bedarf einer hohen Achtsamkeit für sich selbst, der Reflexion und der eigenen Erlaubnis, dass jedes Bedürfnis seine Berechtigung hat. Ob jedes Bedürfnis auch erfüllt werden kann, ist hierbei unerheblich. Friedemann Schulz von Thun unterscheidet in seinem Sender-Empfänger-Modell u. a. zwischen dem »Selbstoffenbarungs-Ohr« und dem »BeziehungsOhr« (vgl. Wikipedia, 2019d). Bei beiden Elementen sind wir schnell verführt, sogenannte Subtexte wahrzunehmen. »Unter Subtext versteht man in der Linguistik eine Ebene, die der expliziten Aussage eines Satzes als zusätzliche, implizite Bedeutungsebene unterlegt ist« (vgl. Wikipedia, 2019c). Das wurde auch zwischen den Konfliktparteien im Krankenhaus klar. Die Frage der Kolleginnen von der Spätschicht, ob es noch etwas zu tun gäbe, wurde von denen aus der Frühschicht so ausgelegt, dass gemeint war: »Habt ihr diesmal eure Arbeit ordentlich gemacht und uns nicht wieder alles überlassen?« Die Folge war eine eher unfreundliche und emotionale Reaktion statt der Beantwortung der eigentlich rein informativ gemeinten Frage, ob es noch etwas zu tun gäbe. Wenn wir unserer nicht selbst sicher sind oder denken, dass andere von uns keine gute Meinung haben, interpretieren wir in Fragen oder Bemerkungen schnell etwas vermeintlich Zwischen-den-Zeilen-Gesagtes hinein und kommen in eine Rechtfertigungshaltung bzw. sitzen dann in der sogenannten Rechtfertigungsfalle. Welchen Ausweg kann es geben, wenn wir vermeintliche Subtexte vermeintlich hören? Und wie gehen wir damit um, wenn Subtexte vielleicht auch tatsächlich so gemeint sind? Im Konzept der Neuen Autorität sprechen wir von Haltungs- und Handlungsaspekten und haben je nach Autor/-in sechs, sieben oder acht Säulen entwickelt. Eine davon ist die Selbstkontrolle. Nicht in die Rechtfertigungsfalle zu tappen, bedeutet, selbstkontrolliert zu agieren. Auch bei der Rechtfertigung gilt: »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist« (Omer u. von Schlippe, 2010). Durch das Einüben einer Achtsamkeit uns selbst gegenüber merken wir in einem Gespräch, ob wir uns wohlfühlen und in unserer Kraft sind oder ob es anfängt, innerlich zu grummeln. Bildlich gesprochen ist es im letzteren Fall notwendig, auf Abstand zu gehen. Diesen Abstand können wir mittels direkter oder indirekter Rückfragen herstellen, wie z. B. »Das verstehe ich nicht, kannst du das noch einmal erzählen?« oder »Wenn ich dich richtig verstehe, dann …«. Somit gewinnen wir Zeit, können nachdenken und werden nicht verführt, sofort eine Antwort, die eine Rechtfertigung wäre, zu geben. Vielfach werden wir auch feststellen, dass

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im ersten Augenblick von uns empfundene Subtexte gar nicht vorhanden waren. Sollten sie sich hingegen doch bestätigen, so bietet der hergestellte Abstand die Möglichkeit, dezidierter nachzufragen und für uns zu schauen, ob sich das Gesagte unseres Gegenübers für uns auch so darstellt. Wenn wir einen Fehler gemacht haben, können wir diesen an dieser Stelle einräumen und uns entschuldigen. Wenn das nicht der Fall ist, unser Gegenüber weiterhin denkt, dass seine Annahme richtig ist, so können wir mittels weiterer Fragen einen Dialog beginnen, um unsere Sichtweisen nebeneinanderzustellen und nicht gegenüberstehen zu lassen. Ab diesem Moment sind wir aus der Kette des Richtig-oderfalsch-Denkens heraus. Das ermöglicht uns, unseren Standpunkt zu vertreten. Eine andere Möglichkeit des Abstandgewinnens ist, eine Antwort zu verzögern, indem wir erst einmal hören, was uns gesagt wird, und um eine Bedenkzeit bitten: »Ich werde darauf zurückkommen. Bevor ich zu schnell antworte, werde ich darüber nachdenken, was du mir gesagt hast.« Vielfach agieren wir zu schnell und nehmen uns nicht die Zeit, die wir benötigen, um wieder zur Ruhe zu kommen und festzustellen, was für uns gut ist. Wenn wir schauen, in welchen Situationen wir uns rechtfertigen, werden wir bemerken, dass die Themen ähnlich sind. Daher ist wichtig, dass wir eine Ahnung von den »Knöpfen« haben, die gedrückt werden müssen, damit wir in die Rechtfertigungsfalle tappen. Wer oder was schafft es, uns aus dem Gleichgewicht zu bringen? Wie haben wir unsere Knöpfe erworben? Zu welchem Handeln verführen uns diese Knöpfe? Welche Unterstützung benötigen wir, damit diese Knöpfe weniger wirksam sind? Nur wenn wir eine Idee haben, was wir benötigen, um unsere Selbstkontrolle zu entwickeln und in brenzligen Situationen auch zu behalten, werden wir der Verführung der Rechtfertigung weniger erliegen. Eine weitere Säule der Neuen Autorität ist die Präsenz. Bruno Körner und Liane Stephan (2011) haben in diesem Zusammenhang ein Modell mit acht Präsenzdimensionen entwickelt, von denen ich auf sechs eingehe. Je präsenter wir sind, desto weniger sind wir in unserer Haltung zu erschüttern. Je mehr wir unserer Selbsterwartung entsprechen (ethische Präsenz), desto höher ist unsere Handlungskompetenz (pragmatische Präsenz). Das hat positive Auswirkungen auf unsere Selbstkontrolle (internale Präsenz). Um die Spirale weiter zu drehen und in einen konstruktiven Handlungsablauf zu gelangen, wird sich diese Abfolge auch auf unsere körperliche, emotionale sowie geistige Präsenz auswirken. Wenn wir gut in unseren Präsenzen sind, also gut mit uns selbst verbunden, werden wir eine wirksame Handlungskompetenz entwickeln, die das Rechtfertigen überflüssig macht. Seit 2014 führe ich mehrmals im Jahr Seminare mit dem Titel »Die Rechtfertigungsfalle« durch. Eine der dabei meistgestellten Fragen ist: »Wie unter-

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scheide ich zwischen Rechtfertigung und Erklärung oder Begründung?« In der Tat ist das ein Balanceakt. Die Neue Autorität ist eine Haltung und weniger eine Methode. Haim Omer und Arist von Schlippe haben allerdings auch Methoden entwickelt, wie die Ankündigung, das Sit-In, Telefonketten etc. Um diese Methoden im Sinne einer gewaltlosen Haltung anwenden zu können, ist es notwendig, die Haltung im Sinne der Neuen Autorität zu entwickeln. Auch die Entscheidung, ob etwas eine Rechtfertigung ist oder eine Erklärung, ist eine Frage der Haltung. Wenn wir uns selbst nicht die Erlaubnis geben, bestimmte Bedürfnisse zu haben oder eine eigene Meinung, werden wir unsicher. Innerlich stehen wir nicht zu dem, was wir begründen möchten, und kommen in einen Rechtfertigungsmodus. Eine Begründung oder Erklärung geben wir, weil wir gern möchten, dass unser Gegenüber unsere Handlungsweise versteht. Das möchte ich im folgenden Beispiel verdeutlichen: Im Eingangsbereich eines Geschäftes achtete eine Jugendliche nicht darauf, dass eine ältere Dame mit einem Rollator gerade das Geschäft betreten wollte, und ließ die Tür direkt vor ihr zufallen. Im Geschäft sprach die Dame das Mädchen erzürnt auf ihr Verhalten an. Das Mädchen sagte nur »Entschuldigung« und wollte weitergehen. Daraufhin echauffierte sich die Dame über die Unerzogenheit der heutigen Jugend. Die Jugendliche drehte sich zu der Frau um und sagte ihr, dass sie sich entschuldigt habe und normalerweise sehr auf ihre Umgebung achte. Sie habe aber gerade eine Klassenarbeit zurückbekommen, von der sie gedacht hätte, dass sie gut ausgefallen wäre, und nun sei diese mangelhaft. Da sei sie sehr in Gedanken und bei ihrem Versagen gewesen. Während das Mädchen erzählte, wurde das Gesicht der Frau weich, und sie versuchte ihrerseits nun, das Mädchen zu trösten. Als Beobachterin hatte ich nicht den Eindruck, dass sich die Jugendliche gerechtfertigt hat. Sie erzählte in einer ruhigen, wenn auch traurigen Stimme von ihrem Malheur.

Es zeigt sich an der Reaktion der älteren Dame, wie wichtig es ist, andere teilhaben zu lassen daran, was der Beweggrund für unser Handeln ist. Wenn Menschen das Gefühl haben, sie können die Gründe für etwas nachvollziehen, werden sie eher mit Verständnis und Zuwendung reagieren. Ein weiterer Aspekt ist auch, dass Menschen das Gefühl benötigen, es wert zu sein, dass ihnen die Aufmerksamkeit zugebilligt wird, die eine Begründung bedarf. Das gilt auch, wenn wir etwas ablehnen oder etwas durchsetzen wollen. Ein »Nein« ist viel leichter zu akzeptieren, wenn wir den Hintergrund kennen. Das setzt eine klare Begründung voraus und keine Rechtfertigung, bei der sich die Person, die eine Ablehnung ausspricht, klein macht. Das Gegenüber merkt sofort, dass es eine Rechtfertigung ist, und wird versuchen, die richtigen »Knöpfe« (s. o.) zu drücken,

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um ein anderes Ergebnis zu erlangen. Eine Rechtfertigung hat immer eine Spur von einer Entschuldigung oder schlechtem Gewissen, und das drückt sich sofort in der körperlichen Präsenz aus. Wenn wir in einer Rechtfertigungshaltung sind, fordern wir schon fast unser Gegenüber dazu auf, dagegen zu sprechen, uns zu überreden oder auch, uns nicht ernst zu nehmen. Der Unterschied zwischen der Rechtfertigung und der Begründung liegt wieder in der inneren Haltung, mit der wir argumentieren, warum Dinge so sind, wie sie jetzt sind. Im Grunde wissen wir sehr gut, ob wir im Rechtfertigungsmodus sind oder eine Erklärung abgeben. Manchmal stellen wir erst während wir uns rechtfertigen fest, dass wir das gerade tun. Dann ist immer noch Zeit zu sagen: »Halt, stopp!« – wir fangen nochmals neu an, wir erzählen, dass wir gerade in unsere eigene Falle getappt sind und es keinen Grund gibt, sich zu rechtfertigen. Es gibt auch immer die Möglichkeit, später auf die Angelegenheit zurückzukommen und zu erzählen, dass da wieder ein kleiner Rechtfertigungsteufel zugeschlagen hatte. Nicht in die Rechtfertigungsfalle zu tappen bedeutet, achtsam mit sich umzugehen, sich selbst ernst zu nehmen, das eigene Handeln zu reflektieren und immer innezuhalten. Hilfreich kann hierbei »A L I: Atmen, Lächeln, Innehalten« (Härtl-Kasulke, 2017, S. 142) sein. Die Hilflosigkeit bei einer Rechtfertigung weckt negative Gefühle. Aus der Neurowissenschaft wissen wir, dass beim Lächeln andere Verschachtelungen im Gehirn stattfinden als bei negativen Gedanken. Es wird ein Cocktail aus chemischen Reaktionen freigesetzt, der nicht nur unser Hirn beeinflusst, sondern im ganzen Körper zu spüren ist. Das positive Wahrnehmen wird gesteigert. Durch tiefes Ein- bzw. Ausatmen kommt der Körper zur Ruhe und hält inne. Wenn wir im Stress sind, vergessen wir zu atmen, d. h., unsere Atmung wird sehr flach. Durch diese kleine Übung hebt sich unsere Stimmung und führt zu einer positiveren Bewertung von uns selbst und anderen. In diesem Sinne liebe Leserinnen und Leser, möchte ich Sie verführen, sich nicht mehr zu rechtfertigen, sondern achtsam mit sich umzugehen und mehr Lebensqualität zu erlangen Literatur Baer, U., Frick-Baer, G. (2008). Vom Schämen und Beschämtwerden. Bibliothek der Gefühle, Band 4. Weinheim: Beltz. Chu, V., de las Heras, B. (2014). Scham und Leidenschaft (5. Aufl.). Freiburg i. B.: Kreuz. Hagemann-White, C. (1984). Sozialisation: Weiblich – männlich? Alltag und Biografie von Mädchen, Band 1. Opladen: Leske + Budrich. Härtl-Kasulke, C. (2017). Mit Wertschätzung Wert schöpfen. Das Praxisbuch für achtsame Organisationen (S. 142). Weinheim: Beltz.

Die Kraft der Klarheit

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3.8 Das Autoritätsdreieck – Neue Autorität mit alten Wurzeln in Organisation und Führung Harald Kurp und Dagmar Hoefs

Im Kontext von Organisation und Führung wird der Begriff »Neue Autorität« kritisch betrachtet. Es gab in der Vergangenheit viel Neues, das schnell an Aktualität verlor und damit nicht mehr neu war. »Neu« wird zudem häufig verwendet, um sich von etwas Altem, nicht mehr Wertgeschätztem abzugrenzen. In der Beratungsarbeit mit dem Konzept der Neuen Autorität ist uns deutlich geworden, dass es bei der Übertragung des Konzepts in den Bereich von Organisation und Führung eines Ansatzes bedarf, der nicht abgrenzt, sondern Bekanntes und Bewährtes integriert und gleichzeitig Neues entstehen lässt. Mit diesem Beitrag zeigen wir für uns hilfreiche und inspirierende Überlegungen und Übungen auf, die einem solchen Ansatz entsprechen. Wir laden ein, unsere Erfahrungen und Reflexionen nachzuvollziehen und selber auszuprobieren. Im ersten Schritt beschreiben wir, was Autorität ausmacht. Im zweiten Schritt zeigen wir mithilfe einer Übung drei unterschiedliche Haltungen zur Autorität auf. Wir nehmen eine kurze Einordnung in den gesellschaftlichen Kontext vor und verknüpfen die Haltungen mit den Ansätzen der Neuen Autorität. Darauf aufbauend stellen wir im dritten Schritt ein von uns entwickeltes Autoritätsdreieck vor. Es dient der Wahrnehmung, wie stark welche Anteile die drei Autoritätshaltungen prägen, jeweils abhängig von den beteiligten Personen und dem Kontext. Verdeutlicht wird dies an einem Beispiel aus der Beratungspraxis. Im letzten Schritt ändern wir den Fokus von der Haltung auf das Verhalten. Mit einer von uns beschriebenen Übung kann deutlich werden, mit welcher Haltung das Konzept der Neuen Autorität verinnerlicht ist und wie das Verhalten nach außen wirkt.

Was ist Autorität? Zur Herleitung des Begriffes Autorität verweisen wir auf die Beschreibungen von Frank Baumann-Habersack (2015) und Paul Verhaeghe (2016). Für unseren Weg der Reflexion von Autorität sind ihre Struktur und der

Das Autoritätsdreieck

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gesellschaftliche Kontext von Bedeutung. Wir teilen die Auffassung von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der in einem Interview sagt: »Eine Autorität, die sich legitimiert und für die es gute Gründe gibt, bleibt unerlässlich – in der Erziehung, in der Gesellschaft, in der Politik« (Fuß, 2018, S. 32). Mit dieser Aussage antwortet er im Gespräch mit Holger Fuß auf die Frage, wieso er – als einstiges Mitglied der 68er, die vielfach jede Autorität ablehnten – heute meint, dass Demokratie Führung brauche. Ähnlich sieht es Verhaeghe. Für ihn stellt sich nicht die Frage, ob wir Autorität benötigen, sondern nur, in welcher Form. Er verweist auf Hannah Arendt, nach der »eine Gesellschaft ohne Autorität nicht bestehen [kann], denn Autorität regelt die zwischenmenschlichen Beziehungen« (Verhaeghe, 2016, S. 56), und geht der zentralen Frage nach, welche Form von Autorität wir heute benötigen, um die gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Autorität beruht laut Verhaeghe auf einer dreiteiligen Struktur: 1. Eine Person, eine Gruppe oder eine Einrichtung schreibt jemandem oder etwas Autorität zu und unterwirft sich in der Folge freiwillig der Autorität. 2. Es bedarf einer Person, einer Gruppe oder einer Einrichtung, der Autorität zugeschrieben wird. Sie hat dann das Sagen, man glaubt und vertraut ihr. 3. Die Zuschreibung erfolgt aufgrund einer externen Quelle, Instanz oder Größe. Dabei handelt es sich in der Regel um gesellschaftliche Werte, die bedingt sind durch den jeweiligen Kontext (vgl. Verhaeghe, 2016, S. 50 ff.). Die Bedeutung dieser Werte bestimmt den Glauben oder das Vertrauen an und in die Autorität. Wenn diese Werte im System an Bedeutung verlieren, schwindet die Legitimation der Autorität. Autorität, die ohne entsprechende Zuschreibung und Legitimation weiter das Sagen haben will und dieses mit Gewalt durchsetzt, wird autoritär. Die Unterwerfung ist dann nicht mehr freiwillig, das Vertrauen wird zerstört und Autorität an sich infrage gestellt. Das heißt, »für sich allein kann man keine Autorität haben, welche Qualität man auch besitzt. Autorität verleihen einem Dritte, und das auf einer festen Basis: dem Glauben an das zugrunde liegende System« (Verhaeghe, 2016, S. 58).

Drei Autoritätshaltungen In unseren Beratungsprozessen begegnen uns unterschiedliche Haltungen zur Autorität. Die Wahrnehmung der Haltung und der damit verbundenen Werte trägt maßgeblich zum Erfolg eines Beratungsprojektes bei. Dies führte uns dazu, ein Modell zu entwickeln, in dem wir drei Haltungen zur Autorität berücksichtigen.

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Vertiefende Aspekte

Die drei Haltungen können mit der folgenden Übung verdeutlicht werden. Wir haben sie als Übung zur Darstellung von Eskalationsdynamiken im Rahmen der Ausbildung beim Systemischen Institut für Neue Autorität (SyNA) kennengelernt und auf unseren Kontext übertragen.

Übung Drei Haltungen mit zwei Rollen (A = Jugendlicher/Mitarbeiter; B = Elternteil/Leitung) 1. Auf Widerstand folgt Druck (symmetrischer Konflikt – Rigidität) Stellen Sie sich einander gegenüber und halten Sie beide Handflächen gegeneinander. A versucht B wegzudrücken. B hält dagegen, so stark es geht. Nehmen Sie wahr, wie es Ihnen jeweils ergangen ist. Halten Sie schriftlich fest, welche Emotionen/Bilder/Gedanken Sie wahrgenommen haben. Wechseln Sie anschließend die Rollen. 2. Auf Widerstand folgt Nachgeben (komplementärer Konflikt – Diffusion) Stellen Sie sich einander gegenüber und halten Sie beide Handflächen gegeneinander. A versucht B wegzudrücken. B hält überhaupt nicht dagegen, sondern weicht nur zurück, sodass A ins Leere läuft. Nehmen Sie wahr, wie es Ihnen jeweils ergangen ist. Halten Sie schriftlich fest, welche Emotionen/Bilder/ Gedanken Sie wahrgenommen haben. Wechseln Sie anschließend die Rollen. 3. Auf Widerstand folgt … Stellen Sie sich einander gegenüber und halten Sie beide Handflächen gegeneinander. A versucht B wegzudrücken. B versucht jetzt anders mit dem Druck umzugehen: Weder hält er dagegen noch weicht er zurück. Es ist ein eher spielerisches Ausprobieren, ohne gewinnen zu wollen. Nehmen Sie wahr, wie es Ihnen jeweils ergangen ist. Halten Sie schriftlich fest, welche Emotionen/Bilder/ Gedanken Sie wahrgenommen haben. Wechseln Sie anschließend die Rollen. In der Praxis visualisieren wir während der Übung die Wahrnehmungen auf Karten und legen sie im Raum auf den Boden, jeweils den einzelnen Haltungen zugeordnet, sodass ein Dreieck entsteht. Beispielhaft seien hier Aussagen aus einer Übung genannt: •• Zu 1.: Machtspiel, Kontrolle, Kampf, anstrengend, braucht Kraft, jetzt will ich es umso mehr, Wut, Druck, starr, diktatorisch. •• Zu 2.: Ohnmächtig, Frust, allein gelassen, Trauer, haltlos, grenzenlos, ich muss nicht gegenhalten, Enttäuschung, Irritation, Ärger, dass keine/r da ist, undefiniert, Freiheit, Beliebigkeit, nicht richtungsgebend. •• Zu 3.: Wachsamkeit ohne Kämpfen, Irritation, Lachen, angenehme Unterstützung, Sicherheit, Gelassenheit.

Das Autoritätsdreieck

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Die in der Übung beschriebenen Haltungen verknüpfen wir mit drei Autoritäts­ haltungen und ihrem historischen Kontext in Deutschland, so wie es Haim Omer und Arist von Schlippe (2010, S. 23 ff.), Frank Baumann-Habersack (2015, S. 71 ff.) und Paul Verhaeghe (2016) beschrieben haben. Die Autoritätshaltung 1 (im Weiteren A1) war bis in die 1970er Jahre vorherrschend. Regeln, Kontrolle und Grenzen hatten einen hohen Wert, da sie für Ordnung und Sicherheit sorgten, wenn auch des Öfteren durch Unterwerfung. Der Vater als Ernährer und Patriarch hatte das Sagen, nicht nur im Haus: »Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, tust du, was ich dir sage.« Einsatz von Gewalt war normal und wurde als notwendig angesehen: »Wer sein Kind liebt, der züchtigt es – das hat noch niemandem geschadet.« Über Gefühle wurde wenig gesprochen. Autorität war nicht verhandelbar. Die Tradition, eine höhere Wahrheit/Gott und die Angst vor der Strafe/Hölle bildeten seit Jahrhunderten die Grundlage dieser Autorität. Entsprechend galten der Pfarrer, der Lehrer, der Arzt und der Bürgermeister als Autorität. In Organisationen wurde die Struktur abgebildet durch die Pyramide. Hierarchische Leitungsebenen von oben nach unten gaben Orientierung durch Vorgabe und Ausführung. Leitung legitimierte sich aus der Funktion in der Hierarchie. Mitarbeitende hatten eine geringe Verantwortungsbeteiligung. Die Autoritätshaltung 2 (im Weiteren A2) entwickelte sich im Aufbruch der 68er-Bewegung. Mit der sozialen Revolte, ausgehend von den Universitäten (»Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren«), wurden die Tradition als Wert und damit auch klassische Autoritäten infrage gestellt. Mit dem Einzug der antiautoritären Bewegung in die Erziehung stand die Entwicklungsautonomie des Kindes mit den Idealen Eigenständigkeit und freie Entwicklung im Vordergrund. Zum Teil führte dies dazu, dass gar keine Erziehung mehr stattfand: »Das soll das Kind allein entscheiden.« In der Auseinandersetzung mit der Haltung und den Werten in der Haltung von A1 zeigten sich die Positionen aus der Haltung A2 entweder aktiv im Widerstand, der auch gewalttätig werden konnte, oder passiv in einer sich entziehenden Abwesenheit: »Um des lieben Friedens willen lassen wir das.« In Organisationen entstanden abgeflachte Strukturen. Teamarbeit rückte in den Vordergrund. Soziale Organisationen, die in dieser Zeit entstanden, wurden basisdemokratisch strukturiert. Eine offizielle Leitungsrolle und damit legitimierte Autorität Einzelner wurde abgelehnt. In den 1990er Jahren entwickelte sich in der Erziehung ein Schwanken zwischen einem rigiden Zurück zu der Haltung aus A1 und kindlicher Selbstüberhöhung aus der Sichtweise der Haltung A2. Verstärkt wurde dies durch die Auflösung klassischer Familienbeziehungen und die Entgrenzung der Arbeits-

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Vertiefende Aspekte

welt. Kinder wurden zu Projekten, die die emotionalen Bedürfnisse der Eltern erfüllen sollten. Das sorgte für ein Fehlen von Halt und Grenzen. Hier setzt die Autoritätshaltung 3 (im Weiteren A3) an, für die Haim Omer mit seinem Ansatz der Neuen Autorität steht. Er schafft eine neue Legitimation für Autorität, deren Quelle die Präsenz ist und die auf Gewaltlosigkeit ausgerichtet ist. In Abgrenzung zu der Haltung A1 formuliert Omer mehrere Bausteine als Positionen einer Haltung von A3 (Omer u. von Schlippe, 2010, S. 204 ff.). Martin Lemme und Bruno Körner benennen in der Weiterentwicklung des Ansatzes der Neuen Autorität neben der Präsenz als zentralem Element sechs weitere Haltungs- und Handlungsaspekte, in die sie die Bausteine von Omer aufnehmen (Lemme u. Körner, 2018). Haben die oben genannten Mitbegründer des Konzepts der Neuen Autorität dieses bisher als Antwort auf Autoritätsfragen in der Erziehung gesehen, so wird zunehmend deutlich, dass auch Organisationen und Führungskräfte vor diesen Fragestellungen stehen. Organisationen müssen die Herausforderungen von Globalisierung, Digitalisierung und einem zum Teil erheblichen Fachkräftemangel bewältigen. Die neuen Generationen, die mit der Infragestellung der Werte und Positionen aus Haltung A1 durch die veränderte Orientierung der Haltung A2 aufgewachsen sind, passen sich nicht mehr widerstandslos den alten Strukturen an. Hier überträgt Frank Baumann-Habersack (2015) den Ansatz der Neuen Autorität auf den Kontext von Organisation und Führung. Er verwendet den Begriff »horizontale Autorität« und benennt sieben Elemente als Fundament einer neuen Haltung bezüglich Führung. Die Präsenz ist dabei ein Element. Auch er verdeutlicht die Elemente vor allem in der Gegenüberstellung zu der Haltung A1 (siehe Kapitel 2.9). Die bisherigen Auseinandersetzungen zum Thema »Neue Autorität« erfolgten überwiegend in Abgrenzung und Gegenüberstellung zu vorherrschenden Begrifflichkeiten. In der Weiterentwicklung und der Übertragung für den Bereich von Organisation und Führung sehen wir es jedoch als hilfreich an, sie zusammenzuführen und zu erweitern. Dem folgend haben wir uns mit den verschiedenen Begrifflichkeiten auseinandergesetzt. Wir haben die Einordnung in sieben Felder und die Begrifflichkeiten aus den Ansätzen von Omer, Lemme und Körner sowie Baumann-Habersack aufgegriffen, zusammengeführt und ergänzt (siehe Tabelle 1). Entscheidend bei der Zuordnung waren unsere Erfahrungen aus Beratung und Fortbildung. Die sieben Felder beeinflussen sich gegenseitig und sind voneinander abhängig. Wir verstehen die Zuordnung und die Begriffe nicht als definitorisch abschließend, sondern öffnend für den gemeinsamen reflexiven Diskurs.

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Das Autoritätsdreieck

Den Begriff »alt« verwenden wir hier nicht mehr, und den Begriff »neu« haben wir bewusst in Anführungszeichen gesetzt. Wir folgen darin Verhaeghe, der in dem Ansatz der Neuen Autorität von Omer eine praktische Antwort darauf sieht, welcher Form der Autorität es heute bedarf (Verhaeghe, 2016, S. 148 ff.). Jedoch ersetzt er das Wort »neu« durch »kollektive« oder »geteilte« Autorität, denn »›Neu‹ ist in ein paar Jahren schon verschlissen und lässt keine inhaltlichen Schlüsse zu« (Verhaeghe, 2016, S. 238). Tabelle 1: Drei Autoritätshaltungen A1 herkömmlich, t­ raditionell, vertikal, patriarchal, autoritär

A2 antiautoritär, verweigernd, abwesend, zurückhaltend, laisser faire

A3 »neu« geteilt, kollektiv, h ­ orizontal, systemisch, selbstreflektiert

Respekt durch Furcht und Distanz, eigene Ziele im Fokus

Gleichmacherei mit ­ renzenlosigkeit, ablehG nend, andere/keine Ziele im Fokus

Beziehung durch Präsenz aus Verantwortung, gemeinsame Ziele im Fokus

Einfluss ausüben, Bewerten/Belehren

Einfluss empfangen/richten gegen, Betroffenheit

Reflexion, Haltung, Werte, Entscheidung

Kontrolle, Dringlichkeit, Unmittelbarkeit

Kontrollverlust, ­Attackieren, Ignoranz, Beliebigkeit

Selbstkontrolle, Aufschub, Deeskalation

Ich – Du, Hierarchie, ­ lleingang, Konkurrenz, A selbstbezogen

mit sich selbst beschäftigt, allein lassen, unverbunden, »Grüppchenbildung«

Wir, Vernetzung, Koalition, Kooperation

Willkür, Instrumentalisierung

Unentschlossenheit, Desinteresse

Transparenz, Öffentlichkeit

Druck, Gehorsamkeit

Gleichgültigkeit, Aussitzen

Beharrlichkeit, Gegenüber auf Augenhöhe

Immunität gegen Kritik, Sanktionen, Vergeltung

indifferent, regellos

Fehlerfreundlichkeit, Wiedergutmachung

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Vertiefende Aspekte

Das Autoritätsdreieck Wie bereits in der obigen Übung beschrieben, verbinden wir in Beratungsprozessen mithilfe von Raumankern die oben beschriebenen Haltungen und ihre Begrifflichkeiten mit den auf dem Boden visualisierten Wahrnehmungen aus der Übung. Die Raumanker werden von uns als A1, A2, A3 für die jeweiligen dahinterstehenden Haltungen benannt. Das sich so im Raum abbildende Dreieck bezeich­ nen wir als Autoritätsdreieck, das in Abbildung 1 schematisch dargestellt ist. A1 Herkömmlich Traditionell Vertikal Patriarchal Autoritär

A2 Antiautoritär Verweigert Abwesend Zurückhaltend Laisser-faire

A3 „neu“ Geteilt Kollektiv Horizontal Selbstreflektiert Systemisch

Abbildung 1: Das Autoritätsdreieck

Das Autoritätsdreieck kann hilfreich sein, um die eigene Haltung in einer konkreten Situation zu reflektieren. Es geht darum, bei sich selbst wahrzunehmen, welche Anteile der drei Haltungen in der Situation zum Tragen kommen. Hierfür wird das auf dem Boden dargestellte Autoritätsdreieck als Aufstellungsrahmen genutzt, in dem sich die Person mit ihrer Haltung verortet. Die Zuordnungen und Begriffe aus der obigen Tabelle 1 können hierbei hilfreiche Gedankenanstöße für die Reflexion geben: •• Wie fühlen sich die verschiedenen Positionen im Dreieck an? •• Was gibt es für Unterschiede? •• Wo ist für die konkrete Situation der stimmigste Platz? Hilfreich ist eine Frage nach der Aufteilung in Prozent. Wir haben noch nie erlebt, dass nach tieferem Wahrnehmen jemand sagte, er würde bei sich zu 100 % die jeweilige Haltung von A1, A2, oder A3 erleben, auch wenn die Haltung A3 vielleicht zu 100 % die gewünschte Zielhaltung wäre.

Das Autoritätsdreieck

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In der Wahrnehmung der Anteile von Orientierungen aus A1, A2 und A3 ist eine Arbeit mit Wahrnehmungsfiltern, wie Frank Baumann-Habersack sie vorschlägt, eine Unterstützung (vgl. Baumann-Habersack, 2015, S. 46 ff.). Jeder Mensch bewertet eine Situation, die er nicht sofort verstehen kann, mithilfe eines alten Musters, das möglichst gut auf diese Situation passt. Diese sogenannten Filter färben unser Denken, ohne dass dies häufig bewusst ist. Aus Sicht von Baumann-Habersack wirkt es sich aus, welche Präferenzen und Neigungen durch die Persönlichkeitsstruktur bestehen, welche Rollenmodelle von Autorität in der Biografie erlebt wurden, welche Werte prämiert werden, wie groß das Wissen ist und wie stark die aktuelle Anspannung erlebt wird. Bewertungen und Abwertungen sind ein normaler Vorgang. Abwertungen können bei der Arbeit mit dem Autoritätsdreieck eintreten, wenn jemand bemerkt, dass er nach einem alten Muster handelt, obwohl eine Haltung von A3 das Ziel ist. Die daraus entstehenden Enttäuschungen gilt es in einer guten Form aufzuheben. Hier haben wir im Einzelcoaching mit der Bearbeitung von Selbst- und Fremdvorwürfen sowie parafunktionalen Loyalitäten mittels PEP nach Dr. Michael Bohne gute Erfahrungen gemacht (siehe auch Lemme u. Körner, 2018, S. 195 ff.). Es kann ebenfalls passieren, dass aus den beiden Haltungen A1 und A2 heraus eine Sichtweise erfolgt, die nur ein »Entweder-oder« zulässt. Dies führt zur Entwertung der anderen Werte. Eine reflektierte Haltung aus A3, die bewusst eingenommen wird, ermöglicht es, die vermeintlich gegensätzlichen Werte in ein »Sowohl-als-auch« oder ein »Und-zugleich« zu bringen. Dies gelingt, wenn die positive Intention wahrgenommen werden kann, die möglicherweise hinter den als schwierig erlebten Verhaltensweisen liegt. Eventuell lassen sich sogar Momente benennen, in denen mit den jeweiligen Haltungen A1 und A2 hilfreiche Erfahrungen gemacht wurden. Dazu haben wir im Folgenden exemplarisch einige positive Intentionen zusammengefasst.

Autorität – Die drei Haltungen und ihre Intention A1 – hierarchisch, vertikal, traditionell, patriarchal, herkömmlich •• Es muss klar sein, wer hier das Sagen hat, sonst läuft es aus dem Ruder. •• Mit Regeln, Kontrolle und Konsequenzen halte ich den Rahmen und sorge für die nötige Ordnung. •• Ich stehe hier fest und werde das auf jeden Fall allein durchstehen. •• Das muss jetzt sofort geklärt werden, damit alle sehen, worum es geht. •• Das soll jeder mitbekommen, damit allen klar ist, wie hier die Regeln sind.

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Vertiefende Aspekte

A2 – antiautoritär, Ablehnung/Verweigerung von Autorität, abwesend, zurückhaltend •• Das schafft er/sie allein und soll es auch allein entscheiden. •• Da halte ich mich raus, dafür sind andere zuständig. •• Das sollen alle gemeinsam entscheiden. •• Die Zeit regelt das von allein, da muss ich mich nicht einmischen. •• Das müssen nicht alle mitbekommen, es darf unter uns bleiben. A3 – horizontal, geteilt, kollektiv, selbstreflektiert, systemisch •• Ich bin da, ich habe an dir als Person Interesse und bleibe in der Beziehung. •• Ich sehe dich mit deinen Bedürfnissen und bleibe da, auch wenn es schwierig wird. •• Ich bleibe nicht allein und hole Unterstützung hinzu. •• Ich muss das nicht sofort klären, werde aber beharrlich darauf zurückkommen. •• Ich mache das öffentlich zum Schutz für alle Beteiligten. Nachdem das Autoritätsdreieck zunächst für die Reflexion der eigenen Anteile genutzt wurde, erfolgt eine Auswertung mit Blick auf die beteiligte/n Person/ en. Hilfreich sind folgende Fragestellungen: •• Wo verorten wir die anderen Personen? •• Wo würden sich die anderen Personen selbst verorten? •• Welche Anteile wirken bei den anderen am meisten? •• Wie werden wir von den andern beeinflusst? •• Wie werden eigene Anteile von uns dadurch aktiviert oder deaktiviert? Je nach Anzahl der Beteiligten ist ein mehrfaches Durchlaufen des Autoritätsdreiecks möglich. Als Drittes wird die Organisationskultur im Hinblick auf das Thema »Autorität« im Autoritätsdreieck verortet. Hilfreiche Fragestellungen könnten sein: •• Wo ist die Organisation als Ganzes mit ihrer Organisationskultur aktuell verortet? •• Hat es im Laufe der Geschichte der Organisation Veränderungen gegeben? •• Gibt es Abteilungen, die sich unterschiedlich verorten? In der Zusammenschau aller drei Verortungen (eigene Haltung, beteiligte Personen, Organisation) ergeben sich häufig Klärungen, die für ein anderes Verstehen der Situation sorgen und eine größere Handlungsfähigkeit ermöglichen. Durch die Reflexion, die Integration und manchmal auch Akzeptanz der eige-

Das Autoritätsdreieck

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nen und fremden Anteile der jeweiligen Haltungen von A1 und A2 kann sich außerdem eine Stärkung der eigenen Haltung von A3 entwickeln. Beispielhaft sei der Fall einer jungen Führungskraft genannt, die mit einer für sie irritierenden Situation in das Coaching kam. Sie berichtete von einer Sitzung im Aufsichtsrat, bei der sie mit einer anderen Führungskraft in die Konfrontation gegangen war und sie nach ihrer Wahrnehmung vor allen bloßgestellt hatte. Von den Mitgliedern des Aufsichtsrates bekam sie jedoch die Rückmeldung, dass sie eine klare Haltung und Führungsstärke gezeigt habe. Wenngleich die Situation zu einer höheren Akzeptanz ihrer Rolle führte und dadurch ihre Position im Unternehmen gestärkt wurde, war die ratsuchende Führungskraft mit dem Ausgang der Konfrontation nicht zufrieden. In der Arbeit mit dem Autoritätsdreieck kamen wir im Coaching zu folgenden Erkenntnissen: Grundsätzlich entspricht ihre eigene Wunschhaltung der von A3, da sie überzeugt ist, dass in einer klaren und präsenten Haltung, verbunden mit Empathie und Reflexion, die Zukunft liegt, sowohl im Hinblick auf die Kunden ihrer Abteilung als auch auf die sich verändernde Mitarbeiterschaft. Gleichzeitig hatte sie eine heimliche Lust erlebt, aus der eher autoritären Haltung A1 zu agieren, was sie irritierte, zumal es so gute Rückmeldungen gab. Hier kam sie in ihrer eigenen Haltung mit den Werten der Haltungen A1 und A3 in Konflikt. Im Blick auf die Beteiligten wurde klar, dass diese zum größten Teil aus den eher traditionellen Werten der Haltung A1 agiert hatten – es waren alles ältere Männer aus Unternehmen, die mit einem patriarchalen Verständnis der Haltung A1 groß geworden waren. Im Blick auf das Unternehmen und ihre Abteilung wurde deutlich, dass die Wurzeln des Unternehmens in genau diesem Verständnis der Haltung A1 lagen. Die vorherige Abteilungsleitung hatte dagegen vor allem aus einem eher abwesenden und sich entziehenden Leitungsverständnis der Haltung A2 heraus geführt. Durch die Reflexion mithilfe des Autoritätsdreiecks wurde der Führungskraft deutlich, dass die Mitarbeiter ihrer Abteilung ihr gegenüber aus einem Führungsverständnis der Haltungen A1 und A2 heraus agierten und von ihr eine entsprechende Führung einforderten. Ihr wurde deutlich, wo sie verführbar war und sich entgegen dem verhielt, was ihrer Wunsch- und Zielhaltung entsprach. Die Bewusstmachung der unterschiedlichen Autoritätsanteile hatte bei der Führungskraft zu einem stärkeren Selbst-Bewusstsein geführt. Sie konnte für sich klären, wie sie künftig ihre Anteile aus der Haltung A1 besser wahrnehmen und in ihre Wunschhaltung aus A3 integrieren könnte. Gleichzeitig wurde deutlich, dass auch ihre Anteile der Haltung A2, die sie selbst bisher nicht wahrgenommen hatte, mit von Bedeutung waren, da sie je nach Kontext mit aktiviert wurden und sich dann entgegen ihrer Wunschhaltung A3 verhielten.

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Vertiefende Aspekte

Auf die Haltung kommt es an – am Verhalten wird es deutlich Während wir mit der Übung zum Autoritätsdreieck die verschiedenen Haltungen zum Thema »Autorität« betrachtet haben, bietet sich die folgende Übung an, um das aus der Haltung abgeleitete Verhalten zu reflektieren. Nicht immer ist das, was ich mir wünsche, auch das, was ich wirklich mache. Dieses Phänomen bemerkten wir in einer Teamweiterbildung. Die formulierte Haltung und das Verhalten Einzelner stimmten nicht überein. Einerseits waren sie überzeugt vom Konzept der Neuen Autorität und meinten, sie würden es zum größten Teil bereits umsetzen. Andererseits erlebten Teammitglieder und wir ein Verhalten und einen Umgang gerade auch mit Interventionen, die eher einer Haltung von A1 und A2 entsprachen. Wir hatten mit dem Autoritätsdreieck gearbeitet, eine Gegenüberstellung der Selbst- und Fremdwahrnehmung führte eher zu Diskussionen über Begriffsdefinitionen als zu weiterführenden Reflexionen. Um ein anderes praktisches Erleben für das Team zu ermöglichen, haben wir die Intervention des Schweigenden Gesprächs (Lemme u. Körner, 2018, S. 131) aufgegriffen und dazu eine Übung entwickelt. Diese ist unten dargestellt und wurde im Kontext von Kinder- und Jugendhilfe durchgeführt. Für den Führungskontext ist eine entsprechende Anpassung notwendig. Für die Übung verdeutlichen wir im ersten Schritt noch einmal die Haltungen A1, A2 und A3 aus Tabelle 1 und ihre positiven Intentionen aus dem obigen Abschnitt »Autorität – Die drei Haltungen und ihre Intentionen«. Im nächsten Schritt erfolgt die Übung zum Schweigenden Gespräch, wie wir sie im Folgenden beschreiben.

Übung 

Schweigendes Gespräch mit Haltung A1, A2 und A3

Rollen: E = 1–2 Erzieher/-innen  K = Kind/Jugendlicher B = Beobachter/-in Die Übung wird dreimal mit je unterschiedlicher Haltung (A1, A2, A3) von E durchgeführt. Es hat von K ein Verhalten gegeben, das nicht hinzunehmen ist und auf das E mit je unterschiedlicher Haltung A1, A2, A3 reagiert. E legt für sich eine Reihenfolge fest, ohne diese B und K mitzuteilen. B sucht sich am Rand einen Raum und beobachtet nur. K findet sich in seine Rolle ein, sucht sich einen Platz im Raum, wo es für die Übung bleibt, und nimmt nur schweigend wahr, wie E ihm begegnet und was es auslöst. E findet sich schweigend in seine Rolle und die gewählte Haltung A (1, 2, 3) ein. E wählt eine Position im Raum und zu K, die seine Haltung A (1, 2, 3) ausdrückt,

Das Autoritätsdreieck

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und sagt in dieser Haltung A (1, 2, 3): »Dein Verhalten dulde ich nicht, wir brauchen dafür eine Lösung.« Dann schweigt E zwei Minuten lang und versucht dabei gedanklich und körperlich in der Haltung A (1, 2, 3) zu bleiben. E schließt in Haltung A (1, 2, 3) mit dem Satz: »Heute haben wir keine Lösung gefunden.« Alle nehmen kurz in Stille ihre Beobachtungen und Empfindungen wahr und notieren sich diese. E und K schütteln sich einmal und führen die Übung erneut mit anderer Haltung A (1, 2, 3) von E durch. Nach den drei Durchgängen tauschen Sie sich bitte wie folgt aus: K sagt zunächst, welche Unterschiede wahrgenommen wurden, was es glaubt, welches die jeweilige Haltung (A1, A2, A3) war, und was die jeweilige Haltung ausgelöst hat. B teilt die Beobachtungen und Wahrnehmungen mit. E sagt, welche Reihenfolge gewählt und was jeweils wahrgenommen wurde. Überlegen Sie abschließend gemeinsam, was die jeweilige Haltung unterstützt und was eventuell dazu beigetragen hat, dass eine Haltung A (1, 2, 3) anders ankam, als sie intendiert war.

Mit dieser Übung wird deutlich, mit welcher Haltung das Schweigende Gespräch im Verhalten umgesetzt wird: Wird es nur als eine Intervention verwendet, mit der ein gewünschtes Ziel erreicht werden soll oder wird eine Haltung stimmig mit hoher Präsenz ausgedrückt, die eine entsprechende Wirkung zeigt? Es kann zu Irritationen führen, wenn Durchführende erleben, dass in der Fremdeinschätzung Anteile aus den Haltungen A1 und A2 sichtbar werden, die nicht mit dem eigenen Selbstbild der Haltung A3 zusammenpassen. Ähnlich wie in der Arbeit mit dem Autoritätsdreieck kann ein Reflexionsprozess dazu beitragen, diese Anteile neu wahrzunehmen. Häufig bilden diese Anteile dann die Wurzeln einer wachsenden Haltung A3.

Ausblick Indem wir die drei Autoritätshaltungen nebeneinanderstellen, haben wir einen Ansatz entwickelt, der wertschätzend Bewährtes und Bekanntes integriert und zugleich die Haltung A3 stärkt. Mit unserem Ansatz gelingt es, latente Werte und unbewusste Muster im Kontext von Organisation und Führung sichtbar

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Vertiefende Aspekte

zu machen. Dadurch wird eine konstruktive Entwicklung mit Blick auf die Wunschhaltung A3 in der Organisation ermöglicht. Wie genau diese Haltung A3 bezeichnet wird, bleibt für uns offen und vom Kontext abhängig. Für unseren Beratungsansatz für den Bereich von Organisation und Führung könnte der Begriff »geteilte«, »kollektive«, »horizontale« oder »systemische« Autorität anschlussfähiger sein als Neue Autorität. Letztlich glauben wir nicht, dass »die« richtige Definition, so wie eine Haltung A1 es einfordern würde, oder eine ergebnisoffene Diskussion, die eine Haltung A2 favorisieren würde, dem Ansatz der Neuen Autorität gerecht werden. Vielmehr gilt es aus unserer Sicht, sich immer wieder neu in der je eigenen Selbstreflexion und im Miteinander einer Autoritätshaltung zu vergewissern, die zu angemessenen Antworten auf die Herausforderungen der Zeit führt. Vielleicht ist dies eines Tages A4 oder A5. Literatur Baumann-Habersack, F. (2015). Mit neuer Autorität in Führung. Warum wir heute präsenter, beharrlicher und vernetzter führen müssen. Wiesbaden: Springer. Fuß, H. (2018). »Aber führen muss man«. Gespräch mit Winfried Kretschmann. Cicero. Magazin für politische Kultur, 5/2018, 30–37. Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Päda­ gogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Omer, H., von Schlippe, A. (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Verhaeghe, P. (2016). Autorität und Verantwortung. München: Anje Kunstmann.

3.9 Kluge Netzwerke Claudia Seefeldt und Tobias von der Recke Alloa is im Himmi ned schee. (Allein ist es auch im Himmel nicht schön.) Bayerische Redensart

Weshalb Vernetzung gerade heute so wichtig ist – ein Alternativentwurf zur Abgrenzung Einer der wichtigsten und wirksamsten Aspekte des Ansatzes der Neuen Autorität ist der Aufbau und die Nutzung von Unterstützernetzwerken. Gleichzeitig stellt dieser Aspekt vermutlich auch eine der größten Herausforderungen dar. Wenn wir uns ernsthaft in Netzwerken organisieren und daraus gegenseitige Unterstützung erfahren, bedeutet dies, dass wir eine Stärkung unserer Präsenz erleben und unsere Handlungsmöglichkeiten erweitern. Es bedeutet aber auch, dass wir gezwungen sind, unser persönliches Handeln zu reflektieren. Es könnte passieren, dass dabei unsere nicht so lieb gewonnenen und als Schwäche wahrgenommenen Seiten sichtbar werden. Eltern, Lehrkräfte, Erziehende und Betreuungspersonen kostet es in der Regel Überwindung, um Unterstützung anzufragen und Netzwerke zu aktivieren. Gerade in Schulen herrscht häufig das Glaubensmuster: »Es muss mir schon wirklich schlecht gehen, und ich muss richtig leiden, damit ich um Unterstützung bitten darf.« Das führt dann dazu, dass Hilfe erst erbeten wird, wenn die Situation bereits eskaliert ist. Kontinuierlich gepflegte und verlässliche Unterstützernetzwerke können dieses Muster unterbrechen. Der Sozialwissenschaftler und Organisationsentwickler Edgar Schein hat die Aussage geprägt: »If in doubt, share the problem!« Er fordert, Führung in Organisationen neu zu überdenken, eine Führung zu schaffen, die im Einklang steht mit Beziehungsaufbau, komplexer Zusammenarbeit, Diversität und mit Organisationskulturen, in denen sich jeder sicher und geschützt fühlen kann (Schein, 2018). In einer groß angelegten wissenschaftlichen Studie innerhalb des Google-Konzerns wurde untersucht, dank welcher Faktoren Teams besonders innovativ sind. Die fachlichen Fähigkeiten der Teammitglieder erwiesen sich hierbei überraschenderweise als zweitrangig. Der Faktor »psychologische Sicherheit« dominierte alle anderen bei Weitem. Mit psychologischer Sicherheit ist gemeint, wie leicht sich die Teammitglieder dem Risiko aussetzen können, sich

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gegenüber den anderen zu exponieren, etwa mit Vorschlägen, Fragen, Kritik oder Unwissenheit. Der Faktor betrifft das Gefühl, das Teammitglieder in Situationen haben, die potenziell peinlich oder unangenehm sein könnten (Rozovsky, 2015). Der Volksmund sagt: »Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude«. Da scheint viel Wahres dran zu sein. Aktuell sind die Begriffe Netzwerk und »netzwerken« geradezu inflationär geworden – nicht zuletzt auch durch die fortschreitende Digitalisierung sowie Vernetzungstechnologien (der Begriff »Netzwerk« kommt nicht von ungefähr ursprünglich aus der IT-Welt1). In Unternehmen und Start-ups sind agile Arbeitsmethoden wie Scrum und Design Thinking angesagt, die allesamt auf co-kreative Prozesse im Zuge von grenzüberschreitender Zusammenarbeit und Vernetzung setzen. Klassische Trennungen von Abteilungen und Bereichen werden aufgehoben. Statt auf herkömmliche wird auf kreisförmige Netzwerkbzw. Organisationsstrukturen gesetzt wie bei den Ansätzen der Holokratie2 und Soziokratie3. Dabei wird gern vergessen, dass uns Denken und Handeln in Netzwerken keineswegs in die Wiege gelegt wurde, im Gegenteil, es sieht so aus, als müssten wir diese Tugend in mühevoller Kleinarbeit (wieder) erlernen. Vielleicht drückt der häufige Gebrauch der Vokabel Netzwerk auch die Sehnsucht von Menschen nach mehr Miteinander als Gegeneinander aus in einer Zeit, in der es in vielen Lebenswelten eher um Gewinnmaximierung, Selbstoptimierung und Konkurrenz geht. Gleichzeitig sind Individualität und Autonomie zu prägenden Maximen in der Entwicklung von Lebensentwürfen in der westlichen Welt geworden. Vor diesem Hintergrund hat der Schlüsselbegriff »Unterstützungssysteme« im Konzept Haim Omers nicht nur eine pragmatische, sondern durchaus auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Dieses Unterstützungspostulat fußt auf der immer wiederkehrenden Erfahrung, dass zahlreiche Probleme im Leben von Familien, Einrichtungen, Organisationen, Unternehmen oder Gemeinden 1 Als Netzwerk bezeichnet man dort den Verbund mehrerer Rechner oder Rechnergruppen zum Zweck der Datenkommunikation. 2 Holokratie: »[…] Systemik, die Entscheidungsfindungen ›mit durch alle Ebenen hindurch gewünschter Transparenz und partizipativen Beteiligungsmöglichkeiten‹ in großen Netzwerken und vielschichtigen Unternehmen eine günstige Struktur gibt« (Wikipedia, 2019b). 3 Soziokratie: »[…] Organisationsform, mit der Organisationen verschiedener Größe […] konsequent Selbstorganisation umsetzen können. […] Ihr Hauptziel besteht in der Garantie einer Untergrenze für soziale Sicherheit, weil ein Ignorieren von Bedürfnissen strukturell vermieden wird. Die Mitglieder einer Organisation entwickeln Mitverantwortung kollektiver Intelligenz sowohl für den Erfolg der Organisation als Ganzes als auch für jeden Einzelnen« (Wikipedia, 2019c).

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nicht individuell zu lösen sind, sondern der Kraft und der Kompetenzen einer Gemeinschaft bedürfen. »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen« – dieses afrikanische Sprichwort ist eine weitverbreitete Metapher geworden, der wir sehr zustimmen. Gleichzeitig sehen und erleben wir, dass diese »Dörfer« nicht mehr selbstverständlich sind, sondern neu erfunden und zum Leben erweckt werden müssen, wenn »neue Autorität« tatsächlich aus der Gemeinschaft kommen soll. In diesem Kapitel soll davon die Rede sein, wie unterstützende Vernetzung in den verschiedenen Kontexten gelingen kann, welche Voraussetzungen es dafür braucht und welche Stolpersteine sich auf dem Weg befinden können. Das Denken und Handeln in Netzwerken stellt eine große Herausforderung dar, insbesondere für die Menschen, die gerade in Not sind und im Dienste der Selbstsicherung eher Strategien des Rückzugs, der Abschottung und der Geheimhaltung wählen. Das hat viel mit Ohnmacht und Scham zu tun, weshalb wir uns auch diesen Themen zu widmen haben. Wenn »Stärke statt Macht« in Unterstützungssystemen Wirklichkeit werden soll, braucht es auch und gerade den guten Kontakt zwischen allen Beteiligten, wenn es richtig schwierig wird oder geworden ist. Mit anderen Worten: Zu wirklicher Stärke, die auf Macht verzichten kann, kommen wir erst, wenn wir auch in gutem Kontakt mit unseren Erfahrungen der Ohnmacht sind. Oder noch einfacher: Stärke braucht die aufrichtige Akzeptanz der Schwäche. Und wir brauchen eine Rhetorik, die Bündnisse schafft und nicht verhindert.

Was macht Netzwerke so schwierig? Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der ich (Tobias von der Recke) lange Zeit gearbeitet habe, war, wie die meisten solcher Kliniken, sehr überzeugt von dem, was sie tat. Dieses starke Selbstbewusstsein ging in den großen Morgenkonferenzen gern einher mit einer eher abwertenden Haltung gegenüber anderen Professionen und Institutionen wie Jugendhilfe, Schule oder niedergelassenen Kollegen. Das war verlockend und vermittelte mir das Gefühl, auf der Seite derer zu stehen, die es wirklich »können«, während die anderen … »Wenn doch nur alle so denken würden wie wir, es wäre so viel leichter!«, war meine Einstellung. Aber Jugendämter, Jugendhilfeträger, Schulen und andere dachten natürlich nicht so wie wir, und ich wurde neugierig, zu erfahren und zu verstehen, wie sie dachten und vor welchen Hintergründen. Nach zwei Jahren Klinik hatte ich verstanden, dass wir auch nur mit Wasser kochten und dass Kinder, Jugendliche und Eltern ihre Not, ihre Bedürftigkeit

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und ihre Familiengeschichten manchmal in einer Art inszenierten, dass wir in der Klinik an unsere Grenzen kamen. Neben vielen wirklich gelungenen Verläufen und Entwicklungen interessierten mich diese »schwierigen« Geschichten mehr und mehr. Ich suchte Verbündete und merkte schnell, dass sich über diese schwierigen Geschichten am besten in eher konspirativen Zirkeln und informellen Netzen sprechen ließ. Morgenkonferenzen und Visiten waren da eher schwierig, manchmal ist es aber auch dort gelungen. Warum war es schwierig, an Stellen der Hilflosigkeit und Ohnmacht ins Gespräch zu kommen? Es war schwierig, weil es Ohnmacht in der offiziellen Sprache des Hauses nicht gab; auch in kinder- und jugendpsychiatrischen Lehrbüchern war darüber nicht viel zu finden. Es war schwierig, weil Dialoge über Ohnmacht das Selbstbild des Hauses in Gefahr zu bringen drohten und man nicht ganz sicher war, was das für einen selbst bedeuten könnte. Erst später habe ich verstanden, dass es auch deshalb schwierig war, weil es mich (und uns) mit Scham in Berührung brachte, Scham darüber, in manchem Fall gescheitert zu sein oder zu scheitern zu drohen. Weil Scham eines der unangenehmsten Gefühle ist, lernen wir früh Strategien, sie abzuwehren. Eine gute Schamabwehr ist die Delegation der Verantwortung: »Die Eltern hätten ja nur tun müssen, was wir ihnen gesagt haben«, »Der Jugendliche ist eben doch gestörter, als ich dachte«, »Das ganze Familiensystem ist einfach behandlungsresistent«. Eine andere gute Schamabwehr ist die Abwertung anderer: »Hätten die vorbehandelnden Kollegen nicht so lange rumgemurkst, hätten wir sicher noch was machen können, aber jetzt …« Diese Schamabwehrstrategien halfen nur kurzfristig, wie gute Pillen am Anfang noch länger und nachhaltiger, später nur noch kurz oder auch gar nicht mehr, weil die Folgen dieser Schamabwehr mehr und mehr in den Blick rückten: Diagnosen und Prognosen wurden verschlimmert, Beziehungen zwischen Klinik und Familien eskalierten konflikthaft oder brachen ab und manchmal fanden sich Kinder oder Jugendliche in ähnlich konflikthaften Szenarien wieder, die sie in ihren Herkunftsfamilien eigentlich schon erschöpfend erlebt hatten … Es geht also um die Frage, wie die bekannten Prinzipien Neuer Autorität in einem sehr komplex gewordenen Kontext psychosozialer Versorgung realisiert werden können. Und damit meinen wir wirklich alle Einrichtungen und alle Fachpersonen, die mit Kindern, Jugendlichen und Familien zu tun haben. Was heißt denn konkret Netzwerkarbeit in diesem Kontext, in dem Einrichtungen nicht nur zusammenarbeiten, sondern auch miteinander konkurrieren? Was wären Aspekte einer zu entwickelnden Bündnisrhetorik? Was kann Transparenz bedeuten, wenn Beteiligte immer wieder mit ihrer Ohnmacht konfrontiert sind, die sie dann am liebsten an andere Institutionen delegieren? Was könnte gewalt-

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freier Widerstand bedeuten, wenn beteiligte Agenten der Versorgung ihre alte Autorität nutzen und andere dafür inkompetent machen oder erklären? Viele von uns haben gelernt, dass eine professionelle Haltung darin besteht, dass wir unsere emotionale Beteiligung in der Arbeit im Zaum halten müssen. Wir sehen diese Haltung als problematisch an, weil wir ja alle auch mit dem Herzen dabei sind und, wenn es schwierig wird, mit Gefühlen wie Angst, Ohnmacht, Ärger oder Scham in Berührung kommen. Diese Gefühle müssen wir dann verdrängen oder abspalten, wenn wir »professionell« bleiben wollen. Und um Angst, Trauer oder Scham abspalten zu können, lernen wir Strategien, die Kontakt und Beziehung erschweren und oft auch verhindern. Fatal ist auch, dass wir mit diesen Gefühlen dann allein bleiben; wenn wir sie noch spüren, kämpfen wir dagegen an, arbeiten noch mehr, missbrauchen unsere Kräfte und landen in der Erschöpfung und schlimmstenfalls in depressiven Zuständen. Und wenn wir sie »erfolgreich« abgespalten haben, werden wir oft hart, eng und rigide. Im Umgang mit anderen werden wir überheblich, abwertend und/oder belehrend gerade auch denen gegenüber, die noch fühlen und versuchen, mit ihren Gefühlen mit Kollegen in Kontakt zu kommen. Darüber »lernen« die noch Fühlenden dann, dass ihre Gefühle Schwäche bedeuten. Der Selbstwert sinkt, die Scham steigt, ein Circulus vitiosus nimmt seinen Lauf. An dessen Ende stehen Isolation, psychosomatische Beschwerden, Burn-out und andere Nöte. Und vor allem entsteht über solche Prozesse eine ihrerseits bedrohliche Brüchigkeit in Unterstützungsnetzwerken; Konkurrenz, Abwertung und Aggression erschweren Solidarität und tragende Bündnisse. Feindbilder entstehen schneller als Kontakt, gerade in Stresssituationen werden sie auch schneller aktiviert als gemeinsame Gespräche. Vor diesem Hintergrund öffnen sich auch schnell die Türen für Dämonisierungen, die einer erfüllenden und erfolgreichen Arbeit und Zusammenarbeit entgegenstehen. Dämonisierungen beginnen bei der verständlichen, aber oft eben auch dramatisierenden öffentlichen Thematisierung und Einschätzung auffälligen kindlichen bzw. jugendlichen Verhaltens. Wenn schon Achtjährige aufgrund ihrer Aggressionen als »tickende Zeitbomben« etikettiert werden, mag das verständlichen Sorgen und Ängsten beteiligter Pädagogen, Therapeuten Erziehenden etc. entspringen, es bewirkt aber keine Atmosphäre, in der gemeinsam nach guten Lösungen gesucht werden kann. Es entsteht eher eine Trance der Angst, der Überforderung und der Hilflosigkeit. Dämonisierung vollzieht sich weiter im Kontakt beteiligter professioneller Institutionen. Da wird der einen Seite unterstellt, es gehe ihr nur um das Geld (z. B. Träger der Jugendhilfe), der anderen wird nachgesagt, sie wolle nur ihre Ruhe und es sich möglichst bequem machen (z. B. die Schulen). Der Kinder-

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und Jugendpsychiatrie wird vorgeworfen, sie fungiere nur noch als Agent der Pharmaindustrie, und den Psychotherapeuten wird eine quasi »magische« Allmacht zugedacht, die sich nur deshalb nicht realisiert, weil es bei keinem Therapeuten einen freien Platz gibt. Aus unserer Sicht ist das Netz psychosozialer Versorgung auch über diese Dämonisierungen sehr fragil geworden. Viele kluge Psychoanalytiker haben sehr wach auf solche Prozesse geblickt und auch sehr eindringlich die Folgen beschrieben, die entstehen, wenn Gefühle abgespalten und abgewehrt werden. Dämonisierungen sind eine Folge davon, und hinter ihnen stehen erlebte Ohnmacht und Scham, die eigentlich Unterstützung bräuchten. Der von uns sehr geschätzte Arno Gruen bringt es unseres Erachtens gut zum Ausdruck, wenn er in einem Vortrag über Rechtradikalismus sagt: »Es geht also um die Verleugnung von Schmerz und die Abkehr vom Menschlichen. Authentische Gefühle werden als Makel gebrandmarkt. Leid und Schmerz werden permanent ausgegrenzt, weil sie unsere kindliche Existenz bedroht hätten« (Gruen, 2007). Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Wirkliches Verständnis ist aber nur möglich, wenn wir eigene kindliche Schmerzen und Leiden zulassen. Die Verleugnung der eigenen Schmerzen führt später zur Verhöhnung der Opfer; man verhöhnt den eigenen Schmerz, den man nicht fühlen durfte. Gewalt wird dann zur Grundlage des Seins. Es kommt zur Entfremdung vom eigenen Selbst. Das Verbot von Bedürftigkeit und Zärtlichkeit begründet und erleichtert die Identifikation mit fragwürdigen und gefährlichen Autoritäten, die mit Neuer Autorität mit Sicherheit nichts mehr zu tun haben. Diese Menschen, wie z. B. rechtsradikal Gesinnte, fühlen sich von denen bedroht, die sie an die verleugnete Menschlichkeit erinnern. Und weil sie sich bedroht fühlen, müssen sie sie entwerten und bekämpfen. Das sind natürlich drastische Worte bezogen auf eine statistisch quantitativ anwachsende Gruppe am rechten Rand unserer Gesellschaft. Aber das beschriebene Phänomen der Verleugnung von Schmerz und Leid finden wir überall dort, wo sich Aggression in Gewalt entlädt, allerdings auch in anderen immer häufiger werdenden Phänomenen wie etwa Sucht. Und in Ansätzen finden wir es immer wieder auch bei uns selbst. Die Wahrheit ist, dass wir professionellen Hilfeleister neben allen Talenten, Erfahrungen und Konzepten auch unsere eigenen Schmerzen haben, unsere Nöte, unsere Ängste, unsere Überforderung und unsere Scham. Und weil das so ist, und wir halten es für zutiefst menschlich, plädieren wir sehr dafür, diese schwierigen Teile unserer Arbeit mehr in den beruflichen Alltag zu integrieren und uns dafür einzusetzen, dass ihnen auch in Lehrbüchern und Weiterbildungscurricula ein würdiger Platz gegeben wird.

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Wie gelingen Netzwerke? Der Anthropologe Michael Tomasello ist in seinen Forschungsarbeiten (u. a. Tomasello, 2017) der Frage nachgegangen, ob die Menschen kooperativ geboren und später von der Gesellschaft verdorben werden oder ob sie zunächst egoistisch und nicht zu helfen bereit sind, bevor sie dann von der Gesellschaft erzogen werden. Ergebnisse seiner Versuche am Max-Planck-Institut für Anthropologie in Leipzig zur Hilfsbereitschaft von Kleinkindern weisen auf einen angeborenen Hilfsinstinkt hin, aber auch darauf, dass materielle Belohnungen die kooperative Natur dämpfen. Die Kinder halfen mehr, wenn sie um des puren Helfens willen helfen konnten. Darwins »Survival of the Fittest« und »Struggle for Existence« versus »Snuggle for Existence«. Der Biomathematiker und Harvard-Professor Martin Nowak hat eine erweiterte Theorie der Evolution entwickelt und spricht darin Kooperation eine zentrale Rolle zu (Nowak, 2013). Er beschreibt diese als die »Meisterarchitektin der Evolution«. Aus ihr entstehe die kreative Kraft, die unser Leben so stark prägt. Die vielleicht wichtigste Neuentwicklung des Menschen stehe vielmehr im Dienste des Miteinanders, des sozialen Zusammenhalts und der Zusammenarbeit. Der Neurowissenschaftler Joachim Bauer schreibt, dass das Streben des Menschen nach Zuwendung und Kooperation den Kern des menschlichen Daseins bilde. Und weiter: »Dass Lebewesen leben wollen, ist eine Tautologie. Dass die zentralen Antriebe lebender Systeme darauf gerichtet sind, sich maximal zu verbreiten und gegeneinander zu kämpfen, ist hingegen Ideologie« (Bauer, 2008, S. 223). Es gibt also durchaus Hinweise darauf, dass Menschen kooperativer sind als die Strukturen, in denen sie leben. Strukturen in der Bildungs- und Erziehungslandschaft, in Unternehmen und in der Politik sollten es Menschen erleichtern, sich kooperativ und unterstützend zu verhalten. Triebel und Hürter schreiben: Der Mensch soll nicht anders werden, er soll zu dem werden, der er ist (Triebel u. Hürter, 2012, S. 210). Die Auswirkungen einer solchen Leitidee auf unser Weltbild könnten enorm sein. Wir möchten uns an dieser Stelle auf drei Perspektiven beziehen: eine individuelle, eine kollektive und eine für die Zusammenarbeit in institutionenübergreifenden Netzwerken. Auf der individuellen Ebene geht es zunächst darum, die eigenen Gefühle ernst oder wieder ernster zu nehmen, sie zu erlauben, ihnen einen guten Platz zu geben und zu sehen, mit wem ich sie teilen kann. Einen guten Platz geben heißt auch, sie für richtig und nicht für falsch, übertrieben oder gar krankhaft zu halten. Es gibt keine falschen Gefühle, und auch

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die unangenehmen Gefühle sind wichtige Informationen und zeigen an, dass etwas nicht so funktioniert, wie ich es gern hätte. Dann ist es wichtig zu prüfen, mit welchen Ansprüchen ich unterwegs bin – wir glauben, wir könnten viele Selbsthilfegruppen gründen nur mit dem Ziel, unsere hohen Ansprüche auf ein gesundes Maß zu bringen. Und wenn Sie merken, dass Sie noch oft den Anspruch haben, es allein hinzubekommen: Fangen Sie humor- und liebevoll an, es sich abzugewöhnen. Wir finden gesunden Ehrgeiz wunderbar und einen guten Motor für großartige Leistungen, aber kennen auch den übertriebenen, der das Leben richtig anstrengend macht. Wenn Sie hier ein bisschen nachlassen wollen, machen sie es langsam, denn jeder Verzicht auf einen weiteren Alleingang mag erst einmal auch als Kränkung erlebt werden (»Ich bin nicht so groß und stark, wie ich dachte«); wir können ihnen aber versichern, wenn erst einmal ein paar Perlen aus der Krone der eigenen Großartigkeit gefallen sind, lebt es sich bedeutend leichter. Und wenn das gelingt, sind wir auch stärker in unserer Präsenz, weil Anspannung, Stress und Zeichen der Überforderung nachlassen. Wichtig ist, dass Sie in all diesen Überlegungen und Empfindungen nicht allein bleiben; gerade in unserer Branche ist es so wichtig, Erlebtes, Geschafftes, aber auch Erlittenes miteinander zu teilen; dann wird es von mehreren Schultern getragen und somit leichter. Gleichzeitig empfehlen wir nachdrücklich, es nicht allzu lange allein zu probieren. Viele von uns besitzen ein großes Talent, allein zu kämpfen, und kommen dann in einen Stressverarbeitungsmodus, in dem die Souveränität ruckartig nachlässt und gern auch Fehler passieren, weil in diesem Modus eigentlich nur noch Kampf, Flucht oder Lähmung möglich sind, und alle drei Varianten erhöhen eher die Wahrscheinlichkeit von Eskalation anstatt sie zu senken. Und die Vermeidung von Eskalation ist eines der ganz wichtigen Prinzipien der Neuen Autorität. Auf einer kollektiven Ebene geht es darum, dass sich in unseren Organisationen alle Beteiligten darüber verständigen, dass Ohnmacht, Scham und auch Scheitern Bestandteil unserer Arbeit sind. Es braucht Zeiten und Räume, diese Erfahrungen gemeinsam zu teilen und zu reflektieren. Balintgruppen, wie sie ärztlicherseits schon seit vielen Jahrzehnten praktiziert werden, oder Super- und Intervisionen sind gute Möglichkeiten, in einem geschützten Raum auch über die Dinge zu sprechen, die schwer zu ertragen sind. Einrichtungsleiter/-innen haben hier eine große Verantwortung, und wir möchten ermutigen, hier immer wieder nach Möglichkeiten zu suchen und ein Führungskonzept zu praktizieren, in dem Fürsorge genauso vorkommt wie Anspruch und Leitbild (siehe hierzu auch Kapitel 2.9). Jeder Kooperation sollte

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eine Wertebasis zugrunde liegen, die von Symmetrie, Fairness und gemeinsamer Verantwortung geprägt ist. Eine kollektive Herausarbeitung und regelmäßige Überprüfung der gemeinsam getragenen Werte sollte auf jeden Fall stattfinden. Wir erweitern an dieser Stelle gern die Haltung Haim Omers, der ja zu Recht sagt, dass wenn ein Kind z. B. in einer Schulklasse gewalttätig wird, es nicht nur dessen Problem und das des Opfers ist, sondern ein Problem der ganzen Klasse, aller beteiligten Lehrer und Eltern und mithin der ganzen Schule. Und wir würden sagen, wenn z. B. ein Lehrer eine Situation nicht mehr zu meistern weiß, ist es nicht nur sein Problem, sondern ein Problem aller Kolleginnen und Kollegen und der Leitung. Alle sind eingeladen, gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Gleiches gilt für Kliniken, Kindergärten, Jugendheime, Jugendämter, alle anderen Einrichtungen und auch für Unternehmen. Der gute Anfang könnte die Bildung eines Unterstützerkreises sein, wie es Omer vorschlägt. Zu einer solidarischen Haltung gehört das wichtige Prinzip der Transparenz, die in der Neuen Autorität an die Stelle von Immunität gegenüber Kritik tritt. Transparenz heißt in unserem Zusammenhang, dass Ohnmacht und Scham nicht länger exkommuniziert, sondern in einem wohlwollenden Rahmen besprochen und geteilt werden. Nur darüber kann Isolation aufhören und Solidarität beginnen und wachsen. Dafür ist es natürlich wichtig, dass von Fehlerfreundlichkeit4 nicht nur gesprochen, sondern sie auch gelebt wird. Auch aus kollektiver Perspektive plädieren wir sehr für den Abschied von der Überzeugung, wir könnten es allein schaffen. Allein geht es nicht, und wir meinen, diese Erkenntnis muss anerkannter Bestandteil unserer professionellen Haltung werden. Am schwierigsten scheint uns schließlich die Perspektive, wenn es über den Tellerrand der eigenen Organisation hinausgeht. Institutionen scheinen im Laufe ihrer Entwicklung gewisse »autistische« Züge zu entwickeln, möglicherweise sind diese auch für ihr Überleben notwendig und systemisch gesehen durchaus nachvollziehbar. Verstärkt wird dieser institutionelle Autismus durch immer neue und immer mehr administrative Anforderungen, und das wirkt sich häufig hinderlich aus, wenn es um den Blick über die eigene Systemgrenze hinaus und um den Kontakt zu anderen Institutionen geht. 4

»Fehlerfreundlichkeit ist ein von Christine von Weizsäcker im Jahre 1977 in die wissenschaftliche Diskussion um die Fehleroffenheit eingeführter Begriff, der 1984 von ihr und ihrem Mann Ernst Ulrich von Weizsäcker in einem Forschungsbeitrag zu evolutionären Vorgängen in der Natur und deren Umgang mit Störungen präzisiert wurde. Der Begriff wird häufig in vereinfachender Weise mit dem Begriff der Fehlertoleranz gleichgesetzt, im Sinne einer bewusst eingeplanten Akzeptanz von unerwünschten, aber doch eintretenden Ereignissen« (Wikipedia, 2019a).

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Und weil wir bekanntlich nicht kontrollieren können, was die anderen tun und lassen sollten, können wir uns nur selbst kontrollieren. Es ist wichtig, dass wir »die anderen« achten, ihre Würde respektieren, auch wenn sie ganz anders denken und arbeiten als wir. Achtung heißt, wir unterstellen den anderen, dass sie auch Gutes im Schilde führen, dass sie auch einen guten Beitrag zum Gelingen leisten und leisten wollen. Das klingt so selbstverständlich, ist es aber oft gar nicht, gerade und vor allem dann, wenn es schon unerfreuliche Vorerfahrungen gegeben hat. Darüber hinaus braucht es m. E. ein aufrichtiges Bekenntnis, dass wir im Fall des Falles unter den realen Bedingungen unserer Einrichtung an unsere Grenzen kommen und Unterstützung brauchen. Und es ist gut, wenn wir das möglichst früh erkennen und nicht erst dann, wenn wir uns schon vollständig aufgerieben haben und nur noch die möglichst schnelle Entlassung des untragbaren Jugendlichen betreiben können (auch solche Entscheidungen werden dann oft im Stressverarbeitungsmodus getroffen). Gut ist es, wenn wir gern in unserer Verantwortung bleiben und um Unterstützung bitten können, dann finden wir in der Regel auch ansprechbarere Partner, als wenn wir im Stress und unter Druck stehen und die anderen dann sofort aktiv werden sollen. Und diese Bitte bedeutet eben nicht, dass wir gescheitert sind. Bündnisrhetorik bedeutet hier, dass wir um Hilfe bitten und nicht die ganze Verantwortung delegieren, es geht vielmehr darum, einen gemeinsamen Suchprozess anzustoßen und kreative Handlungsalternativen zu entwickeln. Wenn dies gelingt, verhindern wir auch serielle Prozesse von Hilfen, wie sie gerade in Multiproblemkontexten immer häufiger anzutreffen sind. Damit sind jene Hilfeprozesse gemeint, in der jeder neuen Hilfe der Abbruch einer anderen Hilfe vorausgeht, was für alle Beteiligten – insbesondere die Klienten – nachteilig ist, zumal Abbrüche häufig aus Enttäuschung und Überforderung geschehen und die Klienten diese Enttäuschung dann im Sinne einer verstärkt negativen Haltung mit in die nächste Hilfe nehmen. Beispielsweise gibt es Jugendliche, die bereits (traurige) Experten im Umgang mit immer wieder neuen Schulen, Kinder- und Jugendheimen und anderen Institutionen sind. Das Gegenmodell ist der Versuch, das Unterstützungssystem situativ so zu erweitern, dass bestehende Beziehungen bleiben können und von einem um entsprechende Helfer erweiterten Kreis mitgetragen werden. Das ist auch vor dem Hintergrund der Bindungstheorie sehr viel empfehlenswerter, zumal die »schwierigen« Klientensysteme meist schon ausreichend Bindungsbrüche hinter sich haben. Wir wissen natürlich, dass solche Modelle schon regelmäßig erfolgreich praktiziert werden, aber wir wissen auch, dass wir uns hier noch in einem Pionierstadium mit enormem Entwicklungspotenzial befinden und dass wir noch

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viel mehr davon brauchen angesichts einer Klientel, die sich gerade in puncto Bindungsfähigkeit offensichtlich sehr verändert hat. Mit dieser Perspektive wäre auch schon angesprochen, dass unsere Arbeit auch einen sehr politischen Akzent hat: •• einen wirtschaftspolitischen, weil konzertierte Modelle der Hilfe billiger sind als serielle; •• einen bildungspolitischen, weil in diesen Modellen mit Transparenz, Bündnisrhetorik und Solidarität sehr viel emotionale und soziale Intelligenz steckt, die ansteckend wirkt; •• einen gesundheitspolitischen, weil sie Burn-out und anderen gesundheitlichen Folgeschäden vorbeugt; •• und nicht zuletzt einen friedenspolitischen, weil solche Modelle Feindbilder und gegenseitige Abwertung verhindern helfen. Die Voraussetzung hierfür sind freilich wieder die Integration der Scham über unsere Unzulänglichkeit und der offene und ehrliche Austausch über die Grenzen unserer Möglichkeiten. Jeder Kooperation muss eine Wertebasis zugrunde liegen. Diese ist von Symmetrie, Fairness und gemeinsamer Verantwortung geprägt. Wenn es uns gelingt, in Offenheit über unsere Erfahrungen der Ohnmacht, der Hilflosigkeit und der Scham miteinander in Kontakt zu sein, wird uns das stärken. Und diese Stärke wird alte Muster und Rituale der Macht sowie deren destruktive Inszenierung obsolet werden lassen. »Stärke statt Macht« und Neue Autorität werden dann Wirklichkeit, und das wünschen wir uns allen.

Beispiele aus der Praxis Lea und die Macht positiver Rückmeldungen Marco und Anna suchten Beratung, da ihre 14-jährige Adoptivtochter Lea sich selbstgefährdend verhielt und die Schule drohte, sie aufgrund ihres respektlosen Verhaltens gegenüber ihren Lehrerinnen von der Schule zu verweisen. Zunächst fand ein Treffen statt mit der Mutter, dem Elterncoach, dem Schulleiter und der Lehrerin, die am meisten unter Leas Spott und Beleidigungen zu leiden hatte. Der Schulleiter zeigte sich erfreut, dass sich die Eltern professionelle Hilfe geholt hatten. Nachdem der Elterncoach die Ideen der Neuen Autorität kurz erklärt hatte und der Lehrerin eine in der Klasse öffentlich vollzogene Geste der Wiedergutmachung in Aussicht gestellt worden war, willigte die Schulleitung ein, im Moment keinen Druck mehr auf die Eltern auszuüben.

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Es gelang, drei Unterstützer/-innen im Bekannten- und Familienkreis der Eltern zu gewinnen: die Schwester der Mutter, die in Italien lebte und von Lea sehr geschätzt wurde, die Taufpatin des Mädchens und einen alten Freund der Eltern, der Lea sehr vertraut war. Die drei Unterstützer/-innen schickten SMS-Nachrichten an Lea, in denen sie erklärten, dass sie von ihren Schwierigkeiten in der Schule wüssten, und anboten, Lea bei einer Wiedergutmachung zur Seite zu stehen. Lea zeigte sich sehr überrascht über diese Nachrichten und stellte ihre Eltern zur Rede. Marco und Anna erklärten, dass sie sich hilflos fühlten und nicht mehr allein mit den Sorgen um ihre Tochter bleiben wollten. Lea war darüber etwas irritiert, aber auch berührt von der Offenheit ihrer Eltern. Sie war einverstanden, gemeinsam mit ihrer Mutter eine Geste der Wiedergutmachung gegenüber der Lehrerin zu leisten. Mutter und Tochter buken gemeinsam einen Kuchen, und Lea überbrachte diesen im Beisein ihrer Mutter zu Beginn der Unterrichtsstunde mitsamt einer Entschuldigung für ihr Verhalten. Am Morgen dieses Tages hatte Lea bereits weitere Nachrichten mit Aufmunterungen seitens der Unterstützer/-innen für die anstehende Wiedergutmachung erhalten. Am Abend beglückwünschten die Unterstützer/-innen Lea zu der gelungenen Wiedergutmachung und versicherten ihr, dass sie sehr stolz auf sie seien. Ein paar Tage später fragte Lea ihre Eltern, ob diese nun alles immer den Unterstützern/Unterstützerinnen berichten würden. Marco und Anna erwiderten, dass sie sicher das gewonnene Unterstützungsnetzwerk noch eine Weile nutzen wollten, worauf Lea zur großen Überraschung ihrer Eltern keinen Widerspruch leistete, sondern im Gegenteil ganz zufrieden wirkte.

Diese Praxiserfahrung haben wir ausgewählt, weil in diesem Beispiel auf andere Interventionen wie Drei-Körbe-Arbeit, Ankündigung oder Sit-In verzichtet und fast ausschließlich mit Präsenz- und Wertschätzungsinterventionen des Unterstützungsnetzwerks erfolgreich gearbeitet wurde. Auch die selbstgefährdenden Verhaltensweisen, die den Unterstützerinnen/Unterstützern auf Wunsch der Eltern gar nicht mitgeteilt worden waren, nahmen ab. Man muss einander nicht unbedingt sympathisch sein … Eine Mutter aus Bern kontaktierte die Beratung, weil sie Schwierigkeiten mit Verhaltensweisen ihrer 11-jährigen Tochter Patrizia hatte. Die Mutter war alleinerziehend, der Vater stammte aus Ghana und hielt sich nur zeitweise in der Schweiz auf. Wenn er da war, verbrachte Patrizia auch Zeit bei ihm. Er wurde von der Mutter als gutmütig, aber nicht verlässlich beschrieben. Die Mutter klagte, dass Patrizia nicht genügend zu Hause mithalf, verbal aggressiv reagierte und nicht auf sie hörte.

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In der Schule stand Patrizia kurz vor dem Rausschmiss, da sie vor allem die Klassenlehrerin mehrmals beschimpfte und andere Kinder während der Pause schlug und verhöhnte. Die Klasse stand kurz vor einem Klassenlager, und es wurde diskutiert, ob Patrizia überhaupt mitfahren dürfe. Mutter und Klassenlehrerin waren einander nicht unbedingt sympathisch, die Kommunikation war bisher eher durch gegenseitige Schuldzuweisungen geprägt. Nach mehreren Gruppen- und Einzelgesprächen gelang es, dass Klassenlehrerin und Mutter sich darauf verständigen konnten, gemeinsam eine Ankündigung zu halten. Die Ankündigung wurde im Beisein einer Fachlehrerin, der Hortleiterin und von Patrizias Patentante in der Schule gehalten. Die Patentante saß neben Patrizia, die Mutter und die Klassenlehrerin saßen ihnen gegenüber. Die Mutter las die Ankündigung vor. Patrizia war von dieser gemeinsamen Intervention ihrer Mutter und ihrer Lehrerin sehr beeindruckt, zumal sie ja wusste, dass beide einander nicht besonders mochten. Die Klassenreise verlief ruhig, und Patrizia konnte (mit diversen Präsenzdemonstrationen der Unterstützer) das Schuljahr gut beenden.

Wirkung auf Gruppen Kürzlich habe ich (Claudia Seefeldt) im Rahmen eines CAS-Lehrgangs eine zweitägige Weiterbildung zum Thema »Neue Autorität« an einer Züricher Hochschule gegeben. Die Gruppe von knapp zwanzig Fachpersonen (Schulleiterinnen, Heilpädagogen, Lehrpersonen von Regel- und Sonderschulen) hatte vor unserem Kurs bereits einige gemeinsame Weiterbildungstage hinter sich. Am Ende der zwei Tage war die Rückmeldung, dass die Beschäftigung mit den Ideen der Neuen Autorität auch sie als Gruppe positiv verändert habe: Sie fühlten sich verbundener und gegenseitig unterstützt.

Diese Art von Feedback erhalten wir sehr oft am Ende von Weiterbildungen, und es bestärkt uns in unserer Arbeit und in dem Wunsch, diesen Ansatz möglichst vielen Menschen zu vermitteln.

Ellen – eine kleine Vision Ellen war eine Weiterbildungsteilnehmerin, und im Rahmen der Familienrekonstruktion erzählte sie uns von der Scham, die sie als Tochter von Sozialhilfe in Anspruch nehmenden Eltern erlebt hatte. Freitags traf sie sich als Jugendliche regelmäßig zum Feiern mit ihrer Clique, die sich am Samstag dann zum Frühstück in einem Café ver-

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abredete. Zu diesem Frühstück konnte Ellen aber nie kommen, weil sie jeden Samstag in einem Supermarkt jobbte. Das machte sie nicht, um ihr Taschengeld aufzubessern, sondern weil ihre Eltern das Geld brauchten. Das erzählte sie aber ihren Freundinnen nicht. Wir haben dann experimentell versucht, diese Szene im Sinne eines stärkenden Netzwerkes umzuschreiben und zu inszenieren: Ellen erzählte ihren Freundinnen eben doch von ihrem Job und der Bedürftigkeit ihrer Eltern. Ihre Freundinnen waren davon peinlich berührt und beschlossen, mit Ellens Einverständnis, in ihren eigenen Familien darüber zu berichten. Als die Eltern von ihren Kindern die Geschichte hörten, waren sie ihrerseits berührt, und es entstand bei einigen der Beschluss, hier behutsam, aber nachdrücklich aktiv zu werden. Telefonisch nahmen die Eltern untereinander Kontakt auf und beschlossen, mit Ellens Eltern mit dem Ziel ins Gespräch zu kommen, sie zu unterstützen und Ellen so ihren schambesetzten Job zu erübrigen. Im Schlussbild dieser Inszenierung saß Ellen mit ihren Freundinnen und Freunden in ihrem Kreis, hinter ihr ihre Eltern und im Außenkreis alle anderen Eltern. Ellen war von diesem Bild sehr berührt und sagte: »Ja, so wäre es wirklich gut gewesen!«

So gern wir uns ein so gelebtes Netzwerk vorstellen, so klar ist uns auch, wie viele Hürden der Scham und »gebotenen Zurückhaltung« für solch eine Vision zu überwinden wären: •• Ellen müsste ihre Scham überwinden und ihrer Clique erzählen, was es tatsächlich mit ihrem Job auf sich hat. •• Die Clique müsste Ellens Erlaubnis bekommen, zu Hause davon zu erzählen. •• Die Eltern der Beteiligten müssten ihre Rührung öffentlich machen, indem sie mit den anderen Eltern Kontakt aufnähmen. •• Ein/e Sprecher/-in müsste es wagen, die Intimitätsgrenzen ihnen unbekannter Eltern zu überschreiten, und eine Kontaktaufnahme versuchen. •• Ellens Eltern müssten ihre eigene Scham überwinden, anstatt sich im Dienste der Selbstsicherung aggressiv von so einem »Übergriff« zu distanzieren. D. h., sie müssten sich zu ihrer Bedürftigkeit und der Abhängigkeit von Ellens wöchentlichem Einkommen bekennen und sich für eine – möglicherweise wieder beschämende – Alternative entscheiden: selbst für den bisher von Ellen erwirtschafteten Lohn aufzukommen. •• Alle Erwachsenen miteinander müssten darüber ins Gespräch kommen, was Ellens Eltern für dieses Netzwerk tun könnten, um für einen guten Ausgleich zu sorgen, damit auch sie gleichwertige Mitglieder darin sein und bleiben könnten. Beispielsweise könnte Ellens handwerklich begabter Vater bei Bedarf Reparaturarbeiten bei den beteiligten Familien übernehmen. Keine leichte Aufgabe also.

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NeNA – unser Netzwerk Die persönlichen Erfahrungen in unserem eigenen Netzwerk NeNA (Netzwerk Neue Autorität) stimmen uns hoffnungsvoll, dass es sich lohnt, sich für die Netzwerkarbeit zu engagieren. Eher unbewusst als bewusst hatten wir uns schon beim Start vorgenommen, die Prinzipien Haim Omers nicht nur professionell zu nutzen und weiterzuentwickeln, sondern auch auf uns und unsere Zusammenarbeit anzuwenden. Wir wollten auch vorleben, was wir professionell vertreten. Dabei haben wir es immer wieder als stärkend erlebt, wenn wir Erfahrungen der Ohnmacht, Insuffizienz und Hilflosigkeit miteinander geteilt haben, anstatt der Verlockung zu erliegen, uns in unserer (vorgeblichen) Souveränität zu präsentieren. Das war nicht immer nur einfach, weil wir ja keine Heiligen, sondern auch »nur« Menschen sind. Voraussetzung für diese Erfahrungen war sicherlich, dass wir alle mittlerweile im Leben einigermaßen »satt« geworden und in unserem Selbstwert nicht mehr allzu abhängig von Anerkennung sind. Noch wichtiger war und ist aber sicher ein hohes Maß an »Herzensenergie«, wir könnten auch von Liebe sprechen in dem Sinne, dass wir großes Interesse daran haben, dass es den anderen gut geht – und uns selbst auch. Der Dalai Lama drückt es so aus: »Paradoxerweise können wir uns selbst nur helfen, wenn wir dem Anderen helfen […]. Die Voraussetzung für das Überleben unserer Spezies sind Liebe und Mitgefühl, unsere Fähigkeit, anderen beizustehen und ihren Schmerz zu teilen […]. Leid zu verstehen […] bedeutet wirkliche Empathie zu verstehen […]. Das Gefühl der Verbundenheit mit allen Lebewesen kann nur erreicht werden, wenn wir erkennen, dass wir alle vereint und voneinander abhängig sind« (Dalai Lama, 2004, zit. n. Gruen, 2013, S. 173).

Eine nützliche Utopie – Imagine all the people … Der Gedanke funktionierender unterstützender Netzwerke und einer gelebten Unterstützungskultur mag für viele romantisch und unrealistisch klingen. Gleichwohl sehen wir Kooperation nicht als psychologisches Wohlfühlprogramm. Kooperation zahlt sich wirtschaftlich aus, wirkt ressourcenschonend und gesundheitsfördernd, ist politisch sinnvoll, kann die Bildungs- und Erziehungslandschaft verbessern und sorgt dafür, dass wir gern und gut arbeiten. Die großen Herausforderungen unserer Gegenwart und Zukunft, wie z. B. Klimawandel, Umweltverschmutzung, Big Data, ungerechte Güterverteilung und die Ausbeutung unserer begrenzten Ressourcen, kann kein Land oder Kontinent allein stemmen. Diese Aufgaben können nur gemeinsam gelöst werden.

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Vertiefende Aspekte

Global oder im Kleinen – die Fähigkeit zu kooperativem Handeln in lokalen oder globalen Netzwerken, im privaten oder beruflichen Umfeld ist und wird zunehmend wichtig, ja sogar überlebenswichtig. Es gilt, die Fragmentisierung der Menschen zu überwinden. Literatur Bauer, J. (2008). Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. München: Heyne. Gruen, A. (2007). Das innere Opfer und die Bedrohung der Demokratie. Vortrag beim 3. Weltkongress des Worl Council for Psychotherapie in Wien. CD. Auditorium Netzwerk. Gruen, A. (2013). Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden. Stuttgart: Klett-Cotta. Nowak, M. A., Highfield, R. (2013). Kooperative Intelligenz. Das Erfolgsgeheimnis der Evolution. München: C. H. Beck. Recke, T. von der (2013). Ohnmacht, Hilflosigkeit und Scham in Unterstützungssystemen, Bündnisrhetorik. Vortrag beim Fachtag »Die Ankerfunktion: Wie Eltern und Lehrer eine sichere Basis geben können« mit Haim Omer. 3./4.12.2013 in München. Rozovsky, J. (2015). The five keys to a successful Google team. https://rework.withgoogle.com/ blog/five-keys-to-a-successful-google-team/ (Zugriff am 31.01.2019). Schein, E. H., Schein, P. A. (2018). Humble leadership: the power of relationships, openness and trust. Oakland: Berrett-Koehler. Tomasello, M. (2012). Warum wir kooperieren (2. Aufl.). Berlin: Suhrkamp. Triebel, C., Hürter, T. (2012). Die Kunst des kooperativen Handelns. Eine Agenda für die Welt von morgen. Zürich: Orell Füssli. Wikipedia (2019a). Fehlerfreundlichkeit. https://de.wikipedia.org/wiki/Fehlerfreundlichkeit (Zugriff am 31.01.2019). Wikipedia (2019b). Holokratie. https://de.wikipedia.org/wiki/Holokratie (Zugriff am 31.01.2019). Wikipedia (2019c). Soziokratie. https://de.wikipedia.org/wiki/Soziokratie (Zugriff am 31.01.2019).



4  Evaluationen und Forschungsergebnisse

4.1 Weiterbildung »Coach für Neue Autorität« Wirkungen des Konzepts der Neuen Autorität auf das Stressempfinden, die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung und die pädagogische professionelle Präsenz bei Pädagogen

Sarah Lemme

In pädagogischen und therapeutischen Berufen, besonders in allen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, Schulen oder angrenzenden Bereichen, stellt sich häufig die Frage, wie mit konfliktbehafteten Situationen umgegangen werden kann, wie Pädagogen ihre Präsenz aufrechterhalten und ihr Stresslevel reduzieren können. Die vorliegende Querschnittstudie beschäftigt sich u. a. mit der Fragestellung, ob die Weiterbildung »Coach für Neue Autorität« zu einer Erhöhung der allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung und der professionellen pädagogischen Präsenz sowie zu einer Reduktion des wahrgenommenen Stressempfindens führt. Die Antworten von 85 teilnehmenden Personen im Alter zwischen 22 und 65 Jahren (M = 41.49, SD = 11.63) flossen in die Auswertung ein. Die Ergebnisse bestätigen einen signifikanten Unterschied in der professionellen pädagogischen Präsenz sowie dem Stresserleben bei Pädagogen, die die Weiterbildung absolviert haben, im Vergleich zu jenen, die sie nicht absolviert haben. Zukünftige Forschung sollte den Faktor »Präsenz« weiter untersuchen sowie längsschnittliche Untersuchungsdesigns für die Evaluation der Weiterbildung verwenden.

Stress, Selbstwirksamkeit und Neue Autorität Stressreduktion ist eines der vorherrschenden Themen in der heutigen schnelllebigen Arbeitswelt. Stress entsteht laut dem transaktionalen Stressmodell (vgl. Lazarus u. Folkman, 1984) durch komplexe Wechselwirkungen zwischen Person und Umwelt. Konkreter bedeutet dies, dass Diskrepanzen zwischen internen oder externen (psychischen) Anforderungen und den eigenen vorhandenen Bewältigungsmöglichkeiten zu Belastungssituationen führen. Laut der 2016er-Stressstudie der Techniker-Krankenkasse melden mehr als 60 % der Befragten zurück, dass sie unter Stress leiden. Der Bericht zeigt auch, dass zu den häufigsten Stressoren in der heutigen Arbeitswelt zu viel Arbeit, Termin-

Weiterbildung »Coach für Neue Autorität«

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druck, mangelnde Anerkennung, ständige Erreichbarkeit und zu wenig Handlungsspielraum zählen. Stress führt laut der Studie oft zu Verspannungen, Erschöpfung, Schlafstörungen und kann zu langfristigen gesundheitlichen Einschränkungen beitragen (vgl. TK, 2016). Enzmann und Kleiber beschrieben bereits 1989 in ihrem Werk »Helfer-Leiden: Streß und Burn-out in psychosozialen Berufen« die charakteristischen Probleme der therapeutischen Berufe: das Bedürfnis, sich von Klientenproblemen zu distanzieren, die Entwicklung einer scharfen Trennung zwischen Berufs- und Privatleben, Kompetenzprobleme, Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle sowie Resignation im Beruf, die Unfähigkeit, nach der Arbeit abschalten zu können, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Nervosität, Depressivität und das Gefühl, abzustumpfen und härter zu werden (vgl. Enzmann u. Kleiber, 1989). Poulsen untersuchte 2012 »Stress und Belastung bei Fachkräften der Jugendhilfe« und kam zu dem Schluss, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Sozialwesen nicht zuletzt deshalb besonders oft von psychischen Erkrankungen betroffen seien (vgl. Poulsen, 2012). Sie zitierte zudem das Wissenschaftliche Institut der AOK, wonach im Jahr 2010 »die Berufsgruppe der Heimleiter und Sozialpädagogen mit 233,3 Arbeitsunfähigkeitstagen je tausend AOK-Mitglieder die betroffenen Berufsgruppen« in der Statistik der Krankmeldungen anführten (WIdO, 2011). Weiter hob sie hervor, dass Fachkräfte im sozialen Bereich besonders hohen Anforderungen und einer enormen Verantwortung im beruflichen Alltag unterliegen. In der stationären Kinder- und Jugendhilfe beispielsweise sind Pädagogen oft schwierigen und als stressig erlebten Situationen ausgesetzt und müssen schnell Entscheidungen treffen, um Eskalationen und Streit zu unterbinden oder unter Provokationen zu deeskalieren bzw. in guter Emotionsregulation zu bleiben. Diese Eskalationen können sich schlimmstenfalls zu Verhalten von Vandalismus und Selbst- bzw. Fremdgefährdung vonseiten des Jugendlichen entwickeln. Stress kann jedoch nicht nur durch die betreuenden Maßnahmen für die Kinder und Jugendlichen entstehen, sondern auch durch Vorgaben der Institutionen. Selbstwirksamkeit wird von Bandura (1994) als ein starkes Gefühl der Wirksamkeit beschrieben. Selbstwirksame Menschen können auf eine hohe Gewissheit ihrer Fähigkeiten zurückgreifen und sehen somit schwierige Aufgaben als zu meisternde Herausforderungen an. Bei Misserfolgen führen sie das Versagen tendenziell eher auf unzureichende Anstrengungen oder unzureichende Fähigkeiten zurück, die jedoch erwerbbar sind. Bandura schlussfolgerte, dass selbstwirksame Menschen sich schwierigen Situationen mit der Gewissheit nähern, dass sie Kontrolle über diese ausüben können. Dies führt zu einer Reduktion von Stress und verringert die Anfälligkeit für Depressionen und Burn-out.

558

Evaluationen und Forschungsergebnisse

Schwarzer und Jerusalem definierten 2002 in einem Beitrag zum Sammelband »Selbstwirksamkeit und Motivationsprozesse in Bildungsinstitutionen« Selbstwirksamkeitserwartung als die »subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungssituationen auf Grund eigener Kompetenz bewältigen zu können« (vgl. Schwarzer u. Jerusalem, 2002). Dabei handelt es sich nicht um Aufgaben, die durch einfache Routine lösbar sind, sondern um solche, deren Schwierigkeitsgrad Handlungsprozesse der Anstrengung und Ausdauer für die Bewältigung erforderlich macht. Weiter beschrieben sie, dass Selbstwirksamkeit bzw. optimistische Selbstüberzeugung einen Schlüssel zur kompetenten Selbstregulation darstellen, indem diese ganz allgemein das Denken, Fühlen und Handeln sowie – in motivationaler wie volitionaler Hinsicht – Zielsetzung, Anstrengung und Ausdauer beeinflussen. Eine hoch ausgeprägte Selbstwirksamkeitserwartung ist somit eine Notwendigkeit für pädagogische Fachkräfte, um in ihrem Beruf kompetent und korrekt handeln sowie mit schwierigen Situationen feinfühlig umgehen zu können. Mit dieser Beschreibung wird schon eine hohe Übereinstimmung mit dem Präsenzmodell (s. u.) im Konzept der Neuen Autorität sichtbar (vgl. Lemme u. Körner, 2018). Neue Autorität ist, wie bereits mehrfach in diesem Buch beschrieben, ein systemisches Konzept, welches bei der Entwicklung bzw. Wiederherstellung der persönlichen und professionellen Präsenz von pädagogisch oder therapeutisch handelnden Personen (z. B. Eltern, Lehrern, Pädagogen in der Jugendhilfe u. Ä. m.) ansetzt und sie dazu befähigen möchte, in ihrem (Arbeits-)Alltag respektvoll, achtsam und gewaltfrei präsent zu sein (vgl. Omer u. von Schlippe, 2016). Präsenz wird als erweiterter Begriff der Selbstwirksamkeit im Erleben und Handeln beschrieben (vgl. Lemme u. Körner, 2018) und baut auf die eigene Handlungsunabhängigkeit gegenüber destruktivem und gewaltbereitem Verhalten auf. Dieses Konzept ist daher kein vorrangig programmatisches Konzept, sondern entwickelt eine Haltung, aus der sich die praktischen Vorgehensweisen entwickeln. Grundsätzlich geht es um eine Änderung der Perspektive. Dies bedeutet, dass die erziehungsverantwortliche Person anerkennt, dass sie nicht die Macht hat, einen anderen Menschen nach den eigenen Wünschen zu modellieren. Die primäre Möglichkeit für Veränderung besteht darin, seine eigene Haltung zu reflektieren und so zu verändern, dass über entsprechende Angebote und Vorgehensweise eine Kooperation bzw. eine Verbesserung der Beziehung zustande kommt. Es geht demnach darum, Anwesenheit und Dasein zu verwirklichen, in Beziehung zu kommen, Bindung und verloren gegangene Präsenz wiederherzustellen. Präsenz kann in sechs Dimensionen erfasst werden (siehe u. a. Kapitel 1.1 sowie darüber hinaus v. a. Lemme u. Körner, 2018).

Weiterbildung »Coach für Neue Autorität«

559

Die physische Präsenz beschreibt die körperliche und geistige Anwesenheit in alltäglichen Situationen, in denen eine Intensivierung des Kontakts notwendig erscheint. Das Ziel der Erziehungsverantwortlichen sollte sein, dazubleiben und auszuhalten, ausdauernd und beharrlich zu sein, statt sich abzuwenden und die Kinder/Jugendlichen fortzuschicken. So kann ein besserer Kontakt hergestellt werden, und es wird deutlich sichtbar, dass der Erziehungsverantwortliche die Verantwortlichkeit in der Situation übernimmt. Somit erfordert die physische Präsenz einen gewissen Teil an (Selbstwirksamkeits-)Erwartung die Situation erfolgreich meistern zu können und anwesend zu bleiben. Die pragmatische Präsenz beschreibt das Erleben eigener Handlungskompetenz sowie das Wissen um mögliche Handlungsoptionen und führt somit zu einem höheren Selbstwirksamkeitserleben. Dies wird auch erreicht, indem der Erziehungsverantwortliche sich bewusst macht, dass in kritischen Situationen nicht sofort und endgültig entschieden werden muss. Die Handlungskompetenz wird durch positive Erfahrungen im eigenen Handeln gestärkt und das Stresserleben sinkt. Die internale Präsenz beschreibt das Erleben von Selbstkontrolle, welche damit zusammenhängt, ob es den Erziehungsverantwortlichen gelingt, ihrer eigenen Selbsterwartung zu entsprechen und ob sie ihre eigenen Emotionen beherrschen können. Dies bedeutet, dass jemand dann als Autorität anerkannt wird, wenn er sich selbst emotional disziplinieren kann. Selbstkontrolle meint somit, dass das Handeln von den eigenen Überzeugungen und dem reflektierten Überlegen bestimmt wird. Es bedeutet aber auch, dass niemand immer und in jeder Situation vollständig selbstkontrolliert sein kann. Das erfolgreiche Erleben von Selbstkontrolle in als kritisch erlebten Situationen führt somit zu einer Erhöhung der Selbstwirksamkeitserwartung für zukünftige Situationen. Die emotional-moralische Präsenz beschreibt die innere Überzeugung, dass das eigene Handeln angemessen und aus der inneren Perspektive heraus richtig ist. Dies führt zu Handlungsenergie, deutlichem Antrieb, Entschiedenheit und klarem, authentischem Handeln. Hierfür sind eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung sowie ein sicherer Umgang mit dem eigenen Stresserleben erforderlich. Die intentionale Präsenz beschreibt die bewusste Begegnung in einem zuhörenden Gespräch und den verdeutlichten Willen, Aufmerksamkeit für die vermuteten Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zu haben. Sie steigt dementsprechend mit der Absicht, mit der die Erziehungsverantwortlichen den ihr Anvertrauten begegnen. Auch hier sollte eine positive Selbstwirksamkeitserwartung für die Bewältigung eines aufmerksamen Gespräches vorliegen und eine stressfreie Atmosphäre herrschen.

560

Evaluationen und Forschungsergebnisse

Schlussendlich beschreibt die systemisch-interpersonale Präsenz das (Personen-) Netzwerk, welches in der jeweiligen Situation relevant ist. Es bestehen eine Wir-Kultur, ein Austausch über alltägliche Ereignisse und die Vereinbarung gemeinsamer Werte. Dieses Netzwerk besteht jederzeit im Hintergrund und kann bei Bedarf aktiviert werden. Somit führt ein gemeinsames zielgerichtetes Handeln zu verstärkter Selbstwirksamkeit und verringert den Stress, in einer bestimmten Situation allein handeln zu müssen. Aus Erfahrungsberichten von Klienten und Eltern ist bekannt, dass auch die Umsetzung der verschiedenen Haltungs- und Handlungsaspekte (siehe u. a. Kapitel 1.1 sowie darüber hinaus v. a. Lemme, 2017; Lemme u. Körner, 2016, 2018) des Konzepts der Neuen Autorität zu einem größeren Selbstwirksamkeitserleben führt, somit das persönliche Wohlbefinden steigt und sich der subjektiv erlebte Stress verringert. Daher wird in diesem Beitrag die Hypothese aufgestellt, dass die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung, die professionelle pädagogische Präsenz und das Stresserleben in einem Zusammenhang stehen.

Weiterbildung »Coach für Neue Autorität« Das Konzept der Neuen Autorität wird in Seminaren an interessierte Fachleute aus Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, sozialer Arbeit und Beratung weitervermittelt. Eine umfassende Ausbildung zum »Coach für Neue Autorität« ist u. a. bei SyNA – Systemisches Institut für Neue Autorität (Bramsche, Deutschland), MISW – Münchener Institut für systemische Weiterbildung (München, Deutschland), INA – Institut für Neue Autorität (Linz, Österreich) und ISI – Institut für systemische Impulse (Zürich, Schweiz) möglich. Das komplette Curriculum dieser Weiterbildung umfasst insgesamt 115 Unterrichtseinheiten (UE), welche auf 14 Seminartage (ST) zu je 8 UE sowie 3 UE Supervision/Prozessbegleitung verteilt sind. Das Grundlagenseminar (48 UE) wird in zwei dreitägige Teile (Modul 1 + 2) unterteilt und beinhaltet die Vermittlung der Grundhaltung der Neuen Autorität, die Idee des gewaltlosen Widerstands, das methodische Vorgehen anhand der Haltungs- und Handlungsaspekte sowie deren praxisorientierte Umsetzung. Aufbauend auf das Grundlagenseminar wird in den Aufbauseminaren (insgesamt 64 UE an 8 ST) eine Vertiefung in den Schwerpunktbereichen Coaching von Eltern, Coaching im Kontext Schule, Coaching von professionellen Erziehungsverantwortlichen und Coaching von Führungskräften angeboten. Begleitend wird die Weiterbildung von dreimal je einer UE Supervision/Prozessbegleitung vervollständigt, die dazu dient, das eigene Han-

Weiterbildung »Coach für Neue Autorität«

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deln der Supervisanden zu reflektieren. Nach erfolgreicher Absolvierung aller Leistungen erhalten die Teilnehmer abschließend das Zertifikat »Coach für Neue Autorität« (vgl. Körner u. Lemme, 2018). Dieser Beitrag geht nun erstmalig der Frage nach, ob die Absolvierung der Weiterbildung zum »Coach für Neue Autorität« bei Pädagogen dazu führt, dass die Selbstwirksamkeit und die professionelle pädagogische Präsenz steigen, der wahrgenommene Stress sinkt und die bisherigen Erfahrungsberichte, die diese Vermutung suggerieren, statistisch belegt werden können.

Hypothesen Hypothese 1 Die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung (SWE), die professionelle pädagogische Präsenz und der wahrgenommene Stress weisen einen Zusammenhang auf. 1a: Je ausgeprägter die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung der Pädagogen ist, desto geringer ist das Stressempfinden. 1b: Je ausgeprägter die professionelle pädagogische Präsenz der Pädagogen ist, desto geringer ist das Stressempfinden. 1c: Je ausgeprägter die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung der Pädagogen ist, desto höher ist die professionelle pädagogische Präsenz. Hypothese 2 Die Absolvierung der Weiterbildung hat einen Einfluss auf die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung, den wahrgenommenen Stress und die professionelle pädagogische Präsenz. 2a: Pädagogen, die die Weiterbildung zum Coach für Neue Autorität erfolgreich absolviert haben, zeigen höhere allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung als Pädagogen, die die Weiterbildung nicht absolviert haben. 2b: Pädagogen, die die Weiterbildung zum Coach für Neue Autorität erfolgreich absolviert haben, zeigen geringeres wahrgenommenes Stressempfinden als Pädagogen, die die Weiterbildung nicht absolviert haben. 2c: Pädagogen, die die Weiterbildung zum Coach für Neue Autorität erfolgreich absolviert haben, zeigen eine höhere professionelle pädagogische Präsenz als Pädagogen, die die Weiterbildung nicht absolviert haben.

562

Evaluationen und Forschungsergebnisse

Beschreibung der Skalen (1) Die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung (SWE; vgl. Schwarzer u. Jerusalem, 1999) wurde als stabile Erwartungshaltung mittels 10 Items auf einer vierstufigen Likert-Skala (1 = stimmt nicht bis 4 = stimmt genau) erfasst. Es liegen gute interne Konsistenzen (Cronbachs α zwischen .80 und .90) und Normen für deutsche Stichproben vor. (2) Die professionelle pädagogische Präsenz wurde als eine Dimension mit 20 Items auf einer fünfstufigen Likert-Skala (1 = stimmt nicht bis 5 = stimmt genau) gemessen. Diese Fragen wurden selbst entwickelt und sind bislang nicht validiert worden. Normen oder interne Konsistenzen liegen somit nicht vor. (3) Der aktuell wahrgenommene Stress wurde mittels der deutschen Übersetzung der Perceived Stress Scale (PSS; vgl. Cohen, Kamarck u. Mermelstein, 1983) erfasst. Der Fragebogen umfasst 10 Items. Alle Fragen werden auf einer fünfstufigen Likert-Skala (0 = nie bis 4 = sehr oft) erfasst. Aus einer Validierungsstudie von Lee (2012) ergeben sich gute Werte für die interne Konsistenz und die faktorielle Validität. Zusätzlich wurden Alter, Berufserfahrung und Geschlecht erfragt. Die Zuordnung zu den Gruppen erfolgte über die Frage »Ich habe mindestens Modul 1 und Modul 2 (Grundlagenseminare mit 48 UE) der Weiterbildung ›Coach für Neue Autorität‹ besucht«, welche mit Ja oder Nein zu beantworten war.

Ergebnisse Die Online-Umfrage wurde als Querschnittstudie konzipiert und stand vom 15.04.2018 bis zum 30.06.2018 zum Ausfüllen zur Verfügung. Insgesamt nahmen 85 Probanden daran teil. Von ihnen waren 64 weiblich und 16 männlich, im Alter zwischen 22 und 65 Jahren (M = 41.49, SD = 11.63). 5 Probanden machten keine Angaben zu ihrem Geschlecht. Beruflich gaben die Probanden größtenteils an, in der ambulanten oder stationären Kinder- und Jugendhilfe (29 Probanden), in der Schule (21 Probanden), in Kindergarten/KiTa (10 Probanden) oder in der Familienhilfe/-beratung (7 Probanden) sowie angrenzenden Bereichen (18 Probanden) zu arbeiten. 27 Probanden gaben an, mindestens Modul 1 und 2 (Grundlagenseminare mit 48 UE) der Weiterbildung »Coach für Neue Autorität« besucht zu haben. 58 Probanden hatte keine Erfahrungen mit der Neuen Autorität bzw. die Weiterbildung nicht absolviert. Mittelwerte und Standardabweichungen der drei Ska-

563

Weiterbildung »Coach für Neue Autorität«

len (1) allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung, (2) professionelle pädagogische Präsenz und (3) wahrgenommener Stress sind in der folgenden Tabelle 1 dargestellt. Tabelle 1: Deskriptive Statistiken Weiterbildung ja

Weiterbildung nein

n

M

SD

n

M

SD

Selbstwirksamkeits-­ Erwartung

27

32.67

2.95

58

31.43

4.35

Professionelle pädagogische Präsenz

27

86.48

6.94

58

81.20

10.44

Wahrgenommener Stress

27

12.23

4.16

58

15.59

7.14

Mittels einer Korrelation nach Pearson wurden die gerichteten Zusammenhangshypothesen 1a–1c überprüft. Alle drei Hypothesen wurden signifikant (siehe Tabelle 2). Somit besteht ein negativer Zusammenhang zwischen der allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung und dem wahrgenommenen Stress (Hypothese 1a; r = –.558, p = >.000) sowie zwischen der professionellen pädagogischen Präsenz und dem wahrgenommenen Stress (Hypothese 1b; r = –.579, p = >.000). Ein positiver Zusammenhang besteht zwischen der allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung und der professionellen pädagogischen Präsenz (Hypothese 1c; r = .717, p = >.000). Alle drei Ergebnisse entsprechen gemäß der Einteilung nach Cohen (1988) einem starken Effekt. Tabelle 2: Ergebnisse der Korrelation nach Pearson Selbstwirksamkeits-­ Professionelle päda­ Erwartung gogische Präsenz SelbstwirksamkeitsErwartung

Wahrgenommener Stress

1





Professionelle pädagogische Präsenz

.717**

1



Wahrgenommener Stress

–.558**

–.579**

1

** Die Korrelation ist auf dem Niveau von p >.01 signifikant.

564

Evaluationen und Forschungsergebnisse

Tabelle 3: Ergebnisse des Levene-Tests der Varianzgleichheit F

Signifikanz

SelbstwirksamkeitsErwartung

2.791

.099*

Professionelle pädagogische Präsenz

4.683

.033

Wahrgenommener Stress

7.695

.007

* Ein Wert p >.05 bedeutet eine Homogenität der Varianzen.

Mithilfe des Levene-Tests wurden zuerst die Variablen allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung, professionelle pädagogische Präsenz und wahrgenommener Stress auf die Homogenität der Varianzen hin untersucht, welche eine Voraussetzung für den t-Test darstellt, mit dem die Unterschiede zwischen den Gruppen (mindestens Modul 1 und 2 der Weiterbildung absolviert oder nicht) untersucht werden sollten. Die Ergebnisse zeigen, dass nur die Skala allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung homogene Varianzen aufweist (siehe Tabelle 3). Der anschließende t-Test wurde jedoch nicht signifikant, t(83) = 1.34, p = .09. Für die weiteren Skalen wurde der nichtparametrische Mann-Whitney-U-Test eingesetzt, der keine homogenen Varianzen erfordert. Dieser ergab für die professionelle pädagogische Präsenz (z = –2.338, p >.000) und den wahrgenommenen Stress (z = –2.406, p >.000) jeweils ein signifikantes Ergebnis. Die Effektstärke für die professionelle pädagogische Präsenz lag bei r = .25 und für den wahrgenommenen Stress bei r = .26. Dies bedeutet, dass ein signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen auf diesen Skalen existiert, welcher nach Cohen (1988) jeweils einem schwachen Effekt entspricht.

Diskussion Die vorliegende Studie widmet sich der erstmaligen Evaluation der Weiterbildung zum »Coach für Neue Autorität« im Hinblick auf deren Auswirkungen auf die allgemeine Selbstwirksamkeit, die professionelle pädagogische Präsenz und das wahrgenommene Stresserleben bei Personen, welche im pädagogischen und therapeutischen Bereich beruflich tätig sind. Die Ergebnisse zeigen, dass alle drei Bereiche jeweils hoch miteinander korrelieren. Dies deckt sich zum einen mit der Annahme von Bandura (1994), dass eine erhöhte Selbstwirksamkeitserwartung zu einer Stressreduktion führt, und zum anderen mit der Annahme von Lemme und Körner (2018), dass Präsenz und Selbstwirksamkeit zwei ver-

Weiterbildung »Coach für Neue Autorität«

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wandte Konstrukte sind. Sie gehen dabei davon aus, dass Präsenz der Selbstwirksamkeit übergeordnet ist, Letztere also einen Teil der Präsenz ausmacht. Außerdem zeigt der Vergleich der beiden Gruppen, dass in den Bereichen professionelle pädagogische Präsenz und Stresserleben jeweils ein kleiner Unterschied besteht. Dieser Befund deckt sich mit den bisherigen Erfahrungsberichten eines verringerten Stresserlebens bei Anwendung des Konzepts. Nicht belegt werden konnte ein Unterschied in der allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung zwischen den Gruppen. Die Studie weist einige Limitationen auf, wie z. B. die unterschiedlich großen Subgruppen und die insgesamt zu kleine Stichprobe. Auch die Ergebnisse des nicht validierten Fragebogens zum Thema »professionelle pädagogische Präsenz« sollten nur mit Vorsicht interpretiert werden, da hierzu noch keine Vergleichswerte vorliegen. Hier ist weitere Forschung, bestenfalls als Längsschnittstudie, notwendig, um die Ergebnisse zu bestätigen. Ebenfalls sollten eine Weiterentwicklung und eine Validierung des Fragebogens zum Thema »professionelle pädagogische Präsenz« durchgeführt werden. Die Weiterentwicklung des Fragebogens sollte eine detailliertere Darstellung der sechs Präsenzdimensionen umfassen und Präsenz somit nicht mehr nur als ein ganzes Konstrukt erfassen. Dies führt dann auch zu der Frage, ob Selbstwirksamkeit und Präsenz zwei getrennte Konstrukte darstellen oder Selbstwirksamkeit schlussendlich als eine Facette von Präsenz angesehen werden kann. Auch sollte überprüft werden, ob die Annahmen aus dem Theorieteil bestätigt werden können, welcher besagt, dass jede Präsenzdimension Selbstwirksamkeit voraussetzt oder eben zu dieser führt. Weitere Faktoren wie Berufserfahrung und die Kenntnisse über andere Konzepte sollten in Zukunft mit in die Überlegungen einbezogen werden, da diese einen zusätzlichen Einfluss auf das Handeln der Pädagogen im Arbeitsalltag haben könnten. Insgesamt kann diese Studie trotzdem als erster positiver Versuch einer Evaluation angesehen werden. Literatur Bandura, A. (1994). Self-efficacy. In V. S. Ramachaudran (Ed.), Encyclopedia of human behavior, Vol. 4 (pp. 71–81). New York: Academic Press. Cohen, J. (1988). Statistical power analysis for the behavioral sciences (2nd ed.). Hillsdale, N.J.: Erlbaum. Cohen, S., Kamarck, T., Mermelstein, R. (1983). A global measure of perceived stress. Journal of Health and Social Behavior, 24 (4), 385–396. Enzmann, D., Kleiber, D. (1989). Helfer-Leiden: Streß und Burnout in psychosozialen Berufen. Heidelberg: Asanger.

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Evaluationen und Forschungsergebnisse

Körner, B., Lemme, M. (2018). Zertifikat/Curriculum: Coach für Neue Autorität. https://www. neueautoritaet.de/index.php?ziel=angebot#zertifikat (Zugriff am 01.02.2019). Lazarus, R. S., Folkman, S. (1984). Stress, appraisal, and coping. New York: Springer Publishing. Lee, E.-H. (2012). Review of the psychometric evidence of the Perceived Stress Scale. Asian Nursing Research, 6 (4), 121–127. Lemme, M. (2017). Schutz, Kontrolle und Neue Autorität in der Jugendhilfe – am Beispiel ElternKinder-Haus. In B. Hagen (Hrsg.), Pädagogische Arbeit in Mutter/Vater-und-Kind-Einrichtungen (S. 51–67). Dähre: Schöneworth. Lemme, M., Körner, B. (2016). »Neue Autorität« in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag. Heidelberg: Carl-Auer. Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Päda­ gogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde (3. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Poulsen, I. (2012). Stress und Belastung bei Fachkräften der Jugendhilfe. Ein Beitrag zur Burnoutprävention. Wiesbaden: Springer. Schwarzer, R., Jerusalem, M. (Hrsg.) (1999). Skalen zur Erfassung von Lehrer- und Schülermerkmalen. Dokumentation der psychometrischen Verfahren im Rahmen der Wissenschaftlichen Begleitung des Modellversuchs Selbstwirksame Schulen. Berlin: Freie Universität. Schwarzer, R., Jerusalem, M. (2002). Das Konzept der Selbstwirksamkeit. In M. Jerusalem, D. Hopf (Hrsg.), Selbstwirksamkeit und Motivationsprozesse in Bildungsinstitutionen. Zeitschrift für Pädagogik, 44. Beiheft (S. 28–53). Weinheim/Basel: Beltz. Techniker Krankenkasse (TK) (Hrsg.) (2016). Entspann dich, Deutschland. TK-Stressstudie 2016. Hamburg: Techniker Krankenkasse. Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO) (Hrsg.) (2011). Burnout auf dem Vormarsch. Pressemitteilung vom 19.04.2011. https://www.wido.de/fileadmin/wido/downloads/pdf_pressemitteilungen/wido_pra_pm_krstd_0411.pdf (Zugriff am 01.02.2019).

4.2 Auf dem Weg vom Superhelden zur kooperativen Teamkultur Evaluation einer Weiterbildung zur Einführung des Konzepts der Neuen Autorität in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Harald Kurp, Marieke Brandt und Michael Kleiske

Es war seine Weiterbildung zum Stationsleiter in der Klinik für Kinder- & Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (KJPP) Lüneburg, die Michael Kleiske auf das Konzept der Neuen Autorität stoßen ließ. Hierin entdeckte er eine Möglichkeit, die Arbeitsweise auf seiner Station weiterzuentwickeln und aktuelle Herausforderungen besser in Angriff zu nehmen. Aus dieser ersten, wenig konkreten Idee heraus entstand in Kooperation mit dem Stationsleitungsteam, der Klinikleitung und mir (Harald Kurp) eine Weiterbildung zur Einführung des Konzepts der Neuen Autorität auf der besagten Station. Dieser Beitrag gibt einen Einblick in diese Weiterbildung, die als Pilotprojekt in der Klinik für KJPP Lüneburg durchgeführt wurde. Wir wollen damit andere, die in ähnlichen Projekten tätig sind, bestärken und zugleich auf mögliche Herausforderungen aufmerksam machen. Wir, das sind Harald Kurp, der die Weiterbildung konzipiert und durchgeführt hat, Michael Kleiske, der als Stationsleiter das Pilotprojekt angestoßen hat, und Marieke Brandt, als Teammitglied der Station. Michael Kleiske und Marieke Brandt haben mit mir stellvertretend für ihr Team das damals noch laufende Pilotprojekt auf der SyNA-Tagung im April 2018 in Hannover in einem Workshop vorgestellt. Beide waren ebenfalls anwesend bei dem Rückkopplungsgespräch mit der Klinikleitung. In dessen Folge entstand die Idee zu diesem Beitrag. Zunächst beschreibe ich die Projektentwicklung und die Durchführung des Projektes. Darauf folgt die Darstellung der Evaluation. Zu Beginn und zum Ende gab es eine Erhebung mittels Fragebogen. Die Auswertung wurde in einem Rückkopplungsgespräch mit der Klinikleitung, der Stationsleitung und Vertreterinnen und Vertretern aus dem Stationsteam präsentiert und diskutiert. Vier Monate nach Beendigung der Weiterbildung habe ich anlässlich dieses Beitrags mit Michael Kleiske und Marieke Brandt ein schriftliches Interview geführt. Abschließend benennen wir unsere Erkenntnisse aus der Zusammenschau von Projektentwicklung, Durchführung und Evaluation.

568

Evaluationen und Forschungsergebnisse

Projektentwicklung Seit 2014 bin ich in der Psychiatrischen Klinik Lüneburg (PKL) in unterschiedlichen Kontexten als Supervisor tätig. In der Supervision der pflegerischen Stationsleitungen der Klinik für KJPP und in der begleitenden Ausbildungssupervision für Stationsleitungen der PKL kam Michael Kleiske wiederholt mit dem Konzept der Neuen Autorität in Berührung. Im August 2016 nahm er zu mir Kontakt auf, aufgrund einer Rundmail, in der ich auf verschiedene Angebote zum Konzept der Neuen Autorität hingewiesen hatte. Er wollte mit seiner Station einen Teamtag zur Neuen Autorität durchführen. Nach weiteren Gesprächen wurde deutlich, dass es in der Klinik für KJPP auch auf Leitungsebene ein Interesse an dem Konzept der Neuen Autorität gab. Es folgten auf unterschiedlichen Ebenen Gespräche, in denen dementsprechend weiterreichende Möglichkeiten erörtert wurden. Grundsätzlich gab es aufseiten der Klinikleitung ein hohes Interesse, da das Konzept der Neuen Autorität als prinzipiell zum Gesamtkonzept der Klinik für KJPP passend erachtet wurde. Wichtig würde jedoch eine Verknüpfung mit bestehenden Konzepten wie z. B. PART (Professional Assault Response Training) sein, das schon seit mehreren Jahren in der Klinik erfolgreich angewandt wurde. Mit dem Leitungsteam der Station erstellten wir ein Konzept für das Projekt, das mehrfach überarbeitet wurde. Schließlich entwickelten wir eine Weiterbildung, die für das gesamte Stationsteam in vier Modulen mit insgesamt 56 Stunden durchgeführt werden sollte. Durch diese für den Gesundheitsbereich hohe Stundenanzahl konnte unter Hinzunahme eines Bildungswerkes als Träger das Projekt mit EU-Mitteln gefördert werden. Zugleich war durch die Gesamtstundenanzahl eine Anerkennung für weitergehende Ausbildungen zur Neuen Autorität möglich. Ein Vorgespräch und ein Rückkopplungsgespräch mit der Klinikleitung und dem Leitungsteam der Station bildeten den Rahmen. Im Vorgespräch wurden einige aktuelle Herausforderungen sowie Ziele und Erfolgskriterien für die Weiterbildung benannt. Aktuelle Herausforderungen: •• Organisation der festen Teilnahme des Teams an allen Terminen •• Vergrößerung der Klinik mit möglichen Personalwechseln •• Sonstige Fortbildungen (PART, DBT-A), die parallel in der Klinik stattfinden Ziele und Erfolgskriterien: •• Reduzierung der Anzahl und Umgang mit Gewaltvorfällen •• Vernetzung mit Eltern und Schule

Auf dem Weg vom Superhelden zur kooperativen Teamkultur

•• •• •• ••

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Selbstbewusstsein und Reflexionsfähigkeit im Team Umgang mit Notaufnahmen Zufriedenheit und Handlungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Kooperation

Zur Überprüfung der Ziele und als Grundlage für eine anschließende Bewertung des Pilotprojektes sollte eine Evaluation mittels Fragebogen stattfinden.

Durchführung der Weiterbildung Die Weiterbildung »Stärke statt Macht – Das Konzept der Neuen Autorität in der Kinder- und Jugendpsychiatrie« wurde vom 19.08.2017 bis zum 02.06.2018 als Pilotprojekt mit dem Team einer Station der Klinik für KJPP Lüneburg durchgeführt. Teilnehmende waren: •• die leitende Oberärztin, •• die ärztlich-therapeutische Stationsleitung, •• die pflegerische Stationsleitung und deren Stellvertretung, •• eine Stationstherapeutin, •• ein Ergotherapeut, •• ein Klinikschullehrer und •• zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Pflege- und Erziehungsdienst (PED). Drei Teammitglieder beendeten die Weiterbildung bedingt durch einen Wechsel ihrer Tätigkeit in der Klinik oder Krankheit vorzeitig. Dafür nahmen zwei Teammitglieder, die neu auf der Station anfingen, an den letzten Terminen teil. Tabelle 1 zeigt den Aufbau der Weiterbildung mit ihren Inhalten und dem zeitlichen Rahmen. Wesentliche Inhalte beruhen auf dem Konzept der Neuen Autorität (vgl. Baumann-Habersack, 2015; Lemme u. Körner, 2018; Omer u. von Schlippe, 2010). Aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten wurden weitere Inhalte berücksichtigt, wie z. B. aus dem Bereich der Konfliktklärung das Step-Modell der Niveaus von Handlungsfähigkeit (van Kaldenkerken u. Kunkel-van Kaldenkerken, 2006), aus dem Bereich der Kommunikationswissenschaft der Ansatz des Wertequadrates (Schulz von Thun, 1994) sowie aus der Typologie die Überlegungen von Bents und Blank (2004).

570

Evaluationen und Forschungsergebnisse

Tabelle 1: Aufbau der Weiterbildung Modul 1

2.1 2.2

3.1 3.2 3.3 3.4

Was Einführung Einführung in die Neue Autorität: Entwicklung und Wirkung von Autorität/-en, Wahrnehmungsfilter (Person, Biografie, Werte, Wissen, Stress), Neue Autorität als Gesamtmodell, Präsenzebenen, Einführung Handlungsfelder Wahrnehmungsfilter •• Typologie: Präferenzen, Wertequadrate •• Autorität biografisch, persönliche/gemeinsame Werte Vertiefung Handlungsfelder •• Step-Modell (Niveaus von Handlungsfähigkeit), Wachsame Sorge •• Ausrufezeichen, Ankündigung, Veränderungen im Team •• Fall auf Station & Autoritätsdreieck, Schweigendes Gespräch •• Haltungsübung, Fallbearbeitung mit Leitfaden NA Punkte 1.–3.

4.7 4.8

Supervision zur Vertiefung & Umsetzung •• aktuelle Teamsituation: Bedürfnisse, Ausnahmen, Kern, Maßnahmen •• aktuelle Teamsituation: Regeln zwischen Zustimmung & Spannung •• aktuelle Teamsituation. goldene & spannende Regeln, Wertequadrat •• Interventionen & Maßnahmen am Beispiel Hockerzeit •• aktuelle Teamsituation: Kooperation, Fehlerfreundlichkeit, Krisenzeiten •• Scham, Deeskalation, Selbstführung, Wiedergutmachung •• Fallarbeit: schweigendes Gespräch, Transparenz •• Leitfaden, Auswertung & Abschluss

Summe

je Teilnehmer/-in mindestens 48 h

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Zeitraum

Zeit

19.8.17

8h

07.09.17 28.09.17

4h 4h

19.10.17

4h

09.11.17

4h

30.11.17

4h

21.12.17

4h

18.01.18

4h

08.02.18

4h

22.02.18

4h

08.03.18

4h

05.04.18

4h

14.04.18

4h

17.05.18 02.06.18

4h 4h 72 h

Während die Inhalte der Module 1 und 2 von Beginn an feststanden, habe ich die Module 3 und 4 im Prozess der Weiterbildung entwickelt. Vor allem in Modul 4 veränderte ich abhängig vom Prozess auf der Station teilweise noch in der jeweiligen Sitzung die vorbereitete Planung. Eine große Herausforderung für die Station war die Organisation der Teilnahme im laufenden Betrieb. Daraufhin haben wir den ursprünglich geplanten

Auf dem Weg vom Superhelden zur kooperativen Teamkultur

571

Umfang von sieben auf neun Tage erweitert, verteilt auf 15 Termine. So konnte gewährleistet werden, dass alle Teilnehmenden die geforderte Mindestteilnahmezeit erfüllten. Die Dokumentation der Weiterbildung erfolgte für die Teilnehmenden durch einen Reader. Dieser wurde durch mich kontinuierlich mit Materialien zur Neuen Autorität und durch Fotoprotokolle der Arbeitsergebnisse ergänzt.

Evaluation mittels eines Fragebogens Der Fragebogen zur Evaluation der Weiterbildung (Tabelle 2) wurde in Zusammenarbeit mit SyNA (Systemisches Institut für Neue Autorität) entwickelt und mit der Klinikleitung abgestimmt. Die Fragen 1 bis 10, 13 bis 15, 21 bis 23 und 26 verweisen auf die Präsenzebenen sowie die Haltungs- und Handlungsaspekte der Neuen Autorität (vgl. Lemme u. Körner, 2018). Die Fragen 11 und 12 berücksichtigen die Erfolgskriterien aus dem Vorgespräch. Die Fragen 16 bis 20 beziehen sich auf beide Kontexte. Die Fragen 24 und 25 wurden auf Wunsch der Klinikleitung aufgenommen. Mit der Aushändigung des Fragebogens erhielten die Teilnehmenden die im Folgenden dokumentierten Informationen: »Dieser Fragebogen soll der Evaluation der Weiterbildung dienen. Er wurde mit der Klinikleitung abgestimmt und dem Betriebsrat zur Kenntnis gegeben. Er soll zu Beginn, am Ende und eventuell zwischendrin von allen Beteiligten anonym ausgefüllt werden. Die Ergebnisse werden anonym ausgewertet und allen Beteiligten, dem Betriebsrat sowie der Klinikleitung zugänglich gemacht. Ggf. werden sie in anonymisierter Form für die Weiterentwicklung des Konzepts der Neuen Autorität weiter verwandt. Bei der Erhebung soll Ihr persönliches Erleben und Handeln im beruflichen Kontext erfasst werden sowie eine mögliche Veränderung bedingt durch die Weiterbildung. Gehen Sie bitte entsprechend bei der Beantwortung der Aussagen von Ihrer konkreten beruflichen Situation in Ihrem Team und auf Ihrer Station aus.«

572

Evaluationen und Forschungsergebnisse

Tabelle 2: Fragebogen Nr.

Aussage

stimmt …

 

 

nicht

kaum

weder/ eher noch

genau

1. Ich bin mir meiner physischen ­Ausstrahlung bewusst.

 

 

 

 

 

2. Ich nutze meine physische Ausstrahlung.

 

 

 

 

 

3. Ich bin geistig immer voll anwesend.

 

 

 

 

 

4. Ich lasse mich gedanklich leicht ablenken.

 

 

 

 

 

5. Ich halte alle aufkommenden Emotionen gut aus.

 

 

 

 

 

6. Ich kann Gefühle konstruktiv nutzen.  

 

 

 

 

7. Ich möchte in Auseinandersetzungen   siegen.

 

 

 

 

8. Ich bin beharrlich bei der Lösung von Problemen.

 

 

 

 

 

9. Ich kann mich selbst kontrollieren.

 

 

 

 

 

10. Ich habe genügend Möglichkeiten zur Reflexion meiner Arbeit.

 

 

 

 

 

11. Der Umgang mit Notaufnahmen fällt mir leicht, ich fühle mich dabei handlungsfähig.

 

 

 

 

 

12. Bei Gewaltvorfällen auf unserer Station erlebe ich mich souverän und angemessen handelnd.

 

 

 

 

 

13. Meine Absichten in meinem Handeln   sind eindeutig und klar.

 

 

 

 

14. Entscheidungen kommuniziere ich transparent.

 

 

 

 

 

15. Ich erlaube mir und anderen Fehler und gehe konstruktiv damit um.

 

 

 

 

 

16. Mein Team lebt eine konstruktive Fehlerkultur.

 

 

 

 

 

  17. Ich berücksichtige Eltern, Schule und sonstige Kooperationspartner in meiner Arbeit.

 

 

 

 

18. Ich erlebe mich auf meinem Arbeitsplatz sicher und frei von Angst.

 

 

 

 

 

573

Auf dem Weg vom Superhelden zur kooperativen Teamkultur

Nr.

Aussage

stimmt …

 

 

nicht

kaum

weder/ eher noch

genau

19. Ich kann mich auf meine Vorgesetzten auch in schwierigen Situationen verlassen.

 

 

 

 

 

20. Ich bin überzeugt von dem, wie wir im Team handeln.

 

 

 

 

 

21. In schwierigen Situationen kann ich mich auf meine Fähigkeiten und Lösungsideen verlassen.

 

 

 

 

 

22. Ich bleibe im Kontakt und zeige Inte-   resse für die Beziehung, auch wenn andere mich abweisen.

 

 

 

 

23. Das, was ich tue, entspricht meinen Zielvorstellungen.

 

 

 

 

 

24. Ich spreche Konflikte mit anderen Berufsgruppen/Vorgesetzten angemessen und direkt an.

 

 

 

 

 

25. Ich spreche Konflikte mit Eltern/ Lehrern/Bezugsbetreuern der Patienten angemessen und direkt an.

 

 

 

 

 

26. Entscheidungen sollten schnell ­getroffen werden.

 

 

 

 

 

Auswertung des Fragebogens Um mögliche Veränderungen in den abgefragten Dimensionen für die Reflexion des Pilotprojektes formal sichtbar zu machen, sollte der Fragebogen von den Teilnehmenden zu Beginn und zum Ende der Weiterbildung ausgefüllt werden. Bei 17 Teilnehmenden war dies möglich. Zwei Teilnehmende haben den Fragebogen nur zu Beginn ausgefüllt und zwei nur am Ende. Dementsprechend lagen zum Vergleich zweimal 19 Fragebögen vor. Aufgrund fehlender Chiffrierung, war die Zuordnung der einzelnen Fragebögen zum zweiten Testzeitpunkt leider nicht realisierbar. Es wurde daraufhin zur statistischen Überprüfung ein U-Test für jede Frage durchgeführt, mögliche Abhängigkeiten wurden also nicht berücksichtigt. Dieser nichtparametrische Test untersucht zwei Stichproben auf Unterschiedlichkeit (Kähler, 2011) und zeigte für die Fragen 16 und 26 einen signifikanten Unterschied. Signifikant werden hier Werte unter 0,05 genannt, die eine überzufällige Unterscheidung in den Angaben aus den Fragebögen vor und nach der Weiterbildung beschreiben (Tabelle 3).

1

5. Ich halte alle aufkommenden Emotionen gut aus.

9. Ich kann mich selbst kontrollieren.

1

8

7. Ich möchte in Auseinandersetzungen siegen.

8. Ich bin beharrlich bei der Lösung von Problemen.

4

6. Ich kann Gefühle kon­ struktiv nutzen. 4

4

11

4. Ich lasse mich gedanklich leicht ablenken. 4

3

1

14

14

4

13

13

3

14

11

12

weder/ eher noch

3. Ich bin geistig immer voll anwesend.

1

kaum

4

3

nicht

19.08.17 n = 19

2. Ich nutze meine physische Ausstrahlung.

1. Ich bin mir meiner physischen Ausstrahlung bewusst.

stimmt …

Tabelle 3: Auswertung des Fragebogens

5

4

1

1

1

2

4

5

genau

4

1

nicht

1

3

13

kam

9

3

2

3

3

13

10

2

11

15

2

14

12

13

weder/ eher noch

02.06.18 n = 19

6

7

5

2

2

6

6

genau

–,053

–,120

.184

–,272

–,263

.368

.000

–,333

–,211

Mittelwert Differenz

.795

.408

.620

.258

.311

.284

1

.178

.525

U-Test Signifikanz

574 Evaluationen und Forschungsergebnisse

8

1

3

15. Ich erlaube mir und anderen Fehler und gehe konstruktiv damit um.

16. Mein Team lebt eine konstruktive Fehlerkultur. 11

11

14. Entscheidungen kommuniziere ich transparent.

10

14

4

12. Bei Gewaltvorfällen auf unserer Station erlebe ich mich souverän und angemessen handelnd.

9

13. Meine Absichten in meinem Handeln sind eindeutig und klar.

3

11

weder/ eher noch

11. Der Umgang mit Notaufnahmen fällt mir leicht, ich fühle mich dabei handlungsfähig.

kaum

2

nicht

10. Ich habe genügend Möglichkeiten zur Reflexion meiner Arbeit.

stimmt …

19.08.17 n = 19

5

10

8

5

5

6

6

genau

nicht

3

kam

9

2

1

3

6

12

15

12

11

10

11

weder/ eher noch

02.06.18 n = 19

2

7

5

7

6

8

5

genau

.842

.105

.158

–,105

–,158

–,202

.053

Mittelwert Differenz

.003*

.525

.418

.583

.544

.433

.817

U-Test Signifikanz

Auf dem Weg vom Superhelden zur kooperativen Teamkultur

575

3

22. Ich bleibe im Kontakt und zeige Interesse für die Beziehung, auch wenn andere mich abweisen. 10

13

1

21. In schwierigen Situationen kann ich mich auf meine Fähigkeiten und Lösungsideen verlassen.

8

16

2

19. Ich kann mich auf meine Vorgesetzten auch in schwierigen Situationen verlassen.

12

20. Ich bin überzeugt von dem, wie wir im Team handeln.

4

10

weder/ eher noch

18. Ich erlebe mich auf meinem Arbeitsplatz sicher und frei von Angst.

kaum

2

nicht

17. Ich berücksichtige ­Eltern, Schule und son­ stige Kooperationspartner in meiner Arbeit.

stimmt …

19.08.17 n = 19

6

4

3

8

3

7

genau

nicht

1

1

kam

2

1

2

2

1

11

13

12

8

12

11

weder/ eher noch

02.06.18 n = 19

6

5

3

8

6

8

genau

–,053

–,044

.213

.123

–,263

–,158

Mittelwert Differenz

.863

.845

.499

.799

.246

.563

U-Test Signifikanz

576 Evaluationen und Forschungsergebnisse

9

26. Entscheidungen sollten schnell getroffen werden. 1

2

25. Ich spreche Konflikte mit Eltern/Lehrern/ Bezugsbetreuern der Patienten angemessen und direkt an.

3

1

8

14

13

13

weder/ eher noch

24. Ich spreche Konflikte mit anderen Berufsgruppen/Vorgesetzten angemessen und direkt an.

kaum

2

nicht

23. Das, was ich tue, entspricht meinen Zielvorstellungen.

stimmt …

19.08.17 n = 19

1

3

2

4

genau

1

nicht

3

kam

12

1

1

3

12

15

16

weder/ eher noch

02.06.18 n = 19

6

3

3

genau

.579

–.211

–,263

–,053

Mittelwert Differenz

.037*

.339

.339

.863

U-Test Signifikanz

Auf dem Weg vom Superhelden zur kooperativen Teamkultur

577

578

Evaluationen und Forschungsergebnisse

Die quantitativen Daten wurden, auch aufgrund der kleinen Stichprobe, mit Vorsicht interpretiert. Der Fokus lag auf dem qualitativen Erkenntnisgewinn. Es schien mir dahingehend für die Reflexion der Weiterbildung und das dazugehörige Rückkopplungsgespräch mit der Klinikleitung wichtig und sinnvoll, auch einige Fragen mit nicht signifikanten Unterschieden zu diskutieren. In Kombination mit den qualitativen Interviews ergaben sich für die gemeinsame Rückschau auf das Pilotprojekt anlässlich dieses Beitrags wertvolle Erkenntnisse.

Rückkopplungsgespräch mit der Klinikleitung Das Rückkopplungsgespräch erfolgte zwei Monate nach Beendigung der Weiterbildung. Es waren mit mir acht Personen anwesend: vonseiten der Klinikleitung der Chefarzt und die neue Pflegedienstleitung, vonseiten des Stationsteams die leitende Oberärztin, die ärztlich-therapeutische Leitung, die pflegerische Stationsleitung sowie eine Vertreterin und ein Vertreter aus dem PED. Grundlagen des Gesprächs waren eine Vorlage mit den benannten Herausforderungen, Zielen und Erfolgskriterien aus dem Vorgespräch, der Weiterbildungs-Reader, eine gesonderte Evaluation seitens des Bildungsträgers sowie die Auswertung des Fragebogens, wie in Tabelle 3 dargestellt. Die Evaluation seitens des Bildungsträgers bezog sich vor allem auf Lerngewinn, Zufriedenheit, Inhalt und Gestaltung sowie Klima und Rahmenbedingungen der Weiterbildung. Mit einer Abweichung fiel sie durchgängig sehr gut aus. Da diese Auswertung weder einen Vergleich darstellen konnte noch inhaltlich weiter auf das Konzept der Neuen Autorität und dessen mögliche Wirkung einging, wird sie hier nicht weiter hinzugezogen. Die Vorlage der Fragebogenergebnisse bot einen guten Ausgangspunkt, um gemeinsam über die Weiterbildung zu reflektieren. Mit Blick auf die Ziele und Erfolgskriterien wurde Folgendes diskutiert: •• Reduzierung der Anzahl und Umgang mit Gewaltvorfällen: Da die Anzahl nicht über den Fragebogen abgefragt wurde, lässt sich hierzu keine Aussage treffen. Beim Umgang scheint sich das Team handlungsfähiger zu erleben. Dafür spricht auch die positive Tendenz bei den Fragen 11, 12 und 25. •• Vernetzung mit Eltern und Schule: Die Vernetzung mit der Schule hat sich vor allem dadurch verbessert, dass ein Lehrer aus der Klinikschule sehr engagiert und überzeugt an der Weiterbildung teilgenommen hat. Das Thema der Vernetzung mit Eltern wurde während der Weiterbildung bedingt durch die aktuellen Themen im Stationsteam nicht weiter behandelt. Hier wäre noch eine Vertiefung hilfreich. Leicht positiv berichten dazu die Fragen 17 und 25.

Auf dem Weg vom Superhelden zur kooperativen Teamkultur

579

•• Selbstbewusstsein und Reflexionsfähigkeit im Team: Hier wurde eine positive Veränderung am stärksten wahrgenommen. Dies ist sicherlich beeinflusst durch die Tatsache, dass dem Team durch die Weiterbildung viel Zeit für gemeinsam begleitete Reflexion zur Verfügung stand, unabhängig von den Inhalten der Weiterbildung. Für ein Wirken des Konzepts der Neuen Autorität könnten die positiven Veränderungen in Bezug auf die Reflexion der Präsenzebenen (Fragen 1, 2, 4, 5, 6). und in Bezug auf den Haltungsaspekt der Selbstkontrolle (Fragen 7, 26) hinweisen. •• Umgang mit Notaufnahmen: Hier scheint eine Verbesserung wahrgenommen zu werden (Frage 11.). Für einen gelasseneren Umgang könnte auch die Veränderung bei Frage 26 (Entscheidungen sollen schnell getroffen werden) sprechen. •• Zufriedenheit und Handlungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Diese scheinen zugenommen zu haben. Hierauf könnten die Fragen nach der Handlungsfähigkeit bei Notaufnahmen, bei Gewaltvorfällen und in Konfliktsituationen (Fragen 11, 12, 18, 24, 25) deuten. •• Kooperation: Die Kooperationsfähigkeit scheint sich verbessert zu haben. Die Einbeziehung von Eltern, Schule und sonstigen Kooperationspartnern hat leicht zugenommen (Frage 17). Auch wird die Fähigkeit, Konflikte in Kooperationen angemessen anzusprechen, als verbessert wahrgenommen (Fragen 24, 25). Insgesamt positiv wurde erlebt, dass die unterschiedlichen Berufsgruppen bei der gesamten Weiterbildung vertreten waren. Dadurch habe sich die Kooperation untereinander verbessert. In Bezug auf die Kooperation mit anderen Stationen ließ sich keine Aussage machen. Interessant sind die Fragen 16 und 20, die auf eine Veränderung hinweisen, die im Hinblick auf die Formulierung der Fragen scheinbar als negative Tendenz zu bewerten wäre. Zum einen ist die Überzeugung, dass »mein Team eine kon­struktive Fehlerkultur lebt«, gesunken (Frage 16) und zum anderen auch die Überzeugung »von dem, wie wir im Team handeln«, geringer geworden (Frage 20). In der Diskussion gab es vor allem bei den Teammitgliedern der Station die Deutung, dass dies eher ein positives Ergebnis dessen ist, dass durch die Weiterbildung das Vertrauen im Team und die gemeinsame Reflexionsbereitschaft gestiegen seien. Entsprechend würde jetzt ehrlicher und offener über die Situation gesprochen. Zum Start der Weiterbildung befand sich das Team in einer belastenden und herausfordernden Situation, verbunden mit unterschiedlichsten Konflikten. In der Weiterbildung kam dies im Modul 1 nicht zur Sprache, da wahrscheinlich das Vertrauen sowohl in meine Person als auch in die Wirksamkeit des Konzepts der Neuen Autorität noch nicht gegeben war. Es

580

Evaluationen und Forschungsergebnisse

könnte also sein, dass die Situation bezogen auf die Fehlerkultur im Team und die Überzeugung vom Handeln des Teams zu Beginn in der Realität schlimmer war, jedoch aus Schutz nach außen nicht ehrlich benannt wurde. Dies änderte sich im Laufe der Weiterbildung. Insbesondere in Modul 4 wurde das Konzept der Neuen Autorität auf die aktuelle Situation im Stationsteam angewandt und von der überwiegenden Mehrheit als unterstützend erlebt.

Evaluation mittels zweier Interviews Um die bisher beschriebenen Erkenntnisse zu vertiefen, werden im Folgenden zwei Interviews wiedergegeben, die vier Monate nach Beendigung der Weiterbildung schriftlich durchgeführt wurden. Zunächst wird Michael Kleiske in seiner Rolle als Stationsleiter befragt, der das Projekt auf seiner Station initiiert hatte. Interview mit Michael Kleiske, Stationsleitung Was war die Motivation, sich mit dem Thema »Neue Autorität« zu beschäftigen und eine Weiterbildung hierfür zu initiieren? Im Rahmen der meine Stationsleitungsweiterbildung begleitenden Supervision bei Harald Kurp kam Neue Autorität als ideengebendes Thema immer mal wieder zur Sprache. Das hat mich dazu bewogen, »Stärke statt Macht« von Haim Omer und Arist von Schlippe zu lesen. Die pädagogische Arbeit mit psychiatrisch auffälligen Kindern in unserer Klinik war bisher eher von klassischer Autorität geprägt. Die kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung besteht seit Mitte der 1980er Jahre, die psychiatrische Klinik an sich bereits seit 1902. Da die Pflegekräfte überwiegend im eigenen Haus ausgebildet wurden, gibt es einen großen Faktor Betriebskultur in der Arbeit mit Menschen, über den neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Umgang mit den Klienten erlernen. Die zentralen Fragen, die zu der Weiterbildung geführt haben, waren: Wie kann man das, was wir erfolgreich tun, lernbar machen? Wie kann man die klassischen Prägungen verbessern? Neue Autorität schien dafür geeignet. Welche Erwartungen oder auch Befürchtungen hatten Sie zu Beginn der Weiterbildung? Das Gelingen unserer Arbeit und des Miteinanders im Team ist Schwankungen unterworfen. Während der Vorbereitungs- und Planungsphase gelangen das Miteinander und damit auch die Arbeit überwiegend gut. In den drei

Auf dem Weg vom Superhelden zur kooperativen Teamkultur

581

Monaten vor Beginn der Weiterbildung hatten wir allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen: häufige Unterbesetzungen und ebenso häufige Überbelegungen der Station, Personalwechsel und schwierige Patientenkonstellationen. Die Frage war, ob vor dem Hintergrund der Belastungen eine so große Weiterbildung auf offene Ohren stoßen kann. Die Finanzierung des Projekts mit EU-Fördermitteln hing u. a. davon ab, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf eine im Vorfeld festgelegte Mindeststundenzahl kommen. Falls dies nicht zu gewährleisten wäre, wären die Mittel gekürzt und damit einige ungeplante Kosten auf die Klinik zugekommen. Da das Projekt im laufenden Betrieb organisiert war, waren Ausfälle schon programmiert. Dass es nicht gelingen könnte, die Vorgaben einzuhalten, war nicht nur im Vorfeld, sondern über den gesamten Zeitraum eine Befürchtung. Inhaltlich war ich mir ziemlich sicher, dass Neue Autorität eine gute Resonanz finden würde. Was hat Sie in den einzelnen Seminaren der Weiterbildung besonders gestärkt und was waren die besonderen Herausforderungen? Ganz klar stärkend war, dass wir uns als Team gemeinsam Zeit nehmen konnten, unter verschiedenen Aspekten unsere persönlichen Perspektiven zu beleuchten und daran gemeinsame Haltungen zu entwickeln. Wir nehmen uns sonst bisher zu wenig Zeit für Reflexion. Die besondere Herausforderung war die schon bei den Befürchtungen genannte Schwierigkeit, alles im laufenden Betrieb zu organisieren, ohne die Stationsarbeit dafür ruhen lassen oder abgeben zu können, und dennoch die geforderte Stundenzahl für alle zu erreichen. Krankheitsausfälle, bereits vorher geplante Urlaube etc. mussten ständig angepasst werden. Wie schätzen Sie den Verlauf der Weiterbildung ein? Hat sie eine gute Entwicklung genommen? Gab es Momente, wo Sie gezweifelt haben, ob die Weiterbildung für Ihre Station nützlich ist? Ja, es gab klar eine gute Entwicklung. Da Neue Autorität aber nicht einfach ein Kochbuch ist, aus dem man sich mal schnell passende Rezepte suchen kann, sondern ein viel größerer Anteil aus Haltung gespeist wird, hat es länger als erwartet gedauert, bis eine Wirkung zu spüren war. Nach ungefähr der Hälfte der Weiterbildung habe ich mich gefragt, ob es vielleicht einfach nur die zusätzliche Zeit zur Reflexion der Arbeit ist, die uns nutzt. Wie haben sich aus Ihrer Sicht die Durchführung der Weiterbildung und die Auseinandersetzung jedes einzelnen Teammitgliedes mit dem Konzept der Neuen

582

Evaluationen und Forschungsergebnisse

Autorität auf der Station und im Klinikum ausgewirkt (z. B. gegenüber Kindern, im Team, auf Leitungsebene)? Vielfältig. Es gibt insgesamt eine höhere Achtsamkeit gegenüber dem, was ich mittlerweile »Anstaltsreflexe« nenne. Der alte Ablauf bei Schwierigkeiten war oft davon geprägt, dass jemand mit einer vermeintlichen Lösung vorgeprescht ist und die Situation superheldenartig gelöst hat. »Da muss man…–, ist die dazugehörige Einleitung. Da es viele erfahrene und fitte Mitarbeiter gibt, hat das oft funktioniert, aber eben nicht immer. Und eine Gemeinsamkeit im Handeln wurde dadurch auch nicht gefördert. Eher eine Kultur von Superhelden und Mitläufern. Begünstigt werden diese Anstaltsreflexe auch vom häufigen Zeitmangel, der natürlich schnelle Lösungen erst einmal attraktiver erscheinen lässt. Erfreulich ist, dass sowohl auf Leitungsebene als auch auf anderen Stationen ein Interesse daran besteht, was wir jetzt anders machen und warum. Auch jahrzehntelang erfahrene Mitarbeiter haben noch Haltungsänderungen erlebt. Die Streitkultur hat sich meines Erachtens insgesamt verbessert. Was messbar sein müsste, ist, ob sich die Anzahl von Zwangsmaßnahmen verringert hat. Dazu ist eine Statistik angefordert, die aber noch in Arbeit ist. Was denken Sie ist der zentrale Gewinn Ihrer Einrichtung durch die Weiterbildung? Vor allem vor dem Hintergrund eines alten Krankenhauses, in dem gerade Pflegekräfte zum Teil über mehrere Generationen arbeiten, gibt es wie bemerkt einen wichtigen Faktor Betriebskultur. Über den Superheldenaspekt dieser Kultur sprechen zu können und offengelegt zu haben, dass nicht Geschwindigkeit und schneller Effekt Erfolgskriterien sind, ist ein enormer Gewinn. Die alten Erfahrungen und Erfolgsrezepte sind ja noch da und werden auch nicht entwertet. Jetzt haben wir aber Wege, auch die wichtigen Aspekte, die von leiseren oder länger überlegenden Kollegen kommen, berücksichtigen zu können. Wir haben vor ca. zehn Jahren PART eingeführt, ein System, nach dem wir als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Gewalt begegnen. Dies wurde zu Beginn sehr kritisch gesehen, wir »konnten ja schon alles beherrschen«. Mittlerweile ist die Deeskalation von potenziell gefährlichen Situationen der wichtige Teil geworden, während es zu Beginn noch Körpertechniken waren. Die Kultur zum Thema »Gewalt« hat sich spürbar verändert. Wenn wir dem Konzept der Neuen Autorität auch gebührend Zeit und Raum zum Anwachsen geben, bin ich überzeugt, dass auch diese Kulturveränderung gelingen wird. Inwiefern hat die Weiterbildung Ihnen in Ihrer täglichen Arbeit geholfen? Gibt es Beispiele, wo Sie als Stationsleitung anders agieren/wo Ihr Team anders agiert als vor der Weiterbildung?

Auf dem Weg vom Superhelden zur kooperativen Teamkultur

583

Da fügt sich dann der vermeintliche Widerspruch von Haltung und Kochbuch wieder zusammen. Durch Haltungsänderung gelingt es uns, glaube ich, besser, im Team neue Rezepte zu schreiben. Es gab deutliche Signale, dass sich mein Führungsverhalten verändert hat. Ich glaube, dass das stimmt, zumal ich in der kritischen Phase vor Beginn der Weiterbildung viele Situationen klassisch autoritär zu lösen versucht habe, womit es mir am Ende allerdings selber schlecht ging. Jetzt habe ich bei Schwierigkeiten entweder andere Gedanken dazu oder aber den von uns erarbeiteten Leitfaden zur Hand, den ich als hilfreich erlebe. Als Beispiel kann vielleicht herhalten, dass es mehrfach erfolgreich war, hektisch werdende Kolleginnen zur Langsamkeit zu animieren. Wir waren in diesen Szenen unterbesetzt und hatten derartig viel zu erledigen, dass der alte Reflex aufkam, schneller zu laufen, sich weniger abzusprechen, darüber aber auch hektischer zu werden, Situationen schneller schubladenmäßig zu beurteilen und abzuhandeln usw. Anstaltsreflexe eben. »Bitte mach kleinere Schritte, ich komm nicht hinterher!«, wurde als erfolgreiche Intervention rückgemeldet. Geschafft haben wir unsere Arbeit dann doch, weniger gestresst. Im zweiten Interview wird Marieke Brandt als Teammitglied befragt, die vor der Weiterbildung keine Berührung mit dem Konzept der Neuen Autorität gehabt hatte. Interview mit Marieke Brandt, Mitarbeiterin im PED Welche Erwartungen oder auch Befürchtungen hatten Sie zu Beginn der Weiterbildung? Inhaltlich und fachlich betrachtete ich unser Team schon vor der Weiterbildung überwiegend als sehr kompetent. Eine dem Kind zugewandte und wertschätzende Haltung war bei allen vorhanden und die beste Ausgangslage für angemessenen Umgang mit psychiatrisch auffälligen Kindern. In einem multiprofessionellen Team übliche Uneinigkeiten bezüglich des Umgangs mit verschiedensten Patientinnen und Patienten habe ich prinzipiell als nur schwer überwindbar angesehen. Vor diesem Hintergrund erwartete ich vor allem, in meiner bestehenden Haltung gestärkt zu werden und mit dem Team eine gemeinsame Sprache für unsere Arbeit zu finden. Welche Reaktionen haben Sie im Vorwege im Team wahrgenommen? Zu Beginn der Weiterbildung befand sich unser Team in einer schwierigen Situation, es gab aus verschiedensten Gründen viele Unstimmigkeiten, Reibereien und Rivalitäten. Eigentlich erlebte sich das Team immer als sehr harmo-

584

Evaluationen und Forschungsergebnisse

nisch, und es schien für alle Mitglieder schwer aushaltbar, dass es im Sommer 2017 nicht wie gewohnt funktionierte. Die Aussicht, eine große Weiterbildung mit dem ganzen Team und verschiedensten Berufsgruppen zu starten, löste ambivalente Gefühle aus. Einerseits bestand die Hoffnung, durch eine intensive Bearbeitung fachlicher und selbstreflexiver Inhalte den Fokus des Teamgeschehens wieder auf die Arbeit zu lenken und gestärkt aus der Weiterbildung zu gehen. Andererseits befürchteten wir, dass die Weiterbildung zum aktuellen Zeitpunkt eine Überforderung darstellen könnte. Was hat Sie in den einzelnen Seminaren der Weiterbildung besonders gestärkt und was waren die besonderen Herausforderungen? Die vielen Aufgaben, die zur Selbstreflexion angeregt haben, habe ich für mich und auch für meine Kolleginnen und Kollegen als sehr stärkend empfunden. Einerseits haben wir uns z. B. in Erzählungen über unsere persönlichen Erziehungserfahrungen besser kennengelernt, andererseits gab es Raum und Zeit, eigenes Handeln vor verschiedenen Hintergründen zu betrachten. Hierfür ist im Stationsalltag schlicht kein Platz. Herausfordernd war, von den üblichen Einordnungen und Wertungen über bestimmte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren Haltung Abstand zu nehmen. In vielen Reflexionsübungen erarbeiteten wir einen konstruktiveren Umgang mit den Verschiedenheiten unseres Teams, indem wir von Vorwürfen und Anschuldigungen immer mehr Abstand nahmen. Hilfreich hierfür war besonders die Betrachtung der Werte, die hinter unterschiedlichen Haltungen stehen, und typischer negativer Unterstellungen verschiedener Haltungen gegenüber anderen. Wie schätzen Sie den Verlauf der Weiterbildung ein? Hat sie eine gute Entwicklung genommen? Gab es Momente, wo Sie gezweifelt haben, ob die Weiterbildung für Ihre Station nützlich ist? An einer Nützlichkeit habe ich selten bis nie gezweifelt, an einer Machbarkeit zeitweise umso mehr. Durch die Umsetzung der Weiterbildung neben dem laufenden Schichtbetrieb bedeutete sie für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine deutliche Belastung. Hinzu kam die nicht unanstrengende Beschäftigung mit sich selbst, je individuell und für das Team als Gesamtheit. Dennoch war jeder Termin aufs Neue hilfreich und in gewisser Weise erleichternd. Häufig standen wir Kolleginnen und Kollegen danach noch einige Zeit zusammen und unterhielten uns angeregt über die Erkenntnisse. Wir gingen mit einem besseren Gefühl nach Hause, als wir gekommen sind. Hierzu trug ohne Zweifel die Flexibilität des Weiterbildungsleiters bei, der hervorragend auf die situativen Bedürfnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer eingegangen ist.

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Wie haben sich aus Ihrer Sicht die Durchführung der Weiterbildung und die Auseinandersetzung jedes einzelnen Teammitgliedes mit dem Konzept der Neuen Autorität auf der Station und im Klinikum ausgewirkt (z. B. gegenüber Kindern, im Team, auf Leitungsebene)? Ich erlebe an vielen Stellen eine Veränderung durch die Weiterbildung: Im Umgang mit den Kindern ist am deutlichsten merkbar, dass das klassische Verständnis von zu gewinnenden Machtkämpfen vor allem bei Patientinnen und Patienten mit Regelakzeptanzproblematik hinterfragt wird. Diese Entwicklung ist besonders interessant, da uns vor allem bei Verweigerungen der Kinder häufig nur eine Kaskade an vermeintlich pädagogischen Konsequenzen zur Verfügung stand, an deren Ende das Kind häufig in seinen psychischen Grundbedürfnissen der Kompetenz, Autonomie und sozialen Eingebundenheit beschnitten wurde. Wir lernen jetzt, wie wir anders zwischen Grenzsetzung, dem Ziel der verbesserten Regelakzeptanz und der Wahrung der Grundbedürfnisse vermitteln können, ohne dem Kind lediglich beizubringen, dass die Erwachsenen konsequent und stärker sind. Auf der Team- und Leitungsebene ist ein deutlich entspannterer Umgang merklich. Es sind Themen besprechbar geworden, die sich mir bisher als unumstößlich präsentiert haben. So beginnen wir unseren viel zu langen Regelkatalog zu hinterfragen. Außerdem werden Behandlungsvorschläge von verschiedenen Teammitgliedern weniger als Vorwurf oder Anklage der Unfähigkeit formuliert und wahrgenommen. An diesem Punkt arbeiten wir indes weiter, genauso wie an der Fehlerkultur, die sich verbessert hat, aber dennoch ausbaufähig ist. An eine merkbare und zu dieser Zeit noch schlecht überwindbare Herausforderung kommen wir mit dem Anspruch der Transparenz. Wir wissen um deren Bedeutung, gerade im Umgang mit der Patientengruppe. Wir versuchen so gut wie möglich, mit jedem Kind individuell umzugehen. Warum wir bei welchem Kind wie reagieren, ist allerdings nicht immer für die ganze Gruppe erkennbar. So darf sich das eine Kind etwas erlauben, was wir bei einem anderen nicht dulden. Hier könnte laut Neuer Autorität die Transparenz greifen, indem wir veröffentlichen, warum wir wie handeln. Das ist allerdings gerade im psychiatrischen Setting nur schwer umsetzbar, wenn es sich bei verschiedenen Kindern um verschiedenste Traumatisierungen oder andere schwierige Themen handelt, die schon aufgrund der Schweigepflicht oder wegen möglicher Trigger nicht mit allen besprochen werden sollen und können. Als eine weitere Herausforderung erleben wir, dass Eltern und Angehörige eher nach einer herkömmlichen, traditionellen Autorität verlangen, wenn wir ihnen Erziehungsberatung geben. Sie scheint als einfacher lernbar und schnel-

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ler wirkungsvoll erlebt zu werden. Die Angehörigen wollen lernen, konsequent zu sein und »sich durchzusetzen«, und das alles am besten mit einer kurzschrittigen Anleitung. Genug Zeit, um ihnen die neu gewonnenen Ansätze zu vermitteln, sieht die Behandlungsplanung im Moment leider nicht vor. Hinzu kommt, dass viele Eltern und Angehörige leider schon durch zweiwöchentliche Elterngespräche überfordert zu sein scheinen oder gar nicht erreichbar sind. Wir freuen uns dennoch, diese angeführten Grenzen in der Zukunft durch weiteres Ausprobieren und Reflektieren zu überwinden. Etwas Geduld für das Anwachsen des Konzepts müssen wir uns natürlich noch geben. Was denken Sie ist der zentrale Gewinn Ihrer Einrichtung durch die Weiterbildung? Die von mir zu Beginn der Weiterbildung gewünschte gemeinsame Sprache ist hilfreich für den täglichen Umgang mit den Kindern und im Team. Fallbesprechungen laufen z. B. durch den Leitfaden und die darin enthaltene Körbe-Methode deutlich effektiver und zielführender ab. Gewinnbringend war auch die lange Auseinandersetzung des Teams und dessen Mitgliedern mit sich selbst und den verschiedenen Haltungen. Sie führte zu noch mehr Akzeptanz untereinander. Zusätzlich war sicherlich die Wertschätzung, die dem Team durch die Gewährleistung einer großen gemeinsamen Weiterbildung durch die Klinik zugekommen ist, wichtig, um sich ein so großes Projekt zuzutrauen und es gewinnbringend in die tägliche Arbeit einfließen zu lassen. Dadurch erlebe ich das Team motiviert, neue Wege auszuprobieren. Inwiefern hat die Weiterbildung Ihnen in Ihrer täglichen Arbeit geholfen? Gibt es Beispiele, wo Sie/Ihr Team/Ihre Leitung anders agieren als vor der Weiterbildung? Mir fällt in meiner eigenen Arbeit auf, dass ich in Konflikt- und Gefahrsituationen entspannter bin. Ich fühle mich deutlich für mein und nur mein Handeln verantwortlich und kann besser damit umgehen, bei mir zu bleiben und verkrampfende Gedanken wie »aber er/sie müsste doch …« beiseitezuschieben. Als besonders hilfreiche Methode hat sich das »Schweigende Gespräch« herausgestellt. Hierdurch konnten ich und mein Team die positive Erfahrung machen, dass Zwangsmaßnahmen verhindert wurden, die früher sicherlich als letztes Mittel stattgefunden hätten. Dies ist besonders bei den oben angesprochenen Verweigerungssituationen hilfreich. Außerdem hat sich schon jetzt etabliert, nicht sofort reagieren zu müssen. Das scheint allen zu mehr Gelassenheit und auch Beharrlichkeit verholfen zu haben. Es wird heute begrüßt, wenn bei störendem Verhalten nicht sofort mit einer Konsequenz reagiert wird. Vor der Weiterbildung wurde dies noch als Hilflosigkeit abgetan.

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Abschließende Erkenntnisse In der gemeinsamen Rückschau auf die Durchführung des Projektes sowie die Evaluation per Fragebogen und Interviews ist uns als Autoren deutlich geworden: •• Das Konzept der Neuen Autorität bietet eine Alternative zu althergebrachten traditionellen Mustern und Verhaltensweisen, die sich über lange Jahre in der professionellen Arbeit etabliert haben. Die Weiterbildung ermöglicht eine Reflexion der bisherigen Sichtweisen und öffnet die Perspektive für eine der heutigen Zeit angemessene Haltung, ohne bisher Bewährtes abzuwerten. •• Der laufende Betrieb mit seinen Anforderungen und Strukturen sowie die lang gewachsene Betriebskultur entwickeln eine Dynamik, die für Rückschritte und Wiederholungsschleifen sorgt. Eine regelmäßig begleitete Reflexion über einen längeren Zeitraum für das Team und für die Leitungskräfte ist notwendig, da es je individuell und gemeinsam nicht nur um die Aneignung einzelner Methoden, sondern um eine Haltungsentwicklung geht. •• Es braucht Beharrlichkeit und vor allem intentionale Präsenz für die Haltung der Neuen Autorität bei der Leitung und einem überwiegenden Teil des Teams. Dies gilt sowohl bei der Entwicklung und Durchführung als auch in der weiteren Umsetzung, die immer wieder durch alte Muster und Herausforderungen von außen auf die Probe gestellt wird. Dabei kann es sein, dass nicht alle diesen Entwicklungsweg mitgehen können oder wollen. •• Grundvoraussetzung für ein solches Projekt ist, dass es von der Klinikleitung gewollt und unterstützt wird und es im Leitungsteam der Station ein gemeinsames Verständnis zum Vorgehen gibt. •• Insgesamt ist das Projekt positiv verlaufen. Viele Entwicklungen wurden angestoßen, und das Team hat für sich neue Handlungsmöglichkeiten gefunden. Zugleich gibt es das Bewusstsein, dass der Prozess weitergeht. •• Für die Zukunft könnte eine quantitativ ausgerichtete Evaluation ein wertvolles weiteres Instrument sein, um den Wert einer solchen Weiterbildung und die Wirkung der Neuen Autorität im professionellen Kontext weiter sichtbar zu machen. Literatur Baumann-Habersack, F. (2015). Mit neuer Autorität in Führung. Warum wir heute präsenter, beharrlicher und vernetzter führen müssen. Wiesbaden: Springer. Bents, R., Blank, R. (2004). Typisch Mensch. Einführung in die Typentheorie (3., überarb. Aufl.). Göttingen: Beltz Test/Hogrefe.

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Kähler, W.-M. (2011). Statistische Datenanalyse. Verfahren verstehen und mit SPSS gekonnt einsetzen (7. Aufl.). Wiesbaden: Vieweg + Teubner. Lemme, M., Körner, B. (2018). Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Omer, H., von Schlippe, A. (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schulz von Thun, F. (1994). Miteinander reden: 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Differentielle Psychologie der Kommunikation. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Van Kaldenkerken, C., Kunkel-van Kaldenkerken, R. (2006). Erfahrungen aus der Mediation für die Unternehmensberatung. In E. Bamberg, J. Schmidt, K. Hänel (Hrsg.), Beratung, Counseling, Consulting (S. 281–303). Göttingen: Hogrefe.

Die Autorinnen und Autoren

Katharina Barandun absolvierte an der FH Nordwestschweiz in Otten den Master of Advanced Studies MAS Gesundheitsförderung und Prävention. Sie war in verschiedenen Ländern (u. a. Holland, Liberia und den Vereinigten Arabischen Emiraten) tätig und arbeitete mehrere Jahre als Sozialarbeiterin im Suchtbereich, bevor sie sich auf die Arbeit mit Migrantinnen und Migranten spezialisierte. Seit 2004 ist sie Sozial und Gemeinwesenarbeiterin bei der Stiftung Wohnungen für kinderreiche Familien der Stadt Zürich. 2004–2006 setzte sie das Pionierprojekt »Fit in die Zukunft« um. Kontakt: [email protected] Website: www.barandun-interkultur.ch Frank H. Baumann-Habersack, M.A. Mediation und Konfliktmanagement, forscht im Kontext Führung zu Autorität und Konflikten. Er ist tätig als Mediator und Berater für Organisationen aller Art bei Führungsfragen sowie als Publizist. Kontakt: [email protected] Website: www.baumann-habersack.de Markus Bernard, Diplom-Pädagogin, Studium zum Lehramt an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung an der Universität Würzburg. Er ist Lehrkraft an der Graf-zu-Bentheim-Schule in Würzburg und zuständig für Intensivklassen und die Beschulung in der Klinik am Greinberg in Würzburg. Er ist in Ausbildung zum systemischen Coach für Neue Autorität. Kontakt: [email protected] Franziska Bieda M.A., Rehabilitationspädagogin/Soziologin, ist in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, ‑psychotherapie und -psychosomatik der Rheinhessen-Fachklinik Mainz im Sozialdienst tätig. In diesem Rahmen bietet sie Elternberatung und Elterngruppen an.  Kontakt: [email protected]

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Die Autorinnen und Autoren

Marieke Brandt ist Gesundheits- und Krankenpflegerin auf einer Kinderstation der Psychiatrischen Klinik Lüneburg und studiert Psychologie an der Universität Bremen. Kontakt: [email protected] Dr. phil. Angela Eberding, Diplom-Pädagogin, systemische Familientherapeutin, Supervisorin (IFW, SG), Traumapädagogin, Systemischer Elterncoach, u. a. in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Essen sowie am (Christlichen) Kinderhospital in Osnabrück tätig. Sie arbeitet in eigener Praxis als Supervisorin und Dozentin zu Themen wie Interkulturelle Kommunikation, Systemische Traumapädagogik, Neue Autorität. Sie ist Teammitglied des österreichischen Instituts PINA (Praxis und Innovation – Neue Autorität). Websites: www.angela-eberding.de, www.pina.at Dr. Harald Ebert ist Sprecher des Würzburger Ombudsrats gegen Diskriminierung und Leiter der Don-Bosco-Berufsschule in Würzburg. Kontakt: [email protected] Martin A. Fellacher, Diplom-Sozialarbeiter, ist Personal- und Kompetenzentwickler, Erwachsenenbildner und leitet das Institut PINA (Praxis und Innovation – Neue Autorität) in Westösterreich, das sich mit der Umsetzung und Anwendung der Ideen der Neuen Autorität in verschiedenen Kontexten beschäftigt. Kontakt: [email protected] Stefan Fischer, Diplom-Sozialpädagoge/-arbeiter (FH), ist Systemischer Berater und Supervisor (SG), Systemischer Coach für Neue Autorität (SyNA), Pädagoge für Vermittlung sozialer Kompetenzen und Gewaltprävention (ASH), Trainer für Konfrontatives Sozial-Kompetenz-Training (KSK), Pädagogische Fachkraft in Entwicklungstherapie/Entwicklungspädagogik nach Mary M. Wood. Kontakt: [email protected] Petra Girolstein M.A. Personalentwicklung, Diplom-Sozialpädagogin, ist Systemische Therapeutin, Supervisorin, Kinder- und Jugendtherapeutin, Lehrende für Systemische Beratung (DGSF). Sie hat berufliche Erfahrungen bei Pro Familia, in der Jugend- und Drogenberatung sowie in Aufbau, Leitung und Geschäftsführung einer ambulanten Jugendhilfeeinrichtung. Sie ist freiberuflich als Coach, Supervisorin, Organisationsberaterin, Familientherapeutin tätig und Lehrbeauftragte und Fortbildnerin an Hochschulen und Weiterbildungsinstituten. Kontakt: [email protected]

Die Autorinnen und Autoren

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Dagmar Hoefs, Diplom-Betriebswirtin (FH), Diplom-Supervisorin, Organisationsberaterin (FH), Supervisorin und Coach (DGSv), Mediatorin, Systemischer Coach für Neue Autorität, Versicherungskauffrau, arbeitet selbstständig als Beraterin mit den Schwerpunkten Organisationsberatung, Supervision, Coaching, Karriereberatung, Klärungsberatung, mit Neuer Autorität führen. 2019 gründete sie mit Harald Kurp »aha3 | Beratung in Organisation und Führung«. Kontakt: [email protected] Website: www.aha3.de Burkhard Hose, ist katholischer Hochschulpfarrer in Würzburg, katholischer Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Würzburg und Unterfranken e. V. Er engagiert sich im »Würzburger Bündnis für Zivilcourage« für Toleranz und gegen Ausgrenzung und ist dort gewähltes Mitglied im Sprecher*innenrat. Er ist stellv. Sprecher des Würzburger Ombudsrat gegen Diskriminierung und Sprecher des Würzburger Flüchtlingsrats. Kontakt: [email protected] Michael Kleiske, Krankenpfleger, sozialpsychiatrische Zusatzausbildung. Nach Tätigkeiten in allgemeinpsychiatrischen Kliniken und einem Wohnheim für seelisch Erkrankte arbeitet er im Ausbildungskrankenhaus der Psychiatrischen Klinik Lüneburg in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und leitet eine Kinderstation. Kontakt: [email protected] Bruno Körner, Diplom-Sozialpädagoge (FH), ist Systemischer Familientherapeut (IFW/SG), Lehrender für Systemische Beratung (DGSF), Systemischer Elterncoach (IFW), Systemischer Coach für Neue Autorität, Partner in SyNA (Systemisches Institut für Neue Autorität), Mitentwickler des Curriculums »Systemisches Elterncoaching« beim IF Weinheim. Kontakt: [email protected] Website: www.neueautoritaet.de Harald Kurp, Diplom-Theologe, Diplom-Supervisor und Organisationsberater (FH), Supervisor und Coach (DGSv), Mediator, Systemischer Coach für Neue Autorität. Er ist Gründer des Netzwerkes Supervision Lüneburg und arbeit als selbstständiger Berater mit den Schwerpunkten Organisationsberatung, Supervision, Coaching, Mediation von Arbeitskonflikten, Klärungsberatung, mit Neuer Autorität führen. Er gründete mit Dagmar Hoefs »aha3 | Beratung in Organisation und Führung«. Kontakt: [email protected] | Website: www.aha3.de

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Die Autorinnen und Autoren

Martin Lemme, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, ist in eigener Praxis tätig mit KV-Zulassung (VT) für alle Altersgruppen, Systemischer Therapeut, Systemischer Supervisor, Systemischer Elterncoach, Systemischer Coach für Neue Autorität, PEP u. a. m. Er ist Partner in SyNA (Systemisches Institut für Neue Autorität). Kontakt: [email protected] Website: www.neueautoritaet.de Sarah Lemme, M. Sc. Psychologie (i. A.), Physiotherapeutin, ist Kursleiterin für multimodales Stressmanagement, Autogenes Training und Progressive Muskelrelaxation. Sie ist Mitarbeiterin im Projektmanagement bei SyNA (Systemisches Institut für Neue Autorität). Kontakt: [email protected] Silvia Lemme, Diplom-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, ist freiberufliche Heilpraktikerin (Psychotherapie), Systemische Therapeutin und Beraterin (SG), systemische Supervisorin, systemischer Elterncoach, systemischer Coach für Neue Autorität. Sie hat Fortbildungen absolviert in Integrativer Gestaltberatung, Systemischer Familienberatung, Energetischer Psychologie (nach Fred Gallo, Level II), PEP I-III (nach Dr. Bohne) und war tätig in stationärer und ambulanter Jugendhilfe, in der Erziehungsberatung sowie in systemischer Familientherapie und Clearing; Psychotherapie (HPG), Supervision, Fortbildungen und Coaching Neue Autorität. Kontakt: [email protected], [email protected] Stefan Lutz-Simon ist Leiter der Jugendbildungsstätte Unterfranken. Stefan Ofner, Diplom-Psychologe, war Leiter des Psychologischen Dienstes der Justizanstalt Suben am Inn und Mitarbeiter im Familientherapiezentrum, Abteilung Männerberatung, des Landes Oberösterreich. Er ist Coach, Trainer, Seminarleiter, Vortragender und hat Aus- und Fortbildungen u. a. in Systemischer Familientherapie (IGST Heidelberg), Provokativer Therapie (F. ­Farrelly), Gewalttätertherapie (u. a. bei B. Marshall, W. Berner, F. Pfäfflin), Sozialmanagement (Donau-Universität Krems), Neue Autorität und Gewaltloser Widerstand (H. Omer, Tel Aviv), Bindungsgeleitete Interventionen (H. Julius, Berlin). Er ist Mitbegründer und Eigentümer des Instituts für Neue Autorität Austria (INA) sowie Gründungsmitglied der International Society for Non Violent Resistance Psychology. Kontakt: [email protected]

Die Autorinnen und Autoren

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Tobias von der Recke, Diplom-Psychologe, Systemischer Therapeut, Paar- und Familientherapeut, Supervisor (DGSF), ist Gründer und Leiter des Münchner Instituts für Systemische Weiterbildung (MISW). Kontakt: [email protected] Website: www.misw.eu Prof. Dr. phil. Arist von Schlippe, Diplom-Psychologe, Systemischer Lehrtherapeut, lehrender Coach und lehrender Supervisor (SG, Berlin), ist Inhaber des Lehrstuhls Führung und Dynamik von Familienunternehmen am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU) an der Universität Witten/ Herdecke und war 2007–2017 Akademischer Direktor des Instituts. Davor war er im Fach Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Osna­brück tätig. Kontakt: [email protected] Website: www.wifu.de Claudia Seefeldt, Diplom-Volkswirtin, ist Systemische Organisationsberaterin (BSO), Supervisorin und Coach sowie Mitinhaberin und Partnerin des Ausbildungsinstituts institut für systemische impulse, entwicklung und führung (isi) in Zürich. Kontakt: [email protected] Website: www.systemische-impulse.ch Mag. Herwig Thelen, Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe, Hypnosystemischer Supervisor und Coach, Trainer für Motivational Interviewing, ist Leiter der Praxis für Familienpsychologie in Graz. Kontakt: [email protected] Website: www.thelen.at Ruth Tillner, Diplom-Sozialpädagogin/-arbeiterin, ist freiberufliche Systemische Familientherapeutin, Systemischer Coach für Neue Autorität, Supervisorin, Mediatorin und Energetische Psychologin. Sie hat das Aus- und Fortbildungsinstitut »Systemische Akademie Bramsche« gegründet. Kontakt: [email protected] Website: www.systemische-akademie.de Dr. phil. Uri Weinblatt, Klinischer Psychologe, ist Begründer des Systemic Mirroring Family Therapy Center. Als Mitarbeiter von Haim Omer beschäftigte er sich mit der Entwicklung von Modellen der elterlichen Präsenz und dem gewalt-

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Die Autorinnen und Autoren

freien Widerstand. Er führt dazu Workshops durch für Lehrer, Sozialarbeiter und Psychologen in der Schweiz, Deutschland und England. Kontakt: [email protected] Website: systemic-mirroring.com/en/ Alexandra Zimmermann, Diplom-Rehabilitationspädagogin, ist Förder- und Berufsschullehrerin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Trauma- und EMDR-Therapeutin, Fortbildung PEP (nach Dr. Bohne), Systemische Beraterin (DGSF), Systemischer Coach für Neue Autorität (SyNA). Sie arbeitet in eigener Praxis für Psychotherapie mit den Schwerpunkten Trauma, Ängste und Belastungsfolgen sowie Coaching von Eltern und Erziehungsverantwortlichen; Fort- und Weiterbildung im Rahmen der Trainerschaft bei SyNA (Systemisches Institut für Neue Autorität), Supervision und Coaching von Einzelnen und Teams. Kontakt: [email protected]