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German Pages 425 [428] Year 2002
Neue deutsche Sprachgeschichte
W DE G
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Stefan Sonderegger und Oskar Reichmann
64
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002
Neue deutsche Sprachgeschichte Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge
Herausgegeben von Dieter Cherubim, Karlheinz Jakob und Angelika Linke
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2002
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-017250-X Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über h t t p : / / d n b . d d b . d e abrufbar.
© Copyright 2002 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist o h n e Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Redaktion und Satz: Silke Domasch, Karlheinz Jakob, Alexander Lasch, Dorothea Schramm Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Vom 25. bis 28. Oktober 2000 fand an der Technischen Universität Dresden eine Fachtagung zur deutschen Sprachgeschichte statt. Diese Tagung steht in der Tradition von mehreren Fachtagungen der 80er und 90er Jahre (Bad Homburg 1986, Mannheim 1990, Bad Homburg 1993, Heidelberg 1994, Mannheim 1997), die sich erstmals in der Geschichte der Erforschung der deutschen Sprache konzentriert und ausschließlich dem 19. und 20. Jahrhundert widmeten. Die Beiträge des vorliegenden Bandes bilden im Wesentlichen das Vortragsprogramm der Tagung ab, über das Elizaveta Liphardt und Markus Hundt bereits berichtet haben (ZGL 29/2001). Die Veranstalter hatten die Absicht, im Programm der Tagung zwei zentrale Ansprüche - nämlich einen bilanzierenden und einen programmatischen miteinander zu verbinden. Geiragt wurde einerseits nach neuen Erkenntnissen in der Beschreibung der neueren Sprachgeschichte (konzentriert auf das ,lange' 19. Jahrhundert mit einem Ausblick auf die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts), andererseits aber auch nach neuen methodischen Zugängen sowie nach interdisziplinären Forschungsansätzen, die sich mit Blick auf den Gegenstand als produktiv erweisen könnten. Der bewusst ambivalente Titel „Neue Sprachgeschichte" (in Anlehnung an Fritz Hermanns) möchte auf diese zweifache Programmatik hinweisen. Um diesem doppelten Anspruch gerecht zu werden, wurden im Oktober 2000 in Dresden zwei Gruppen von Forschern für das Vortragsprogramm gewonnen: Erstens Spezialisten, die sich seit Jahren kontinuierlich durch entsprechende Forschungsarbeiten zur neueren Sprachgeschichte ausgewiesen haben, und zweitens Forscherinnen und Forscher, die sich innerhalb der Germanistik mit neuen methodischen Ansätzen der Kommunikations- und Sprachgebrauchsanalyse beschäftigen oder aber als Repräsentanten von Nachbarfächern zu allgemeinen Fragen der Methodenentwicklung bzw. der Konzeptualisierung historischer Wissenschaften Arbeiten vorgelegt haben. Das sowohl auf Bilanz abzielende als auch programmatisch orientierte Vortragsprogramm war der speziellen Dynamik unseres Faches verpflichtet: Das Faktum, dass die neuere Sprachgeschichte des Deutschen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts einen stark vernachlässigten Forschungsbereich
VI
Vorwort
bildete, hatte den wissenschaftsgeschichtlich positiven Effekt, dass die seit dem Ende der 70er Jahre verstärkt einsetzende sprachhistorische Beschäftigung mit den sprachgeschichtlichen Wurzeln der Gegenwartssprache von Anfang an pragmatische, kommunikationsgeschichtliche und soziolinguistische Ansätze berücksichtigen konnte, die fur die Erforschung älterer Sprachstufen des Deutschen (noch) nicht rezipiert worden waren. Diese ,neue' Ausrichtung der Fragestellungen und Methoden traf sich mit der einzigartigen Quellenlage, die für die neuere Sprachgeschichte im Gegensatz zu älteren Epochen gegeben ist und die nun auch Zugänge zum Sprachgebrauch unterbürgerlicher Schichten, zum sprachlichen Alltag verschiedener Sprecherschichten, zu Textsorten privater Schriftlichkeit und zum Sprachgebrauch in halböffentlichen Lebensbereichen ermöglichte. Solche innerfachliche Dynamik wurde und wird verstärkt durch Einflüsse aus Nachbarfächern, v.a. aus der Sozialgeschichte, wo in den letzten 20 Jahren im Kontext größerer Forschungsprojekte, in Überblickswerken und in einer Vielzahl von Einzelstudien eine Fülle von Forschungserkenntnissen zur Sozialgeschichte des .langen' 19. Jahrhunderts vorgelegt wurden, die sich in ihren Ansätzen mit den Interessen der sprachhistorischen Forschung vielfach berühren. Die Sichtung und kritische Prüfung der in diesen inhaltlichen und methodischen Zusammenhängen entwickelten Forschungslandschaft erschien zum jetzigen Zeitpunkt umso angebrachter, als in der germanistischen Sprachwissenschaft in jüngster Zeit zunehmend mentalitätsgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Fragestellungen aufgegriffen und diskursanalytische Forschungsmethoden entwickelt werden, die sich fur die Erforschung der neueren Sprachgeschichte als speziell produktiv erweisen könnten. In methodischer Hinsicht galt es, nachdem das Programm .Pragmatisierung der Sprachgeschichte' nunmehr etwa 20 Jahre alt ist, eine Zwischenbilanz über die Leistungen und Perspektiven einer Sprachgeschichtsforschung zu ziehen, die die traditionelle, philologische Sprachgeschichtsschreibung erweitern und bereichern wollte. Eine solche Bilanz erschien umso notwendiger, als sich unter dem ehemals einheitlichen und überdachenden Schlagwort von der ,Pragmatisierung' eine Fülle von theoretisch und methodisch neuen Teilrichtungen etabliert hat (hierher gehören einerseits dezidiert sozialgeschichtlich ausgerichtete Ansätze, aber etwa auch die explizite Berücksichtigung der Sprachbewusstseinsgeschichte), deren Intentionen, Abgrenzungen und Reichweite intensiver zu diskutieren sind. Es scheint offensichtlich, dass eine mentalitätsgeschichtlich ausgerichtete Sprachgeschichtsforschung gerade die soziopragmatische Orientierung in der neueren Sprachgeschichte sowohl ergänzen als auch profilieren könnte; die bereits vorliegenden, produktiven Ansätze der historischen Semantik und
Vorwort
VII
historischen Diskursanalyse (sowohl der in Anlehnung an Foucault und die französische Diskursanalyse entwickelten Diskurs-Konzepte als auch der damit nicht identischen germanistischen Diskursforschung) bilden dabei wichtige methodische Bausteine. Was schließlich die kulturwissenschaftliche Perspektive anbelangt, so gilt diese sowohl der Sprache als auch dem Gebrauch, den unterschiedliche Sozialformationen und unterschiedliche Epochen von ihr machen. Ins Zentrum rückt hier die ebenso unauffällige wie mächtige Potenz von Sprache und Sprachgebrauch als Formelement symbolischer (Selbst-) Repräsentation von Individuen wie von Kollektiven sowie als Sediment des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft: die .Traditionen des Sprechens', die ,Sprachspiele', die kommunikativen Praktiken einer Gesellschaft bilden unter dieser Perspektive zentrale Forschungsgegenstände. Ein weiterer und dritter Schwerpunkt ergab sich aus einer besonderen osteuropäischen Ausrichtung. Selbstverständlich lag es - von der geographischen Lage des Tagungsortes ausgehend - nahe, besonders die historischen Sprachbeziehungen zu den ostmitteleuropäischen und osteuropäischen Nachbarn in den Mittelpunkt zu stellen. Die Verflechtungen der deutschen Sprachgeschichte mit der Geschichte der polnischen, der russischen und der tschechischen Sprache wurden durch Referenten aus den jeweiligen Ländern dargestellt. Dass Sprachwissenschaftler aus Polen, Russland und Tschechien aus der Perspektive ihrer Sprachkultur auf die gemeinsame deutsch-slawische Sprachgeschichte blickten, war für uns ein entscheidender und wichtiger Baustein, der der Fachtagung eine internationale Perspektive zuschrieb. Der vorliegende Tagungsband spiegelt die drei zentralen Anliegen der Dresdner Tagung und das Themenspektrum der Vorträge im Prinzip in drei Gruppen wider, die im Inhaltsverzeichnis implizit heraustreten. In der ersten Gruppe steht die Methodendiskussion im Kontext von sprachwissenschaftlichen Teilfachern und historischen Nachbardisziplinen im Vordergrund. Die daran anschließenden Beiträge der zweiten Gruppe erproben Methoden und Verfahren an exemplarischen Zeit- und Materialausschnitten und nehmen hierfür verschiedene Erscheinungsformen der deutschen Sprachentwicklung zwischen 1800 und 1933 in den Blick. So different im Einzelnen ihre Darstellungsbereiche sein mögen, ist doch ihr gemeinsames Anliegen sichtbar, neue sprachgeschichtliche Sehweisen empirisch zu stützen und methodisch zu erproben. Die dritte Gruppe der Beiträge ist dem genannten internationalen Schwerpunkt zu Ostmitteleuropa und Osteuropa verpflichtet. Die Dresdner Tagung wurde durch eine großzügige Sachkostenbeihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht. Dafür sei der DFG und ihren Gutachtern gedankt. Am Ende einer langen Wegstrecke ist vielen Personen und Institutionen für Unterstützung, Mitarbeit und Engagement zu danken.
Vili
Vorwort
Stellvertretend seien Silke Domasch, Alexander Lasch, Monika Liidtke und Dorothea Schramm genannt. Sie waren die Mitglieder eines professionellumsichtigen Organisationsteams im Oktober 2000 und sie waren die Mitglieder des Dresdner Redaktionsteams, das aus den eingereichten Manuskripten mit Zähigkeit, Akribie und Kreativität eine Druckvorlage erstellte. Im August 2002
Dieter Cherubim, Göttingen Karlheinz Jakob, Dresden Angelika Linke, Zürich
Inhaltsverzeichnis VORWORT
V
PETER VON POLENZ
Sprachgeschichte und Gesellschaftsgeschichte von Adelung bis heute
1
OSKAR REICHMANN
Nationale und europäische Sprachgeschichtsschreibung
25
MARTIN WENGLER
,Bedeutung' und .Sprache' in der Geschichtsschreibung. Ein Blick auf Nachbardisziplinen der germanischen Sprachwissenschaft
43
FRITZ HERMANNS
Attitüde, Einstellung, Haltung. Empfehlung eines psychologischen Begriffs zu linguistischer Verwendung
65
FELIX STEINER
„Die Maske mit dem Gesicht verwechseln". Autorschaftsfiguren in naturwissenschaftlichen Texten um 1800
91
EVELYN ZIEGLER
Die Band-Metapher im nationalsprachlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts
111
JÖRG KILIAN
Scherbengericht. Zu Quellenkunde und Quellenkritik der Sprachgeschichte
139
JOSEF KLEIN
Topik und Frametheorie als argumentations- und begriffsgeschichtliche Instrumente, dargestellt am Kolonialdiskurs
167
χ
Inhaltsverzeichnis
ANJA LOBENSTEIN-REICHMANN
Liberalismus - Demokratie - Konservatismus. Moeller van den Bruck, das Begriffssystem eines Konservativen zu Beginn der Weimarer Republik
183
HELMUT SCHMIDT
Anfange der Moderne. Nietzsches Wortbildungstechniken und Formulierungsvariationen
207
HEIDRUN KÄMPER
Sigmund Freuds Sprachdenken. Ein Beitrag zur Sprachbewusstseinsgeschichte
239
SIEGFRIED GROSSE
Zur deutschen Sprache zwischen 1919 und 1933
253
DIETZ BERING
Juden und die deutsche Sprache. Fundierung eines Forschungsprojekts
269
DMITRI ZAKHARINE
Konversations- und Bewegungskultur in Russland. Von der,Sprachdiachronie' zur historischen Kommunikationswissenschaft
293
ELIZAVETA LIPHARDT
Politische Rede der extremen Linken in Deutschland und Russland in den Jahren 1914 bis 1919
317
JÓZEF WLKTOROWICZ
Die deutsch-polnische Nachbarschaft und ihre Widerspiegelung in der polnischen Sprache
337
WERNER HOLLY
.Tschechen' und,Deutsche' in den Böhmen-Debatten der Pauluskirche. Ein frame-analytischer Beitrag zur Geschichte der sprachlichen Konstruktion deutsch-tschechischer Beziehungen
349
MAREK NEKULA
Deutsch und Tschechisch in der Familie Kafka
379
PETER VON POLENZ
Sprachgeschichte und Gesellschaftsgeschichte von Adelung bis heute Das Tagungsthema „Neue deutsche Sprachgeschichte" hat etwas mit dem Genius loci von Dresden zu tun. In Erinnerung an meine Dresdener Schülerzeit vor 1945 und im Gedenken an sehr alte Beziehungen der Polenze zum Hof der Wettiner freue ich mich, meinen Vortrag mit dem kursächsischen Hofrat Johann Christoph Adelung beginnen zu können, der in den letzten 19 Jahren seines Lebens (1787-1806) in Dresden lebte und wirkte. Er war Oberbibliothekar der kurfürstlichen Bibliothek und ein verdienstvoller, einflussreicher Sprachforscher. 1 Nach seiner Jugend in Pommern, seinem Studium in Halle und seinen wechselvollen Tätigkeiten in Erfurt, Gotha und Leipzig, als Gymnasialprofessor, Bibliothekar, Übersetzer, Zeitschriftenredakteur, Historiker und Lexikograf, widmete er sich in Dresden anhand der von ihm betreuten bibliothekarischen Schätze verstärkt dem Studium der altdeutschen Sprachquellen und förderte eine öffentlich zugängliche Bibliothek, ein damals noch außergewöhnliches volksaufklärerisches Bemühen. Adelung steht auch am Beginn einer Entwicklungslinie der Sprachgeschichtsschreibung, die in unserer postnationalistischen Zeit wirksamer geworden ist als im nationalromantischen 19. Jahrhundert. Er war nicht der erste Sprachhistoriker des Deutschen. Seit dem frühen 16. Jahrhundert haben deutsche Gelehrte und Sprachfreunde immer wieder über Herkunft und Alter der deutschen Sprache nachgedacht, angeregt von der humanistischen Bewegung aus Italien, Frankreich und den Niederlanden.2 Historisches Sprachbewusstsein war jedoch bis ins 18. Jahrhundert meist nicht mehr als ein noch geschichtsfemes, spekulatives, oft mythisierendes Fragen nach dem Ursprung der deutschen Sprache, zum sprachenpolitischen Nachweis ihrer Leistungsfähigkeit und Würde gegenüber dem kulturell dominierenden Latein. Diese kulturpatriotische Emanzipations- und Säkularisierungsaufgabe bestand vor allem darin, sich gegen die biblischen und kirchlichen Dogmen vom göttlichen Ursprung der Menschensprache und vom Monopol der drei „heiligen" Sprachen
1 2
Vgl. Strohbach 1984, 3ff. Vgl. Gardt 1998; 1999, 103-118 und 1999, 219-229; Reiffenstein 1985; Rössing-Hager 1984; Sonderegger 1998; von Polenz 1994, Bd. 2, 135-180.
2
Peter von Polenz
Hebräisch, Griechisch, Latein zu wehren. Dies tat man (wie Stefan Sonderegger es ausdrückt) durch eine „nationale Rückverlängerung des Deutschen in die Stammesgeschichte der Germanen", 3 angeregt durch die humanistische Tacituslektüre. Auch das Deutsche sei eine „Hauptsprache", eine „Ertzsprache", eine „Heldensprache", also dem Latein und Griechischen gleichwertig und dem in der absolutistischen Zeit dominierenden Französischen als angeblich „unvermischte Ursprache" sogar überlegen. Deshalb habe noch die gegenwärtige deutsche Sprache eine zeitlose „Grundrichtigkeit" von der „Ursprache" her, eine ursprüngliche „Reinheit", und sie könne daher die Dinge der Wirklichkeit noch sehr direkt und wesentlich abbilden mit Hilfe ihrer uralten „Stammwörter" und Wortbildungsmittel. Sprachwandel wurde in dieser statischen Sprachauffassung bagatellisiert als Schreiberwillkür oder als Unarten der „gemeinen Rede", „der Pöbelsprache" oder der „Landsprachen", von deren Einflüssen die „Hauptsprache" freizuhalten sei, oder als natürlicher Verfall, den Schottelius aus „hinfallender Schwachheit und forthinnagender fressiger Zeit" erklärte, oder aus „Vermischung und Vermengung der Völker und Einwohner". 4 Sprachentwicklung wurde so aus kulturpatriotischen Motiven ahistorisch ,hypostasiert', aus historischen Zusammenhängen gelöst und damit „der Geschichtlichkeit, der sie als soziale Zusammenhänge ausgesetzt wären, entzogen". 5 Diese gelehrt-emanzipatorischen Illusionen und Verirrungen wurden in der Aufklärungszeit Schritt für Schritt abgebaut durch mehr geschichtsorientierte Erklärungen der deutschen Sprachentwicklung, z.B. durch reichsgeschichtliche Periodisierungen anhand von überlieferten sprachkultivierenden Leistungen von Herrschern wie Karl dem Großen, Rudolf v. Habsburg, Maximilian I. und schließlich von Luthers Bibelübersetzung und einzelnen Gelehrten. Konsequent abgelehnt wurden die spekulativen Sprachursprungstheorien in Herders Preisschrift „Abhandlungen über den Ursprung der Sprache" von 1772, in der er an die Stelle von Gottessprache oder Natursprache die schrittweise kommunikative und kognitive Erfindung von Sprache durch den vernunftbegabten Menschen setzte und damit „die Entwicklung der Sprache mit der Menschheitsgeschichte korrelierte". 6 Geschichtliches Denken nahm im späten 18. Jahrhundert, also in Adelungs Zeit, überhaupt eine neue Qualität an. In dieser „Sattelzeit" der politischsozialen Begriffsgeschichte in Deutschland, deren Dokumentation und Erklärung wir den Historikern Brunner, Conze und Koselleck u.a. verdanken, war die Anreicherung von Wörtern zu politisch-sozialen Begriffen nach Koselleck 7 mit einer „Verzeitlichung" des Denkens verbunden, mit der die
3
Sonderegger 1998, 420.
4
Schottelius; s. Rössing-Hager 1985, 1589Í Gardt 1998,339. Gardt 1999,226fr. Koselleck 1989, 130ff„ 2 6 2 f f , 300ff.
3 6 7
Sprachgeschichte und Gesellschaftsgeschichte
3
Begriffe ,Zeit' und .Geschichte' zu Leit- und Schlüsselbegriffen der spätaufklärerischen Modernisierung wurden. Im Unterschied zum traditionellen heilsgeschichtlichen Zeitbewusstsein begriffen aufgeklärte Intellektuelle seit Siebenjährigem Krieg, Amerikanischer und Französischer Revolution die eigene Zeit erstmalig als neue ,Zeit' mit einer „Beschleunigung geschichtlichen Erfahrungswandels"; .Geschichte' wurde nicht mehr als „Regelhaftigkeit wiederkehrender Abläufe" von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht verstanden, sondern als etwas von Menschen Gemachtes ohne leitendes Subjekt, ohne Kausalität, wir würden heute in soziopragmatischer Sicht sagen: Geschichte als gesellschaftliches Handeln, was nach Gadamer und Koselleck auch das Bewusstmachen und Verstehen von Geschichte als einem Wirkungsfaktor geschichtlicher Veränderung einschließt. 8 Auch beim spätaufklärerischen Sprachforscher Adelung ist diese moderne Geschichtsauffassung zu erkennen. Nach Hans Ulrich Wehlers mehrbändigem Werk ist dafür der Begriff „Gesellschaftsgeschichte" anwendbar, 9 der im Gegensatz zur traditionellen Staatengeschichte zu sehen ist, in der Herrschaftsverhältnisse und Diplomatie, Kriege und Siege, vor allem glanzvolle Verhältnisse und Entwicklungen gesellschaftlicher Eliten und Hochkulturen im Vordergrund standen, aber auch im Unterschied zur Sozialgeschichte im engeren Sinne, die es ausschnitthaft mit der Entwicklung bestimmter unterprivilegierter Bevölkerungsteile zu tun hat. In einer modernen Gesellschaftsgeschichte werden gesamtgesellschaftlich relevante Entwicklungen nach den „drei gleichberechtigten, kontinuierlich durchlaufenden Dimensionen" des Gesellschaftsbegriffs dargestellt, die Wehler 10 im Anschluss an Max Weber für konstitutiv hält: „Herrschaft, Wirtschaft und Kultur". Dass Sprachgeschichte einen unerlässlichen Teil von Gesellschaftsgeschichte in allen drei Dimensionen darstellt, gilt heute als selbstverständlich." Es ist erstaunlich, dass schon Adelung einer solchen Sprachgeschichtsauffassung nahestand, die in der Germanistik des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts infolge nationalistischer Tendenzen nicht opportun war. Damit sind manche negativen Urteile über Adelung aus dem 19. Jahrhundert, von Jacob Grimm bis Hermann Paul, zu relativieren oder zurückzuweisen. Wenn man von manchen anstößigen Übertreibungen, Widersprüchen und Oberflächlichkeiten bei Adelung absieht, kann man heute nicht mehr sagen, er sei nur ein ahistorischer intoleranter Sprachnormer gewesen. Diese neue Beurteilung Adelungs verdanken wir vor allem dem neuen Quellenstudium von Werner Bahner, Brigitte Döring, Helmut Henne, Hartmut Schmidt, Stefan Sonderegger und Margrit Strohbach. Die sprachgeschichtlichen Schriften Adelungs sind fur
8 9 10
"
Gadamer 1958; Koselleck 1978, 24ff.; 1989, 119ff, 343ff.; von Polenz 1984. Wehler 1987, Bd. I, 6ff.; Kocka 1989. Wehler 1987, Bd. 1,7. Vgl. von Polenz 1998; von Polenz 2000 2 , Bd. I, 13-20.
4
Peter von Polenz
Sonderegger die „erste deutsche Sprachgeschichte im eigentlichen Sinne" und ein „neuer Durchbruch für das historische Denken im Zusammenhang von Sprache und Kultur".12 Ich kann hier nicht auf Adelungs z.T. weit ins 19. Jahrhundert nachwirkende und anerkannte Leistungen als Grammatiker, Sprachdidaktiker und Wörterbuchverfasser eingehen, sondern möchte mich auf Adelungs gesellschaftsgeschichtliche Ansätze zur Sprachgeschichte konzentrieren. Adelung hat sich seit 1781 zur Sprachgeschichte nicht nur in drei speziell so betitelten Veröffentlichungen geäußert,13 sondern auch immer wieder in seinen anderen Schriften, auch in vielen Artikeln seines Wörterbuchs und in seinen Grammatiklehrbüchern (bes. Adelung 1781a, 1782a). Die in 14 Auflagen und Nachdrucken bis 1828 weiterpublizierte erste Sprachlehre Adelungs war eine Auftragsarbeit für den preußischen Kultusminister von Zedlitz im Rahmen der von König Friedrich II. 1779 angeordneten Reform des Deutschunterrichts an Gymnasien. Von diesem Auftrag des aufgeklärt-absolutistischen Staates her verstand Adelung Sprachlehre als Förderung des „kritischen" Umgangs mit Sprache durch Sprachreflexion mit dem Ziel der „Klarheit, und, wo es möglich ist, Deutlichkeit," um „den differenzierten kulturellen und wissenschaftlichen Ansprüchen der Gesellschaft nachzukommen".14 Sprache war für ihn ein Mittel des gesellschaftlichen Fortschritts zum immer differenzierteren Gebrauch der Vernunft. Die Entwicklung aller Sprachen war für ihn gleichermaßen ein mühsamer Weg von primitiven Anfängen der Menschheit zur immer mehr verfeinerten Schreibsprachkultur, deren Höhepunkt er im aufklärerischen 18. Jahrhundert erreicht sah. Er lehnte deshalb jede Herausstellung einer oder weniger Sprachen als ideale „Ursprachen" ab; alle Sprachen hätten grundsätzlich die gleichen Chancen für eine Kultivierung gehabt. Sarkastisch erklärte er: „Ich leite nicht alle Sprachen von Einer her; Noahs Arche ist mir eine verschlossne Burg, und Babylons Schutt bleibt vor mir völlig in seiner Ruhe."15 Gegen den noch immer - und im romantisch-nationalistischen 19. Jahrhundert wieder - verbreiteten Mythos, eine „Ursprache" in ferner Vergangenheit sei die bessere, noch „heile" Sprache gewesen und alle weitere Sprachentwicklung sei „Sprachverfall", warnte Adelung: „Man sage nicht, die erste Sprache habe vielleicht eine andere und vollkommenere Einrichtung gehabt, und sey erst in der Folge so verunstaltet worden."16 Die seit den Humanisten (vor allem Ulrich von Hutten) euphorisch gepflegte Vorstellung von den „edlen Germanen" und der Identität der „älteren Teutschen" mit den „Germanen" zerstörte der Aufklärer Adelung mit dem quellengestützten sarkastischen Urteil, die Germanen seien vor der Völkerwanderung
12 13 14 15 16
Sonderegger 1 9 8 4 , 4 1 8 , 4 3 8 . Adelung 1781b, 1785, 1806a, 1808. Henne 1999,90. Adelung 1806b, XI; vgl. Strohbach 1984, 6 5 f f , 90f. Adelung 1782b; vgl. Strohbach 1984, 102.
Sprachgeschichte und Gesellschaftsgeschichte
5
nichts anderes gewesen als „Barbaren" und „Wilde", deren „einzige Beschäftigung Krieg und Jagd" gewesen sei und die erst seit der Berührung mit der römischen Kultur und dem Christentum „das Bedürfniß zu schreiben fühlen lernten und den Samen der höhern Cultur empfingen. [...] Ein noch so ungebildetes Volk hat wenig und dazu größtentheils nur sinnliche Begriffe, seine Sprache kann daher nicht anders als äusserst arm seyn. Es hat grobe und ungeschlachte Sprachwerkzeuge, und kann daher die wenigen Begriffe, die es hat, nicht anders als durch rauhe und ungeschlachte Töne ausdrücken."17
Ähnlich abwertend beurteilte er das kulturelle Niveau der germanischen Runenschrift und der altnordischen Literatur. 18 Den von Herder übernommenen Gedanken einer semantischen Entwicklung von nur „sinnlichen", konkreten Wortbedeutungen zu mehr abstrakten, uneigentlichen, übertragenen Bedeutungen hat Adelung nicht nur in seinem großen Wörterbuch praktisch angewandt, sondern auch immer wieder in seinen sprachhistorischen Äußerungen gesellschaftsgeschichtlich erklärt: Sprachentwicklung richte sich weniger nach einer innersprachlichen Eigengesetzlichkeit, vielmehr nach dem Miteinander des Fortschritts von „Sprache und Erkenntniß" in der Menschheitsentwicklung, also in Abhängigkeit der Sprache von gesellschaftlichen 19
Umweltfaktoren. So hat Adelung trotz Anerkennung einer „Verfeinerung der Cultur" durch Klöster und Bistümer die sprachkulturellen Fortschritte des Mittelalters eher gering eingeschätzt, was ihm ebenfalls leidenschaftliche Kritik der Germanistik des 19. Jahrhunderts eintrug. Über die Sprachenpolitik der Geistlichen in der mittelalterlichen Kirche schrieb er übertrieben kritisch: „Ein wenig verdorbenes Latein machte den glänzendsten Theil ihrer Gelehrsamkeit aus, und dieses hätten sie gern allen Völkern aufgedrungen, um nur der Mühe überhoben zu seyn, ihre Sprache zu lernen. Unter der Anführung solcher Lehrer, wo sich alles in dem Lehrlinge von selbst entwickeln mußte, konnte der Fortschritt der Cultur nicht anders als sehr langsam seyn."20
Auch die Universitäten hätten die deutsche Sprachkultur nicht gefordert: „Sie wurden Tummelplätze staubiger Pedanten, und unter den ewigen Zänkereyen der Nominalisten, Realisten und Formalisten konnten weder Geschmack noch gesunde Vernunft aufkeimen. Die Sprache hatte sich von den Universitäten am wenigsten zu versprechen, weil das barbarische Latein alle Lehrstühle beherrschte."21 17 18 19 20 21
Adelung 1781b, 18; 1782a, Bd. 1, 18; Bd. 2, 630ff.; vgl. Strohbach 1984, 114, 126f. Strohbach 1984, 5Iff. Strohbach 1984, 102, 110,203. Adelung 1781b, 34; vgl. Strohbach 1984, 121. Adelung 1782a, Bd. 1, 58; vgl. Strohbach 1984, 188.
6
Peter von Polenz
Auch wenn wir heute vom Standpunkt einer europäischen Sprachengeschichte her dieses Urteil übertrieben und ungerecht finden, erkennen wir darin doch zwei moderne komplementäre Grundeinstellungen als bewusst gesellschaftsgeschichtlich: Adelung wies erstens in einer bürgerlich-aufklärerischen Perspektive nachdrücklich hin auf die Bedeutung des Städtebürgertums im Rahmen des mittelalterlichen Feudalsystems für die geistige „Verfeinerung, Differenzierung" und „Verdeutlichung" der deutschen Sprache: „Zwar ließen die Deutschen Beherrscher nichts unversucht, die Nation durch Stättigkeit und Fleiß von ihrer natürlichen Wildheit zu entwöhnen. Es entstanden Städte und
in
ihnen Zünfte, Handwerke
und
Manufacturen;
die Handlung
fing
an
aufzublühen, und mit ihr keimten Wohlstand und Luxus [...] D i e Städte fingen nunmehr an, Wohnsitze der Künste, des Fleisses, der Erfindsamkeit und des Geschmacks zu werden." 2 2
Ganz im Sinne des Begriffs Gesellschaftsgeschichte von Wehler und anderen heutigen Historikern forderte Adelung zweitens in soziopragmatischer Weise eine Abkehr von der einseitig oberschichtlichen Geschichtsschreibung und die Berücksichtigung auch der von Unterdrückungen Betroffenen: „Wer das Pragmatische bloß in der Entwickelung der Ursachen wichtiger Staatsund Kriegsbegebenheiten setzet, macht die Geschichte und ihren Nutzen zu einseitig und e i n g e s c h r ä n k t , und kann eine sehr gute Geschichte der Beherrscher und ihrer Kriege
und
Staatshandlungen
schreiben,
aber nicht des Volkes,
welches
sie
beherrschen. Billig sollte daher [...] die so genannte Universal-Geschichte [...] nichts anderes seyn als eine sorgfaltige Geschichte der Cultur. [...] Da sich die Menschen in bürgerlichen Gesellschaften aus einem natürlichen Triebe der Verbesserung immer aus den untern Classen nach den mittlem und höhern drängen, so häufen sie sich hier und beschleunigen und erhöhen daselbst ihre Cultur. Daher sind volkreiche Städte und in volkreichen Städten immer die obern Classen der cultivierteste Theil eines Landes." 2 3
Dementsprechenden Einfluss unterschichtlicher vormoderner Entwicklungen des Städtebürgertums auf die „Verfeinerung" von Kultur, Sitten und sprachlicher Begriffsbildung beobachtet Adelung in Bezug auf die Erfindung des Buchdrucks, die überseeischen Entdeckungen und die Reformation. 24 Sogar eine schon demokratisch anmutende Offenheit auch für die Sprachkulturchancen unterdrückter Sprachbevölkerungen und Sprachminderheiten wird bei dem Aufklärer Adelung deutlich, wo er die Entwicklung der „böhmischen" (d.h. tschechischen) Sprache zu „Vollkommenheit, Reichthum,
22 23 24
Adelung 1782a, Bd. 1, 45-48; vgl. Strohbach 1984, 185f. Adelung 1782b, Vorwort; vgl. Strohbach 1984, 98f. Strohbach 1984, 189f.
7
Sprachgeschichte und Gesellschaftsgeschichte
Ausbildung" auch als Wissenschafts-, Literatur- und Büchersprache von der Regierung Rudolphs II. bis zu ihrer erneuten Unterdrückung durch die habsburgische Gegenreformation bewundert und als Beispiel fur den Fortschritt von Sprachkultivierung durch Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse herausstellt;25 ebenso wo er den Untergang der bereits „mit Ruhm [...] kritisch bearbeiteten" niederdeutschen Literatur- und Verwaltungssprache bedauert. 26 Mit einer solchen gesellschaftsgeschichtlichen Voreinstellung und Zielsetzung erklärte Adelung auch ein bereits längst sehr umstrittenes Problem seiner Gegenwart und jüngsten Vergangenheit, die Frage „Was ist Hochdeutsch?" Da er sich gegen übliche aristokratisch-hierarchische Auffassungen in der Sprachnormenfrage wehrte, gegen eine Sprachstandardisierung nur von den Fürstenhöfen oder von den besten Schriftstellern oder den Gelehrten her (so noch weithin die Meinung bis zu Gottsched), 28 postulierte er: „Sprachgesetze [...] müssen wenigstens von dem größten Theil des Volkes, nicht bloß von den 29
obem und gelehrten Classen anerkannt [...] und befolget werden." Für die Entstehung und Durchsetzung des „Hochdeutsch", nicht nur der Schreibsprache, konnte er sich nur eine gesellschaftsgeschichtliche Basis vorstellen, und aufgrund der Entwicklung in anderen europäischen Sprachen nur mit der avantgardistischen Rolle einer bestimmten Region. So schloss er sich - als letzter - den Verfechtern der schon seit zwei Jahrhunderten behaupteten sprachlichen Vorbildrolle der „chursächsischen Lande" an, damals „das Meißnische", später „Sachsen" oder „Obersachsen" genannt, und begründete dies mit politisch-sozialen Argumenten: „Die durch Sitten und Wissenschaften ausgebildete und bereicherte Meißnische Mundart,
oder vielmehr
die
durch
die
Meißnische
verfeinerte
Oberdeutsche
Mundart, ward die herrschende Sprache des Gelehrtesten und gesittetsten Theiles der Nation." 3 0
Neben „feinen Sitten, Geschmack und Gelehrsamkeit" fuhrt er als gesellschaftsgeschichtlichen Faktor auch „Wohlstand" an, weist also auf die vom 15. bis 18. Jahrhundert offensichtliche handels- und industriebürgerliche Fortschrittlichkeit Sachsens hin, ferner auf die Bedeutung der lutherischen Reformation und ihrer langfristigen literarischen und wissenschaftlichen Folgen bis zur Aufklärungszeit, besonders in Wittenberg, Halle und Leipzig.
25 26 27 28 29 30
Vorrede zu Karl Ignaz Thams deutsch-böhmischem Nazionallexikon; s. Strohbach 1984, 46ff. Strohbach 1984, 193f. Vgl. Henne 1968. Strohbach 1984, 100, 203ff. Adelung 1782a, Bd. 2, 654f.; vgl. Schmidt 1984. Adelung 1782a, Bd. 1, 61 u.ö.; vgl. Strohbach 1984, 190, 196,208, 216.
8
Peter von Polenz
Mit diesem oft und enthusiastisch vorgebrachten landespatriotischen Sprachnormurteil hat sich Adelung jedoch zu weit aus dem Fenster gelehnt. Von vielen Gegnern, z.B. Wieland, Klopstock, Goethe und Schiller, wurde er darum angegriffen oder verspottet.31 Er hatte nicht beachtet, dass die Kritik an der - übrigens zumeist von Mittel- und Norddeutschen behaupteten Vorbildhaftigkeit des Meißnischen Deutsch, vor allem als Geringschätzung der obersächsischen Aussprache, nicht erst seit dem Beginn der Vormachtstellung Preußens nach dem Siebenjährigen Krieg, sondern schon seit dem frühen 17. Jahrhundert zu vernehmen war und die positive Bewertung norddeutscher Lautung, vor allem der märkischen und niedersächsischen, sogar bis auf Luther zurückgeht.32 Adelung hat sein Lob des Meißnischen Deutsch ausdrücklich auch auf die gesprochene Sprache bezogen: „[...] daß die hier verfeinerte und ausgebildete Sprache, nicht allein die Schriftsprache des ganzen aufgeklärten Theils der Nation,
sondern auch die
gesell-
schaftliche Sprache fast aller Personen von Geschmack und Erziehung, besonders in dem mittlem und nördlichen Deutschlande, ward und es noch ist." 3 3
Hierbei war der in Sachsen lebende Pommer wohl der Illusion erlegen, die Aussprache von Norddeutschen, wie von ihm und Gottsched und von vielen anderen Hochgebildeten in Erfurt, Halle, Leipzig und Dresden, sei identisch mit der autochthonen Oberschichtlautung in Sachsen. An anderer Stelle benutzt Adelung für die sorgfältige norddeutsche Aussprache beim Vorlesen hochdeutscher Texte den Ausdruck .Niederhochdeutsch'. 34 Heute erklären wir die norddeutsche hochkulturelle Leseaussprache nicht mehr als Sprechspracheinfluss vom Ostmitteldeutschen her, sondern unterscheiden mediengeschichtlich und sprachsoziologisch genauer zwischen mitteldeutschem Schreibspracheinfluss einerseits (über Kanzleien und Buchdruck) und eigenständigem Bemühen der Norddeutschen um eine möglichst korrekte, dialektferne Aussprache der Buchstaben beim Lautlesen andererseits.35 In dieser Hinsicht konnten die Norddeutschen erfolgreicher sein als die Obersachsen, denn bei ihnen ist die Verdrängung des Dialekts, der verachteten plattdeutschen Mundarten, seit der Mitte des 16. Jahrhunderts rigoroser erzwungen worden als in Obersachsen; dies war sogar ein umfassender Sprachenwechsel, der auch mit der Verdrängung und Diskriminierung ihrer eigenen hochentwickelten Literaturund Verwaltungssprache, des Mittelniederdeutschen, verbunden war.36 31
Strohbach 1 9 8 4 , 2 1 0 f . ; Henne 1984; Baudusch 1984; Lerchner 1984.
32
von Polenz 1989; von Polenz 1994, Bd. 2, 138-145.
33
Adelung 1782a, Bd. 1, 82; vgl. Strohbach 1984, 196.
34
Wells 1 9 9 0 , 3 2 3 .
35
Schmidt 1984b; von Polenz 1990; Große 1999.
36
Vgl. von Polenz 1991/2000 2 , Bd. 1, Kap. 4.9 C-J; Bd. 2, Kap. 5.8 KLN.
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Adelungs gesellschaftsgeschichtliche Überlegungen zur deutschen Hochsprachentwicklung der neueren Zeit blieben jedoch nur Programm und Meinungsäußerung. In seiner eigentlichen Sprachgeschichtsschreibung ist er von der vorgeschichtlichen Zeit über die Völkerwanderung, Karl den Großen und die Stauferzeit im Grunde nur bis zur Reformationszeit gekommen. 37 Zu Sprachveränderungen seiner eigenen Gegenwart, zu neuartigen Entwicklungstendenzen, wie z.B. den Ansätzen subkultureller Altemativsprache im Sturm und Drang hatte er nur ein negatives Verhältnis. 38 Auch wäre er wohl kaum auf den Gedanken gekommen, die politisch-soziale Begriffsbildung zu analysieren, die gerade in seiner Zeit begann. So blieb es leider auch in der Germanistik des 19. Jahrhunderts. Die zweibändige „Geschichte der deutschen Sprache" von Jacob Grimm enthält obwohl sie 1848 erschienen ist - nichts über die Entwicklung des politischen Wortschatzes, die doch gerade damals, beim Übergang vom Vormärz zum öffentlichen politischen Sprachgebrauch - in der Paulskirche, auf der Straße und in der kritischen Presse - zum ersten Mal gruppenorientierte Alltagspraxis wurde. Grimms Sprachgeschichte fiel in Bezug auf Gesellschaftsgeschichte sogar noch hinter die programmatischen Ansätze Adelungs zurück. In der Vorrede zur 1. Auflage distanzierte er sich deutlich von seinem Vorgänger und spottete über dessen abwertende Charakterisierung der Sprache der Urvölker. Grimm ging immer wieder von der Höherwertigkeit einer rekonstruierbaren indogermanischen bzw. germanischen Einheitssprache aus, die in der weiteren Entwicklung durch Aufsplitterung in einzelne Stammessprachen und Dialekte an .Frische', .Natürlichkeit' und Sinnlichkeit' eingebüßt habe. Dabei lehnte er sprachpuristisch das Fremdwort .germanisch' ab und bezeichnete alle germanischen Völker und Sprachen in historischer Sicht als „deutsche Völker, deutsche Sprachen". Sprachgeschichte war bei Grimm vor allem ein Rekonstruieren der vorgeschichtlichen Wurzeln der deutschen Sprache, ihrer „Urverwandtschaften" mit anderen Sprachen und ihrer „Urheimat" in Asien. Dafür waren ihm die neueren Jahrhunderte uninteressant, außer der Aufgliederung in deutsche Mundarten (Kap. XXXI), und an der Gegenwartssprache war ihm nur die Herleitung ihrer Laut- und Formenverhältnisse aus älterer und ältester Zeit wichtig, im Sinne von historischer Grammatik (Kap. XXXII-XLI). Diese einseitige Frühzeitsuche der romantisierenden Germanistik ist in der Zeit von den Napoleonischen Kriegen bis zur Bismarckschen Reichsgründung politisch-historisch erklärbar: Es ging Jacob Grimm darum, dass „der geschichte unseres volks das bett von der spräche her stärker aufgeschüttelt werden könnte", 39 d.h. darum, bei den freiheitsdurstigen Untertanen überlebter mitteleuropäischer Fürstenstaaten ein aus historischer Bildung gewonnenes 37 38 39
Vgl. Strohbach 1984, 37f„ 88f„ 183-193. Vgl. Strohbach 1984, 99. Grimm 1848, Vorrede, XI.
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deutsches Nationalbewusstsein auf dem Wege zu einem deutschen Nationalstaat zu erwecken. Außerdem spielte bei dieser Auffassung des Sprachwandels als eines Naturvorgangs die pseudonaturwissenschaftliche Vorstellung einer Sprache als eines .wachsenden', ,blühenden' und .welkenden' „Organismus" eine Rolle, eine Denkweise des geisteswissenschaftlichen Szientismus am Beginn der Industrialisierung Deutschlands. 40 Wie wirklichkeitsfremd und wie wenig gesellschaftsgeschichtlich Jacob und Wilhelm Grimm ihr großes „Nationalwerk", das „Deutsche Wörterbuch", konzipiert und geschrieben haben, ist in der germanistikkritischen Aufarbeitung seit Walter Boehlich (1952) deutlich geworden. Nach dem weniger polemischen, dafür aber systematisch analysierenden letzten Beitrag zu dieser Kontroverse, von Werner Holly (1991), besteht ein offensichtlicher Widerspruch zwischen Jacob Grimms politischem Engagement - vom Protest der „Göttinger Sieben" (1837) bis zu seiner ehrenvollen Mitwirkung im Frankfurter Paulskirchenparlament (1848) - und dem doch politisch motivierten Jahrhundertwerk des „Deutschen Wörterbuchs". Das politische Wirken Jacob Grimms ist, neben der vorherrschenden nationalen und kulturkonservativen Zielsetzung, auch von freiheitlich-demokratischen Elementen und einem routinierten Gebrauch des aktuellen politisch-sozialen Wortschatzes (auch mit sog. .Fremdwörtern') gekennzeichnet. In dem von den Brüdern Grimm noch selbst bearbeiteten Teil A-F des „Deutschen Wörterbuchs" (1854-63) ist jedoch der größte Teil des schon damals geläufigen politisch-sozialen Wortschatzes nicht gebucht bzw. seine aktuellen politisch-sozialen Bedeutungen sind nicht oder ungenügend berücksichtigt. Holly, der auch mit gegenwartsoffeneren Wörterbüchern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vergleicht, nennt diese lexikografische Abstinenz „Ausblendungen" und erklärt sie aus mehreren prinzipiellen Haltungen der Brüder Grimm: (1) Bevorzugung älterer Quellen, aus dem 18. und 19. Jahrhundert nur spärlich, einseitig literarisch, keine Zeitungstexte, (2) Zurückhaltung gegenüber sog. .Fremdwörtern', d.h. dem größten Teil des politisch-sozialen Wortschatzes, der ja wissenschaftlicher Herkunft ist, (3) Abneigung gegen die neuere Geschäfts-, Bildungs- und Wissenschaftssprache, (4) Misstrauen gegenüber parteipolitischem Wortgebrauch, den Jacob Grimm für „wilde pflanzen, üppig in stengel und laub, ohne nährende frucht" hielt, 41 (5) Allgemeines Desinteresse an aktuellen Wörtern und Wortbedeutungen der Gegenwartssprache, (6) Vorwiegendes Interesse an der Herleitung von Wörtern und Wortbedeutungen von ,Urwörtern' und .Urbedeutungen' aus möglichst früher Zeit, 40
Herrlich 1998; Schmidt 1986; 1992.
41
Holly 1 9 9 1 , 3 9 9 .
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(7) Szientistische Auffassung von Sprache als eines „Organismus", von Sprachwandel als eines als ,Wachsen', ,Blühen', ,Absterben' vorstellbaren Naturvorgangs. Diese Auswahlgewichtung entspricht der emotional erklärten nationalpolitischen Zielsetzung dieses „vaterländischen Werkes": Es soll „ein heiligthum der spräche gründen, ihren ganzen schätz bewahren", als „hehres denkmal des volks, dessen Vergangenheit und gegenwart in ihm sich verknüpfen", soll „mit andacht gelesen werden", entsprechend der „empfänglichkeit des volks für seine muttersprache, seine liebe zum Vaterland und untilgbare begierde nach seiner festeren einigung"; mit dem Aufruf: „Deutsche geliebte landsleute, welches reichs, welches glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane halle eurer angestammten, uralten spräche, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, eure volkskraft und dauer hängt in ihr". 42 Das von uns heute erwartete Interesse fur die öffentliche Sprache des beginnenden politischen Meinungsstreits um 1848 musste also damals ganz zurücktreten hinter der seit den Napoleonischen Kriegen den Sprachforschern zukommenden Aufgabe, durch Bewusstmachung einer möglichst alten gemeinsamen Sprachvergangenheit zur Entwicklung einer kulturnationalen Identität beizutragen, einem akademischen Legitimationsbeitrag auf dem angestrebten Weg zu einem Nationalstaat aller Deutschsprachigen, der aber infolge der preußisch dominierten Entwicklung nach 1848 gerade nicht zustandekam. Nach Grimms szientistischer Auffassung der Sprache als eines naturhaften „Organismus" wurde alte Sprache gern als ,heiP und ,gesund', neuartige Sprache als ,Abstieg' und ,Verfall' bewertet. So bezeichnete er z.B. die unregelmäßigen, mit uralten Resten des Ablauts flektierten deutschen Verben als die starken Verben, die regelmäßigen, seit langem einzig produktiven, also zukunftsträchtigen dagegen als die schwachen Verben. 43 Nach dieser vergangenheitsseligen Sprachauffassung gelten die aus grauer Vorzeit stammenden synthetischen morphologischen Mittel, das Flexionsprinzip, immer als das Wertvollere (z.B. flektierter Konjunktiv, Genitivfiigung), deren Ersatz durch analytische Wortgruppen mit Hilfsverben, Modalverben, Präpositionen usw. ideologisch konsequent als das Minderwertige, obwohl diese sich seit Jahrhunderten entwickelnden Ersatzmittel teilweise mehr semantische und pragmatische Differenzierungen ermöglichen als die alten Flexionsmittel. Kaum mehr umstritten sind die kulturpolitischen Zusammenhänge dieser traditionellen Sprachgeschichtsauffassung der Germanistik des 19. Jahrhunderts. Es war eine deutsche Entfremdung von der westeuropäischen Aufklärungstradition und von der Internationalität moderner Wissenschaften, mit einer professionellen Einkapselung im akademischen Positivismus. Diese wis42
Grimm 1854/1962, Bd. 1, Sp. III, VII, XIII, LXVIII; vgl. Holly 1991, 352f.
43
Bering 1991, 331 ; Henne 1999, 92.
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senschaftspolitische Entwicklung stand - noch nicht bei den Grimms - im mindestens indirekten Zusammenhang mit der allmählichen Verbreitung von Radikalnationalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland seit den Napoleonischen Kriegen. Es genügt hierzu ein Verweis auf die germanistikgeschichtlichen Arbeiten und Sammelbände aus den 80er Jahren von Dietz Bering, Helmut Henne, Johannes Janota, Alan Kirkness, Werner Neumann, Ruth Römer, Hartmut Schmidt, Klaus von See, Stefan Sonderegger und anderen, auch auf das Kapitel „Sprachnationalismus" in Andreas Gardts „Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland". 4 Wie weit man sich in der deutschen Sprachgeschichtsschreibung unter dem Leitbild ,Sprachgeist/ Volksgeist' von dem schon bei Adelung deutlichen gesellschaftsbezogenen Geschichtsbegriff entfernt hatte, fasst Ulrike Haß-Zumkehr zusammen: „In wilhelminischer Zeit wurde der Geschichtsbegriff zunehmend dem Begriff des (unbeeinflussbaren) Schicksals angenähert; mit Kultur wurde nicht mehr das Produkt menschlicher Tätigkeiten bezeichnet, sondern ein sich ,organisch' vererbendes Wesensmerkmal." 45
Es ist allerdings Vorsicht geboten vor einer pauschalen Festlegung der Germanistik des späteren 19. Jahrhunderts auf diese .völkische', geschichtsferne Richtung. Werner Neumann hob warnend hervor: „Die Gelehrten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren fur die regionalen, funktionalen und soziologischen, selbst für die geschichtlichen Aspekte [...] nicht blind" und verwies auf Ansätze zur Berücksichtigung von Gegenwartssprache, Umgangssprache, Arbeitersprache, kreativer Individualsprache bei Karl Weinhold, Hermann Paul, Otto Behaghel, Hermann Wunderlich und den Junggrammatikern. 46 Hartmut Schmidt hält es fur fragwürdig, politisches und wissenschaftliches Verhalten der alten Germanisten voreilig zu identifizieren. 47 Auch in Bezug auf den nationalistischen Fremdwortpurismus waren die akademischen Germanisten eher ablehnend oder hielten sich davon fern. Der Lexikograf Daniel Sanders war nach Ulrike Haß-Zumkehrs Untersuchung ganz anders als die Grimms - Vertreter einer „aufgeklärten Germanistik im 19. Jahrhundert". So kann man viele Widersprüche, Unterschiede und Ausnahmefälle in der alten Germanistik als Alibi anfuhren. Dies ändert jedoch wenig an der kulturpolitisch zu erklärenden Tatsache, dass der Sprachnationalismus und der politikferne, gesellschaftsferne Positivismus die vorherrschenden, seit 1871 staatlich geforderten Richtungen in der traditionellen Germanistik waren. Dies hat sich gerade in der Sprach-
44 45 46 47
Gardt 1999,301-319. Haß-Zumkehr 1998,353. Neumann 1988, 6 , 3 l f . Schmidt 1991, 283ff.
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geschichtsschreibung und pädagogisierten Sprachgeschichtsauffassung 48 noch weit ins 20. Jahrhundert hinein ausgewirkt. Die Darstellungen der deutschen Sprachgeschichte von Otto Behaghel (1898/1928) und Friedrich Kluge (1920/25) setzen im Wesentlichen das Grimmsche Modell fort: Etwa 90 Prozent der Darstellung sind der Herkunft der deutschen Sprache aus grauer Vorzeit und dem Mittelalter gewidmet, bei Behaghel der allergrößte Teil den innersprachlichen Laut- und Formenentwicklungen, natürlich mit einem bedeutenden Zuwachs an Detailwissen gegenüber Grimm. Bei Kluge ist die kulturgeschichtliche Komponente deutlich stärker, von germanischen Göttern über das Christentum und Rittertum bis zur Dichtersprache. Aber das Schlusskapitel Uber „die Neuzeit" wirkt eher wie ein Anhängsel: über den Buchdruck, Latein und Deutsch, Luthers Bibeldeutsch und seine Wirkung, die barocken Sprachgesellschaften und Gottsched, ausklingend im Lob der Sprachreinigung und der Germanistik. Über die weitere Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert bietet Kluge - deprimiert vom widrigen Ausgang des Ersten Weltkriegs - nur Streiflichter in pathetisch-nationalistischer Stilisierung: Klagen über die „Verwelschung", über den Rückgang der Mundarten, über „ungehörige Übergriffe" durch gesprochene Abkürzungen und „papierenes Deutsch", Ermahnungen in Bezug auf „Erbe der Väter", „Volkstum", „Sprachart", „deutschen Geist", „Weltherrschaft im Geist und in der Wahrheit", nach dem wissenschaftspolitischen Grundsatz: „Wer für unsere Sprache arbeitet, kämpft für unser Deutschtum". Wesentlich moderner erscheint auf den ersten Blick die „Geschichte der deutschen Sprache" von Adolf Bach, von 1938 bis 1970 in neun Auflagen immer wieder erweitert. In meiner Studien- und Assistentenzeit lernte ich danach außer der traditionellen Vor- und Frühgeschichte und Mediävistik - zwar vieles über sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Einzelheiten: über den Einfluss der Siedlungs-, Verkehrs-, Kanzlei- und Territorialgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit auf die regionalsprachliche Gliederung und Standardisierungsentwicklung, über „Sondersprachen" verschiedener älterer Berufe und sozialer Randgruppen, über Spracheinflüsse vieler Nachbar- und Weltsprachen auf das Deutsche, des Deutschen auf andere Sprachen, über deutsche Sprachgrenzen und das Auslandsdeutschtum usw. Aber in den historischen Bewertungen und Perspektiven und in Stilfiguren wirkt auch bei Bach der Sprachnationalismus noch stark nach, was in der NS-Zeit ja opportun war: 49 Noch in den Nachkriegsauflagen wird bei Bach die deutsche Sprache als „Widerspiegelung deutschen Geistes", als „gewaltiges Denkmal volkhafter Einheit" gepriesen, werden ihre Sprecher, die Sprachbevölkerung, als Glieder einer „Sprachgemeinschaft", als „Diener am Wort, am sprachlichen Leben der Gesamtheit" eingestuft; die mittelalterliche Ostkolonisation wird mit deutlich 48 49
Stötzel 1981, 1983. von Polenz 1980, 4 2 f f ; 2000 Bd. 1, 12; Stötzel 1983, 86ff.
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progermanischer und antislawischer Tendenz in metaphorischer Weise als ein „Ausdehnen", „Gewinnen", „Erobern" in Bezug auf die deutsche Sprache bzw. das deutsche Sprachgebiet beschrieben, wobei die damit verbundene Unterwerfung und Assimilierung slawischer Bevölkerung, die Unterdrückung slawischer Sprachen nur nebenbei abgetan wird in der Formulierung „daß das deutsche Volkstum allmählich slawische Bevölkerungsteile aufzusaugen vermochte" (§ 91). Wortentlehnungen aus anderen Sprachen werden stilistisch meist so abstrakt und hypostasierend dargestellt, dass die betreffende Sprache selbst (z.B. Latein, Französisch oder Jüdischdeutsch) es gewesen sei, die in die deutsche Sprache Wörter habe „eindringen" oder „gelangen lassen". Der Sprachgebrauch des Nationalsozialismus wird nur kurz erwähnt in einem später eingeschobenen Kapitel unter der im Inhaltsverzeichnis genannten Überschrift „Sondersprachen, die der Allgemeinheit aufgezwungen wurden" (§ 203 a), worunter in positivistisch-lakonischer Weise nur einige Wörter aufgelistet werden, die „inzwischen in den Wortschatz eines Teils der Allgemeinheit übergegangen" seien; dies alles ohne jeden erklärenden Hinweis auf Entstehung, Entwicklung und Wirkungsweise politischer Ideologiesprachen seit mehr als einem Jahrhundert. In den deutschen Sprachgeschichten der frühen Nachkriegszeit, von Hugo Moser, Hans Eggers und Fritz Tschirch, ist das Bemühen festzustellen, von der sprachnationalistischen Richtung loszukommen und die neuere und neueste Zeit sowie gesellschaftsgeschichtliche Zusammenhänge und Hintergründe mehr zu berücksichtigen. Dass dies teilweise nur unbefriedigend gelungen ist, haben Georg Stötzel und Klaus J. Mattheier in theorie- und methodenkritischen Rückblicken aufgezeigt. 50 Es wird noch eindrucksvoller bestätigt dadurch, dass seit den siebziger Jahren in der reformbereiten Germanistik eine deutliche Schwerpunktverlagerung vorgenommen wurde durch eine enorme Expansion der Forschungen über neuere deutsche Sprachgeschichte vom Frühneuhochdeutschen bis zur Gegenwart, in hunderten von Monografien, Sammelschriften, Tagungsbänden, tausenden von kleineren Einzelstudien, und zwar gleichzeitig in Deutschland Ost wie Deutschland West, bald auch in Österreich, in der Schweiz, auch bei Germanisten in anderen europäischen Ländern. Die Namen all derer, die sich in diesen drei Jahrzehnten mit wertvollen Beiträgen darum verdient gemacht haben, kann ich hier nicht aufzählen, denn es sind weit über hundert. Viele von ihnen sind hier auf dieser Tagung anwesend, einschließlich der Tagungsleitung. Diese zahlreiche Beteiligung an der Erfüllung eines dringenden germanistischen Desiderats ist der Grund dafür, dass die beiden heute aktuellen Forschungsübersichten so umfangreich geworden sind: das HSK-Handbuch „Sprachgeschichte", hg. von Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger, und mein Versuch einer neuen „Deutschen Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart", deren 50
Stötzel 1983, 89ff.; Mattheier 1999, 14ff.
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drei Bände mir unter der Hand dank dieses reichen Angebots neuer Forschungsliteratur zur Gegenwart hin immer dicker geworden sind. Um niemandem zu viel oder zu wenig Ehre anzutun, werde ich also von jetzt an keine Namen mehr nennen, sondern nun zum Schluss summarisch auf einige der in diesem neuen Forschungsgebiet innovativ erschlossenen Teilbereiche einer gesellschaftsgeschichtlich orientierten Sprachgeschichtsforschung und Sprachgeschichtsschreibung hinweisen. 51 Zur sinnvollen Einbettung von Sprachgeschichte in die allgemeine Geschichte, vor allem Gesellschaftsgeschichte und politische Geschichte, erweisen sich als Bindeglieder die Geschichte der Medien, die Geschichte der Kommunikationsformen und die Geschichte der Volksbildung als notwendig. Beispielsweise gehören die Auswirkungen von technischen Erfindungen wie Papier, Eisenbahn, Telegraph, Rotationsdruckmaschine, Hör- und Sehmedien, des Computers usw. zu einer Sprachgeschichte dazu. Selbst für so kleine Bequemlichkeiten wie Petroleumlampe und Postkarte werden im 19. Jahrhundert Folgen für die Lese- und Schreibfähigkeiten in der Unterschichtbevölkerung festgestellt. Als epochemachende Faktoren der Popularisierung des Lesens und Schreibens erweisen sich die Medienexpansion durch Papier und Buchdruck im 14. und 15. Jahrhundert und die Kommerzialisierung von Massenmedien im späten 18. und späten 19. Jahrhundert. Gesellschaftliche Einrichtungen wie die Hofberedsamkeit in Renaissance und Barock, die Lesevereine in der Spätaufklärung, die großbürgerliche Konversation im 19. Jahrhundert werden in ihrer Wirkung auf die Sprachkultivierung erkannt. Neue Quellenarten unterhalb des literarischen Standards werden für die Alltags-Sprachgeschichte untersucht: Briefe, Briefsteller, Memoiren, Tagebücher, Poesiealben, Anstandsbücher, Kochbücher, Bittschriften, Vereinssatzungen, betriebliche Anleitungen, Gerichtsprotokolle, Zeitungsnachrichten und Kommentare, Werbetexte, Parlamentsreden, Wahlplakate, Kabarett-Texte usw. Sprachgeschichte wird mit Bildungsgeschichte sozialgeschichtlich relativiert und differenziert, z.B. zum Verhältnis zwischen Schulpflicht und Alphabetisierungsstand von Bevölkerungsschichten, zwischen Schulordnungen und Benachteiligung von Unterschichten und Frauen. Andererseits wird festgestellt, dass - stärker als in der traditionellen Bildungsbürgerlichkeit angenommen wird - auch in der Frühen Neuzeit schon mit außerschulischer Literatheit zu rechnen ist, z.B. bei Gewerbetreibenden und in „ländlicher Schriftlichkeit", im 19. Jahrhundert in Arbeiterbildungsvereinen usw. Zum Verhältnis zwischen Deutsch und anderen Sprachen wird die Entwicklung des Lernens fremder Sprachen durch Deutschsprachige, des Deutschen durch Anderssprachige untersucht, der Aufstieg und Abstieg der Mehrsprachigkeit in Deutschland und der internationalen Stellung der deutschen Sprache. 51
Vgl. Cherubim 1998, von Polenz 1998.
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Statt der traditionellen abstrakt-geografisch und germanozentrisch gesehenen Veränderungen von Sprachgrenzen und Sprachgebieten wird heute mehr aus der Sicht der Betroffenen das sprachenpolitische Verhalten der Deutschsprachigen zu Nachbarsprachen und Sprachminderheiten untersucht, so im 16. und 17. Jahrhundert zum Niederdeutschen, im 18. und 19. Jahrhundert zum Niederländischen, zum Dänischen, zu slawischen Sprachen im Osten und Südosten, zum Rätoromanischen in Graubünden, zum Französischen im Eisass und in Luxemburg; schließlich die erstaunliche Etablierung des Letzeburgischen als neue Schrift- und Nationalsprache im Widerstand während des Zweiten Weltkriegs und sprachplanerisch in der Nachkriegszeit. Neue Themen sind auch das Verhältnis zwischen Deutsch und Jüdischdeutsch vom 18. bis 20. Jahrhundert oder die sprachliche Assimilation von Arbeitsimmigranten im Ruhrgebiet im späten 19. Jahrhundert, in der alten Bundesrepublik in der Nachkriegszeit. Was traditionell als Einfluss anderer Sprachen auf das Deutsche beschrieben wurde, wird mehr in der Sprachhandlungsperspektive als Entlehnung in den deutschen Sprachgebrauch und Integration in das deutsche Sprachsystem untersucht, und zwar mit Differenzierung des Quellenmaterials nach sozialen Gruppen, Textsorten, Kommunikationstypen, einschließlich der bildungssprachlichen Lehnflexion seit der Humanistenzeit, sowie der Lehnwortbildung, die als kreatives modernes Teilsystem der deutschen Sprache im Rahmen ihrer ständig fortschreitenden Europäisierung verstanden wird. Dazu gehört komplementär auch die Untersuchung der verschiedenen Gründe für Erfolg oder Misserfolg von Fremdwortverdeutschungen. Sprachbewusstseinsgeschichte wird als konstitutiver Teil der Sprachgeschichte emstgenommen, nicht nur Sprachkritik von Publizisten, auch allgemeine Sprachsensibilität als Alltagswissen, vom Spott über Regionalsprachliches in der Frühen Neuzeit über den Fremdwortpurismus, bei dem man eine kulturpatriotische, eine volksaufklärerische und eine radikalnationalistische Phase unterscheidet, bis hin zur politischen Sprachkritik, die um 1800 beim wiederentdeckten Carl Gustav Jochmann beginnt und heutzutage öffentlich wirksam ist, sei es friedenspolitisch, ökopolitisch oder feministisch, neuerdings als populäre Bewusstheit von „Ossizismen" und „Wessizismen". Die Entwicklung von Sprachnormen seit dem 16. Jahrhundert bemüht man sich nicht nur als bloße Vorgeschichte einer heute idealisiert einheitlichen Standardsprache darzustellen, sondern geht von grundsätzlicher Heterogenität und vom ständigen Nebeneinander von Varietäten aus. So wie man bis ins 18. Jahrhundert mit noch regionalen Schreibnormen rechnet, versucht man neuerdings mehrere nationale bzw. staatliche Varietäten der deutschen Standardsprache mit dem Prinzip der Gleichberechtigung herauszuarbeiten, (in der Schweiz, in Österreich, in der ehemaligen DDR und auch in der alten Bundesrepublik), auch wenn es sich im Wesentlichen nur um einige hundert Wort-
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und Lautungsvarianten mit staatsspezifischen Redensarten handelt, die aber eine andere Identifikationsfunktion haben als die regionalen Umgangssprachen. Man geht nicht mehr nur von einer bestimmten Norm aus, erklärt nicht mehr alles von der Idealnorm Abweichende nur als „Besonderheit". Man achtet sprachgeschichtlich auch auf Normenkonflikte und gegenläufige Tendenzen. Die Entwicklung von nicht hochkulturellen Varietäten wird stärker beachtet, z.B. verschiedene Stufen von Fachsprache einschließlich ihrer Entstellung in Berufsjargon, Werbe- und Mediensprache, ebenso verschiedene historische Arten von Jugendsprache vom Sturm und Drang über Studentensprache und Wandervogelbewegung, Hitlerjugendsprache bis zu heutigem Szenejargon; dazu Sportsprache als Fachsprache und als Freizeitritual der Fans, Soldatensprache, Offiziersjargon, politische Witzkultur unter Zwangsherrschaft; betriebliche Institutionssprache und Betriebsjargon, Männersprache und Frauensprache als ritualisierte Symptome fur die Ungleichbehandlung der Geschlechter usw. Politische Sprache wird nach politischen Richtungen und Epochen untersucht, von den Volksaufständen der Reformationszeit über die zuerst von Historikern erschlossene politisch-soziale Begriffsbildung in der Spätaufklärung, dann von den Wirkungen der Französischen Revolution über Frühnationalismus, Paulskirche und Arbeiterbewegung bis zu der verhängnisvollen kontinuierlichen Entwicklung von 1871 bis 1945, mit Schwerpunkten wie Konservatismus, Nationalchauvinismus, Militarismus, Antisemitismus, NSDeutsch; schließlich die auseinanderdriftenden Neuansätze politischer Sprache in der Nachkriegszeit in beiden deutschen Staaten bis zur Neuvereinigung 1989/90 und den sprachlichen Irritationen der Nach-Wende-Zeit. Soziopragmatische Untersuchungen politischer Sprache erschließen auch bestimmte Diskursformen: in Flugschriften, Wahlplakaten, Wahlreden, Parlamentsreden, Gesetzestexten, Sprachgebrauch im KZ, semantische Kämpfe zwischen den Parteien und Benennungskonkurrenzen in der Nachkriegszeit. Literarische Sprache wird nicht mehr nur als Bereich einmaliger individueller Leistungen dargestellt, sondern auch in ihrer pädagogisierten Wirkung auf die Entstehung eines ständisch disziplinierenden Bildungsdeutsch im 19. Jahrhundert, einschließlich der Trivialliteratur; andererseits als literarische Versuche altemativkulturellen Ausbrechens aus dieser Vergesellschaftung der Belletristik durch Emotionalisierung, Verfremdung und Kreativität, vom Sturm und Drang bis zu immer neuen Richtungen der Moderne. Regionale Sprachunterschiede werden - über den romantisch rustikalisierenden Mundart-Begriff hinaus - als Stadtsprachen, Stadtteilsprachen, Regiolekte und moderner Substandard erforscht, bis hin zum soziopragmatischen Funktionswandel des Dialektsprechens und zur mediengesteuerten „Mundartrenaissance".
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Im innersprachlichen Bereich werden in neuer soziopragmatischer Perspektive bestimmte Sprachmittel sprachgeschichtlich untersucht: Dialog- und Argumentationsstrukturen, Satzbauformen, Wortstellungstypen, Wortbildungsmuster, Phraseologie- und Metaphernfelder, besonders hinsichtlich ihrer Verteilung auf Diskurstypen, Textsorten und soziale Gruppen vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart; ebenso die im engeren Sinne pragmatischen Sprachmittel: Anrede- und Grußformeln, Interjektionen, Modalpartikeln, Modalverben, Sprachhandlungsverben usw. Dies und vieles andere, also eine bunte Vielfalt aktueller, teilweise neuartiger sprachgeschichtlicher Fragestellungen und Ansätze, steht im Vordergrund sprachgeschichtlicher Forschung und Gesamtdarstellung seit den siebziger Jahren und spiegelt sich auch im Programm dieser Tagung wider. Es ist die Folge einer bewussten, sich von nationalpolitischen Schwerpunkten des 19. Jahrhunderts befreienden germanistischen Sprachgeschichtsforschung und Sprachgeschichtsschreibung mit einer mehr gesellschaftsgeschichtlichen Orientierung. Wir haben sie bereits bei dem Dresdener Hofrat Adelung in Ansätzen angetroffen; auch der Göttinger und Berliner Professor Grimm hätte sie wohl nicht ganz von sich gewiesen, wenn er in einer anderen politischen Situation geforscht und gelehrt hätte.
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OSKAR RBICHMANN
Nationale und europäische Sprachgeschichtsschreibung 1. Einleitende Vorbemerkungen Der hier vorgelegte Beitrag beruht auf einem öffentlichen Vortrag. Vorträge dieser Art 1 verlangen ein Eingehen auf Fragestellungen, die die Gesellschaft in besonderer Weise bewegen; und sie erlauben, ohne dadurch unwissenschaftlich werden zu müssen, Zuspitzungen, vielleicht sogar provokative Zuspitzungen. Beides gilt, so meine ich jedenfalls, auch fur diesen Vortrag (einschließlich der hier vorgelegten schriftlichen Fassung), insofern er nämlich den inneren Zusammenhang der einzelnen europäischen Sprach-, Kultur- und Staatsgesellschaften wie Europas als einer Gesamtheit betrifft. Meine Ausführungen stehen letztlich unter der Frage, ob unsere Sprachgeschichten, etwa solche des Deutschen, des Niederländischen, des Polnischen, Tatsachenberichte sind oder ob sie - positiv ausgedrückt -Sinnstiftungen oder negativ ausgedrückt - Sinnklitterungen für eine Großgruppe von Menschen sind, etwa ftlr die bzw. für große Teile der Sprecher des Deutschen, des Niederländischen oder des Polnischen. In beiden Fällen, stärker aber wahrscheinlich im zweiten Fall, müsste angenommen werden, das die jeweils angesprochene Großgruppe eine unterschwellige Empfänglichkeit für das jeweils Vorgetragene hat oder gar ausdrücklich danach verlangt. Die Antwort, die ich gebe, wird komparativ lauten: „Ja, unsere Sprachgeschichten sind mehr, als man gemeinhin annimmt, Sinnstiftungen bzw. Sinnklitterungen, jedenfalls sind sie dies mehr als Tatsachenberichte", dies gilt nicht nur für die Sprachgeschichtsschreibung, sondern fur Geschichtsschreibung überhaupt. Das heißt aber nun, dass der Sprachhistoriker, der um diese Problematik weiß, Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten bei seinem Tun hat. Dazu zählen etwa Entscheidungen über Fragen folgender Art: - Soll er die ältere oder jüngere Sprachgeschichte gleich oder bestimmte Phasen stärker als andere gewichten? - Soll er eine ausdrucke- oder eine inhaltsseitig orientierte Sprachgeschichte schreiben? - Soll er eine vorwiegend lautgeschichtlich oder eine vorwiegend lexik- oder syntax- oder textgeschichtlich orientierte Sprachgeschichte schreiben?
Die Diktion der Vortragsfassung wird hier großenteils beibehalten.
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Soll er eine eher strukturalistisch oder eine eher sozialgeschichtlichpragmatisch orientierte Sprachgeschichte schreiben?
Und so geht es noch ein gutes Stück weiter. 2 Die Fragen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, sind zum Teil fachlinguistischer Art; es gibt aber auch Fragen, die in ihrem Kern ideologisch sind. Zu diesen zählt die folgende: Wie soll man sich, etwa bei einer Sprachgeschichte des Deutschen, zu anderen Sprachen verhalten? Andere Sprachen sind dabei (a) Nachbarsprachen wie das Niederländische, Polnische oder Italienische, (b) Bildungssprachen wie das Lateinische und Griechische, (c) die jeweilige Weltsprache, heute ganz eindeutig das Englische, früher (in einem anderen Sinne) das Latein. Je nachdem, wie man sich in dieser und den vorangehend genannten Fragen entscheidet, entstehen weitgehend andere Sprachgeschichten. Unter dem zuletzt genannten Gesichtspunkt sind zwei Denkmodelle zu unterscheiden. Ich nenne das erste das einzelsprachbezogene Modell; es gestaltet sich z.B. als das deutsche, niederländische, polnische Modell; genau gesprochen gestaltet es sich zwar nicht notwendigerweise und nicht in allen Perioden der Sprachgeschichtsschreibung, wohl aber in der die Sprachgermanistik prägenden Periode des 19. Jahrhunderts, als das national motivierte deutsche oder das national motivierte niederländische (usw.) Modell. Das zweite Modell wäre als das kontaktbezogene zu bezeichnen; es realisiert sich innerhalb Europas am sinnvollsten als das europäische. Ich setze also einen Gegensatz (so gerade auch motiviert durch einen Brief von P. von Polenz zu der Vorlage der in Anmerkung 2 genannten Publikation) von einzelsprachbezogen zu kontaktbezogen an. Die Realisierung des einzelsprachbezogenen Modells tendiert - nochmals gesagt: logisch nicht notwendigerweise, aber im Laufe der Wissenschaftsgeschichte doch relativ konstant - zur nationalen Instrumentalisierung von Sprache. Dem nationalen Modell steht dann das europäische gegenüber. Nach dem einzelsprachbezogenen Modell ist Sprachgeschichte die Geschichte eines Systems von Verständigungsmitteln, das man unter strukturellem Aspekt sowohl in seinem Ursprung wie (wichtiger) in jedem seiner Entwicklungsstadien durch ein idealiter nur ihm eigenes Inventar von Einheiten und ein idealiter nur ihm eigenes System von Regeln gekennzeichnet sieht. Unter sprachsoziologischem und sprachbewusstseinsgeschichtlichem Aspekt 3 wird entsprechend argumentiert: Die Einzelsprache unterliegt jeweils einzelsprachlichen Gebräuchen und sie hat nur ihr zukommende Gütequalitäten.
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Weitere Fragestellungen dieses Typs enthalt Reichmann 2001. Dort auch bibliografische Angaben zu vorangehenden Fassungen dieses Beitrags sowie weitere Literatur, als im Folgenden angegeben. - Man vgl. außerdem Reichmann 1998, 1-41. Hinter dieser Aspektgliederung verbirgt sich die Typologie der Gegenstände der Sprachgeschichtsschreibung von Mattheier 1995, 1-28.
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Das Kontaktmodell ist in allem durch das genaue Gegenteil bestimmt: Die Geschichte einer Einzelsprache ist strukturell gesehen hinsichtlich ihrer Einheiten und Regeln, sprachsoziologisch und sprachbewusstseinsgeschichtlich gesehen hinsichtlich ihres Gebrauches und der ihr zugeschriebenen Gütequalitäten für jedes ihrer Entwicklungsstadien das Resultat von Kontakten (wie auch immer man .Kontakt' bestimmen mag). Eine unbestreitbare empirische Grundlage, die zu einer Entscheidung für das eine oder andere Modell als das richtigere zwingen würde, ist nicht gegeben. Man kann z.B. - mit guten Gründen - sagen: Die Mehrzahl der Menschen auf dieser Erde lebt trotz nicht zu leugnender Kontakte in einem jeweils geschlossenen Sprachgebiet (oder in einem möglicherweise auch sprachlich abgegrenzten Sozialraum). Man kann aber auch - mit ebenso guten Gründen - sagen: Die Mehrzahl der Menschen lebt in irgendeiner Weise im Kontakt mit Menschen anderer Zunge. Je nach kulturellem Wollen wird einmal das erstere (also die letztlich planimetrische Aufteilung der Erde in Sprachräume) betont und das zweite relativiert oder das zweite (also der Kontakt) wird betont und das erstere relativiert. Bezogen auf das Deutsche wird man wegen seiner großflächigen Gültigkeit einerseits von einem relativ geschlossenen Sprachraum reden können; andererseits kann man aber auch argumentieren: Seitdem es Deutsche gibt, stehen mindestens alle Gebildeten dieser Großgruppe von Menschen auch im Einflussraum einer Bildungs- und zusätzlich oft einer Nachbarsprache, in den neueren Jahrhunderten schon durch den Schulunterricht. Die Sprachgeschichten des Deutschen sind seit dem Beginn historischer Besinnung auf die eigene Sprache im Allgemeinen nach dem einzelsprachbezogenen Modell gezimmert, genau gesprochen relativ langfristig sogar nach seiner nationalen Variante. Mit der Einschränkung „im Allgemeinen" räume ich erstens ein, dass es selbstverständlich andere Traditionen gibt, deren Denkmodelle zeitweilig (etwa in der Epoche der Aufklärung) sogar dominieren. Ich räume zweitens ein, dass es immer wieder (selbst im 19. Jahrhundert: z.B. Daniel Sanders 4 ) und natürlich in der Gegenwart (z.B. Koselleck, von Polenz) Sprachhistoriker 5 gibt, die sich bewusst von der nationalen Vereinnahmung von Sprache absetzen. Ich behaupte aber, dass die Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen, von ihrem wissenschaftlichen Beginn im frühen 19. Jahrhundert an bis weit in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, außer durch das Anliegen sachlicher Information noch mehr durch das Anliegen bestimmt ist, die angesprochene Leserschaft von der Existenz eines spezifischen, eigentümlichen, einmaligen Verständigungssystems .Deutsch' zu überzeugen, eines Systems, das von ihren Konstrukteuren mit hohen strukturellen, semantischen, soziologischen (z.B. literatursprachlichen) Gütequalitäten ausgezeichnet wird und das sich deshalb gut in den Dienst von Identitätsfmdung oder -Verstärkung, von Solidarisierung in einem sprach- und kulturnationalen Sinne stellen lässt. 4 5
Vgl. dazu Haß-Zumkehr 1995. Koselleck 1978; Brunner/Conze/Koselleck 1972 ff.; von Polenz 1991-1999.
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Eine „entnationalisierte" Sprachgeschichtsschreibung, wie sie Stefan Sonderegger für die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts als Ziel bestimmter, bereits länger angelegter Entwicklungslinien am Horizont schimmern sieht, erscheint mir eher Programm zu sein als Verwirklichung; im übrigen sagt Sonderegger selbst: Es vollzieht sich eine „kritische Entnationalisierung, ohne daß Sprachgeschichte je der Verkettung von Sprache und Nation [...] völlig entsagen könnte." 6 So weit der erste Teil des Vortrags; im Folgenden werde ich das einzelsprachbezogene Modell in seiner nationalen Variante, danach das kontaktbezogene Modell in seiner europäischen Variante vorstellen. In beiden Fällen muss ich mich auf einfache Aufzählungen und auf Beispiele beschränken.
2. Das einzelsprachlich-nationale Modell 2.1. Kennzeichen Das einzelsprachlich-nationale Modell hat eine Reihe von Kennzeichen, die immer wieder begegnen (teilweise als Argumentationskonstanten) und von denen ich einige nenne: (1) Für die Einzelsprache (hier das Deutsche) wird eine Zeiterstreckung nach rückwärts vindiziert, die weit über diejenige Zeit hinausgeht, in der sich die Sprecher selbst als Sprachgemeinschaft erkennen und identifizieren. Hinter dieser Aussage steht die Frage, mit welchem Recht man die zentral- und nordwesteuropäischen Verständigungsmittel des 8. bis 11. Jahrhunderts als Althochc/ewtech, Altnieder¿/ewtec/i, Mtniederländisch, kiienglisch bezeichnet. (2) Oft wird ein Sprachraum vindiziert, der über dasjenige hinausgeht, was - bei entsprechenden Ansprüchen anderer Sprachgemeinschaften - unsere Erde an Raum zur Verfugung hat. Dazu ein zugestandenermaßen sehr krasses Beispiel aus dem Jahre 1848, dennoch aber ein Beispiel für eine verbreitete Grundströmung deutscher Sprachgeschichtsschreibung: Jacob Grimm vertritt in seinem Brief an Gervinus folgende Perspektive für das deutsch-dänische Verhältnis: „wie aus der letzten feindschaft zwischen Schweden und Dänen der schlummernde trieb ihres eigenen Verbandes erwacht ist, wird auch unser gegenwärtiger hader mit den Scandinaven sich umwandeln zu brüderlichem bunde zwischen uns und ihnen, welchen der spräche gemeinschaft laut begehrt, wie sollte [...] die streitige halbinsel nicht ganz zum festen lande geschlagen werden? [...] sobald Deutschland sich umgestaltet kann Dänemark unmöglich wie vorher bestehn."
(3) Man nimmt auf die deutsche Sprache noch vor jeder inhaltlichen Aussage mit positiven Wertausdrücken wie .Anlage', ,Art', ,Eigenwüchsigkeit', ,Geist', 6 7
Sonderegger 1988, 381-403, hier 398. Grimm 1848, Zitat in Bd. 1, VI: „An Gervinus".
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.Wesen' usw. Bezug und schreibt ihr eine Reihe von Gütequalitäten wie hohes Alter, Eigentlichkeit, Grundrichtigkeit, Reichtum, eine besondere Beziehung zur Realität usw. zu. Man schafft sich damit eine gebrauchsunabhängige, in ihrem Kern konstante Entität als Gegenstand, den durch Spracharbeit jedweder Prägung zu erhalten eine Verpflichtung der Sprachträger ist. (4) Den Punkt schlechthin, an dem sich das einzelsprachbezogen-nationale und das kontaktbezogene Modell der Sprachgeschichtsschreibung brechen, bilden die Entlehnungen. Auf ihre Behandlung soll daher etwas ausfuhrlicher eingegangen werden, vorwiegend an lexikalischen Beispielen. 2.2. Entlehnungen Entlehnungen erfahren im Lichte des einzelsprachbezogenen Modells, vor allem seiner nationalen Variante, sehr generell eine negative Bewertung. Es gibt eine ganze Skala konventionalisierter Termini und Redeweisen, die diese Sicht belegen; ich stelle die wichtigsten zusammen: Eine Sprache ist dem Einfluß, der Einwirkung einer anderen unterworfen; dieser Einfluss wird als emporwuchernd und schadenbringend beurteilt, er verursacht Kauderwelsch, führt zur Überfremdung oder gar zur Gefährdung der Existenz der Zielsprache. Es ist deshalb so lange, wie die eigene Sprache betroffen ist, generell böse, verhängnisvoll, ein Übel, im Einzelfall eine Modetorheit, eine Geschmack- und Würdelosigkeit der Sprachangehörigen; tapferer Widerstand, Widerspruch, aber auch Heilung durch sprachgeschichtliche Erkenntnis sind die adäquaten Reaktionen, es sei denn, man kann das Fremdgut durch Anverwandlung, Angleichung, Anpassung, Umprägung, Eindeutschung neutralisieren. Die Entscheidung von Sprachträgern, ob eine Einheit einer Fremdsprache in eine Zielsprache übernommen wird, erscheint als Kampf gegen überwältigende Fülle fremden Wortmaterials, gegen die Herrschaft, gegen z.B. römischen Geist in lateinischer Sprache. Äußere Rückschläge und durch ausgiebigen Gebrauch der Fremdsprache bedingte Hindemisse, kein Ruhmesblatt für uns, sind dabei so lange einzukalkulieren, bis sich die eigene Sprache durchgesetzt hat. 8 2.3. Bewertungen In der Realisierung und mit dem Blick auf die mit dem Deutschen in Bildungsbzw. Nachbarschaftskontakt stehenden Sprachen ergeben sich aus der vorgetragenen Negativbewertung dann folgende Urteile: - Die ältere Entlehnung ist (wie hier auch im Folgenden perspektivisch gesprochen) ein geringeres Übel als die jüngere.
Es handelt sich bei dieser Zusammenstellung um eine Montage, die aber dennoch den Argumentationstenor zumindest der inlandsgermanistischen (deutschen) Arbeiten trifft; vgl. Hirt 1925; Tschirch 1969; Bach 1970.
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Die Entlehnung aus den weitgehend unbestrittenen alten Bildungssprachen Latein und Griechisch ist ein geringeres Übel als diejenige aus den jüngeren Bildungs- und aus den Nachbarsprachen. Die Entlehnung aus südlichen, westlichen und nördlichen Nachbarsprachen ist, obwohl als Übel gesehen, dennoch erträglicher als diejenige aus den östlichen. Die Entlehnung aus kleineren Sprachen ist gegenüber derjenigen aus größeren, durch politische Hegemonien gestützten und das Deutsche potentiell aus seiner Omnivalenz drängenden oder gar in seiner Existenz gefährdenden Sprachen das geringere Übel; allen voran ist das Französische des 17. Jahrhunderts gemeint. Die Entlehnung aus genetisch eng verwandten Sprachen ist gegenüber derjenigen aus genetisch ferner stehenden Sprachen das geringere Übel. Die Entlehnung in fachliche Varietäten ist mit teilweise anderen Maßstäben zu messen als diejenige in die Gemeinsprache; eine die Einzelsprache übergreifende fachliche Kommunikationsgemeinschaft wird durchgehend als Notwendigkeit betrachtet und neutral bewertet. Für Entlehnungen aus einigen Nachbarsprachen (vor allem aus dem Niederländischen, dem Friesischen und dem Ungarischen) und aus weiter entfernt liegenden Sprachen (z.B. aus dem Arabischen, aus Sprachen der Neuen Welt) gelten aus Gründen enger genetischer Verwandtschaft (Niederländisch, Friesisch) oder des Interesses am vermeintlich Exotischen besondere Beurteilungsmaßstäbe.
Die Möglichkeit, diese Unterscheidungen miteinander zu kombinieren, lässt für die einzelne Lehnübernahme eine Bewertungsskala von ,positiv' über .akzeptabel' bis ,strikt negativ', dazwischen jeden beliebigen Grad der Abstufung zu. Die größte Chance auf positive Bewertung haben alteuropäische Beziehungen des Germanischen mit dem Keltischen sowie vordeutsche und ahd. Entlehnungen aus dem Lateinischen, die geringste solche aus dem Französischen des 17. Jahrhunderts oder aus dem Polnischen, Russischen der Gegenwart. - Dies soll anhand einiger typischer, die verschiedenen Epochen der deutschen Sprachgeschichte betreffender Kennzeichnungen stichwortartig (entlang der Zeitlinie) belegt werden: Besondere Innigkeit der Beziehungen zwischen Keltisch und Germanisch (Bach 1970, 50); Einwirkung der lat. Sprache auf das Westgermanische der 1. Jahrtausendhälfte (ebd., 69); bedeutende Schicht vorahd. Entlehnungen (Moskalskaja 1985, 75); Intensität lateinisch-deutscher Sprach- und Kulturberührung in ahd. Zeit (Eggers 1963, 97; 110); „Einordnung des dt. Lebensraumes in den Kulturkreis der röm. Kirche" in ahd. Zeit mit entsprechend tiefer (allerdings wieder relativierter) Auswirkung auf die Sprache (Bach 1970, 145); Bereicherung des Althochdeutschen durch Übernahme aus dem Lateinischen, aber doch schon Provozierung von Suffixen durch lat. Vorbild (Eggers 1963, 87; 91); Einwirkungen des Provenzalischen und Französischen im 12. Jahr-
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hundert bzw. Abhängigkeit des Deutschen vom Französischen im Hochmittelalter (Moser 1957, 772 f.; Bach 1970, 191), Schwall franz. Wörter aber bereits in dieser Zeit (Bach 1970, 223); verhängnisvoller Einfluss des Lateinischen und Überfremdung im 15./16. Jahrhundert; abergläubisches Vertrauen auf die Wirkung des Lateins (Schwarz 1967, 98); Schuld an Fremdwörtern bei den Humanisten (ebd., 79); Schuld der Bildungsverhältnisse an lat. Fremdwörtern (Hirt 1925, 185); Schuld des Handels sowie von Truppen und Abenteurern an Entlehnungen aus dem Italienischen (ebd., 279; 309) bei Anerkennung der hervorragenden Bedeutung dieser Sprache fur die Fachsprache der Musik (ebd., 310); Ausbau der Fachwortschätze auch durch Fremdwörter im 17. Jahrhundert (Schildt 1976, 142); Beisteuerung von Fachbezeichnungen durch die europäischen Hauptsprachen (Wells 1990, 291.); Fremdwortproblem, modischer Fremdwörterkult, Fremdländerei im 17. Jahrhundert (Schwarz 1967, 94; 140; Langen 1958, 931f); Gefährlichkeit des Alamodewesens (Schwarz 1967, 98); Überflutung, Überfremdung, Überschwemmung durch das Französische mit Gefahr der Verwelschung oder Erstickung des Deutschen (Langen 1957, 937; Schwarz 1967, 140; Tschirch 1969, 244f; 248; Bach 1970, 313; 325; Schildt 1976, 142); Französischen (verbale Neubildung) des Deutschen (Schwarz 1967, 111); Bereicherung dagegen durch die Neue Welt (ebd., 142). Selbstverständlich ist diese Montage im Einzelnen zu differenzieren. Das einzelsprachlich-nationale Modell der Sprachgeschichtsschreibung weist eine ganze Anzahl von schwerwiegenden Schiefheiten, Unehrlichkeiten und logischen Inkonsequenzen auf. Es müsste bei konsequenter Anwendung ausnahmslos jede Beeinflussung des Deutschen durch andere Sprachen als Störung seines Eigencharakters verstehen und sich dann gerade auf die Ablehnung derjenigen Einflüsse konzentrieren, die (a) weniger das Inventar als das System betreffen und die (b) weniger die Ausdrucksseite der Sprache als ihre Inhaltsseite betreffen. Unter diesem Aspekt würden aber nun die Sternstunden der europäischen Geschichte des Germanischen/Deutschen in ähnlicher Weise einer negativen Bewertung unterzogen werden müssen, wie dies z.B. fur den französischen Einfluss des 17. und 18. Jahrhunderts sehr generell getan wird. Zu den gemeinten Sternstunden zählen z.B.: - der gesamte Komplex der lat. Beeinflussung des Germanischen in den Jahrhunderten um und nach Christi Geburt und in der Zeit der Merowinger, - das ganze Kontaktfeld von „Antike und Christentum an der Wiege der deutschen Sprache"9 in ahd. Zeit, - die langfristigen Einflüsse des Mittellateins auf das Deutsche, - auch die Einflüsse des Französischen in der Blütezeit des Mittelalters.
Frings 1 9 4 9 . - V g l . auch Betz 1974, 135-164.
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Diese Konsequenz wird in der gerade vorgetragenen Deutlichkeit nirgendwo explizit gezogen. Dass dies nicht geschieht, hängt mit der bildungssoziologischen Tatsache zusammen, dass der gleiche Sprachhistoriker, der den Sprachkontakt von seiner nationalkulturellen Prägung her mit der dargestellten Skepsis zu beurteilen gewohnt ist, unter bildungssoziologischem Aspekt gleichzeitig Angehöriger eines Bildungsbürgertums ist, das eine Orientierung auf die sprachlichen und textlichen, darunter literarischen Traditionen des Griechischen und Lateinischen, auf die Traditionen des Christentums, auf die nachmittelalterliche hohe italienische, spanische, französische und englische Literatur, auf die rationalistische Philosophie des Abendlandes (usw.) hat. Dies sind allesamt stärker europäische als nationale Gegenstände; sie drängen ihre Träger zu einer die nationalkulturell motivierte Funktionalisierung der Sprachgeschichte kreuzenden, quer zu ihr liegenden und sie übergreifenden Identifizierung und damit zum Aufbau einer Bildungsschicht mit europäischer Existenzform. Die Gemeinsamkeiten dieser Schicht können als ebenso ausgeprägt interpretiert werden wie die Gemeinsamkeiten mit den über die genannten Inhalte nicht verfügenden Gruppen und Schichten der eigenen Sprachzugehörigkeit, sie dienen dann der bildungssoziologischen Solidarisierung quer zu wie auch immer national begründeten Identitäten, fungieren damit auch als Abgrenzung nach unten. Diese Querlage eines die Einzelsprache wie auch die sog. ,Nationalliteratur' übergreifenden, bildungssoziologisch hochschichtig orientierten Denkens zu einem national orientierten Denken muss die Autoren von Sprachgeschichten zu Darstellungswidersprüchen führen. Einerseits ist man Sprachhistoriker im Sinne des einzelsprachbezogen-nationalen Modells von Geschichtsschreibung, andererseits ist man Europäer im gerade angedeuteten Sinne. Erstere Einbindung führt zu fachtextlichen Formulierungen des folgenden Typs: -
Eindeutschung christlich-gelehrter Vorstellungen und Begriffe (Moser 1957, 729), Eindeutschung lateinisch-romanischer Fremdwörter (Bach 1970, 151 und öfter), Germanisierung lateinischen Wortgutes (ebd., 92), Aneignung der antiken und christlichen Tradition (im Sinne von Anverwandlung; Eggers 1963, 52), e contrario: keine Romanisierung des Deutschen durch das Galloromanische (so oder ähnlich mehrfach).
Die zweite, also die bildungssoziologisch-europäische Einbindung fuhrt zu Formulierungen wie den folgenden: - Umformung des Frühdeutschen durch kirchliche Missionierung (Moser 1957, 729), - Weg des Deutschen in die Roma Christiana, in das Abendland, in das abendländische Europa (Eggers 1963, 52), - Europäisierung der vordeutschen Dialekte (ebd.),
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Angleichung des deutschen Begriffsvorrats an den der kirchlichen Welt (Bach 1970, 166), Christianisierung des Deutschen (Bach 1970, 96).
Die Widersprüchlichkeit besteht im Kern darin, dass als Ergebnis des Sprachen- und Kulturkontaktes einmal etwas Germanisches oder Deutsches angesehen wird und einmal etwas Europäisches oder Christliches. Wenn man etwas Nichtdeutsches germanisiert oder eindeutscht oder die „muttersprachlich erfaßte" Welt erweitert, dann kann nur Germanisches oder Deutsches entstehen; und wenn man etwas europäisiert oder etwas/jemanden christianisiert oder den Weg in die Roma Christiana beschreitet, dann entsteht logischerweise Europäisches, Christliches. Die Verbindung des einen mit dem anderen in demselben Text oder gar im selben Argumentationszusammenhang ist logisch nicht möglich und nur als Niederschlag einer Haltung zu verstehen, die sowohl zur Identifizierung mit dem Nationalen aufrufen will wie den Stellenwert des Europäisch-Christlichen nicht allzu deutlich herunterspielen darf. Deutlich greifbar wird dies etwa bei Eggers, indem er die behandelten sprachhistorischen Vorgänge des Althochdeutschen sowohl als „Erweiterung der muttersprachlich gefaßten Welt" wie als „Europäisierung der vordeutschen Dialekte" und „Weg in das abendländische Europa" erläutert (1963, 52); Bach setzt sogar im Inhaltsverzeichnis seiner Sprachgeschichte (1970, 10) ein ,,Germ[anisch] als geistige Gestaltung" an und schreibt ihm mit seinem „Kriegergeist", „Reckengeist" eine „sprachgestaltende" Wirkung zu. Eine solche Wirkung haben allerdings auch der „Anhauch des Hellenismus und die beginnende Christianisierung", wobei der „Reckengeist" zwar das „Römertum zertrümmert", aber dennoch in „die Abhängigkeit der christlichen Spätantike" gerät (ebd., 96). Dieselben Vorgänge werden in einem einzigen Argumentationszusammenhang sowohl als „Eindeutschung" und „Germanisierung" wie als „Einordnung des dt. Lebensraumes in den Kulturkreis der röm. Kirche" und als „Angleichung des dt. Begriffsvorrates an den der kirchlichen Welt und ihrer Kultur" bezeichnet. Der Konflikt ist offensichtlich.
3. Das kontaktbezogen-europäische Modell 3.1. Vorläufer und Traditionen Das kontaktbezogen-europäische Modell hat, wie bereits gesagt, in der Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen wie in der germanistischen Linguistik überhaupt eine deutlich geringere Anwendung erfahren als das einzelsprachbezogene Modell. Damit soll wieder nicht geleugnet werden, dass es Vorläufer aus völlig unterschiedlichen Winkeln der linguistischen Landschaft gibt und dass diese Vorläufer zum Teil erhebliche Aufmerksamkeit
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erhalten haben und bis auf den heutigen Tag erhalten. Ich kann hier nur so verfahren, dass ich einige von ihnen nenne (aufzählungsartig): - Miklosichs These vom sog. Neo-Europäismus der an der Kultur teilnehmenden Völker Europas (1868/1874), - Whorfs These eines semantisch konzipierten Standard Average European (1941/1963), - die lexikologische Lehnwortforschung von Betz und seiner Schule, - das Projekt eines atlas linguarum europae, - das Projekt „Deutsche Lehnwortbildung" des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim und neuerdings die Projekte einer europäischen Grammatik des Deutschen und einer europäischen Pragmatik (am selben Institut), - Kosellecks und seiner Schüler Begriffsgeschichte, - Schröpfers Begründung einer vergleichenden Bezeichnungslehre, - das Projekt Eurotyp, - die Bemühungen um das sogenannte Eurolatein, - die sicher nicht mehr antikontaktbezogene Haltung einiger neuer Sprachgeschichten des Deutschen (explizit in der zweiten Auflage des Handbuchs Sprachgeschichte). Dies alles und Weiteres aufgreifend und konsequent weiterdenkend, meine ich nun tatsächlich nichts Geringeres, als dass die europäischen Sprachen sowohl hinsichtlich ihres Systems wie hinsichtlich der Sprachgebrauchsverhältnisse und des Sprachbewusstseins ihrer Träger mehr Resultat des europäischen Kontaktes waren und sind als eigenständige Entwicklungen aus eigenständigen Wurzeln und dass nur eine europäisch orientierte Sprachgeschichte der Einzelsprachen, also z.B. des Deutschen, diesen Verhältnissen gerecht werden kann. Nachdem lange Zeit das einzelsprachbezogene Modell vorherrschte, meine ich sogar, man solle dem kontaktbezogenen Modell nunmehr eine Chance geben und ernsthaft zu erkennen versuchen, was denn nun an den Lautsystemen europäischer Sprachen, an ihren Morphem- und Wortbildungssystemen, an den Lexika, an den Textsortenspektren, am Sprachgebrauch, am Sprachdenken eher europäisch als einzelsprachgebunden ist. Am Beispiel der Lexik versuche ich zu skizzieren, von welchen Voraussetzungen eine kontaktbezogen-europäische Sprachgeschichtsforschung auszugehen und wie sie wahrscheinlich zu arbeiten hätte. 3.2. Europäische Grundlage Ausgangspunkt der Skizze ist der Ansatz einer für alle Sprachvölker dieses Raumes gültigen kulturgeschichtlichen Einheit ,Europa'. Dazu zählen zunächst die Träger aller Stufen des Griechischen und Lateinischen, sodann die Sprecher aller anderen indoeuropäischen Sprachen des geografischen Europa, also aller romanischen, keltischen, germanischen, baltischen, slavischen, albanischen, griechischen Sprachen (bzw. Dialekte), ferner im vollen Sinne des Wortes die
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Sprecher nicht-indoeuropäischer Sprachen, wie des Baskischen, Ungarischen, der ostseefinnischen Sprachen. Ob man auch das Türkische, das Arabische, das alte Hebräische hinzurechnet und wo man z.B. im Kaukasus die Grenze zieht, hängt von jeweils spezifisch zu treffenden Einzelüberlegungen ab, die den Kern der hier angesetzten Einheit nicht berühren. Auch hinsichtlich der Zugehörigkeit von Varianten des Englischen, Spanischen, Französischen, Portugiesischen in ehemaligen Kolonialgebieten Amerikas, Afrikas, Australiens und Asiens wird man differenziert argumentieren müssen. Die historischen Grundlagen der angenommenen Einheit sind außerordentlich mannigfaltig; sie sollen hier deshalb nur mit einigen Stichworten angedeutet werden: Hochkulturen des Alten Orients, Judentum und Christentum, griechische und römische Antike einschließlich ihrer über die Spätantike verlaufenden Tradierungen in das europäische Mittelalter und die Neuzeit, germanische Völkerwanderung und Ausbreitung der Slawen samt allen damit verbundenen Sprachlagerungen, Christianisierung und jahrhundertelange Kontakte mit dem Islam, die Idee der translatio imperii im Westen wie im Osten, die Rolle des Lateinischen (im Westen) und des Griechischen (im Osten) als europäische Sprachklammern und Vermittler textlicher Traditionen (Bibel, griechische Philosophen, römische Schriftsteller), Renaissancen, Humanismen, Reformation, Aufklärung, industrielle Revolutionen, Kolonialismus, Kapitalismus und Sozialismus, Weltkriege, einzelsprachliche literarische und fachliche Traditionen, Mehrsprachigkeit der Gebildeten als soziologisches Phänomen und Mehrsprachigkeit im Raum als sprachengeografisches Phänomen. Den Gemeinsamkeiten der Kulturgeschichte entsprechen nach der These Gemeinsamkeiten der Sprachgeschichte. Diese Gemeinsamkeiten sind auf lexikalischer Ebene besonders stark ausgeprägt, und zwar (1) auf der Ausdrucksseite, z.B. in Form von Lehn- und Fremdwörtern, darunter von Internationalismen (das ist hinreichend bewusst), sowie (2) auf der Inhaltseite. 3.3. Exemplarische Studie ,Haus' Als Beispiel (wohlgemerkt: als Beispiel, nicht als Einzelfall) fungiert das deutsche Wort ,Haus'. Dieses hat nach dem „Großen Wörterbuch der deutschen Sprache" (Duden) die in der linken Spalte der Abbildung ersichtlichen Bedeutungen (alle Angaben in Kurzform und in der Durchzählung leicht verändert), also: 1. .Gebäude zum Wohnen', 2. .Gebäude für andere Zwecke', 3. ff. [...].
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SPRACHE/WORT
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SIGNIFIKATE 1. «Gebäude xum Wohnen» 2. «Gebäudefiirandere Zwecke 3. «Wohnung, Heim» 4. iGeumcheii der Hausbewohner» 5. «Peisonen eines Gebäuden Publikum, Falliment; Finru» 6. ' Familie»
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(...)
Abb.: Das semasiologische Feld von dt. ,Haus' und einiger seiner Heteronyme
Die Lehrmeinung der Lexikologie zu solchen Bedeutungsfeldern (= semasiologischen Feldern) geht in die Richtung, dass (in strenger Formulierung) erstens jede der von 1 bis 11 angesetzten Einheiten (Sememe) und zweitens ihre Gesamtheit, also das jeweilige semasiologische Feld, einzelsprachspezifische Größen sind; sie existieren demnach nur in der Einzelsprache und nirgendwo sonst. Dieser Meinung steht nun der Befund gegenüber, dass die englischen, niederländischen, französischen (usw.) Heteronyme fur dt. ,Haus' ihrerseits jeweils semasiologische Felder aufweisen, die denjenigen des deutschen Ausdrucks in zwar unterschiedlichem Grade, insgesamt aber sehr weitgehend entsprechen. Einen ähnlichen Befund liefert die vergleichende Betrachtung einer hohen Anzahl anderer lexikalischer Einheiten und ihrer Heteronyme, z.B. Arbeit, Arm, Bein, Fuß, Hand, Herz, Körper, Blatt, Frucht, Stamm, Wurzel, Mauer, Schule, Spiegel. Aus dem vorgetragenen Befund scheinen mir folgende Aussagen von besonderem Belang: (1) Die ein semasiologisches Feld konstituierenden assoziativen Beziehungen, darunter Metaphern, Metonymien, fachliche Spezialisierungen, sind keine genuin einzelsprachliche, sondern eine zu großen Teilen europäische Erscheinung. Es gibt also so etwas - und das ist eine außerordentlich kühne These - wie eine nur aus den Gemeinsamkeiten der Kulturgeschichte verstehbare europäische Assoziations- und Bildgemeinschaft. Ich nenne lexikalisch-
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semantische Gemeinsamkeiten der an Haus aufgewiesenen Art deshalb (lexikalisch-semantische) Europäismen. (2) Die genetischen Differenzen zwischen den europäischen Sprachen, und zwar erstens diejenigen einer genetischen Sprachgruppe (z.B. Germanisch) zu denjenigen einer anderen genetischen Sprachgruppe (z.B. Slawisch) und zweitens diejenigen zwischen allen genetisch zusammenhängenden (in casu: indoeuropäischen) Sprachen zu den Sprachen außerhalb dieser (genetisch indoeuropäischen) Großgruppe, also etwa zum Ungarischen (einer uralaltaischen Sprache), sind unter lexikalisch-semantischem Gesichtspunkt irrelevant. Aus der genetischen Verwandtschaft etwa des (germanischen) Deutschen zum (ebenfalls germanischen) Niederländischen folgt deshalb nicht eine größere semantische Nähe als zum (romanischen) Französischen; oder die Verwandtschaft des Deutschen zum (indoeuropäischen) Tschechischen muss nicht größer sein als zum (außerindoeuropäischen) Ungarischen. Es passt in dieses Bild, dass im //awi-Beispiel ausgerechnet das Ungarische als diejenige Sprache erscheint, die mit dem Deutschen die meisten Übereinstimmungen aufweist. (3) Die etymologischen Zusammenhänge zwischen den Heteronymen einer genetischen Gruppe, z.B. von dt. Haus, engl, house, ni. huis, garantieren keine größere inhaltliche Ähnlichkeit der einzelnen Bedeutungsfelder als etymologisch nicht verwandte Ausdrücke (ζ. B. maison oder casa). (4) Verfachlichungen von Wortbedeutungen vollziehen sich besonders offensichtlich in einem europäischen Rahmen. 3.4. Differenzierungen Ich habe in den vorgetragenen Aussagen bewusst pointiert. Vor allem bin ich überhaupt nicht darauf eingegangen, dass es außer den Ähnlichkeiten selbstverständlich auch Differenzierungen, und zwar in einem sehr fundamentalen Sinne, gibt. Es ist deshalb eine Frage der intellektuellen Redlichkeit, einige schwerwiegende sprachtheoretische und auch methodische Probleme, die sich mit meinen Aussagen verbinden, wenigstens zu nennen. Es sind u.a. die folgenden: (1) Das Varietätenproblem: Wenn man eine Sprache, so wie ich das bei der Erstellung der vorgeführten Tabelle getan habe, unter der Hand mit der Standardvariante dieser Sprache gleichsetzt, dann blendet man vom Verfahren her den gesamten Varietätensockel räumlicher, zeitlicher, sozialer Art aus der Betrachtung aus, und zwar ohne dass man wüsste, ob z.B. die für das Deutsche nach dem Duden angegebenen semantischen Verhältnisse tatsächlich auch für seine Dialekte, Soziolekte usw. gelten. (2) Das Wörterbuchexistenzproblem, bestehend in dem Faktum, dass für einige Sprachen die zur Gewinnung des semasiologischen Feldes des jeweiligen Heteronyms notwendigen Wörterbücher nicht existieren.
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(3) Das Wörterbuchvergleichsproblem, das sich daraus ergibt, dass der Lexikograph jeder Einzelsprache das jeweils zu gliedernde semasiologische Feld nach eigenen semantischen und pragmatischen Gesichtspunkten schneidet. (4) Das Statusproblem: Das semasiologische Feld am linken Rand der Matrix entstammt im Beispiel einem Wörterbuch der Einzelsprache Deutsch. Es stellt sich die Frage, ob der Ansatz eines einzelsprachlichen Bedeutungsfeldes die einzige Möglichkeit der Gewinnung einer Bezugsgröße ist oder ob sich auch eine übereinzelsprachliche Bezugsgröße gewinnen lässt. (5) Das Heteronymenproblem: Es besteht darin, dass einem Ausgangszeichen als einer per defmitionem polysemen Einheit pro Einzelbedeutung nicht nur ein einziges, sondern auch mal gar keines und mal mehrere Heteronyme zugeordnet werden können. (6) Das Äquivalenzproblem ergibt sich daraus, dass kein Semem (also keine Einzelbedeutung) des Ausgangszeichens mit irgendeinem Semem irgendeines Heteronyms vollständig deckungsgleich ist. Man weiß also nie mit absoluter Sicherheit, ob man nun das (in der Abbildung gebrauchte) Äquivalenzkreuz setzen soll oder nicht. Ich mache deshalb kein Hehl aus der Tatsache, dass möglicherweise einzelne Äquivalentsetzungen nicht verteidigt werden können und dass andere, im Beispiel nicht vorgenommene, durchaus berechtigt sein könnten. Solche Fälle tasten das Gesamtbild nicht an. (7) Das Verifikationsproblem: Es besteht darin, dass man selbst bei erfolgreicher Durchführung der Untersuchung keine Gewähr dafür hat, dass vergleichbare semasiologische Felder nicht auch bei Sprachen gefunden werden können, die mit den europäischen in keinerlei kulturellem Austauschverhältnis stehen. Speziell für diejenigen Sememe, die auf einer Synekdoche oder einer Metonymie beruhen, scheint dies der Fall zu sein und dann den gesamten Ansatz aufzuheben. Die Metaphorik-Beziehung zwischen Sememen scheint dagegen deutlicher kulturgebunden zu sein, wahrscheinlich weil sie mehr auf Setzungen von Ähnlichkeiten als auf Sachzusammenhängen (wie bei der Metonymie) beruht. 3.5. Schlussfolgerungen Man kann aus den vorgetragenen Bedenken nun zwei Schlüsse ziehen. Der erste lautet: Die Fülle möglicher sprachtheoretischer Einwände ist so hoch, dass man lieber auf die ganze lexikalische Europäismenthese verzichtet und damit zumindest den hier vertretenen Baustein einer fundamental kontaktbezogen orientierten, also europäischen Sprachgeschichtsschreibung ablehnt oder als Randphänomen abtut. Der zweite lautet umgekehrt: Trotz aller Bedenken bilden lexikalisch-semantische Europäismen ein wissenschaftliches Konzept, das sich im Kern auf nichts anderes bezieht als auf folgende linguale Fakten: (1) Jeder Zweisprachige weiß, was ein Wort einer Sprache in der anderen Sprache heißt und er teilt dies auf eine diesbezügliche Frage hin im allgemeinen ohne weiteres Überlegen mit. (2) Jeder Übersetzer stellt in seinem
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Beruf gleichsam aus dem Stegreif inhaltliche Äquivalenzen zwischen ausgangs- und zielsprachlichem Text her. (3) Jeder Lexikograf zweisprachiger Wörterbücher gibt Heteronyme an und nimmt damit Feststellungen von Bedeutungsähnlichkeiten und -gleichheiten vor, wenn er nicht sein Handwerk aufgeben will. Ich vertrete hier selbstverständlich die Leistungsfähigkeit des Konzeptes. Dazu fühle ich mich u.a. deshalb berechtigt, weil die Europäismenthese inzwischen an größeren Materialien erprobt und nach meinem Urteil bestätigt wurde. Schlesier hat in einer materialreichen Untersuchung festgestellt, dass zwischen dem Deutschen und den skandinavischen Sprachen ein zahlenmäßig genau bemessener Grundstock lexikalisch-semantischer Parallelen besteht, dass dieser Grundstock nicht auf der Wortetymologie beruht und sich nicht mit dem genetischen Verwandtschaftsgrad der untersuchten Sprachen deckt. 10 Martin Sandhop weist in einer gerade im Abschluss befindlichen Arbeit zum deutschen, englischen, französischen, tschechischen und kroatischen Wortschatz nach, dass „etymologisch verwandte Heteronyme nicht mehr semantische Ähnlichkeiten aufweisen als etymologisch nicht verwandte Heteronyme." 11 Der Grund für lexikalisch-semantische Europäismen kann also nicht in der genetischen Nähe der verglichenen Sprachen liegen. Es passt ins Bild, dass die beiden slawischen Sprachen (also: Tschechisch und Kroatisch) eine vielfach größere Nähe zum Deutschen haben als die Stichwörter des Englischen und Französischen. Deutsch, Tschechisch und Kroatisch stehen in einer Vielzahl von Fällen als Gruppe gegen das Englische und Französische.
4. Konsequenzen für die Sprachgeschichtsschreibung und Sprachpädagogik Ich spreche zum Schluss noch in einigen wenigen Sätzen die Konsequenzen an, die sich aus der behandelten Problematik für unser gesamtes sprachliches und vor allem für unser sprachkulturelles Handeln ergeben haben. Als Ausgangspunkt gilt: In den Schulen und an der Universität wurde lange Zeit und wird mit geringer Stundenzahl immer noch deutsche Sprachgeschichte gelehrt. Die Lehrinhalte betreffen die Zugehörigkeit des Deutschen zum Indoeuropäischen, Germanischen usw.; wichtige Haltepunkte auf dem Wege vom Indoeuropäischen zum Neuhochdeutschen sind das sogenannte Althochdeutsche, das Mittelhochdeutsche, die Sprache Martin Luthers, der nhd. Klassik. Dieser Kanon diente - und dies ist rein deskriptiv gemeint, nicht also kritisch - herkömmlicherweise und dient heute noch außer der Wissensvermittlung der Schaffung von Identitäten: tua res agitur, das war das zentrale Anliegen. Diese sprach- und kultumationale Ausrichtung, mit ihr ein ganzer 10
"
Schlesier 1998. Man vergleiche vorläufig Sandhop 1999.
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Sinngebungskomplex einschließlich der ihn tragenden und pflegenden Institutionen, ist mit der Infragestellung dessen, was ich die .nationalstaatliche Grundgliederung' Europas nennen will - obwohl es sie immer mehr in den Köpfen als in der Realität gegeben hat - in Begründungszwänge geraten: Logischerweise müssen nationalsprachlich begründete Identitäten in dem Augenblick auf ihren auch wissenschaftspolitischen und sprachpädagogischen Stellenwert befragt werden, in dem ein neues politisches Großgebilde wie die Europäische Union - getragen außer durch die wirtschaftliche Entwicklung auch durch ein gewisses Zustimmungsniveau in den einzelnen Staatsgesellschaften - im Entstehen begriffen ist. Umgekehrt ausgedrückt: Es kann und wird auf Dauer keine politische Einheit geben, die nicht auf einer obersten Identifizierung der Angehörigen einer solchen Einheit beruht. Nochmals anders: Herkömmliche Identifizierungen (etwa im Sinne des 19. Jahrhunderts) sind auf Dauer mit der Europa-Idee unvereinbar. Man muss sich also entscheiden, was man will. Das bedeutet: (1) Wenn sich vor allem in der Schule, aber auch an der Universität auf die Dauer nichts hält oder nur als Orchideenfach (etwa im Sinne der historischen oder sprachgeschichtlichen Landesforschung) hält, was nicht in der Gesellschaft als relevant, wichtig, interessant befunden wird, dann verliert die Sprachgeschichtsforschung herkömmlicher einzelsprachbezogen-nationaler Ausrichtung in dem Maße ihre gesellschaftliche Begründung, wie sich eine neue, über den Nationen im herkömmlichen Sinne liegende Identität .Europa' (welcher Gestalt auch immer) bildet. (2) Wenn man dem dadurch zu entgehen versucht, dass man die einzelsprachbezogen-nationale Sprachgeschichtsschreibung ihrer nationalen Komponenten entkleidet, sie also zur einzelsprachbezogenen ohne Zusatz macht, dann ergibt sich vermutlich ein gesellschaftliches Motivationsproblem. Eine maximal sachlich (was auch immer das heißen mag) aufgezogene Geschichte einer Einzelsprache könnte sich als ohne Identifikationspotential entpuppen, genau so wie sich ein Geschichtsunterricht als ohne Identifikationspotential entpuppen könnte, der nicht auf deutsche (entsprechend: französische, niederländische, tschechische) Geschichte ausgerichtet wäre. (3) Man wird also - vorausgesetzt, man stimmt den Punkten (1) und (2) zu - eine Neubegründung der Sprachgeschichtsforschung in dem Sinne vorzunehmen haben, dass die Einzelsprache aus ihrem europäischen Rahmen heraus beschrieben wird. Die Schwierigkeit dieses Lösungsweges wird in der Verbindung von einzelsprachbezogener und europäischer Orientierung liegen. Mir ist bewusst, dass diese Aussage sehr allgemein und natürlich vage und enttäuschend gehalten ist. Die Aufgabe ist aber nun mal nicht gelöst. Sie ist ein Teil der generellen Aufgabe (bzw. neutraler gesprochen: der Möglichkeit), Europa außer als Wirtschaftseinheit stärker als bisher kulturell zu begründen, wobei sowohl ältere Inhalte und ältere Identifizierungen neu zu funktionalisieren wie neue Inhalte zu entwickeln wären.
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MARTIN WENGELER
,Bedeutung' und , Sprache' in der Geschichtsschreibung Ein Blick auf Nachbardisziplinen der germanistischen Sprachwissenschaft
1. Einleitung Begriffe
als Faktoren
und
Indikatoren
der Sozialgeschichte;
Sprache
als
outillage mental, als „geistiges Handwerkszeug" vergangener Zeiten; Kultur als selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe einer vergangenen oder gegenwärtigen Gesellschaft; die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit mittels Typisierungen und Objektivationen in Zeichenform; Diskurse als geregelte, institutionalisierte, machtdurchwirkte Formen sozialer Praxis. So lauten die wesentlichen Berufungsformeln für die Untersuchungen von Sprache und Sprachgebrauch, die für sich in Anspruch nehmen, mentalitäts-, diskursgeschichtlichen oder kulturwissenschaftlichen Zielsetzungen zu folgen. Diese Formeln stammen nicht von Sprachwissenschaftlern, sondern aus benachbarten Disziplinen - der Eingeweihte
verbindet
mit
ihnen
die
Namen
Koselleck,
Febvre,
Geertz,
Berger/Luckmann und Foucault - , und in diesen Disziplinen werden sie auch zur theoretischen Grundlage von bedeutungsorientierten Forschungen gemacht. Es ist also für die Sprachgeschichtsforschung nahe liegend, ihre Herangehensweisen in interdisziplinäre Zusammenhänge zu stellen und ihre Methoden an entsprechende, mit den genannten Formeln verbundene Forschungsprogramme anzubinden. Für die Verortung und Selbstvergewisserung der germanistischen Sprachwissenschaft in diesem interdisziplinären Zusammenhang ist ein Überblick über entsprechende sprach- und bedeutungsbezogene Ansätze in benachbarten Disziplinen von Interesse. Diesen will ich im folgenden Beitrag zu leisten versuchen. Grundprinzip der Darstellung ist dabei eine Haltung, die Dietrich Busse kürzlich schön formuliert hat: „Man
sollte
das Verhältnis benachbarter
Forschungsansätze
m.E.
weniger
in
Termini der Abgrenzung, des Ausschlusses behandeln [...] als vielmehr im Sinne
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Martin Wengeler
des Ausgleichs, der wechselseitigen Ergänzung, des Ineinanderübergehens differenter, aber verwobener Forschungsperspektiven." (Busse 2000, 49f.)
Und so zeigt es sich, dass viele Ansätze Berührungspunkte zu linguistischen Herangehensweisen haben. Das rührt eben vor allem daher, dass die hier vorgestellten Forschungsrichtungen sich mit der Rolle von Zeichen und Zeichensystemen bei der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeiten befassen. Die meisten gehen davon aus, dass mit Sprache Wirklichkeit geschaffen wird, dass Wirklichkeit, wie sie uns erscheint, nur sprachlich vermittelt und (er)fassbar bzw. sprachlich organisiert ist. Und die meisten dieser Ansätze suchen eine solche Wirklichkeitskonstitution durch Sprache nicht in den Strukturen des Sprachsystems, sondern betrachten individuelle und gruppenspezifische sprachliche Handlungen als die Instanzen gesellschaftlicher Konstruktion von Wirklichkeit durch Sprache. Das vorgegebene sprachliche Inventar lässt zwar ftir diese Sprachhandlungen keine absoluten Freiheiten zu; es wird aber in subjektiven, intentionalen und interessegeleiteten Handlungen jeweils bestätigt oder modifiziert. Daher stellen solche Handlungen die konkreten Bedeutungskonstitutionsakte dar. Es geht hier aber nicht darum, ein weiteres Mal die sprachtheoretischen oder sprachphilosophischen Überlegungen von Humboldt oder Wittgenstein, von Foucault oder Derrida, von Schütz, Berger und Luckmann darzustellen und zu bewerten. Vielmehr stehen die sprach-, diskurs-, bewusstseins- oder mentalitätsgeschichtlichen Ergebnisse der sich auf solche Theoretiker berufenden Untersuchungen im Mittelpunkt. Dabei wird versucht jeweils zu klären, zu welchen Schlüssen sie aufgrund der Berufung auf unterschiedliche sprachtheoretische Ansätze kommen. Ich möchte sechs verschiedene Forschungsrichtungen bzw. -projekte vorstellen, mit denen eine Auseinandersetzung und Zusammenarbeit fur die germanistische Sprachgeschichtsschreibung lohnend ist. Ausklammern möchte ich die deutsche Tradition der Begriffsgeschichte in Form der „Geschichtlichen Grundbegriffe", da sie in der germanistisch-historischen Linguistik wohl das bekannteste Projekt ist.1 Zum anderen werde ich nicht eingehen auf die „Intellectual history" in der britischen Version von Skinner, Pocock u.a. Sie weist zwar sehr reflektierte sprachhandlungstheoretische Grundannahmen auf, bleibt aber in ihren konkreten Studien eher einer rein ideengeschichtlichen
ι
Vgl. zu den „Geschichtlichen Grundbegriffen" Brunner/Conze/Koselleck 1972ff. und die frühen Aufsätze von Koselleck 1972 und 1979, zur linguistischen Kritik und Würdigung vor allem Busse 1987, 38-40, 50-66 und 80-85; Knobloch 1992; von Polenz 1994, 388-395; Hermanns 1995, 79-85 und Wengeler 1999, 21-26. Einordnungen aus ideengeschichtlicher Perspektive liefern u.a. Richter 1991, 134-138 und 164-172 sowie Lottes 1996, 32-34.
.Bedeutung' und ,Sprache' in der Geschichtsschreibung
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Vorgehensweise verhaftet. 2 Mit der aus ihr hervorgegangenen „kritischen Begriffsgeschichte" verfolgt sie im englischen Sprachraum ein ähnliches Projekt wie die deutschen Geschichtlichen Grundbegriffe. 3 Ich werde auf folgende Ansätze eingehen: „Neue Kulturgeschichte", Diskursgeschichte, Mentalitätsgeschichte, das „Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich", „Politische Kultur"-Forschung, soziologische Diskursanalyse.
2. Neue Kulturgeschichte Die Geschichtsschreibung, die sich dem so genannten „linguistic tum" verpflichtet weiß, wird auch als „neue Kulturgeschichte" bezeichnet. Im deutschsprachigen Raum muss sie sich gegen die traditionelle Politik- und Ereignisgeschichte wie auch gegen die theoriegeleitete Sozial- und Wirtschaftsgeschichte behaupten. .Kultur' wird aufgefasst als die historischen Phänomene, mit denen die Menschen ihre Wirklichkeit, ihre Erfahrungen strukturieren und konstruieren. Kulturgeschichte erforscht demnach, wie die Menschen ihren Wahrnehmungen und Erfahrungen Sinn oder Bedeutung verleihen und sich so in der Welt orientieren, wie gemeinsam geteilte Weltdeutungen oder Weltbilder aussehen und wie sie das soziale Handeln bestimmen. Diese Weltdeutungen werden als ebenso wichtige und als primäre „Tatsachen" der Geschichte aufgefasst wie sozioökonomische Strukturen oder politische Ereignisse. Sie werden nicht „als von .darunterliegenden' Strukturen und gesellschaftlichen Funktionen abgeleitete" (Daniel 1997, 200) Phänomene betrachtet. Bei der rekonstruierenden Erforschung so verstandener Kultur gilt der Sprache nicht die einzige, aber eine besondere Aufmerksamkeit. In Abgrenzung zu poststrukturalistischen Ansätzen, denen zufolge die Texte selbst oder die sprachlichen Strukturen die „Wirklichkeit", das „Subjekt" etc. konstituieren, trauen die meisten kulturgeschichtlich orientierten Ansätze den Handelnden die Schaffung von Kultur mittels Sprache zu, auch wenn dies von jeweils vorgegebenen Umständen und somit auch sprachlichen Traditionen und Strukturen stark beeinflusst ist. Die sozialen Praktiken von Subjekten und Kollektiven werden durch Bedeutungen ebenso strukturiert wie sie auch selbst Bedeutungen schaffen, verfestigen oder verändern. Anders als die Kritiker des „linguistic turn" ab und zu glauben machen wollen, 4 haben kulturgeschichtlich arbeitende Historikerinnen und Historiker also das Subjekt historischen Handelns nicht aufgegeben und Geschichte nicht auf Texte reduziert. Die Texte 2
3 4
Vgl. als Hauptwerke dieser Richtung Skinner 1978 und Pocock 1985, Darstellungen, Einordnungen und Bewertungen des Ansatzes finden sich bei Richter 1991, 142-162; Lottes 1996, 39-42; Rosa 1994; Reichardt 1998, 13-18 und Wengeler 1999, 47-57. Vgl. dazu Ball/Farr/Hanson 1989. Vgl. etwa Kocka 1993, 1128; Hanisch 1996; Hardtwig/Wehler 1996, 13.
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machen ihre Geschichte nicht selber. Dennoch sind Texte, ist Sprache eine zentrale, primäre geschichtliche Dimension, mit der die Menschen die „Welt" „für sich" schaffen. Die intensivste Debatte über die historisch konkreten Folgen solcher Konstruktionen dreht sich seit den 1980er Jahren um die Kategorien oder Begriffe .Geschlecht', ,Klasse' und ,Nation'. Den Vorteil einer auch Sprache und Weltbilder berücksichtigenden historiografischen Sichtweise fassen Conrad/Kessel in ihrem Vorwort zu einem Reader mit jüngeren Texten anglo-amerikanischer Autoren prägnant zusammen: So sehr die konkreten individuellen und nicht determinierten Handlungen der Menschen zu beachten seien, „so wenig können ihre Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten ohne die Vorstrukturierung und den Zwangscharakter von Sprache, Erfahrungsraum und dominanten Weltbildern gedacht werden." (Conrad/Kessel, 1998, 12)5 Ute Daniel hat in einem instruktiven Überblick die neueren kultur- und sprachorientierten geschichtswissenschaftlichen Ansätze unterteilt in solche, die „Bedeutung als Kultur" und solche, die „Bedeutung als Text" auffassen. 6 „Bedeutung als Kultur" erforschen zu wollen, beinhaltet etwa das, was eben benannt wurde: die Erforschung sozialer Praktiken von Subjekten und Kollektiven, die durch Bedeutungen ebenso strukturiert werden wie sie Bedeutungen schaffen, verfestigen oder verändern. Der Ansatz „Bedeutung als Text" dagegen wird als die poststrukturalistisch bzw. dekonstruktivistisch beeinflusste Variante dargestellt, die letztlich keine Schlüsse von der Ebene des Textes auf die Ebene der die Texte produzierenden und rezipierenden Menschen mehr erlaube und nach der die Texte ihre Geschichte selber machen. 7
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Vgl. auch: „Soziale .Tatsachen' - etwa Klassen- und Schichtenbildungen, soziale Bewegungen oder Phänomene wie die Industrialisierung - sind, so lautet das kulturalistische Credo, ohne Rückgriff auf die Welt- und Selbstdeutungen der Menschen weder zu beschreiben noch zu erklären, gehen aber auch nicht in diesen Deutungen auf." (Daniel 1997, 2 0 2 ) Unter „Bedeutung als Kultur" stellt sie folgende Herangehensweisen dar: D i e Geschichtsschreibung der „Annales" und damit das Programm der Mentalitätsgeschichte; die Kulturanthropologie des Ethnologen Clifford Geertz mit seinem Konzept der „dichten Beschreibung"; die Hermeneutik als Aufforderung an die Geschichtswissenschaft, „nie von den Deutungs- und Bedeutungsebenen dessen zu abstrahieren, was untersucht wird" (Daniel 1997, 211), und „die Sinnstiftungen, Selbst- und Weltdeutungen der historischen Subjekte in den historischen Kontext einzuordnen, in dem sie erst als Antworten auf Fragen erkennbar werden" (ebd., 212); die „oral history" und die Mikro-Historie; die Frauen- und Geschlechterforschung, die aber in jüngerer Zeit auch stark die Anregungen des Verständnisses von „Bedeutung als Text" aufgenommen habe. Ein Beispiel dafür wird auch unter der Rubrik „Bedeutung als Text" eingeordnet. Dort werden außerdem „Dekonstruktion", Foucaults Diskursanalyse, die Reflexion der Geschichtsschreibung als Erzählung von Hayden White und die „eigentliche" poststrukturalistische Geschichtsschreibung mit einer Studie von Keith Jenkins behandelt. Vgl. Daniel 1997, 203 und Mergel 1996, 64f.
, B e d e u t u n g ' und . S p r a c h e ' in der G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g
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Zwei viel zitierte kulturgeschichtliche Ansätze sollen im Folgenden exemplarisch für die neue Kulturgeschichte vorgestellt werden. Nach allgemeiner Übereinstimmung ist der Kultur-Begriff Clifford Geertz', der selber Ethnologe bzw. historischer Anthropologe ist, auch in der Geschichtswissenschaft einflussreich geworden. Geertz versteht unter Kultur das „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe" (Geertz 1997, 9), in das der Mensch verstrickt ist, mit dem sich soziale Gruppen ihre Situation erklären. Die symbolischen Manifestationen, die Zeichensysteme einer Kultur sind sein Untersuchungsgegenstand. Deren Bedeutsamkeit im Rahmen der beobachteten Gesellschaften ist herauszufinden und in einer „dichten Beschreibung" darzustellen. Geertz selber hat mit einer „dichten Beschreibung" des Rituals des Hahnenkampfes auf Bali das klassische Beispiel dafür gegeben, wie er sich die Umsetzung seines Kultur-Verständnisses für die Beschreibung einer anderen Kultur vorstellt. Aus der Beobachtung des Hahnenkampfes und seines Verständnisses als symbolische Handlung will er das Selbstverständnis der Gesellschaft herauslesen und darüber hinaus die Struktur dieser Gesellschaft erkennen. Diese wird im Hahnenkampf in Szene gesetzt und reproduziert. Mit Sprachanalyse hat Geertz' Hahnenkampf-Interpretation zwar nichts zu tun. Sein Kultur-Verständnis und seine Methode wendet er aber ebenso auf die sprachlichen Symbolsysteme der Völker auf Java, Bali und in Marokko an, deren Kultur er verstehend erfassen und „dicht" beschreiben will. Dieses Verstehen einer Kultur, ihrer Symbolysteme setzt er ausdrücklich in Analogie zu hermeneutischen Textinterpretationen. 8 Kritiker wenden gegen Geertz' Gesamtzugang zu einer fremden Kultur ein, dass dadurch soziale Auseinandersetzungen, die sich hinter den symbolischen Handlungen verbergen, und die Möglichkeiten für sozialen oder kulturellen Wandel aus dem Blick gerieten (vgl. Iggers 1995, 563). Sie monieren, dass Historiker mit der Orientierung an kulturellen Deutungen und Bedeutungen sich ihrer Verantwortung entzögen, „Ereignisse zu erklären und zu zeigen, wie Macht und deren Schrecken die Welt zu der gemacht haben, die wir vorfinden" (Isaac 1994, 108). Anthropologisch orientierte Historiker reagieren auf solche Kritik mit Vorschlägen, wie man den kulturellen (Be-)Deutungen vergangener Gesellschaften, gleichzeitig aber auch den Grenzen von Text und Textualität gerecht werden könne, so dass die „Schrecken und die Grausamkeiten, mit denen Macht durchgesetzt und behauptet wird" (ebd., 111), berücksichtigt würden. In der Geschichtsschreibung der Französischen Revolution hat Lynn Hunt mit einer Arbeit für Aufsehen gesorgt, die der revolutionären Sprache die Priorität im Prozess der Revolution einräumt. Angeregt von Geertz, Foucault 8
In der germanistischen S p r a c h w i s s e n s c h a f t beruft sich Ulrike H a ß - Z u m k e h r in ihrer Arbeit über Daniel Sanders auf Geertz' Kultur-Begriff, u m über einen rein sozialgeschichtlichen Ansatz v o n S p r a c h g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g h i n a u s z u k o m m e n (vgl. H a ß - Z u m k e h r 1995).
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und Derrida geht sie davon aus, dass „alle soziale Realität in Wirklichkeit zuerst einmal kulturell gebildet (und diskursiv konstruiert) wird" (Hunt 1994, 109). Sie vertritt ihren sprach-, symbol- oder bedeutungszentrierten Ansatz gegen vor allem orthodox marxistische - Ideen, fur die politische Kultur Ausdruck zugrundeliegender ökonomischer und sozialer Interessen ist: „Durch ihre Sprache, ihre Bilder und ihre alltäglichen politischen Aktivitäten arbeiteten die Revolutionäre an der Neugestaltung der Gesellschaft und der sozialen Beziehungen." (Hunt 1989, 25)
Die sprachlich-symbolische Praxis sei deshalb gerade für diese Revolution so zentral gewesen, weil sich die Revolutionäre auf keine bindenden Traditionen wie einen König, eine Bibel, eine Verfassung berufen konnten, sondern in ihrer Praxis erst das schufen, was sie als Verbindendes betrachteten. „Zu den symbolischen Quellen der [revolutionären] Einheit gehörten die beständige Wiederholung von Schlüsselworten und Grundsätzen sowie gemeinsame Einstellungen gegenüber der Politik als Aktivität und die Verwendung gemeinsamer Symbole wie des Freiheitsbaumes oder der Darstellung der Republik als Frau." (Ebd., 27f.)
Solche gemeinsamen sprachlichen Symbole sieht Hunt in der Namengebung von Orten, Menschen und Straßen und in Schlüsselwörtern wie Nation, Vaterland, Gesetz, Erneuerung, Wachsamkeit, Tugend. Deren Relevanz fur die Revolution wird aber von ihr lediglich behauptet, aber nicht weiter analysiert. Hunt betrachtet Sprache dabei nicht als „Spiegelbild revolutionärer Veränderungen und Konflikte" (ebd.), sondern als aktiven Faktor der Entwicklung: „Die Revolutionäre erfanden neue Worte, doch wichtiger noch, sie gaben den Worten eine neue Bedeutung, indem sie sie im Kontext und zum Zwecke eines radikalen politischen Wandels aussprachen. Erst die persuasive Kraft ihrer Rede die Rhetorik, nicht das Lexikon - und die Ermahnung zu neuen weltlichen Werten ermöglichten es der Revolution als Erfahrung, die Welt zu erschüttern." (Ebd., 69)
Entgegen einem diskursiven Determinismus will sie aber das Symbolische, das Diskursive ebenso wenig als vorrangig sehen, wie von anderen das Soziale als vorrangig gesehen wird, sondern sie betont die „Wechselwirkung zwischen Ideen und Realität, zwischen Absichten und Umständen, zwischen kollektiver Praxis und gesellschaftlichem Kontext." (ebd., 26) Während die Rolle, die Hunt programmatisch der Sprache und der Rhetorik der Revolution zuweist, zu begrüßen ist, ist von linguistischer Seite zu kritisieren, dass ihr methodisches Vorgehen nicht deutlich wird: Welche Texte sie genau in welcher Weise untersucht und interpretiert hat, ist nicht nachvollziehbar.
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3. Diskursgeschichte Insofern sich Lynn Hunt auf Foucault beruft und den revolutionären „Diskurs" erforscht, könnte ihre Studie auch der „Diskursgeschichte" zugeordnet werden, die als eine spezielle Ausprägung der neuen Kulturgeschichte nun gesondert dargestellt wird. Denn viele neuere Forschungen, die sich mit kollektiven Vorstellungen, sozialem Wissen, Bedeutungskonstitution oder gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion befassen, berufen sich auf Foucault und seinen Diskursbegriff. Allerdings wird der Diskurs-Begriff in sehr verschiedener Weise aufgegriffen und fur unterschiedliche Zielsetzungen in Anspruch genommen. Umstritten ist insbesondere, inwieweit Foucault Diskurse als eine Art autonome Instanzen auffasst, die Sprechen und Handeln der Menschen bestimmen, so dass ein handelndes Subjekt, das mit seinen Interessen und Intentionen die Diskurse beeinflusst, bestätigt oder verändert, nicht mehr gedacht werden kann. Demzufolge ließe sich das Subjekt nur noch als eine Position im Diskurs auffassen, durch das der Diskurs mit seinen Strukturen spricht. Die entsprechende Auseinandersetzung kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Tendenziell ist bezüglich der Bedeutung von Sprache und Sprachanalyse bei Foucault festzuhalten: Soweit es bei Diskursen um Sprache geht, geht es um die Gesamtheit, die Regelhaftigkeit der Realisierungen der im System angelegten Möglichkeiten. Der Handlungsaspekt spielt dabei keine Rolle. Wo dieser dann eine Rolle spielt, geht es eher allgemein um kulturelle Praktiken, aber nur noch am Rande um Sprache. Allerdings sind auch sprachliche Handlungen kulturelle Praktiken. Insofern ergibt sich hier ein Anknüpfungspunkt für sprachgeschichtliche Arbeiten. In der germanistischen Linguistik hat Dietrich Busse Foucaults DiskursKonzept aufgegriffen, um das in einer Zeit vorhandene und mögliche Wissen in den Blick zu bekommen, das in die einzelnen Akte kommunikativer Sinnkonstitution einfließt. Um Foucaults Diskurs-Begriff für sein Programm einer „Historischen Semantik" fruchtbar zu machen, nimmt Busse allerdings auch einige Abstriche bzw. Modifikationen vor. Er weist z.B. die Implikationen zurück, die sich aus dem strukturalistischen Sprachverständnis und dem „Autonomie des Diskurses"-Gedanken ergeben. Aus seinen Auseinandersetzungen mit dem Diskurs-Begriff Foucaults ergibt sich fur Busse folgendes Resümee: „Im Gegensatz zu Foucault bin ich der Meinung, daß eine Analyse des Wissens sehr wohl die Analyse der Produktionsebene von Sinn (in den sprachlichen Äußerungen) mit der der wissensformierenden Möglichkeitsbedingungen (der sog. Tiefendimension) verbinden kann und muß. [...] Daß diskursive Formationen eine eigene Realität jenseits der sprachlichen Zeichen haben, sei als analytische Annahme gestattet. Festzuhalten bleibt jedoch, daß sprachliche Kommunikation der eigentliche Ort der Erscheinung und damit der intersubjektiven Geltendmachung des
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Wissens bleibt. Erst ausgesprochen kann ich Erkenntnis intersubjektiv vermitteln und damit gesellschaftlich konstituieren." (Busse 1987, 250)
Eine solche Untersuchung historischer Wissensformationen, die bei der sprachlichen Interaktion beginne, erfordere gerade das von Foucault und seinen Apologeten abgelehnte hermeneutische Vorgehen. In diesem Sinn will Busse Diskursanalyse als historische Wissensanalyse auffassen. In ähnlicher Weise adaptiert auch Fritz Hermanns fur sein begriffs- und mentalitätsgeschichtlich ausgerichtetes Sprachgeschichts-Programm Foucaults Diskurs-Begriff, da man mit ihm „auf den Kontext der Entstehung, des Gebrauchs sowie des Wandels der Begriffe abhebt - jenen Kontext, den wir [...] rekonstruieren müssen, wenn wir die pragmatische Funktion und die semantische Bedeutung der Begriffe klären wollen" (1995, 87). Anders als Dietrich Busse bin ich nicht der Meinung, dass im Gefolge von Foucault in Frankreich im Rahmen marxistischer Debatten vorgenommene Diskursanalysen etwa von Regine Robin 1977 oder Michel Pêcheux 1983 für eine linguistische Diskursgeschichtsschreibung fruchtbar sind. Denn sie messen in der Regel den sprachlichen Strukturen unabhängig von ihrem Gebrauch einen zu starken Eigenwert bei und kommen bei ihren z.T. aufwändigen Analysen nur zu Ergebnissen, die auf der Grundlage einer gebrauchstheoretisch begründeten Semantik schon vor der Analyse feststehen. So schlägt etwa Michel Pêcheux' so genannte Automatische Diskurs-Analyse ein ,,formales Beschreibungsverfahren vor, das Textstrukturen ohne Berücksichtigung der Semantik und ohne die subjektive Auslegung durch einen Interpreten beschreibt" (Eggs 1990, 81). Als Ergebnis einer solchen aufwändigen formalen Methode ergibt sich z.B., dass „keine universelle Semantik [...] in der Lage [ist], die Bedeutung solcher Begriffe wie .Planung', .politischer Wechsel', ,radikale Reform', staatliche Aktion' usw. zu fixieren, weil der Sinn-Effekt hier ganz von der Position abhängt, die auf dem Gebiet der Sprache als Feld eines ideologischen Klassenkampfes eingenommen wird" (Pêcheux/Gadet 1982, 396). Im Rahmen einer komplexen marxistischen Theorie-Diskussion wird hier nur das bestätigt, wovon sprachtheoretische Reflexionen ohnehin ausgehen, dass abhängig von politischen Standpunkten, Weltsichten, Interessen mit gleichen Ausdrücken unterschiedliche Bedeutungskonstitutionen, „Sinn-Effekte" verbunden sind. Am ehesten ist es Jacques Guilhaumou, der mit seinen Studien zur Französischen Revolution „die linguistische Diskursanalyse [...] als tauglichen Ansatz [erwiesen hat], um die sprachliche Sinnkonstituierung und Wissensnormierung beispielsweise durch plebejische Aktivisten und Slogans der Französischen Revolution herauszuarbeiten" (Reichardt 1998, 19). Guilhaumou hat sich, ähnlich wie Lynn Hunt, in Forschungen zur Französischen Revolution sprachlichen Phänomenen als zentralen revolutionären Ereignissen zugewandt. Dabei interpretiert er nicht theoretische Texte, sondern geht „konsequent von Sprachhandlungen und deren jeweiligen Kommunikationssituationen aus [...],
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so daß der unmittelbare Wechselzusammenhang zwischen Sprache, Sprachbewußtsein und revolutionärer Bewegung deutlich wird" (Reichardt/ SchliebenLange 1989, 16). In seinem Buch „Sprache und Politik in der Französischen Revolution" (1989) schreibt Guilhaumou eine Geschichte der Französischen Revolution von 1789-1794 unter der zentralen Perspektive der Bedeutsamkeit der Sprache. 9 Die Vielzahl berücksichtigter schriftlicher Quellen liest er als die diskursiven Ereignisse, die das Geschehen bestimmen, vorantreiben, konstituieren. Insofern schreibt er eine Sprach- und Bewusstseinsgeschichte der Französischen Revolution, die aber den Anspruch hat, dieser als Bewusstseins- und Kulturrevolution gerecht zu werden und nicht nur der eigentlichen Sozial-, Wirtschafts-, Ereignis- oder Klassengeschichte noch etwas Marginales hinzuzufügen. Zu bemängeln ist seine von marxistischer Erkenntnistheorie geleitete Perspektive, die diskursiven Ereignisse als die Durchsetzung einer „richtigen" bzw. „wahren" „Sprache des Rechts" und „Sprache des Volkes" zu beschreiben.
4. Mentalitätsgeschichte Auch in der schon älteren kulturgeschichtlichen Forschungsrichtung der Mentalitätsgeschichte sind es insbesondere Untersuchungen zur Französischen Revolution, die Sprache nicht nur programmatisch als wichtiges Forschungsobjekt postulieren, sondern die auch tatsächlich Sprachgebrauch als Indikator fur Mentalitäten untersuchen. Im Folgenden soll im Mittelpunkt stehen, inwiefern Sprach-Analyse eine mentalitätsgeschichtliche Methode sein kann. Der historiografische Begriff der .Mentalität' umfasst die kollektiven Einstellungen, Gewohnheiten, Handlungs- und Verhaltensdispositionen, die in einer bestimmten Zeit für eine bestimmte Gruppe kennzeichnend sind, ohne dass diese ihr bewusst sein müssen. Insofern sie die Dimensionen des Fühlens und des Wollens einschließt, umfasst Mentalität mehr als .Bewusstsein' oder ,soziales Wissen', Begriffe, die eher auf die kognitiven Aspekte abheben. Beim geschichtswissenschaftlichen Mentalitätsbegriff ist im Gegensatz zum alltagssprachlichen Begriff die ,Kollektivität' von Einstellungen, Verhaltensdispositionen oder auch Verhaltensweisen zentral. Anders als bei der Geistesund Ideengeschichte und z.T. auch der Begriffsgeschichte geht es in der Mentalitätsgeschichte nicht um die bewussten, ausgearbeiteten Gedankengebäude einzelner, sondern um die Denkgewohnheiten, Denkmuster, die allgemein verbreitet sind und als selbstverständlich hingenommen werden. Als Forschungsobjekt kommen zwar auch die Mentalitäten ganzer Nationen, Sprach- oder Religionsgemeinschaften in Frage. Es können aber auch weniger 9
Vgl. dazu auch Musolff 1996, 30-35.
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große Einheiten als Untersuchungsgegenstand gewählt werden, was sich fur differenzierte moderne Gesellschaften besonders anbietet, in denen unterschiedliche Gruppen oder Milieus nur in begrenzten Bereichen übereinstimmende Mentalitäten haben dürften. Dies verlagert auch den Blickwinkel weg von den in der traditionellen französischen Mentalitätsgeschichte betonten Beharrungskräften von Mentalitäten als Phänomenen der „longue durée" hin zu den Wandlungen von Mentalitäten. Die Französische Revolution wurde daher zu einem bevorzugten Untersuchungsgegenstand, an dem Mentalitätswandel und -brüche zu studieren sind. Um etwas über als Teil der Mentalität aufgefasste usuelle Denkgewohnheiten zu erfahren, darf ein zugrunde gelegtes Textkorpus weder aus vereinzelten Texten großer Denker noch aus Einzelbelegen aus volkstümlicheren Quellen bestehen, sondern es muss ein umfangreicheres Korpus sein, das dem Erfordernis genügt, über einen längeren Zeitraum vergleichbare Daten zu liefern, d.h. die Quellen müssen „seriell" sein. Eine Möglichkeit ist die Wahl einer einheitlichen Textsorte, die über einen mehr oder weniger langen Zeitraum die Denkmuster zu einem Thema erkennen lässt und einigermaßen repräsentativ Auskunft über das Denken einer ausgewählten sozialen Gruppe gibt. Sprachuntersuchungen gelten als eine Möglichkeit, Aufschluss zu gewinnen über Mentalitäten von Gruppen vergangener Zeiten. Schon einer der „Väter" der französischen Mentalitätsgeschichte, Lucien Febvre, hatte darauf verwiesen, dass zur „outillage mental" u.a. Sprache, Vokabular, Redensarten gehören. Fritz Hermanns' anregende Adaption des Mentalitätsbegriffs für eine „Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte" (1995) dürfte sprachgeschichtlich Interessierten inzwischen vertraut sein. Mehrere Autoren stellen eine Verbindung zur Berger/Luckmannschen Wissenssoziologie her. Demnach konstituiert sich Gesellschaft aus den Objektivierungen der menschlichen Erfahrungen und beruht „auf der Art und Weise, in der gesellschaftliche , Wirklichkeit' j e w e i l s ,gewußt' wird. D i e s e s gesellschaftliche ,Wissen' umfaßt sämtliche Ebenen der kollektiven Vorstellungen, die Menschen einer bestimmten Epoche von sich besitzen, von der grundlegenden axiomatischen Ebene gesellschaftlicher und kultureller Selbstverständlichkeiten bis zu den expliziten Legitimationstheorien, also den Ideologien; die Verfasser [Berger/Luckmann] sprechen v o n ,Sinnwelten', die vor allem durch ihre Sprache, im weiteren Sinn durch ihre gesellschaftliche Symbolik erfahrbar sind." (Schulze 1985, 2 6 6 )
In dieser Wiedergabe des Berger/Luckmann'schen Verständnisses von „sozialem Wissen" wird die Verbindung zur Mentalität deutlich. Dinzelbacher hat eine Definition von Mentalität geliefert, die vor allem auch die Interpretation von bewussten Denkinhalten als Bestandteil von Mentalitäten erlaubt:
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„Historische Mentalität ist das Ensemble der Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens, das für ein bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Zeit prägend ist. Mentalität manifestiert sich in Handlungen. [ . . . ] „Denkweise" soll die zeit- und gruppenspezifische Art des bewußten Umgangs mit Informationen bezeichnen [...]. Denkweisen können etwa primär kausallogisch oder eher assoziativ, primär induktiv oder eher deduktiv schließend sein, können sich primär einer Abstraktionssprache oder eher bildlicher Darstellung bedienen. [ . . . ] Zu den „Denkinhalten" zählen die in einer Kultur allgemein geltenden Grundüberzeugungen, ideologische, politische, religiöse, ethische, ästhetische [...] Konzepte [...]. Sie sind prinzipiell verbalisierbar und Gegenstand diskursiver Reflexion." (Dinzelbacher 1993, XXIIf.)
Und sie sind gerade deshalb auch durch Sprachanalyse zu eruieren. Die unbewussten Komponenten einer Mentalität würden „zu einem guten Teil durch die [...] Verinnerlichung ursprünglich bewußter Denkinhalte geformt", so dass zunächst bewusst aufgestellte Forderungen „einen unbewußten Habitus generieren" (ebd., XXIII) könnten, wenn sie weit genug verbreitet werden. Dinzelbacher nennt als Beispiel die habitualisierte prüde Einstellung zur Sexualität in Europa und Amerika, die auf expliziten Forderungen christlicher Theologen in der Spätantike basiere. Eine Darstellung dessen, was bisher, vor allem in Frankreich, unter dem Label „Mentalitätsgeschichte" untersucht worden ist, würde hier den Rahmen sprengen. Eine teilweise sprachbezogene Analyse ist die Michel Vovelles zur Französischen Revolution. In seiner Darstellung des „Umbruchs der Mentalitäten" in jener Zeit spielt die Sprache als Indikator und Faktor dieses Umbruchs programmatisch eine wichtige Rolle, im Einzelnen wird aber nur selten deutlich, wieweit die Ergebnisse tatsächlich auf Sprachuntersuchungen beruhen. Vovelle fügt hier erstmals die Bausteine einer Mentalitätsgeschichte der Revolution zu einem Gesamtbild zusammen, „von der treibenden Kraft der kollektiven Ängste und der Psychologie der revolutionären Volksmenge über die sich in politisch-sozialen Schlüsselbegriffen, öffentlichen Festen und einer Art revolutionärer Gegenreligion niederschlagenden neuen Grundwerte bis hin zum gesellschaftlichen Alltagsverhalten in der Familie wie gegenüber dem Tod." (Reichardt im Vorwort von Vovelle 1985, 6)
Vovelles Analyse ist dort, wo sie wirklich auf Sprache eingeht, eine hermeneutisch-interpretative ähnlich der der Begriffsgeschichte, wobei anhand von Einzelbelegen die Entwicklungen klargemacht werden. Konkret wird aus Zitaten, Beschwörungsformeln, Slogans der Zeit „ein Bild von der Gemütsverfassung einer Generation, die die Welt von Grund auf verändern will" (ebd., 107), gezeichnet. Am stärksten sprachbezogen ist die Darstellung der neuen Werte (ebd., 11 Off.), die die Hoffnungen auf eine veränderte Welt zeigten. Dabei will Vovelle
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Anhand volkstümlicher Texte wird die Geschichte von Volk in den Jahren 1789-1793 dargestellt als „Indikator der neuen Sensibilität" (ebd., 114). Das gleiche könne man auch mit Begriffen wie Glück oder Tugend machen.
5. Sozialhistorische Semantik in Form des „Handbuchs politischsozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820" Als ein wirklich sprach-konzentriertes Projekt, das sich als mentalitätsgeschichtlich versteht, ist ein Wörterbuch-Projekt hervorzuheben, das mit dem Namen Rolf Reichardt verbunden ist und in dessen Mittelpunkt ebenfalls die Zeit der Französischen Revolution steht. Von diesem Anfang der 80er Jahre konzipierten Projekt sind seit 1985 18 Hefte mit einzelnen „Begriffsgeschichten" publiziert worden. Neben den im „Handbuch" vorgelegten Ergebnissen sind auch zahlreiche Monografien und Sammelbände im Umfeld dieses Projektes entstanden. Die Quellen für Reichardts Analysen sind alltagssprachliche Texte und nicht die Texte politischer oder philosophischer Denker, seine sprachtheoretischen Grundannahmen betonen die wirklichkeitskonstitutive Funktion von Sprache statt einer realitätsspiegelnden, und die Ergebnisse seiner Analysen sind keine reinen Wortgeschichten. Auch Reichardt begründet sein eigenes Vorhaben mit wissenssoziologischen Überlegungen von Schütz/Berger/Luckmann. Demnach werden Erfahrungen und Erlebnisse von den Mitgliedern einer Gesellschaft als „soziales Wissen" „typisiert". Durch das typisierte soziale Wissen verschaffen sie sich Gewissheiten über die verwirrend vielfältige Wirklichkeit. Die Typisierung geschieht vor allem im Medium der Sprache. Aufgrund dieses Stellenwerts der Sprache in der wissenssoziologischen Theorie lässt sich der Begriff des Typus mit dem linguistischen Konzept der Bedeutung gleichsetzen. „Als gemeinschaftliche Orientierungsregeln und .Typen' sind Bedeutungen von Begriffen [ . . . ] weniger Indikatoren als vielmehr hauptsächlich Faktoren des sozialen Lebens, die kollektive Erfahrungen bündeln, wesentlich zur psychisch-kulturellen Infrastruktur einer Zeit [...] gehören, Einstellungen und Mentalitäten prägen, Kommunikation und gemeinsames Handeln ermöglichen und steuern, ja gesellschaftliche Grundwerte kristallisieren." (Reichardt 1985, 67)
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Weil sich „die Fülle des jeweiligen Sprachgebrauchs auf fließende und nicht restlos verbindliche, aber doch von wesentlichen Teilen der jeweiligen Gesellschaft vorzugsweise praktizierte Grundmuster" (1985, 68) einspiele, werden diese „Grundmuster" untersucht, und zwar zunächst in Gestalt von 170 Grundbegriffen': „Als .Grundbegriffe' im Sinne des Vorhabens gilt, was besonders die politischsozialen Pamphlet-Wörterbücher seit den 1760er Jahren mehr oder weniger durchgängig thematisieren und damit selber auswählen, was in Tagebüchern und Presse begrifflich den Angelpunkt der Argumentation bildet oder sogar ausdrücklich erörtert wird." (Reichardt 1982, 55)
Auszuwerten sind nach Reichardt in jedem Fall „repräsentative, kollektive und auf Institutionalisierung von Wissen ausgerichtete Quellen" (ebd., 69), um „die in der Öffentlichkeit tatsächlich zirkulierenden Begriffsinhalte als soziales Wissen zu erfassen" (1985, 78). Für diesen Zweck wurden allgemeinsprachige universelle Wörterbücher und Enzyklopädien, Fachwörterbücher und PamphletWörterbücher, Zeitschriften und Zeitungen, Flugschriften, Traktate und Versammlungsprotokolle sowie als „volksnahe Quellenerzeugnisse" Katechismen, Almanache, Satiren, Lieder, Bildsymbolik und Flugblattgrafik ausgewählt. Die „Serialität" der Quellen, d.h. die Auswahl gleicher Textsorten über einen längeren Zeitraum hinweg soll zudem die Vergleichbarkeit der Bedeutungsentwicklungen in der Zeit gewährleisten. Aus der grundsätzlichen Überlegung heraus, „daß die Wortbedeutungen einer Sprachgemeinschaft ein engmaschiges Netz sich vielfach kreuzender und verschlingender Wechselbeziehungen bilden und sich nicht einzeln, sondern im Verbund wandeln" (ebd., 80), folgt: Viele Artikel gehen zwar von einem einzelnen Ausdruck aus, andere aber behandeln Gegensatzpaare (z.B. droite/gauche oder lumières/ténèbres), wechselseitig komplementäre Begriffe (banquier-capitaliste-financier) oder einander zeitlich ablösende Bezeichnungen (charité-bienfaisance). Neben der bedeutungsgeschichtlichen Interpretation und Darstellung der Belege wurde eine weitere, „semantologisch-historische" Methode vorgeschlagen und vor allem von Reichardt und Lüsebrink auch erprobt. Sie stellt dem hermeneutischen Zugang zu den Quellen eine strukturalistisch inspirierte Verfahrensweise gegenüber, d.h. sie will „das jeweils anfallende Vokabular auf nachvollziehbare Weise wortfeldartig strukturieren" (Reichardt 1987, 353), um mit einer „objektiveren" Methode die sprachliche Wirklichkeitskonstruktion zu erfassen. Das Handbuch-Projekt ist sicherlich vorbildlich fur wissens- und mentalitätsgeschichtliche Projekte, die Sprachanalyse in den Mittelpunkt stellen. Bezüglich seines Gegenstandes hat das Projekt einen Beitrag zu der in der Geschichtswissenschaft in den letzten zwanzig Jahren diskutierten These geleistet, dass die Französische Revolution ganz wesentlich eine Revolution des kollektiven Bewusstseins gewesen ist.
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6. „Politische Kultur"- Forschung Ähnlich wie die neue Kulturgeschichte hat auch die politikwissenschaftliche Forschung politische Symbolik und Kultur als Phänomene entdeckt, die nicht mehr unter der Prämisse untersucht werden, inwiefern sie eine verschleiernde, manipulative Funktion haben und politisches Handeln ersetzen. Vielmehr geht es auch in der neueren „Politische Kultur"-Forschung darum, wie mittels politischer Symbolik, politischem Sprechen und Handeln gesellschaftliche Wirklichkeit auch sprachlich konstruiert wird. Daher wird z.T. auch ausdrücklich ein Bezug zur Begriffs- und Mentalitätsgeschichte und insbesondere zu Rolf Reichardts Handbuch-Projekt hergestellt. „Unser Bild davon, was ist, und vor allem, als was es uns entgegentritt, als was wir es erfahren, ist in jedem Fall vorgeprägt durch die kulturellen Zeichensysteme, in die wir hineinerzogen und hineinsozialisiert werden. Wahrnehmen, werten und fühlen erfolgt im Medium der Zeichenwelten, in denen wir uns bewegen, die uns zwar nicht völlig determinieren, die wir aber auch nicht einfach ausblenden können." (Dörner/Vogt 1995, 1)
Zeichenwelten aber seien keine neutralen Medien, sondern hingen mit Machtfragen zusammen. Dies wird eng verknüpft mit der Frage der Bedeutung einzelner Ausdrücke: „Welches Wort mit welcher Bedeutung benutzt und akzeptiert wird, das ist eine Frage der jeweiligen kommunikativen Machtverhältnisse." (Ebd., 2) Der Forschungsgegenstand wird demnach wie folgt definiert: „Wir verstehen [ . . . ] unter politischer Kultur das Gesamt an kollektiv geteilten Vorstellungen über die politische Welt, die gemeinsamen Denk-, Wahrnehmungsund Handlungsmuster, die sich [ . . . ] in den kulturellen Zeichensystemen institutionalisiert haben. [...] Über die Analyse dieser Zeichenpraktiken werden politische Kulturen dann empirisch zugänglich. In der Sprache, im Ritual, im Fest und in der Architektur, in der Musik und im Film treten sie uns sinnlich faßbar gegenüber." (Ebd., 2f.)
Sprachuntersuchungen sind danach also ein Teilbereich der „Politischen Kultur"-Forschung. Mit ihnen sollen gemeinsame Denk- und Wahmehmungsmuster eruiert werden, die wiederum zeigen, wie politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit von den Beteiligten konstruiert worden ist. So wird z.B. erörtert, wie durch Metaphorik im Bereich der Entwicklungspolitik (etwa die des „Teufelskreises" und der „Bevölkerungsexplosion") Wirklichkeit wahrgenommen und geschaffen wird (vgl. Wesel 1991). Ludgera Vogt (1997) hat in einer Dissertation die Funktion des Begriffs der ,Ehre' in der Gegenwartsgesellschaft untersucht.
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Exemplarisch für die in unserem Zusammenhang interessanten Herangehensweisen der „Politische Kultur"-Forschung sind die Forschungen von Andreas Dörner zu nennen. In seiner Dissertation (1995) analysiert er die „Sinnstiftungen" und kollektiven Identitäten, die der Hermannsmythos für das nationale Selbstverständnis der Deutschen von den Befreiungskriegen gegen Napoleon bis zum Nationalsozialismus geschaffen hat, während er seitdem durch „Tabuisierung" und „Folklorisierung" gekennzeichnet ist. In einem weiteren Forschungsprojekt vergleicht Dörner (1992) die politischen Kulturen Deutschlands und Großbritanniens anhand von Wörterbüchern, Enzyklopädien und journalistischen Texten. Die politisch-kulturelle Konstruktion von Wirklichkeit wird anhand von Einträgen zu Staat, Regierung, Gesellschaft, Gemeinschaft etc. diachronisch und kulturvergleichend seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert analysiert. Erkenntnisinteresse und die Abstraktionsebene der Ergebnisse sind dabei sprachwissenschaftlichen ähnlich, und es gilt auch hier die Annahme, dass es neben der Konstitution von Wirklichkeit in Textwelten andere, reale Erfahrungsbereiche gibt, die zu beachten sind.
7. Soziologische Diskursanalyse Mit einem ähnlichen theoretischen Hintergrund untersuchen auch jüngere soziologische Diskursanalysen öffentliche Diskurse. Sie berufen sich einerseits recht allgemein auf Foucaults Diskurs-Begriff, betonen im besonderen aber mit Bezug zur Berger/Luckmannschen Wissenssoziologie den Aspekt der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit", die bezüglich bestimmter Themen im öffentlichen, medialen Diskurs geschehe. Der mediale Diskurs wird auf der Grundlage eines z.T. umfangreichen Textkorpus' mit einer spezifischen Methodik untersucht, die im Rahmen des Paradigmas einer „sozialwissenschaftlichen Hermeneutik" (Hitzler/Honer 1997) qualitativ-interpretativ angelegt ist. Ähnlich wie bei geschichtswissenschaftlichen Arbeiten werden allerdings nicht einzelne linguistisch fassbare Textbestandteile nachvollziehbar interpretiert, sondern es werden die Ergebnisse des Interpretationsvorgangs dargestellt. Wenn auch der Schritt von den einzelnen Texten zum Interpretationsergebnis nicht nachvollziehbar dargestellt wird, so gibt es doch sehr plausible methodische Ableitungen. Grundlage dieser Ableitungen ist, dass Bedeutungen in Diskursen nicht in ,,lose[n] Zeichenpartikel[n]", sondern in ,,typisierte[n] und typisierbare[n] Schemata", in „Grundmustern, einer Grundstruktur oder Grundfigur der Deutung" (Keller 1998, 36) vorliegen. Solche Grundmuster (oder auch Deutungsmuster) werden herausgearbeitet. Als gelungene soziologische Diskursanalyse soll im Folgenden die Arbeit von Reiner Keller „Müll - Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen" dargestellt werden. Sprache wird verstanden als ein Zeichensystem, mit dem wir nicht einer „realen" Welt Ausdruck verleihen, sondern „mit dem wir Bedeutungen produ-
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zieren" (Keller 1997, 315). „Welt" ist uns nicht an sich zugänglich, sondern durch „gesellschaftlich hergestellte symbolische Systeme (Ordnungen). Diese symbolischen Ordnungen werden in Diskursen gesellschaftlich produziert, legitimiert und transformiert (Keller 1998, 35). Diskurse werden dabei aufgefasst als „das, worüber in einer Gesellschaft gesprochen wird, was als Problematik und Thema verhandelt wird und was zur kollektiven Sinnproduktion beiträgt" (Seifert 1992, 270). Das Interesse soziologischer Diskursanalyse gilt daher insbesondere öffentlichen, politischen Diskursen, die als „gesellschaftliche Selbstinszenierungen dessen [aufgefasst werden], was in der Öffentlichkeit für wichtig und wertvoll gehalten wird" (Keller 1998, 41). Damit können auch Aussagen über vorherrschende Alltags-Denkgewohnheiten zu einem Thema in einer bestimmten Zeit gemacht werden, denn: „Die Lebenswelt des Alltags ist in modernen Gesellschaften vielfach durch Diskurse mitkonstituiert." (Keller 1997,317) Keller untersucht den öffentlichen Diskurs über Abfall bzw. Müll in Deutschland und Frankreich von 1970 bis 1995. Anhand des Ländervergleichs wird die Konstruktion unterschiedlicher Wirklichkeiten durch Sprache, durch die öffentlichen Diskurse besonders deutlich. Die wichtigsten analytischen Begriffe dabei sind „Interpretationsreservoir", „story line", „Rahmen" und „Deutungsmuster". Nach der narrativen Darstellung des jeweiligen Verlaufs der öffentlichen Müll-Diskurse werden anhand dieser Begriffe systematisch drei verschiedene diskursiv erzeugte Wirklichkeiten dargestellt. In Deutschland gab es danach im genannten Zeitraum einen strukturkonservativen und einen kulturkritischen Diskurs, die zwei konkurrierende „Welten" geschaffen haben, in Frankreich dagegen gab es nur einen hegemonialen, den administrativen Diskurs, dem nur in wenigen gesellschaftlichen Nischen ein konkurrierender Diskurs gegenüberstand. Mit dem Begriff „Interpretationsreservoir" wird der „typisierbare Kernbestand an Grundaussagen eines Diskurses" (Keller 1998, 36) erfasst. Als roter Faden für die Wirklichkeitskonstruktionen eines Diskurses, der sich in verschiedenen konkreten Textausprägungen findet, lässt sich aus diesem Interpretationsreservoir eine „story line" kreieren, die die „Welt", das Weltbild des jeweiligen Diskurses zusammenfassend beschreibt, in einer Story bündelt. In den Interpretationsreservoiren sind die „Rahmen" bzw. „Deutungsmuster" enthalten, d.h. die zentralen wirkenden Ideen, die hinter den konkreten Zuschreibungen, Realitätssichten, Lösungsvorschlägen etc. stehen. Keller benennt für den strukturkonservativen Diskurs als zentralen Rahmen das Deutungsmuster von der „Autonomie der Wirtschaft", mit dem konkrete Handlungen, Problemlösungsvorschläge etc. legitimiert werden. Die angeschlossenen weiteren Rahmen sind „(Quasi-) Naturalisierung", „Kontinuität von Modernität/ Fortschritt/Entwicklung", „technisch-administrative Kontrolle", „unerschöpfliche Natur" und „Verantwortungsethik vs. Gesinnungsethik" (vgl. ebd., 213ff.). Der konkurrierende kulturkritische Abfalldiskurs hat dagegen als zentralen
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Rahmen die „knappe Natur". An ihn knüpfen die Rahmen „Vergesellschaftung" (d.h. beobachtete Phänomene sind gesellschaftlich gestaltbar), „Politisierung des Wirtschaftens" (d.h. es besteht ein Primat der Politik vor der Wirtschaft), „Wechsel des Entwicklungsmodells", „Risiko" und „Verantwortungsethik vs. Profitinteressen" an (vgl. ebd., 222ff.). Die Erwähnung soll ansatzweise illustrieren, welche Elemente der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion mit diesen Analysebegriffen erfasst werden. Es ergeben sich unter dem Strich sehr interessante Erkenntnisse über die gesellschaftliche Konstruktion eines Themas, die denen sehr ähnlich sind, die wir mit unseren Düsseldorfer sprachgeschichtlichen Studien zu öffentlichen Themenfeldern anstreben.
8. R e s ü m e e Um kollektiv geteilte Vorstellungen, Denk- und Wahrnehmungsmuster, die über die Analyse des Sprachgebrauchs zu erforschen sind, geht es auch in einigen germanistischen Studien, die sich z.T. explizit als diskurs- oder mentalitätsgeschichtliche Forschungen deklarieren, die z.T. ohne entsprechende Etikettierung so rezipiert werden. Gemeinsam mit den programmatischen Überlegungen von Busse, Teubert und Hermanns können diese Studien in der germanistischen Sprachwissenschaft als Exponate eines neuen Paradigmas aufgefasst werden, mit dem Sprachgeschichtsschreibung in Zukunft verstärkt neben einer sprachsystematischen Orientierung als Ergänzung zum etwas älteren sozialgeschichtlichen Interesse eine kultur-, mentalitäts- oder diskursgeschichtliche Perspektive erhalten könnte. Hierzu zähle ich neben den Düsseldorfer Sprachgeschichtsbeiträgen zur jüngsten Vergangenheit 10 z.B. die Studien von Dietz Bering 1978 und 1987, Utz Maas 1984 und Angelika Linke 1996 ebenso wie einzelne kürzere Analysen der erwähnten Programmatiker sowie die Untersuchung von Kollektivsymbolen aus der „Schule" des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Damit müssten wir Sprachwissenschaftlerinnen angesichts des hier vorgestellten Panoramas von sprach- und bedeutungsorientierten Arbeiten aus den Nachbarwissenschaften allerdings erst noch erweisen, dass wir uns „um Sprache als ein Kulturprodukt [so] kümmern können, wie es die Historiker zum Beispiel schlechter können" (Kämper/Schmidt 1998, 362) - so Angelika Linke in der Podiumsdiskussion der letzten sprachgeschichtlichen Jahrestagung des Instituts für deutsche Sprache. Denn offenbar schauen längst nicht mehr alle Historiker (und Sozialwissenschaftler) „gerne durch Sprache auf die Fakten",
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Als Monografien sind zu nennen: Wengeler 1992 und 1999, Jung 1994, Stötzel/Wengeler u.a. 1995, Musolff 1996, Böke/Liedtke/Wengeler 1996, Hahn 1998.
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sondern sehen ebenso wie wir Sprache auch als kulturelles Faktum. Es könnte nun also darum gehen, sich gegenseitig von unterschiedlichen fruchtbaren Methoden beeinflussen zu lassen. Für die Historiker und Sozialwissenschaftler könnte dies den Vorteil haben, noch genauer auf die sprachlichen Produkte zu sehen und sie nicht zu flott in vor der Textlektüre erstellte Hypothesen einzuordnen; die Sprachwissenschaftler könnten vielleicht lernen, über die konkreten Sprachfakten hinaus mehr das Gesellschaftliche, das „große Ganze" im Auge zu behalten und die sprachanalytischen Forschungsergebnisse in übergreifende Zusammenhänge der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeiten einzuordnen.
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Attitude, Einstellung, Haltung Empfehlung eines psychologischen Begriffs zu linguistischer Verwendung Dieser Vortrag1 hat zum Thema einen Begriff mit drei Namen: .attitude', .Einstellung', ,Haltung'. (Letzterer ist heute zwar in der Psychologie veraltet, aber wird sonst noch verwendet.) Der Zweck dieses Vortrage ist vor allem, diesen Begriff zu erläutern und als brauchbar zu empfehlen für die sprachhistorische Mentalitätsgeschichte wie auch - allgemeiner - fur die lexikalische Semantik.
1. „Ein Mann muss eure Herzen leiten" Medias in res! Mit einem Beispiel. In der Zauberflöte Mozarts sagt Sarastro (I 18)2 zu Pamina, ihre Mutter sei „ein stolzes Weib". Und das ist fur ihn offensichtlich ein Charakterfehler. Denn, so sagt er weiter zu Pamina (und zu uns): „Ein Mann muss eure Herzen leiten, / denn ohne ihn pflegt jedes Weib / aus seinem Wirkungskreis zu schreiten." Dies als erstes Beispiel einer Äußerung einer Einstellung. Sie umfasst die drei Momente oder Komponenten, die Einstellungen ausmachen: eine kognitive, eine volitive, eine emotive Komponente. Kognitiv belehrt die Äußerung Sarastros über die Natur von Frauen: Frauen unterscheiden sich von Männern u.a. dadurch, dass sie ihren Wirkungskreis verlassen, wenn sie daran nicht durch einen Mann gehindert werden. Im Fall einer Fürstin dürfte dieser Wirkungskreis das Haus bzw. der Palast sein, dem 1
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Der Stil eines Vortrags ist in diesem Aufsatz beibehalten. Hinzugefügt habe ich in Petit gesetzte Kommentare und Literaturverweise. Diese sollen insbesondere sozialpsychologisch interessierten Leserinnen zusätzliche Informationen geben. Andere Leserinnen können sie bei der Lektüre getrost überspringen. - Ich bedanke mich bei Angelika Linke und Renate Pasch für ihre große Hilfe durch Hinweise und Auskünfte. Text nach Mozart 2000. Ich zitiere mit Angabe von Aufzug und Auftritt. - Als Einführung in die Interpretationsgeschichte der Mozartschen Zauberflöte ist das Buch von Csampai/Holland 1982 zu empfehlen. Dort ist weitere Literatur dazu verzeichnet. - Die Hervorhebungen sind von mir und nicht vom Autor des Librettos, Emanuel Schikaneder, allerdings zum Teil von Mozart (Fermate auf ihn und Wirkungskreis]).
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sie vorsteht. Für das kleine Bürgertum dagegen auch im Jahre 1791, dem Entstehungsjahr von Mozarts Zauberflöte, wohl bereits der Kreis von „Kinder, Küche, Kirche" (Küche inklusive des gesamten, damals mühevollen Haushalts).3 Aber wie dem auch sei - jedenfalls haben wir in Sarastros Satz ein Stück von etwas, was man nennen könnte: Eine Theorie des Weibes. Kantisch ausgedrückt: Von einer Anthropologie des Weibes. Übrigens ist dieses Theoriestück, dieses Theorem Sarastros über die Natur von Frauen, eines, das wir alle auch noch heute richtig finden.4 Denn auch wir sind ja der Meinung: Jede Frau wird dazu neigen, einen als zu eng erlebten Wirkungskreis zu weiten, wenn man sie nicht daran hindert. Nur dass wir zudem der Meinung sind, dass Frauen sich in diesem Punkt von Männern gar nicht unterscheiden. Auch bezüglich dessen, was der Wirkungskreis des Weibes sein soll, sind wir anderer Meinung als Sarastro. Damit sind wir aber schon beim zweiten der Aspekte von Einstellungen: dem volitiven. Was Sarastro ausdrückt, ist nicht nur ein Wissen, sondern auch ein Wollen in Bezug auf Frauen. Dieses Wollen ist in diesem Fall kein individuelles Wollen der Person Sarastro, auch kein zufällig gerade aktuelles Wollen, sondern es erscheint als Ausfluss eines allgemeinen Sollens. Frauen sollen sich von Männern immer leiten lassen, Frauen sollen sich der Leitung eines Mannes immer unterwerfen; das ist ein Teil der Deontik in der Einstellung Sarastros. Woraus folgt, dass Männer ihrerseits den Willen haben müssen, eine Frau zu leiten. Also eine doppelte Deontik ist die volitive Komponente in der Einstellung Sarastros: Frauen sollen sich von Männern leiten lassen, Männer sollen Frauen leiten. Insbesondere haben sie darauf zu achten, dass die Frauen in den Grenzen ihres Wirkungskreises bleiben. Zeigt die Äußerung Sarastros auch die dritte Komponente von Einstellungen: die emotive ? Wenn ja: Welche Emotion ist in Sarastros Äußerung erkennbar? Nun, wenn man allein den Text betrachtet, kann man eine solche emotive Komponente nicht ausmachen. Keine Emotion, das würde zu Sarastro passen. Er ist ja ein weiser Priesterkönig, dessen Weisheit im Verlauf der Oper mehrmals ausdrücklich gerühmt wird. Und zu einem Weisen passen keine Emotionen, denn ein Weiser ist zu stoischer Ataraxie verpflichtet. Wenn man aber darauf achtet, wie Sarastro singt, dann spürt man doch etwas Emotionales, und zwar an der Stelle, wo er das Wort .Wirkungskreis' singt. Dabei schreitet er nämlich um einen Halbton abwärts aus dem Kreis erlaubter Noten seiner Tonart. Das wirkt unheimlich. Bedrohlich. Vielleicht kann man daher sagen, dass Angst seine Emotion ist. Angst vor Frauen, die männlicher Führung nicht gehorchen. 3
Was lehrt uns das? Vielleicht dieses: Eine einzelne Einstellungsäußerung ist nie vollständig, man muss, um sie zu verstehen, immer etwas konjizieren, das darin präsupponiert ist.
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Das ist hier wie in ähnlichen Fällen zu betonen. Allzu leicht kann nämlich bei Einstellungsäußerungen, die uns nicht gefallen, der Eindruck entstehen, dass sie völlig falsch sind, obwohl sie fast immer einen Wahrheitskem enthalten, d.h. partiell wahr sind. Wenn es anders wäre, würden sie vermutlich auch nicht geglaubt werden.
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Soviel - als Einleitung - zur Illustration des Leitgedankens dieses Vortrags, nämlich dass mit einem Wort - wie hier mit dem Wort ,Weib' - verbunden sein kann sowohl Kognitives als auch Volitives als auch Emotives, das ein Wort insgesamt ausdrückt. Manchmal nur das eine oder nur das andere, manchmal alles dieses. So dass sich auch sagen lässt, dass Wörter Einstellungen, attitudes ausdrücken. Ausdrücken und (bei Zuhörerlnnen/Leserlnnen) evozieren. - Im folgenden, ziemlich ausfuhrlichen Vortragsabschnitt (Teil zwei dieses Beitrags) referiere ich, was ich (als ein Nicht-Psychologe; dies zur Warnung und Aufforderung zur Skepsis) bisher zur Thematik attitude/ Einstellung habe lesen können: hauptsächlich einschlägige Kapitel von Einfuhrungswerken der Sozialpsychologie - denn dort ist der Begriff der .attitude' zu Hause - und Handbuch-Artikel. Die sind meistens eine trockene Lektüre, doch zum Thema attitude/Einstellung gibt es einen Handbuch-Aufsatz, auf den das durchaus nicht zutrifft. Dieser Text - von Gordon Allport 1935 - ist verdientermaßen und glücklicherweise zu dem Klassiker der attitude-Literatur geworden; auch aus diesem zusätzlichen Grunde werde ich mich oft darauf berufen. Auf den Vortragsteil, der den Begriff der .Einstellung' erläutert, folgen zwei weitere (Teil drei und vier), die ihn für den linguistischen Gebrauch empfehlen sollen. Zum Schluss (Teil fünf) kehre ich zurück zu Mozarts Zauberflöte.
2. Attitude, Einstellung, Haltung Zuerst will ich durch Aufzählung einiger der Wirkungen, die Einstellungen zugeschrieben werden, einen Eindruck von der Wichtigkeit des Einstellungsbegriffes geben. 2.1. Wirkungen, Beispiele Einstellungen steuern unser Wahlverhalten und Konsumverhalten. Sie bestimmen, 6 ob wir etwas hässlich finden oder schön, gut oder schlecht. Sie lassen uns mit Freundlichkeit auf manche Menschen reagieren, mit Unfreundlichkeit auf andere. Die Einstellungen bestimmen das Verhältnis und Verhalten der Geschlechter zueinander (wie bei Mozart schon gesehen). Sie bestimmen unsere Partnerwahl und unsere sexuellen Präferenzen. Sie bestimmen unseren Umgang mit Kindern. (Weit verbreitet war einmal die Meinung: „Wer sein Kind liebt, schlägt es." Heute sind die meisten von uns überzeugt, dass Kinder
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In ihren Anfangsabschnitten, w o der Begriff der Einstellung' eingeführt wird, sind sie durchw e g ohne Weiteres verständlich auch für Nicht-Fachleute (wie mich). Schwieriger sind sie erst bei der Diskussion der psychologischen Verfahren der Erhebungen von Einstellungen und von deren statistischen Analysen, auf die es jedoch in unserem Zusammenhang nicht ankommt. .Steuern' und .bestimmen' nicht im Sinne von determinieren, sondern nur in dem Sinn, dass sie einen wesentlichen Einfluss daraufhaben.
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nicht geschlagen werden dürfen.) Sie bestimmen das Verhalten gegenüber Menschen jeweils eigener und anderer sozialer Gruppen, gegenüber den Anhängern anderer Parteien, gegenüber Angehörigen von Minderheiten. Psychologisch sind auf sie zurückzuführen Revolutionen, Kriege und Pogrome; doch auch Friedensschlüsse und die Einhaltung von Friedensschlüssen. Es beruhen auf ihnen psychologisch Kriminalität und Terrorismus, aber auch das Wunder der Tatsache eines friedlichen Zusammenlebens von Millionen Menschen selbst auf engstem Raum, in unseren Großstädten, usw. Einstellungen haben Einfluss auf jede Wahrnehmung, jedes Urteil, jede Erinnerung, jedes Lernen, Denken, Handeln, so dass man vielleicht sogar behaupten kann, dass sie es sind, die der Welt Sinn verleihen (Allport 1935, 806). Etwas sehr Bedenkenswertes fugt dem Allport (1935, 839) noch hinzu: Ohne die Annahme, dass wir Einstellungen haben, die uns prägen, wären unerklärlich sowohl die Verhaltenskonsistenz bei Menschen als auch die Stabilität von ganzen Gesellschaften. Dass wir uns verlassen können, in gewissen Grenzen, auf uns selber wie auch auf bestimmte andere Menschen und sogar auf Menschen, die wir nicht persönlich kennen - und auf das gewohnte Funktionieren der Gesamtgesellschaft, der wir angehören - , das beruht auf Einstellungen von Personen. Eine höchst zerbrechliche Grundlage, kann man meinen, die sich aber immer wieder doch als sehr robust erweist, zum Teil sogar in Krisenzeiten. Einstellungen sind nach Allport (ebd., 8 1 3 ) ein „konservativer Faktor in jeder Gesellschaft; sie bewahren die privilegierten Klassen vor den neidischen Erhebungen der Armen, und sie motivieren diese Armen, trotz gemachter bitterer Erfahrung so zu denken und zu wählen, dass sie damit ihren eigenen Interessen schaden." - D i e Gesamtheit aller permanenten Einstellungen eines Menschen ist nichts anderes als sein Charakter. (Ebd. - Dieser Satz steht s o zwar nicht bei Allport, lässt sich aber aus dem Textzusammenhang - beifälliges Zitieren von Willam James - erschließen.) Der Sozialcharakter (social mind) von Angehörigen sozialer Gruppen ist nichts anderes als eine Übereinstimmung von Einstellungen der Gruppenmitglieder (ebd., 827).
Man wird sich nun fragen: Welches menschliche Verhalten lässt sich psychologisch nicht aus einer Einstellung erklären? Antwort: fast gar keines. Gewiss haben wir, wie andere Lebewesen auch, Instinkte und Reflexe, aber die Instinkte sind bei Menschen integriert in Einstellungen, die entscheidend dafür sind, in welcher Weise die Instinkte wirksam werden oder frustriert werden. Der Begriff .Einstellung' ist daher für Allport (wenn auch nicht für alle Psychologen) der überhaupt wichtigste Erklärungsbegriff für das menschliche Verhalten unter sozialpsychologischen Aspekten. Menschen denken nämlich in der Regel so und fühlen in der Regel so und wollen in der Regel so und handeln daher in der Regel so, wie es ihren gelernten Einstellungen entspricht - so will ich das hier schon einmal vorab erläutern. Es sind zwar nach Allport (1935, 818f.) nicht sämtliche Einstellungen zugleich auch Handlungsmotive, aber auf die Art des menschlichen Verhaltens haben sie gleichwohl
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stets einen Einfluss und sind daher zu jeglicher Erklärung menschlichen Verhaltens nötig. Allport (ebd., 798) kann schon 1935 sagen, der Begriff der .attitude' sei „probably the most distinctive and indispensable concept in contemporary American social psychology", und sagt weiter, der Begriff sei „so widely adopted", dass man ihn geradezu als „the keystone in the edifice of American social psychology" ansehen müsse. Dass dies auch noch heute zutrifft, meinen Eagly/Chaiken (1993, 1).
Beispiele für Einstellungen sind nach Allport (1935, 802) u.a. Geldgier, Ruhmsucht, Hass auf Fremde, Respekt vor den Wissenschaften, aber auch (ebd., 808ff.) Toleranz sowie Zynismus, alle Interessen und alle Stereotype (heute meist verstanden nur als kognitive Einstellungsanteile). Frömmigkeit und Wahrheitsliebe, Pazifismus, Nationalismus, Misogynie, Misanthropie, Fetischismus und Sadismus wie Rassismus und Antirassismus, Altruismus und Narzissmus usw. können demnach ebenfalls als - generelle - attitudes verstanden werden. Doch es gibt auch Einstellungen, die sich auf - spezielle einzelne Personen, Gegenstände oder Sachverhalte richten: eine ganz bestimmte Art von Liebe nur zu diesem ganz bestimmten Menschen, die Ablehnung zwar nicht jeden Krieges, aber dieses Krieges. 2.2. Vorschlag einer einprägsamen Definition von ,attitude/Einstellung' Was ist nun eine Einstellung? Wie nicht anders zu erwarten, gibt es in der psychologischen Literatur keineswegs die Definition, die allgemein anerkannt wäre (vgl. den - in Petit gesetzten - „Nachtrag" am Ende von Kap. 2.6). Aber immerhin wird man vielleicht behaupten können, dass die meisten nach wie vor orientiert sind an der klassischen Definition von .attitude' von Allport (1935, 810), die ich hier - in der Art freier Verse - mit hinzugefügtem Zeilenbruch zitiere, um sie etwas übersichtlicher zu machen: An attitude is a mental and neural state of readiness, organized through experience, exerting a directive or dynamic influence upon the individual's response to all objects and situations with which it is related.
Auf deutsch - aber bereits gekürzt - etwa: Eine Einstellung ist ein Zustand der Bereitschaft, der geprägt ist durch Erfahrung und der einen Einfluss hat auf die Reaktion eines Menschen auf sämtliche Gegenstände und Situationen, auf die er sich bezieht.
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Wenn wir das noch weiter kondensieren, kommen wir zum Kern der Sache. Hier ein Vorschlag für die Formulierung einer abgespeckten Fassung der Definition von Allport: „Eine Einstellung ist eine gelernte Bereitschaft zu einer bestimmten Reaktion auf etwas." Alles andere in der Definition Allports ist zwar auch interessant und wichtig, aber zur Definition des Einstellungsbegriffes überflüssig. Definitionen sind ja keine Theorien. 7 Zur Erläuterung des Weggelassenen: 1) Jegliche Bereitschaft' ist ein Zustand, daher braucht man das definitorisch nicht besonders zu betonen. 2) Dass es sich um einen ebenso mentalen wie auch neuronalen Zustand handelt, entspricht unserer heute allgemein geteilten (daher nicht betonenswerten) Überzeugung, dass sämtliche geistigen bzw. psychischen Vorgänge und Zustände eine physische Entsprechung haben, ja darauf sogar beruhen (bloß dass man noch nicht weiß, welche). Allerdings ist bei Einstellungen physisch nicht allein mit neuronalen Vorgängen zu rechnen, sondern auch mit hormonalen sowie muskulären und - wer weiß - noch anderen. 3) „Organized through experience" scheint zu bedeuten erstens, dass attitudes (speziell in ihrem Verhältnis zueinander, cf. ebd., 836: „organized and coherent") strukturiert sind, zweitens, dass sie, da ja aus Erfahrung stammend, uns nicht angeboren sind, also gelernt sind. Sie sind nicht etwa genetisch vererbt. 4) Dass eine Bereitschaft einen .Einfluss' hat auf eine Reaktion, zu der sie die Bereitschaft ist, das dürfte sich von selbst verstehen. Allport drückt sich wohl deshalb so sehr umständlich und vorsichtig aus, weil er betonen möchte, dass ein tatsächlich erfolgendes Verhalten in der Art seiner Ausführung nicht allein von der Art der Bereitschaft dazu abhängt, sondern auch von anderen (u.a. äußeren) Umständen. Ganz zu schweigen davon, dass sich sowieso durchaus nicht jede Verhaltensbereitschaft in Verhalten umsetzt: Viele unserer Handlungen, die wir durch ein Uns-darauf-Einstellen schon angebahnt haben, werden vor ihrer Ausführung von uns selber sozusagen wieder abgeblasen. 5) Für die Theorie von Allport ist es wichtig, dass der Einfluss, den eine Einstellung auf ein Handeln ausübt, entweder zugleich auch das Motiv dafür ist (dann ist er „dynamic") oder es nur (mit-)gestaltet (dann ist er „directive"; cf. ebd., 817-819). Für die Definition von .Einstellung' ist dies aber unerheblich. 6) „All objects and situations" heißt hier offenbar soviel wie „alles"; daher: „etwas". 7) „With which it [die Reaktion] is related" heißt doch wohl nichts anderes als: „das, worauf sie die Reaktion ist". Statt .Bereitschaft' sagen andere Autoren .disposition' und .predisposition' oder auch .tendency'. 8 Allport (1935, 805) selbst beschreibt diese Bereitschaft auch als .preparation' auf die Reaktion, die ihr entspringt, d.h. als diese Reaktion bereits anbahnend und beginnend, denn er sagt, sie sei „incipient" in Bezug auf diese. Also kann eine Einstellung auch verstanden werden als eine bestimmte Weise eines Sich-Einstellens. Wodurch sie aus einem Zustand ein Prozess wird, der Prozess eines Sich-bereit-Machens für die Reaktion auf etwas. Aber ob sie ein Prozess ist oder Zustand, das ist sowieso nur eine Frage
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Noch einfacher formulieren Deprez/Persoons 1987, 125: „Attitude means readiness to behavior." Das ist zwar als Definition nicht vollständig (was es auch nicht sein soll), aber sagt das Wesentliche. Cf. u.a. Allport 1935, 804f., Eagly/Chaiken 1993, lf„ Deprez/Persoons 1987, 125.
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der Betrachtungsweise. Jeder Zustand kann als ein Prozess verstanden werden, und Prozesse werden oft als Zustände verstanden. So, wenn wir das schlechte Wetter als Zustand erleben, während es in Wirklichkeit der Vorgang ist, dass es oft oder dauernd regnet. Als gelernte Weisen eines Sich-Einstellens sind die Einstellungen zwar oft kulturell gelernte, aber oft auch individuell gelernte. Daher können Einstellungen selber individuell (in dem Sinn, dass sie nur einem Menschen eignen) oder kulturtypisch (ebd., 798) sein. Dann sind sie gemeinsame Einstellungen fast aller oder vieler Mitglieder einer der sozialen Gruppen eines Menschen (d.h. einer derjenigen Gruppen, denen er angehört oder einmal angehört hat). Sozialpsychologen interessieren sich zwar hauptsächlich für diese gruppenkulturtypisch-gemeinsamen Einstellungen, sollten aber nicht vergessen, dass wir Menschen außer ihnen immer auch noch viele einzigartige, weil individuelle, Einstellungen haben (ebd., 836). Obwohl von ihm als nicht allein psychisch, sondern zugleich auch als physisch real angesehen, sind für Allport (ebd., 836, 839) Einstellungen paradoxerweise trotzdem nichts Beobachtbares: Sie seien „never directly observed" und daher - obzwar als durchaus reale und wesentliche Ingredienzien der menschlichen Natur („real and substantial ingredients in human nature") anzusehen - stets nur zu erschließen. Woraus man vielleicht schlussfolgern sollte, dass .Einstellung' - trotz der gegenteilig scheinenden Behauptung Allports - doch nur ein rein psychologischer (d.h. kein psychologischneurologischer) Begriff ist. Dass Einstellungen stets nur erschlossen werden können (und in diesem Sinne ein Konstrukt sind), ist in der Sozialpsychologie noch immer allgemeine Überzeugung (cf. z.B. Eagly/Chaiken 1993, lf.).
Heute wird das, worauf eine Reaktion, wenn sie erfolgt, antwortet, als das .attitude object' bezeichnet, als .Einstellungsgegenstand' oder ,-objekt'. Dieses Einstellungsobjekt kann jede Entität sein, sagen uns die Sozialpsychologen. Das heißt: Alles überhaupt Denkbare kommt als Einstellungsobjekt in Frage; Eagly/Chaiken (1993, 4f.) schreiben: „Some attitude objects are abstract (e.g., liberalism, secular humanism), and others are concrete (e.g., a chair, a shoe). Particular entities (e.g., my green pen) can function as attitude objects, as can classes of entities (e.g., ballpoint pens). [...] In general, anything that is discriminated or that becomes in some sense an object of thought can serve as an attitude object."
Zum Begriff der ,Reaktion' (response) ist noch zu sagen, dass ihn Allport (1935, 799) mit dem Wort .Aktivität' erläutert, und zwar als „mental and physical activity". Auch die Reaktion, auf die eine Einstellung vorbereitet nicht nur die Einstellung selbst - ist also psychophysisch, nicht nur physisch oder psychisch.
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2.3. Schwierigkeiten eines Linguisten mit der Theorie der Einstellungen Soweit das Wichtigste von dem, was ich von der Theorie der Einstellungen verstanden habe. Als Nicht-Psychologe habe ich daran jedoch auch manches nicht verstanden. Dreierlei will ich hier nennen. (1) Weder Allport noch die meisten anderen Psychologen deuten auch nur an, dass Einstellungen selber Reaktionen sind. 9 Dies muss jedoch der Fall sein, sonst ergibt die ganze Theorie der Einstellungen überhaupt gar keinen Sinn. So verstehe ich auch das folgende Schema (vereinfacht 10 nach Eagly/Chaiken 1993,3):
observable
inferred
observable
Es zeigt (jedenfalls ist dies die Lesart dieses Schemas, die sich aufdrängt; welche andere vielleicht gemeint ist, wird von seinen Autorinnen nicht erläutert), dass die Einstellung tatsächlich eine Reaktion ist. Eine unbeobachtbare Zwischenreaktion, die eine folgende beobachtbare vorbereitet. (2) Weder Allport noch auch andere Psychologen - soweit ich sie kenne treffen eine Unterscheidung, die man, wenn man Linguist ist, treffen muss: die Unterscheidung zwischen einer jeweils aktuellen, einmalig, d.h. unwiederholbar, hier und jetzt gerade wirksamen Einstellung einerseits und andererseits der Einstellung als Typ, als Art oder als Klasse solcher aktuellen Einstellungen. D.h. sie treffen nicht die Unterscheidung zwischen - wie man in der Linguistik sagen würde - ,type' und ,token'. Das, worauf sie, wenn sie Einstellungen untersuchen, offenbar abzielen, ist der Typ und die Art der Einstellung, die charakteristisch ist für einen Menschen, die ein Mensch, wie man zu sagen pflegt, „hat". Also nicht diejenige nur einmalige Einstellung, die er etwa nur jetzt einmal einnimmt. Wobei Psychologinnen wohl in der Regel beides für dasselbe halten. Dieses würde jedenfalls erklären, warum sie eine Einstellung selber nicht als Reaktion beschreiben. Doch die Art (der Typ) einer Einstellung ist nur - wie man wieder in der Linguistik sagen würde - eine virtuelle und
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Eine - allerdings bemerkenswerte - in der Einstellungsliteratur gelegentlich zitierte Ausnahme ist Doob, der .attitude' definiert (Doob 1947, 136) als „implicit, drive producing response", einerseits „evoked (a) by a variety of stimulus patterns" und „(b) as a result of previous learning" (oder, fügt er hinzu, Generalisierungen und Diskriminierungen), andererseits „cueand drive-producing", also als „response" und „stimulus", „Reaktion" und „Reiz" (für die nachfolgende ,Reaktion'). - Nur scheinbare Ausnahmen sind die Psychologen, die .Einstellung' heute gar nicht mehr als die Tendenz zu einer Reaktion bestimmen, sondern als diese Reaktion selber (s. meinen „Nachtrag" am Schluss dieses Abschnitts). Das betrifft nur die Begriffe .stimuli' - statt „stimuli that denote attitude objects" - und .responses' - s t a t t „evaluative responses."
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noch keine aktuelle, akut wirksame Einstellung. Ausgelassen in der Theorie der Einstellungen bleibt daher an dieser Stelle der Gedanke, dass man eine virtuelle Einstellung immer erst noch aktualisieren muss, damit sie wirksam sein kann. Wie auch der Gedanke, dass es durchaus aktuelle Bereitschaften zu Arten des Reagierens geben kann, die keinem Typ der gelernten Einstellungen entsprechen. Und damit auch der Gedanke, dass man aus nur einer einzigen akuten Einstellung (die ihrerseits stets nur erschlossen werden kann) nicht schließen kann auf eine nachhaltig gelernte. (3) Damit hängt zusammen, dass die Sozialpsychologen nie - soweit ich sehe - attitudes beschreiben als das, was sie offensichtlich auch sind, nämlich habits, d.h. Gewohnheiten" (wenn auch nicht im Sinne jedenfalls des früheren Behaviorismus, denn sie können ja nicht beobachtet werden). Gewohnheiten psychischen und neuronalen Reagierens, das ein nachfolgendes Reagieren vorbereitet - eingeübt, gelernt, wie alle anderen habits. Wenn das zutrifft, kann man Einstellungen auch erklären als entweder aktuelle Zwischenreaktionen (tokens) oder als habituelle Zwischenreaktionen (types), die (wenn sie aktualisiert sind) nachfolgende (beobachtbare) Reaktionen vorbereiten. Wenn habituelle Einstellungen nicht nur individuell sind, sondern auch charakteristisch fur diejenige soziale Gruppe (oder Kultur), wo sie angetroffen werden, könnte man sie, einen Sprachgebrauch von Hermann Paul aufnehmend, usuelle Einstellungen nennen. Psychologen sprechen oft von der Einstellung eines Menschen in Bezug auf ein bestimmtes Einstellungsobjekt. Die Meinung ist dabei: Der eine Mensch hat diese und der andere jene ganz bestimmte einzige Einstellung in Bezug auf dieses Objekt. Diese eine Einstellung ermitteln Psychologinnen und Soziologinnen mit Fragebögen (so ja auch die Meinungsforschungsinstitute). Es ist aber davon auszugehen, dass wir in Bezug auf viele Gegenstände mehr als eine mögliche Einstellung haben, dass wir also über ein Einstellungs-Repertoire verfugen. Und dass sich die Einstellungen innerhalb des Repertoires auch widersprechen können. Auch daraufhat Allport (1935, 824, 832) hingewiesen: Oft sei es sogar der Fall, dass Menschen zwei vollkommen separate Mengen (sets) von widersprüchlichen Einstellungen besitzen, eine für ihr Privatleben und die andere für die Öffentlichkeit, die sie aber beide subjektiv ehrlich vertreten, j e nachdem, in welcher Rolle sie sich äußern. Sind die Einstellungen nicht so klar geschieden, dann ist es die Frage, welche dieser Einstellungen dominant ist, welche anderen vielleicht latent sind und wann welche aktuell wird. Das wird sicherlich - so würden jedenfalls wir Linguisten gleich vermuten - vom Kontext abhängen, also vom Zusammenhang, in dem das Objekt der Einstellung jeweils auftritt. So dass, recht betrachtet, eine (aktuelle) Ein-
Die Ausnahme war nach Allport (1935, 802, 807) Dewey.
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Stellung nicht einfach eine Zwischenreaktion auf das Objekt dieser Einstellung wäre, sondern eine Zwischenreaktion auf das Objekt-in-einem-Kontext.n 2.4. Die Drei-Komponenten-Lehre der Beschaffenheit von Einstellungen Ungefähr seit I960 13 gibt es die Auffassung, dass sich jede Einstellung zusammensetzt aus drei Einstellungskomponenten. Statt von Komponenten könnte man auch von Aspekten sprechen, scheint mir, was man jedoch nicht tut. Dieser Lehre wird bis heute nicht von allen Sozialpsychologen zugestimmt, jedoch von vielen. Kaum ein Lehrbuch und kaum ein Handbuch-Artikel, die sie heute nicht erörtern würden. Einstellungen setzen sich danach zusammen aus den Komponenten, die ich hier schon genannt habe: einer kognitiven, einer emotiven und aus einer dritten, die ich volitive Komponente nenne. In der englisch-sprachigen Literatur nennt man sie oft .conative' (von ,conari', dem lateinischen Deponens, das bedeutet ,sich anschicken' und .versuchen') oder .behavioral'. Eine attitude als die Bereitschaft oder die Tendenz zu einer Reaktion auf einen Gegenstand besteht demnach in einer ganz bestimmten Art und Weise, diesen Gegenstand zu sehen und zu denken, und in einer ganz bestimmten Art des emotiven Sich-dazu-Einstellens und in einer Vorbereitung einer ganz bestimmten Art des physischen Verhaltens. Denn dies ist es, was mit .conative'/,behavioral' gemeint ist: das Anbahnen eines körperlichen Reagierens. Es ist - scheint mir - in der Tat plausibel, dass die so beschriebenen Komponenten wirklich einen Einfluss auf die Art der Reaktion auf einen Gegenstand ausüben können. Je nachdem, wie wir den Gegenstand wahrnehmen, j e nachdem, was unsere Emotion dabei ist, ob z.B. Liebe oder Hass, und je nachdem, wie wir uns körperlich auf ihn einstellen, ob z.B. so, dass wir uns vorbereiten, uns dem Gegenstand zu nähern oder von ihm zu entfernen - j e nachdem wird unsere nachfolgende Reaktion anders ausfallen. 2.5. Attitüde als Einstellungsausdruck Das Bestehen dieser Dreiheit lässt sich gut dadurch begreiflich machen, dass man daran denkt, was .attitude' im Englischen bedeutet hat, bevor das Wort terminologisiert war. Zweierlei, sagt Allport (1935, 798f.). Erstens einen Zustand des Bereitseins und des Vorbereitetseins zu einer Handlung. Dies ist eine heute obsolet gewordene Bedeutung, die jedoch in der terminologischen Bedeutung fortlebt. Zweitens aber auch die körperliche Haltung eines
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Dass Bekundungen von Einstellungen immer auch vom Kontext der Bekundung (Äußerungssituation) abhängen, wird - am Beispiel von Spracheinstellungen - betont von Tophinke/Ziegler 2002. Ich bedanke mich hier bei Doris Tophinke und Evelyn Ziegler für die Möglichkeit einer Vorab-Lektilre ihres Textes. Cf. Eagly/Chaiken 1993, 10, die verweisen auf Katz/Stotland 1959 und Rosenberg/Hovland 1960.
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Menschen, seine posture, seine Pose, seine Attitüde, wie man früher im Jargon der Malerei gesagt hat. Denken wir an das Bild der Vertreibung aus dem Paradiese von Adam und Eva. Deren Wahrnehmung des Engels, der sie aus dem Paradies vertreibt, ist sicherlich identisch mit der Wahrnehmung des Bildbetrachters, also unserer. Dieser Engel ist Adam und Eva körperlich eindeutig überlegen, er ist größer, er ist stärker, außerdem ist er bewaffnet und scheint zum Schlag auszuholen. (Auch das ist schon eine Attitüde.) Deshalb ducken sie sich, und sie heben schützend ihre Hände an den Kopf. Sie haben offensichtlich Angst vor diesem Engel. Angst spricht auch aus ihrer Mimik. Und sie schicken sich deshalb zur Flucht vor ihm an. Ihre Füße stehen zwar noch auf dem Boden, aber es ist klar: Im nächsten Augenblick beginnen sie zu rennen. Nur weg! - ist der sie beherrschende Gedanke. Kognition und Emotion und Konation, dies alles passt zusammen, und die Emotion und Konation sind abzulesen an der körperlichen Haltung, inclusive Mimik. Nur die Kognition nicht, die jedoch vom Maler suppletiert wird. An Merkmalen des Verhaltens wie der Körperhaltung und Art der Bewegung, Gestik, Mimik und - nicht zu vergessen - Stimme eines Menschen und der Lage, in der sich der Mensch befindet, können wir j a auch im Alltag seine ihn in einem Augenblick beherrschende Einstellung oft erkennen. Und zwar oft sogar spontan, was heißt, dass wir darüber gar nicht erst nachdenken müssen. Hinzu kommt natürlich beim Erkennen der Einstellung eines Menschen oft (d.h. wenn er spricht) das Verstehen des von ihm Gesagten, insbesondere von dessen Ausdrucks- und Appellfunktionen. Unsere Fähigkeit zur Empathie beruht wohl entweder auf dieser unserer Fähigkeit zur Einstellungswahrnehmung oder ist sogar partiell mit ihr identisch. Jedenfalls ist daher Empathie - als unsere von uns allen dauernd praktizierte Weise des Erkennens von Einstellungen von Menschen - wesentlich auch das Verstehen des Ausdrucksverhaltens dieser Menschen, d.h. ihrer Haltungen und Attitüden. 2.6. Kognition, Volition, Emotion Was die kognitive Komponente der Einstellung angeht, so besteht sie aus .beliefs', aus Überzeugungen hinsichtlich eines Einstellungsobjektes; manche Psychologinnen bezeichnen diese auch als .Kognitionen', .Wissen', .Meinungen', .Informationen' (Eagly/Chaiken 1993, 11). .Schemata' oder .Stereotype'. Den Begriff .Stereotyp' verwendet u.a. McGuire (1969, 155): „The cognitive component of attitudes [...] is the 'sterotype' the person has of the attitude object." Dieser Begriff hat den Vorteil, dass damit die ganze Theorie der Stereotype in die Theorie der Einstellungen integriert wird. Aber das gilt mutatis mutandis - auch fur die Begriffe .Schema' und .frame' (ein Begriff, den man hier ebenfalls verwenden könnte) und für die daran geknüpften Theorien. Diese und noch andere Begriffe sind weitgehend ähnlich und bezeichnen alle - wie schon die Begriffe ,Idee' und .Vorstellung' - die
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„mentalen Repräsentationen", die wir von den Gegenständen unserer Wahrnehmungen und unseres Denkens haben. 14 Jedes Stereotyp (bzw. Schema usw.) ist wie ein Bild, das wir auf die Gegenstände unserer Wahrnehmung projizieren, oder wie eine Beschreibung, die uns sagt, mit welchen Eigenschaften wir bei einem Gegenstand der Wahrnehmung zu rechnen haben. Wissenssoziologisch ist daher ein Stereotyp ein ,Wissen'. Definiert man nun nach Allport - eine Einstellung als die Bereitschaft zu einer bestimmten Reaktion auf etwas - das Einstellungsobjekt - dann wird ohne Weiteres einleuchten, dass zu jeder einzelnen Einstellung ein bestimmtes Wissen über das Einstellungsobjekt gehört. Ohne jedes solche Wissen könnten wir ein Einstellungsobjekt ja nicht einmal erkennen und erst recht nicht darauf reagieren. Femer wird einleuchten, dass zur Aktualisiertheit jeder einzelnen Einstellung auch die Bereitstellung (das Bereitgestelltsein) dieses Wissens gehört, also eines der personspezifischen oder gruppentypischen Stereotype (Schemata, frames usw.) vom Einstellungsobjekt. Das Stereotyp wird aus dem Repertoire der Einstellungen, das wir haben, bei der Aktualisierung der Einstellung als Teil der Einstellung sozusagen abgerufen und ist dann für das durch die Einstellung angebahnte Reagieren handlungsleitend. Was die so genannte ,behaviorale' oder ,konative' Komponente der Einstellung anbetrifft, so muss ich sagen, dass ich beide diese Adjektive für misnomer halte. Sie bezeichnen beide gar nicht das, was meistens wirklich festgestellt wird, wenn Einstellungen erhoben werden, ob durch Fragebogen oder freie Interviews. „Ausländer raus!" - wenn man dem zustimmt, zeigt das noch in keiner Weise an, was man selbst tun will, damit Ausländer das Land verlassen. Sondern die Bedeutung dieses Satzes ist es nur, ein Wollen auszudrücken. Es soll hierzulande keine Ausländer mehr geben. Dieser Satz dient also nur dem Ausdruck des vom Sprechenden gewollten Soll-Zustandes (oder Soll-Geschehens) und drückt hinsichtlich des von ihm vorgehabten oder sogar bereits angebahnten eigenen Verhaltens nichts aus. ,Konation' bezeichnet jedoch ebenso wie ,Intention' nur den Spezialfall, dass ein Wollen sich bezieht auf ein j e eigenes Verhalten. Deshalb ist es sinnvoll, dass man ihn verallgemeinert zum Begriff der Volition, des Wollens. Der Begriff der konativen (oder behavioralen) Komponente der Einstellung macht sogar, so scheint mir, wenn man an ihm festhält, ohne ihn zu ändern, die Drei-KomponentenLehre der Einstellung überhaupt unsinnig. Denn man definiert die Konation als „action tendency" und als „impulsion to do something" (so Katz/Stotland 1959, 429) oder als „gross behavioral tendencies" (McGuire 1969, 156) in Bezug auf Einstellungsobjekte. Aber als „Tendenz zu einer Aktion", nämlich einer Reaktion, war j a zuvor (von Allport und von anderen) die Einstellung selbst - als Ganze - bestimmt worden. So dass, wenn man den Begriff der konativen Komponente der Einstellung nicht verändert (oder aufgibt), die Einstellung als Tendenz zu einer Reaktion dadurch erklärt wird, dass man
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Zur weitgehenden Bedeutungsgleichheit dieser prima vista so verschiedenen Begriffe vgl. Hermanns 2002.
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sagt, dass sie als eine ihrer Komponenten die Tendenz zu einer Reaktion enthalte - was absurd ist. (Von Katz/Stotland 1959 wird denn auch von .attitude' eine Definition gegeben, die von der von Allport abweicht (s. Nachtrag). Das macht zwar die Sache etwas weniger absurd, bringt aber die Absurdität nicht zum Verschwinden.) Nur zwei nicht als simplizistisch zu bezeichnende Versionen der Drei-Komponenten-Lehre habe ich bisher gefunden. Freedman/Carlsmith/Sears (1974, 247) beschreiben eine .attitude' als „a collection of thoughts, beliefs, and knowledge (cognitive component)" und von „positive and negative evaluations or feelings (affective component)" in Bezug auf Einstellungsobjekte, was zusammen eine Verhaltenstendenz ergebe („This knowledge and feeling cluster tends to produce a certain behavior"); konsequenterweise sprechen sie zwar (ebd., 245) von der kognitiven und der affektiven Komponente der Einstellung, aber drittens nur von einer „action tendency" und nicht von einer aktionalen (oder konativen) Komponente der Einstellung. Triandis (1971, 3) zitiert zwar kritiklos das Drei-Komponenten-Schema der Einstellung nach Rosenberg/Hovland (1960, 3; in verdeutschter Variante bei Stahlberg/Frey 1990, 145), macht selbst aber (Triandis 1971, 2) für den Begriff der .Einstellung' einen völlig anderen originellen Definitionsvorschlag: „An attitude is an idea charged with emotion which predisposes a class of actions to a particular class of social situations". (Die Einschränkung auf social situations braucht hier nicht zu interessieren.) Danach steht eine ,Idee', d.h. ein Stereotyp, im Zentrum der Einstellung. In der Regel wird jedoch von sozialpsychologischen Einfìlhrungswerken das Drei-Komponenten-Schema der Einstellung nach Rosenberg/Hovland (1960, 3) einfach übernommen, obwohl (oder weil) es noch einfacher ist als die Drei-Komponenten-Lehre von Katz/Stotland. Danach ist die behaviorale Komponente der Einstellung nur zuständig fur das nicht-verbale Handeln („overt actions") (und verbale Auskünfte darüber) und die kognitive nur für Perzeptionen („perceptual responses") (und verbale Äußerungen über „beliefs") und die affektive nur für Reaktionen des sympathetischen Nervensystems (und verbale Auskünfte über Affekte). Dass z.B. Kognitionen auf die Emotionen und die Konationen Einfluss haben könnten, wird durch die Aussagen dieses Schemas nicht nur nicht verdeutlicht, sondern ausgeschlossen. Hoch erstaunlich kann man deshalb den durchschlagenden Erfolg der sozialpsychologischen Drei-Komponenten-Lehre finden. Von McGuire (1969, 155) wird, vermutlich zu Recht, angenommen, dass sie durch die alte Begriffstrias .DenkenFühlen-Handeln' plausibilisiert war. Allerdings stellt diese ein ganz anderes Modell dar als das der Einstellung, nämlich ein Modell menschlichen Handelns. Danach steht am Anfang jedes Handelns ein Erkennen (.Denken'), darauf folgt ein erst nur innerliches Reagieren auf das nun Erkannte (,Fühlen') und dies (oder beides) führt zu einem eigentlichen, körperlichen Reagieren (.Handeln'). Aber da ist das, was .Fühlen' heißt, gerade das, was wir nach Allport die .Einstellung' nennen. - Gewiss wäre es ein hoffnungsloses Unterfangen, wollte man als Linguist versuchen, Sozialpsychologen sozusagen zu bekehren - weg von ihrer Begriffstrias .Kognition-Emotion-Konation' und hin zur Begriffstrias .Kognition-Emotion-Volition', obwohl auch diese Trias in den Traditionen der Philosophie und Psychologie gründet (s.u., Kap. 4). In der Linguistik selber steht es aber um die Chancen für die Akzeptanz der Begriffstrias .DenkenFühlen-Wollen' etwas besser (s.u., ebd.).
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D i e unglücklich, w i e ich daher meine, als .behavioral' b z w . ,konativ' bez e i c h n e t e Einstellungskomponente nenne ich also die volitive K o m p o n e n t e der Einstellung. 1 5 A u c h b e z ü g l i c h dieser K o m p o n e n t e dürfte ohne weiteres einleuchten, dass man sie braucht, um bereit zu sein zu einer Reaktion auf etwas. O h n e W o l l e n kann es keine Reaktionsbereitschaft geben. A u c h hier m u s s man s i c h die S a c h e w o h l s o denken, dass, w e n n eine der Einstellungen aus d e m Repertoire der Einstellungen eines M e n s c h e n aktualisiert wird, dann z u g l e i c h auch ein bestimmtes W o l l e n aktualisiert und s o bereitgestellt wird als das h a n d l u n g s b e s t i m m e n d e W o l l e n für ein n a c h f o l g e n d e s Reagieren. Übrigens entspricht der Ausdruck des gewollten So//-Zustandes oder Soll-Geschehens immer - so ist anzunehmen - ziemlich passgenau dem Ausdruck des geglaubten IstZustandes, der in dem zitierten Fall beschrieben werden könnte durch Aussagen wie: dass die Ausländer den Deutschen ihre Arbeitsplätze nehmen; dass sie vom Geld deutscher Steuerzahler leben usw. Dieses Bild des Ist-Zustandes ist das Stereotyp von den Ausländern. Z w i s c h e n Kognition und V o l i t i o n g e w i s s e r m a ß e n in der Mitte liegt die E m o tion, die e m o t i v e (oder a f f e k t i v e ) K o m p o n e n t e der Einstellung. V i e l e unserer g ä n g i g e n B e z e i c h n u n g e n für Einstellungen m a c h e n diese e m o t i v e K o m p o n e n t e sogar explizit, die Einstellung heißt nach der e m o t i v e n K o m p o n e n t e der Einstellung, so bei ,Fremdhass' und ,Fremdenfurcht', bei ,Wahrheits'- und .Vaterlandsliebe' usw. 1 6 Falls das nicht trügt, können wir d i e e m o t i v e vielleicht für die wichtigste, fur die zentrale der drei K o m p o n e n t e n der Einstellung halten. A u c h die E m o t i o n ist, w i e vermutlich ebenfalls einleuchtet, handlungsleitend u n d gehört daher z u m Vorbereitetsein auf eine Reaktion auf etwas. Die Annahme einer emotiven Komponente der Einstellung macht bedauerlicherweise begriffliche Schwierigkeiten. Der Grund dafür ist, dass Emotionen selber als Einstellungen verstanden werden können, wenn sie sich - was auf die meisten, wenn auch nicht auf alle Emotionen zutrifft - auf ein Emotionsobjekt beziehen. Daher werden umgekehrt Einstellungen von manchen Sozialpsychologen definiert als Emotionen. Bereits Thurstone (1931, hier zitiert nach Bierhoff 1984, 196) hat definiert: „Einstellung ist der Affekt fiir oder gegen ein psychologisches Objekt". Berkowitz (1986, 168) sagt, eine Einstellung sei „the positive or negative feeling evoked by an object or issue". Auch für Emotionen kann konstitutiv sein, dass sie mit bestimmten Kognitionen sowie Volitionen einhergehen. Angst z.B. setzt (nicht immer, aber prototypisch) die Wahrnehmung von Gefahr voraus und ist kaum denkbar ohne eine Fluchtbereitschaft oder, wenn sie in Wut umschlägt, Aggressionsbereitschaft. Danach wäre der Begriff der Emotion im Dreier-Schema der Struktur der Einstellung entbehrlich. Oder umgekehrt: Man könnte Einstellungen als habituelle emotive Reaktionen (inklusive kognitiver sowie volitiver Reaktionsanteile) auf Objekte der Einstellung definieren. Damit würde man
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Ahnlich spricht schon Lenzen 1996, 1176; s.u., Kap. 4 über „voluntative Einstellungen" (nicht jedoch: Einstellungskomponenten). Brehm/Kassin/Fein 1999, 174 schreiben: „Like, dislike, love, hate, admire, and detest are the kind of words that people use to describe their attitudes".
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sich allerdings vom laienhaften Emotionsbegriff, in dem die Kognition nicht mitgedacht ist, weit entfernen. Deshalb ist es wohl vorerst am besten, wenn wir bei Darstellung und Erläuterung von Einstellungen bei der Dreiheit der Einstellungskomponenten bleiben. Fazit: Eine Einstellung ist immer durch Beschreibung jeder ihrer Komponenten darzustellen. .Xenophobie' beispielsweise wäre vielleicht zu beschreiben als die Kognition, dass uns Ausländer hierzulande schaden, und als Volition, dass es sie hierzulande nicht mehr geben solle, aber auch als Emotion: der Angst, des Hasses, der Verachtung oder auch des Neides. Hier kommt mehreres in Frage oder auch zusammen. 17 Die Einstellung ist - so resümiere ich - eine gelernte Zwischenreaktion auf etwas, die weitere Reaktionen vorbereitet und einleitet. Sie besteht aus ebenfalls gelernten Kognitionen, Emotionen sowie Volitionen in Bezug auf das, worauf sie die gelernte Zwischenreaktion ist. Nachtrag. Zum Schluss dieses Abschnitts noch ein notwendiger Hinweis: Der Begriff der .attitude'/,Einstellung' wird von heutigen Sozialpsychologinnen in der Regel sehr viel enger gefasst als von Allport. So von Eagly/Chaiken (1993, 1): „Attitude is a psychological tendency that is expressed by evaluating a particular entity with some degree of favor or disfavor." Hier wird, wie man sieht, schon gar nicht mehr versucht, zu sagen, was eine Einstellung ist, sondern nur, wie sie sich (das ist eine weitere Einschränkung) in für Psychologen relevanter Weise (nämlich nur durch „Bewertungen") ausdrückt. Hierin gehen u.a. Baum/Fisher/Singer (1985, 54) noch einen Schritt weiter, wenn sie definieren, eine attitude sei „a stable and enduring disposition to evaluate an object or entity [...] in a particular way". Für sie sind also attitudes/Einstellungen überhaupt nur Bereitschaften zu Evaluationen. So heißt es auch bereits bei Katz/Stotland (1959, 428): „An attitude can be defined as an individual's tendency or predisposition to evaluate [an] object or the symbol of that object in a certain way." Und noch weiter gehen diesen Weg zahlreiche Sozialpsychologen, wenn sie - konsequenterweise, muss man sagen - Einstellungen gleich von vornherein mit Evaluationen identifizieren: „Most social psychologists define an attitude as evaluations of people, objects, and ideas" (Aronson/Wilson/Akert 1999, 238). Hierzu einige Belege: „Attitudes are evaluative reactions to persons, objects, and events" (Schneider 1988, 179); „An attitude is an evaluative reaction - a judgement regarding one's liking or disliking - of a person, event, or other aspect of the environment" (Weber 1992, 117); „An attitude is a positive, negative, or mixed evaluation of an object" (Brehm/ Kassin/Fein 1999, 174); „Die Einstellung einer Person zu einem Objekt ist ihre (subjektive) Bewertung des Objekts" (Herkner 1983, 209). Vergleicht man das mit der klassischen Definition von Allport, so ist festzustellen, dass sich drei der Merkmale des Begriffs der .Einstellung' verändert haben: (a) die Einstellung ist hier nicht mehr die Bereitschaft (oder die Tendenz) zu einer Reaktion, sie ist jetzt diese Reaktion selbst, (b) diese Reaktion (jetzt also: die Einstellung selber) muss eine Bewertung sein; andere Reaktionen (bei Allport kam jede Reaktion in Frage) werden nicht mehr berücksichtigt, (c) die Einstellung muss nicht mehr gelernt sein, sondern jede, auch einmalige Bewertung gilt schon als Einstellung. Was darauf hinausläuft, dass .Einstellung' sozial-
Sehr zu wünschen wäre, dass man wüsste, welche Emotion es jeweils ist bzw. es hauptsächlich ist, bei unterschiedlichen sozialen Gruppen, die jeweils die gruppentypische Xenophobie prägt. Aber s o weit sind wir meines Wissens noch nicht.
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psychologisch heute einen völlig anderen Gegenstand (bzw. eine völlig andere Art von Entität) bezeichnet als bei Allport (und in unserer Alltagssprache). Diesen neuen Typus der Definition von Einstellungen könnte man vielleicht forschungspragmatisch nennen. Er bezeichnet nämlich in der Tat das, was in psychologischen Erhebungen von sogenannten .Einstellungen' in der Regel, scheint es, wirklich fest- und dargestellt wird: eben nur Bewertungen von Einstellungsobjekten. Hier ist offenbar die - wie es scheint, fast ausnahmslos geübte - Praxis definitionsleitend, wonach Einstellungen mittels Fragebögen oder Fragen erforscht werden, die nur evaluative und von vornherein in Zahlen ausgedrückte oder ausdrückbare Antworten erlauben. Dieses wiederum entspricht - so kann man weiterhin vermuten - dem in der Sozialpsychologie von heute dominanten Forschungparadigma, in dem speziell die Anwendung von statistischen Verfahren Wissenschaftlichkeit beweist und ausmacht. Daher brauchen Psychologen Zahlen. Nur mit Zahlen lässt sich j a statistisch rechnen. Daraus würde sich, sofern es zutrifft, 18 weiterhin erklären: Andere als in Zahlen ausgedrückte oder ausdrückbare Reaktionen (.Bewertungen') interessieren Sozialpsychologen beim Thema Einstellung kaum noch (wieder: falls dies zutrifft). Aber wie dem auch sei - jedenfalls ist es sehr zu begrüßen, wenn in einer Wissenschaft Begriffsbestimmungen verwendet werden, die zur jeweiligen Forschungspraxis passen. Und wenn viele Sozialpsychologen meinen und per Definition sogar selber sagen, dass sie eigentlich Bewertungen erforschen, wenn es traditionell heißt, dass sie Einstellungen erforschen, wird das wohl auch so sein. Wünschbar wäre dann vielleicht nur, dass sie in der damit bewiesenen Konsequenz noch weiter gehen und auf den Begriff .Einstellung' - der j a dann nichts anderes bedeutet als .Bewertung' - ganz verzichten.
3. Mentalitäts- als Einstellungsgeschichte Mit nur einem einzigen Gedanken will ich meinen dritten Vortragsteil bestreiten, nämlich dem Gedanken, dass es für die linguistische Mentalitätsgeschichte wohl von Vorteil wäre, wenn sie sich den Einstellungsbegriff zu Eigen machen würde. Erstens, weil sie damit Anschluss (wenn auch keinen ganz genauen) hätte an die Sprache, an den Diskurs, an das Denken der Sozialpsychologie. Das kann die Plausibilität und die Verständlichkeit der eigenen Feststellungen erhöhen. Zweitens, weil dieser Begriff die Definition des Begriffs .Mentalität' vereinfacht. Ohne den Begriff .Einstellung' muss sie etwa lauten: Eine Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte ist die Gesamtheit
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Hiermit - w i e auch mit den anderen Einschränkungsformeln dieses Nachtrags - möchte ich betonen, dass ich als Nicht-Psychologe über die von mir vermuteten Zusammenhänge keine kompetente Auskunft geben kann. Ich spekuliere also und versuche s o - so gut ich eben kann mir auf den von mir philologisch festgestellten Begriffswandel bei .Einstellung' einen Reim zu machen. In der psychologischen Literatur habe ich nämlich dazu nichts gefunden. Dort fehlt sogar (jedenfalls, muss ich hier wieder sagen, in der Literatur, die ich schon gelesen habe) jeder Hinweis darauf, dass ein Begriffswandel bei .Einstellung' stattgefunden hat, obwohl er philologisch, wie meine Zitate zeigen, nachweisbar ist. In dieser Literatur scheint vielmehr eine begriffsrealistische Einstellung zum Begriff .Einstellung' vorzuherrschen: Eine Einstellung ist eine Einstellung, egal, wie sie nun definiert wird, aber heute definieren wir sie besser als z.B. Allport.
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von Gewohnheiten bzw. Dispositionen des Denkens und des Fühlens und des Wollens oder Sollens in einer sozialen Gruppe. Bei Zuhilfenahme des Begriffs .Einstellung' lässt sich dieser Satz verkürzen zu der Formulierung: Eine Mentalität ist die Gesamtheit aller usuellen Einstellungen in einer sozialen Gruppe. Allerdings ist dabei zu beachten, dass hier der Begriff .Einstellung' in fachsprachlichpsychologischer Bedeutung erscheint. Denn in seiner alltagssprachlichen Bedeutung meint das Wort .Einstellung', scheint mir, zwar - wie der fachsprachliche Begriff - die Emotion und Volition, die ein Mensch hat bezüglich eines Einstellungsobjektes, nicht jedoch auch seine Kognition, d.h. seine Meinungen, Denkweisen, Vorstellungen, Stereotype usw. in Bezug auf dieses Objekt, die in der fachsprachlichen Bedeutung des Begriffs .Einstellung' mitgemeint ist. - Die o.a. längere Version der Definition habe ich in einem früheren Artikel ausführlich begründet (Hermanns 1995a). Etwas kürzer hätte ich schon damals alternativ sagen sollen: „Eine Mentalität ist die Gesamtheit aller usuellen Kognitionen, Emotionen, Volitionen und Obligationen in einer sozialen Gruppe." - Heute denke ich auch, dass man, j e nach mutmaßlichen Leserinnen, neben oder statt Definitionen getrost andere, besser verständliche Bedeutungsparaphrasen geben sollte. Für .Mentalität' kommt u.a. auch in Frage: „gruppengemeinsames (daher kulturelles) usuelles Wissen, Meinen, Denken, Fühlen, Wollen, Sollen, Werten".
Drittens ist fiir die Mentalitätsgeschichte der Begriff .Einstellung' auch aus dem Grund zu empfehlen, dass er es ermöglicht, ihr Ziel angemessener als bisher anzugeben. Sensu stricto wäre ja eine Mentalitätsgeschichte die Geschichte der Gesamtheit der Einstellungen einer sozialen Gruppe. Was man aber wirklich leisten kann, ist immer nur: Darstellung der Geschichte einiger Einstellungen, die jeweils interessieren. Viertens: Das Schlagwort .Mentalitätsgeschichte' scheint bereits an Abnützungserscheinungen zu leiden. Wie auch aller anderen oft gebrauchten Fahnenwörter wird man seiner sicherlich vielleicht schon eines nicht mehr fernen Tages - überdrüssig werden. Und schon heute könnte man das Wort .Mentalitätsgeschichte' als zu pretenziös empfinden. Gott sei Dank lässt es sich ohne weiteres ersetzen durch die schlichtere Bezeichnung .Einstellungsgeschichte'.19
4. Unterwegs zu einer reicheren Semantik Welchen Nutzen kann nun der Begriff .Einstellung' für die Linguistik überhaupt - d.h. auch außerhalb der linguistischen Mentalitätsgeschichte haben? Er liegt, scheint mir, insbesondere darin, dass er die Begriffe .Denken', .Fühlen', .Wollen' (oder .Kognition', .Emotion', .Volition') gewissermaßen bündelt. Er bezeichnet das als eine Einheit, was man ohne ihn als das Ergebnis Oder (denn auch hier ist zu beachten, dass .Einstellung' in der Alltagssprache eine andere Bedeutung hat als in der psychologischen Fachsprache) durch den Ausdruck ,Denk- und Einstellungsgeschichte' (oder eine ähnliche Bezeichnung).
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einer bloß ad hoc gebildeten Aufzählung betrachten könnte: eben die Triade der Einstellungskomponenten ,Denken, Fühlen, Wollen'. So verschafft er auch dem Ansatz dieser Begriffstrias eine argumentative Stütze. Insgesamt ist er mit seinen drei Begleitbegriffen dazu angetan, das allzu weite Feld des PsychischGeistigen in seiner Vielfalt etwas übersichtlicher zu machen, auf das wir ja in der Linguistik, ob wir wollen oder nicht, oft Bezug nehmen müssen, weil, was sich in Sprache ausdrückt, psychisch-geistiger Natur ist, ob Ideen und Begriffe, Wahrnehmungen und Gedanken, ob Affekte, ob Absichten oder Wünsche. Alles dieses können wir mit Hilfe des Begriffs Einstellung' sowie seiner drei Begleitbegriffe in einem Begriff zusammenfassen und - was wohl noch wichtiger ist - ordnen. Systematisch unter diesem Namen in die Linguistik eingeführt ist der Begriff .Einstellung' bisher, wenn ich richtig sehe, erst in zwei Gebieten. Eins davon ist die Spracheinstellungsforschung in der Soziolinguistik, über die ich hier nichts sage, weil ich mich da nicht auskenne. 20 Und das zweite ist die Satzsemantik, speziell der Berliner Schule (Bierwisch, Doherty, Lang, Mötsch, Pasch u.a.). Dort ist der Begriff ,Einstellung' einer der Zentralbegriffe in der Theorie der Satzbedeutung, allerdings in Einschränkung auf diejenigen Einstellungsobjekte, die bei Satzsemantikern ,Propositionen' heißen (unabhängig davon, ob sie als Gedanken (Frege) oder Sachverhalte (Wittgenstein) verstanden werden). Deshalb nennt man auch die Arten von Einstellungen, die hier ausschließlich behandelt werden, propositionale Einstellungen. Sätze haben, so lehrt diese Satzsemantik, geradezu den Zweck, dass sie Einstellungen zum Ausdruck bringen (Doherty 1987, 1: „All sentences serve to express attitudes"). Alle Sätze haben insbesondere den „kommunikativen Sinn" (Bierwisch 1979), dass sie ein (mehrfaches) Wollen zu verstehen geben und ein (ebenfalls mehrfaches) Wollen induzieren sollen (Motsch/Pasch 1987). Die propositionale Einstellung ist, wenn über die grammatische Gestalt des Satzes ausgedrückt, der Modus eines Satzes und als dieser ein Aspekt der Satzbedeutung jedes Satzes (Pasch 1990, 97); hier ist also der Begriff .Einstellung' fruchtbar gemacht sogar für die Syntax. Eine propositionale Einstellung, wie sie u.a. durch Satzadverbien angezeigt wird, kann auch affektiv sein (Lang 1983).
Ordnung stiftet hierbei die Begriffstriade ,Denken, Fühlen, Wollen', über die ich jetzt noch etwas sagen möchte. Mir selbst ist sie oft von Nutzen. Immer, wenn ich Texte oder Sätze oder Wörter zu analysieren habe, frage ich mich: Welche Einstellung kommt hier zum Ausdruck? Welches Denken? Welches Fühlen? Welches Wollen? Und das hilft mir immer wieder, Text, Satz und Wort besser zu verstehen.21 Aber nicht nur mir alleine. In der Linguistik und der Philosophie findet man die Trias manchmal in Zusammenhängen gebraucht, wo man sie nun wirklich nicht erwartet hätte.
20
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Literatur dazu ist zu finden in dem Band von Deminger u.a. 2000. - Ich bedanke mich hier bei Joachim Scharloth für ein Separatum daraus (Scharloth 2000), das zeigt, dass die Spracheinstellungsforschung auch von allgemein-mentalitätsgeschichtlichem Interesse sein kann. Zur Applikation der Begriffstrias (damals noch mit .Intention' statt .Volition') auf lexikalische Semantik, vgl. Hermanns 1995b.
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Beispielsweise unterscheidet Wierzbicka (1991, 291) zwischen emotiven („I feel something), volitiven (die zum Ausdruck bringen: „I want something"), kognitiven („I think something", „I know something") Interjektionen. Emotive Interjektionen sind pfui, ach, oh; volitive sind z.B. psst und hallo (Schweigen/Aufmerksamkeit heischend); eine kognitive Interjektion ist aha (als Ausdruck des Verstehens). - In der Sprechakttheorie verwendet (fast) dieselbe Trias Austin, wenn er in „How to Do Things with Words" (1962, 40) über „1. Feelings", „2. Thoughts", „3. Intentions" handelt als entscheidende Merkmale von vielen Sprechakten, die zwar über deren Geltung nicht entscheiden, aber doch über ihr .glückliches' Gelingen. - Lenzen (1996, 1175f.) redet von drei Arten propositionaler Einstellungen: kognitiven, emotiven und voluntativen. Er verweist dabei auf ein Buch von Ineichen, in dem ebenfalls dreierlei Einstellungen unterschieden werden: „Einstellungen des Fühlens", „Einstellungen des Wollens" und „Einstellungen des Denkens" (Ineichen 1987, 32). Von Ineichen (ebd., 105, 32) wiederum wird auf Kant (1790) und Brentano (1874) rückverwiesen. Bei Brentano (ebd., IOff.) bekommt man dann endlich eine klare und mit Nachweisen belegte Auskunft über Herkunft und Erfolg der Begriffstrias. Sie stammt aus dem 18. Jahrhundert, wo sie sich bei den Autoren Mendelssohn und Tetens findet, und verdankt ihre Bekanntheit Kant, der in seiner „Kritik der Urteilskraft" behauptet: „Denn alle Seelenvermögen, oder Fähigkeiten, können auf die drei zurück geführt werden, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust, und das Begehrungsvermögen" (Kant 1790, 13). Brentano (1874, I I ) sagt von dieser Klassifikation, sie sei „noch heute ziemlich allgemein herrschend". Ein nachträglicher Beleg dafür ist u.a. die Schrift „Vom Fühlen, Wollen und Denken" von Lipps (1902). Zuvor wurde die Begriffstriade in der deutschsprachigen Seelenkunde u.a. von Lotze und Herbart und seiner Schule, in der englischen von Hamilton und Bain und deren Schulen übernommen und verbreitet (Brentano 1874, 13ff.). Wissenschaftsgeschichtlich wohl den folgenreichsten Gebrauch der Begriffstriade haben wir im Organon-Modell von Bühler (1934). Denn so deutet treffend, wie ich finde - Kainz in seinem Buch „Psychologie der Sprache" (1941, 177) Bühlers Modell: Es entspreche „die Kundgabe dem Fühlen, der Appell (Auslösung) dem Wollen, der informierende Bericht [Darstellung] dem Erkennen und Denken". Es sei dies eine „geradezu in die Augen springende Zuordnung" der Bühlerschen Funktionen „zu den Hauptbereichen des seelischens Lebens". Demnach sagt uns auch schon Bühlers Modell, dass wir, wenn wir sprechen, dreierlei zum Ausdruck bringen - d.h. ,zeigen'; Bühlers Modell ist ja eines des sprachlichen .Zeichens' - nämlich Denken, Fühlen, Wollen. Die fast allgemeine Akzeptanz von Bühlers Organon-Modell kann einiges dazu beitragen, in der Linguistik ebenfalls das Dreier-Schema der Einstellungskomponenten gebräuchlich werden zu lassen. Auch ganz ohne Zutun des Begriffs .Einstellung' ist die Linguistik heute bereits „unterwegs zu einer reicheren Semantik" (im Vergleich zur hergebrachten), und zwar im Bereich der Text- sowohl als auch der Satz- als auch der Wortsemantik. 22 Aber vielleicht könnte sie auf diesem Wege der Begriff
22
In B e z u g auf lexikalische Semantik gebraucht Busse 2 0 0 2 den Begriff .reiche Semantik', um die neuere Semantik von der strukturalistischen abzuheben, die ja in der Tat, weil sie minima-
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.Einstellung' mit den zugehörigen Begriffen für die drei Einstellungskomponenten noch um ein Stück weiter voranbringen. Das gilt speziell für die lexikalische Semantik. Dank des Stereotyp- und Prototyp- und frame-Begriffes ist es ihr jetzt theoretisch möglich, einen Teil des Reichtums der Bedeutungen von Wörtern darzustellen. Ihren kognitiven Reichtum. Was noch fehlt, ist die Darstellung ihres emotiven sowie volitiven Reichtums, also die Beachtung der Bedeutungsdimensionen Volition und Emotion. Gerade diese beiden fehlenden Bedeutungsdimensionen sind nun aber mitgedacht in dem Begriff,Einstellung'. Weshalb man sich vom Gebräuchlichwerden des Begriffs .Einstellung' in der Linguistik den Vorteil erhoffen könnte, dass den Volitions- und Emotionsanteilen der Bedeutung in der lexikalischen Semantik künftig mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als derzeit gewöhnlich. Wenn wir, unserer gesamten (ausgenommen nur die jüngste) Tradition der diesbezüglichen Begriffsbestimmung folgend, sagen würden, die Bedeutung eines Wortes (oder Satzes oder Textes) sei das, was es zu verstehen gibt, wenn es gebraucht wird - d.h. was es zeigt, als Zeichen - könnten wir vielleicht sogar behaupten: Die Bedeutung eines Wortes ist nichts anderes als die Einstellung, die es ausdrückt. Kognition und Emotion und Volition zusammen. Aber damit eine solche Neubestimmung des Begriffs .Bedeutung' Erfolg haben könnte, müsste der Begriff .Einstellung' in der Linguistik zuerst einmal einbürgert sein. Wenn dies einmal der Fall sein sollte, wird man weitersehen.
5. „Nichts Edlers sei als Weib und Mann" Und zum Schluss, wie angekündigt, noch einmal zurück zu Mozarts Zauberflöte und zu der Sentenz: „Ein Mann muss eure Herzen leiten, / denn ohne ihn pflegt jedes Weib / aus seinem Wirkungskreis zu schreiten." Sie hat in der Zauberflöte ein besonderes Gewicht. Es singt sie ja Sarastro selbst, der weise Priesterkönig. Dessen Einstellung zu Weibern ist nicht irgendeine, sondern ist die angemessene, die richtige. Er steht mit ihr auch nicht allein. Die Königin der Nacht, Paminas Mutter, erzählt (II 8) selbst, was ihr Gemahl, der König, ihr vor seinem Tode feierlich („Weib, meine letzte Stunde ist da") als Vermächtnis aufgetragen hat: „Forsche nicht nach Wesen, die dem weiblichen Geist unbegreiflich sind. Deine Pflicht ist, dich und deine Tochter der Führung weiser Männer zu überlassen." Einmal ist keinmal, zweimal ist immer, lautet eine alte Philologenregel. Sie gilt auch für die Heuristik von Einstellungen. Sind in einem Text schon zwei Belege für dieselbe Einstellung gefunden, dann wird man wahrscheinlich auch noch andere finden. In der Zauberflöte ist ein weiterer Beleg die Rahmenhandlung dieser Oper. Sie besteht ja darin, dass die Königin der Nacht sich
listisch war, als arm beschrieben werden kann. Die neuere Semantik sollte sich den Begriff der .reichen Semantik' vielleicht als ein Fahnenwort zu Eigen machen.
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weigert, sich der Führung weiser Männer einsichtsvoll zu überlassen. Weshalb dann Sarastro ihre Tochter kidnappt. Als sie sich aus Unvernunft auch damit nicht abfindet, sondern weiter nach der Herrschaft trachtet und sogar Sarastro nach dem Leben, muss die Pflichtvergessene nachdrücklichst bestraft werden. So dass sie die Götter, Isis und Osiris, im Finale unter Blitz und Donner in die ewige Nacht stürzen. Ähnlich wird es jedem Weib ergehen, dies ist offensichtlich die Moral von der Geschichte, das der Führung weiser Männer nicht folgt. Überhaupt ist Mozarts Zauberflöte über weite Strecken eine Oper der Belehrung über die Geschlechterrollen, über den Charakter der Geschlechter. Der Männerbund der Priester, der im Reich Sarastros herrscht, ist offenbar vornehmlich eine maskuline Schutzgemeinschaft gegen weibliche Anschläge. Das sagen jedenfalls zwei Priester selbst (II 3): „Bewahret euch vor Weibertücken, / dies ist des Bundes erste Pflicht!" Schwatzhaftigkeit ist typisch weiblich und daher bei Männern weibisch. Einer der Priester meint: „Ein Weib tut wenig, plaudert viel" (I 15). Dagegen weiß ein Mann zu schweigen. Das folgt auch aus dem, was die drei Knaben zu Tamino sagen (ebd.): „Höre unsre Lehre an: / [...] / Sei standhaft, duldsam und verschwiegen. / Bedenke dies; kurz, sei ein Mann, / dann, Jüngling, wirst du männlich siegen." Was denn auch Tamino sofort überzeugend findet, denn er nimmt sich vor: „Die Weisheitslehre dieser Knaben / sei ewig mir ins Herz gegraben." So belehrt, besiegt Tamino mancherlei Gefahren. Zum Schluss Feuergluten sowie Wasserfluten, dabei steht Pamina ihm bei, unerschrocken. Deshalb wird Pamina schließlich sogar in den Männerbund der Priester aufgenommen und, obwohl ein Weib, teilhaftig der Geheimnisse der Weisheitslehren dieses Bundes. Was uns die Geharnischten erklären (II 28): „Ein Weib, das Nacht und Tod nicht scheut, / ist würdig und wird eingeweiht." Sie wird sozusagen ernannt zum Mann ehrenhalber. Aber sie, ein Weib, das Nacht und Tod nicht scheut, ist eben die Ausnahme. Geradezu ein Paradox. Dagegen ist der Todesmut bei echten Männern das Normale. Hier ist Papageno die Ausnahme. Deshalb ist er komisch. So, das war ein kleines Beispiel, eine Skizze, einer philologischen Ermittlung von Einstellungen. Ganz einfach durch Zusammentragen von einschlägigen Zitaten. Die sich hier, in meinem Beispiel, auf die Wörter ,Weib' und ,Mann' beziehen. Anhand der gegebenen Zitate ist die Einstellung zu Weibern - und damit auch die hauptsächlichen Besonderheiten der Semantik von Weib - in der Zauberflöte etwa wie folgt zu beschreiben: Kognitiv: Ein Weib ist furchtsam, schwatzhaft, tückisch. Und es pflegt aus seinem Wirkungskreis zu schreiten, wenn es nicht von einem Mann geleitet wird. Deshalb, und weil es tückisch ist, ist es gefahrlich. Emotiv: Für ein Weib empfindet man Verachtung, weil es furchtsam ist und schwatzhaft. Weil es aber auch gefährlich ist, kann der Gedanke an ein Weib auch Furcht und sogar Hass erwecken. - Es ist also wieder nicht nur eine Emotion, die sich an dieses Wort knüpft und die dieses Wort ausdrückt,
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sondern es sind mehrere mögliche Emotionen. Je nach Kontext kommt die eine oder kommt die andere zum Zuge. Volitiv: Man nehme sich als Mann in Acht vor Weibern. Jedes Weib soll sich der Führung eines Mannes unterwerfen; und ein Mann soll ein Weib führen. Stolz ist, wenn er sich bei einem Weib zeigt, zu bekämpfen und zu brechen. Soweit, scheint es, ist sie eine klare Sache, die Einstellung gegenüber Weibern in der Zauberflöte. Denn das Resultat der philologischen mentalitätsgeschichtlichen Momentaufnahme, die ich hier vorgeführt habe - dieses Resultat passt gut zu Frauenbildern, wie wir sie aus anderen Texten,23 aber auch aus eigener Erfahrung kennen. Die Klischees der Zauberflöte sind ja noch nicht ausgestorben. Das macht dieses Resultat plausibel. Eine klare Sache, aber keine runde Sache. Schon ein solcher Schnappschuss wie der vorgeführte gibt uns nämlich Rätsel auf, von denen ich zum Schluss noch zwei benennen möchte. Eins zu dem ich keine Lösung weiß, und eins, zu dem ich eine Lösung weiß, dank Allport. Mein erstes Rätsel ist ein historisches. Mozarts Zauberflöte wird uraufgeführt in Wien im Jahre 1791. Das ist nur elf Jahre nach dem Tod der Königin Maria-Theresia, die vierzig (!) Jahre lang geherrscht hat, höchst erfolgreich und allseits geliebt von ihren Untertanen wie auch von der Nachwelt, so liest man ja immer. Die zwar dem Rat kluger Männer folgte, aber nicht der Führung dieser Männer. Denn sie war die Königin, sie führte. Könnte sie die eigentlich gemeinte Königin der Nacht sein?24 Jedenfalls ist es erstaunlich, dass der Text der Zauberflöte als gewissermaßen naturwidrig denunziert, was doch in Wien nicht weniger als vierzig Jahre lang normal gewesen ist: dass eine Frau geherrscht hat. Mein zweites Rätsel ist dagegen ein textimmanentes. Die von mir beschriebene Einstellung gegenüber Weibern ist im Text der Zauberflöte nicht die einzige eindringlich dargestellte. Es gibt hier für einen Mann noch eine andere erlaubte, ja erwünschte Einstellung zu einem Weib. Das ist diejenige der Liebe. Als geliebt ist das Weib weder furchtsam noch geschwätzig noch auch tückisch, sondern es ist reiner Inbegriff des Glücks, das „ewig" währen wird, so heißt es in der Arie von Tamino (I 4). Und das noch erhöht wird durch die Kinder, die ein Paar hat: „Welche Freude wird das sein, / wenn die Götter uns bedenken, / unserer Liebe Kinder schenken" (II 29). Erst einen Knaben, dann ein Mädchen. Beide sind „der Eltern Segen". Darum ist das Lob der Liebe hier zugleich ein Lob der Ehe. Liebe lässt die Menschen in der Ehe gottgleich werden. Denn es gilt von ihr (I 14):
U.a. passt es zu den Darlegungen über Geschlechtscharaktere, die Kants „Anthropologie" zu einer Quelle für Geschlechtsklischees im späten 18. Jahrhundert machen, dazu Hermanns 1994. Wie ich jetzt weiß, ist dies bereits in der Zauberflöten-Deutung des (von Maria-Theresia verbotenen) Freimaurertums vermutet worden, in der allerdings die Zauberflöte insgesamt als Schlüsselroman interpretiert wurde: Tamino sei Joseph II., usw. Dazu Netti 1956, hier zitiert nach Csampai/Holland 1982, 186ff.
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Ihr hoher Zweck zeigt deutlich an, nichts Edlers sei als Weib und Mann. Mann und Weib und Weib und Mann reichen an die Gottheit an.
Nicht der Mann alleine, sondern Weib und Mann und Mann und Weib zusammen. Hier wird sogar in der Formulierung auf das Gleichberechtigtsein von Mann und Weib geachtet. Darin ist das Weib, wie es zuvor dargestellt wurde, nicht mehr wiederzuerkennen. Hier obwaltet eine völlig andere Einstellung. Doch das Rätsel dieses Widerspruchs ist leicht zu lösen. Menschen haben eben mancherlei Einstellungen, auch zu einer und derselben Art von Einstellungsobjekten. Manchmal auch konträre, die sich widersprechen. So sagt es ja bereits Allport.
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FELIX STEINER
„Die Maske mit dem Gesicht verwechseln":1 Autorschaftsfiguren in naturwissenschaftlichen Texten um 1800 „Der wissenschaftliche Fortschritt ist ein Bruchteil", sagt Max Weber 1919, „und zwar der wichtigste Bruchteil, jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen". 2 Nichts hat so umfassende und tiefgreifende Spuren der Veränderung in allen Bereichen der westlichen Kultur hinterlassen wie die „intellektualistische Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik". 3 Das Ergebnis dieses Prozesses bestehe, so Max Weber, nicht so sehr darin, dass man über eine profundere Kenntnis der Lebensbedingungen verfuge, unter denen man lebt. Das zentrale Resultat liege vielmehr im wirkungsmächtigen Glauben, jederzeit mehr erfahren zu können, wenn man nur wollte, und dass sich alles - im Prinzip - durch „Berechnen beherrschen" ließe. Der alltagsrelevante und vor allem auch ökonomisch springende Punkt des „wissenschaftlichen Fortschritts" ist nicht die Zunahme der Erkenntnis, sondern deren praktische Potenz. Das, was man dabei bis heute im deutschsprachigen Raum unter dem Begriff der Wissenschaft versteht, hat seinen markantesten institutionellen, intellektuellen und kommunikativen Ursprung im ausgehenden 18. Jahrhundert. Es soll hier im Folgenden darum gehen, diese Eintrittsschwelle in die Moderne, welche die Zeit um 1800 darstellt, als Hinwendung zu neuen Formen der Wissensproduktion und als damit eng verknüpften, tiefgreifenden Wandel im wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu verstehen. Wissenschaftliches Wissen ist um 1800 nicht mehr etwas, das gelehrte Autoritäten sammeln, ordnen, apodiktisch festlegen, kontrollieren und verwalten. Wissen beginnt unter dem abstrakt-hypostasierten Kollektivsingular Wissenschaft etwas Ambulantes und Mobiles zu werden, das einer permanenten Erneuerung und einer andauernden Aushandlung mittels fachlicher Diskussionen unterliegt. Das vordergründige Motiv dieser Wissenschaft ist es also nicht mehr, eine doketische
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Hamann 1951,365. Weber 1988, 593. Ebd.
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Einheit des Wissens zu schaffen, sondern den Erkenntniszuwachs voranzutreiben. 4 Wissenschaftliches Wissen wird jetzt von Autoren in methodischen Prozeduren generiert und zur gegenseitigen Beurteilung in spezialisierten wissenschaftlichen Communities unterbreitet. Wissenschaftliche Wahrheit gilt den Autoren-Kongregationen als Konstruktion, die jederzeit durch Kritik wieder verändert oder gestützt werden kann. Die Institutionalisierung solcher spezialisierter Denk- und Kommunikationskollektive 5 vollzieht sich um 1800 in der Form der modernen universitären Disziplinen. 6 Diesem Wandel hin zum institutionalisierten Spezialistentum geht die Verabschiedung der Idee voraus, ein auf Vollständigkeit angelegtes, heterogenes Wissensaggregat von überlieferten und größtenteils unhinterfragten Erkenntnissen als anzustrebendes Projekt zu erachten. 7 Der Wissenschaftsbegriff rückt im ausgehenden 18. Jahrhundert in die Nähe des Systembegriffs. „Eine jede Lehre", so weist Kant dem Wissenschaftsbegriff seine Stelle zu, „wenn sie ein System, d.i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganze der Erkenntnis sein soll, heisst Wissenschaft". 8 Die entscheidende, revolutionäre Wendung liegt darin, dass jede - und speziell jede neue - wissenschaftliche Erkenntnis rational begründet werden muss. In dieser Wendung findet auch der von Max Weber thematisierte, folgenreiche Glaube einen Anfang, dass jederzeit etwas begründet werden könne, wenn man nur wolle. Als systematische Einheit ist Wissenschaft der in sich kohärente, weil auf Prinzipien gestützte Zusammenhang wahrer Sätze, die zu einem abgeschlossenen Ganzen verbunden sind. 9 Der Gebrauch von gedruckten Texten zielt im Kontext eines aufklärerischen Wissenssystems nicht mehr vorrangig auf Speicherung, Reformulierung und Neuordnung überlieferten Wissens, sondern das Medium des Drucks dient der Erörterung und Verbreitung des sich ständig überholenden, neuen und der Kritik des überkommenen Wissens. Um es auf eine einfache Formel zu bringen: Um 1800 löst der Wissenschaftler 10 des 19. und 20. den Gelehrten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts ab. Dem Wissenschaftler ist dabei a priori der Teil der Autorität benommen, der durch Gelehrsamkeit zu Stande kommt. Um 1800 beginnen
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Luhmann 1981. Der Begriff des .Denkkollektivs' ist dem Werk von Fleck 1935/1994 entnommen, einem der bis auf den heutigen Tag wichtigsten Meilensteine in der Wissenschaftsforschung. Vgl. etwa Stichweh 1994; vgl. auch Luhmann 1994. Kant stellt den Begriff des Aggregats, der eine willkürliche Summe von Erkenntnissen darstellt, dem des Systems gegenüber. - Das Aggregat ist eine begründungsarme, offene Sammlung von Wissenselementen. Das System dagegen ist eine begründete, geschlossene Form der Wissenspräsentation. Vgl. Kant 1968a, 322. Vgl. hierzu auch Wohlgenannt 1970. Kant 1968b, 467. Vgl. zum Wissenschafts- und zum Systembegriff auch: Riedel 1979, 267-287. Hier vor allem: 279-282. Der Terminus .Wissenschaftler' ist um 1800 ein Neologismus: Campe 1811. (Signatur für „Neugebildete Wörter"!)
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Wissenschaftler ihre Reputation ausschließlich aus Leistungen abzuleiten, die in der (möglichst überzeugenden) Erörterung neuer Erkenntnisse bestehen.
Wissenschaft und Autorschaft Um wissenschaftliche Texte zu schreiben, braucht man kein Genie zu sein, wie das fur die Produktion literarischer Werke von Vorteil ist. Denn: „Im Wissenschaftlichen", sagt Kant, „ist der grösste Erfinder vom mühseligsten Nachahmer und Lehrlinge nur dem Grade nach [...] unterschieden." 11 - Selbst das, was ein so „grosser K o p f wie Newton in seinem unsterblichen Werk hervorgebracht habe, könne man lernen, weil er „alle seine Schritte, die er [...] zu tun hatte, nicht allein sich selbst, sondern jedem andern, ganz anschaulich und zur Nachfolge bestimmt vormachen könnte". 12 Bis heute hat das aufklärerische Postulat Geltung, dass wissenschaftliche Texte in einem didaktischen Sinne nachvollziehbar formuliert sein müssen. Zur „Nachfolge bestimmt" heißt auch: Die in einer Publikation vermittelten Wahrheiten sind in hohem Maße offen fur Anschlusskommunikationen. 13 Das prototypische mediale Muster in diesem Zusammenhang ist der wissenschaftliche Aufsatz. Die um 1800 neu entstehenden Disziplinen neigen auffallend zur Journalisierung, 14 das heißt zu Textsorten, welche die permanente Diskussion der Wissensbestände einer Community zulassen und gewährleisten. 15 Zur Wichtigkeit des gegenseitigen Austausche notiert der Naturwissenschaftler Goethe: „In w i s s e n s c h a f t l i c h e n
Dingen hingegen
[im Ggs.
zur literarischen
Produktion,
A n m . F . S . ] ist e s s c h o n n ü t z l i c h j e d e e i n z e l n e E r f a h r u n g , j a V e r m u t u n g ö f f e n t l i c h m i t z u t e i l e n , u n d e s ist h ö c h s t rätlich, e i n w i s s e n s c h a f t l i c h e s G e b ä u d e n i c h t e h e r aufzuführen, bis der Plan dazu und die Materialien a l l g e m e i n bekannt, beurteilt und ausgewählt sind."16
Wenn Wissenschaftler der Verpflichtung nachkommen, jede „einzelne Erfahrung, ja Vermutung öffentlich mitzuteilen", kann das in der Form eines mündlichen Vortrags oder als schriftliche Publikation geschehen: In beiden Fällen
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§ 4 7 der „Kritik der Urteilskraft": „Erläuterung und Bestätigung obiger Erklärung v o m Genie" - Kant 1963, 238. Ebd. Vgl. zur (auch filr die Linguistik) zentralen und folgenreichen Frage der Luhmann'schen Systemtheorie nach der Anschließbarkeit von Kommunikation an Kommunikation etwa Feilke 1994, 73-80. Vgl. auch Sieber 1998, 164-168; Antos 1995. Vgl. zum Begriff der .Journalisierung' Broman 1991. Vor allem im Bereich der Naturwissenschaften herrscht um 1800 im deutschsprachigen Raum eine erstaunliche Vielfalt von „Journalen" und „Archiven". U m einen Eindruck davon zu gewinnen, genügt der einfache Blick in den Zettelkatalog einer wissenschaftlichen Bibliothek. Goethe 1 8 2 3 / 1 9 8 9 , 2 9 .
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treten sie als Autoren ihrer Ideen auf. Für das moderne Wissenschaftssystem ist dieser Umstand deshalb so zentral, weil Autoren erst für die Ausdifferenzierung von neuem Wissen garantieren. Im wissenschaftlichen Alltag denkt man sich dabei den Autor als seinem Sprachwerk17 äußerlich und diesem zeitlich vorausgehend.18 Die auch in urheberschaftsrechtlichen Belangen bedeutsame Allianz zwischen diesem äußerlich-vorzeitigen Autor und seinem Werk trägt eigenartige Züge. Ein Autor ist nicht gleichzusetzen mit einer realen Person - er ist der werkhervorbringende Aspekt einer personalen Instanz.19 Wir verstehen den Autor als Erzeuger eines Werks, im Sinne einer intellektuellen Urheberschaft.20 Alle Spiegelungen dieses Erzeugers im wissenschaftlichen Werk beziehen wir umstandslos auf die Autorinstanz außerhalb. Wir denken uns die ein „wissenschaftliches Gebäude" aufführende Instanz als identisch mit der durch die Aufführung des Sprachwerks mit zum Ausdruck gebrachten Autorfigur im Text.21 Diese gedachte Identität der Autorinstanz innerhalb und derjenigen außerhalb des Sprachwerks unterliegt aber einer Augentäuschung.22 Die autorschaftliche Illusion, die jedes Sprachwerk begleitet, hat zum einen eine wichtige Ursache im Sprachgebrauch selbst, den wir uns nicht ohne eine ihn hervorbringende, personale Instanz vorstellen können. Zum andern ist die Ineinssetzung von Autorperson und Autorrolle im gedruckten Text in der wissenschaftlichen Diskurssphäre deshalb besonders unausweichlich, weil man sich Wissen schwerlich ohne einen Träger des Wissens vorstellen kann: „ A u c h W i s s e n ü b e r K r i t e r i e n u n d K o n t r o l l e n d e s W i s s e n s w i r d letztlich ü b e r d i e V o r s t e l l u n g d e s M e n s c h e n in d i e W e l t e i n g e f ü h r t ; u n d w e n n m a n es n i c h t d i r e k t a m
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Bühler 1999,51-55 und 168. Die Frage: Was ist ein Autor? hat Michel Foucault in dem einflussreichen Text von 1969 gestellt, der auf einem im gleichen Jahr am Collège de France gehaltenen Vortrag basiert: Foucault 1969/1988. Zitiert wird nach der deutschen Übersetzung, hier: 10. Dieser basale Umstand hängt zusammen mit der zeitverschobenen Eigenschaft von Schrift: „When my friend reads my letter, I may be in a entirely different frame of mind from when I wrote it. Indeed, I may very well be dead. For a text to convey its message it does not matter, whether the author is dead or alive." Ong 1985, 102. Vgl. auch Zit. in: Feilke 1988. Vgl. den Lexikoneintrag „Autor" von Kleinschmidt 1997. Den historischen Wandel in modernen Formen der Autorschaft beschreibt Bosse 1981. Vgl. auch: Woodmansee/Jaszi 1994; Jaszi 1991; Plumpe 1979. Vgl. zur Problematik des Urheberrechts auch den Artikel von Albrecht 2001 und die entsprechenden Literaturhinweise in der ZEIT. Man spricht im Zusammenhang mit einer bestimmten Lektüre auch gerne metonymisch davon, diesen oder jenen Autor zu lesen. Im Grunde rekonstruiert man in einer Lektüre aber vielmehr eine gedankliche Konstruktion, die man in ursächliche Verbindung bringt mit einer Instanz, die man als Autor bezeichnet. Jede Lektüre ist so von einer autorschaftlichen Illusion begleitet, bei welcher der Autorname den kleinsten gemeinsamen Nenner bildet. Philippe Lejeune hat im Zusammenhang mit autobiografischer Literatur diese autorschaftliche Illusion als „Vertrag" umschrieben, den der Autor dem Leser anbietet. Vgl. Lejeune 1994. (Den Hinweis auf Lejeune - und manches andere hier - verdanke ich Angelika Linke.) Vgl. zum Phänomen der Augentäuschung: von Matt 1987, 98.
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M e n s c h e n wahrnimmt, sondern z u m Beispiel in Büchern liest, haben die B ü c h e r angeblich einen Autor, Kant z u m Beispiel." 2 3
Dieses autorschaftliche Gegenüber, das sich in der Lektüre - nicht bloß angeblich - herstellt, verdankt sich, wie ich zeigen will, konstruktiven Setzungen im gedruckten Text.
Autorschaftlicher Sprachgebrauch Der basalste Hinweis auf eine autorschaftliche Instanz liegt in der Evidenz, die der Sprachgebrauch im Sprachwerk vermittelt. Es war Johann Christoph Adelung 1785, der als erster deutschsprachiger Linguist einen umfangreichen und systematischen Versuch unternommen hat, den autorschaftlichen Sprachgebrauch zum Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Sprachbeschreibung zu machen. 24 Adelung legt seiner „Lehre" zwei elementare, aufklärerische Einsichten zugrunde. Erstens: Jeder Mensch ist sowohl soziales als auch individuelles Wesen. Dass er beides ist, zeigt die „Art des Ausdruckes bey jedem einzelnen Menschen". Sie stimmt in „gewissen höhern Eigenschaften überein" - vergleichbar damit, dass „viele Menschen eine wohl geordnete Gesellschaft ausmachen können, wenn gleich ein jeder sich in der Gemüths- und Denkungsart von dem andern unterscheidet". Und genau so muss auch die „Art des Ausdruckes" „bey jedem einzelnen Menschen verschieden seyn". 25 Zweitens: Sprachverwendung geschieht in Abhängigkeit von kommunikativen, das heißt sozial gerichteten Absichten. Jeder Mensch, sagt Adelung, sei fähig, seinen unterschiedlichsten Absichten Ausdruck zu verschaffen: „Er kann belehren und unterrichten, er kann überreden und überzeugen, er kann rühren und Leidenschaften erregen, er kann die Einbildungskraft unterhalten, oder e n d l i c h auch belustigen wollen." 2 6
Dabei determinieren die kommunikativen Ziele den sprachlichen Ausdruck. 27 Jede dieser partnerorientierten Bemühungen geht dabei in eine eigene, indi23
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„Mittelalterliche Textgepflogenheiten, die das Buch selbst wie einen Autor sprechen lassen, haben den Buchdruck nicht überlebt." Luhmann 1994, 11. Vgl. hierzu auch: Corti 1999, 62. Adelung 1785/1974. Adelung 1785/1974,1, 28. Nebenbei scheint Adelungs Begriff des Sprachgebrauchs auch eines der fundamentalsten Probleme der modernen Soziologie anzusprechen und zu präfigurieren wie ist vergesellschaftete Ordnung aus (divergierenden) individuellen Interessen zu beschreiben und zu erklären? Vgl. dazu Simmel 1992b. Adelung 1785/1974,1,29. „Kommunizieren [...] heisst Mitmenschen beeinflussen, und zwar dadurch, dass man dem andern mittels Zeichen (im weitesten Sinne) zu verstehen gibt, wozu man ihn bringen möchte,
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viduell ausgeprägte Richtung. Aber - so Adelung - die kommunikativen Verläufe müssen „bey aller ihrer Mannigfaltigkeit" auch „Einheit" haben. Wir befolgen bei dem, was wir beabsichtigen, deshalb überindividuelle Muster. Nicht nur diese absichtsabhängigen, kollektiven Muster nennt Adelung „Styl", sondern auch ihre konkret vorkommenden, individuellen Prägungen, die sich auf einzelne Ausdrucksproduzenten beziehen lassen. Man kann sagen: Sowohl die Ebene des geno- als auch die des phänotypischen Ausdrucks gilt ihm als „Styl".28 In der Abkehr von der Rhetorik vollzieht Adelung einen gewichtigen wissenschaftsgeschichtlichen Sprung: Er erkennt, dass die traditionelle Rhetorik kein geschlossenes System zu bilden in der Lage ist, weil das Gemenge von Regeln zur Auffindung von Gedanken (inventici) und von Regeln zu deren Ordnung (dispositio) nie unter begrifflich stringenten Gesichtspunkten zusammenzuführen sind mit den Regeln zu ihrer Ausformulierung (elocutio). Das ideal zu denkende, rhetorische Konzept des zeitlichen Nacheinanders von zuerst Gedanken, dann Ordnung der Gedanken und dann ihrer Ausformulierung wirft Adelung über Bord zugunsten einer radikalen Konzentration auf die Elocutio}9 - Gedanken sind zu keinem Zeitpunkt ihrer Entstehung, so die zentrale Aussage von Adelung in der Einleitung, klinisch von ihrem Ausdruck zu trennen, und das bringt ihn zum Schluss, sich nicht darum zu kümmern, wie Gedanken entstehen, sondern sie vorauszusetzen, ohne dabei „Gedanken und Ausdruck einander entgegen zu setzen": „Die Lehre von dem Style setzet also die Gedanken schon voraus, denn diese sind vielmehr ein Gegenstand der Rhetorik und das Werk eigentlichen Genies. N u r hüte man sich vor dem nur zu gemeinen Irrthume, Gedanken und Ausdruck einander entgegen zu setzen; ein Irrthum, welcher nicht selten zu dem neuen Irrthume verleitet, dass man nur auf die Gedanken zu setzen habe, den Ausdruck aber vernachlässigen könne. Der Ausdruck ist mit dem Gedanken so genau verbunden, dass alles, was von dem ersten gesagt wird, eigentlich den letzten trifft." 3 0
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in der Hoffnung, dass diese Erkenntnis für den andern ein Grund sein möge, sich in der gewünschten Weise beeinflussen zu lassen." Vgl. die mit Adelungs Konzeption nah verwandte Reformulierung des sogenannten Griceschen Grundmodells durch Keller 1995, 105. Adelung hat mit „Über den deutschen Styl" eines jener klassischen linguistischen Werke geschaffen, das unbedingt wieder gelesen werden muss, weil es nach über zweihundert Jahren als unmittelbare Vorlage für vieles dasteht, was heute in veränderter Begrifflichkeit neu konzeptualisiert und reformuliert wird. - Dieses Buch ist keine Stilistik im Sinne einer Anleitung zu einem vorbildlichen Rede- und Schreibstil. Es ist vielmehr (und zwar vor allem im zweiten Band) ein früher Vorlaufer der Textsorten- und der Textmusterlinguistik. Vgl. hierzu das Bio-Bibliographische Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts: Brekle 1992, Bd. 1, 33ff. Und vgl. zur Abkehr von der Rhetorik im 19. Jahrhundert auch: Linn 1963. Adelung 1785/1974,1,26.
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Gedanken kommen nicht ohne die „Einkleidung" durch Zeichen aus. 31 Es ist deshalb auch nicht möglich, einfach Autor seiner eigenen Gedanken zu sein, wenn diese nicht in irgendeiner Form zeichenhaft sichtbar geworden sind. Was empirisch vorliegt, ist weder bloßer Gedanke, noch bloßer Ausdruck. Was vorliegt, ist immer autorschaftlicher Ausdruck von Gedanken im Sinne einer kommunikativen Beeinflussung mittels Zeichen. 32 Die in wissenschaftlichen Texten befolgten Beeinflussungsstrategien tendieren im Resultat zu einer Darstellung, die gemeinhin als unpersönliche apostrophiert wird. Aus wissenschaftlichen Texten spricht subjektunabhängige Sachlichkeit. Die linguistischen Schlagwörter zur Charakterisierung der zugrunde liegenden Formulierungspraxis lauten: „Systematische Deagentivierung", 33 „Ich-Verbot", 34 „Ich-Tabu". 35 Wissenschaft gibt sich, so kann man im Anschluss an diese gleichzeitig sprach- und wissenschaftskritischen Diagnosen von linguistischer Seite zusammenfassend sagen, sachlicher, unpersönlicher und subjektunabhängiger, als sie in Wirklichkeit ist. Zwischen den Zeilen heißt das aber auch, dass die Art und Weise, wie die autorschaftliche Instanz im wissenschaftlichen Text auftritt, veränderbaren Konventionen unterliegt. Der autorschaftliche Spielraum zwischen individueller Gestaltungsmacht und sozialer Musterbildung ist Gegenstand der folgenden Abschnitte.
Autorschaftliche Präsenz: Spielende und gespielte Person Beim Formulieren eines Textes hinterlassen wissenschaftliche Autoren eine doppelte Spur. 36 Diese Doppelung entspricht tendenziell der Adelungschen vom sozialen und dem individuellen Wesen: Das soziale Wesen der autorschaftlichen Instanz ist gekoppelt an die Beeinflussungsziele - es ist die Autorrolle des Wissenschaftlers, Erkenntnisgewinn im Sinne einer wissenschaftlichen Wahrheit zu vermitteln. Das soziale Wesen geht tendenziell aus der Einhaltung von Textgepflogenheiten hervor. Der Eindruck eines individuellen Wesens dagegen entsteht vielmehr aus Abweichungen von gegebenen Mustern: Zum Beispiel überfliegen wir ein Inhaltsverzeichnis und stellen dabei eine übertrieben starke Kapitel-Hierarchie fest. Oder wir sind bei der Lektüre eines Textes irritiert über eine hohe Frequenz von mit „aber" eingeleiteten
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Johann Georg Hamann spricht in diesem Zusammenhang von einer „Erniedrigung ftlr unsere Gedanken, dass sie nicht anders sichtbar gleichsam werden können, als in der groben Einkleidung willkürlicher Zeichen." Hamann 1955, 393f. Zit. in: Wetzel 1996, 21. Vgl. Keller 1995, 105. von Polenz 1981. Weinrich 1989. Kretzenbacher 1994. Vgl. zum Begriff der ,Spur' in diesem Zusammenhang den Aufsatz von Sapir 1926/1927.
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Sätzen. Aus solchen Hinweisen generalisieren wir häufig Bilder von Autoren. Wir inferieren bestimmte Ideologien und Denkstile. Sowohl die soziale als auch die individuelle autorschaftliche Auftrittsform ist in Bedeutungen des lateinischen Wortes Persona enthalten.37 Aufgrund der vorhandenen Quellentexte wird als ursprüngliche Bedeutung von Persona die im antiken Schauspiel getragene Maske angenommen. Dabei wird das Wort einerseits auf die gespielte Rolle bezogen und heißt dann so etwas wie „Charakter" oder „Person". Andererseits wird das Wort auch auf den Träger der Maske bezogen und heißt dann so etwas wie „Schauspieler".38 Führt man sich die Maske in ihrem metaphorischen Gehalt vor Augen, so kann das, was aus ihr „herausklingt", sowohl der spielenden Person als auch der gespielten zugerechnet werden.39 Im angloamerikanischen Sprachraum war Charles Bazerman einer der ersten Linguisten, der sich in der Bezugnahme auf das relativ unscharfe rhetorische Konzept der Persona ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt hat, wie autorschaftliche Präsenz im wissenschaftlichen Text beschaffen sei.40 Er geht davon aus, dass es in naturwissenschaftlichen Aufsätzen vor allem um die Anstrengungen von Autoren geht, Ergebnisse so zu präsentieren, dass sie in einen zum gegebenen Zeitpunkt gängigen thematischen und methodischen Rahmen passen. Dazu müssen Autoren die Probleme, die Ideale und Argumente ihres Feldes in einer Art und Weise kennen, dass ihre eigene Leistung als innovativ erscheint.41 Im Anschluss an Bazerman hat der Amerikaner Greg Myers in „Writing Biology" die Wichtigkeit der Konstruktion einer autorschaftlichen Persona im akademischen Text noch deutlicher betont und differenziert.42 Greg Myers weist nach, dass die Art und Weise, wie die Persona selbst konstruiert wird, entscheidend ist fur den Erfolg oder Misserfolg eines Textes innerhalb eines disziplinaren Gefiiges. Im Folgenden soll ein Beschreibungsmodell für die Autorfigur skizziert werden, das anschließend auf einen als exemplarisch aufgefassten wissenschaftlichen Text angewendet wird. Zentral ist dabei, dass die Relation zwischen Autorfigur und Autor als eine Zeichenrelation verstanden wird.43 Das
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Vgl. für das Nachfolgende die ausgezeichnete wortgeschichtliche Arbeit von Rheinfelder 1928. Vgl. ebd., 6-17. Die Idee, „Persona" komme von „personare" = hindurchklingen, entspricht einer sehr frühen Pseudoetymologie, die allerdings auch gestützt wird durch eine präsupponierte technische Komponente der Maske: Sie soll so beschaffen sein, dass sie die vom Schauspieler produzierten Klänge verstärke. Vgl. ebd., 18-26. Bazerman 1988 und 1981. Bazerman 1983, 161. Myers 1990. Karin Wenz geht in ihrer Arbeit zur sprachlichen Raumrepräsentation davon aus, dass die Beziehung zwischen einer sprachlichen Raumbeschreibung und dem beschriebenen Raum eine Zeichenrelation sei, der beschriebene Raum das Referenzobjekt dieser Zeichenrelation. In Analogie zu dieser Annahme gehe ich hier davon aus, dass Autor und Autorfigur einer
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Modell orientiert sich an der klassischen semiotischen Terminologie, die auf Charles Sanders Peirce zurückgeht. 44 Wenn ich dabei von einer symbolischen, einer ikonischen und einer indexikalischen Autorfigur spreche, sind damit Teilkomplexe einer Konstruktion im Text angesprochen, die in der Lektüre synästhetisch ineinandergreifen. Ich verstehe diese triadische Aspektualisierung als Hilfskonstruktion, um verschiedene Phänomenkomplexe der Autorschaftskonstruktion deskriptiv auseinanderzuhalten.
Symbolische Autorfigur Man kann sich die symbolische Autorfigur vorstellen wie einen Lexikoneintrag unter dem Automamen. Wenn es einen Textteil gibt, der dieser Figur den deutlichsten Ausdruck verleiht, dann die sogenannten Paratexte, also Vorwörter, Danksagungen und die - wenn auch im wissenschaftlichen Kontext seltenen - Klappentexte. Die Zuordnung der Autor-Biografie zu einem Werk und einem Autornamen ist eine dem konkreten Einzeltext vorauseilende, apriorische Konstruktion. Wir ordnen unsere Lektüre wissenschaftlicher Texte in einem konventionellen, arbiträren Akt einer Art autorbiografischen Illusion zu, die unter dem Autornamen ihre größtmögliche Reduktion erfährt. 45 Der symbolische Bemächtigungsakt über ein bestimmtes Thema, die Herrschaft über ein Thema, die von der symbolischen Autorfigur beansprucht wird, bleibt im Grunde immer auf die Zustimmung der Community angewiesen. Um diese Zustimmung immer und immer wieder einzuholen, ist das Verweissystem in wissenschaftlichen Texten rigoros an Namen orientiert. Die deiktischen Koordinaten des Ich-hier-Jetzt bilden zusammen mit dem Autornamen ein Referenzsystem, das in einem thematischen Gebiet die Fähnchen des autorschaftlichen Gebietsanspruchs aussteckt. Dabei wird auch häufig eine spezielle Ritualisierung dieser symbolischen Autorfigur gepflegt: die Rhetorik des wissenschaftlichen Meinungsstreits. Diese Rhetorik verweist in ihrem Bemühen um die Vorherrschaft über bestimmte thematische Territorien auf die soziale Wirklichkeit hinter dem Text, die Wirklichkeit der Community und den kompetitiven Aspekt wissenschaftlicher Leistungen. Der Konflikt, den eine symbolische Autorfigur im Text auszufechten scheint, hat im Bezug auf das Denkkollektiv nicht in erster Linie die Funktion, die Drift der Meinungen als solche darzustellen, vielmehr verschafft dieses symbolische Gerangel überhaupt erst eine Manifestation der Auseinandersetzung und damit der Her-
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vergleichbaren und ähnlich beschreibbaren Zeichenrelation entsprechen. Vgl. Wenz 1997, hier vor allem 26-56. Peirce I 9 9 3 \ 64-67. Vgl. Bourdieu 1998,75-83.
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Stellung und Aufrechterhaltung einer übergreifenden sozialen Einheit in der Form eines wissenschaftlichen Kollektivs.46
Ikonische Autorfigur Die ikonische Autorfigur setzt sich aus weniger scharf zu limitierenden Eindrücken zusammen als die symbolische. Die Übergänge zwischen diesen beiden Figuren sind fließend. Ich verstehe unter ikonischer Autorfigur alle Bemühungen im wissenschaftlichen Text, die - bewusst oder intuitiv - ein Abbild einer Autorinstanz verwirklichen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sieht man in der Regel nicht bei der Arbeit. Ein wesentlicher Teil ihrer Leistungen geschieht als reflexive Prozesse unsichtbar. Gedruckte Texte sind in allen Disziplinen eine der zentralen medialen Möglichkeiten sich sichtbar zu machen. Ganz allgemein kann man sagen, dass wissenschaftliche Texte nicht einfach nur Erkenntnisgewinn formulieren. Seit Newton und dem Beginn der modernen Wissenschaften ist es, wie weiter oben bereits angedeutet, die Aufgabe des gedruckten Textes, die Teilschritte, die zu einem Ergebnis führen, mit abzubilden. Das Gebot der Nachvollziehbarkeit bewirkt, dass wir uns, wenn wir wissenschaftliche Texte lesen, das Abbild eines methodischen Verhaltens vor Augen führen. In der Reduktion dieser Verhaltenseinzelheiten, die wir beim Lesen mitbekommen, ergeben sich Bilder einer Autorfigur: Der eine Autor erscheint uns als der perfekte Akribiker, weil er die kleinsten Teilschritte mitteilt, ein anderer eher als Zauberer, weil er auf wundersame Weise auf Ergebnisse stößt, ein dritter erscheint uns als Enigmatiker, weil er sich opak äußert.47 Die Manifestation dieser ikonischen Figur beruht weniger als die symbolische Figur auf einer nach außen projizierten, autorschaftlichen Illusion eines realistisch zu denkenden Autors im Sinne der weiter oben angesprochenen intellektuellen Urheberschaft, es geht vielmehr um ein aus dem sprachlich vermittelten Verhaltensbild abgeleitetes Charakterbild der autorschaftlichen Instanz.
Indexikalische Autorfigur Die Grenzen zwischen ikonischer und indexikalischer Autorschaft sind wiederum fließend. Mit indexikalischer Autorfigur ist folgender Aspekt der
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Vgl. zu dieser „positiven Rolle" des Streits: Simmel 1992a. Die US-amerikanische Wissenschaftsforscherin Marcel LaFollette unterscheidet bei ihrer Untersuchung von Zeitschriften vier grundlegende Stereotypen des Wissenschaftler-Bildes: der Zauberer, der Experte, der Schöpfer/Zerstörer, der Held. Vgl. LaFollette 1990. Vgl. hierzu auch: Felt/Nowotny/Taschwer 1995, 2 5 3 - 2 6 1 .
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Konstruktion angesprochen: In wissenschaftlichen Texten sind Hinweise auf den Autor eingelassen, die zu diesem in einem Kontiguitätsverhältnis stehen. Unsicherheitsmarkierungen48 zum Beispiel lassen uns eine Haltung inferieren, die wir mit der autorschaftlichen Instanz in Zusammenhang bringen. Diese Ebene der Markierung basiert häufig auf einer Art Doppelung der sprechenden Instanz und weist damit der (selbst-)reflexiven Funktion des Sprachgebrauchs im wissenschaftlichen Kontext ihren fundamental wichtigen Ort zu: Die eine Teilinstanz traut dem, was sie sieht und im Aussprechen festgehalten hat, die andere Teilinstanz ,traut ihren Augen nicht' und bringt neue Hypothesen ins Spiel. Dieser spiralförmig fortsetzbare Vorgang der Selbstverunsicherung und der damit einhergehenden Widerlegung einer immer wieder von neuem als intuitiv demaskierten Erkenntnis, gehört zur Conditio sine qua non eines mittels kritischen Bewusstseins ausdifferenzierten Erkenntnisgewinns. Der individuelle, autorschaftliche Denkapparat spielt dabei gewissermaßen die Rollen von mehreren Teilinstanzen durch. Der dialektische Antagonismus zwischen Einspruch und Reformulierung fuhrt nicht nur im Dialog der am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmenden Autoren einer Community zum Zuwachs von Wissen, sondern die im Medium der Sprache angelegte Möglichkeit der Selbstdistanzierung erlaubt einen Erkenntniszuwachs auch auf der Ebene der autorschaftlichen Selbstwiderlegung. Diese Denkvorgänge, die sich empirisch am deutlichsten in der Form von metadiskursiven Markierungen manifestieren, stehen insgesamt zur denkhandelnden Instanz in einer Kontiguitätsrelation. Die drei skizzierten Autorschaftsfiguren sind als Stufen ein und derselben Gesamtinszenierung einer autorschaftlichen Instanz im wissenschaftlichen Text zu verstehen. Im Folgenden werden die besprochenen Inszenierungsstufen an einem naturwissenschaftlichen Text von 1807 exemplifiziert. Vordergründig wird dabei auch ein historisches Interesse fokussiert, in Form der Frage nämlich, wie in dieser Anfangsphase der wissenschaftlichen Textgepflogenheiten Textmuster gefunden werden, die in der Textsortengeschichte Vorbildcharakter haben und so als Prototypen des wissenschaftlichen Schreibens fungieren. Hintergründig zielen die Überlegungen auf den überzeitlichen und neuralgischen Umstand, dass die Art und Weise des autorschaftlichen Auftritts die Erscheinung des Textes entscheidend prägt. Die Texte um 1800 wirken gemessen an heutigen Textgepflogenheiten ungewöhnlich unmittelbar. Sie kennen kein Ich-Tabu. Weil hier die Textsorte gewissermaßen in ihrem ungeschliffenen Zustand zu beobachten ist, zeigt sie sich als besonders deutliche Vorlage unserer eigenen Textpraxis. Der zu besprechende Aufsatz ist im „Archiv für die Physiologie" erschienen. Dieses „Archiv" ist eine der ersten - nach englischem Vorbild begründeten - naturwissenschaftlichen Zeitschriften im deutschsprachigen 48
Vgl. hierzu: Crismore 1990, 1 1 8 - 1 3 6 . Vgl. auch: Barton 1993, 745-769.
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Raum. Der Titel des Aufsatzes - „Beyträge zur nähern Kenntniss des Speisesaftes und dessen Bereitung"49 - deutet schon an, dass der Autor nicht abschließende Wahrheiten über den „Speisesaft" festhält, sondern lediglich zu dessen genaueren Kenntnis beitragen will. Der Autor dieses Textes ist ein unbedeutender Wissenschaftler, eine Art autorschaftlicher Normalfall. Er heißt August Gottfried Ferdinand Emmert. In dem Aufsatz geht es um Experimente, die Emmert am Chylus (= „Speisesaft") von Pferden vorgenommen hat, um dessen Zusammensetzung zu erforschen. Der Aufsatz besteht aus drei Teilen: Einer Vorrede, einem Teil, der die Experimente schildert, und einem Teiltext, der Folgerungen und Ergebnisse präsentiert. Jeder dieser Teiltexte verfolgt ein eigenes Teil-Textsortenmuster, vor allem, was die Inszenierung der Autorschaft angeht.
Die symbolische Autorfigur der Vorrede Die Vorrede hat die Funktion eines Textes außerhalb, eines Metatextes.50 Sie ist narrativ strukturiert und erzählt die Entstehungsgeschichte des nachfolgenden Textes. Sie leitet ein ins Thema und beglaubigt die Sinnhaftigkeit der Unternehmung. In diesem Teiltext wird vor allem auf die mit dem Autornamen verbundene biografische Konstruktion - die symbolische Autorfigur - abgehoben. Im vorliegenden Textbeispiel rekurriert diese auf Texte, die dem vorliegenden Text vorausgehen. Im ersten Satz wird das angesprochen: „Schon vor einigen Jahren habe ich mit dem Herrn Doktor Reuss, gegenwärtig Professor der Chemie zu Moskau, wiederholte Untersuchungen über die, in dem System der einsaugenden Gefösse der Pferde enthaltene Flüssigkeit angestellt, und sie öffentlich bekannt gemacht."51 Die symbolische Autorfigur, das „ich" des ersten Satzes, ist hier über einen biografischen Verweis konstruiert. Wenn man sich den zeitgenössischen Rezipienten als ein Mitglied der Community vorstellt, muss man annehmen, dass sie Emmert und Reuss kennen. Zur symbolischen Autorfigur gehört dieses Wissen um die Person, das wir uns ergänzend aneignen, wenn wir in der „Allgemeinen Deutschen Biographie" über Emmert nachlesen, dass er 1772 geboren und 1819 „in der Folge chronischer Vergiftung durch an sich selbst angestellte toxicologische Versuche"52 gestorben sei. Zur Illustration dessen,
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Emmert 1807/1808. Vgl. hierzu die Reflexionen zu Hegels Vorrede zur „Phänomenologie" von Derrida 1995. Emmert 1807/1808, 145. Vgl. den Eintrag in der „Allgemeinen Deutschen Biographie": Burckhardt 1877, 88-99.
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was es heißt, wenn sich eine .symbolische Instanz' eines Themengebiets bemächtigt, hier folgende an obiges Zitat anschließende Textstelle: „Zugleich bemerke ich hier, dass ich in Zukunft die Untersuchungen über diesen Gegenstand fortsetzen werde, wozu mir die Anstellung meines Bruders als Professor der Thier-Arzneykunde an der hiesigen Akademie die beste Gelegenheit giebt." 53
Der Bruder fungiert, wie man aus dem Text erfährt, als Lieferant der Versuchstiere und als Assistent bei den Experimenten. Die Unmittelbarkeit, welche durch die Schilderung der persönlichen Verhältnisse produziert wird, scheint aus der zeitlichen Distanz wohl jenes Element, das uns am meisten fremd geworden ist. Der wissenschaftliche Aufsatz gleicht um 1800 noch sehr einer andern Textsorte, die im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert allmählich verschwindet: dem Wissenschaftlichen Brief. Die Vorrede beschwört damit im Grunde die Augentäuschung, die ich eingangs erwähnt habe, die Augentäuschung eines authentischen Autors, der mit seiner Spiegelung im Text identisch gedacht werden soll.
Die ikonische Autorfigur im Experiment-Teil Auf diese nach außen projizierte, symbolische Figur der Vorrede wird im zweiten Textteil, in dem Teil, in welchem Emmert die Experimente schildert, referiert, wenn nun eine Art Ich-Erzähler die experimentellen Abläufe schildert. Dieser Textteil ist wiederum narrativ strukturiert. Er erzählt in chronologischer Reihung und äußerst detailliert von jedem Handgriff und jeder noch so kleinen Beobachtung, die Emmert bei seinen Experimenten gemacht hat. Alle Beobachtungen sind durch die Brille des Ich-Erzählers geschildert, den man als den Emmert aus der Vorrede schon kennt. Durch diese minutiösen Schilderungen im Experimentalteil wird der Rezipient zum Zeugen des Geschehens gemacht. 54 Unsere Abwesenheit bei den Experimenten wird kompensiert durch eine Schilderungspraxis, die Anwesenheit suggeriert oder, wie Emmert in der Vorrede sagt, die jedem „Sachkundigen" ein „Prüfungsmittel" der „Wahrheit und Genauigkeit" 55 zur Hand geben soll. Das Druckmedium verschafft der Wissenschaft eine prinzipiell unabsehbare „virtuelle Zeugenschaft" 5 6 durch die Lektüre. Den Text dabei als „Prüfungsmittel" zu verstehen heißt: Ich muss diese Experimente, so wie sie geschildert sind, auch wiederholen können. Ich zitiere den ersten Satz des Experimentalteils: " 54 55 56
Emmert 1807/1808, 148. Vgl. hierzu Shapin 1984. Emmert 1807/1808, 148. Vgl. Shapin 1984, 490f.
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Felix Steiner „Das Pferd, dessen Speisesaft ich untersuchte, war ziemlich alt und litt seit einiger Zeit an der Rotz-Krankheit. Es wurde vier und zwanzig Stunden vor seinem Tode einige Male stark gefüttert und erhielt viermal, jedesmal einen Bolus aus zwey Quentchen Weidenrinde-Extract und eben so viel Galläpfel-Pulver. Durch einen Stich in die großen Gefäße der Brust wurde es getödtet [...]." 5 7
Wissenschaft - davon geht dieser Experimentteil aus - ist zuerst einmal einfach Beobachtung, in deren Zentrum die Autorfigur ,Emmert' steht: „Ich untersuchte das Pferd", „mein Bruder [...] machte [...] einen Einschnitt"; „wir öffneten einige kleine Milchgefasse"; „leider haben wir dabei vergessen" usw. Diese Figur ist für alle Beobachtungshandlungen verantwortlich, auch dann, wenn sie nicht explizit genannt wird: „diese Substanz fühlte sich etwas klebrig an" oder: „der Geschmack war salzig". Das Bild, das dabei von ,Emmert' entsteht, ist das eines „eifrigen und ingeniösen Experimentators". 58
Die indexikalische Autorfigur im Ergebnis-Teil Der dritte, nach seiner vorherrschenden Illokution abgrenzbare Textteil erörtert Ergebnisse. Er ist nicht wie die Vorrede und der Experimentteil narrativ strukturiert und er verzichtet auf eine explizit markierte Autorfigur, wie wir sie in der Vorrede und im Experimentteil gesehen haben. Er folgt einer explikativen Struktur. Dieser Textteil hat die Funktion, neues Wissen als solches festzuhalten. Dieses Wissen wird so dargestellt, dass es unabhängig von einer hervorbringenden Instanz erscheint, der neutrale Erörterungsstil in diesem Textteil kommt dem, was man bis heute als wissenschaftlichen Stil bezeichnet, am nächsten. Es sei hier wiederum der erste Satz dieses Teils zitiert: „Aus den angeführten Beobachtungen ergiebt sich folgendes Resultat über die Zusammensetzung und Entstehung des Chylus: I. Der Speisesaft ist eine dem Blute ähnliche Flüssigkeit. Denn: [darauf folgen 10 Seiten Begründung, Anm. F.S.]." 59
Auf den ersten Blick scheint hier keine personale Autorfigur mehr verantwortlich zu sein für das beigebrachte Wissen. Das Wissen scheint selbst zu sprechen. Die Erörterung gleicht bis zu dem Punkt einer unpersönlichen Enunziation 60 - bis dahin, wo Unsicherheit ins Spiel kommt. Das klingt im Textbeispiel so:
57 58 59 ω
Emmert 1807/1808, 148. Vgl. den Eintrag in der „Allgemeinen Deutschen Biographie": Burckhard 1877, 88-89. Emmert 1807/1808, 162. Ich entlehne den Begriff der .unpersönlichen Enunziation' bei Metz 1997.
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„Kurz die organische Bindung [ . . . ] nimmt auf dem Wege aus dem Darmkanal [ . . . ] immer mehr zu. Ueber dieselbe hinaus schien sie [die organische Bindung] nach den Phänomenen, welche der Chylus c. darboth, wieder abzunehmen, weil dieser an der Luft nicht so stark roth wurde, wie der Chylus a. und b. [ . . . ] wahrscheinlich war dieses aber bloss scheinbar". 61
Die indexikalische Autorfigur beruht wie gesagt auf einer Doppelung der reflexiven Instanzen: Die eine beobachtet einen Sachverhalt und liefert eine erste Interpretation, die zweite traut diesem ersten Eindruck nicht und stellt alternative Vermutungen auf. Diese Vermutungen, die aus dem Reflexionsprozess hervorgehen, der in weiten Teilen identisch ist mit dem Schreibprozess, erfordern neue Beobachtungen, neue Experimente. Auf diese weiteren Experimente weist zuerst eine Fußnote hin, die einen paradoxen Umstand benennt: „ B e y den öftern Untersuchungen, die ich seit Abfassung dieses Aufsatzes über die Zusammensetzung des Chylus angestellt habe, bemerkte ich nur einmal Spuren von Oehl darin." 62
Die neuen Experimente werden also dem „eigentlichen Text" als nachzeitig beschrieben. Erst dadurch, dass die Ergebnisse in schriftlicher Form festgehalten und damit aus einer eigenartigen Distanz betrachtet werden können, sind sie einer Revision zu unterziehen. Dabei kommt auch die Autorfigur des Experimentalteils wieder zum Vorschein und die Textteile kreuzen sich in einer Art Antagonismus: Experiment-Ergebnis-Experiment-Ergebnis. Damit wird eine der fundamentalsten Eigenschaften des wissenschaftlichen Textmediums mitthematisiert: Die Möglichkeit der Verunsicherung einer einmal festgehaltenen wissenschaftlichen Tatsache. Jeder der drei Textteile konstruiert eine eigene Autorfigur. Die Vorrede rekurriert vor allem auf die symbolische Instanz außerhalb des Textes. Der Experimentteil schließt an diese Figur an und baut mit einem detailreichen Bild des Forschers-in-Aktion darauf auf. Der dritte Textteil ist neutrale Enunziation. Vor allem aus den Unsicherheitsmarkierungen lässt sich eine indexikalische Figur ableiten. Die Zusammenschau dieser drei Figuren ergibt die GesamtAutorschaftsinszenierung im Text. So wie die Teiltexte zusammen ein funktionales Ganzes bilden, ergeben die drei Autorfiguren zusammen die autorschaftliche Instanz im Text. Ein Verständnis der Funktionalität wissenschaftlicher Texte muss sich über Teiltexte herstellen. Eine fundamentale Lektion der Textlinguistik besagt, dass jeder Text einer bestimmten Textsorte zugeordnet werden kann. Damit sind vor allem zwei Umstände angesprochen: Zum einen, dass wir - bewusst oder intuitiv - bestimmten Situationen gemäße Kommu61 42
Emmert 1807/1808, 177. Emmert 1807/1808, 171.
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nikationsmuster befolgen. Das heißt vor allem auch, dass wir die Autorfiguren, die wir konstruieren, situativen Gegebenheiten anpassen. Jedem solchen Muster liegt unsere Kompetenz zugrunde, uns auch auf neue mediale Situationen einzustellen und uns einer Textsorte gemäss zu inszenieren. Zweitens spricht der Textsortenbegriff auch den Umstand an, dass wir schon bestehende Traditionen der Textgestaltung - bewusst oder intuitv - imitieren. Die Imitation bestimmter Darstellungsformen ist auch und vor allem die Imitation von Autorfiguren. Die Autorschaftsinszierungen um 1800 entsprechen einem stark individuell empfundenen Legitimationsdruck. Die Geschichte der wissenschaftlichen Textsorten ist in der Folge vor allem durch zwei Umstände geprägt: Mit einem teilweisen Nachlassen des Legitimationsdrucks aufgrund der Festigung der wissenschaftlichen Institutionen und der gesellschaftlichen Konsolidierung wissenschaftlicher Professionen schwinden auch die Explizitheit, die Unmittelbarkeit und das individuelle Gesicht der Inszenierung in den Texten. Zum andern bewirkt die textsortenmäßige Imitation der Autorfiguren, das heißt die kontinuierliche Imitation wissenschaftlicher Textmuster, die um 1800 ihren Anfang nehmen, eine große Konstanz der Darstellungsmuster. Die Dreiteilung der Autorfigur, wie ich sie vorgeschlagen habe, hilft, den Blick zu schärfen auf beides: Kontinuität und Wandel der wissenschaftlichen Darstellungsmuster.
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EVELYN ZIEGLER
Die Band-Metapher im nationalsprachlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts 1. Einleitung Die folgenden Ausführungen gelten dem Nationalsprachendiskurs in Deutschland im 19. Jahrhundert. Die Rekonstruktion dieses Diskurses, d.h. die Analyse der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Idee der Nation und der Nationalsprache, ist in den letzten Jahren mehr und mehr zum Thema sprachhistorischer Forschung geworden, wie die Bände „Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen" (Gardt/Mattheier/Reichmann 1995), „Sprache und bürgerliche Nation" (Cherubim/Grosse/Mattheier 1998) sowie „Nation und Sprache" (Gardt 2000) zeigen. Von zentralem Interesse ist dabei die Entstehung bzw. „Erfindung" der Nationalsprachenideologie (Hobsbawm 1998), ihre geschichtliche und sprachgeschichtliche Wirksamkeit. Es werden die Bewusstseinsstrukturen, d.h. die kognitiven und emotionalen Facetten aufgedeckt, die zur Ausbildung dieser Zielvorstellung beigetragen haben. So lässt sich der soziokulturelle Rahmen abstecken, innerhalb dessen die faktische Entwicklung des Deutschen als Nationalsprache zu interpretieren ist.1 Sichtet man die Forschungsliteratur zu diesem Themenkomplex, dann fallen vor allen Dingen zwei Perspektivierungen auf. Zum einen ein Zugriff, der als metasprachlicher Ansatz bezeichnet werden kann und all die zeitgenössischen Aussagen sammelt und klassifiziert, die sich offen oder verdeckt, wissenschaftlich fundiert oder alltagsweltlich orientiert, mit dem Verhältnis von Sprache und Nation, Sprache und Volk befassen. Dabei geht es im Wesentlichen darum, die Entwicklung der deutschen Sprache als Nationalsprache und ihre Rolle im Prozess der Nationalisierung und Nationwerdung auf der Basis metasprachlicher, d.h. sprachthematisierender Einstellungen und Vorstellungen zu skizzieren. Ziel der Analysen ist es, die je spezifischen Sinnzusammenhänge, Begründungsstrukturen und Bewertungsmuster einer solchen nationalsprachlichen Wunschvorstellung herauszuarbeiten und als Bausteine einer Sprachbewusstseinsgeschichte in die neuere Sprachgeschichte des Deutschen einzuordnen. Diesem Ansatz folgen unter anderem die Arbeiten von Stevenson 1993, Strassner 1995, Ziegler 1999 und Gardt 2000.
Vgl. dazu ausführlicher Reichmann 1998.
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Der zweite Zugriff ist begriffsgeschichtlich motiviert und untersucht die oben genannten Beschreibungsgrößen sowie die angrenzenden Komposita Muttersprache', .Vaterland' und ,Sprachnation' mit den Methoden der sozialhistorischen Semantik. Die sozialhistorische Semantik, d.h. historisch-kritische Begriffsgeschichte stellt die Worteinheit in den Mittelpunkt. Mit Blick auf den soziohistorischen Zusammenhang sucht sie die jeweiligen Bedeutungen bzw. Bedeutungsmomente und -stränge zu erfassen und unter dem Aspekt von Kontinuität und Wandel zu beschreiben (vgl. Brunner/Conze/Koselleck 1972ff). Eine weitere Spielart semantischer Analyse bildet die Diskurssemantik. Auch sie nutzt die Möglichkeiten der Wort- und Begriffsgeschichte (vgl. Busse/Teubert 1994), allerdings mit stärkerer Akzentuierung des Verwendungskontextes, der Argumentations- und Konnotationsstrukturen, Gegenbegriffe und semantischen Querverbindungen, d.h. der Begriffsgefuge. Ihr Anspruch besteht darin, die einzelnen Belege in ihrem Gedankenzusammenhang zu beschreiben und so die gesellschaftlichen Erfahrungen, die über die untersuchten Äußerungen in die Texte eingeschrieben sind, zu erfassen. Die hier nur kurz angedeuteten Forschungsrichtungen sind nicht alternativ zu verstehen. Sie ergänzen sich vielmehr und liefern wichtige Hinweise in Bezug auf die Prozessualität und Qualität des Nationalsprachendiskurses in Deutschland im 19. Jahrhundert. Sie geben insgesamt einen Einblick in die Sprachbewusstseinsgeschichte und bilden damit eine Ergänzung zur Sprachsystemgeschichte. Auch die Metapherngeschichte stellt so eine Ergänzung dar. Sie ist Teil der Sprachbewusstseinsgeschichte, und zwar insofern, als sie solche Metaphern betrachtet, die im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Thematisierung von Sprache und Sprechen eine Rolle spielen. Sie fragt danach, welche Bereiche metasprachlichen Denkens bildhaft umgesetzt werden, welche Formen der Konzeptualisierung zu beobachten sind und inwiefern diese neue Aspekte der Erfahrung und Orientierung transportieren. Einzelmetaphern wie Metaphernfelder sind Gegenstand der Untersuchung, um das Metaphernrepertoire aufzudecken, über das eine Sprachgemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt oder über einen bestimmten Zeitraum verfugt. Dabei geht es um synchrone wie diachrone Aspekte, Kontinuitäten und Diskontinuitäten. So entsteht eine Geschichte des metaphorisch gebundenen Denkens über Sprache, Sprachgebrauch und Sprachentwicklung. Die Metapherngeschichte auf diese Art und Weise in die Sprachgeschichte zu integrieren, heißt die Metapher nicht nur als ein rhetorisches oder lexikalisches Phänomen zu betrachten, sondern auch ihre kognitive und soziokulturelle Funktion zu berücksichtigen. Ein solcher Metaphernzugang kann für die Sprachbewusstseinsforschung in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung sein: (1)Mit der Metaphernanalyse wird eine wesentliche Form der Konzeptualisierung gesellschaftlichen Denkens erfasst. (2) In den Metaphern werden metasprachliche Vorstellungen organisiert, und zwar derart, dass einige Details hervorgehoben, andere dagegen ausgeblendet werden. Diese Form der Akzentuierung und Ausblendung lässt
Die Band-Metapher im nationalsprachlichen Diskurs
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gesellschaftlich relevante Konnotationen durchscheinen und gibt Hinweise auf gesellschaftlich unerwünschte Assoziationen. (3) Durch die jeweils spezifische Vernetzung bestimmter Sinnbereiche können Aufschlüsse über die Orientierungssysteme und Wertvorstellungen einer Gesellschaft, einer Epoche gewonnen werden. (4) Gleichzeitig werden solche Wissensmomente aufgedeckt, die allgemein verbreitet sind und stereotype Vorstellungen widerspiegeln, d.h. von den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft durchschnittlich über ein sprachliches Phänomen/Thema geteilt werden. Die Metapherngeschichte, so verstanden, zeigt damit eine starke Affinität zu Kategorien wie Mentalität und Kultur. Bevor ich damit beginne, den Nationalsprachendiskurs in Deutschland im 19. Jahrhundert mit Blick auf die Metaphorik zu untersuchen, und dabei besonderes Gewicht auf die Band-Metapher als die wohl populärste Metapher im Kontext sprachlicher Vergemeinschaftung lege, sollen noch einige Überlegungen zur Metaphemtheorie vorangestellt werden, um das Gegenstandsverständnis zu erläutern. Wie Link/Wülfing 1984 und Boke 1996 gezeigt haben, gehören die Metaphern ebenso wie die Begriffe und Argumentationen zu den wesentlichen Diskurselementen, die ein Textensemble verbinden und strukturieren. Dennoch sind sie erst in jüngster Zeit in den Fokus sprachgeschichtlicher Forschungen gerückt. Dieses neue Interesse ist vor allen Dingen darauf zurückzuführen, dass der Metaphorik eine besondere diskursanalytische Bedeutung zukommt. Damit ist zum einen gemeint, dass die Metapher einen semantischen Mehrwert transportiert, indem sie über die Form des Vergleichs und der Verknüpfung bestimmte Aspekte einer Idee bzw. eines Sachverhalts in neuer Form akzentuieren kann. Sie öffnet Perspektiven und erweitert so die Grenzen des begrifflich Fassbaren und Vorstellbaren. Dies gilt insbesondere für stark analytisch und abstrakt geprägte Diskursthemen, wie ζ. B. die Nationalsprachenidee. Zum anderen besitzen Metaphern persuasives und Konsens stiftendes Potential. Infolgedessen eignen sie sich als Träger soziopragmatischer Intentionen. Als solche ermöglichen sie eine effiziente, direkte Umsetzung und Popularisierung bestimmter Standpunkte und Meinungen. Ihre kollektive Wirksamkeit beruht im Wesentlichen darauf, dass sie die gemeinte Sache in der Schwebe, d.h. begrifflich offen halten und so Mehrfachauslegungen zulassen und Differenzierungen aufheben. Dabei rekurrieren sie immer auch auf Denkkonventionen, obwohl sie häufig überraschende Kombinationen verschiedener Sinnbereiche eingehen. Aber nur so sind und bleiben sie verständlich, und nur so kann die intendierte Imaginationskraft sich entfalten. Schließlich eröffnet sich mit der Metaphernanalyse ein Zugang zu einem Wissensbereich, der kulturell geprägt ist und Kultur prägend wirkt. Wie weiter oben kurz angedeutet wurde, basieren Metaphern auf kollektiven Vorstel-
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lungen. Da diese in einem neuen Kontext und in einer neuen Form auftreten, initiieren sie metakommunikative Prozesse. Sie beeinflussen so das allgemeine (Sprach)bewusstsein, allerdings unmittelbarer als Begriffe und Argumentationsketten, weil dem Gesagten der Status des Gegebenen eingeräumt wird. Diese Wechselbeziehung begründet ihre Historizität, ihre zeitspezifische Attraktivität und Gültigkeit. Wie die Begriffe gehören Metaphern zu den fundamentalen Kodierungsformen einer Gesellschaft und bestimmen die Sagbarkeitsgrenzen eines Diskurses mit. Folglich sind sie selten bloßes Ornat, meistens konnotieren sie zentrale Vorstellungen. In dieser Funktion stellen sie kognitive Modelle 2 dar. Sie ordnen das Denken, d.h. konzeptualisieren relevante Wertvorstellungen, ihre Ausbildung und Veränderung. Damit beschreiben sie spezifische Formen der Wirklichkeitskonstruktion und -konstitution und verweisen auf Mentalitäten, also kollektive Denkweisen und Bewertungen. 3 Diese strukturieren sie vor und mit und sind insofern das Resultat diskursiver Praxis. Als Indikatoren sozio-kultureller Bedingungen und Entwicklungen können sie also wichtige Aufschlüsse liefern, zum einen über das bildliche Repertoire einer Gesellschaft und zum anderen über vorherrschende Meinungen und Einstellungen. Auf diese Weise reflektieren sie die Strategien, die in einer bestimmten Gesellschaft präferiert werden, um einen bestimmten Inhalt und bestimmte Sichtweisen zu konzeptualisieren und konnotieren, zu vermitteln und reproduzieren. Sie sind damit Teil des „kulturellen Gedächtnisses" (Assmann 1999). Insgesamt stellt diese Form der Perspektivierung die gesellschaftliche Kodierung kollektiver Ideen und Wunschvorstellungen in den Mittelpunkt. Ein solcher Zugang wirft Fragen auf, die vornehmlich die soziokulturelle Genese und Funktion sowie geschichtliche Kontinuität und Diskontinuität von Metaphern betreffen. Übertragen auf die Band-Metapher heißt das Folgendes: (1) Es wird zu zeigen sein, wie sich die kollektive Wunsch- und Zielvorstellung sprachlicher und nationaler Vergemeinschaftung metaphorisch verdichtet. (2) Dabei wird auf die soziohistorischen Bedingungen und thematischen Zusammenhänge einzugehen sein. (3) Ferner ist danach zu fragen, welche kognitiven und affektiven Momente mit der Verwendung der Band-Metapher aufgerufen werden. (4) Schließlich wird die Geschichte der Band-Metapher, ihr Aufkommen, ihre Verbreitung und ihre Ablösung skizziert.
2
Vgl. Lakoff/Johnson 1980, 3: „Our conceptual system [...] plays a central role in defining our everyday realities. If we are right in suggesting that our conceptual system is largely metaphorical, then the way w e think, what w e experience, and what w e do every day is very much a matter o f metaphor." Jakob 1991 zeigt dies filr die Semantik und Geschichte der Techniksprache im 19. Jahrhundert.
3
Vgl. Sellin 1985 und Hermanns 1995.
Die Band-Metapher im nationalsprachlichen Diskurs
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Insgesamt geht es darum zu zeigen, welche Rolle die Band-Metapher im Prozess der Popularisierung der Nationalsprachenidee spielt, auf welche Art und Weise sie diese Idee konzeptualisiert und im kollektiven Bewusstsein verankert. Die Analyse der kollektiven bildlichen Kodierung gesellschaftlichen Denkens und Meinens wird auf zwei Ebenen erfolgen. Die erste Ebene betrifft den sogenannten „Elitendiskurs", d.h. die wissenschaftlich-philosophische Auseinandersetzung mit der Idee der Nationalsprache und der Rolle der Sprache flir die Bestimmung einer kollektiven Identität. Dieser Diskursstrang ist insofern von besonderem Interesse, weil er Einblick gibt in die Genese der Band-Metapher. Einige prominente Äußerungen bzw. Textstellen sollen diesen Prozess illustrieren und gleichzeitig die verschiedenen Formen der Funktionalisierung und Kontextualisierung verdeutlichen. Daran anschließend wird die Breitenwirkung der Band-Metapher beleuchtet. Dieser Aspekt betrifft die zweite Ebene, den sogenannten „top down" Prozess und damit die Frage, inwieweit und in welcher Form die Band-Metapher gesamtgesellschaftliche Relevanz und Popularität erlangt. Auf diese Weise soll die alltagsweltliche diskursive Praxis Berücksichtigung finden. Dies wird beispielhaft an den Reden zur Schillergedenkfeier 1859 aufgezeigt.
2. Sprachnationalismus und Metaphorik „Uns knüpft der Sprache heilig Band", so elliptisch wie apodiktisch fasst Theodor Körner 18144 in seinem „Jägerlied" die patriotische Grundstimmung der Deutschen zusammen, die die „ungewordene Nation", so Johann Gottfried Herder, wenn schon nicht als eine Staatsnation, so doch wenigstens als eine Sprachnation zu imaginieren sucht. Theodor Körner greift damit eine Metapher auf, die schon bei Gottfried Wilhelm Leibniz belegt ist, wenn dieser in seiner „Mahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben" vom „unsichtbaren" Band der Sprache spricht. 5 Leibniz, der paradoxerweise seine Schriften fast ausnahmslos in Latein und Französisch verfasste, trat gleichzeitig als Advokat der deutschen Sprache auf. Denn im ausgehenden 17. bzw. beginnenden 18. Jahrhundert stellt die deutsche Sprache zwar eine konvergierende, aber noch längst nicht vereinheitlichte Varietät dar und auch die soziolinguistischen Verhältnisse lassen erkennen, dass das Deutsche in weiten Teilen der Gesellschaft und in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens und wissenschaftlichen Austausches nicht oder nicht ausreichend Verwendung fand. Bis zum 19. Jahrhundert allerdings ist die „Sprachkultivierung" (von Polenz 1994) dann so weit fortgeschritten, dass aus dem ehemals „unsichtbaren 4 5
Datum der Veröffentlichung posthum. Hier heißt es: „Das Band der Sprache, der Sitten, auch sogar des gemeinen [gemeinsamen] Namens vereinigt die Menschen auf eine so kräftige, wiewohl unsichtbare Weise und macht gleichsam eine Art der Verwandtschaft." (Leibniz 1682f./1983,48)
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Band" ein „heiliges", ja sogar ein „unzerreißliches" Band der Sprache werden kann, wie es später bei Ernst Moritz Arndt heißt. Die Attribuierungen, d.h. Zuschreibungen verändern sich und geben so zum einen Auskunft über die zunehmende Bedeutung von Sprache, zum anderen über gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, wie sie fur das 19. Jahrhundert kennzeichnend sind und in der Losung „eine Sprache, also eine Nation" komprimiert zum Ausdruck kommen. Insofern spiegeln die jeweiligen Attribuierungen einen Prozess wider, der eng verknüpft ist mit der nationalen Frage und so auch mit der Ausbildung des Deutschen als National- und Standardsprache. So wie aus dem „unsichtbaren" ein „unzerreißliches" Band wird, so wird im Laufe des 19. Jahrhunderts aus einer potentiellen eine konsolidierte und prestigebesetzte deutsche Nationalsprache und aus einer „vorgestellten Nation" (Anderson 1998) ein Staat, der unter der Titulatur „Deutsches Reich" zugleich den übernationalen Anspruch des mittelalterlichen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation mit anklingen lässt. Das Bild, das den Zeitgenossen dabei als das einprägsamste und eingängigste erscheint, ist die Metapher vom Band, und zwar vom Band der Sprache als dem selbstverständlichsten und bedeutendsten Verbindungsmittel, und von daher in besonderem Maße geeignet, die Deutschen zusammenzuhalten, über alle konfessionellen, regionalen und kulturellen Unterschiede hinweg. Dazu Friedrich Schlegel in seiner Schrift „Nation", entstanden in den Jahren 1804-1806: „Eine Nation ist gleichsam eine große allumfassende Familie, w o mehrere Familien und Stämme durch Einheit der Verfassung, Sitten, Gebräuche, der Sprache, des allgemeinen Interesses zu einem gemeinschaftlichen Ganzen verbunden sind, nur daß diese Verbindung des größeren Umfangs wegen nicht von der intensiven Stärke und Innigkeit sein kann, wie in der Familie." 6
Und weiter heißt es dann: „Die Einheit der Sprache ist hier von der größten Wichtigkeit, sie ist das unverwerfliche Zeugnis der gemeinschaftlichen Abstammung, das innigste und natürlichste Verbindungsmittel und wird zusammengenommen mit der Gleichheit der Sitten das festeste dauerhafteste Band sein, das die Nation fur viele Jahrhunderte in unauflöslicher Einheit zusammenhält." 7
Diese Euphorie, die nur Superlative kennt, dient nicht nur der Intensivierung, sondern auch der Versinnlichung eines Wunschbildes, das damit an Konkretheit gewinnt. Die Beiwörter ebenso wie die Metaphorik stehen damit ganz im Dienste der Emotionalisierung. Diese Neigung wird auch durch die Familienmetapher unterstrichen, die Schlegel hier einsetzt. Die Gleichsetzung von sprachlicher und familiärer Gemeinschaftlichkeit ist im Kontext der sich 6 7
Zitiert n a c h K l u c k h o h n 1934, 57. Ebd.
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entwickelnden bürgerlichen Lebenswelt zu sehen, in deren Mittelpunkt die Kleinfamilie steht. Die in dieser Sphäre der kleinfamiliären Intimität ausgebildeten Ideen der Freiheit, der Liebe und der Bildung sollen andeuten, was Nationalität ausmacht, nämlich Identität, Kollektivität und Kontinuität. 8 Aufs Ganze gesehen ist diese Tendenz zur Emotionalisierung, die sich auch in den Zusammensetzungen „Muttersprache" und „Vaterland" 9 zeigt, eine wesentliche Konstituente des Nationalismusdiskurses, der damit zwar an Reflektiertheit verliert, gleichzeitig aber an propagandistischer Wirkung gewinnt. Zwei Ziele stehen im Vordergrund: Zum einen geht es darum, die deutsche Sprache aufzuwerten, d.h. in das Pantheon der Nationalsprachen zu erheben und zum Symbol eines einheitlichen deutschen Staates zu stilisieren. Zum anderen soll mit der Betonung der geschichtlichen Einheit der deutschen Sprache die Konstruktion einer historischen Identität 10 motiviert und forciert werden. Beides ist mit Hilfe der Band-Metapher möglich. Sie projektiert die Idee sprachlicher Vereinheitlichung in Raum und Zeit und weist ihr jenen elementaren Stellenwert zu, wie er auch der Familie zukommt. Im Bild des Bandes fließt eine Vielzahl von Erfahrungen zusammen: Vereinigung, Ausgrenzung und Abgrenzung. Dies sind alltägliche Erfahrungen. Sie weisen die Band-Metapher als ein basales Bild aus und tragen wesentlich dazu bei, alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft anzusprechen: Adel und Bürgertum, Bauern und Arbeiter. Auch werden regionale, konfessionelle und kulturelle Unterschiede aufgehoben bzw. überwölbt. Die Idee sprachlicher Vereinheitlichung lässt sich so optimal fokussieren und transportieren. Die folgenden Ausführungen gelten der Geschichte der Band-Metapher und ihrer Aktualisierung bzw. Kontextualisierung im nationalsprachlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts, d.h. in den Schriften führender Intellektueller, die vor dem Hintergrund eines sich entwickelnden deutschen Nationalgefuhls eine Antwort auf die Frage suchten „Was ist das Volk?", so Adam Müller 1809 in seiner Abhandlung über die „Elemente der Staatskunst". Was sind die entscheidenden Faktoren für die Bildung einer - wie es damals hieß - „Volksgemeinschaft"? Was bedeutet den Menschen die Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Nation und worin drückt sich diese aus? Gesucht wurde also ein gesellschaftlicher Konnex, ein allgemein anerkanntes Fundament, auf dem sich so etwas wie ein deutsches Nationalgefiihl ausbilden konnte. Die Antwort war eine im doppelten Sinn „sprachliche", denn die kulturelle Kohäsion der Deutschen zeigte sich nach Ansicht zahlreicher Zeitgenossen im Wesentlichen in der Sprache als dem bedeutendsten Kulturphänomen in Deutschland. Insofern gibt die diskursive Fixierung auf die Metapher vom Band der Sprache als sozial-integrierende Kollektiworstellung einen Einblick in die Konstruktion nationaler Identität. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die 8 9
10
Vgl. Habermas 1979, 65. Zur Bestimmung der Begriffe .Muttersprache' und .Vaterland' vgl. Townson 1992, Ahlzweig 1994 und Herrmann 1996. Zur Konstruktion kollektiver Identität vgl. Giesen 1999.
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Insinuierung einer einheitlichen deutschen Sprache als Gründungsmythos des deutschen Kaiserreiches betrachtet werden kann. 2.1. Die Anfänge der Nationalbewegung Zunächst einige Bemerkungen zu den Anfängen der Nationalbewegung. Ihre Entstehung fällt in die napoleonische Epoche. Einen deutschen Nationalstaat hat es vor dem 19. Jahrhundert nie gegeben. Das alte Heilige Römische Reich war nie ein Nationalstaat, sondern eine Völkergemeinschaft, die neben den Deutschen auch nichtdeutsche Völker bzw. Volksgruppen umfasste und sich in ihrer äußeren Abgrenzung durch eine gewisse Elastizität auszeichnete. Dieser Zustand wurde von den wenigsten Zeitgenossen als etwas besonders Unnatürliches betrachtet. So stellt zum Beispiel Christoph Martin Wieland noch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts in seiner Einleitung zu Schillers „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" fest, dass „die Vortheile, welche aus dieser Zertheilung im ganzen für uns entspringen, das Nachtheilige bei weitem überwiegen; oder vielmehr, daß sie es gerade ist, der wir diese Vortheile zu verdanken haben." (Wieland 1792, 17) Johann Christoph Adelung vertritt 1782 eine ähnliche Auffassung, als er in der Einleitung zu seinem „Umständlichen Lehrgebäude der deutschen Sprache" das Volk als eine Menge von Menschen definiert, die durch eine gemeinsame Sprache, Abstammung sowie Denk- und Handlungsweise verbunden ist, und zwar unabhängig davon, ob sie einen Staat bildet oder nicht (vgl. Adelung 1782/1971, 5). Der Wunsch nach einem politischen Machtgebilde, d.h. einem Nationalstaat war zu dieser Zeit noch nicht vorhanden und musste im öffentlichen Bewusstsein erst noch geweckt und gefördert werden. Die Nationalbewegung setzt also erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein. Stark wird sie zur Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon. Aus diesem Grunde auch leitet der Historiker Thomas Nipperdey seine „Deutsche Geschichte: 1800-1866" mit dem Wortspiel ein: „Am Anfang war Napoleon". Napoleon rief bei den Deutschen, zuerst bei den Intellektuellen, d.h. Philosophen, Journalisten und Literaten, dann aber auch bei den breiten Massen, durchaus zwiespältige Gefühle hervor: Einerseits ein Gefühl, das man salopp mit den Worten „Das soll uns nie wieder passieren!" zusammenfassen kann und andererseits ein Gefühl wie „Das wollen wir auch machen!", nämlich einen Nationalstaat gründen. So mischten sich Hass und Bewunderung, entstand der Wille zur Unabhängigkeit des eigenen Landes, entstand ein nationaldeutscher Patriotismus, die deutsche Nationalbewegung. Der Wille zur Nation und zum Nationalstaat wurde jetzt als ein höchstes Ziel anvisiert, die Nation auf das Volk gegründet. Aus einer Wunschvorstellung wurde so ein konkretes Handlungsziel. Dazu gehört der deutsche Kulturpatriotismus, die Wendung zu Geschichte und Tradition und die romantische Suche nach der Identität der Deutschen, parabelhaft dargestellt in Adelbert von Chamissos
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Erzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte" 11 (1814). Und dazu gehört eine Nationalideologie, die eng verbunden ist mit den Namen Johann Gotti ieb Fichte, Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn. Die deutsche Sprache wird nun als die wesentliche Konstituente betrachtet, über die die kulturelle Bindung erfolgen soll. Das Sprachbewusstsein geht so dem Nationalbewusstsein voraus und soll die sprachliche Einheit im Vorgriff auf die nationale Einheit befördern. Insofern wurde die Sprachnation als ein Kulturphänomen mit „Vorscheincharakter" (Hermand 1995, 22) angesehen. Ernst Moritz Arndt fasste diese Entwicklung 1813 in seiner Schrift „Was müssen die Deutschen jetzt tun?" dahingehend zusammen, dass die Zeitgenossen anfingen, auf den Namen Deutscher, auf deutsche Kunst und Sprache stolz zu werden. Vor dem Hintergrund dieser Stimmung formulierte er dann seine berühmten Imperative: „Fühlet die heiligen und unzerreißlichen Bande desselben Blutes, derselben Sprache, derselben Sitten und Weisen, welche die Fremden haben zerreißen wollen. [...] Nicht mehr Katholiken und Protestanten, nicht mehr Preußen und Österreicher, Sachsen und Bayern, Schlesier und Hannoveraner, nicht mehr verschiedenen Glaubens, verschiedener Gesinnung und verschiedenen Willens - Deutsche seid, eins seid [...]". (Arndt 1813/1910, 186)
Die Forderung nach einer kulturellen und politischen Nation bildete sich also erst zwischen 1789 und 1815 aus, d.h. sie musste durch einen gesellschaftlichen Prozess erzeugt und bewusst gemacht werden - ein Prozess, der in den Reihen des Bildungsbürgertums seinen Ausgang nahm und sich in Form eines gesellschaftlichen Diskurses 12 manifestierte. Im Rahmen dieses Prozesses wurde die Sprach- und Kulturnation gesetzt bzw. konstruiert. In dem Maße, wie sich nun weitere Kreise an diesem Diskurs beteiligten und die Adressaten bzw. die sogenannten breiten Massen diese „Setzung" übernahmen, in dem Maße nahm auch dieser gesellschaftliche Prozess Gestalt an. Die Propaganda der Befreiungskriege unterstützte diese Entwicklung und von daher verwundert es auch nicht weiter, dass gerade in dieser Zeit die Stilisierung der deutschen Sprache zu einem „heiligen Gut" besonders häufig zu beobachten ist. Diese pathetische Aufladung der deutschen Sprache, diese ins Sakrale ausufernde bürgerlichnationale Tendenz findet sich bei Ernst Moritz Arndt, dem eingangs zitierten Theodor Kömer und auch bei Joseph Görres, der sich als Schriftsteller und Publizist ebenfalls in diesem Diskurs zu Wort meldete. Er schreibt:
Adelbert von Chamisso, ein emigrierter Franzose in Deutschland, skizziert in dem Mann ohne Schatten, s o eine der möglichen Lesarten, den Mann ohne Nation, ohne Nationalität. Aufgrund fehlender repräsentativer, politischer und sozialer Öffentlichkeit bildete sich dieser Diskurs im wesentlichen als ein schriftlicher Diskurs aus. Vgl. Assmann 1993, 44f.
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„Sprache ist das große Band, das Individuen aneinanderbindet; sie ist das nächste Erzeugnis des Spiels der inneren physischgeistigen Organisation [...] und gibt dem Ganzen jenen durchgehenden Ton von zustimmender Konkordanz, der das bildet, was man gewöhnlich Nationalität zu nennen pflegt." (Görres 1800/1928, 5 9 0 )
Und mit Blick auf die „Verhältnisse der Rheinländer zu Frankreich" fuhrt er dann im Rheinischen Merkur (1814) aus: „Alle Glieder umschlingt ein gemeinsames Band der Blutsverwandtschaft, alle, w i e sie eine Sprache reden äußerlich, so müssen sie auch innerlich eine Gesinnung haben, und zusammenhalten fur einen Mann; das ist ihnen erste Regel und erstes G e s e t z " (Görres 1814/1928, o.S.)
Sprache wird somit zum entscheidenden nationsbildenden Merkmal. Sie ist zugleich Ausdruck kultureller Identität und fördert und stärkt, indem sie verbindet und abgrenzt, das Gemeinschaftsgefühl. Auch Theodor Heinsius, ein Pädagoge, der hauptsächlich als Grammatiker und Aufsatzdidaktiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts wirkte und den Zustand der deutschen Sprache in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch spöttisch als „Mosaikdeutsch" beschrieb, appellierte an die nationalen Interessen der Deutschen. In seiner bekannten Grammatik, die er programmatisch „Teut oder theoretisch-praktisches Lehrbuch des gesammten deutschen Sprachunterrichts" nannte und in den Jahren 1807 bis 1812 publizierte, preist er die Sprache der Deutschen als „das heiligste und unauflöslichste aller Bande [...] Eben darum müsse jeder Deutsche, der noch den Stolz seiner Nation im Busen trägt, seinen Fleiß darauf wenden, diese Sprache nach ihrem Reichthum, ihrer Kraft, ihrer Bildsamkeit und Genialität ganz zu begreifen." (Heinsius 1817, XI)
Hier wird die deutsche Sprache nicht nur zu einer prestigebesetzten Sprache aufgewertet, ihre Stellung innerhalb der europäischen Sprachen gefestigt, sondern auch der Grundstein gelegt für die Etablierung des Faches Deutsch in den Gymnasien. Diese Forderung sollte sich allerdings erst ein halbes Jahrhundert später in der Praxis auswirken, weshalb die Band-Metapher auf Grund der verspätet einsetzenden Didaktik- und Methodikdiskussion erst nach der Jahrhundertmitte in den Reihen der Pädagogen populär wurde, wie sich unter anderem in den Schriften von Johann Heinrich Deinhardt, 13 einer der führenden Didaktiker der Zeit, zeigt.
Vgl. Deinhardt 1857, 317f".: „Die deutsche Literatur und die deutsche Sprache sind der reinste und vollkommenste und - man muß leider! sagen - fast einzige Ausdruck unseres deutschen Volksgeistes und Volkscharakters und das einzige - aber machtige und unverwüstliche Band, was alle Deutschen trotz aller politischen und kirchlichen Differenzen lebendig zusammenbindet und als einzige Nation darstellt."
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Arndt, Körner, Schlegel, GörTes, Heinsius: Sie alle bedienen sich der Metapher vom Band der Sprache, wenn sie ihrer Hoffnung auf die gesellschaftspolitisch integrierende Kraft der Sprache Ausdruck und Nachdruck verleihen wollen. Das Streben nach Einheit vollzieht sich schrittweise und ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur nationalen Einheit ist die sprachliche Einheit, die und das ist das Besondere - als feste bzw. einheitliche Größe gesetzt und proklamiert wird. Diese Typisierung des Deutschen suggeriert sprachliche Homogenität und damit einen Zustand, der zumindest auf der soziolinguistischen Ebene für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts so noch nicht gegeben ist. Gleichzeitig deuten die Zitate darauf hin, dass die Diskussion um die Leitbegriffe ,Volk' und .Volkssprache', ,Nation' und .Nationalsprache' in unterschiedlichen Diskursfeldern bzw. gesellschaftlichen Lebensbereichen geführt wird. Diese räumliche Fächerung erfasst zunächst die Universitäten, Logen und publizistischen Organe, in zunehmendem Maße dann aber auch die Schaltstellen gesellschaftlicher Sozialisation und Enkulturation: die Schulen. Dabei verdichten sich die Vorstellungen im Hinblick auf die Ausbildung des Deutschen als National- und Standardsprache textübergreifend in der Metapher vom Band der Sprache. Die Metaphorik stellt so ein wesentliches Merkmal des gesamten Nationalismusdiskurses dar, verbindet die einzelnen Diskursfelder, trägt zur Verdichtung bzw. Vernetzung 14 des Gesamtdiskurses bei und fördert auf diese Weise die Popularisierung der Nationalsprachen- und Nationalstaatsidee. Wie die sozialhistorische Forschung zeigt (vgl. Nipperdey 1993 und Hermand 1995), stellt die deutsche keine einheitliche Bewegung dar, sondern tritt in mehreren Varianten auf: einer pietistisch-nationalen, einer antifranzösisch-germanophilen und einer deutsch-romantischen. Insofern greift eine Etikettierung der deutschen Bewegung als bloße Oppositions- und Emanzipationsbewegung zu kurz. Diese fungiert zwar vorrangig im Sinne eines gesellschaftlichen Integrations- und Modemisierungsprozesses 15 zur Überwindung partikularistischer Strukturen und Bildung einer bürgerlichen Gesellschaft. Aber gleichzeitig trägt diese Frühform nationaler Ambitionen auch eindeutig xenophobische und ethno-kulturell übersteigerte Züge. Diese äußern sich zum einen in einem ausgeprägten Hass gegenüber den Franzosen, der in vielen Schriften zu beobachten ist und bei Arndt, Fichte und Jahn wohl am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Zum anderen zeigt sich diese populistische Komponente in einer Überbetonung eines nicht klar definierten deutschen Nationalcharakters und einer Selbstüberhebung, nach der die Deutschen ein „Urvolk" darstellen, das eine „Ursprache" spricht, so Johann Gottlieb Fichte. Dieser neue Nationalismus verspricht nicht nur eine neue, kollektive Identität, 4
15
Dies zeigt sich übrigens auch in den persönlichen Verflechtungen. So gehörte Theodor Heinsius ebenso wie der zuvor erwähnte Friedrich Ludwig Jahn zu den Gründungsmitgliedern der „Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache", die 1815 ins Leben gerufen wurde. Vgl. Gellner 1999.
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basierend auf einer gemeinsamen Sprache und Kultur, sondern bedeutet auch Abgrenzung nach außen und Ausgrenzung bestimmter Gruppen im Innern. 2.2. Die Restaurationszeit Nach 1815 wird der Diskurs fortgeführt, allerdings unter veränderten Vorzeichen, denn Zensur und Verfolgung erschweren politische Aktivitäten. Trotzdem: Der anfängliche Elitendiskurs demokratisiert sich und überregionale Kommunikations- und Sozialformen wie die Vereine und Feste tragen dazu bei, dass die nationale Idee mehr und mehr Anhänger findet. Gleichzeitig treten neben die antifranzösische und antifeudale Komponente zunehmend gesamtdeutsche Vorstellungen. Zu diesen gesamtdeutschen Identifikationsmomenten gehören vor allen Dingen die Konzepte .Nationalliteratur' und ,Nationalsprache'. Die Proklamation einer Nationalliteratur und einer Nationalsprache wird der Forderung nach einer politischen Nation vorgeordnet und kulminiert in einer einseitigen Betonung der Kulturnation, 16 in deren Folge die deutsche Klassik konstruiert wurde. 17 Die Fixierung auf die Kulturnation, auf eine Nation ohne Staat, suggerierte trotz staatlicher Zersplitterung eine Einheit und diese Einheit sah man verkörpert in den Dioskuren Goethe und Schiller, den „Musterdeutschen", die zu Nationaldichtern stilisiert wurden und damit zu Repräsentanten einer ideellen Einheit avancierten. Heinrich Heine, der progressive Dichter des Vormärz, konterkarierte diese kulturelle Sublimierung eines nationalen Wunschbildes 18 im Wintermärchen (1844) mit folgender sarkastischer Formulierung: „Franzosen und R u s s e n gehört das Land D a s M e e r gehört den Briten, w i r aber besitzen im Luftreich d e s T r a u m s D i e Herrschaft unbestritten. Hier üben wir die H e g e m o n i e , hier sind wir unzerstückelt; D i e andern V ö l k e r haben sich A u f platter Erde entwickelt."
Gleichwohl: Der Wunsch nach Einheit blieb bestehen. Er verhieß eine neue Identität. Verbunden wurde diese mit den realen und erfundenen Traditionen der deutschen Volksnation als einer angeblich homogenen Abstammungs16 17 18
Vgl. von Polenz 1998. Vgl. hierzu ausführlicher Grimm/Hermand 1971, 7ff. Hermanns kommentiert diesen Umstand in seinem Artikel „Deutsche Sprache - deutsche Identität" (1994, 193) w i e folgt: „ .Deutschland' war als Staat bis 1871 nur ein Wunschtraum, das hat allerdings historische Konsequenzen, nämlich deshalb, weil sich ein geträumtes Deutschland sehr viel besser noch als ein reales dazu eignet, Hoffnungen und Phantasien daran festzumachen. Und die lange Zeit bis 1871 war für .Deutschland' eine geistige Inkubationszeit, w o sich solche Hoffnungen und Phantasien ungehemmt entwickeln konnten."
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gemeinschaft und der deutschen Kulturnation als eines Verbandes, der insbesondere durch Sprache und Literatur zusammengehalten wurde. Diese Leitideen hat Karl Wilhelm Kolbe, Französischlehrer und Sprachpurist, dahingehend zusammengefasst, „daß bei uns Deutschen insbesondere Sprache und Literattur [sie!] das einzige Band sind, so die auseinanderstrebenden Gemüter noch zusammenhält, der einzige feste Punkt, an den Gemeinsin [sie!] und Vaterlandsliebe sich noch anknüpfen lassen." (Kolbe 1818/1989,35)
Die Anklänge an die Familienmetaphorik treten auch hier wieder deutlich hervor, indem auf die Vaterlandsliebe rekurriert wird. Emotionalisierung und Moralisierung gehen so Hand in Hand und sollen die Idee von Sprache als einem sozialen Bindemittel forcieren. Und Jacob Grimm betont, dass wir Deutsche „erst kraft der Schriftsprache [...] lebendig das band unserer herkunft und gemeinschaft" fiihlen, so in der Vorrede zu seiner „Deutschen Grammatik" (1822, XIII). Grimm liefert damit einen weiteren Beleg für die Doppelfunktion der Band-Metapher, nämlich Erfassung eines vorgestellten Kollektivs und eines zeitgeschichtlichen Kontinuums, um so ein kulturhistorisch fundiertes Nationalbewusstsein in wachsendem Maße in breitere Volksschichten hineinzutragen. Karl Wilhelm Ludwig Heyse, Sohn Johann Christoph Heyses, dessen Hauptwerke er bearbeitete und fortführte, unter anderem die „Theoretischpraktische deutsche Grammatik" von 1838, spricht in der Einleitung vom „unauflöslich gebliebenen Band". Echte Deutsche, so Heyse weiter, sollten die deutsche Sprache als heiligsten Schatz ansehen, vor allen anderen Sprachen ehren und gründlicher lernen. Das ist natürlich ein Hieb gegen die immer noch im Curriculum dominierenden klassischen Sprachen Latein und Griechisch. Und natürlich fehlt es nicht an moralischen Untertönen. „Wer sie verachtet" gemeint ist die deutsche Sprache, die mehr umfasst als nur das zeitgenössische Deutsch, nämlich den gesamten Zeitraum bis zurück zu den Goten - „der verachtet auch seine Nation, und ist nicht werth, ein Deutscher zu heißen" (Heyse 1838/1972, 93). Im Gegensatz zu einer Reihe von Zeitgenossen, die sich eher kritisch über den Gesamtzustand der deutschen Sprache äußern, entwirft Karl Wilhelm Ludwig Heyse ein durchaus positives Bild und spricht von Größe und Vollkommenheit der deutschen Sprache und Literatur. Diese Einschätzung ist nicht allgemeiner Konsens. Ebenso häufig finden sich Beurteilungen, die sich kritisch über den Zustand der deutschen Sprache äußern, ihre mangelnde Verbreitung beklagen und ihre Ausbildung als öffentliche Varietät einfordern. Diese „Mängelliste" findet sich vor allen Dingen bei den Vertretern des Jungen Deutschland, also Ludolf Wienbarg und Ludwig Börne, aber auch bei dem gesellschaftspolitischen Einzelgänger Gustav Jochmann. In Anbetracht dieser unterschiedlichen Einschätzungen und Beschreibungen stellt sich die Frage, wie sich die linguistischen und soziolinguistischen Verhältnisse in der Zeit vor der Reichsgründung tatsächlich darstellen. Inwieweit
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gab es eine einheitliche deutsche Sprache, in welchem Ausmaß war sie verbreitet und in welchen Situationstypen fand sie Anwendung? Sprachhistorisch betrachtet stellt sich die Zeit des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert als eine Phase sprachlicher Konsolidierung dar. Das sogenannte Hochdeutsche hat sich als Schriftsprache im Wesentlichen etabliert und auch die grammatikalische Einheitlichkeit ist weitgehend gewährleistet. In soziolinguistischer Perspektive dagegen ist der Prozess der Sprachstandardisierung noch nicht abgeschlossen. Dies betrifft vor allen Dingen den funktionalen, medialen und sozialen Ausbau. So ist das Hochdeutsche zu Beginn des 19. Jahrhunderts funktional größtenteils auf die Bereiche Literatur, Verwaltung und Wissenschaft beschränkt und besitzt keine volle Geltung im Bereich der öffentlichen Kommunikation. Auch fungiert es nur in geringem Umfang als gesprochene Varietät und ist sozial auf die relativ kleine Gruppe des Bildungsbiirgertums beschränkt. Schließlich zeigen sich auf sprachlicher Ebene noch einige Schwankungen und Unsicherheiten, wie etwa im Bereich der Orthografie, Morphologie und Syntax. Darüber hinaus darf auch nicht übersehen werden, dass so etwas wie ein einheitliches Sprachvolk nicht existiert. Diese Vorstellung ist eine Utopie angesichts französischer, dänischer, sorbischer und polnischer Sprachminderheiten. Sprachliche Variabilität, sprachliche Heterogenität im Sinne regionaler Differenzierungen und soziale Exklusivität sind die Einschränkungen, die den Zustand und die Verwendung der deutschen Sprache zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmen. Es bleibt also der etwas verwirrende Eindruck: Hier wird - zumindest teilweise - eine Einheit gedacht und vorgegeben, die es annäherungsweise nur auf der linguistischen Ebene, nicht aber auf der soziolinguistischen Ebene gab. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Sprachverhältnisse stellt sich die Frage, wie sprachliche Homogenität und Vergemeinschaftung in der Praxis, d.h. im Sprachbewusstsein der Sprecher und Sprecherinnen hergestellt und verankert wurde. Um diese Frage zu beantworten, werden die Schillersäkularfeiern 1859 näher betrachtet.
3. Die Instrumentalisierung der Band-Metapher in den Schillergedenkreden 1859 Wie die sozialhistorischen Untersuchungen von Engelhardt 1989, Dann 1996 und Nipperdey 19936 zeigen, spiegelte sich die Selbstvergewisserung kulturhistorischer Größe und Identität im öffentlichen Leben vorzugsweise in der Errichtung von Denkmälern, unter anderem für Gutenberg (Mainz 1837), sowie in kulturgeschichtlich bedeutsamen Gedenkfeiern wider. Diese Veranstaltungen bildeten den öffentlichen Rahmen für die Arbeit am „nationalen Gedächtnis". Als nationalpolitisch bedeutendste Feier gilt die Schillerfeier 1859, die - anders als das Goethejubiläum 1849, das eher einem „Kultus der Eingeweihten" glich,
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so Gutzkow 19 - Massenveranstaltungen auslöste. Als Orte der Reflexion und Imagination nationaler Vergemeinschaftung trugen besonders die Schillerfeiern dazu bei, die identitätsstiftende Kraft der Nationalkultur mit dem Motiv der politischen Einheit zusammenzubringen. Durch diese Form der inszenierten Gemeinschaftlichkeit wurde Nationalität im Sinne eines „spezifischen Codes der Inklusion" sozial erfahrbar gemacht. 20 Die Gemeinschaft als eine Gemeinschaft von Gleichen fand damit im nationalen Fest ihren öffentlichritualisierten Ausdruck. Die Geschichte der Schillerfeiern beginnt mit der Gründung des Nationalvereins. 21 Eine der ersten groß angelegten öffentlichen Aktivitäten dieses Vereins war der Aufruf der „Schillerstiftung", in den Tagen vom 9. zum 11. November den hundertsten Geburtstag des Dichters zu feiern. In nur vier Wochen wurden mehr als 500 Städte mobilisiert, die öffentliche Schillerfeiern organisierten. 22 Wie die Schillerfeiem zeigen, war das kultumationale Fest zur bevorzugten Demonstration nationaler Selbstdarstellung und Selbstbestätigung geworden. Kulturgeschichtliche Jubiläen avancierten so zu Katalysatoren einer nationalen Öffentlichkeit, und zwar in dreifacher Hinsicht: erstens durch die inhaltliche Gestaltung der Feierlichkeiten; zweitens durch die soziale und regionale Zusammensetzung der Teilnehmer, die Mitglieder aller sozialen Schichten (hauptsächlich aber bürgerliche Kreise) sowie eingeladene auswärtige Gesangsund Turnvereine umfasste. Drittens wurde die lokale Begrenzung der einzelnen Feiern auch durch das allgemeine Wissen aufgebrochen, dass ganz Deutschland dieses kulturhistorisch bedeutsame Jubiläum beging. Die Idee der Nation wurde hier besonders intensiv erfahren und Schiller zum Dichter der Nationalbewegung erklärt. Schillers Ideale der Freiheit, des patriotischen Ethos und sittlichen Idealismus wurden gleichgesetzt mit dem eigenen Streben nach Freiheit, nationaler Einheit und Humanität. Mit nationaler Rhetorik, pathetischer Klassikerverehrung und emphatischer Selbstverherrlichung wurden die nationalen Ambitionen unterstrichen. Das Fest der nationalen Bildung war auch ein Fest kollektiver Selbstinszenierung. Im Folgenden soll dies an einer exemplarisch ausgewählten Schillergedenkrede 23 illustriert werden, und zwar an der Schulrede von Karl Adolf Schmid, " 20
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Zitiert nach Mandelkow 1980, 135. Gleichzeitig wurde damit ein Gegenpol, eine Ergänzung zur abstrakten, schriftfundierten Öffentlichkeit geschaffen und die Vergangenheit als Erfüllung einer nationalen (Kulturgeschichte gefeiert. Vgl. Assmann 1993, 48ff. Der „Deutsche Nationalverein" wurde von Liberalen und gemäßigten Demokraten aus allen nicht-österreichischen Ländern gegründet. Vgl. Longerich 1990, 23. Wilhelm Raabe hat in seinem 1872 verfassten Roman „Der Dräumling" die Schillerfeiern meisterhaft ironisiert, indem er die Feier zur hundertsten Wiederkehr von Schillers Geburtstag in die fiktive Kleinstadt Paddenau verlegt. Im Mittelpunkt der Dräumlingshandlung steht der „lateinische Schulmeister und deutsche Poet" Gustav Fischarth, eine Parodie auf den Stuttgarter Schulmann, Schillerepigonen und Schillerfestredner Johann Georg Fischer, der fast 50 Jahre lang, nämlich von 1849 bis 1893, filr den Stuttgarter Liederkranz die Gedenkreden hielt. Das Korpus umfasst insgesamt 2 0 Schillergedenkreden. Vgl. dazu: Ziegler (im Druck).
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Rektor des Gymnasiums in Stuttgart. Es ist kein Zufall, dass die Rede eines Gymnasiallehrers als Muster dienen soll, denn die Lehrer gehörten als Multiplikatoren bürgerlicher Leitideen zusammen mit den Universitätsprofessoren zu den sogenannten „pressure groups", wie Nipperdey sie nennt (Nipperdey 19936, 458). Sie waren rhetorisch geschult bzw. ambitioniert und insofern in besonderem Maße prädestiniert, zur öffentlichen Förderung eines gemeindeutschen nationalen Bewusstseins beizutragen. Wie dies im Einzelnen realisiert wurde und inwieweit die Metapher vom Band der Sprache in diesem Zusammenhang funktionalisiert wurde, soll im Folgenden illustriert werden. Zunächst einige Bemerkungen zum feierlichen Dekor des Festakts: Karl Adolf Schmid hält seine Rede im Saal des Stuttgarter Gymnasiums, der mit einer eichenlaubumrankten Schillerbüste geschmückt ist. Die Feier beginnt mit verschiedenen Schülerbeiträgen: einem Chor, diversen Deklamationen aus Schillers Gedichten, einer Vorführung der letzten Szene aus dem vierten Akt des „Wilhelm Teil" und dem Lied „Stumm schläft der Sänger". Dieses Lied dient als Überleitung zu Schmids Rede, die den Abschluss der Veranstaltung bildet. In seiner Festrede zeichnet Schmid ein Schillerbild, das den Dichter zum Inbegriff deutscher Tugenden erklärt und zur Inkarnation der Nation stilisiert. So wird Schiller pathetisch als „der deutscheste Dichter" apostrophiert, denn er verkörpere wie kein anderer „Idealismus", „Treue", „Bildung", „Freiheitssinn" und „Vaterlandsliebe". Damit bedient Schmid humanistisch geprägte Ziele und Werte, die es nachzuahmen gilt und die sich nur im Kollektiv verwirklichen lassen. Als Schlüsselworte ziehen sich diese Ideale in verschiedenen Variationen und immer mit Bezug auf die jugendlichen Adressaten sowie die historische Situation durch den Text. Dabei greift Schmid natürlich auch den Topos von Schiller als dem „Dichter der Jugend" auf. Mit dieser Attribuierung gelingt ihm gleichzeitig die Anbindung an die Zeitgeschichte, d.h. an die ins Metaphorische gewendete „Jugend" der Nation, die napoleonische Epoche. Diese umschreibt Schmid eher nebulös, dafür aber um so eindringlicher, als „trübste" Zeit. Mit einer Flut von Zitaten und Sentenzen, insgesamt 42 auf 15 Seiten, und hämmernden Parallelismen, unterstützt durch Anaphern, wird den Schülern die Handlungsmaxime nahegebracht: der „Trieb zum Vaterlande", „das teuerste der Bande". Diese Zitate aus dem „Lied von der Glocke", 24 die die Mitte der Rede markieren, werden nur zwei Zeilen später ergänzt durch das wohl in diesem Zusammenhang populärste Schillerzitat: „Ans Vaterland, ans theure schließ dich an, das halte fest mit deinem ganzen Herzen; hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft." (Schmid 1859, 6) Die Redefiguren erfüllen eine doppelte Funktion. Als Pathos induzierende rhetorische Stilmittel unterstreichen sie die historische Bedeutung der Feier und verleihen ihr so Glanz. In diesem Sinne sind sie schmückende Enthymeme. Gleichzeitig dienen sie als Beweis für Schillers nationalpolitische Gesinnung und lassen sich so für die nationale Idee in Anspruch nehmen. Mit Hilfe der
24
Zur fragmentarischen Schillerrezeption im 19. Jahrhundert vgl. Gerhard 1994.
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Autorität des Klassikers Schiller wird die nationale Idee befördert und ein Nationalgefühl erzeugt. Die Zitate, die die politische Zielvorstellung angeben sollen, werden deshalb vorzugsweise als Imperative in das Redekontinuum eingefügt. Diese appellative und zugleich didaktisch-populistische Funktionalisierung kommt besonders prägnant in dem ebenso oft zitierten „Seid einig einig - einig" zum Ausdruck. Verstärkt wird diese Tendenz durch eine Vielzahl von Parallelismen, die als äußerst einfache syntaktische Figuren die Leitgedanken Schmids immer wieder fokussieren und ihnen so Nachdruck verleihen. Sie erfüllen gleichzeitig eine wichtige textorganisierende Funktion, indem sie zur übersichtlichen Gliederung bzw. Rhythmisierung der Rede beitragen und auf diese Weise das Textverständnis sichern. Diese größtenteils affirmative Schilleraneignung äußert sich auch in der Wahl und Häufung der Attribute, die ebenso wie die Zitate und Sentenzen zum einen eine schmückende Funktion haben, zum anderen aber auch Aufschluss über das Gegenstandsverständnis geben, d.h. als Manifestationen von Stellungnahmen betrachtet werden können. „Ewig", „edel" und „heilig" sind die mit Abstand am häufigsten verwendeten Adjektivattribute. Sie kommen oft in Zusammenhang mit Wertvorstellungen vor, wie ζ. B. „edle Sitte" und „edle Tugenden" sowie „ewige Rechte" und „heiliger Schutz", gemeint sind Freiheit und politische Unabhängigkeit. Gleichzeitig gehören diese Attribute zum Standardrepertoire des damaligen klassischen Bildungswortschatzes. 25 Sie fungieren damit auch als soziolinguistische Marker und Habitus-Elemente. Schließlich gipfeln» die Ausführungen Schmids gegen Ende der Rede in folgenden Sätzen: „Hundert Jahre sind verflossen, seitdem das Erdenleben des Dichters begann, der die verschiedensten Seiten des menschlichen Daseins für Unzählige mit poetischem Glänze erleuchtet und verklärt hat. Die deutsche Nation hat ihren Dichter erkannt und rechnet ihn unter die ersten Zierden ihres Namens. So weit die deutsche Zunge klingt, wo nur immer deutsche Herzen auch in fremdem Lande schlagen, begehen sie das Säkularfest seiner Geburt als einen nationalen Feiertag, und erkennen in dem großen Dichter der Nation ein hohes gemeinsames Gut, das als ein festes Band volksthümlicher Einigung die Geister umschlingt; die deutsche Jugend geht voran dem Dichter, der ihr Liebling geworden ist und bleiben wird, den Zoll ihres Dankes darzubringen und an den Stufen seines Bildes das Gelübde ernsten Ringens nach allem Hohen und Edlen zu erneuern; und die schwäbische Jugend, die Jugend der Stadt, auf deren Boden einst der Jüngling Schiller wandelte, sie reicht den Brüdern allen nah und fern, die mit ihr in gleichem Sinn und Streben verbunden sind, im Geiste die Hand zum jugendlichen Bunde." (Schmid 1859, 15) 26
25 26
Vgl. Langen 1957. Hervorhebung durch Verfasserin, E.Z. Für die Hilfe bei der Literaturrecherche und MikroficheErstellung der „Schilleriana" geht mein besonderer Dank an Dr. Nicolai Riedel v o m Deutschen Literaturarchiv in Marbach.
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Die national-eingefärbte Schillerrezeption erreicht hier ihren Höhepunkt. Zusammenfassend werden noch einmal alle Schlagworte und Stereotype wiederholt: Schiller als Dichter der Jugend und des Volkes und Vorbild im Streben und Ringen nach dem hohen, edlen Gut der nationalen Einheit. Diesem Tenor folgend wird die Festgemeinschaft als „deutsche Nation" angesprochen. Ihre Grenzen bzw. räumliche Ausdehnung definiert Schmid sprachgeografisch, und zwar „so weit die deutsche Zunge klingt". Unterstützt werden diese großdeutschen Träumereien durch die Hervorhebung, dass quasi überall auf der Welt, wo „deutsche Herzen" schlagen, gefeiert wird. Auch diese Feststellung gehört zu den rekurrenten Merkmalen der Rede und betont die nationalen Ambitionen. Die Idee der Einheit appliziert Schmid zweifach: zum einen auf das Konzept der nationalen Einheit und zum anderen auf das Konzept der gesellschaftlichen Einheit. Diese Doppelperspektive wird durch den Hinweis auf die Verbindung der Landjugend mit der Stadtjugend, der „Brüder nah" mit den „Brüdern fern" angedeutet und gilt natürlich auch für die Deutschen, die außerhalb der deutschen Sprachgemeinschaft leben. Dabei dient die Aufzählung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in erster Linie der Formierung des bürgerlichen Blocks, implizit der Integration nicht-bürgerlicher Kreise. Daneben klingen auch regionale Momente an, die die ideologische Botschaft, die Abflachung des regionalen Problempotentials, akzentuieren sollen. Vor diesem Hintergrund, d.h. im Spannungsfeld von regionaler und nationaler Identifikation, setzt Schmid dann die Band-Metapher ein, um die abstrakte Idee der Nation in eine konkrete Form der Kollektivierung umzusetzen und so das Gemeinschaftserlebnis, die soziokulturelle und nationale Bindung, zu intensivieren. Die Attribuierung durch „fest" gibt dem Bild eine physisch konturierte Form. Die Verwendung der Band-Metapher setzt verschiedene Assoziationen frei. Dazu gehören das Band der Liebe, das Band der Freundschaft. Diese tragen zur Sensibilisierung der Schüler bei. Die Schüler sollen sich als eine konkrete Gemeinschaft empfinden, nicht nur als eine ,gedachte'. Gleichzeitig bilden diese Assoziationen die Brücke zu jenem Jugendlichen Bund", den Schmid den Schülern als ein weiteres gemeinsames Gedankengerüst nahelegt. Damit wird die Aufmerksamkeit und Phantasie der Schüler auf neue Aspekte gelenkt, denn der Ausdruck ,Bund' verweist nicht nur auf etwas Gebundenes, sondern auch auf etwas Bindendes. Die Bedeutung des Bindenden, des vertraglich Bindenden, indiziert religiöse, sittliche, rechtliche und politische Bezüge, die von der Bundeslade über den Ehe- und Freundschaftsbund bis hin zur Bildung des „Deutschen Bundes" 1815 reichen 27 und damit ein Kontinuum von mehr oder weniger dicht geknüpften Gemeinschaften aufspannen. Insgesamt öffnet Schmid auf diese Weise ein Wortfeld, in das sich die Vorstellung von einem
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Zur Wort- und Begriffsgeschichte von ,Bund' vgl. Sanders ( 1860 ff.) und Koselleck ( 1972).
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„Gelübde", das die Jugendlichen an den Stufen der Schillerbüste ablegen sollen, zwanglos einfügen kann. Die Anmahnung eines solchen „Gelübdes ernsten Ringens und Strebens nach allem Hohen und Edlen" trägt Züge einer Einsegnungsformel. Darauf deutet auch die Tatsache, dass dieses Gelübde an den „Stufen der Schillerbüste" abzulegen ist. Damit wird eine altargleiche Szenerie aufgebaut und die religiös-sakrale Dimension der Rede unterstrichen. Durch sie soll jeder Schüler emotional ergriffen werden, damit er sich zumindest für eine kurze Zeit als Teil eines Ganzen, einer (Fest)gemeinschaft entdecken kann. Der pathetische Spannungsbogen erreicht hier seinen Höhepunkt und vorläufigen Abschluss. Was folgt, ist eine Reminiszenz an die letzten Worte Schillers, die wie eine nachträgliche captatio benevolentiae die Ausführungen Schmids legitimieren soll. Die so kontextualisierte Metapher vom Band der Sprache legt das Bewertungssubstrat frei, das sich mit der Vorstellung von Sprache und Kultur als nationalem und sozialem Kitt verbindet. Auf diese Weise werden auch die kulturellen Techniken sichtbar, mit denen die Nationalidee inszeniert wird. Schiller wird als ein Medium der Identifikation aufgebaut, über das sich die Schüler emotional an die Nation binden sollen. Insgesamt präsentiert sich Schmid als energischer Pädagoge und engagierter Populisator der Nationalstaats- und Bildungsidee. Die Band-Metapher verleiht diesen Leitideen poetischen Ausdruck und spielt dabei auf eine ebenso elementare wie emotionale Erfahrung an. Sie trägt so, als Sinnbild eines gemeinsamen Kulturbesitzes, zur Nationalisierung bei und lässt die Vorstellung einer (Sprach)nation sichtbar und schließlich in einem Gemeinschaftserlebnis erfahrbar werden.
4. Zur Geografie der Band-Metapher Die Metapher vom Band der Sprache besitzt, wie gezeigt wurde, in erster Linie eine subjektformierende Funktion, indem sie die Projektion einer (Sprach)nation bildlich kodiert und im Gefühlsleben verankert. Eine solche Verwendung wirft die Frage auf, welche geografischen Umrisse gemeint sind, wenn von sprachlicher Vergemeinschaftung die Rede ist. Wo also liegt „des Deutschen Vaterland"? Die Äußerungen über die territoriale Ausdehnung Deutschlands sind diesbezüglich eher selten, zumeist vage und zum Teil widersprüchlich. Das gilt sowohl für die Frühphase des Nationalismus als auch für die sogenannte zweite Phase, die Zeit zwischen den Befreiungskriegen und der Reichsgründung. Arndts vielzitiertes Lied „Des Deutschen Vaterland" von 1813 gibt dabei den Grundtenor an, wenn es „das ganze Deutschland" sein soll, und zwar „so weit die deutsche Zunge klingt". Das schließt nicht nur Österreich, Elsaß-Lothringen und Schleswig-Holstein, sondern auch die Schweiz mit ein. Die Summe der „Stämme" und Regionen bildet die territoriale Größe Deutschlands, nicht die
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staatliche Einheit. In seiner Schrift „Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze", ebenfalls von 1813, wird Arndt noch deutlicher. Wenn die Sprache die Grenzen eines Volkes bestimmt, dann bedeutet das fur Deutschland eine Ausdehnung in den sogenannten „alten" Grenzen. So werden die Grenzen des Heiligen Römischen Reiches, das viele Völker umfasste, als die Grenzen des deutschen Vaterlandes betrachtet, innerhalb deren sich die nationalen Ambitionen bewegen. Arndt fuhrt dazu aus: „Diese scheiden es südlich durch die Alpen von Italien, durch die Ardennen von Frankreich; im Osten laufen sie an den Dalmaten, Kroaten, Ungarn und Polen hin; im Norden trennet die Ostsee und Eider die Teutschen von ihren skandinavischen Brüdern; im Westen schließt die Nordsee sie ein." (Arndt 1813, 43) Ähnlich wie Ernst Moritz Arndt hegt auch Joseph Görres in seiner Schrift „Resultate meiner Sendung nach Paris" (1800) Vorstellungen, die das ganze deutsche Sprachgebiet umfassen, d.h. die nordöstlichen Teile Preußens ebenso wie die Schweiz. Das Echo dieser weitreichenden Ambitionen hallt später in den immer wieder zitierten Liedern von Theodor Körner und Hoffmann von Fallersleben wider. Erscheint die geografisch-territoriale Ausdehnung der Band-Metapher in den zitierten Liedern und Schriften vorzugsweise im Kontext antifranzösischer Propaganda und glorifizierender Reminiszenzen an das alte Reich, so geben Theodor Heinsius und Jacob Grimm eher vage Auskunft. Theodor Heinsius beispielsweise assoziiert zwar mit der Band-Metapher regionale Aspekte und spricht von der „Vereinigung aller getrennten deutschen Völker" und der „Verschmelzung aller, noch so verschiedenen Mundarten und Abweichungen in eine einige und einzige Sprache, in die Schriftsprache" (Heinsius 1871, XIV), doch welche Dialektgebiete konkret gemeint sind, bleibt weitgehend unklar. Jacob Grimm wiederum beschäftigt sich mit der Band-Metapher in Zusammenhang mit der Behandlung des Germanischen und projiziert die politische Vereinigung auf alle Länder mit germanischen Sprachen. Dabei bleibt, wie Ammon (1995, 24) kritisch anmerkt, der geografische Raum der politischen Zielvorstellung in hohem Maße Fiktion, „ein niemals wirklich ernst genommenes Phantasiegebilde." Die Brisanz dieser gesellschaftspolitisch bedeutsamen Frage (Jeismann 1992) zeigt sich auch in den Schillergedenkreden 1959. Dabei sind zwei Tendenzen festzustellen: zum einen eine Orientierung an der sogenannten kleindeutschen Lösung, wie sie 1848 in den Debatten in der Frankfurter Paulskirche diskutiert wurde. In diesen Bereich fallen allerdings die wenigsten Reden. Hier werden oft schon zu Beginn der Ausführungen die einzelnen Regionen aufgezählt und die so umrissene Festgemeinschaft als Nation gedacht. Zum anderen eine Tendenz, bei der die Frage nach den äußeren Grenzen im Diffusen bleibt und im Allgemeinen poetisch verklärt, d.h. sentenziös beantwortet wird. Dann heißt es meistens „so weit die deutsche Zunge klingt" und die hohe Auftretenshäufigkeit dieser Sentenz deutet an, in
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welchem Ausmaß stereotypische Vorstellungen diesen Diskurs mitbestimmen. Vielleicht verbirgt sich dahinter aber auch eine Strategie, die es erlaubt, verschiedene Formen der Inklusion und Exklusion zu denken, eventuell sogar mehr anzudeuten, als gesellschaftspolitisch realistisch ist, gerade weil die Anspielungen nicht konkretisiert werden. Damit bestätigt sich, was Ueding/ Steinbrink als eine generelle Eigenschaft metaphorischer Redeweise hervorheben: „ M e t a p h o r i s c h e R e d e w e i s e deutet auf das Unfertige, O f f e n e der G e g e n s t ä n d e und T h e m e n hin, i n d e m s i e nicht f i x u n d f e r t i g e B e n e n n u n g e n ü b e r n i m m t , s o n d e r n d i e s e g e r a d e n e g i e r t , d u r c h n e u e I d e n t i f i z i e r u n g e n e r s e t z t u n d d a m i t d i e g e m e i n t e S a c h e in d e r S c h w e b e hält o d e r e r n e u t s c h w e b e n d m a c h t . " (Ueding/Steinbrink 1994, 2 9 6 )
Insgesamt lassen die Ausführungen erkennen, dass im Grunde niemals wirklich klar war, welche geografischen Umrisse die Metapher vom Band der Sprache eigentlich genau umspannt. Zu vage und widersprüchlich sind die Äußerungen, als dass sich eine solche eindeutige Aussage aus den Texten filtern ließe. Wie Busse 1995 gezeigt hat, gilt diese nebulose Tendenz auch für die Begriffsgeschichte von ,Volk' und ,Nation' 28 und sie gilt auch für die Geschichte der Wörter .Muttersprache' und ,Vaterland'. 29 Insofern bestätigt die metaphorische Praxis die Begriffsgeschichte.
5. Zur Ablösung der Band-Metapher Die Popularität der Band-Metapher im nationalsprachlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts hält bis zur Reichsgründung an und ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass sie als besonders einfache Strukturmetapher ein selbsterklärendes Bild darstellt. Sie ist also nicht mit dem Makel eines institutionalisierten Wissens behaftet. Da sie im Wesentlichen horizontal gedacht wird, stellt sie ein ideales Bild zur Erfassung einer Gemeinschaft von Gleichen dar
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Busse führt in diesem Zusammenhang aus: „Dies alles hat dazu geführt, daß selbst auf dem Höhepunkt der deutschen Einigungsbestrebungen Mitte des 19. Jahrhunderts niemals eindeutig war, w a s mit Deutschland von seiner eindeutigen Abgrenzung eigentlich gemeint war [...] Diese Unsicherheit schlägt sich im nationalen Diskurs nieder, und zwar u.a. in dem sich durch die ganze Begriffsgeschichte ziehenden Nebeneinander divergierender bis gegensätzlicher, miteinander konkurrierender Nationsbegriffe." (Busse 1995, 206 und 2 1 7 ) Vgl. A h l z w e i g 1997, 3 lf.: „zentral werden die Wörter Muttersprache und Vaterland [...], die Wörter, keine Begriffe, denn sie dürfen und können nicht definiert werden. Vaterland wird als geografische Bezeichnung verstanden, aber es darf nicht gesagt werden, ob Österreich, die Schweiz, Luxemburg usw. unter diesen Begriff fallen [...] Muttersprache bezieht sich auf ein sprachliches System, dessen Systemhaftigkeit ungeklärt bleiben muß, sein Verhältnis zu den verschiedenen Varietäten wird naturhaft aufgefaßt, aber nicht wirklich untersucht, diesem System (!) werden emotionale, kognitive und gemeinschaftsbildende Fähigkeiten zugesprochen, aber es darf nicht näher spezifiziert werden, welche Fähigkeiten dies im einzelnen sind."
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und lässt sich aufgrund ihrer konnotativen Nähe zu dem Wortfeld ,Familie' auch besonders leicht mit Wertvorstellungen wie ,Muttersprache' und .Vaterland' bzw. Vaterlandsliebe' assoziieren. Gleichzeitig beschreibt sie ein widerspruchsfreies Bild und ist ideologisch nicht einseitig besetzt. Dadurch kann sie von allen, jedweder politischen Couleur, d.h. national-liberalen wie konservativ-national Gesinnten gleichermaßen verwendet werden. Schließlich ist sie, wohl eher zufällig, etymologisch so deutsch wie nur irgend möglich. Mit der Reichsgründung ändert sich der gesellschaftspolitische Kontext und die Band-Metapher findet nur noch sporadisch Anwendung. Jetzt tritt sie zumeist in retrospektiven Zusammenhängen auf. Emil du Bois-Reymond, ein Physiologe und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin, mag hier als Beispiel dienen. In einer Festrede, in der er die Gründung einer Akademie der deutschen Sprache fordert, erklärt er rückblickend: „Die Sprache war lange beinahe das einzige Band, welches die jetzt das Reich ausmachenden deutschen Stämme zusammenhielt. Ihr verdankt das Reich seine Neuerstehung." (du Bois-Reymond 1874/1989, 348) Du Bois-Reymond bedient damit zugleich den Mythos 30 von der Sprachnation, die zum Nationalstaat fuhren musste. Barbour 1998 und Durreil (im Druck) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dieser Mythos unter anderem auch ein Produkt der germanistischen Sprachgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ist, die ebenso wie die allgemeine Geschichtsschreibung dazu beitragen sollte, die Nationwerdung mit Hilfe des Nachweises gemeinsamer Kulturwerte nachträglich zu legitimieren. So entstand der Mythos von der Einheit der deutschen Sprache, der sich sowohl auf die sprachlichen Verhältnisse im 19. Jahrhundert wie auch auf frühere Epochen bezieht. 31 In der Folgezeit erweist sich die Erfindung und Konstruktion dieses Mythos als besonders langund zählebig, nicht nur im Bereich der Sprachgeschichtsschreibung, sondern auch innerhalb des Bildungssystems im gymnasialen Deutschunterricht.
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Zur Rolle von Mythen im Formierungsprozess einer Nation vgl. Berding 1996, 8: „Immer dann, w e n n Nationen entstehen oder nationale Bewegungen sich entfalten, scheinen solche einheits- und identitätsstiftenden Mythen am Werk zu sein. Sie sind es offenbar, die das Gefühl der Zusammengehörigkeit stärken, emotionale Bindungen erzeugen, solidarisches Handeln fördern, das nationale Selbstverständnis mit Inhalt füllen und das kollektive Gedächtnis prägen." Vgl. auch Reichmann 1998, 29: „Eine einheitliche Sprache eignet sich über ihre literarischen und sonstigen bildungssprachlichen Varianten „in besonderer Weise zur symptomfunktionalen Identifizierung ihrer Sprecher. Sie wird damit zum einigenden Band, zum wirkungsvollsten, da als objektiv vermittelbaren Garanten der Konstitution nationaler Großgruppen bzw. nachdem diese existieren, ihrer Erhaltung und Verstärkung."
"
Durreil kommentiert diese Problematik wie folgt: „In diesem Zusammenhang käme der Geschichtsschreibung dieser Sprache eine höchst bedeutende Rolle zu, wenn sie die historische Einheit dieses Sprachvolks bestätigen könnte, denn dies würde die historische Rechtfertigung für den ethno-linguistischen Nationalismus liefern und gleichzeitig die nationale Einheit legitimieren." (Durreil im Druck)
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Die Band-Metapher verliert nach der Reichsgründung an Bedeutung und Attraktivität. Das sogenannte „Hochdeutsche", das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch als Gruppensprache und Sozialsymbol des Bildungsbürgertums fungierte, hatte sich nun aufgrund zunehmender Popularisierung und Pädagogisierung als Vorbild fur „gutes und richtiges Deutsch" weitgehend durchgesetzt, so dass es sozial und funktional immer mehr Verbreitung und Anwendung fand. Auch war sein Prestige durch die Aufwertung mit dem Gütesiegel „Klassikersprache" gesichert. Als Folge dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die mit den Stichworten gesellschaftliche Modernisierung und sprachliche Demokratisierung zusammengefasst werden kann, steigt der Distinktionsbedarf des Bildungsbürgertums und verlagert sich der thematische Schwerpunkt des Diskurses bzw. werden andere Diskurse dominant. Diese konzentrieren sich hauptsächlich auf Fragen der Sprachpflege und zielen auf die Bewahrung von Einheit und Reinheit. Ein Indiz für diese Entwicklung ist das Aufkommen der Sprachratgeber und Antibarbari, die seit den siebziger Jahren in rascher Folge den Markt erobern und im Ton immer schärfer werden, indem sie die fehlerhafte Beherrschung der Standardsprache als Ausdruck einer mangelnden nationalen Gesinnung interpretieren. Ursache dieser zunehmenden „Fetischisierung" von Sprache, so von Polenz 1999, ist die allgemeine Glorifizierung des Reichs und ein affirmativer Reichsnationalismus bzw. Sprachimperialismus. Um diesen gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen und Ausdruck zu verleihen, sind neue Bilder nötig. Diese sind zum einen stärker nationalistisch gefärbt und zum anderen an Topoi wie Sprachverfall und Sprachrichtigkeit orientiert. Organismusmetaphern wie „Verwilderung der Sprache", religiöse Metaphern wie „Sprachsünden" und militaristisch eingefarbte Bilder wie „deutsche Sprachgewalt" bestimmen daher in wachsendem Maße die bildliche Kodierung und werden klischeehaft von Sprachratgeber zu Sprachratgeber tradiert, wie die Zitierpraxis zeigt. So spannt sich das Metapherninventar vom Anfang bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf, wird aus dem unsichtbaren Band der Sprache ein unzerreißliches und schließlich ein mächtiges Band, das es zu verteidigen gilt, und zwar mit „Rüstzeug", „Waffen" und „Pfeilen", wie es bei Anton Rothe 1896, bezeichnenderweise Direktor im Reichsamte des Innern, heißt.
6. Zusammenfassung Wie gezeigt wurde, stellt die Band-Metapher das wohl populärste Bild im nationalsprachlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts dar. Als Ausdruck einer allgemeinen Gleichsetzung von Sprache und nationaler Identität mäandert sie vielfaltig attribuiert durch zahlreiche kulturpatriotische Schriften und bestimmt, wie an der Gedenkrede von Karl Adolf Schmid exemplarisch gezeigt wurde, die metaphorische Praxis der Schillergedenkfeiern 1859, die als die national-
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politisch bedeutendsten Veranstaltungen gelten. Mit Hilfe der Band-Metapher wird die Idee nationaler Vergemeinschaftung in eine sinnlich erfahrbare Form transformiert und emotional aufgeladen. Konventionalität und Vagheit begründen ihre metaphorische Potenz und kollektive Wirksamkeit. Im Zuge der fortschreitenden Fetischisierung von Sprache und im Zusammenhang mit den nationalideologischen Folgen der Reichsgründung verliert sie jedoch gegen Ende des 19. Jahrhunderts an Suggestivkraft und wird durch andere, stärker radikal-nationalistisch geprägte Bilder ersetzt.
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JÖRG KILIAN
Scherbengericht Zu Quellenkunde und Quellenkritik der Sprachgeschichte 1. Zur Einführung: Sprachscherben und Sprachgeschichtsforschung Die germanistische Sprachgeschichtsforschung geht seit einigen Jahren neue Wege. Nimmt man das große „Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung" zur Hand, das erstmals 1984/85 erschien und seit 1998 dreibändig in zweiter Auflage erscheint, oder greift man zu Peter von Polenz' „Deutscher Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart", deren drei Teile im letzten Jahrzehnt fertiggestellt wurden, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass eine - im weitesten Sinne - sozialgeschichtlich orientierte Sprachgeschichtsforschung (von Polenz benennt sie treffend als „soziopragmatische") die konzeptionelle Führung übernommen und andere Ansätze, beispielsweise die strukturgeschichtlich orientierte Sprachgeschichtsforschung, auf nachgeordnete Ränge verwiesen hat und gegebenenfalls integrativ einbezieht. 1 Kurzum: Die moderne Sprachgeschichtsforschung und -Schreibung erscheint mehr und mehr als Teildisziplin einer umfassenden „Historischen Sozialwissenschaft" (H.-U. Wehler). Ein Blick in die Geschichtswissenschaft der Gegenwart, die amerikanische vor allem, aber auch die französische und die deutsche, zeigt, dass diese Kerndisziplin der „Historischen Sozialwissenschaft" im Gegenzug die Sprachlichkeit der Geschichte neu entdeckt: Hinter konzeptionellen Schlagwörtern wie ,New historicism' und ,Linguistic turn' stehen Ansätze, die auch die Quellensprache selbst als Überrest der Res gestae und damit als Quelle historischer Erkenntnis verstehen, mehr noch: die „den wirklichkeitsstiftenden Charakter von Sprache" in den Quellen zu entschlüsseln suchen, sei diese nur als Spiegel oder gar als Faktor der Ereignisgeschichte begriffen. 2 In beiden Disziplinen der „Geschichtswissenschaften" - im Paul'schen Sinne - finden also neue Ansätze Anwendung und zeitigen Erfolge, die die Quellensprache zum Ausgang ihrer Erkundungen wählen. Ein gewisses UnbeVgl. Besch u.a. 1984/1985; Besch u.a. 1998/2000; von Polenz 1991/2000, 1994, 1999. Conrad/Kessel 1994, 26; vgl. den Überblick zur „linguistischen Wende" bei Iggers 1993, 87ff.; femer Toews 1987.
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hagen aber bleibt und wird mitunter auch in den Arbeiten selbst laut in Bezug auf die Ordnung und Bewertung der sprachlichen Quellen, wenn denn nicht ihre Inhalte, sondern ihre Sprache selbst zur Quelle wird,3 denn eine systematische Quellenkunde und Quellenkritik sucht man in der germanistischen Sprachgeschichtsforschung und -Schreibung bislang vergeblich. In den gängigen Einfuhrungen in die historische Sprachwissenschaft - genannt seien nur die Standardwerke von Norbert Boretzki, Theodora Bynon und Winfred P. Lehmann4 - werden methodologische Fragen, zu denen ja auch die Sichtung, Ordnung und Bewertung von Quellen gehört, weitestgehend ausgeklammert. In Überblicksdarstellungen zur deutschen Sprachgeschichte, etwa die von Wilhelm Schmidt, Christopher J. Wells, Gerhard Wolff oder Peter von Polenz, findet man ebenfalls keine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Quellen, die der Erforschung und Darstellung der Sprachgeschichte zugrunde liegen. In der jüngst abgeschlossenen Überblicksdarstellung aus der Feder Peter von Polenz' beispielsweise wird der sprachgeschichtlichen Quellenkunde und Quellenkritik nur en passant Aufmerksamkeit zuteil, etwa wenn von Polenz im Zusammenhang mit einer soziopragmatischen Sprachgeschichte auf bisher unbeachtete Quellengattungen hinweist (z.B. Memoiren, Tagebücher, Bittschriften).5 Was die Überblicksdarstellungen anbelangt, mag man als Ausnahmen von der bisher beobachtbaren Regel einige Darstellungen zu frühen Sprachstufen des Deutschen, vornehmlich zum Althochdeutschen, betrachten, die zur Ordnung der Überlieferung ein quellenkundliches Kapitel enthalten und nicht selten sogar quellenkritische Hinweise relativ zu bestimmten Erkenntnisinteressen, etwa der Rekonstruktion gesprochener Sprache im Althochdeutschen, mit sich fuhren.6 Je näher die sprachgeschichtliche Zeit indes der Gegenwart kommt, desto mehr verliert sich diese allgemeine quellenkundliche und quellenkritische Spur zusehends und wird lediglich noch einmal im
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6
Irmgard Weithase ( 1 9 6 1 , 1 , 7) beispielsweise nennt es „ein gewagtes Unterfangen", vergangene gesprochene Sprache auf der Grundlage schriftsprachlicher Quellen rekonstruieren zu wollen und sie verbleibt deshalb auf dem relativ sicheren Terrain der sprachreflexiven und sprachthematisierenden Quellen; Angelika Linke (1996, 32ff.), um ein Beispiel aus der Forschung der Gegenwart anzuführen, bezeichnet es zu Recht als „heikel", von den Daten einer „Sprachgebrauchsgeschichte" auf Mentalitäten zu schließen und wählt deshalb für ihre mentalitätsgeschichtliche Untersuchung zur Sprachkultur des Bürgertums im 19. Jahrhundert ebenfalls eine Quellengattung, die den zeitgenössisch bereits normativ interpretierten Sprachgebrauch überliefert, nämlich das Anstandsbuch. Das Problem der Quellenkritik ist mit der Wahl sprachreflexiver Quellen freilich nicht gelöst. - In der Geschichtswissenschaft hingegen werden zwar sprachphilosophische Ansätze zur Klärung des Verhältnisses zwischen Wort und Welt sowie begriffsgeschichtliche Beschreibungsansätze rezipiert, doch blieb eine umfassende Rezeption sprachtheoretischer und sprachhistorischer Ansätze und Ergebnisse bislang aus. Vgl. Boretzky 1977; Bynon 1977/1981; Lehmann 1962/1969. Vgl. von Polenz 1991, 15. Allerdings scheint von Polenz die Quellenkunde und Quellenkritik auch nicht zu den Aufgaben der Sprachgeschichtsschreibung zu rechnen, die er ausdrücklich von der Sprachgeschichtsforschung trennt (ebd., 9). Vgl. z.B. Sonderegger 1974, 57ff.; Sonderegger 1985.
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Zusammenhang mit der Behandlung sprachgeschichtlich neuer Textsorten, etwa der Flugschriftenliteratur im Frühneuhochdeutschen, schwach sichtbar. 7 Sucht man nun in den großen Kompendien der germanistischen Sprachwissenschaft und Sprachgeschichtsforschung bzw., wenn man den Blick etwas weiter schweifen lässt, der deutschen Philologie, so wird man auch dort nur mit mäßigem Erfolg fundig. Eine systematische Einfuhrung in Grundsätze der sprachgeschichtlichen Quellenkunde und Quellenkritik fehlt in aller Regel. Die einschlägigen Nachschlagewerke unseres Faches gehen an dieser Frage vorüber: Im LGL etwa findet Winfred P. Lehmann in seinem Artikel „Historiolinguistik" nur wenige Worte für Datenlücken der Sprachgeschichtsforschung; das LGL-Register verweist zudem noch auf das Problem „Quellenkritik in der Namenkunde", das im entsprechenden Artikel aber schnell abgehandelt ist; für die „Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache" sowie für Hadumod Bußmanns „Lexikon der Sprachwissenschaft" gilt mutatis mutandis dasselbe; nur in dem von Helmut Glück herausgegebenen „Metzler Lexikon Sprache" findet sich wenigstens ein kurzer Artikel „Quellenkunde" mit ersten Hinweisen zu diesem Thema. Auch das bereits genannte „Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung" bildet in diesem Bezug keine grundsätzliche Ausnahme; allerdings erhält der Leser in Walter Hoffmanns Artikel über die „Korpusbildung in der Sprachgeschichtsschreibung" und sodann in den Artikeln über „Reflexe gesprochener Sprache" in verschiedenen Sprachstufen (beispielsweise der des Althochdeutschen) eine Hinführung zum Problem. Dieser Befund, das sei betont, ist nicht unmittelbar als Ausweis der Forschungsinteressen der modernen germanistischen Linguistik zu lesen. Auch die ältere Sprachgeschichtsforschung und -Schreibung, die sich noch in einem engeren Sinne als Teil der Deutschen Philologie verstand, nahm die Quellen, wie sie kamen. In den älteren Kompendien konzentrieren sich die Verfasser, wenn quellenkundliche und quellenkritische Fragen überhaupt angeschnitten werden, auf die Prinzipien der historisch-philologischen Arbeit zum Zweck der Rekonstruktion und Exegese literarischer Texte. Im Artikel „Sprachwissenschaftliche Methodenlehre" aus der Feder Leo Weisgerbers, publiziert in dem verdienstvollen und auch heute noch ob der Materialfülle beeindruckenden Grundlagenwerk „Deutsche Philologie im Aufriss", wird das Thema „Quellenkunde und Quellenkritik" gar nicht berührt, 8 doch findet sich im selben Band im Artikel „Sprechkunde" von Walter Wittsack immerhin ein kurzer Ausblick auf „Geschichtliches", in dem auch die Quellenlage kritisch begutachtet wird. 9 Dasselbe gilt grundsätzlich auch für Hermann Pauls Beitrag zur „Methodenlehre" in dem von ihm herausgegebenen „Grundriss der germanischen Philologie". Zwar widmet Paul den Quellen durchaus einige grundsätzliche Überlegungen: „Alle philologische und historische Untersuchung", schreibt 7 8 9
Vgl. z.B. W o l f f 1986, 104f.; Wells 1990, 245f.; Schmidt 1996, 102f. Vgl. Weisgerber 1957. Vgl. Wittsack 1957, bes. Sp. 1518ff.
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Paul, „geht aus von den sogenannten Quellen. Wir werden diesen Begriff am besten so definieren: Quellen sind diejenigen Thatsachen aus dem Ganzen der historischen Entwickelung, welche unserer Beobachtung unmittelbar zugänglich sind". 10 In dem Abschnitt „Kritik der Zeugnisse" bietet er indes keine Quellenkunde und Quellenkritik i.e.S. Zu den Quellen der Sprachgeschichtsschreibung verliert Paul kaum ein Wort; er fordert lediglich, das „Alter" und die „Herkunft" der Quelle zu bestimmen, und spricht die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion von „Lautwerten" aufgrund unterschiedlicher Orthografien an.11 Breiten Raum widmet er demgegenüber den Textzeugnissen der Literaturgeschichtsschreibung und der Rekonstruktion der Textzeugnisse. 12 Quellenkunde und Quellenkritik zum Zweck der Sprachgeschichtsforschung, so darf man schließen, ist kein Thema der germanistischen Sprachwissenschaft. Wer etwas darüber erfahren will, muss kleinere quellenkundliche Spezialstudien oder aber sprachgeschichtliche Untersuchungen zur Hand nehmen, in denen die Verfasser je ihre eigenen Quellenkunden und Quellenkritiken entwickeln. Lutz Mackensen beispielsweise hat 1956/57 über „Zeitungen als Quelle zur Sprachgeschichte" berichtet, Peter von Polenz hat die „Quellenwahl für Dokumentation und Erforschung der deutschen Sprache der Gegenwart" untersucht, Oskar Reichmann hat „Historische Wörterbücher als Forschungsinstrumente der Kulturgeschichtsschreibung" quellenkritisch bewertet und Thomas Gloning hat „Sprachreflexive Textstellen als Quelle für die Geschichte von Kommunikationsformen" betrachtet. 13 Auch neuere sozial- und kulturgeschichtlich, mentalitäts- und ideengeschichtlich orientierte sprachgeschichtliche Detailstudien messen dem kritischen Blick auf ihre Quellen höheren Wert zu, sei es, weil gerade die neuen Erkenntnisinteressen zu ihrer Befriedigung stets umfangreiche und vielgestaltige Korpora erfordern, sei es, weil diese Untersuchungen es mit bislang ignorierten Quellengattungen zu tun haben und das Bedürfnis besteht, diese neuen sprachgeschichtlichen Zugänge zu legitimieren. 14 Soweit ich sehe, hat Brigitte Schlieben-Lange als eine der ersten den Versuch unternommen, die „pragmatische Wende" in die Sprachgeschichte zu führen und auch einen Blick auf die Quellen zu werfen. In ihrem 1983 erschienenen Buch „Traditionen des Sprechens" zählt sie zu den „Elementen 10
"
12 13 14
Paul 1891, 155. Vgl. Paul 1891, 199ff.; dazu 193: „Hat man es mit einer Sprache zu thun, die in Niederschrift vorliegt, so muss man sich statt der Laute zunächst an die Buchstaben und sonstigen Schriftzeichen halten. Es macht dann aber weiter einen Unterschied, ob der Schreibende rein von der gesprochenen Sprache ausgegangen ist und aufgrund einer Analyse derselben die Zeichen gewählt hat, oder ob er bereits einer Schreibertradition folgt (vgl. darüber Princ. 3 2 8 f f ). In dem ersten Falle sind sie für uns nur Andeutungen, mit Hülfe deren wir nach Möglichkeit auf die gesprochenen Laute zu gelangen suchen müssen; in dem letzteren haben sie daneben eine selbständige Bedeutung, sind gewissermaßen Elemente der Sprache selbst, insoweit dieselbe schriftlich fortgepflanzt wird." Vgl. Paul 1891, 217ff. Vgl. Mackensen 1956/57; von Polenz 1966; Reichmann 1986; Gloning 1993. Vgl. z.B. Linke 1996, 34ff.; Schikorsky 1990, 28ff.
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einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung" (Untertitel) eben auch quellenkritische Sondierungen und widmet ein kurzes Kapitel den „Quellen einer Geschichte der Traditionen des Sprechens". 15 Sehr richtig stellt sie darin fest, dass auch die Sprachgeschichtsschreibung, wie alle Historiografie, der Quellenlage hoffnungslos ausgeliefert ist: „Wir müssen nehmen, was wir von den Quellen bekommen." 16 Was die Quellen uns nicht geben, mag mitunter zwar dennoch existiert haben - man denke nur an den rekonstruierten, nie in Quellen überlieferten Phonembestand des Indogermanischen - , doch geben die Quellen nur ein Licht in dunkler Nacht oder, wie Hermann Paul es formulierte: „Das wirklich Gegebene ist nur die Überlieferung." 17 Im Falle des Indogermanischen und auch in anderen Fällen konnten gleichwohl die von Wilhelm von Humboldt geforderten und von Schlieben-Lange wieder in Erinnerung gebrachten vornehmen Qualitäten des Sprachhistorikers, nämlich „Ahndungsvermögen und Verknüpfiingsgabe", die Konstruktion der Sprachgeschichte und - im Sinne einer Konjekturalgeschichte - die Rekonstruktion der historischen Sprache leisten. In diesem Sinn hat auch Angelika Linke empfohlen, ein „Arrangement" mit den Quellen zu treffen insofern, als der Leitbegriff der (sozio-pragmatischen) Sprachgeschichte der der „Rekonstruktion" sein müsse. 18
2. Werkzeug (auch) des Sprachhistorikers: Ansätze der geschichtswissenschaftlichen Quellenkunde und Quellenkritik In dem verdienstvollen Bändchen „Werkzeug des Historikers" von Ahasver von Brandt, erstmals 1958 erschienen und seither mehrfach aufgelegt, leitet der Autor den Abschnitt „III. Die Quellen" wie folgt ein: „ D i e Lehre von den historischen Quellen überhaupt ist die ( A l l g e m e i n e ) Quellenkunde; spezielle Quellenkunden unterrichten über die Quellen, die für bestimmte zeitlich, räumlich oder sachlich begrenzte Abschnitte in Betracht k o m m e n . Für alle Quellen gelten die R e g e l n und Erfordernisse der Quellenkritik, insbesondere die allgemeinen p h i l o l o g i s c h e n Arbeitsgrundsätze, die zuerst an den literarischen Quellen entwickelt worden sind." 1 9
Es ist sogleich ersichtlich, dass Quellenkunde und Quellenkritik einander bedingen, j a gleichsam den hermeneutischen Zirkel der Quelleninterpretation begründen. In etwas didaktisierender Form kann man von Brandts weitere 15 16 17
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Schlieben-Lange 1983, 37ff. Schlieben-Lange 1983, 38. Paul 1891, 160. Linke 1995,372. von Brandt 1966, 58f.; vgl. auch Boshof/Düwell/Kloft 1973, 9. Einen bibliografischen Überblick über die geschichtswissenschaftliche Quellenkunde und Quellenkritik bietet der erste Band von Dahlmann-Waitz 1969 in den Abschnitten 24 und 25.
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Ausführungen dahingehend zusammenfassen, dass es Ansätze einer Allgemeinen Quellenkunde gibt, die eine Ordnung der Überlieferung nach dem , S t o f f , nach der .Aussageform' und der (zeitgenössischen) ,Zwecksetzung' der Quelle versuchen, während die Quellenkritik den .Aussagewert' der Quelle fur den Historiker zum Maßstab der Gruppierung erhebt. Quellen, so von Brandt im Anschluss an Paul Kirn und ganz ähnlich wie Hermann Paul, sind „alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann." 20 Am Anfang der noch heute gängigen Methodologie der historiografischen Quellenkritik stehen Johann Gustav Droysens „Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte", die er seit 1843 ausarbeitete und erstmals im Sommersemester 1857 hielt.21 Droysen gliederte die aus der Vergangenheit auf uns gekommenen Texte, Gegenstände oder Tatsachen in drei Gruppen, in „Quellen", „Überreste" und „Denkmäler": (1) Das, „was die Rückschau früherer Zeiten in ihre Vergangenheit, die aufgezeichnete Vorstellung oder Erinnerung über dieselbe bietet, nennen wir Quellen. [...]; wesentlich ist uns an ihnen, daß die, v o n denen sie stammen, die Absicht hatten, Nachricht v o n früheren Vorgängen oder Zuständen zu geben." ( 2 ) „ V o n ganz anderer Art ist es, wenn aus der Vergangenheit selbst allerlei D i n g e noch erhalten und entweder mannigfach umgestaltet oder trümmerhaft und um so unkenntlicher noch in unserer Gegenwart da sind. [...] Diese ganze Kategorie von Materialien nennen wir Überreste." - Es ist hier anzumerken, dass Droysen ausdrücklich „unsere Sprache" bei den „Überresten" erwähnt. (3) Es gibt „Überreste einer vergangenen Zeit, aus der sie für die künftigen Geschlechter Zeugnis über einen bestimmten Vorgang geben, die Vorstellung über denselben fixieren wollen. U m dieses ihres monumentalen Charakters willen nennen wir sie Denkmäler."21
Das wichtigste Kriterium der Quellenkritik ist für Droysen also das der Absichtlichkeit bzw. Unabsichtlichkeit der Überlieferung. 23 Dieses Kriterium hat Ernst Bernheim in seinem „Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie" aus dem Jahre 1868 aufgegriffen, die Systematik Droysens verkleinert und begrifflich verfeinert. Bernheim unterscheidet nurmehr zwischen „Überrest" und „Tradition". Zum „Überrest" gehört alles, „was unmittelbar von den Begebenheiten übrig geblieben ist"; zur „Tradition" alles, „was von den Begebenheiten übrig geblieben ist, hindurchgegangen und wiedergegeben durch menschliche Auffassung." 24 Mit Begriffen der Semiotik gefasst, können wir also sagen, dass „Überrest"-Quellen Quellen ohne Sender sind, „Anzeichen" also für vergangenes Geschehen, während „Traditions"Quellen von einem Sender überlieferte Zeichen sind.
10 21 22 23 24
von Brandt 1966, 58; vgl. auch Besson 1961, 270f. Vgl. Droysen 1967, IX. Droysen 1967,37f. Vgl. auch von Brandt 1966, 62. Zitiert nach von Brandt 1966, 62.
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Mag diese Bernheim'sche Bestimmung trotz aller Kritik, die sie erfahren hat 25 , auch uneingeschränkt für den Ereignishistoriker gelten, der aus den Quellen etwas über ein bestimmtes historisches Ereignis erfahren will, so ist sie für den Sprachhistoriker doch nicht ganz zutreffend. Denn die Aufgaben des Sprachhistorikers sind andere als die des Ereignishistorikers: Dieser muss die vergangenen Ereignisse, die Res gestae, aus den zum großen Teil sprachlichen Quellen extrahieren und neu in seine Sprache übersetzen, jener hingegen die vergangene Sprache selbst als ein historisches Ereignis, als sprachgeschichtliche res gestae, deuten. Und für diesen Zweck ist gleichsam jedes sprachliche Mittel recht, weil jedes (schrift)sprachliche Zeugnis aus vergangenen Tagen, wenn es nicht gerade absichtlich eine ältere Sprachstufe zu imitieren sucht, 26 die Sprache der Tage seiner Entstehung überliefert, ob der Autor dies nun wollte oder nicht; die Quelle ist hier in gewisser Hinsicht mit dem Ereignis identisch. Jedesmal, wenn jemand den Mund auftut, um zu sprechen, oder die Feder spitzt, um zu schreiben - er mag sagen und notieren, was er will - , bleibt im Gesprochenen und Geschriebenen auch etwas von dieser Sprache aus dieser Zeit erhalten - „und so schreibt jeder Verfasser einer Weltgeschichte damit seine eigne mit unsichtbarer Dinte dazwischen", heißt es bei Jean Paul. 27 Ob eine Quelle also „Überrest" oder „Tradition" ist, ist keine Eigenschaft der Quelle, sondern eine Eigenschaft, die ihr im Rahmen der Quellenkritik relativ zu einem konkreten Erkenntnisinteresse seitens des Historikers zugewiesen wird. Als Faustregel soll dabei gelten: „ D i e Q u e l l e d i e n t a l s Tradition,
w e n n e s d a r u m g e h t , w a s ihr U r h e b e r ü b e r dritte
D i n g e m i t t e i l e n w o l l t e [...]. S i e d i e n t a l s Überrest,
w e n n e s d a r u m g e h t , w a s ihr
U r h e b e r ü b e r s i c h s e l b s t und s e i n e e i g e n e Zeit, z . B . in Stil, B e g r i f f s s p r a c h e o d e r 28
T a t s a c h e n a u s w a h l u n a b s i c h t l i c h m i t t e i l t [...]."
Die geschichtswissenschaftliche Quellenkunde differenziert sodann weiter, ob der Urheber der Quelle Mittäter, zumindest aber Mitlebender des Ereignisses war, über das er berichtet, oder aber ob er selbst nur aus zweiter Hand zu
25 26
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Vgl. von Brandt 1966, 62ff.; Henz 1974, 21ff. So lässt beispielsweise Wilhelm Raabe die Figuren in seiner Erzählung „Das Odfeld" nicht wie Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts sprechen, sondern wie Menschen des Jahres 1761 seiner Meinung nach gesprochen haben könnten. Diese Erzählung ist selbstredend keine Sprachquelle für das 18. Jahrhundert. Jean Paul: 1804/05, 977 (= Flegeljahre (Nr. 56. Fliegender Hering)), in: Jean Paul: Werke. Bd. 2, hrsg. von Gustav Lohmann, Darmstadt 1959. Dies meint auch Hermann Paul (1920, 4), wenn er hervorhebt, w i e sehr gerade die sprachlichen Quellen unser vermeintliches Wissen über die historische Wirklichkeit bestimmen. „Für die Geschichte des Menschengeschlechts", schreibt er in seinen „Prinzipien der Sprachgeschichte", „haben immer von gleichzeitigen Zeugen herstammende, wenn auch vielleicht erst mannigfach vermittelte Berichte über die Tatsachen als eigentliche Quelle gegolten und erst in zweiter Linie Denkmäler, Produkte der menschlichen Kultur, die annähernd die Gestalt bewahrt haben, welche ihnen diese gegeben hat." Besson 1 9 6 1 , 2 7 4 .
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berichten weiß, also gleichsam, ob er selbst Mime oder nur Rhapsode ist. Im ersten Fall handelt es sich um „Primär"-, im zweiten um „Sekundär"-Quellen. Ich fasse den Blick auf die historischen Hilfswissenschaften schematisch zusammen: Eine .Quellenkunde' ist die Lehre von den historischen Quellen und soll den Schatz der Überlieferung sammeln und ordnen; eine Quellenkritik' ist die wissenschaftliche Bewertung der Quellen und soll den Aussagewert einer Quelle relativ zu einer bestimmten Neugier des Historikers festlegen. Für die Quellenkritik gibt es vier Makro-Kategorien, die wie folgt miteinander koordinierbar sind: Oberrestquellen
Traditionsquellen
Primärquellen Sekundärquellen
Abb. 1 :
Makro-Kategorien der historiografischen Quellenkritik
3. Sprachgeschichtliche Quellenkunde oder: Zur Typologie der Scherben Das wohl bedeutsamste Ergebnis der Auswertung quellenkundlicher und quellenkritischer Ansätze der Geschichtswissenschaft ist, dass es keine objektiv vorgegebene Quellenkunde und Quellenkritik gibt, sondern jeder Text aufgrund einer bestimmten Neugier, einer bestimmten Fragestellung, eines bestimmten Erkenntnisinteresses überhaupt erst zur Quelle wird. 29 Es ist dabei, wie ebenfalls deutlich wurde, sehr genau zu differenzieren zwischen Quellenkunde und Quellenkritik. Ich werde im Folgenden zunächst Grundlinien einer allgemeinen Quellenkunde der Sprachgeschichtsforschung skizzieren und daran anschließend diese allgemeine Quellenkunde der ordnenden Hand einer konkreten Quellenkritik unterwerfen. Als Beispiel dienen die Quellen zum Sozialistengesetz Bismarcks (1878-1890). Nimmt man einschlägige Bibliografien und Quellenkunden zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zur Hand 30 und recherchiert dort die gedruckten Quellen zum Sozialistengesetz in quellenkundlicher Hinsicht, so lassen sich diese nach Maßgabe von , S t o f f , ,Aussageform' und ,Zwecksetzung' einer Ordnung nach Textsorten zufuhren. Dieses Verfahren ist in der germanistischen Sprachgeschichtsforschung 31 und übrigens auch in der Geschichtswissenschaft bereits üblich, gestattet es doch eine Ordnung aufgrund gemeinsamer Textmerkmale noch ganz unabhängig vom konkreten Erkenntnis25
Vgl. auch v o n Brandt 1966, 59.
30
Vgl. z . B . Baumgart 1991; Born 1966; Schraepler 1962; Tenfelde/Ritter 1981; speziell zur Q u e l l e n l a g e z u m S o z i a l i s t e n g e s e t z auch Pack 1961, 6ff.
31
V g l . z . B . K u n z e 1982.
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interesse des Historikers. Walter Hoffmann beispielsweise führt in dem schon erwähnten Artikel zur „Korpusbildung in der Sprachgeschichtsschreibung" u.a. die Kategorien „Zeit", „Raum", „Produzent", „Textsorte" und „Überlieferungsform" als Ordnungskriterien an und nennt u.a. die Urkunde und die Vorakte als Textsorten. 32 Und auch Ahasver von Brandt ordnet die Quellen der von ihm herausgehobenen Quellengruppe „Geschäftsschriftgut" in die Gattungen Urkunde und Akten und erstere wiederum in Untergruppen wie Beweisurkunde, Diplom und Mandati In beiden Fällen, dies wird rasch deutlich, bildet die mittelalterliche Textüberlieferung den Ausgang der Überlegungen. Für die Zwecke der Sprachgeschichtsforschung und -Schreibung ist indes schon in quellenkundlicher Hinsicht die Gruppierung der Quellen nach dem , S t o f f , nach der , Aussageform' und der (zeitgenössischen) ,Zwecksetzung' zu verfeinern. Denn die vorgeführte Gruppierung nach der Datierung, Lokalisierung und Textgattung bzw. -sorte orientiert sich nur an der äußeren Aussageform der Quelle und an der zeitgenössischen Zwecksetzung. Für die Zwecke der Sprachgeschichtsschreibung muss jedoch auch die innere Aussageform der Quelle quellenkundliche Berücksichtigung finden. Die vielen Gespräche Bismarcks etwa, die in Tagebuchblättern überliefert sind, müssten, wollte man nur die äußere Aussageform beachten, der Textsorte Tagebuch zugewiesen werden; die Debatten im Reichstag müssten dementsprechend der Textsorte Stenografisches Protokoll zugewiesen werden, denn das ist die Aussageform ihrer Überlieferung. Es ist offensichtlich, dass der textsortenspezifische Zugriff zwar für die Quellenkritik wichtig wird, für die Quellenkunde indes zu grob ist. Weil für den Sprachhistoriker das Ereignis, das er untersuchen will, etwa: „die Sprache Bismarcks im Gespräch" oder: „die Rhetorik der Debattenreden im Reichstag", medial mit dem Stoff der dieses Ereignis überliefernden Quelle zusammenfällt, muss bereits quellenkundlich nach äußerer mitteilender und innerer mitgeteilter Aussageform differenziert und bei Verschiedenheit beider der inneren Aussageform der Vorzug gegeben werden. Eine Quellenkunde, die der Sprachgeschichte dienen soll, muss also in Kauf nehmen, ein und dieselbe Quelle bereits quellenkundlich mehrfach zu berücksichtigen, je nach den Aussageformen, die sie überliefert. Nur so bleiben die Gespräche Bismarcks auch quellenkundlich Gespräche, und die Debatten bleiben auch quellenkundlich Debatten.
32 33
Hoffmann 1998, 879. Vgl. von Brandt 1966, 97ff. Auch in der mehrfach aufgelegten Einführung in die „Grundlagen des Studiums der Geschichte" von Egon Boshof, Kurt Dtlwell und Hans Kloft erscheinen im quellenkundlichen Kapitel ausschließlich Textsorten, als „Quellen der Tradition" beispielsweise „Biographien, Autobiographien, politische Darstellungen und Reisebeschreibungen" (vgl. Boshof/Düwell/Kloft 1973, 213) und als „schriftliche Überreste" wiederum „Urkunden" und „Akten", sodann aber auch, unter anderem, „Briefe, Tagebücher, Gesprächsaufzeichnungen" und „literarische Überreste" (ebd., 223ff); vgl. auch Rusinek/ Ackermann/Engelbrecht 1992, deren Quellenkunde in Kapitel zu einzelnen Textsorten gegliedert ist.
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Zur systematischen Ordnung der äußeren und gegebenenfalls der inneren Aussageform können nun zusätzliche Kriterien herangezogen werden, wie sie in der literaturwissenschaftlichen Gattungstypologie sowie in der Text- und Gesprächslinguistik zur Klassifikation von Texten und Gesprächen entwickelt wurden. 34 Mit ihrer Hilfe können die Quellen geordnet werden nach Maßgabe der in ihnen überlieferten (also sowohl der äußeren mitteilenden wie der inneren mitgeteilten) Redekonstellation, beispielsweise nach den Kriterienpaaren ,mündlich/schriftlich', ,formal monologisch/formal dialogisch', .Anzahl und Konstellation der Teilnehmer', .räumliche und/oder zeitliche Nähe/Distanz der Teilnehmer', ,natürlich/arrangiert/fiktiv/fiktionar, ,Nahkommunikation/ Fernkommunikation', ,öffentlich/privat', .institutionell normiert/standard- oder umgangssprachlich normiert', .direkte Rede/Redewiedergabe', ,objektsprachlich/sprachreflexiv'. Diese Merkmale korrelieren mit den sprachwissenschaftlich möglichen Ebenen der Sprachbeschreibung, für die eine Quellengattung noch ganz unabhängig von den Maßgaben eines konkreten Erkenntnisinteresses Aussagekraft besitzen kann oder nicht. So sind etwa die in Tagebüchern überlieferten erinnerten authentischen Gespräche im Hause Bismarcks durch folgende mitgeteilte quellenkundliche Sortenmerkmale gekennzeichnet: Sie sind .mündlich' und .formal dialogisch' - aus quellenkritischer Perspektive ist die Mündlichkeit und Dialogizität freilich sodann relativ zum Erkenntnisinteresse zu beurteilen - sodann sind sie .privat', umgangssprachlich normiert' und .natürlich'. Schon diese wenigen quellenkundlichen Merkmale machen die mitgeteilte Aussageform von den sortenspezifischen Charakteristika her ungeeignet fur eine Untersuchung etwa privater Schriftlichkeit im 19. Jahrhundert, während die mitteilende Aussageform, nämlich das Tagebuch, gerade für ein solches Erkenntnisinteresse von großem Wert ist. Die quellenkundlichen Merkmale leisten also auch bereits Vorarbeit für die Beurteilung des Aussagewerts einer Quelle im Rahmen der Quellenkritik. Nicht alle Quellen, die der Sprachgeschichtsforschung zufließen, weisen Unterschiede zwischen mitteilender und mitgeteilter Aussageform auf. Überschaut man die Quellen zum Sozialistengesetz, so sind die monologischen amtlichen Schriftstücke (amtl. Briefe, Berichte, Immediatschreiben, Erlasse) Bismarcks, ferner die monologischen schriftsprachlichen regierungsamtlichen Akten und Urkunden, die Gesetzestexte und das institutionell-parlamentarische Schriftgut (z.B. Amendements) grundsätzlich von gleicher mitteilender wie mitgeteilter Aussageform. Sie selbst sind insofern „Überrest"-Quellen für diese Textsorten, wie beispielsweise das Telegramm Bismarcks vom 11. Mai 1878 an seinen Staatssekretär von Bülow, mit dem die Kommunikationsgeschichte des Sozialistengesetzes einsetzt: „Sollte man nicht", telegrafiert Bismarck nur wenige Stunden nach dem ersten Attentat auf Wilhelm I., „von dem Attentat Anlaß zu sofortiger Vorlage gegen Sozialisten und deren Presse nehmen? Bitte
Vgl. z.B. Heinemann/Viehweger 1991, 133ff. und die dort aufgeführten Kriterienkataloge zur Text- und Gesprächsklassifikation.
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[Innenminister, J.K.] Graf zu Eulenburg zu fragen." 35 Wir fassen hier also typische Merkmale der Textsorte Telegramm im „Überrest". Schon etwas eingeschränkter ist die Übereinstimmung von mitgeteilter und mitteilender Aussageform bei den Geheimberichten der Polizei über sozialdemokratische Aktionen, 36 ferner bei schriftlichen Parteiberichten über die im Ausland abgehaltenen Parteikongresse, 37 insofern z.B. der Bericht als mitteilende Aussageform wiederum eine Rede als mitgeteilte Aussageform enthalten konnte. Im Bereich der privaten Quellen ist noch genauer zwischen den Aussageformen zu differenzieren bei Briefen und autobiografischen Texten, wie z.B. August Bebels „Aus meinem Leben" oder Bismarcks „Erinnerung und Gedanke", die jeweils auch amtliche Quellen zitieren, Gespräche erinnern, Flugblätter, Wahlaufrufe und Zeitungsmeldungen mitteilen. Noch schwieriger wird es, wenn fiktionale Texte hinzugezogen werden, etwa der „Stechlin" Theodor Fontanes, der zum größten Teil aus Gesprächen besteht. In diesen Gesprächen werden nicht nur Merkmale gesprochener Sprache am Ende des 19. Jahrhunderts überliefert, sondern auch landläufige Bewertungen des Sprachgebrauchs, gar Sprach-Mentalitäten, beispielsweise wenn es zum sozialdemokratischen Drechslergesellen Söderkopp heißt, er verstehe es, „die Leute zu packen" und könne deshalb „auch noch mal Bebel werden." 38 Bebel war, wie bekannt, vor seiner politischen Laufbahn Drechsler, und er galt am Ende des 19. Jahrhunderts auch bei politischen Gegnern als begnadeter Redner, was Fontane, fiktional gebrochen, überliefert. 39 Zwei Quellengattungen seien hier im Rahmen der allgemeinen Quellenkunde noch erwähnt, die nur mittelbar mit dem Sozialistengesetz in Verbindung zu bringen, aber fur die Sprachgeschichtsforschung von großem Wert sind: Ich meine einmal die zeitgenössischen Grammatiken und Wörterbücher, die den gewünschten oder vermeintlichen - Zustand einer Sprache zu einer bestimmten Zeit mehr oder minder normativ dokumentieren. Und da sind zum anderen die Anekdoten, die vornehmlich der Geschichte der gesprochenen Sprache sowie einer Kulturgeschichte des Sprechens einiges zu bieten haben und bislang zumeist missachtet worden sind.40 Von Bismarck sind, wie man sich vorstellen kann, zahlreiche Anekdoten überliefert, die Material für ein Sprachprofil des „eisernen Kanzlers" bereitstellen. 41 Das gleiche gilt mutatis mutandis auch fur
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Bismarck, Werke, Bd. 6c: Die politischen Schriften 1871-1890. Bearb. von Werner Frauendienst, 2. Aufl. Berlin 1935, 109. Vgl. z.B. Dokumente aus geheimen Archiven 1983. Vgl. z.B. das Protokoll des Kongresses der deutschen Sozialdemokratie. Abgehalten auf Schloß Wyden in der Schweiz am 20. bis 23. August 1880, Zürich 1880. Vgl. Theodor Fontane: Der Stechlin, in: Sämtliche Werke. Romane, Erzählungen, Gedichte. Hrsg. von Walter Keitel, Bd. 5, München 1966, 189; dazu Kilian 1999. Zu Bebel als politischem Redner vgl. Porsch 1982; Goldberg 1998, 99ff. Soweit ich sehe, hat erstmals Helmut Henne (1994, 34) im Zusammenhang mit einer Sichtung von Quellen zur historischen Gesprächsanalyse auf die Anekdote hingewiesen. Vgl. z.B. Carstensen 1968.
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die „geflügelten Worte", die aus Bismarcks Munde überliefert sind, beispielsweise die stattliche Reihe im noch zeitgenössischen Büchmann aus dem Jahre 1905. Dort finden wir u.a., dass sich Bismarck am 17. September 1878, also in seiner Rede in der Generaldebatte zum Sozialistengesetz, August Bebel zuwendet und seine eigenen früheren Kontakte zu Ferdinand Lassalle als bedeutungslos beiseite schiebt - und nebenbei den Ausdruck do ut des „flügelt": „Er [Lasalle] war", fuhrt Bismarck am 17. September 1878 aus, „nicht der Mann, mit dem bestimmte Abmachungen über das do ut des abgeschlossen werden konnten". 42 Überliefert ist der Ausdruck zwar im Redeprotokoll, doch sagt die Aufnahme in ein noch zeitgenössisches Wörterbuch der redensartlichen Ausdrücke mehr aus über den Sprecher und seine Zeit. Und mit diesem Bemerkungen habe ich bereits das Feld der Quellenkritik betreten.
4. Sprachgeschichtliche Quellenkritik oder: Zum Wert der Scherben Sprachliche Quellen sind quellenkritisch unwägbare Geister, und es gibt, wie der Überblick gezeigt hat, auch in der Geschichtswissenschaft nur Versuche der Milderung dieser Unwägbarkeit, indes keine Beherrschung derselben. Wenn man nun noch hinzunimmt, dass die Sprache selbst in der historischen Dimension unwägbar, gar trügerisch ist und der Erkenntnis Streiche spielt, 43 und wenn man in diesem Zusammenhang gar die sprachkritischen Vorwürfe eines Friedrich Nietzsche oder eines Fritz Mauthner historiografisch wenden wollte, so böten uns sprachliche Quellen selbst als reinste „Überreste" nichts als Lügen - wenn auch im außermoralischen Sinne - bzw. Metaphern von Metaphern, niemals jedoch das, was wir zu finden hoffen, nämlich „wie es eigentlich gewesen ist" (Ranke). 44 Ganz so unergründlich ist die (Sprach)geschichte, wie wir wissen, indes nicht: Insofern in der Sprache das nur allzu Menschliche aufgehoben bzw., je älter, desto intensiver, verborgen ist, und dies fur alle Zeiten gleichermaßen gilt, bleibt die Hoffnung, dass sprachliche Quellen, wenn schon nicht die „eigentliche" Wirklichkeit, so doch die menschlich erfahrene Wirklichkeit archivieren. Dazu ist jedoch der Aussagewert einer jeden Quelle relativ zum Erkenntnisinteresse des Historikers zu wägen. Der Aussagewert schwankt je nach Erkenntnisinteresse, und so kann es eben vorkommen, dass ein und dieselbe Quelle, die quellenkundlich einen unverrückbaren Platz im Geftige erhalten mag, nun aus quellenkritischer Sicht der Sprachhistorie einmal als wertvoller „Überrest" und ein andermal als unergiebiges Beiwerk bewertet werden muss. 42 43
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Stenographische Berichte 4,1, 1, 68. Büchmann 1905, 664f. Zu Fluch und Segen der Sprache im Rahmen einer Hermeneutik der Historie vgl. grundsätzlich Gadamer 1975, 361ff.; Faber 1971, 147ff. Zitiert nach Faber 1971, 80 u. 150.
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Und wie schon die Quellenkunde im Dienste der Sprachgeschichtsschreibung Veränderungen gegenüber den Zwecken der Ereignisgeschichtsschreibung erfahren musste, so ist auch die Quellenkritik nicht ohne weiteres zu adaptieren. Insofern das allgemeine Erkenntnisinteresse der Sprachgeschichtsschreibung nämlich, wie erwähnt, nicht auf die res gestae, sondern auf die „Sprachfähigkeit und Sprachpraxis" (von Polenz) der Mitglieder einer Sprachgesellschaft gerichtet ist und insofern Sprachfähigkeit (im Sinne der Sprachkompetenz) nicht direkt überlieferbar ist, sondern aus Zeugnissen der Sprachpraxis abgeleitet werden muss, darf die Quellenkritik der Sprachgeschichte nicht lediglich den Maßstab der Absichtlichkeit oder Unabsichtlichkeit der Überlieferung als Ordnungskriterium anlegen, sondern muss auch den Grad der Authentizität berücksichtigen, den die Quelle fur das durch sie überlieferte Sprechen und Schreiben von Menschen verbürgt. Sprechen und Schreiben sind Akte des Sprachgebrauchs, der Sprachproduktion, der Performanz. Überliefert sind davon jeweils nur Bruchstücke, und seien es auch so umfangreiche Bruchstücke wie die Schriften Otto von Bismarcks. Aus diesem Grund sollen sprachgeschichtliche „Überrest"-Quellen .Performanzfragmente' heißen. Demgegenüber sollen Quellen, in denen die historische Sprachproduktion „hindurchgegangen und wiedergegeben durch menschliche Auffassung" fur die Nachwelt aufgehoben wird, in denen vergangene Sprachproduktion also absichtlich und mitunter sogar schon systematisch geordnet aufbewahrt wird, ,Performanzarchive' bzw. ,Performanzarchivalien' heißen. Zu dieser Großgruppe gehören nun auch die sprachreflexiven Quellen wie Wörterbücher und Grammatiken, und gerade diese Quellen legen es nahe, als zeitgenössische Aussagen über die Sprachkompetenz, also als Kompetenzarchive, gelesen zu werden. Diese Lesart ist in der Tat gegeben, und eine Sprachgeschichtsforschung und -Schreibung, die vergangene Sprachnormen, gar vergangene Zustände eines Sprachsystems rekonstruieren will, liest diese Quellen auch als Kompetenzarchive. Sie sind zunächst gleichwohl, wie alle anderen Quellentypen auch, quellenkritisch als Überlieferungen der Performanz zu bewerten, der Performanz des Grammatikers oder Lexikografen sowie, mittelbar, der Performanz seiner Zeitgenossen, die er in seiner Grammatik oder seinem Wörterbuch „hindurchgegangen und wiedergegeben durch menschliche Auffassung" wiedergibt. Dass er selbst die von ihm beschriebene Sprache als Kompetenz seiner Zeitgenossen, d.h. als Norm oder System, interpretiert, wird quellenkritisch erst abhängig vom Erkenntnisinteresse der Sprachgeschichtsforschung und -Schreibung interessant. Und in diesem Zusammenhang können dann auch Performanzfragmente als Kompetenzfragmente gelesen werden, beispielsweise die Performanzfragmente aus den Gesprächen Bismarcks als Indizien seiner Sprachkompetenz. Ich werde unten an einem konkreten Beispiel noch einmal darauf zurückkommen. Die Kategorien der geschichtswissenschaftlichen Ansätze ergeben somit vier unterschiedliche Kombinationen zur Rekonstruktion, „wie es eigentlich gewesen ist": Es gibt, relativ zur Nähe zur historischen Wirklichkeit in eine
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Reihenfolge gebracht, primäre und sekundäre Performanzfragmente und primäre und sekundäre Performanzarchive bzw. -archivalien. Die Grenzen zwischen diesen Kategorien sind, wie schon Ahasver von Brandt für „Überrestquellen" und „Traditionsquellen" mehrfach betont, fließend. Mit Hilfe dieses groben Rasters kann der empirischen Sprachgeschichtsforschung gleichwohl sogar bereits vor der Formulierung eines spezielleren Erkenntnisinteresses ein erster Zugang zu den .richtigen' Quellensorten eröffnet werden. Ich greife noch einmal auf das oben skizzierte Schema zurück und ordne exemplarisch, nämlich am Beispiel der Rekonstruktion historischer gesprochener Sprache, die Quellensorten ein, die, unabhängig von einem spezielleren Erkenntnisinteresse, allen Versuchen einer solchen Erkundung vergangener Mündlichkeit gleichermaßen zuzuweisen sind: Performanzfragmente Primärquellen
Sekundärquellen
[Tonband-,
Videoprotokoll]
Gesprächsnotate Protokolle
:
erinnerter Gespräche,
fiktive gesprochene Sprache, z.B. in Lehrbüchern für Lehrer, fiktionale gesprochene Sprache in der Literatur (Zeitroman, realist. Drama)
Performanzarchive metasprachliche oder sprachthematisierende Äußerungen von Sprechern oder Gesprächspartnern, z.B. in Briefen, Tagebüchern. sprachthematisierende Äußerungen Mitlebender, die nicht Gesprächspartner waren, z.B. in Briefen, Tagebüchern', sprachreflexive und sprachnormative Informationen in Grammatiken und Wörterbüchern, Anstandsbüchern und Konversationsbüchern
Abb. 2: Makro-Kategorien der historiografischen Quellenkritik: zum Aussagewert von Quellen zur Rekonstruktion gesprochener Sprache
Bezogen auf das genannte Erkenntnisinteresse sind alle erinnerten, alle fiktiven und fiktionalen Gespräche, sofern sie nicht bewusst ihrer Zeit entfliehen und mit deren Konventionen brechen, sekundäre Performanzfragmente der gesprochenen Sprache im Gespräch; und es sind alle zeitgenössischen sprach- und sprechreflexiven Hinweise von Gesprächspartnern auf die Gesprächssprache einzelner Personen, sei es Luther, Goethe oder Bismarck, primäre Performanzarchivalien, und es sind alle Grammatiken, Konversations-, Anstands- und Wörterbücher sekundäre Performanzarchivalien. Die linguistische Quellenkritik hat, wie eben schon deutlich wurde, nach einer ersten kritischen Sichtung ihren Ausgang zu nehmen von den Erkenntnisinteressen der Sprachgeschichtsforschung und -Schreibung. Als Communis opinio der Erkenntnisinteressen darf gegenwärtig wohl gelten, was Peter von Polenz im Kapitel „Erkenntnisinteressen der Sprachgeschichtsschreibung" in der jüngst erschienenen zweiten Auflage des ersten Bandes seiner „Deutschen Sprachgeschichte" anführt:
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„Sprachgeschichtsschreibung [hat] aus den Ergebnissen der historischen Sprachforschung diejenigen Bereiche auszuwählen, die sich für die Entwicklung einer Sprache - als Sprachfahigkeit und Sprachpraxis ihrer Benutzer(gruppen) - als wesentlich erweisen. Dieses Auswählen und Erklären nach Erkenntnisinteressen ist unvermeidlich verbunden mit dem Wagnis des Bewertens, Hervorhebens, Gewichtens und des Behauptens oder Wahrscheinlichmachens kausaler Zusammenhänge zwischen Sprache und außersprachlichen Faktoren." 45
Bezogen auf dieses allgemeine Erkenntnisinteresse der Sprachgeschichtsschreibung ist Sprache an sich, im Sinne der Langage de Saussures, sind also sprachliche Quellen an sich zunächst allesamt Performanzfragmente, insofern die Verfasser ihrer Sprache nicht entfliehen konnten und deshalb aus den Texten auch „immer (vom Autor gar nicht beabsichtigte) Erkenntnisse über einen historischen Zustand oder Vorgang geschöpft werden können." 46 Das hatte schon Jean Paul festgestellt (s.o.), und auch Droysen folgt dieser Einschätzung, wenn er Sprache als eine Kategorie der „Überreste" beschreibt: „Die Sprache, wie sie denn nun ist oder wie sie in großen Literaturen fertig dasteht, ist ein lebendiges Stück Geschichte, und zwar linguistisch, d.h. nach ihren grammatischen und etymologischen Beziehungen, so gut wie in ihren Anschauungen und Metaphern." 47
Dem allgemeinen Erkenntnisinteresse folgt ein konkretes Erkenntnisinteresse, mit dem zumeist auch die Festlegung einer Sprachbeschreibungsebene verbunden ist, und auch dies hat selbstredend Auswirkungen auf die kritische Bewertung der Quellen: Die Rekonstruktion historischer gesprochener Sprache und historischer Gesprächssorten etwa bedarf in erster Linie Quellen im Sinne der Performanzfragmente, während die Rekonstruktion der historischen Syntax des Deutschen nach Möglichkeit auf sprachreflexive Performanzarchive zurückgreift und diese, wie erwähnt, als Kompetenzarchive liest. Die quellenkundlichen Merkmale der Quellengattung bzw. -sorte sowie der konkreten Quelle spielen hierbei eine wesentliche Rolle. Erst relativ zum konkreten Erkenntnisinteresse des Sprachhistorikers und der damit verknüpften Entscheidung für eine Sprachbeschreibungsebene kann schließlich entschieden werden,
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von Polenz 2000, 9f. von Brandt, 1 9 6 6 , 6 4 . Droysen 1967, 46; vgl. ebd., 221ff. Ähnlich auch das Fischer Lexikon Geschichte (Besson 1961, 271): „Schriftliche Quellen sind insofern unmittelbare Zeugnisse vergangener Zeiten, als sie in besonderer Weise >fixiert< sind; sie bewahren einen Text und darin ausgedrückte Gedanken und Sachverhalte in ihrem originalen Wortbestand [...]." Ahasver von Brandt (1966, 63) spricht in Bezug auf Sprache von „abstrakten Überresten" und gibt ein Beispiel (1966, 68): „die Wortgestalt gewisser lateinischer Lehnwörter im Deutschen (Pfeil, kaufen) zeigt, daß sie noch in gemeingermanischer Zeit übernommen worden sein müssen, weil sie die althochdeutsche Lautverschiebung bereits mitgemacht haben." Zur (Un)absichtlichkeit und (Un)bewusstheit.der Überlieferung sprachlicher Daten vgl. auch Hoffmann 1998, 878.
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ob und inwiefern der für die Unterscheidung zwischen Performanzfragment und Performanzarchiv grundlegende Zweck der Überlieferung der Quelle relevant wird für die Bestimmung ihres Aussagewertes. Um die Adaption der quellenkundlichen und quellenkritischen Ansätze aus den historischen Hilfswissenschaften fiir die Sprachgeschichtsforschung und -Schreibung deutlicher zu machen und dabei die bisher zur Anwendung gebrachten Kriterien am konkreten Beispiel noch etwas zu verfeinern, wähle ich zwei Erkenntnisinteressen und Sprachbeschreibungsebenen, die der Sprachgeschichtsforschung gerade in quellenkritischer Hinsicht Probleme bereiten, nämlich a) die Rekonstruktion gesprochener Sprache und b) die Interpretation sprachlicher Quellen in kultur- und sozial-, ideen- und mentalitätsgeschichtlicher Absicht. 48 4.1. Der Klang der Scherben: Historische Phonetik, Phonologie und gesprochene Sprache Die Rekonstruktion historischer gesprochener Sprache im Gespräch stellt besonders hohe Anforderungen an die wissenschaftliche Quellenkritik. Bezogen auf dieses Erkenntnisinteresse sind, streng genommen, alle Quellen aus der Zeit vor etwa 1900 Performanzarchive, insofern bereits die Übertragung gesprochener Laute in geschriebene Buchstaben (z.B. durch die Parlamentsstenografen) Akte der Interpretation darstellen. 49 Zieht man zudem die „Daten bzw. Datenklassen" heran, die bei der Analyse elektronisch gespeicherter gesprochener Sprache der Gegenwart zur Anwendung gelangen (können), so müsste das Unternehmen einer Rekonstruktion gesprochener Sprache auf der Grundlage schriftsprachlicher Überlieferung von vornherein als nicht durchführbar gelten, weil die meisten der fur gesprochene Sprache wesentlichen Charakteristika der schriftsprachlichen Überlieferung gerade nicht unmittelbar zu entnehmen sind. 50 Die Rekonstruktion gesprochener Sprache bedarf daher einer sehr großen Quellenmenge, denn je mehr Quellen ein Merkmal gesprochener Sprache überliefern, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, es mit „Ahndungsvermögen und Verknüpfungsgabe" im Sinne Humboldts als „Wahrheit" rekonstruieren zu können. Es gibt demnach quellengestützte Zugänge zur gesprochenen Sprache vergangener Zeiten, zumindest in dem Sinne, den Henne als „Annäherungen" an das Gespräch der jeweiligen Zeit bezeichnet hat.51 Die aus der Zeit des Sozialistengesetzes überlieferten Sprachquellen liegen ausschließlich in schriftsprachlicher Form vor; Tondokumente gibt es aus dieser Zeit noch nicht. Der 48
Zur mentalitätsgeschichtlichen Sprachgeschichtsschreibung vgl. einführend Hermanns 1995; durchführend Linke 1996.
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Vgl. Hoffmann 1998, 876f. Das komplizierte - und komplexe - Verhältnis zwischen geschriebener (bzw. schriftlicher) und gesprochener (bzw. mündlicher) Sprache kann hier nicht erörtert werden; vgl. dazu schon Paul 1920, 4 0 4 f f . Vgl. Schank/Schwitalla 1980, 315; ferner Henne/Rehbock 2 0 0 1 , 56. Henne 1 9 8 0 , 9 2 .
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Sprachhistoriker besitzt hier also keine primären Performanzfragmente, sondern kann nur versuchen, möglichst viele sekundäre Performanzfragmente zusammen mit den primären und sekundären Performanzarchivalien über die gesprochene Sprache eines Sprechers oder einer Sprechergruppe zu einer bestimmten Zeit zu sammeln, diese als Klangscherben zu interpretieren und so den tönenden Krug des Sprechens nachzuschaffen. 52 Da gibt es, im Rahmen der Quellen zum Sozialistengesetz, zunächst die „Stenographischen Berichte über die Verhandlungen des Reichstages", die die von Bebel und Bismarck im Reichstag gesprochene Sprache in schriftlicher Form fixieren. Diese Quelle ist hinsichtlich der Kommunikationsformen (z.B. hinsichtlich der Dialogsorte Generaldebatte und der Textsorte Rede) und der Inhalte der Reden zweifellos als primäres Performanziragment zu bewerten. Hinsichtlich ihres Aussagewerts für eine Rekonstruktion der gesprochenen Sprache jedoch ist sie nur partiell Performanziragment, etwa in Bezug auf die idiolektale Syntax der gesprochenen Sprache oder wenn der Stenograf Hörerrückmeldungen, also Zwischenrufe wie „Hört, hört!" und „Aha!" in der Rede Bebels, notiert; darüber hinaus sind stenografische Berichte indes nur als primäre Performanzarchivalien für gesprochene Sprache zu nehmen. Sie halten zwar das gesprochene Wort im Moment seines Funktionierens fest und bannen idealiter authentisches Sprechen im Medium der Schrift - deshalb auch Performanziragment in Bezug auf die Inhalte der Rede, auf den Wortschatz und Wortgebrauch. Mit dem Wechsel des Mediums ist in dieser Quellengattung jedoch absichtlich die Authentizität des Sprechens geschwächt und gerade das Sprechsprachliche zumeist getilgt.53 Das gesprochene Wort ist hier, um wiederum mit Bernheim zu sprechen, „hindurchgegangen und wiedergegeben durch menschliche Auffassung", nämlich die des Stenografen, und so müssen die stenografischen Berichte in Bezug auf die gesprochenen Sprache zu den Performanzarchiven gerechnet werden. Von Bismarck selbst ist aus dem Jahr 1887 überliefert, er argwöhne, „seine Reden seien durch sozialistisch angehauchte Stenographen ungenau wiedergegeben' worden". 54 Die stenografischen Berichte über die Reden Bebels am 16. September 1878 und die Bismarcks am 17. September 1878 geben deshalb nur mittelbar Aufschluss über die gesprochene Sprache der beiden Protagonisten. Man kann immerhin rekonstruieren, dass beide nur spärlichen Gebrauch von Gliederungspartikeln („Nun, meine Herren") machen, dass überdies Bebel das Auditorium viel häufiger anspricht als Bismarck, und auf der Grundlage syntaktischer Analysen kann man rekonstruieren, dass Bebel recht schnell, Bismarck hingegen eine Vorliebe für die syntaktische Periode gehabt und eher langsam ge-
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Vgl. dazu H e n n e / R e h b o c k 2001, 2 2 8 f f . ; Linke 1995, 386ff., die übrigens ein ähnliches Bild benutzt. Vgl. a u c h Burkhardt 1 9 9 1 , 4 I f f . Zitiert n a c h Goldberg 1998, 380. Vgl. auch B i s m a r c k , Werke 8, 2 7 7 , w o B i s m a r c k im G e s p r ä c h mit Moritz B u s c h über die Unzuverlässigkeit der Stenografen klagt.
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sprachen haben muss. All diese Ergebnisse fallen aber mehr in den Bereich der Rhetorik des Sprechens als in den der Formen gesprochener Sprache. 55 In anderen Quellen wird man weiter fundig: Bismarck und Bebel scheinen demnach auch in Bezug auf ihre Sprechsprachen von gegensätzlicher Natur gewesen zu sein. Vom fälligen Hünen Bismarck ist in einer 1888 nach dem Zeugnis eines Stenografen publizierten Anekdote zu lesen, er habe eine hohe, leise, „frauenhaft schwache" Stimme gehabt, die „in jedem Satze ein bis zweimal von einem donnernden Räuspem unterbrochen" worden sei.56 Diese zeitgenössische Anekdote ist eine primäre Performanzarchivalie und überliefert deshalb ebenfalls nur mittelbar gesprochene Sprache. Die über Bismarcks Sprechsprache getroffene Aussage wird indes durch andere primäre Performanzarchive bestätigt, etwa in den bereits erwähnten stenografischen Berichten, in denen der Abgeordnete Lasker die „lebendige Mauer" beklagt, die die Abgeordneten bildeten, die wegen der Schwerverständlichkeit der Bismarck'sehen Rede zum Rednerplatz drängten, oder auch in Memoiren Mitlebender, in denen Bismarcks räusperndes Sprechen und sprechendes Räuspern beschrieben und er selbst als „kein , fließender' Redner" beurteilt wird. 57 Weitere primäre Performanzarchive, in denen Gesprächspartner Bismarcks über dessen Gesprächs- und Sprechhandeln rückblickend berichten, bestätigen ebenfalls das soeben gezeichnete Bild, das dadurch an historischer Authentizität gewinnt: Bismarck habe, schreibt Edmund Mayors, der Sekretär des italienischen Ministerpräsidenten Francesco Crispí, zum 2. Oktober 1887 in sein Tagebuch, „die erforderliche Biegsamkeit der Stimme und den richtigen Blick, das plötzliche Innehalten, das ausgedachte Stocken, die nötigen Pausen, die Gebärde zur nachdrücklichen Betonung, das bedeutungsvolle Schweigen." 58 Und dann gibt es sogar noch unmittelbarere Quellen zur gesprochenen Sprache, solche nämlich, die gerade das Sprechsprachliche der Bismarck'schen Rede authentisch festzuhalten suchen und deshalb - notabene: für das Erkenntnisinteresse, gesprochene Sprache zu rekonstruieren - als sekundäres Performanzfragment des gesprochenen Wortes zu lesen sind. Die Friedrichsruher Ausgabe der Werke Bismarcks enthält drei Bände „Gespräche", darin finden sich viele sprach- und sprechreflexive Hinweise auf Bismarck als Gesprächspartner, also wiederum primäre Performanzarchivalien, und sodann endlich - auch Performanzfragmente: erinnerte authentische Gespräche, Gesprächsfetzen, authentische Formulierungen Bismarcks bis hin zu kleinsten Gesprächswörtem und Gesprächspausen.
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Zu „rhetorischen Portraits" u.a. Bebels und Bismarcks vgl. Goldberg 1998, 99ff. und 369ff.; zu Bebel auch Porsch 1982; zu Bismarck auch Wunderlich 1898 und - schwülstig-apotheotisch Masur 1933.
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A. S. Schmidt: N e u e Bismarck-Anekdoten 1888, 14; zitiert nach Goldberg 1998, 378. Vgl. Goldberg 1998, lOOff. und 3 7 7 f f . (je mit Angaben von Quellenstellen). Zum „preußischen Offizierston", der den hohen Ton als Herrschaftszeichen instrumentalisierte, vgl. von Polenz, Bd. 3, 1999, 459f. Bismarck, Werke 8, 584.
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Diese sekundären Performanzfragmente zur gesprochenen Sprache Bismarcks lassen fast gar seine Stimme erklingen. So ist in den Tagebuchblättern des Schriftstellers Moritz Busch ein Gespräch mit Bismarck aus der Zeit des Sozialistengesetzes (es ist vom 4. Oktober 1878) erinnert, das Merkmale gesprochener Sprache überliefert: Da leitet Bismarck etwa einen Gesprächsschritt mit der Gliederungspartikel „nun" ein, was den Befund aus den stenografischen Berichten stützt, da erscheint etwa die Aphärese („wir's"), und da findet man schließlich auch die Gliederungspartikel „hm" des nachdenklichen Reichskanzlers. Ob Bismarck wirklich „nun" und „wir's" und „hm" in diesem Gespräch sagte, wird freilich fur immer verborgen bleiben. Da Ähnliches aber wiederholt auch in anderen Gesprächsnotaten als sekundären Performanzfragmenten vorkommt, ist es sehr wahrscheinlich, dass er so zu sprechen pflegte. Des Weiteren sind wiederum institutionalisierte sprachreflexive Texte als sekundäre Performanzarchive zu befragen, beispielsweise Grammatiken, wie Friedrich Blatz' „Neuhochdeutsche Grammatik" aus dem Jahr 1895 oder Karl Ferdinand Beckers „Ausführliche deutsche Grammatik" von 1870, die, unter anderem, Kapitel über Aussprachenormen, Interjektionen und, wie es bei Becker heißt, „Gliederpausen beim Redeton" enthalten; ferner Wörterbücher wie Moriz Heynes in den Jahren 1890 bis 1895 erschienenes „Deutsches Wörterbuch" oder Daniel Sanders' „Ergänzungswörterbuch der deutschen Sprache" von 1885, die über Semantik und Pragmatik einzelner Gesprächswörter informieren, wie beispielsweise über Bismarcks „hm". Auch diese Quellensorten sind, wie oben erwähnt, im Rahmen der Rekonstruktion historischer gesprochener Sprache zuallererst Performanzarchive und nicht etwa Archive der sprachlichen Kompetenz eines Sprechers oder einer Sprechergruppe. Sprachliche Kompetenz lässt sich nicht direkt überliefern, sondern muss abgeleitet, muss rekonstruiert werden aus Performanzakten. Das haben Blatz und Becker, Heyne und Sanders für ihre Zeit getan, und ihre Grammatiken und Wörterbücher dokumentieren als Texte in Funktion deskriptiv Zustände bzw. präskriptiv Normen der zeitgenössischen deutschen Standardsprache und mittelbar die Sprachkompetenz eines idealen Sprechers/ Hörers. Als Quellen der Sprachgeschichtsforschung und -Schreibung dürfen die Aussagen der Grammatiken und Wörterbücher indes nicht ohne weiteres fur bare Münze genommen und als Zeugnisse des wirklichen virtuellen Zustands, der wirklichen Normen, der wirklichen Kompetenzen gewertet werden; wie die Sprache eines bestimmten historischen Zeitlaufs .eigentlich' gewesen ist, ist auch ihnen nur mittelbar zu entnehmen. Grammatiken und Wörterbücher sind deshalb in erster Linie als professionelle Widerspiegelungen des tatsächlichen oder geforderten Realisierten zu lesen, und erst nach einer sorgfältigen Kritik der Aussageabsicht des Grammatikers und Lexikografen als Kompetenzarchive. Grammatiken und Wörterbücher können im Rahmen eines konkreten Erkenntnisinteresses quellenkritisch sogar als Performanzfragmente erscheinen; im Rahmen der allgemeinen Quellenkritik sind sie Performanzarchive, die die
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zeitgenössische Sprachproduktion, und, gelesen als Kompetenzarchive, die Normen und Ideale dieser Sprachproduktion aufbewahren. Für die Zwecke der Sprachgeschichtsschreibung sind sie als sprachreflexive Performanzarchive besonders wichtig, um die außenperspektivische Interpretation eines Performanzfragments innenperspektivisch zu stützen: Grammatiken und Wörterbücher sagen uns zwar nicht, dass Bismarck und dass andere Deutsche um 1880 so gesprochen haben, aber sie sagen uns, dass sie so gesprochen haben könnten. 4.2. Die Bedeutung der Scherben: Historische Lexikologie und Semantik Die kultur- und sozialgeschichtliche, ideen- und mentalitätsgeschichtliche Sprachgeschichtsforschung möchte das Denken, Fühlen und Wollen von Menschen vergangener Zeiten erkunden und vermag darüber nicht selten der Geschichtswissenschaft zuzuarbeiten, indem sie Erklärungspotentiale bereitstellt für die Beantwortung bestimmter Fragen. Der Gedanke liegt j a nicht fern, dass zwischen Bismarck und Bebel in Bezug auf die politische Sprache die Auseinandersetzung zwischen Altem und Neuem stattfand, wie sie den Beginn der Moderne kennzeichnet. Ein Indiz dafür könnte sein, dass Bismarck, wie er auf Druck Bebels am 17. September 1878 selbst zugab, in den sechziger Jahren aus taktischen Erwägungen heraus zwar mit Ferdinand Lassalle Gespräche gefuhrt hatte, 59 seither aber außerhalb des Reichstags wohl nicht ein einziges Mal einen Sozialdemokraten, geschweige denn Bebel, angesprochen hat. Aus der Feder eines liberalen Abgeordneten des Norddeutschen Reichstags war im Jahr 1867 in der „Gartenlaube" über die parlamentarische Jungfernrede Bebels sogar zu lesen: „Seine Worte klangen wie Sturmgeläute und warfen zündende Funken in die Versammlung, welche über die ungewohnte Sprache in keine geringe Aufregung geriet." 6 0
Der Eindruck der „ungewohnten Sprache" dürfte nicht zuletzt durch den politischen Wortschatz genährt worden sein. In der politischen Sprache sind unterschiedliche politische Wortschätze und Wortgebräuche Indikatoren unterschiedlicher ideologischer Bezugswelten. Dass Reichskanzler Otto von Bismarck und der Führer der deutschen Sozialdemokratie, August Bebel, unterschiedliche ideologische Bezugswelten besaßen, ist hinlänglich bekannt und brauchte nicht mit linguistischen Mitteln ein weiteres Mal erwiesen zu werden. In sozial- und kultur-, ideen- und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht bedeutsam ist hingegen die Frage, ob und wie sie das sprachlich gebundene Wissen der Mitlebenden und der Nachwelt prägten, welche Schlüsse von dieser sprachlichen Prägung wiederum auf das Denken, Fühlen und Wollen dieser
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Vgl. Stenographische Berichte 4, I, 1, 41 (Bebel) und 66 (Bismarck); dazu auch Herrmann/ Emmrich 1989, 194. „Gartenlaube", Nr. 17, 1867, 267; zit. nach Herrmann/Emmrich 1989, 56.
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Menschen zu ziehen sind. Dieser, wie Angelika Linke es formulierte, „heikle" Schluss vom Wortgebrauch auf das politische Denken ist natürlich intersubjektiv überprüfbar zu machen, und dazu bedarf es wiederum der quellenkritischen Sorgfalt. Am Beispiel: Bismarck macht aus seiner grundtiefen Abneigung gegenüber der deutschen Sozialdemokratie in seiner Rede in der Generaldebatte über das Sozialistengesetz am 17. September 1878 kein Hehl. Liest man allein seine hier getätigten Ausführungen zur Sozialdemokratie als Merkmale seines idiolektal-prototypischen Begriffs von „Sozialdemokratie", so erhält man ein wenig erquickliches enzyklopädisches Bild dieser politischen Partei: Sie sei eine „Sekte" mit „bis zum Königsmord gesteigerten Bestrebungen", es seien „Banditen", „Mörder und Mordbrenner", „Elemente", die mit den Mitteln der „Lüge", mit dem „Mordmesser der Nihilisten" und der „Schrotflinte von Nobiling" (des zweiten Attentäters auf Wilhelm I.) agitierten. 61 Die stenografischen Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, so hatte ich ausgeführt, sind in kommunikativ-pragmatischer und lexikalischsemantischer Hinsicht als primäre Performanzfragmente zu lesen: Sie überliefern das Sprachhandeln und den Wortschatz Bismarcks in Funktion. Diese Wörter als fur Bismarck prototypische Attribute seines Begriffes „Sozialdemokratie" sind daher authentisch. Aber sind sie wirklich als lexikalische Spiegel für Bismarcks Denken zu werten? Die These, dass Bismarck diese Attribute nicht nur in der öffentlichen Rede zur Diffamierung des politischen Gegners gebrauchte, sondern darin in der Tat sein Denken über die Sozialdemokratie des Jahres 1878, über diese „kümmerlichen Epigonen" Lassalles, lexikalisch gebunden ist, können nun weitere Belege aus anderen Quellen stützen, etwa eine halbprivate Äußerung Bismarcks in einem Brief an Ludwig II. vom 12. August 1878 - also für die Wortschatzuntersuchung ein Performanzfragment - in dem die Sozialdemokraten als „bedrohliche Räuberbande" benannt sind. 62 Der „Brockhaus", unter quellenkritischem Aspekt in Bezug auf politischen Wortschatz ein sekundäres Performanzarchiv, fur eine Mentalitätsgeschichte indes ein enzyklopädisches sekundäres Performanzfragment des gesellschaftlichen Denkens und Wissens der Zeit, speichert die Einstellungen zur Sozialdemokratie im Jahr 1898 wesentlich moderater, doch bleibt der negative Begriff von „Sozialdemokratie" latent. Die Rede ist von „radikalen socialdemokratischen Theorien", die „auf die leicht erregbaren Massen von verderblichster Wirkung seien", und dies darf als die bildungssprachliche Fassung von „Sekte" mit „bis zum Königsmord gesteigerten Bestrebungen" gelesen werden. 63
61 62 65
Stenographische Berichte 4,1, 1, 66ff. Zitiert nach Herrmann/Emmrich 1989, 192. Brockhaus 15, 1 8 9 8 , 2 .
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5. Schluss: Eine allgemeine Quellenkritik der Sprachgeschichte Die Ansätze der historischen Hilfswissenschaften, dies sollte deutlich geworden sein, bieten einen Kategorien-Raster, der relativ zu Erkenntnisinteressen, Sprachbeschreibungsebenen und Quellensorten Möglichkeiten zu einer allgemeinen und sodann zu je einer spezielleren Quellenkunde und Quellenkritik eröffnet. Diese leiten den Sprachhistoriker bei der Auswahl der „richtigen" Quellen sowie der Beurteilung des Aussagewerts der Quellen. Es ist und bleibt eine Aufgabe der deutschen Philologie, Korpora zur Erforschung der Geschichte der deutschen Sprache und Literatur zusammenzustellen. Diese Zusammenstellung sollte jedoch künftig nicht mehr nur als Registratur des Besitzes erfolgen, sondern als systematische Ordnung der Texte nach quellenkundlichen und allgemeinen quellenkritischen Prinzipien. Denn: „Unmittelbar gegeben sind nur Linien von bestimmter Gestalt." 64
6. Literatur 6.1. Quellen Bismarck. Die gesammelten Werke. 15 Bde. in 19 Teilbd. Berlin 1924-1935. Brockhaus' Konversationslexikon (1898). 14., vollst, neubearb. Aufl. [...]. Bd. 15 [...]. Leipzig, Berlin, Wien. Büchmann Georg (1905): Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes gesammelt und erläutert von Georg Büchmann. Fortgesetzt von Walter Robert-Tornow. 22. vermehrte und verbesserte Aufl. bearb. von Eduard Ippel, Berlin. Carstensen, Richard (1968): Bismarck - Anekdotisches. Vorgestellt von Richard Carstensen. München, Esslingen. Dokumente aus geheimen Archiven - Übersichten der Berliner politischen Polizei über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung 1878-1913. Bd. 1. Neubearb. Weimar 1983. Protokoll des Kongresses der deutschen Sozialdemokratie. Abgehalten auf Schloß Wyden in der Schweiz am 20. bis 23. August 1880. Zürich 1880. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags. 4. Legislaturperiode. I. Session 1878. Bd. 1. Berlin 1878. (zitiert: Stenographische Berichte) Wunderlich, Hermann (1898): Die Kunst der Rede in ihren Hauptzügen an den Reden Bismarcks dargestellt. Leipzig.
64
Paul 1891, 156.
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Topik und Frametheorie als argumentations- und begriffsgeschichtliche Instrumente, dargestellt am Kolonialdiskurs 1. Zur Problemlage Dieser Beitrag zielt darauf, mit der Topik ein linguistisch-rhetorisches und mit dem Frame-Begriff ein linguistisch-kognitivistisches Konzept fur sprach- und diskurshistorische Zwecke nutzbar zu machen, und zwar nicht unabhängig voneinander, sondern in der Verknüpfung von Argumentationsebene und Lexemebene. Es soll damit ein Beitrag dazu geleistet werden, ein Defizit der sprachhistorischen Tradition zu beseitigen, das sich vor allem in einer mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtlich orientierten Sprachgeschichtsforschung besonders schmerzlich bemerkbar macht: das Fehlen geeigneter Repräsentationsformate für die Vernetztheit der relevanten Diskurselemente. Die Topik betrifft die Ebene der Argumentation und die Frametheorie die Ebene der als Lexeme gefassten Begriffe. Über das Konzept des .komplexen topischen Musters' 1 werden beide Beschreibungsebenen miteinander verbunden. Exemplifiziert wird das auf der Basis eines kleinen Korpus am Kolonialdiskurs der Wilhelminischen Ära. Wieso sind Topik und Frametheorie geeignet, das genannte Defizit der Sprachgeschichtsforschung zu beseitigen oder zumindest partiell zu beheben? Man könnte einwenden, Topoi seien Schemata für den argumentativen Einzelschritt und Frame sei ein eher uneinheitlich verwendeter Begriff mit einer linguistischen Schwerpunktverwendung zur Repräsentation lexematisch gebundener Wissensbestände, die wir beim Textverstehen inferentiell aktivieren: Frame als ein im Vergleich mit der Merkmals- und Stereotypensemantik erweitertes und flexibilisiertes Repräsentationsformat fur Lexeme. 2 Wo bleibt da der Aspekt der Vernetzung?
1 2
Vgl. Klein 2000. Zum vorlinguistischen Frame-Begriff der KI-Forschung Minsky 1975, 1977, 1990. Zur lexikografietheoretischen Nutzung des Frame-Begriffs Wegener 1985, 1989; Konerding 1993. Zur Verwendung in der lexikalischen Semantik Klein 1998, 1999; Holly 2001.
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Josef Klein
2. Das komplexe topische Muster politischer Argumentation Wir befassen uns zunächst mit der Topik, genauer: mit dem Konzept des komplexen topischen Musters. Dem liegt die Idee zugrunde, dass sich in vielen Lebensbereichen die Neigung beobachten lässt, aus einfachen Schemata komplexere Schemata zu bilden. Ist man einmal auf dieser Spur und untersucht, ob Topoi im Aristotelischen Sinne, d. h. semantisch gehaltvolle Schemata für den argumentativen Einzelschritt, diskurs- oder textsortenspezifisch zu festen Kombinationsschemata (.komplexen topischen Mustern') zusammentreten, wird man schnell fündig. So stößt man in politischen Diskursen - quer über die Epochen - immer wieder auf Argumentationshierarchien nach folgendem Muster: Politisches Handeln oder Handlungsforderungen werden durch Ziele/ Zwecke argumentativ gestützt (u. U. in mehrfacher Staffelung: Wenn Ziele durch Oberziele gerechtfertigt werden). Ziele/Zwecke werden vielfach durch Situationsbewertungen motiviert. Diese wiederum stützen die Argumentierenden einerseits auf Situationsdaten, andererseits auf Prinzipien/Normen/ Werte, die auch als Rechtfertigungsbasis für Ziele/Zwecke fungieren können. Dazu kommt häufig der (warnende oder empfehlende) Hinweis auf Konsequenzen, die sich entweder aus den Situationsdaten oder aus dem thematisierten politischen Handeln ergeben. Wenn man die Bestandteile dieses komplexen Argumentationsmusters in eine Topos-Terminologie fasst, ergibt sich (1) bei Begründung durch Situationsdaten der ,Datentopos', (2) bei Begründung durch Prinzipien (Normen/Werte) der ,Prinzipientopos', (3) bei Begründung durch Situationsbewertungen der ,Motivationstopos', (4) bei Begründung durch Ziele/Zwecke der ,Finaltopos' und (5) bei Begründung durch Hinweis auf Folgen/Auswirkungen der .Konsequenztopos'. In Übersicht 1 wird das komplexe topische Muster zweifach kodiert: zum einen (mit durchgezogenen Kanten) als Folgerungsbeziehung zwischen den Kategorien der Handlungskonstitution, 3 zum anderen (mit strichlierten Kanten) als Konstellation von Topoi, wobei der Tatsache der musterinternen Alternativität möglicher Toposanknüpfungen Rechnung getragen wird, d.h. bspw., dass der Hinweis auf Situationsdaten (= Datentopos) sowohl unmittelbar als direktes Argument zur Stützung der politischen Handlung(sforderung) dienen kann als auch mittelbar durch Stützung der Situationsbewertung oder der Zielsetzung. Dass dieses Muster in der Geschichte der Rhetorik und der Argumentationstheorie nicht als grundlegend für politische Argumentation erkannt worden ist, hat wohl nicht zuletzt seinen Grund darin, dass es innerhalb eines Textes selten vollständig und in der sachlogischen Reihenfolge realisiert wird. So kann etwa in einem Kurztext eine politische Handlungsforderung aufgestellt werden, der
3
Vgl. Austin 1977; auch Harras 1983, 67ff.
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Topik und Frametheorie
1
Prinzip(ien)/Werte
Situationsdaten —> (Konsequenzen)
π
Ρ Γ
D a t e η t o Ρ o s
(Κ o η s e
q u e η ζ t o Ρ o s)
Ziel/ZweckSetzung
*
M 0 t 1 ν a t i o η s t o
¡ ¡ ! ! j
Ρ o s
I Ρ ¡ o ¡ s
η a 1 t o
M Politische Handlung(sforderung)
1
(Konsequenztopos)
(Folgen/Auswirkungen)
Übersicht 1 : Universelles (?) 4 topisches Muster politischer Argumentation
Der Verfasser hat eine größere Anzahl politischer Diskurse ab dem Perikleischen Zeitalter untersucht. In keinem fehlt dieses Muster. Dennoch steht hinter dem Attribut .Universelles' ein Fragezeichen, weil noch kein politischer Diskurs außerhalb der ,alteuropäischen' Politiktradition untersucht wurde.
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eine Zielsetzung vorangestellt ist und der Situationsdaten nachgeschoben werden, d.h. (1) die textinterne Reihenfolge ist kein Abbild der sachlogischen Folgebeziehungen zwischen Situationsdaten, Zielsetzung und politischer Handlungsforderung und (2) wird die Handlungsforderung lediglich auf den Datentopos und den Finaltopos gestützt, während die übrigen Konstituenten des Musters, z.B. der Zwischenschritt der handlungsmotivierenden Situationsbewertung als Brücke zwischen Datentopos und Finaltopos, implizit bleiben. Untersucht man dagegen einen polytextuellen öffentlichen Diskurs wie den Kolonialdiskurs der Wilhelminischen Ära, so kann man ziemlich sicher sein, dass man dem Muster in voller Entfaltung begegnet. 5 In Übersicht 2 wird deutlich, wie sehr das komplexe Muster der politischen Argumentation als methodisches Instrument geeignet ist, die argumentative Substanz des Wilhelminischen Kolonialdiskurses überschaubar und unter relevanten Kategorien herauszuarbeiten. Legende zu Übersicht 2:
χ —• y
!x +x -X
(!) (+)x
5
=
χ ist Argument für y χ wird gefordert χ wird positiv bewertet χ wird negativ bewertet sowohl in der Lesart „x wird gefordert' als auch in der Lesart „x wird positiv bewertet" sinnvoll
Ähnliches gilt für Parlamentsdebatten und meist auch für die Begründungsteile von Gesetzentwürfen.
Topik und Frametheorie
Übersicht 2: Mainstream-Argumentation im Kolonialdiskurs der Wilhelminischen Ära
171
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Josef Klein
Mentalitätsgeschichtlich sind neben der Realitätskonstruktion, die sich in den als .Daten' unterstellten Situationsbewertungen und in den propositionalen Gehalten der übrigen Diskurseinheiten dokumentiert, die propositionalen Einstellungen und Konklusionen, die im diskursleitenden Prinzip, in den Situationsbewertungen, den Zielsetzungen und den daraus abgeleiteten Handlungsschritten (MITTEL) zum Ausdruck kommen, von gleichrangigem Interesse. Ein methodisches Problem bei der Repräsentation eines polytextuellen Diskurses besteht darin, die Vielfalt der Texte und der in ihnen enthaltenen Sprechhandlungen und Propositionen als ein ,Ganzes' reduzierend und abstrahierend zusammenzufassen. An anderer Stelle wurde als Lösung die Bildung propositionaler Konzentrate vorgeschlagen. 6 Dabei werden weitgehend referenz- und sachverhaltsidentische Propositionen aus verschiedenen Texten und Textsequenzen auf der Basis der van Dijkschen Makroregeln (.Auslässen', .Selektieren', .Generalisieren' und .Integrieren') 7 illokutionsneutral in Form von i/ass-Sätzen zusammengefasst. Die im Diskurs dominierenden pragmatischen Einstellungen und Illokutionen werden den propositionalen Konzentraten als Labels hinzugefügt und die dominierenden argumentativen Verknüpfungen 8 als vernetzende gepfeilte Kanten abgebildet. Von diesem älteren Repräsentationsformat wird in Übersicht 2 in zweifacher Hinsicht abgewichen: (1) Das Netz der argumentativen Verbindungen ist auf der Basis der Kategorien bzw. Topoi des komplexen topischen Musters systematisiert. (2) Statt propositionaler Konzentrate in Form beschreibungssprachlicher ßfaii-Sätze wird versucht, den propositionalen Gehalt der diskursetablierenden textsemantischen Einheiten weitgehend in diskurstypischen Lexemen und Lexemverbindungen, die dem Textkorpus entnommen sind, zu repräsentieren. Dies hat zwei Gründe: (1) Solche diskurstypischen Lexeme/Lexemkombinationen, die vielfach den Gebrauchswert diskursbeherrschender Schlagwörter haben, erscheinen mir unter mentalitätsgeschichtlichen Aspekten aussagekräftiger als Formulierungen in gegenwartssprachlicher Beschreibungssprache. (2) Die Verwendung der Lexeme/Lexemkombinationen aus dem Originalkorpus ermöglicht eine methodisch problemlosere Verknüpfung des Repräsentationsformats ,komplexes topisches Muster' mit dem Repräsentationsformat .Frame', dem wir uns jetzt zuwenden wollen.
6 7 8
Klein 1993, 84ff. Vgl. van Dijk 1980, 45ff. Unter logischen Gesichtspunkten handelt es sich um alltagssprachliche Folgerungsbeziehungen („konklusive Relationen"). Vgl. Klein 1993, 89ff.
Topik und Frametheorie
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3. Frames Mit dem komplexen topischen Muster der politischen Kommunikation lässt sich die Vernetzung zwischen Sprechhandlungen, genauer: zwischen Argumentationshandlungen überschaubar und unter relevanten Kategorien darstellen. Mit der Hinwendung zur Frametheorie wechseln wir die linguistische Ebene: Es geht nun um die Vernetzung zwischen Lexemen, und zwar insbesondere zwischen den diskursdominierenden Schlag- und Schlüsselwörtern. Eingangs wurde ,Frame' als Repräsentationsformat lexematisch gebundener Wissensbestände bezeichnet. Die unmittelbar mit einem Lexem verknüpften Wissensbestände sind das Ergebnis der Stabilisierung kontextueller Gebräuche. Dazu ein erstes Beispiel aus dem Kolonialdiskurs. Bestandteile des lexematisch gebundenen Wissens zum Begriff „Kolonialpolitik" waren im Mainstream des politischen Diskurses Ende des 19. Jahrhunderts in der Dimension BETROFFENE GRUPPEN (PATIENS): „Eingeborene", „Neger", auch „Farbige" und „Primitive". Diese Lexeme sind in der Epoche des Imperialismus die mit Abstand häufigsten Bezeichnungen für die kolonisierten Menschengruppen, und zwar so stabil und frequent, dass auch in Kontexten, in denen die betroffenen Gruppen nicht explizit bezeichnet werden, bei Nennung von Lexemen wie „Kolonien" oder „Kolonialpolitik" von den Autoren/ Sprechern vorausgesetzt wird, dass die Adressaten die Begriffe „Eingeborene", „Neger" oder vielleicht auch „Farbige" oder „Primitive" wie selbstverständlich mitdenken - ein Normalfallwissen (,defaults'), demgegenüber Abweichungen eigens sprachlich als Ausnahmen markiert werden müssen. Andernfalls hätten viele Texte Kohärenzdefizite. Im heutigen Sprachgebrauch dagegen ist dieselbe Dimension kontextuell und infolgedessen auch inferentiell gänzlich anders besetzt: „Außereuropäische Kultur(en)", die von europäischen „Kolonialmächten" ökonomisch „ausgebeutet" wurden - dies gehört heute zu den default-Wissensbeständen, die mit dem Lexem „Kolonialpolitik" engstens verbunden sind, ein Wissen, das, zumindest wenn man von einem kognitivistischen Bedeutungsbegriff ausgeht, zur Bedeutung von ,Kolonialpolitk' gehört und das deswegen auch als ,Bedeutungswissen' bezeichnet werden kann. Abgesehen von diesem im Verhältnis zur strukturalistischen Semantik erweiterten Bedeutungsbegriff enthält die Frametheorie zwei weitere für eine diskursanalytisch interessierte Wortsemantik relevante Theoriepositionen: (1) Die frame-semantische Beschreibung umfasst zwei Ebenen: die Ebene der ,Filier', auf der die konkreten default-Wissensbestände repräsentiert sind, und die Ebene der .Slots', auf der repräsentiert ist, welcher Kategorie die verschiedenen default-Wissensbestände angehören. Der Frame zu „Auto" beispielsweise enthält die Slots RÄDER, SITZE, aber auch ZWECK, ANTRIEBSART, BEWEGUNGSFORM. Beim Wissen über Autos sind diese Kategorien mit typischen Werten als Fillern ausgefüllt: RÄDER = vier; SITZE = fünf; ZWECK = Transport; ANTRIEBSART = Kraftstoff-Motor; BEWE-
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GUNGSFORM = Fahren mit Bodenkontakt. Diese - in den anderen semantischen Theorien nicht vorgesehene - systematische Beschreibung auf zwei Ebenen hat mehrere Vorzüge, insbesondere: (i) Sie wirkt der Suggestion entgegen, das Verhältnis zwischen Bedeutungsbestandteilen sei, mit einigen Ausnahmen, wie sie etwa die generative Semantik für kausative Verben herausgearbeitet hat, ungeordnet additiv, (ii) Die durch die Zwei-EbenenBeschreibung gegebene bessere interlexematische Vergleichbarkeit von Bedeutungswissen ermöglicht auch tiefere und genauere Einsichten in Prozesse der Bedeutungsnormierung und des Bedeutungswandels sowie in deren Zusammenhang mit lexikon-semantischer Bereichs- und Diskursspezifik. Denn Frames sind - nach außen nur unscharf abgrenzbare - Ausschnitte aus mehrdimensional vernetzten bereichsspezifischen Begriffsnetzen, die z.B. im Bereich der Politik als Schlagwort-Netze 9 sprachlich greifbar werden. (2) In der frametheoretischen Darstellung von Wortbedeutungen wird besonders deutlich, dass die Beschreibung der Bedeutung eines Lexems Li nicht unabhängig von der Einbeziehung anderer Lexeme L 2 - Ln erfolgen kann, und zwar solcher Lexeme, die in den Gebrauchskontexten von L t besonders frequent sind. In die Beschreibung der Bedeutung von L| werden Lexeme derselben linguistischen Ebene, d.h. Lexeme auf der Ebene der Objektsprache aufgenommen - anders als in der strukturalistischen Semantik - die ausschließlich Lexeme mit metasprachlichem Status zur Bedeutungsbeschreibung zulässt (und dabei unterschlägt, dass sie diese auf ungeklärte Weise aus der Objektsprache gewinnt). Das heißt, die Bedeutung eines Lexems wird beschrieben als Vernetzung mit anderen Lexemen. Anders als andere Konzeptionen, die Wortbedeutungen ebenfalls mit Hilfe objektsprachlicher Lexeme in Diskurskontexten beschreiben, dabei aber ausschließlich von quantitativen Kriterien wie Korrelationshäufigkeit und sequentieller Abstand ausgehen, 10 werden in der frametheoretischen Repräsentation der Wortbedeutung die Relationen zwischen dem Ausgangslexem Lj und den zu seiner Kontextbeschreibung herangezogenen Kontextlexemen L 2 - L n semantisch spezifiziert. Bei handlungs-implizierenden Lexemen wie „Kolonialpolitik" geschieht dies analog zu rollensemantischen Konzepten, wie sie schon vor Jahrzehnten von Fillmore 11 und Jackendoff 12 entwickelt wurden: AGENS, PATIENS, ZIEL u.a. In der frametheoretischen Darstellung werden diese Relationen als Slots repräsentiert. Die Slots sind metasprachlicher Natur. Sie spezifizieren die semantischen Verhältnisse, in denen Li zu L 2 - Ln stehen. Demgegenüber gehören L 2 - L n als Filier (die sich auf die Slots verteilen) der Ebene der Objektsprache an.
9
Der Begriff .Wortfeld' (oder hier .Schlagwortfeld 1 ) wird mit Bedacht nicht verwendet, weil Wortfelder (fast) ausschließlich auf der Hyponym-Hyperonym-Relation basieren, während der Begriff des Netzes weitere interlexematische semantische Relationen zulässt.
10
So Rieger 1991, 1999 u. ö„ auch Heringer 1999. Fillmore 1968. Jackendoff 1972.
" 12
Topik und Frametheorie
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Im Hinblick auf die Ausgangsfrage nach der Eignung der Frametheorie, die Vernetztheit von Diskurselementen angemessen zu repräsentieren, wird deutlich, wie das frametheoretische Repräsentationsformat dies leistet: als Explikation eines Geflechts von Relationen zwischen Lexemen mit L, als Ausgangs- und Bezugsknoten. Es stellt sich nun die Frage, welche Relationen zwischen dem zu analysierenden Lexem „Kolonialpolitik" und anderen, im Diskurs frequent auftretenden Lexemen in die framesemantische Repräsentation aufgenommen werden sollen. Das Lexem „Kolonialpolitik" ist wie sein Oberbegriff „Politik" ein Handlungsabstraktum, das eine Vielzahl von - insbesondere Menschen betreffenden - Handlungen verschiedenster Art unter einem bestimmten Blickwinkel integriert und kategorisiert. Damit sind die zur Beschreibung der relevanten Wissensbestände geforderten Slots im Prinzip festgelegt: Es sind die für gruppen- und personenbezogenes Handeln konstitutiven Kategorien. Zum einen betreffen sie die Hauptbeteiligten und die zwischen ihnen herrschenden Beziehungen (AGENS, PATIENS, AGENS-AGENS-VERHÄLTNIS, AGENSPATIENS-VERHALTNIS), zum anderen handelt es sich um die von der Analytischen Handlungstheorie im Anschluss an Austin 13 herausgearbeiteten konstitutiven Kategorien des Handelns (manchmal auch als .Handlungsbestimmungen', .Stadien des Handelns' oder .Handlungsbedingungen' bezeichnet). 14 Diese aber entsprechen im Wesentlichen den Kategorien des oben entwickelten topischen Musters der politischen Argumentation. Im Frame haben sie den Status von Slots - mit leicht veränderten, der Frame-Terminologie angepassten Bezeichnungen (vgl. Übersicht 3).
13 14
Austin 1977, 13. Vgl. Harras 1983, 67ff.
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Josef Klein
Handlungstheorie (Austins Handlungsmodell) 15
Topik (Komplexes topisches Muster politischer Argumentation)
Frametheorie (Slots für Handlungsbegriffe)
Erhalt von Informationen
Situationsdaten
RAHMENDATEN
Einschätzung der Situation
Situationsbewertung
DATENBEWERTUNG
Berufung auf Prinzipien Planen (Kontrolle über die) Ausführung"
Prinzipien/Normen/Werte
WERTBASIS
Ziel/Zweck
ZIELSETZUNG
Handlung als Mittel
OPERATIONEN"
-
-
Obersicht 3: Kategorienanalogie
Bevor der Frame „Kolonialpolitik" in Übersicht 4 expliziert wird, sind noch zwei Fragen zu beantworten. ( 1 ) Wenn Frames lexematisch gebundenes Wissen repräsentieren, Wissen aber eine soziale Dimension hat - insofern es unterschiedlich verteilt ist und in unterschiedlichen Gruppen im Hinblick auf Lexeme unterschiedliche Wissensniveaus ausgeprägt sind 18 - von welchem Wissensniveau gehen wir bei unserer Framerepräsentation aus? Eine methodisch über alle Zweifel erhabene Antwort müsste die Frage mit Hilfe der empirischen Methode der Soziolinguistik beantworten. Das aber ist bei Diskursen, die 100 und mehr Jahre zurückliegen, nur sehr eingeschränkt möglich. Die historische Soziolinguistik ist auf möglichst plausible Konstrukte angewiesen. Das sozio-historische Konstrukt, von dem hier ausgegangen wird, ist der den öffentlichen Diskurs zur Kolonialpolitik aufmerksam verfolgende und/oder in ihn involvierte damalige Zeitgenosse. Ihm dürfte der in Übersicht 4 dargestellte Frame als lexematisch weitgehend gebundener Wissensbestand zum Begriff „Kolonialpolitik" (des Deutschen Reiches) präsent gewesen sein - nicht zuletzt deshalb, weil die Filier im Diskurs hoch frequent sind und/oder in ihrer Relevanz betont werden. ( 2 ) Welche Sprachebene soll in der Framerepräsentation gewählt werden? Dort, wo es immer wieder bestimmte Schlüssel- und Schlagwörter sind, die den Diskurs dominieren, werden diese als Filier repräsentiert. Wo beim Referieren,
15 16
17
18
Austin 1977. In Übersicht 2, die eine komplexe Argumentation abbildet, werden Handlungen danach unterschieden, ob sie Mittel erster oder zweiter Ordnung (zur Erreichung einer Zielsetzung) sind. Dem dort unter ,Mittel erster Ordnung' eingeordneten Begriff „Kolonialpolitik" kommt im Frame ein gänzlich anderer Status zu. Hier ist er nämlich Ausgangs- und Bezugsbegriff, genauer: Er ist das Analysandum. Deshalb taucht er auch nicht als Filier irgendeines Slots auf. Die Filier der Kategorie OPERATIONEN repräsentieren die Einzelhandlungen innerhalb des Handlungsabstraktums „Kolonialpolitik". Die Kategorie „(Kontrolle über die) Ausführung" ist nicht diskursiver Natur und hat daher in den diskursbezogenen Schemata kein Analogon. Dazu Klein/Meißner 1999.
Topik und Frametheorie
177
Prädizieren und Nominieren eine größere Sprachvarianz herrscht, so dass es verfälschend wäre, eine bestimmte historische Formulierung als repräsentativ für den Sprachgebrauch im Diskurs herauszustellen, werden zusammenfassende Lexeme der Gegenwartssprache verwendet. Auf dieser Basis ergibt sich der in Übersicht 4 dargestellte Begriff , Kolonialpolitik' (des Deutschen Reiches) in der Wilhelminischen Ära. Der Frame ist hier im Listenformat dargestellt, ließe sich aber auch - analog zum topischen Muster (Übersicht 2) - problemlos als Netz darstellen.
Slots
Filier
GATTUNG
„nationale Aufgabe", „Weltpolitik",...
AGENS
„Deutschland", „England", „Frankreich" u. a. „Kulturvölker"
AGENS-AGENSVERHÄLTNIS
„Kontrahenten", „Konkurrenz",...
PATIENS
„Eingeborene (Bevölkerung)", „Neger", auch „Farbige", „Primitive",...
AGENS-PATIENSVERHÄLTNIS
„beherrschen", „kultivieren", „bestrafen",...
RAHMENDATEN
„(jüngst errungene) Einheit", „deutscher Einheitsstaat", „führende Kontinentalmacht Deutschland", Deutschland bisher „ohne Kolonien", „Abschottung" (als weltwirtschaftliche Tendenz), „Volk ohne Raum", „deutsche Auswanderung", „Unkultiviertheit" der „Neger"/„Eingeborenen",...
DATENBEWERTUNG
„Gefahr" wirtschaftlicher „Übermacht Englands", „Mangel an sicheren Absatzgebieten" für „deutsche Exporte", „Verlust" an „deutschem Blut" durch „Auswanderung" in Gebiete „fremder Nationen", Bedarf an „Kultur" bei „Eingeborenen'7„Negern",...
WERTBASIS
„deutsche"/„nationale" „Ehre"/„Größe"
ZIELSETZUNG
Stärkung der „Nationalidee", weltweite „Behauptung deutscher Eigenart", „Reichsschutz" für „deutsche Kaufleute", „billige Produktion" (von „Nahrungsmitteln", Rohstoffen,...), wirtschaftliche Unabhängigkeit, insbesondere vom „Kontrahenten" „England" durch Ausdehnung der eigenen „Binnenwirtschaft", „höhere Kultur"/„christliche Zivilisation" für „Neger"/„Eingeborene", Beseitigung des „Sklavenhandels"
OPERATIONEN
„Flotte(nbau)", „günstige Verträge" („mit Häuptlingen"), gezielte „Auswanderung", „Beschaffung von Kolonisationskapital", „Landvermessung", „Eisenbahnbau", „kulturelle Aufgaben", Militäraktionen („Fahnen und Waffen")
Übersicht 4: Frame „Kolonialpolitik" in der Wilhelminischen Ära
178
Josef Klein
4. Fazit Was leisten die vorgestellten Analyseverfahren und die damit verbundenen Repräsentationsformate Topisches Muster und Frame für eine kultur-, sozialund mentalitätsgeschichtliche Sprachgeschichtsforschung? Mir scheinen folgende Leistungen wichtig zu sein: (1) Es wird deutlich, dass die Schlüsselwörter und die dominierenden Schlagwörter eines politischen Diskurses, wie sie in unserem Beispiel als Filier des Kolonialdiskurs-Frame reichlich zu finden sind, nicht in einem beliebigen Verhältnis zueinander stehenden, sondern sich systematisch verteilen auf die in den Slot-Kategorien von Politikbegriffen repräsentierten Handlungsdimensionen. 19 (2) Ähnliches gilt auf der Argumentationsebene: Auch hier bestimmen Handlungskategorien das komplexe topische Muster, in dem sich politische Argumentation wie in einem Raster bewegt. (3) Im Repräsentationsformat Topisches Muster lässt sich, wenn man auf das sprachliche Originalmaterial zurückgreift, sichtbar machen, wie eng die Schlüsselwörter und die dominierenden Schlagwörter zusammenhängen mit den tragenden Argumenten eines Diskurses. (4) Beide Formate ermöglichen - das eine auf der Argumentations-, das andere auf der Lexikonebene - Veränderungen geradezu mikroskopisch genau und in Relation zu dem jeweiligen argumentativen und/oder lexikalischen Gesamtgefüge zu orten und zu gewichten. In Frames sind es vor allem die Filier, in denen sich historischer Wandel niederschlägt. Stellt man z.B. dem in der Wilhelminischen Ära dominierenden Konzept von „Kolonialpolitik" das heute vorherrschende gegenüber, so würden sich im Verhältnis zum historischen Frame (Übersicht 4) unter anderem folgende Veränderungen ergeben: Als Filier zum Slot PATIENS würden die Vokabeln „Neger" und „Eingeborene" ersetzt werden etwa durch „außereuropäische Völker" o.ä. Beim AGENS-PATIENS-VERHÄLTNIS würde der Filier „kultivieren" entfallen und der neue Filier „ausbeuten" an die erste Stelle rücken. Und auch dort, wo die Filler-Vokabeln bleiben, würden sie deontisch anders gewichtet. Das betrifft vor allem die Filier der wertbezogenen Slot-Kategorien WERTBASIS, ZIELSETZUNG und auch DATENBEWERTUNG. Da heutiger Diskurs zum Thema „Kolonialpolitik" des Deutschen Reiches primär ein historischer und kein unmittelbar politischer ist, benutzen wir zwar vielfach die Vokabeln der Wilhelminischen Ära, müssten aber in einem Frame zum heutigen Gebrauch Wörter wie „deutsche Ehre", „nationale Größe", „Unkultiviertheit" der „Neger", „Behauptung deutscher Eigenart" als Filier mit deontischen Distanzmarkern versehen. Beide Formate lassen auch die Repräsentation sehr viel feinerer historischer Veränderungen als die gerade skizzierten zwischen Wilhelminischer und
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Vgl. auch Klein 2001.
Topik und Frametheorie
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heutiger Zeit zu. So ließe sich auf der Basis eines umfangreicheren und systematischer zusammengestellten Korpus, als es das hier zu Demonstrationszwecken verwendete kleine Korpus ist, zeigen, welche Veränderungen im Einzelnen es im Schlagwortschatz und in der Argumentation zwischen 1880 und 1910 gegeben hat - oder wie sich Argumentation und Vokabular kolonialkritischer Minderheitsdiskurse, die es durchaus gab, zum dominierenden Kolonialdiskurs verhalten.
5. Literatur 5. 1. Korpus „Kolonialpolitik" Allgemeiner Deutscher Verband (später „Alldeutscher Verband"): Gründungsaufruf vom April 1891. In: Bonhard, Otto (1920): Geschichte des Alldeutschen Verbandes. Leipzig, Berlin, 248f. Ebenfalls abgedruckt in: Alten 1979, 31 f. Alten, Peter (Hg.) (1979): Quellen und Arbeitshefte zur Geschichte und Politik. Der Imperialismus: Grundlagen - Probleme - Theorien. Stuttgart. Bieberstein, Adolf Freiherr Marschall von (1897): Erklärung im Reichstag am 18. März 1897. In: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. IX. Legislaturperiode, 4. Session, 194. Sitzung, Bd. 7. Berlin, 5149. Bismarck, Otto Fürst von (1884a): Erlaß an Münster vom 1. Juni 1884. In: Pommerin/Fröhlich 1997, 58f. Bismarck, Otto Fürst von (1884b): Rede zu den Motiven für eine deutsche Kolonialpolitik vor dem Reichstag am 26. Juni 1884. In: Pommerin/ Fröhlich 1997, 59-62. Bülow, Bernhard Graf von (1901): Festrede anläßlich der Enthüllung des Nationaldenkmals für den Fürsten Bismarck vor dem Reichstag, 17. Juli 1901. In: Purlitz, Friedrich/Steinberg, Siegfried H. (Hgg.): Deutscher Geschichtskalender für 1901. Begr. von Karl Wippermann. Leipzig. Dernburg, Bernhard (1907): Zielpunkte des deutschen Kolonialwesens. Berlin. Fabri, Friedrich: Rede zum deutsch-englischen Vertrag (Helgoland-SansibarVertrag) am 1. Juni 1890. In: Pommerin/Fröhlich 1997, 75-77. Peters, Carl (1884): Wie Deutsch-Ostafrika entstand. Auszug in: Schönbrunn, Günther (1980): Das bürgerliche Zeitalter 1815-1919. München, 585f. Peters, Carl (1884): Aufruf der Gesellschaft für deutsche Kolonisation (April 1884). In: Alten 1979, 27f. Reichs-Kolonialamt (Hg.) (1911/12): Die deutschen Schutzgebiete in Afrika und der Südsee 1911/12. Amtliche Jahresberichte. In: Reichskolonialamt (Hg.) (1936): Das Buch der deutschen Kolonisation. Berlin. Pommerin, Reiner/Fröhlich, Michael (1997): Quellen zu den DeutschBritischen Beziehungen 1815-1914. Darmstadt.
180
Josef Klein
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T o p i k und Frametheorie
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A N J A LOBENSTEIN-REICHMANN
Liberalismus - Demokratie - Konservativismus: Moeller van den Bruck, das Begriffssystem eines Konservativen zu Beginn der Weimarer Republik „Theorie und Praxis wirken immer aufeinander; aus den Werken kann man sehen, w i e es die Menschen meinen, und aus den Meinungen voraussagen, w a s sie tun werden." (Goethe, Dichtung und Wahrheit 2, 7)
1 .Hinfuhrung zum Thema November 1918: Der Krieg war verloren, der Kaiser geflohen und das Deutsche Reich nahezu über Nacht zu einer Republik geworden. Es war für viele Deutsche eine ungeliebte Republik, ein System, das ihnen von den westlichen Feinden aufgedrungen schien und das entsprechend in Verlängerung des verlorenen Krieges als feindliches System mit allen Mitteln bekämpft werden musste. Ermutigt wurden diese selbsternannten innenpolitischen Verteidiger des Vaterlandes durch den ,harten' Frieden von Versailles, die wirtschaftliche Krise, die dem Weltkrieg folgte, und durch die revolutionären Unsicherheiten, die das alte wilhelminische System im Rückblick als eine von Wohlstand und Sicherheit geprägte Zeit erscheinen ließen. Der Sprach- und Hilflosigkeit dieser konservativen Gruppierungen in den ersten Monaten nach dem Verlust des Reiches1 folgte eine die ganze Weimarer Republik hindurch anhaltende Hetzkampagne gegen das Weimarer System, die schließlich in das dritte Reich Hitlers mündete. Viel gelesen wurde und großen Einfluss besonders bei den Jungkonservativen hatte dabei Moeller van den Brucks Buch „Das Dritte Reich". 1923 zum ersten Mal erschienen, fand es zunächst noch wenig Leser, musste dann aber bereits 1926 zum zweiten Male aufgelegt werden und erfuhr während des Dritten Reiches noch zahlreiche weitere Auflagen. 2 Die zweite Auflage hat der Autor bereits nicht mehr erlebt, da er im Herbst 1924 einen Nervenzusammenbruch erlitt und wegen seiner Zwangsneurosen in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wurde. Moeller verübte am 30. Mai 1925 Selbstmord. 1
2
Von Ernst Troeltsch einprägsam als Traumland der Waffenstillstandsperiode bezeichnet, Troeltsch 1925,69. Dass sich die Nationalsozialisten spätestens im Jahre 1939 von Moeller distanzierten, soll hier nur als Ergänzung dienen. Die Distanzierung erfolgte u. a. in: Rödel 1939.
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Anja Lobenstein-Reichmann
Arthur Moeller van den Bruck gilt als konservativer Wegbereiter, sein Buch als ideologischer Vorläufer und vermeintlicher Namensgeber des dritten Reiches. Dennoch, und dies sei gleich zu Anfang erwähnt: Moeller van den Bruck war kein Nationalsozialist. Sein nationalchauvinistischer Ansatz, wobei die Betonung auf .chauvinistisch' liegt, konnte mit dem .ungebildeten' Führer der Nationalsozialistischen Partei, Adolf Hitler, nichts anfangen. Moeller van den Bruck gehörte allerdings zu denjenigen Konservativen, die mit einem überhöhten Nationalismus und einem radikalen Konservativismus den Weg für den Nationalsozialismus vorbereitet haben. Ich möchte sein Denken mit folgenden, schon jetzt zur Orientierung vorgestellten Thesen kennzeichnen: (1) Das Diktum Kurt Sontheimers vom antidemokratischen Denken 3 in der Weimarer Republik ist in Bezug auf Moeller van den Bruck wörtlich gar nicht und begrifflich nur dann gültig, wenn man es auf die heutige Begriffssetzung bezieht. Für Moellers Buch „Das Dritte Reich" wäre wörtlich wie begrifflich die Kennzeichnung ,antiliberales Denken' zutreffender. Moeller van den Bruck stellt deutlich die Dichotomie .Liberalismus' versus .Konservativismus' auf. Demokratie ist für ihn nur eine beliebig austauschbare und modifizierbare Staatsform, deren Akzeptabilität davon abhängt, ob eine bestimmte Form des Konservativismus in ihr realisiert ist. (2) Moeller van den Bruck ist kein politischer Visionär, sondern ein Visionär des Unpolitischen. Er transponiert genuin politische Themen ins Unpolitische, das heißt konkret ins Charakterlich-Moralische und ins Geistig-Kulturelle. Gleichzeitig politisiert er das genuin Geistig-Moralische, und zwar in der Weise, dass er es metapolitisch, das heißt zur überparteilichen Größe und damit zum Maßstab sowohl der Politik als auch der Gesellschaft überhöht. Das Ergebnis dieser dritten Partei4 bzw. dieses dritten Standpunktes und schließlich auch des
3
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Sontheimer 1994, 12f.: „Die innere Schwäche und das Sterben der Weimarer Demokratie sind unlöslich verknüpft mit der Wirksamkeit des antidemokratischen Denkens." Und S. 13: „Der Weimarer Republik fehlte ein Staatsbewusstsein, das sich an die demokratische Republik gebunden fllhlte und mit ihr in Einklang wußte." Auch Adomo nimmt das Problem des antidemokratischen Denkens als Grundfrage seiner Studie auf: „Wenn es ein potentiell faschistisches Individuum gibt, wie sieht es, genau betrachtet, aus? Wie kommt antidemokratisches Denken zustande?" Adorno 1996 2 ,2. Vgl. dazu: „Der Versuch, der in diesem Buche gemacht wurde, war nur von einem Standpunkte aus möglich, der keiner Partei verschrieben ist, vielmehr die ganze Spanne der Probleme einbezieht, die durch die Politik unserer Zeit gehen, von der äußersten Linken bis zur äußersten Rechten: nur von einem dritten Standpunkte aus, der jeden anderen einschließt, den Parteideutsche haben können - von dem Standpunkte einer dritten Partei aus, die es bereits gibt. Nur ein solcher Versuch konnte sich, indem er die Parteien angriff, über sie hinaus an die Nation wenden. Nur ein solcher Versuch konnte die deutsche Zerrüttung und Zwieschaft aufzeigen, die aus langen Verhängnissen von den Parteien her, und durch sie, in unser politisches Leben getragen worden sind. Nur ein solcher Versuch konnte wieder die geistige Ebene politischer Anschauung feststellen, die von der Parteipolitik verlassen worden ist und die gleichwohl um der Nation willen gehalten, konservativ behauptet, revolutionär erstürmt werden muß." Moeller van den Bruck 1923, 6.
Liberalismus-Demokratie-Konservativismus
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von ihm angestrebten dritten Reiches5 ist der national-konservative Staat, der ohne Parteipolitik auskommt, und das heißt in letzter Konsequenz: unpolitisch ist. Moeliers Ziel ist also die Entpolitisierung der deutschen Gesellschaft. 6 (3) Entpolitisierung ist für Moeller van den Bruck die konservative Bewahrung aller guten, das heißt nationalen Werte und das Bekämpfen aller schlechten, das heißt liberalen Werte. Es geht ihm nicht um eine ausschließliche Erhaltung des Gewesenen, dies wäre für ihn reaktionär, sondern um radikale Durchsetzung des konservativen, das heißt nationalchauvinistischen Denkens. In diesem letzten Aspekt steckt das Revolutionäre, das revolutionär-konservative Element seiner Ideologie, die in letzter Konsequenz ideologisch den Weg für dynamische Neuordnungen mit konservativen Werthaltungen freimachen soll. Durch die folgenden Ausführungen sollen sich zwei rote Fäden ziehen. Zum einen möchte ich eine Methode vorstellen, die zur semantischen Untersuchung historischer Texte dienen kann, und zum anderen möchte ich anhand dieser Methode vorführen, worin sich Moellers Opposition gegen die Republik äußert, warum sein Denken nicht antidemokratisch, sondern antiliberal war. Die hier vorgenommene Relativierung des Antidemokratischen soll den Blick frei machen für eine genauere Untersuchung aller Komponenten, die zum ideologischen und damit auch politischen Niedergang der ersten deutschen Republik geführt haben. Ideologie soll im Folgenden im Sinne Adornos verstanden werden, nämlich: „an organization o f opinions, attitudes and values - a way of thinking about man and society. We may speak of an individual's total ideology or of his ideology with respect to different areas of social life: politics, economics, religion, minority groups, and so forth. Ideologies have an existence independent o f any single individual; and those which exist at a particular time are results both o f historical processes and o f contemporary social events." 7
Ideologien sind sprachliche Konstrukte, deren Träger das Ziel verfolgen, ihr Konstrukt von einer sprachlichen Existenzform in eine sachliche zu transportieren, d.h. die reale Welt in ihrem Sinne zu verändern. In linguistischer Perspektive sind sie also sprachlich-kommunikative Konstrukte, die mit dem Ziel propagiert werden, ihren sprachlich-kommunikativen Konstruktstatus als sach-
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7
Vgl. dazu: „Das dritte Reich, wenn es je sein wird, schwebt nicht in Wohlgefallen hernieder. Das dritte Reich, das den Unfrieden endet, wird nicht in einem Frieden erstehen, der sich weltanschaulich verwirklicht. Das dritte Reich wird ein Reich der Zusammenfassung sein, die in den europäischen Erschütterungen uns politisch gelingen muß." Moeller van den Bruck 1923, 7; vgl. auch 40f. In diesem Zusammenhang sei der Hinweis auf Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen" erlaubt. In den Betrachtungen finden sich deutliche inhaltliche Parallelen zu Moeller. Auch wenn man zwischen der ersten Auflage (1918) und der zweiten (1919) unterscheiden muss, so ist dieses Buch dennoch mit einem völlig anderen Geist geschrieben worden und diente intentional einem anderen Zweck. Der gravierendste Unterschied zwischen Moeller van den Bruck und Thomas Mann ist wohl der, dass sich Thomas Mann mit seinem Buch in keiner Weise aktiv in die Politik einbringen will, Moeller jedoch genau dieses zum Ziel hat. Adorno 1964\ 2; in deutscher Übersetzung: Adorno 1996 2 ,2.
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adäquates, logisch begründetes oder aus anderen Gründen unbestreitbares Konzept von Realität oder gar als Realität überhaupt erscheinen zu lassen. Dieses Ziel ist maximal dann erreicht, wenn alle Gruppierungen der Öffentlichkeit dieser Meinung sind. Ein Konstrukt mit sprachlich-kommunikativer Existenzform ist also dann Realität, wenn es von allen Beteiligten als solche behandelt wird. Auf dem Weg dazu muss eine Einbürgerung im Bewusstsein der Menschen erfolgen. Diese verläuft über die Schienen der Lexik und damit zusammenhängend der Bedeutungskonstitution. Ideologisch erfolgreich ist derjenige, der das sogenannte ,Besetzen' von Begriffen, das heißt die Bedeutungsgebung von Schlag-, Fahnen- oder Hochwertwörtern in optimaler Weise beherrscht.8
2. Die Methode Die oben aufgeführten Thesen erfordern also zunächst einmal eine Untersuchung der von Moeller vorgenommenen Semantisierungen all derjenigen Ausdrücke, die nicht nur von Moeller van den Bruck in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt wurden. Solche Untersuchungen können meines Erachtens am sinnvollsten mit einem lexikografischen Zugriff erfolgen, da nur so die schmale Gratwanderung zwischen Interpretation des Untersuchenden, Verifizierbarkeit durch den Leser der Untersuchung und Dokumentation auf begrenztem Raum möglich ist. Unter , lexikografischem Zugriff soll dabei eine Kombination folgender Arbeitsschritte verstanden werden: (a) Der onomasiologische Arbeitsschritt; er besteht aus der Exzerption erstens aller lexikalischen Ausdrücke, die z.B. das Wortbildungsmorphem (-)demokrat{-) aufweisen, und zweitens all derjenigen lexikalischen Ausdrücke, mit denen Moeller nach dem beim ersten (onomasiologischen) Arbeitsschritt noch sehr vorläufigen Textverständnis auf dasjenige Bezug genommen hat, was ich als .demokratisch' betrachte bzw. mir vorläufig als demokratisch' definiert habe. Der onomasiologische Arbeitsschritt beruht damit auf der Tatsache, dass man auf jeden Gegenstand, auf den man sprachlich Bezug nehmen will, in lexikalisch unterschiedlicher Weise Bezug nehmen kann. Das Ergebnis des onomasiologischen Arbeitsschrittes ist die Auffindung einer Reihe von Ausdrücken, die ich als ,Demokratiewörter' bezeichne, z.B. demokratisch, liberal, parlamentarisch, Republik. (b) Die Exzerption der in a) gefundenen Demokratiewörter; sie soll hier als vorwiegend technischer Vorgang begriffen werden, ist aber in Wirklichkeit hochkomplex. (c) Der semasiologische Arbeitsschritt; er mündet in der Erläuterung der Bedeutung jedes der im onomasiologischen Arbeitsschritt gewonnenen Wörter 8
Vgl. dazu die entsprechende Literatur, z.B. Liedtke 1991, Stötzel/Wengeler 1995, Hermanns 1995.
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bzw. in der Erläuterung mehrerer bis aller Bedeutungen dieser Wörter sowie (in letzterem Falle) in der Angabe inhaltlicher Beziehungen zwischen diesen Bedeutungen. Der Vollzug der genannten drei Arbeitsschritte fuhrt den Analysierenden von einem relativ vorläufigen, noch auf Vermutungen, Vorurteilen usw. beruhenden Einsichtsstand (eigentlich: Erwartungsstand) kontinuierlich zu einer Vertiefung der Einsicht und damit verbunden zur Möglichkeit ihrer wissenschaftlichen Begründung. Üblich ist der Fall, dass eine im onomasiologischen Arbeitsschritt gewonnene lexikalische Einheit sich beim Exzerpieren und erst recht während der semasiologischen Untersuchung als nicht zum Gegenstandsbereich gehörig oder als irrelevant erweist. Häufiger jedoch dürfte der Fall begegnen, dass man im semasiologischen Arbeitsschritt erkennt, einzelne oder mehrere gegenstandsrelevante Einheiten übersehen zu haben. Dies erfordert einen Arbeitsschritt (d) die Nachexzerption und daran anschließend wieder die Schritte b) und c). Das Ergebnis historisch-semantischer Untersuchungen ist zu einem guten Teil Interpretation. Um so wichtiger ist es, dem Leser solcher Untersuchungen die erstellten Ergebnisse so durchschaubar zu machen, dass er relativ Gesichertes, nicht sinnvoll Bezweifelbares von dem auf begründeter Interpretation Beruhenden und von dem bloß Spekulativen unterscheiden kann. Die im wissenschaftlichen Text dargestellte Realität ist als größtmögliche Annäherung an die objekthistorische Realität zu konzipieren; dies setzt eine Anlage historischsemantischer Textsorten, z.B. von Wörterbuchartikeln, voraus, die den Leser in die Unterscheidung von Dichtung und Wahrheit einbeziehen. Ein solcher Wortartikel hat dem angesprochenen idiolektalen Anliegen gemäß besondere Informationspositionen, die ich im Folgenden kurz vorstellen möchte: Lemma 1. Bedeutungserlauterung 1
^
\
Bedeutungsverwandtschaften (Bdv.) Paraphrase (Paraph.) Gegenstandsrelation: Gegensatzbereich (Ggb.) und Gegensatzparaphrase (Ggsparaph.) Prädikationen und Syntagmen (Präd.; Synt.) Belege
2. Bedeutungserläuterung 2
Wiederholung des Programms Belege
Abb. 1 : Exemplarischer Aufbau eines Wortartikels
Die Bedeutungserläuterung ist die aus Belegbedeutungen abstraktiv gewonnene Formulierung einer Gebrauchsweise des Lemmazeichens. Bei einem Einzelautor, z.B. Moeller, ist dabei besonders darauf zu achten, dass genau dasjenige herausgestellt wird, was als individuelles Verständnis eines Ausdrucks (natürlich in
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seinem Kontext) zu verstehen ist. Die Wiedergabe der Bewertung und der einem Ausdruck innewohnenden bzw. vom Autor eingegebenen Deontik9 ist in diesem Zusammenhang nicht nur wünschenswert, sondern absolut notwendig. In der Position .Bedeutungsverwandtschaft' (Bdv.) stehen alle diejenigen lexikalischen Ausdrücke, die als partiell synonym mit dem Lemmazeichen, und zwar in der jeweils beschriebenen Bedeutung, interpretiert werden. Der Eintrag „Bdv.: liberal*' s.v. demokratisch 3 bedeutet also, dass das Wort liberal als partiell synonym zu Bedeutung 3 von demokratisch zu sehen ist. Analog zur Betonung der Deontik in der Position .Bedeutungserläuterung' ist auch hier darauf zu achten, dass sogenannte ,Wertsynonyme' einbezogen werden. Das Ansatzkriterium ist dabei, ob Moeller das Lemmazeichen kontextuell durch das als bedeutungsverwandt angesetzte Wort substituieren könnte oder nicht. So ist es für ihn durchaus kein Problem, liberal an geeigneter Stelle durch verräterisch oder durch westlerisch zu ersetzen. Unter der dritten Position, .Paraphrase' (Paraph.), erscheint all dasjenige, womit der Autor im untersuchten Text ein Lemmazeichen (pro Bedeutung) paraphrasiert. Die Paraphrase das Aufgehen und die Hingabe zum Volksstaat wird dementsprechend als textinhaltlich weitgehend gleich mit demokratisch 2 interpretiert. Diese Informationsposition ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil in ihr die autoreigenen Definitionen und definitionsähnlichen Erläuterungen (eben Paraphrasen) wiedergegeben werden können, ohne dass das Lemmazeichen dabei erscheint. Als vierte Position wird der .Gegensatzbereich' aufgeführt. Unter der Sigle Ggb. erscheinen alle diejenigen Ausdrücke, die zu einer bestimmten lexikalischen Einheit, z.B. zu demokratisch pro angesetzter Bedeutung als im Gegensatz stehend interpretiert werden. So ist z.B. liberal als Gegensatzwort zu konservativ auffassbar. Aufgrund der geringeren Häufigkeit wird an die Position Gegensatzbereich auch eine Gegensatzparaphrase angeschlossen, die ähnlich wie die Paraphrase, nur mit negativem Vorzeichen, dasjenige wiedergeben soll, was vom Autor als im Gegensatz zum Lemmazeichen stehend paraphrasiert wird. Unter der Sigle Ρrad., ausformuliert Prädikationen, werden diejenigen Bezugsgrößen herausgestellt, denen das Lemmazeichen, also z.B. die Prädikation liberal, zugeordnet wird. Prädikationen charakterisieren Gegenstände, Sachverhalte oder Ereignisse hinsichtlich ihrer Qualität, Quantität, ihres Raumes oder Zeitpunktes näher bzw. setzen diese zu anderen Gegenständen und Sachverhalten in Beziehung. Prädikationen zum Substantiv Liberalismus können u.a. das Genitivattribut eines Westlertums oder das Adjektiv dumm sein. So ist es z.B. interpretationsrelevant, ob Liberalismus von Moeller nur politischen Bezugsgrößen wie .Staat' oder auch charakterlichen Haltungen wie .rechthaberisch' oder kognitiven Gegebenheiten wie .Verstand' zugeordnet wird. Dies ist um so wichtiger, je mehr man über Bewertungen und Polemiken des Autors erfahren möchte. Der Kontextsensitivität wegen wird diese Position in der lexiko-
'
Vgl. dazu Hermanns 1994.
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grafischen Beschreibung am sinnvollsten mit der Syntagmenangabe in eins gesetzt und nur der Analyse wegen hier ausgesondert. In der Position ,Syntagmen' (Synt.) stehen normalerweise nur diejenigen Ausdrücke, mit denen das Lemmazeichen syntagmatisch verbunden auftritt. Das Verb verführen z.B. verlangt zum einen ein Subjekt und zum anderen ein Akkusativobjekt. Daraus ergibt sich als Beispiel einer syntaktischen Grundform: jdJetw. (...) jn. (...) verführen. Die jeweiligen Klammern werden mit den im Text erscheinenden Ausdrücken gefüllt. Im oben genannten Beispiel lauten die entsprechenden Füllungen: Liberalismus und Sozialismus. Liberalismus ist Subjekt, Sozialismus Akkusativobjekt. Das Lemmazeichen erfährt auf diese Weise seine syntaktische Einordnung als Satzglied. Die korrekte syntagmatische Angabe lautet demnach: etw. (Liberalismus) etw. (Sozialismus) verführen. Da es aber nicht das Anliegen eines solchen Artikels ist, die syntaktischen Vorkommen eines Wortes zu dokumentieren, sondern das besondere Interesse darin besteht, die argumentativen Zusammenhänge zu beleuchten, in die ein bestimmtes Wort von seinem Autor gesetzt worden ist, dient die grammatische Einordnung vorwiegend der Strukturierung, der Verdichtung und der inhaltlichen Überschaubarmachung des zugrundeliegenden Materials. Die einzelne Syntagmenangabe folgt daher der Prämisse, den propositionalen Gehalt einer Aussage in kürzester Form zu kennzeichnen. Bei der Sytagmenangabe steht also der propositionale Gehalt einer Aussage im Vordergrund, der mit bzw. vermittels des angesetzten Lemmas oder Bezug nehmend auf das Lemma zum Ausdruck gebracht wird. Beim oben aufgeführten Beispiel steht folglich ausformuliert: Der Liberalismus hat den deutschen Sozialismus verführt. Oder: Der Konservativismus war die Voraussetzung, unter der wir den Krieg nur gewinnen konnten. Wörterbuchartikel dieser Art haben vielfältige Funktionen. Da es das Anliegen der Autorenlexikografie ist, das Besondere und Eigene eines Autors speziell im inhaltlichen Bereich offen zu legen, müssen diejenigen Informationspositionen, die das spezifisch Idiolektale des zu behandelnden Textes aufnehmen können, engstens an den Quellentext rückgebunden sein. Dies ist mit den oben genannten Informationspositionen gewährleistet, da mit ihnen eben genau das Besondere und Eigene des Sprachgebrauchs, mehr noch die Assoziationen und Konnotationen, die gedanklichen Verknüpfungen und Unterscheidungen in der Vorstellungswelt des Autors, zum Ausdruck gebracht werden können. Besonders die Informationspositionen .Paraphrase', ,Gegensatzbereich', ,Prädikationen' und ,Syntagmen' wurden zu diesem Zwecke in die lexikografische Beschreibung eingeführt. Wie sich an anderer Stelle gezeigt hat 10 und im Folgenden noch zu zeigen sein wird, kann dieser Artikelaufbau für die Interpretation von Texten eines einzelnen Autors, auch innerhalb eines historisch zurückliegenden Zeitraumes, sehr viel leisten. Er dient also sowohl der Bedeutungserschließung des einzelnen Lemmazeichens durch den Lexikografen wie der Erkenntnis der onomasiologischen Vernetzungen. Außerdem bietet ein solcher Artikelaufbau
10
Lobenstein-Reichmann 1998.
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sowohl fur den Lexikografen als auch für den Leser die Möglichkeit der fortwährenden Rekontextualisierung, mit der auch immer eine Disziplinierung eigener Weltansichten verbunden ist. Je näher man, und damit sind wiederum sowohl der Lexikograf als auch der Leser gemeint, am Text bleiben kann, desto weniger läuft man Gefahr, den eigenen Horizont mit dem des geschichtlichen Autors zu verschmelzen. Es ist vielleicht an dieser Stelle nicht ganz fehl am Platz, darauf hinzuweisen, dass Horizontverschmelzungen nicht notwendigerweise über den Weg einer positiven Identifikation verlaufen müssen, sondern ebenso in einer vorgefassten negativen Bewertung des zu untersuchenden Gegenstandes begründet sein können. Gerade bei der Beschäftigung mit Texten, deren Inhalte nicht den eigenen gesellschaftlichen Wertvorstellungen entsprechen, ist eine Methode notwendig, die maximale Objektivität garantiert. Sie ist aber auch deswegen angeraten, weil man dabei von den Folgen und Konsequenzen solcher Texte, die der bearbeitende Lexikograf ja kennt, abstrahieren kann. Der allgemeine und zum Teil durchaus berechtigte Vorwurf, man könne die Weimarer Republik nicht nach ihrem Scheitern beurteilen, soll hier nur als eines von vielen Beispielen dienen. Ein weiteres Beispiel ist der zur festen Wendung gewordene Terminus vom antidemokratischen Denken' in der Weimarer Republik. Für den Leser bedeutet diese Vorgehensweise, wie oben bereits angedeutet wurde, dass auch er die Möglichkeit erhält, das Analysierte nachzuvollziehen, es zu verifizieren, gegebenenfalls aber auch, es zu falsifizieren. Darüber hinaus bekommt er einen schnellen Überblick über die Beleglage. Die Schwierigkeit solcher Wörterbuchartikel besteht allerdings darin, dass der Bearbeiter einen Kompromiss finden muss zwischen einer möglichst vollständigen Dokumentation des vorgegebenen Materials einerseits und einer rezipientenfreundlichen Darbietung andererseits. Wählt der Bearbeiter nur wenige, besonders ,passende' Belege bzw. in diesem Fall Syntagmen aus, kann man ihm vorwerfen, er habe das Material seinen Ergebnissen angepasst. Die geforderte Nachprüfbarkeit durch den Leser wäre damit nicht mehr gewährleistet. Dokumentiert er jedoch das gesamte vorhandene Material, ist dieses nicht mehr wirklich durchdringbar. Im hier vorliegenden Argumentationszusammenhang muss ein Kompromiss eingegangen werden. Die Exzerption ist vollständig erfolgt und in die jeweiligen Artikel eingegangen. Das Material wird aber nur in einer pragmatischen Kurzform dokumentiert. Die Belegdarstellung wird vollständig weggelassen und in den Syntagmenangaben wurde stark gekürzt. Trotz weitgehender Kürzungen (z.B. im Bereich der Wiederholungen oder der Bezugsgrößen) soll versucht werden, dennoch den schmalen Grat zwischen einem Zuviel an Materialdarstellung und einem Zuwenig an Überprüfbarkeit zu gehen. Die Artikel sollen dabei innerhalb der Syntagmenangabe durch eine innere Strukturierung überschaubar gemacht werden. Dieser Kompromiss ist zugegebenermaßen unbefriedigend, lässt jedoch dem Leser einerseits die Möglichkeit offen, selbst zwischen einem kurzem Überblick und einer intensiveren Beschäftigung mit dem Material zu entscheiden. Der Volltext der Artikel soll an anderer Stelle einmal publiziert werden.
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Die onomasiologische Vernetzung, dasjenige also, was sich aus den Bedeutungsverwandtschaften ergibt, ist dann selbst wieder der Ausgangspunkt für weitergehende Analysen. Jedes als bedeutungsverwandt erkannte Wort wird (idealerweise) ebenfalls in einem Wortartikel bearbeitet, so dass auch von diesen Wörtern die onomasiologischen Vernetzungen eruiert werden können. Dieses aufwändige Verfahren dient dazu, den Weg von der Einzelbedeutung eines Einzellexems hin zum Begriff zu gehen. Der Schritt von der Größe .Bedeutung' zu der Größe .Begriff vollzieht sich wie folgt: Innerhalb eines Einzellexems wird immer von .Bedeutungen' gesprochen (ein Wort hat, wie bereits normalsprachlich gesagt wird, .Bedeutung'); die auf den Punkt gebrachte inhaltliche Gemeinsamkeit zweier oder mehrerer Einzelbedeutungen unterschiedlicher Lexeme wird hier als .Begriff bezeichnet. Anders ausgedrückt: Alle über das Einzelwort hinausgehenden gemeinsamen Inhalte mehrerer Lemmazeichen werden letztlich auf einen vom Lexikografen erfassten Punkt, das heißt .Begriff, gebracht. Begriffe sind mithin Zusammenfassungen des Analysierenden und somit interpretativ gewonnene kognitive Größen. Von ihnen wird allerdings angenommen, dass sie ein Analogon beim historischen Sprecher, in diesem Fall bei Moeller van den Bruck, haben." Da bereits bei der Erstellung des semasiologischen Feldes zu jeder Einzelbedeutung bedeutungsverwandte Wörter angegeben wurden, erlauben die Wortartikel eine rasche Herausgliederung dieser Vernetzungen, also all derjenigen Ausdrücke, mit denen der historische Sprecher auf die pro Einzelbedeutung beschriebene Größe Bezug nehmen konnte. So besteht das Wortfeld von Demokratie aus bestimmten anderen Demokratieausdrücken wie z.B. Liberalismus, Parlamentarismus, wobei die beiden genannten als monosem angesetzt worden sind und daher keine Bedeutungszahl haben. Dasjenige also, was allen diesen Wortfeldgliedern inhaltlich gemeinsam ist bzw. als inhaltlich gemeinsam interpretiert wird, ist der Begriff. Der Begriff, auf den das Wortfeld von Demokratie gebracht wurde, ist Liberalismus'.
3. Durchführung der lexikografischen Textanalyse Beim Betrachten des Artikels ,Demokratie' fallt auf, dass dieses Wort von Moeller van den Bruck ideologisch nur bedingt nutzbar gemacht wird. Im Gegensatz zu Konservativismus ist Demokratie kein Wort, mit dem er gesellschaftliche Veränderungen propagieren kann. Es ist nicht eindeutig genug und taugt nur bedingt dazu, absolute Wahrheiten zu verifizieren oder zu falsifizieren. Es ist nicht gruppenbildend. Demokratie ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts, um es einmal etwas pointiert auszudrücken, kein Schibboleth mehr, an dem sich die Geister scheiden.12 Im Gegenteil, für Moeller ist es im Vergleich zu anderen
" 12
Vgl. hierzu Lobenstein-Reichmann 1998, 23ff.; 2000, 193. Vgl. dazu: Conze 1972, 898.
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politischen Schlagwörtern eher ein Schwamm, der alles aufsaugt und daher nichts mehr aussagt.13 Demokratie,
die.
1. allgemein und generiseli: >Volkssouveränität, Volksherrschaft (unabhängig von Staatsform, Ausprägung und Trägern der Staatsgewalt)Nation, die eine demokratische Staatsform besitztpolitische Bewegung, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Volk als Souverän eines Staates einzusetzend offen zu 2; 3. Paraph.: Anteilnahme des Volkes am Staate / an seinem Schicksal. - Präd. und Synt. (zum Subjekt): Demokratie kann Stoizismus bedeuten, Republikanertum, Unerbittlichkeit, Härte // Demokratie kann Liberalismus bedeuten, Geschrei in den Parlamenten und ein Sich-gehen-lassen in Wohlleben // Staat, in dem Demokratie und Konservativismus vereinbart sind; [...] (als Akk. Obj.): der liberale Mensch mißbraucht die Demokratie zu politischen Schutzformen // nicht die Staatsform macht eine Demokratie aus // andere Völker hatten die deutsche Demokratie verraten. Belege: [...] 2. k o n s e r v a t i v e , nationalistische, ständisch gegliederte Herrschaftsform mit einem starken, nahezu diktatorischen Staats- und Führerprinzip, das den angenommenen kollektiven Willen des Volkes bündelt und d u r c h f ü h r t ; ütr.: a l l g e m e i n e r Wille des Volkes, jedoch nicht als einer Gruppe einzelner Individuen, sondern im Sinne eines Kollektivs, das nach einem als natürlich betrachteten, ständischen Prinzip geordnet ist >
Tunichtgut umlernen Uniform Unsinn Vernunfturteil vorsichtig
> > > > > >
Wahrsager Weltreich zu guterletzt zweideutig
> > > >
Trauerernst Ζ 49, Krankenbolde MR 230, Neidbold VW 507, Tunichtböse Ζ 284, umfühlen MR 92, Einform Ζ 58, Ohnesinn Ζ 100, GM 412, Vernunftvorurteil GD 77, rücksichtig MR 17 (so schon Campe), Wahrlacher Ζ 366, Zeitreich MA 603, zu böserletzt FW 445, fünfdeutig EH 284.
2.2.6. Wortbildungsnischen Bestimmte Vorlieben Nietzsches führen uns in geradezu systematisch ausgebaute Anwendungsnischen, so in die der teilweise metaphorisch aufgeladenen Tiernamen, die - am konzentriertesten im Zarathustra - eine ganz eigene Menagerie benennen: Feder-Fuchs Ζ 241, Feuerhund Ζ 168ff., Gewissens-Blutegel, Ζ 311, Glitzer-Krebse Ζ 297, Glocken-Unke Ζ 401, GrasGeflügel Ζ 343, Grunze-Schwein Ζ 224, Heuchelhund Ζ 170, Lust-Katzen Ζ 259, Mädchen-Katzen DD 384, Schmeichelkatzen MA 663, Nage-Wurm Ζ 114, Seidenhasen Ζ 241. Dazu die Adjektive: adlerhaft Ζ 373, lammäugig Ζ 373, löwenwillig Ζ 237, 258, pantherhaft Ζ 373. 2.2.7. Lexikalische Bildungsreihen Die Verbindung von Altem und Neuem, die Beherrschung des lexikalischen Erbes und die kreative Lust an (auch heute noch oft auf den ersten Blick erkennbaren) eigenen Wörtern zeigt sich augenfällig an der Füllung lexikalischer Reihen. Neue Bildungen werden in die geläufigen Prägungen der Allgemeinsprache eingebettet und auch durch Lexeme aus Fachsprachen bereitwillig ergänzt. Eine der beliebtesten Techniken der Moderne, virtuos gehandhabt ζ. B. von Thomas Bernhard in regelrechten Komposita-Nestern in allen seinen Texten, findet in Nietzsches Spracharbeit eine wichtige Vorstufe. Im Folgenden werden exemplarische Teile des Grundmaterials angeführt, und zwar jeweils nur im Hinblick auf die lexikalischen Erstglieder (dieselben Lexeme auch als Endglieder in Grundwortposition und in typischen Kollokationen können bei Prossliner 1999 verglichen werden). Die hier gebotenen Reihen enthalten alles, was bei kursorischer Lektüre der von Nietzsche veröffentlichten oder von ihm bis zum 2. Januar 1889 zur Veröffentlichung vorgesehenen Werke angefallen ist, und erlauben ein Urteil auch
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über die interessanten Relationen, in denen Nietzsche wichtige lexikalische Komplexe für den eigenen Gebrauch ausgebaut hat. Eine semantische Aufarbeitung dieser Bildungen nach den üblichen lexikografischen Methoden wäre zwar wünschenswert, doch sie kann und soll hier nicht versucht werden. Dabei ist es für unseren Zusammenhang nicht entscheidend, ob bestimmte Komposita oder sonstige mehrteilige Lexeme aus der Schopenhauerlektüre gewonnen sind oder andere wie der Weltprozeß aus der Auseinandersetzung mit Eduard von Hartmann, und dass anderes einfach aus der Zeitung stammt, wie etwa die Weltausstellung. Das zitierte Material zeigt vor allem, wie die anhaltend um feste Punkte kreisenden Gedanken Nietzsches sprachlichen Ausdruck in immer weiter ausgebauten lexikalischen Bildungsreihen finden. Dass hierbei für einen Philosophen und Zeitkritiker gedankliche Komplexe und Reizwörter wie Begriff, Dekadenz, Kultur, Menschen, Moral oder Welt eine besondere Rolle spielen, versteht sich wohl von selbst. So bildet zum Beispiel Mensch (und nicht nur Übermensch) im Zarathustra ein zentrales Themawort; Mensch und Menschen-Komposita zählen in diesem Text deshalb zu den Lexemgruppen mit der höchsten Frequenz unter den Autosemantika (über 400 Belege). Trotz Nietzsches Gewissheit, der Mensch sei Etwas, das überwunden werden muss Ζ 332, steht er im Zentrum seines Nachdenkens, denn Unerschöpft und unentdeckt ist immer noch Mensch und Menschen-Erde sagt Zarathustra zu seinen Jüngern in der Aufforderung zur .schenkenden Tugend' Ζ 100. Und diese ,Menschen-Erde' ist Ort und Objekt des Wörterspiels: ein Göttertisch ist die Erde, zitternd von schöpferischen neuen Worten und Götter-Würfen Ζ 289. Als Finder und Bildner dieser Wörter nimmt Nietzsche teil am Wortspiel der Götter: Oh Himmel [...] dass du mir ein Göttertisch bist für göttliche Würfel und Würfelspieler! Ζ 209f. Merkwürdiger ist Nietzsches Vorliebe für Bildungen mit Gesamt, in allerdings etwas variierenden semantischen Lesarten, sie bezeugt wohl seine Neigung zu generellen Aussagen. Besonders aufschlussreich aber wirken Nietzsches Bildungen mit Instinkt, Traum und Selbst. Nietzsche kann zwar sein ,Ich' und sein ,Selbst' ohne Betonung einer Differenz locker nebeneinander stellen, so im Anschluss an das Bild des vorüberziehenden Segelschiffs, das sein glücklicheres Ich, sein zweites verewigtes Selbst trägt (FW 424), oder anlässlich der Deutung des narkotischen Rauschs, in dem den Berauschten der Rausch als das eigentliche Selbst, als ,sich', [...] als das wahre Leben, als das eigentliche Ich erscheine (MR 54). Solche Formulierungen dürfen aber nicht überdecken, dass Nietzsches Begriff des .Selbst' den des ,Ich' oder der ,Ichheit' (GT 45) dominiert. Das Ich als Subjekt des Denkens gilt ihm als trügerisch (MR 107f„ JGB 3 Iff., GD 77): „das Selbst [...] herrscht und ist auch des Ich's Beherrscher. Hinter deinen Gedanken und Gefühlen [...] steht ein mächtiger Gebieter, [...] der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. [...] Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge." (Z 40)
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Beeindruckend ist die Fülle der zugehörigen Wortbildungen. Sie bieten ein zwar extremes, aber in der konsequenten Nutzung eines Nominationsmusters zugleich typisches Beispiel fur die Lexikalisierung eines mentalen Programms. Wie weit allerdings Nietzsches Begriff des .Selbst' die Semantik der aufgereihten traditionellen und neuen Bildungen bestimmt, muss hier leider offen bleiben. Eine Teilgruppe dieser Reihe ist auch deshalb von Interesse, weil sie unmittelbar an die ebenfalls auffällig zahlreichen substantivierten Reflexiva Nietzsches anschließt: Vom Sich-selbst-vergessen (UB 375, MA 397, GM 382); dem Sich-selbst-Verleugnenden (EH 374) oder dem Sich-selbstVerneinen (NW 431) sind es jeweils nur kleine Schritte (Elision des sich und Wechsel des finalen Morphems) hinüber zur Selbstvergessenheit, zur Selbstverleugnung oder zur Selbstverneinung. Wie weit Nietzsche seine sprachlichen Experimente treibt, zeigen seine Versuche der Substantivierung des Pronomens: Selbst und Nicht-Selbst (UB 465); Hören-Müssen auf andere Selbste (EH 326, vgl. noch MA 351f„ FW 515, GM 326, 381, GD 138, EH 326) und dessen Behandlung als autosemantisches Kernmorphem: Selbstheit (UB 436); Selbstigkeit (UB 509, FW 457, EH 283, 294); selbstisch (UB 251); Entselbstung (GM 363, AC 236); mit der kühnen Bildung Entselbstungs-Moral (EH 332, 372). Es ist also nicht die Geschichte des Einzelworts, die in einem mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhang nur oder vor allem interessiert, sondern die oft über Jahre - oder im Fall Nietzsches über die gesamte Dauer seiner schriftstellerischen Aktivität - anhaltende Neigung, Lösungen für lexikalische Probleme der Denkarbeit immer wieder in ganz bestimmten Lexemgruppen zu suchen und zu finden. Wollte man diesen Ansatz erweitem, so sollten auch Reihenbildungen zu Wörtern wie All, allzu, Bewußtsein, Erde, Erkenntnis, Gedanken, Gefühl, Gegensatz, Gott/Götter, halb, Herde, Kunst, Künstler, Leben, Licht, Natur, Nicht, Not, Seele, Trieb, Über, Ur, Weib, Wert, Wunder, Zeit herangezogen werden und dann auch andere der frühen ideologieträchtigen Schlüsselwörter vom Beginn des 20. Jahrhunderts wie Arier (und arisch), Ewigkeit, Glaube, Kampf Macht oder Rasse (vgl. Polenz 1999, 552). Geradezu aufregend wäre ein korpusbasierter Vergleich (wie ihn die Texte der digitalen Bibliothek ermöglichen) der Wortschatzarbeit Nietzsches mit der von Kant, Hegel und Schopenhauer. Er würde fur das 19. Jahrhundert die kontinuierliche relative Abnahme des Einzelwortschatzes und des Gebrauchs der Bildungen z.B. mit Begriff Natur, Erkenntnis, Recht, Pflicht oder Freiheit, die entsprechende kontinuierliche Zunahme für Leben, Kunst, Wert oder Macht und die geradezu abrupte Steigerung der Gebrauchshäufigkeit und der Wortbildungen für Dekadenz, Kultur, Instinkt oder Traum bei Nietzsche zeigen. Die hier vorgenommene Auswahl hat sich, wie schon angedeutet, dadurch leiten lassen, dass es Nietzsche zunächst um falsches und richtiges Denken und Begreifen geht, um den Menschen, seine natürliche Ausstattung, seine Kultur, seine Steuerung durch Instinkte, seine nächtliche Traumarbeit zur Bewältigung der Reste des Tages oder des PensumfsJ des früheren Menschenthums MA 32.
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Es geht um falsche Moral in einer Epoche der Dekadenz, des vermoralisirten Zeitgeschmacks GM 387. Und es geht um die eigene Existenz, also auch Nietzsches .Selbst' in dieser Welt, in der das Wort ,Welt' zum Schandwort gemünzt wurde (JGB 117). Nun also die ausgewählten Beispiele für Dreh- und Konzentrationspunkte der Arbeit Nietzsches an seinem Lexikon. Die in den Nietzsche-Texten bei mehrfachem Vorkommen desselben Wortes sehr schwankenden Groß- oder Kleinschreibungen substantivischer Zweitglieder (Grundwörter) und die damit verbundene inkonsequente Setzung von Strichen in der dominanten Bildungsfuge sind hier zur Großschreibung der selbständigen substantivischen Grundwörter hin und zur Setzung der Striche vereinheitlicht worden. Bei Bildungen, die nur als Ableitungen von Adjektiven zu erklären sind (ζ. B. Selbstlosigkeit) wird auf die eigentliche Ableitungsfuge keine Rücksicht genommen. Um in anderen Fällen Verwechslungen substantivischer und adjektivischer Bildungen auszuschließen sind die adjektivischen durch Kleinschreibung der Grundwörter gekennzeichnet. Bei substantivischen Bildungen zu Adjektiven (ζ. B. Selbstlosigkeit bzw. Selbstständigkeit) ist zu beachten, dass Nietzsche gelegentlich auch in diesen Fällen spielerische Ummotivierungen vornimmt (vgl. Selbstlosigkeit im Sinne von Selbst-Losigkeit GM 329, EH 326; Selbstständigkeit UB 497; auch Menschen-Freundlichkeit Ζ 88. Die Orthografie ist vorsichtig der heutigen angenähert, um die Ordnung der Gruppen nicht durch i/i-Schreibungen (o. ä.) zu verfremden. Aus Raumgründen werden in der Regel höchstens drei Stellennachweise geboten. In den folgenden Übersichten bleiben die im DFWB und im DWB (in alphabetischer Reihe oder in Kompositionsübersichten) erfassten Bildungen ohne besondere Auszeichnung. Die dort nicht oder zuerst für Nietzsche gebuchten Wörter werden dagegen fett gesetzt. Dieser Wörterbuchtest gibt keine Garantie dafür, dass es sich hier nun regelmäßig um echte Gelegenheitsbildungen oder mehrfach belegte Neuwörter Nietzsches handelt. Die fehlende Sicherheit könnte erst nach einer wesentlich vertieften Aufarbeitung des Wortschatzes des 19. Jahrhunderts erlangt werden. Zu berücksichtigen ist auch, dass vor allem die frühen DWB-Bände einerseits wegen ihrer schwachen Beleggrundlage und einer partiellen Zurückhaltung gegenüber Fremdwörtern noch relativ stichwortarm, andererseits aber auch unkritisch in der Stichwortberücksichtigung waren. Verglichen wurden nach dem gegenwärtigen Stand der beiden Wörterbuchprojekte an 'DWB: Begriff, Instinkt, Kultur [fehlt], Menschen, Moral, Selbst, Traum, Weif, an 2 DWB: Dekadenz; an 'DFWB: Instinkt, Kultur, Moral·, an 2 DFWB: Dekadenz. Da der Wörterbuchvergleich aber in ganzen Stichwortpartien ins Leere lief und eine Prüfung der Wörterbucharchive hier leider nicht mehr möglich war, wurden zusätzlich die philosophischen und literarischen Texte der Digitalen Bibliothek (Bertram 2 2000 und Hansen 1998) und die elektronisch gespeicherten historischen Texte der Korpora des Instituts für deutsche Sprache (Mannheim) verglichen. Hierbei zeigte sich als auffalliges Nebenergebnis, dass Nietzsches Gebrauch seltenerer Bildungen nicht nur oft
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dicht neben dem älterer Autoren wie Herder, Heine, B. v. Arnim oder G. Keller liegt, sondern auch neben dem Fontanes oder dem heftig abgelehnter Zeitgenossen wie Gutzkow. Aber auch die Wortbezüge zu philosophischen Kollegen wie Friedrich Albert Lange (Geschichte des Materialismus, 1866) und Eduard von Hartmann (Philosophie des Unbewußten, 1869) sind von Interesse, oder manche deutliche Parallelen zum Wortgebrauch von Marx und Engels. Natürlich kann bei seltenen Wörtern nicht einfach von direktem Einfluss ausgegangen werden, wichtiger ist die Zugehörigkeit zur gleichen Wortgebrauchstradition und Textwelt. Das Gesamtergebnis: Von über 600 erfassten Bildungen fehlt - aus teilweise einsichtigen Gründen - die knappe Hälfte in den Wörterbüchern und in den verglichenen philosophischen und literarischen Texten. Doch auch wenn die unvermeidlichen und die bedauerlichen Unvollkommenheiten der Wörterbücher in Rechnung gestellt werden, spricht einiges dafür, dass Nietzsche zumindest in diesen fur sein Denken und seine Sprache wichtigen lexikalischen Reihen nahezu die Hälfte der Nicht-Grundwörter (Komposita, Zusammenbildungen, Ableitungen) seiner hier rekonstruierten Wortliste (also nicht der laufenden Textwörter) selbst gebildet hat. 2.2.7.1. Begriff Begriffs-Albino AC 184; -Beben UB 330; -Dogmatik GM 405; -Drachen UB 329; -Fabelei GM 365; -Fabrik UB 329; -Faden MA 175; -Formeln FW 451 ; Gegensatz GM 364; -Gespenster AC 228; -Gespensterei JGB 200; Götzendiener GD 74; -Krüppel GD 110; -Mumie GD 74; -Münzen UB 331 ; Netze JGB 28; -Raffinement JGB 211; -Spinneweberei GD 126; -Ungeheuer UB 331; -Unsauberkeit AC 251; -Vegetation GD 134; -Verwandlung GM 261, 263; -Verwandtschaft GM 276; -Verwirrung MA 567; -Welt GM 300; Wurzel MA 564; -Zopf JGB 151. 2.2.7.2. Dekadenz4 décadence -Abzeichen EH 374; -Art EH 369; -Ästhetik FaW 50; -Bewegung AC 192; GD 138; -Form AC 231; -Ideal FaW 38, EH 353; -Instinkt GD 86, AC 185, EH 266; -Jahrhundert EH 360, GD 152; -Moral GD 133, 367, EH 331; -Musik EH 357; -Priester AC 239; -Princip NW 426f.; -Religion AC 186, 215; -Symptom EH 265, 311; -Typus AC 202;-Wert AC 172, EH 372. In der Variante Niedergang für Dekadenz: Niedergangs-Kultur FaW 37; -Form GD 140; -Moral EH 372; -Tugend FaW 50; -Typ GD 67;-Wert AC 172, EH 359, Zeiten GD 106.
Bei Nietzsche in der Regel: décadence; alle Belege aus den Spätschriften.
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2.2.7.3. Gesamt5 Gesamt-Abirrung EH 324; -Abrechnung UB 361, MA 310, JGB 82; Abschätzung MA 51; -Absicht GD 127; -Abwertung GD 125; -Aktion GM 384; -Aspekt GD 120, AC 243; -Aufstand GD 102; -Ausdruck MA 588; -Bau UB 492; -Befriedigung GM 384; -Bericht EH 299; -Betrachtung MA 583; Bewegung UB 494, AC 231; -Bewusstsein MA 53; -Bezeichnung GM 264; Bild GT 118, UB 356; -Charakter MA 648, FaW 41; -Dämpfung GM 382, 384; -Depression JGB 197; -Einbusse AC 173; -Eindruck JGB 183; Einrichtung UB 469; -Entartung JGB 127; -Entfesselung GT 34; -Entladung GD 118; -Entwicklung JGB 79; -Ergebnis GD 152; -Erkrankung FaW 23; Erregung GD 118; -Erschöpfung EH 265; -Fortleben GD 159; -Fruchtbaum MA 635; -Gefahr JGB 127; -Gefühl MR 56, GM 259; -Geschichte UB 494; Gesundheit FW 349; -Glaube FW 395, 432; -Haushalt JGB 34, 38, 114; Hypnotisierung GM 380; -indisch GM 380; -Instinkt UB 501; -Leben GD 132; -Leidenschaft UB 494; -Menschheit AC 171; -Problem EH 264; Rechnung MA 197; -Rechtfertigung FW 529; -Regierung MA 46; -Richtung JGB 201 ; -Tat UB 276, 445; -Töne JGB 53; -TugendMA 458; -Urteil MR 122, GM 397; -Verband MA 171, 684; -Verhältnis UB 489; -Verklärungs-Gefühl AC 207; -Verlauf MA 439; -Verstimmung JGB 130; -Versuche JGB 126; Verwandlung FaW 26; -Vorbereitung MA 672; -Vorteil FW 392; -Werturteil JGB 132; -Wirkung GT 139;-Wohl AC 217; -Ziel UB 357; -Ziffer GD 136; Zustand GD 83 ; -Zweck GM 313. 2.2.7.4. Instinkt6 Instinkt-Abirrung EH 283; -Ablehnung AC 219; -arm EH 357; -Armut GD 158; -Ausschliessung AC 200; -Doppelzüngigkeit FaW 51; -Entartung GD 90, 142f.; -Feinheit EH 282; -Gewissheit EH 266; -Halbschlächtigkeit EH 275; Hass AC 200, 212, EH 306; -Klugheit EH 284; -rein EH 268; -sicher GM 355 (dazu: -Sicherheit GD 90, EH 273, 319); -Solidarität GD 142; -System GD 143; -Tätigkeit JGB 17; -Überlegenheit JGB 175; -Unsauberkeit EH 361; Urteil NW 426; -Verkümmerung GD 105; -Verlogenheit EH 368; Widersprüchlichkeit FaW 53, EH 372; -Widerwillen FaW 52; -widrig GM 335, EH 325;-Witterung FaW 41.
Bei Nietzsche immer Gesamml. Auffallend häufig erst in den Spätschriften.
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2.2.7.5. Kultur7 Kultur-Bau MA 228; -Begriff MA 650, AC 200; -Beobachter UB 433; Bewegung GT 145, NW 428; -Boden MA 450; -Ereignis GD 149, EH 317; Ernte AC 250; -Färbung MA 477; -Forderungen UB 169; -Form GT 111;Forscher MA 684; -Fragen UB 205; -Gebiet GM 368; -Gewalten UB 447; Grad UB 203; -Güter MA 314; -Interessen MA 318; -Jahrgang MA 452; Kampf UB 407; -Klima MA 287; -Last MA 204; -Leben GT 146; -Lüge GT 59; -Macht MA 458, GD 106; -Maler MA 211; -Mensch GT 55, UB 165, FW 397; -Momente UB 161; -Philister UB 196; -Probleme UB 167; -Regungen UB 432; -Ringe MA 236; -Staat UB 389, GD 106; -Stil UB 221; Strahlenbrechungen MA 477; -Stufe MA 477, 511, MR 299; -Tatsachen GD 125; -Übergewicht FW 493, JGB 139; -Überlegenheit JGB 199; Untergründe EH 352; -Verbrechen EH 359; -Vergangenheit MA 479; -Volk UB 326, MA 478, FW 453;-Welt GT 59, AC 249;-Wert EH 309;-Wesen UB 446; -widrig EH 360; -Zeitalter GM 276. 2.2.7.6. Menschen Menschen-Abgrund Ζ 297; -ähnlich Ζ 263; -Alter UB 319, 490, MA 109; -Art Ζ 227; -Bienen MA 457; -Bild MA 420, 495; -Blut GM 328; -Brauch JGB 238; -Charakter MA 388; -Denker MR 151; -Deutung MA 110; -Empfindung MA 47; -Erde Ζ 100, 274; -Erkenntnis MA 703; -feindlich Ζ 110; -Fische Ζ 297f.; -Fischfänger Ζ 297; -Fresser UB 172, MA 520, MR 253; -Fresserei FW 499; -Freund GT 35f., UB 453, FW 372; -freundlich MA 254, EH 258, 342 (dazu: -freundlichkeit MA 59, JGB 156, AC 182, auch MenschenFreundlichkeit Ζ 88); -Geschichte UB 312, GM 286; -Geschlecht GT 36, UB 303, MA 479; -Gesellschaft Ζ 265; -Gewürm UB 319; -Glück UB 357; Gräber Ζ 274; -Händel UB 382; -Hass FW 631, JGB 90; Haufen MA 653; Herde FW 593; -Historie UB 322; -Kampf MA 137; -Kenner MR 277, FW 429, GD 121; -Kenntnis UB 411, MA 297, FW 515; -Kinder Ζ 390; -Klassen MA 685; -Klugheit Ζ 183ff.; -Klumpen MA 689; -Kopf MA 29; -Kostüm UB 282; -Kraft MA 15; -Leben GT 106, UB 304, MA 70, 185; -Liebe UB 504, MA 486, Ζ 236; -Loos UB 361, MA 324, 388; -Meer Ζ 297; -Meinungen Ζ 239; Mitleid Ζ 331; -Mittag Ζ 276; -Moder Ζ 274; -Mord Ζ 143, MenschenMorden Ζ 143; -Mut Ζ 377; -Natur UB 407; -Not Ζ 301; -Notdurft Ζ 42; Opfer MR 52, FW 587, Ζ 63; -Prüfer MA 382, 495; -Qual Ζ 314; -Recht MA 330, JGB 103; -Rede Ζ 328; -Reich Ζ 298; -Satzung Ζ 42; -Schänder EH 331 ; Schändung EH 313; -Schicksal MA 463, Ζ 306, GM 411; -Schlag MA 637; Schmerz Ζ 199; -Schöpfer MA 452; -Seele MA 578; -Sinn Ζ 75, 100; -Stimme Ζ 328, 333; -Tier GM 295; -Unmöglichkeit MR 184; -Unverstand FW 431; Väter Ζ 229; -Verächter GD 121; -Verachtung MA 297, MR 200, JGB 90; Verbessern GD 127;-Vernunft FW 625;-VerstandFW 431;-Wahnsinn Ζ 35;
Bei Nietzsche überwiegt die Schreibung
Cultur.
Anfänge der Moderne
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-Weisheit Ζ 236;-Welt MA 41, 71, Ζ 297;-Werk Ζ 35;-Wesen Ζ 233f.;-Wille JGB 126; -Würde MA 90, 296, FW 474; -Zukunft Ζ 299, GM 371, AC 248. Dazu eine Triade: Menschen-Denkbares, Menschen-Sichtbares, MenschenFühlbares Ζ 109f. 2.2.7.7. Moral Moral-Begriff AC 186, 194; -Codex EH 307; -Fanatiker GD 113; -Formel MR 123, FW 477; -Genealoge GM 251, 254 260; -Genealogie GM 258, 262; Gesetz MR 96; -Gesetzgeber GD 88; Dühring, das erste Moral-Grossmaul, das es jetzt giebt, selbst noch unter seines Gleichen, den Antisemiten GM 370; -Historiker FW 578, JGB 209, -historisch GM 288; -Idiosynkrasie EH 311; Kanon GM 306; -Kuh GD 84; -Lehre UB 196, MA 556, MR 187; -Lehrer MR 167, FW 543, AC 202; -Lüge GD 134; -Perspektiven FW 601 \-Philosoph JGB 106, 216, GM 305; -Philosophie MA 652, JGB 163; -Physiologe JGB 45; Predigen GD 127; -Prediger MR 532, FW 532, JGB 19; -Predigt JGB 152; Psycholog JGB 117; -Schwindel GD 156; -System UB 345; die MoralTarantel Rousseau MR 14; -Trompeter GD 111; -Ungeheuer EH 257; Untiere GD 82; -Vergangenheit GM 254; -Verkleidung FW 588; Vorschriften UB 194; -Vorteile MA 557;-Weiblein GD 113;-Wert EH 330; Worte FW 606, 627; -Zärtling GM 254. 2.2.7.8. Selbst Selbst-Achtung UB 414, MA 79; -Apostolat JGB 203; -Aufhebung MR 16, GM 309, 410; -Auflösung GM 373; -Aufopferung FW 415; -Befragung FW 348; -Befriediger GM 370; -Begnadigung MA 129; -Behandlung MA 371; Beherrschung MA 17, MR 96, JGB 80; -Bejahung FaW 52, GM 280, AC 193; -Bekenntnis JGB 19; -Beobachter JGB 29; -Beobachtung MA 318, 477, FW 560; -Beschämung UB 385; -Beschränkung MA 433, JGB 220; -Besiegung MA 75; -Besinnung MA 62, JGB 51, EH 365; -Bestimmung MA 16f., 285f., FW 583; -Betäubung GM 397; -Betrug MA 14, GD 72, AC 223; -Betrüger JGB 22; -Betrügerei MR 91, GM 281, AC 186; -Beurteilung GM 321; Bewunderung MA 350, FW 630, JGB 198; -Bewusstsein UB 161, MA 390, GM 308; -Bezwinger Ζ 90; -Bezwingung MA 159, JGB 71, AC 243; Biographie GM 386; -Demütigung MA 497; -Disziplin FaW 12; Disziplinierung GM 375; -Entäusserung GT 31, ÜB 466, 471; Entäusserungs-Moral JGB 52; -Entäusserungszustand GT 44; -Entblössung JGB 170f.; -Entfremdung MA 19, FW 347, AC 236; -Entleibung FW 485; Entwicklung JGB 18; -Entzweiung GT 141 ; -Erfahrung FW 413, 599, GM 347; -Erfassung FW 599; -Erhaltung MA 14, JGB 27, GM 280; -ErhaltungsInstinkt GD 104, AC 175, 201; -Erhaltungs-Interesse GD 84; -ErhaltungsTrieb FW 468, 585, JGB 27f.; -Erhöhung JGB 216; -Erkenner DD 391; Erkenntnis GT 40, JGB 50, MA 478; -Erlebnis GT 13, 16; -Erlebtes MA 461; -Erleuchtung MA 105; -Erlösung MA 105, MR 87, JGB 216; -Erniedrigung
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Hartmut Schmidt
GM 319; -Erweiterung GD 123; -Erziehung GT 22, MA 478, 629; -Erzogener MA 668; -Flucht MR 319; -Fürsorge GD 138; -gefällig GD 114, NW 435 (dazu: Selbstgefälliges JGB 237; -gefälligkeit MA 553); -Gefühl FW 374, JGB 122, GM 306; -Geisselung GM 363; -gelegt MA 181 ; -Geleistetes GT 97; -Geniessen MR 272; -genügsam GD 142 / -genugsam Ζ 106 (dazu: Selbstgenügsamer FW 425; -genügsamkeit MA 333, FW 418, 539 / -genugsamkeit GT 79, JGB 159); -Genuss MA 71, MR 103, JGB 168; -Gespräch MR 330; gewiss GM 336, 344, 363 (dazu: Selbstgewissheit JGB 66, GM 361, EH 266); Glorifikation UB 160; -Henker DD 390, 392; -herrlich GM 333 (dazu: Selbstherrlicher JGB 37; -herrliches JGB 82; -herrlichkeit GT 17, MA 389, MR 100); -Hypnotisierung FW 613, GM 265; -Ironie UB 313; -Kasteiung GM 360; -Kenner DD 390, 392; -Kenntnis MR 111; -Kreuzigung GM 269, 333; Kritik GT 11, GM 404, AC 188; -Liebe MA 151, 408; -los MA 74, JGB 16 (dazu: Selbstloses Ζ 77, EH 372 -losigkeit UB 309, JGB 210, GM 326, EH 326); -Lust Ζ 238f.; -lustig Ζ 238; -Marterung JGB 117, GM 332, 360; Misshandlung GM 326; -Missverständnis GM 360, AC 212; -Mitleid MA 228; -Mord GT 83, MA 396, Ζ 62; -Mörder MA 245; -Offenbarung UB 276, 308; -Opferung MR 245, GM 326, 363; -Opferungs-Instinkt GM 252; Peinigung GM 332; -Portrait MA 70; -Prüfung FW 626, JGB 75, EH 361; Quäler FW 405, 460; -Quälerei MA 133, JGB 153, GM 305; -Regulierung JGB 55; -Schändung GM 333, AC 239, 252; -Schändungs-Form AC 229; Schätzung UB 396, MA 129, JGB 213; -Spiegelung GT 60; Selbstständigkeit UB 497; -Sucht UB 319, 393, MA 398, FW 417, Ζ 239f.; -süchtig UB 245 (dazu Selbstsüchtiger UB 184); -Süchtling UB 322; -tätig UB 290 (dazu: Selbsttätigkeit UB 376, 381); -Täuschung MA 72, MR 233; -Tierquäler EH 287; -Tierquälerei GM 335; -Tötung MA 85; -Tyrannei JGB 22; -Überhebung GT 40, JGB 83, 129, AC 211; -Überlister GD 73; -Überlistung MA 329, JGB 121; -Überschätzung MA 150; -Überwachung GM 375; -Überwältigung Ζ 152; -Überwindung UB 275, MA 74, JGB 205; -Umschränkung UB 351; Ungenügsamer FW 527; -Unterschätzung JGB 213; -Verächter FW 605f.; Verachtung MA 128, JGB 36, GM 364; -Verantwortlichkeit JGB 123, GD 139; -Verblendung MA 77, FW 607, JGB 49; -Verdruss MA 447, FW 646; Vergessen UB 323, MA 14, FW 637; -Vergessenheit GT 29, 41, FW 605; Vergewaltigung FaW 39, GM 326; -Vergötterung MA 138; -Verherrlichung FaW 52, JGB 129, 209; -Verhöhnung JGB 66, GM 364; -Verhör JGB 1 1 2 ; Verkleinerung JGB 221 ; GM 404; - Verleugnung UB 193, MA 131f., FaW 12;Verleugnungs-Instinkt GM 252; -Verlogenheit GM 280; -Vermauerung EH 284;-Verneinung UB 195, AC 197; -Vernichtung GT 94, 137;-Verschleierung JGB 50; -Verspottung MR 281, FW 417; -Verstellung AC 219; Verstümmelung JGB 66, 166; -Versuchung FW 348; -Verteidigung UB 263, EH 29Iff., 319; -Verteidigungs-Instinkt EH 292; -Vertrauen MA 468, FW 589, AC 194; -Verurteilung MA 396; -Vorwürfe MR 97; -Wertsetzung MA 17; -Widerlegung GD 135; -Widerspruch JGB 35, GM 363, GD 143; Wiederherstellung MA 14, EH 267; -Zerfleischung Ζ 55; -Zerstörer JGB 203;
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-zerstörerisch MR 187, -Zerstörung UB 437, JGB 223, EH 374; -Zerteilung MA 76; -Zeugnis UB 219, MA 134; -Zucht EH 294, 316f., 319; -zufrieden JGB 45 (dazu: Selbstzufriedenheit MA 468); -Zweck JGB 135; -zweiflerisch GM 336. 2.2.7.9. Traum8 Traum-Analogie GT 38; -Anekdote GT 31; -Anschauen GT 38; -artig UB 380; -Befähigung GT 37; -Bild GT 27f„ 31, GM 381; -Bild-Welt MA 185; Denken MA 33; -deutend GT 38; -Deuter GT 72, 87, Ζ 176; -Einwirkung GT 31, 44; -Erfahrung GT 27, JGB 115; -Erscheinung GT 48, 62, UB 472; Geburt GT 35; -Gewohnheiten JGB 115; -Hans Ζ 355; -Künstler GT 30, 37; Literatur GT 31; -Lust GT 45; -Phantasie MA 34; -selig UB 461; -Szene GT 44; -Vorstellung MA 32; -Welt GT 26, 38, AC 181; -Wirklichkeit GT 26; Wirtschaft UB 421 ; Traumeszustand GT 64. 2.2.7.10. Welt Welt-All-Netz UB 313; -Anschauung MA 199; -Ansicht FaW20; -Ausdeutung JGB 34; -Auslegung GT 18, JGB 28; -Ausstellung UB 279; -Befreier UB 370; -bejahend JGB 75; -Bejahung MA 50, FW 348; -Bereich UB 300; Bestimmung GT 126; -Betrachtung GT 37, UB 201, MA 44; -Bild G Τ 137, UB 479, MA 30; -bildend GT 153; -Blatt UB 161; -Blick UB 478; -Brand AC 247; -Buch MA 417; -Charakter MA 37; -Dämmerung MA 549; -Deutung MA 110; -Ehre GT 133; -Elend MA 38; -Ende UB 304; -Entwicklung UB 312, MA 52; -Erfahrung AC 204; -Erklärung JGB 28; -Erlöser Ζ 247, EH 260; -Erlösung UB 324; -Erlösungsfest GT 32; -Genius GT 45; -Gericht UB 287, 304, 308; -Geschichte GT 56, MA 64, GM 267; -geschichtlich UB 308; Gesetze GT 70; -Händel UB 382; -Harem UB 281; -Herrscher UB 197, MA 86; -Historie UB 314; -historisch GM 269, AC 206, EH 314; -Idee GT 137; Interpretation FW 625f.; -Kenntnis MR 151; -Klugheit FW 354; -Komödie MA 388; weltlich Ζ 400; -liebend Ζ 288; -literarisch JGB 202; -Literatur GT 120; -Macht GT 133; -Maschine UB 199; -Mission MA 548; -Moral MA 46; müde Ζ 240; -Müder Ζ 239, 258f.; -Müdigkeit MR 55, 179; -Ordnung GT 142, GM 410, AC 194ff.; -Politik MR 156; -Prozess UB 308, 312-319; -Rad FW 639; -Rätsel GT 118, MA 38; -Rätsel-Lösungen FW 594; -Raum FW 552; Rechtfertigung GT 18; -Regel GT 113; -regierend EH 343; -Reich MA 603, AC 184; -Reisender UB 370; -Religion MR 68, FW 582; -Richtung UB 447; Schmerz GM 378; -Schwärzerei MA 632; -segnend Ζ 288; -Spiegel GT 48, 126; -Spiel FW 639; -Strasse UB 175f.; -Symbolik GT 51; -System UB 311, 322; -Teil UB 424, 447; -Tendenz GT 100; -Treiben MA 673; -Überwältigung JGB 28; -Überwinderin FW 596; -Überwindung JGB 163; -Umsegelung UB 433, MR 44; -Umsegler MA 21; -Untergang MA 117; -Untergangs-Sonne Zugehörige Bildungen finden sich Uberwiegend in den früheren Schriften.
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MA 139; -verachtend FW 425; -Verachtung MR 55;-Verdunkler MA 384; Verkehr UB 388, GD 106; -verklärend EH 357;-Verleumder Ζ 130, 257, EH 331; -Verleumder-Ideale GM 335; -verleumderisch FaW 42, AC 193; Verleumdung EH 371; -Verlorene Ζ 31; -verneinend JGB 74, FW 580; Verneiner JGB 107; -Verneinung MA 50, FW 348, JGB 68; -Vernichter MR 224;-Verspottung JGB 157;-Vertölpelung JGB 195;-Verurteilung MA 375; Wägen Ζ 235;-Wesen GT 70, MA 569;-Wille GT 109, 112, 135; -Winkel MR 30; -Zurechtlegung JGB 28. 2.2.8. Formel variation Unabsichtlich ungenaue und bewusst variierende Übernahmen geprägter sprachlicher Formeln hat es immer gegeben. Das intensive Spiel mit den Möglichkeiten der Formelvariation ist dennoch eines der wichtigen Kennzeichen der Moderne und zählt heute zu den geläufigsten Techniken der Textkonstitution (vgl. Schmidt 1997; 1998, 98-112; 2000c). Nietzsche gehört zu den ersten neueren Autoren, die ganz gezielt und in erheblichem Umfang von dieser Technik der Textgestaltung Gebrauch machen. Zwar kritisiert Nietzsche heftig die Sprache der Überlegenheit - [...] ein beständiges ironisches Citiren, ein unruhiges, unfriedfertiges Schielen des Auges nach rechts und links, ein Gänsefüsschen- und Grimassen-Deutsch MA 656f., sich selbst aber gestattet er das Mittel des anonymen Zitats, der Wieder-Nutzung fremder (und eigener) Formulierungen offensichtlich mit großem Vergnügen. Dabei zeigt er ein sicheres Gespür fur die Wirkung etablierter Formeln und deren kommunikatives Potential, den Reiz der spielerischen Variation, den Genuss der Spannung zwischen vertrautem Muster und Verfremdung des Vertrauten. 2.2.8.1. Variation von Zitaten der klassischen Literatur, von Sprichwörtern und Redensarten -
Ach, wie bin ich all des Unzulänglichen müde, das durchaus Ereigniss sein soll (Z 165, nach Goethe, Faust II, Schlussszene: „Das Unzulängliche,/ hier wird's Ereignis"); - Alles Unvergängliche - das ist nur ein Gleichnis! Und die Dichter lügen zuviel (Z 110, nach Goethe, Faust II, Schlussszene: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis"); - Der Asket macht aus der Tugend eine Noth (MA 84, nach der Redensart: Aus der Not eine Tugend machen); - Der Erfolg heiligt die Absichten (MA 413, nach dem Sprichwort zur Kennzeichnung der angeblichen Jesuitenmoral: Der Zweck heiligt die Mittel); - der Fürst denkt, aber der Krämer - lenkt (Z 223, nach dem Sprichwort: Der Mensch denkt, Gott lenkt); - die beste aller möglichen Unwissenheiten (MR 236, nach Voltaires Umformulierung der Leibnizschen Idee des mundus optimus, der besten der möglichen Welten);
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die Ouvertüre zum fliegenden Holländer ist ein Lärm um Nichts (FaW 29, nach dem Shakespeare-Titel: „Much ado about nothing", bei SchlegelTieck: „Viel Lärm um Nichts"); Ein Königreich für Ein gescheidtes Wort\ (EH 324, nach Shakespeare, Richard III., 5. Akt: „my kingdom for a horse", bei Schlegel-Tieck: „mein Königreich fur'n Pferd!"); Freiheit, die ich nicht meine (GD 143, nach dem Lied von Max von Schenkendorf: „Freiheit, die ich meine" [1813]); Getheiltes Unrecht ist halbes Recht (Z 88, nach dem Sprichwort: Geteilter Schmerz ist halber Schmerz); Hilf dir selber: dann hilft dir noch Jedermann (GD 60, nach dem Sprichwort: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott); Jeder ist sich selbst der Fernste (GM 248, nach dem Sprichwort: Jeder ist sich selbst der Nächste); Müssiggang ist aller Psychologie Anfang (GD 59, nach dem Sprichwort: Müßiggang ist aller Laster Anfang); nichts Geistiges ist mir mehr fremd" (MA 466, nach Terenz: humani nil a me alienum puto); Ubi pater sum, ibi patria (MR 283, nach dem Sprichwort: Ubi bene, ibi patria); Und da stehe ich schon, als Europäer, Ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen! (Z 385, nach Luthers apokryphem Schlusswort auf dem Reichstag zu Worms [1521]: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen"). 2.2.8.2. Variation eigener Formulierungen
- Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik'. Nietzsche sagt: Ich fand die Schrift mehrmals citirt als, die Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik' (EH 309). Selbst variiert er den Titel als: die Psychologie des Christenthums: die Geburt des Christenthums aus dem Geiste des Ressentiment (EH 352). - Der Wille zur Macht Die Titelformulierung des aus dem Nachlass konstruierten angeblichen Hauptwerkes Nietzsches ist authentisch bezeugt. Wichtig ist die Äußerung in GM 409: ich verweise [...] auf ein Werk, das ich vorbereite: Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwerthung aller Werthe. In publizierter Textfassung erscheint die Formel mit Varianten am nachdrücklichsten im Zarathustra: „der Wille zur Macht, - der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille. [...] Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; [...] Freilich, ihr heisst es Wille zur Z e u g u n g [...] aber all diess ist Eins und Ein Geheimniss. [...] wahrlich mein Wille zur M a c h t wandelt auch auf den Füssen deines Willens zur Wahrheit! [...] Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom ,Willen zum Dasein': diesen Willen - giebt es nicht! [...] Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht
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Wille zum Leben, sondern - so lehre ich's dich - Wille zur Macht." (Z 147-149, vgl. Kommentar der KS A 14, 383f.)
Schopenhauers Formel Wille zum Leben und Nietzsches Gegenformel werden häufig spielerisch zitiert und variiert: dein Wille zur Ehe Ζ 92; der Wille zum Ende EH 331, vgl. 372; dieser Wille zum freien Willen MA 17; einen zähen Willen zur Gesundheit MA 18; meinen Willen zum Leben EH 279, vgl. 359; des Willens zur Lüge EH 372; den Willen zur Macht (zum Reich) EH 358; der Wille zur Macht [...] der Wille zur That EH 314; vor Schopenhauer's blindem Willen zur Moral MA 14; eine Art Wille zum Winterschlaf EU 272; Wille zur Zeugung EH 349. Weitere Beispiele bei Prossliner 1999, 377. 2.2.8.3. Variationen des Bibeltextes Duncan Large hat Nietzsches Rückgriffe auf die Bibelsprache aspektreich geschildert (Large 2000). Hier soll nur auf Nietzsches lexikalische Umwertung einiger bekannter Textstellen der Bibel eingegangen werden, ein Ausdrucksmittel, intensiv benutzt im Zarathustra, aber nicht nur dort: -
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bei mir schwebt der Geist über dem Wasser (EH 281, nach 1. Mose 1,2: „der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser"); Hat er nicht die Welt erschaffen nach seinem Bilde, nämlich so dumm als möglich? (Z 389, nach l.Mose 1,27: „Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde"); Liebt immerhin euren Nächsten gleich euch, - aber seid mir erst Solche, die sich selber lieben (Z 216, nach 3. Mose 5, 18 und Matth. 22, 39: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst"); Nach ihnen [den Sozialisten] soll das siebente Gebot vielmehr lauten: du sollst nicht besitzen (MA 679, nach 5. Mose 5, 19: „Du sollst nicht stehlen"); Aber der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondern auch vom Fleische guter Lämmer (Z 354, nach 5. Mose 8,3 in der Fassung von Matth. 4,4: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht"); Der soll mir immer der beste Hirte heissen, der sein Schaf auf die grünste Aue führt (Z 33, nach Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte [...] Er weidet mich auf einer grünen Aue"); Unsere Musik war bisher so gross, so gut: bei ihr war kein Ding unmöglich (MR 277, nach Jeremía 32, 17: „Für dich [Gott] ist kein Ding unmöglich"; danach auch Lukas 1, 37); Es ist nicht mehr wahr, dass die Armen selig sind. Das Himmelreich aber ist bei den Kühen (Z 335, nach Matth. 5, 3: „Selig sind die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr");
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Sehr gefallen mir auch die Geistig-Armen: sie fördern den Schlaf Selig sind die, sonderlich, wenn man ihnen immer Recht giebt (Ζ 33, nach Matth. 5, 3, s.o.); Selig sind Die, welche Geschmack haben, wenn es auch ein schlechter Geschmack ist (MA 449, ebenfalls nach dem Muster der Seligpreisungen in der Bergpredigt, Matth. 5, 3-11); · Selig sind die Vergesslichen: denn sie werden auch mit ihren Dummheiten .fertig' (JGB 153, nach Matth.5, 3-11, s.o.); Selig sind diese Schläfrigen: denn sie sollen bald einnicken (Z 34, nach Matth. 5,3, s.o.); Vergieb uns unsere Tugenden - so soll man zu Menschen beten (MA 533, nach der Vaterunser-Bitte, Matth. 6, 12: „Vergib uns unsere Schuld"); als ob ihr Wahlspruch wäre: lasst die Toten die Lebendigen begraben (UB 264, nach Matth. 8, 22: „laß die Toten ihre Toten begraben"); Der arme Wagner! [...] Wäre er doch wenigstens unter die Säue gefahren! (EH 324, nach Matth. 8, 32: „Da fuhren sie [die Teufel] aus [aus den Besessenen] und fuhren in die Herde Säue"); Und wahrlich, wenn der Mensch auch die ganze Welt gewönne und lernte das Eine nicht, das Wiederkäuen: was hülfe es (Z 334, nach Matth. 16, 26: „Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?"); So ihr nicht werdet wie die Kindlein, so kommt ihr nicht in das Himmelreich. {Und Zarathustra zeigte mit den Händen nach Oben) (Z 393, nach Matth. 18, 3 [ähnlich Markus 10, 15]: „Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen"); Freilich: so wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich (Z 334, nach Matth 18, 3, s.o.); Gar nicht zu reden von jenen Weibern, deren Fleisch willig und deren Geist schwach ist (MR 215, nach Matth. 26, 41, Markus 14, 38: „Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach"); Er löst alle Probleme im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Meisters [R. Wagner] (FaW 44, nach Matth. 28, 19: „taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes"); lasst den Zufall zu mir kommen: unschuldig ist er, wie ein Kindlein! (Z 221, nach Markus 10, 14: „Lasset die Kinder zu mir kommen"); ich lehrte: ,bei Allem ist Eins unmöglich - Vernünftigkeit' (Z 209, nach Lukas 1, 37: „Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich"); Geschieht diess desshalb, weil beim Weibe kein Ding unmöglich ist? (Z 86, nach Lukas 1, 37, s.o.); Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden (MA 87, nach Lukas 18, 14: „wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden"); thut 's euch zu Liebe, thut 's auch mir zu Liebe! Und zu meinem Gedächtniss (Z 394, nach Lukas 22, 19: „das tut zu meinem Gedächtnis");
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Die ernsthafteste Parodie, die ich je hörte, ist diese: , im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn war, bei Gott! Und Gott (göttlich) war der Unsinn ' (MA 388, nach Joh. 1,1: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott"); - Was Wunder, dass gerade in unsern Zeiten die Falschheit selber Fleisch und sogar Genie wurde? dass Wagner , unter uns wohnte '? (FaW 53, nach Joh. 1, 14: „das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns"); - mein Reich ist nicht mehr von dieser Welt, ich brauche neue Berge (Z 338, nach Joh. 18, 36: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt"); - Aber geben ist seliger als haben (MA 694, nach Apostelgeschichte 20, 35: „Geben ist seliger als nehmen"); - Er trägt unsre Last, er nahm Knechtsgestalt an (Z 388, nach Philipper-Brief 2, 7: „Welcher [...] nahm Knechtsgestalt an"); - Ich aber sage euch: den Schweinen wird Alles Schwein (Z 256, nach Titusbrief 1,15: „Den Reinen ist alles rein"); - wer seinen Gott liebt, der züchtigt ihn (Z 389, vgl. Ζ 18; nach Hebr.-Brief 12, 6: „welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er"). Und nach dem Vulgata-Text: - mulier taceat in ecclesia [...] mulier taceat in politicis [...] mulier taceat de muliere (JGB 172, nach 1. Kor. 14, 34: „mulieres in ecclesiis taceant").
3. Schlussbemerkung Für die Modernisierung der deutschen Sprache und die Entwicklung des deutschen Wortschatzes war das späte 19. Jahrhundert eine Umbruchphase von enormer Bedeutung. Das gilt nicht nur für die Wirkungen der neuen technischen und wissenschaftlichen Fachsprachen auf die Allgemeinsprache, das gilt - trotz des schlechten Rufs der Gründerzeit - auch für die entsprechenden Wirkungen kultureller Texte unterschiedlichster Art. Nietzsches philosophisch inspirierte sprachlichen Lockerungsübungen betrafen die Stellung des Menschen in der Natur und in der Geschichte. Seine Angriffe auf die Traditionen des Sprechens und Schreibens über den Menschen, Gott und die Welt haben Schule gemacht. Spielerischen - er hätte wohl gern gehört: tänzerischen - Umgang mit der Sprache, die Kunst der Wortprägung, der Sinnprüfung und des Formulierungsrecyclings hat Nietzsche geübt wie kein anderer seiner schreibenden deutschen Zeitgenossen. Wir mögen gerade die wichtigsten seiner Positionen, Botschaften und Extremformulierungen heute sehr kritisch betrachten, so seine zur Schau getragene Arroganz gegenüber den Vielen, seine elitäre Festlegung auf eine radikal umgekehrte Werteordnung oder seine Verachtung der Solidarität mit den Schwächeren - Erben auch seiner Sprache und Sprachtechniken bleiben wir, ób wir es wissen (und wahrhaben wollen) oder nicht. Im Zarathustra heißt es: Gefährlich ist es, Erbe zu sein Ζ 100. Es kann auch interessant sein. Jedenfalls sollten die Erben das Erbe kennen.
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4. Literatur9 Campe, Joachim Heinrich (Hg.) (1807-11): Wörterbuch der Deutschen Sprache. Braunschweig, 5 Bde. Bertram, Mathias (Hg.) (2000): Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. Studienbibliothek. Zweite Version (Upgrade). Berlin. (CD-ROM der Digitalen Bibliothek, Band 1) Duden (1999): Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. 3., völlig neu bearb. und erweit. Aufl. Mannheim, Leipzig, Zürich, Wien [zitiert: DGW]. Gerhardt, Volker (1988): „Experimental-Philosophie". Versuch einer Rekonstruktion. In: Ders., Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches. Stuttgart, 163-187. Grimm, Jacob und Wilhelm (1854-1977): Deutsches Wörterbuch. Leipzig, 33 Bände [zitiert: *DWB]; dass., Neubearbeitung. Leipzig (später Stuttgart) 1983 ff. [zitiert: 2 DWB], Hansen, Frank-Peter (Hg.) (1998): Philosophie von Piaton bis Nietzsche. Ausgewählt und eingeleitet. Berlin. (CD-ROM der Digitalen Bibliothek, Band 2). Henzen, Walter (1957): Deutsche Wortbildung. Zweite verb. Aufl. Tübingen. Klappenbach, Ruth/Steinitz, Wolfgang (Hgg.) (1964-77): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Berlin, 6 Bde [zitiert: WDG]. Large, Duncan (2000): Nietzsche's Use of Biblical Language. In: Nietzsche's Use of Language/Nietzsches Gebrauch der Sprache. 21.-23. September 2000. Nijmegen University [Konferenzbeiträge, Manuskriptdruck], 81106.
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Hartmut Schmidt
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HEIDRUN K Ä M P E R
Sigmund Freuds Sprachdenken Ein Beitrag zur Sprachbewusstseinsgeschichte 1. Einführung „Gute Nacht, mein Liebchen, Du darfst Dich ein bißchen ärgern, aber behalt's nicht für Dich, schimpf lieber ein bißchen auf Deinen getreuen Sigmund." Freud schreibt dies seiner Braut am 16. Januar 1884." Schimpfen, aussprechen, was einen ärgert - in diesem Briefschluss offenbart sich eine Grundüberzeugung Freuds, die seine epochale Lehre trägt und die eine sprachliche ist: sich durch Sprechen, durch Aussprechen befreien. Freud ist ein Sprachbegeisterter. Er feiert „die Sprache [...] in ihrer unübertrefflichen Weisheit" 2 und als „geniale geistige Schöpfung" der Massenseele 3 das sind sprachreflexive Formulierungen eines Wissenschaftlers, der zeitlebens einen gut Teil seiner Kraft darauf verwendet nachzuweisen, dass die Psychoanalyse eine naturwissenschaftliche, keinesfalls eine philosophische Disziplin sei, eines Wissenschaftlers, der im Sinn der Neoromantik an den Zauber des Wortes glaubt. Der Verfasser von „Massenpsychologie und Ich-Analyse" hat Le Bon gelesen und er stellt die „wahrhaft magische [...] Macht von Worten, die in der Massenseele die furchtbarsten Stürme hervorrufen und sie auch besänftigen können", er stellt diese Macht der Worte in einen gedanklichen Zusammenhang mit den „Tabu der Namen bei den Primitiven", mit den „magischen Kräfte[n], die sich ihnen an Namen und Worte knüpfen". 4 Und: Auch die Tatsache, dass Freuds Terminologie zu großen Teilen der Allgemeinsprache entstammt, gehört in diesen Kontext. Er lässt sich „ohne Bedenken vom Sprachgebrauch, oder wie man auch sagt: Sprachgefühl, leiten im Vertrauen darauf, dass wir so inneren Einsichten gerecht werden, die sich dem Ausdruck in abstrakten Worten noch widersetzen". 5 Sigmund Freud und die Sprache - dieser vielschichtige Komplex ist in unterschiedlichen Hinsichten Gegenstand linguistischer Beschäftigung. Über 1 2 3 4 5
Freud 1873-1939,97. Freud 1908, 175. Freud 1921,78. Ebd., 74. Freud 1930,220.
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die Funktion von Sprache in der psychoanalytischen Theorie und Praxis wird seit den siebziger Jahren nachgedacht. Das sprachwissenschaftliche Interesse an diesen „vielschichtigen Prozessen [...], die mit Sprache in der therapeutischen Situation involviert sind", 6 ist hier längst erwiesen, spätestens seit der Institutionalisierung einer Teildisziplin, die als Psycholinguistik zu dem Kanon linguistischer Erkenntnisziele gehört. Das Werk Sigmund Freuds wurde in der Weise in die Sprachgeschichte eingeordnet, dass der Einfluss der psychoanalytischen Terminologie auf die Allgemeinsprache von Peter von Polenz sprachhistorisch verbucht wurde. 7 Die Herkunft von Teilen dieser Terminologie aus dem naturwissenschaftlichen Inventar von Chemie, Biologie und Physik wurde von Uwe Pörksen festgestellt, 8 Freuds Wissenschaftssprache - als „Verbindung eines quasinaturwissenschaftlichen Sprachtyps mit dem literarischen"- wurde, wiederum von Pörksen, 9 erkannt. Die literarische Qualität der Sprache Freuds ist bewiesen, denn seine Schriften enthielten „klare Anzeichen dafür, daß sich ihr Verfasser [...] als Herr über die Sprache fühlt" - Walter Muschg stellt dies 1930 - also noch zu Lebzeiten Freuds - fest. 10 In diesem Sinn wurde das Werk akribisch analysiert von Walter Schönau - „die Bewunderung für die literarische Leistung Freuds" 11 ist des Verfassers Motiv und seiner Arbeit Erkenntnisziel: den Topos von der stilistischen Meisterschaft Freuds wissenschaftlich „mit dem Begriffssystem der literarischen Rhetorik" 12 zu fundieren. Folgendes ist gedacht als ein Beitrag zur Sprachbewusstseinsgeschichte ein Untersuchungsaspekt, welcher heute zunehmend Aufmerksamkeit erfährt, welcher aber für das späte 19. Jahrhundert längst etabliertes Erkenntnisinteresse der Sprachgeschichte ist. Bereits Hugo Moser hat gesteigertes Sprachbewusstsein als Epochenmerkmal der Jahrhundertwende ausgemacht. 13 Und Sprachskepsis, Sprachkrise, Sprachverzweiflung, Sprachkritik und puristische Sprachpflege, Schiller-Imitation und der Sprachstil des Journalismus sind von der Sprachgeschichtsschreibung festgeschriebene Namen und Erscheinungen der Sprachbefindlichkeit um 1900.14 Insgesamt gilt die .bürgerliche Sprache' des 19. Jahrhunderts in der Formulierung Peter von Polenz' als „ein spezifisch (bildungs)bürgerliches sprachreflexives Verhalten." 15 Auf dieser Folie sei das Sprachdenken Sigmund Freuds überprüft und eingeordnet. Dazu will ich zunächst wenige ausgewählte Elemente der psychoanalytischen Lehre Sigmund Freuds als Manifestationen seines Sprachdenkens rekonstruieren. 6 7 8
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15
Flader/Wodak-Leodolter 1979, VI. von Polenz 1 9 9 9 , 4 9 3 . Pörksen 1986, 145ff. Pörksen 1 9 9 4 , 1 5 7 . Die Uberarbeitete Fassung, nach der zitiert wurde, in: M u s c h g 1956, 153-197, hier 155. Schönau 1 9 6 8 , 3 . Ebd., 251. Moser 1969, 165ff. Ich nenne exemplarisch: von Polenz 1999 und Wells 1990, jeweils mit weiterführender Literatur; der Stand der Sprachbewusstseinsforschung zum 19. Jahrhundert wird mitgeteilt von Mattheier 1998, 22. von Polenz 1999.
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2. Vom Zauber des Wortes - Elemente des Sprachdenkens Sigmund Freuds Das Sprachdenken Freuds ist zu rekonstruieren einerseits aus typischen Gegenständen seiner wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, andererseits aus seiner Technik der Psychoanalyse. 2.1. Gegenstände der Psychoanalyse Gegenstände der frühen Psychoanalyse sind Formen von Fehlleistungen: Das Versprechen und der Traum sind zwei ihrer herausragenden Erscheinungsformen. Beim Versprechen in der Definition Freuds „setzt sich die zurückgedrängte Tendenz gegen seinen [des Sprechers] Willen in eine Äußerung um, indem sie den Ausdruck der von ihm zugelassenen Intention abändert, sich mit ihm vermengt oder sich geradezu an seine Stelle setzt". Bedingung für ein Versprechen ist „die Unterdrückung der vorhandenen Absicht, etwas zu sagen." 16 Solche Fehlleistungen des Versprechens (und auch Verschreibens und Vergessens) gehören zu den frühesten Gegenständen der analytischen Forschungen Freuds. Das heißt m.a.W.: Auf Sprachgebrauch als Symptom psychopathologischer Gegebenheiten ist Freuds wissenschaftliche Aufmerksamkeit von Beginn an gerichtet. Ähnlich strukturiert und motiviert wie Fehlleistungen sind Träume. Der lebenslange Kampf des Sigmund Freud besteht nicht zuletzt darin, die Welt davon zu überzeugen, dass Träume Wunschträume, unterdrückte Wünsche sind, die, wenn sie gegen die Ethik verstoßen, gegen die Grundregeln der menschlichen Gemeinschaft, gegen die kulturgeschichtlich gewordene Norm, sich in verschlüsselter Form ausdrücken. Traumarbeit ist Verdichtungs- und Verschiebungsarbeit. .Verdichtung' von Vorstellungen und Verschiebung' des psychischen Akzents von einer Vorstellung zur anderen. Diese fundamentalen Mechanismen des Traums 17 - wie psychischer Vorgänge überhaupt - sind sprachliche Akte. Der Traum verdichtet, er ist „knapp, armselig, lakonisch", 18 sein latenter Inhalt, der Traumgedanke, umfasst ein Vielfaches, denn: Jedes Traumelement ist vieldeutig oder „überdeterminiert", d.h. „mehrfach in den Traumgedanken vertreten". 19 Die Kondensierung von Worten und Namen ist die offensichtlichste Verdichtungsarbeit des Traums. Freud bezeichnet in diesem Zusammenhang das Wort als den „Knotenpunkt mehrfacher Vorstellungen", als „eine prädestinierte Vieldeutigkeit". 20 Die Identifizierung von .Maistollmütz' etwa fuhrt über ,Mais' - ,Meißen' - ,Miß' - ,mies' - ,toll' - ,mannstoll' und ,01mütz' - „und" 16 17 18 19 20
Freud 1 9 1 6 - 1 9 1 7 , 8 5 . Freud 1 9 0 1 , 2 8 2 - 3 0 8 . Ebd., 282. Ebd., 286. Ebd., 336f.
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- so der Kommentar Freuds - „eine lange Kette von Gedanken und Anknüpfungen ging von jeder der Silben des Wortklumpens ab". 21 Mit anderen Worten: „mit Hilfe des Begriffs der Verdichtung läßt sich beschreiben, inwiefern ein Haus in einem Traum mehr als nur ein Haus sein kann; der Hilfsbegriff der Verschiebung klärt, inwiefern ein geträumtes Haus etwas anderes als ein Haus sein kann." 22 D.h. die Traumarbeit, also die Umformung der triebhaften Traumgedanken in das Bilderrätsel des Traums, die Verwandlung der „latenten Traumgedanken in den manifesten Trauminhalt", 23 bedient sich der Mechanismen der Verdichtung und Verschiebung, die wir als sprachliche Akte beschreiben. Durch diese sprachlichen Akte wird die Traumarbeit zu dem, was sie ist - nämlich komprimierte und kompensierte Wirklichkeitserfahrung. 24 Die Traumarbeit des Patienten korrespondiert mit der Traumdeutung des Analytikers. Freud fasst Traum als „eine Art von Geheimschrift", Traumdeutung als „'Chiffriermethode'", um die unbekannten Zeichen des Traums in Zeichen „von bekannter Bedeutung" zu übersetzen. 25 Die Darstellung der Traumarbeit mutet „dem Übersetzer keine größere Schwierigkeit zu [...] als etwa die alten Hieroglyphenschreiber ihren Lesern." 26 Wir sehen: Indem der Traum dekomponiert und expliziert wird, ist Traumdeutung zu beschreiben als ein Komplex sprachlicher Sinngebungsakte. Es ist also Aufgabe des Therapeuten, den Sinn von Fehlleistungen wie psychopathologischen Ausdrucksformen überhaupt zu erkennen, um die Fremdartigkeit, die „von Entstellungen her[rührt], die an dem Ausdruck [ihres] Sinnes vorgenommen worden sind", 27 in Lesbarkeit, Verstehbarkeit zu überfuhren. 2.2. Technik der Psychoanalyse Am Anfang von Freuds Weg in die Psychoanalyse steht die Hypnose, das „Einreden", 28 die nicht zuletzt sprachliche Beschwörung des Patienten durch den Arzt, ihn in einen bewusstlosen Zustand mittels Sprache zu überführen, um in diesem Zustand Auskunft zu erhalten, die im bewussten Zustand nicht zu
21 22 21
Ebd., 2 9 8 . Burke 1973, 52. Freud 1909-1913, 396f.
24
Zu verweisen ist auf Lacon 1991, der in Bezug auf Freuds .Traumdeutung' Verdichtung mit Metapher gleichsetzt („die Überbelastungsstruktur der Signifikanten, in der die Metapher ihr Feld einnimmt") und Verschiebung mit Metonymie („Umstellen der Bedeutung, das die Metonymie zeigt, und das seit seinem Erscheinen bei Freud als jenes Mittel des Unbewußten gedacht wird, das am besten geeignet ist, die Zensur zu umgehen", 36).
25
Freud Ebd., Freud Freud
26 27 28
1901, 118. 337. 1909-1913,396. 1890,28.
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bekommen ist. „Das Wort ist hier wirklich wieder zum Zauber geworden" 29 lautet Freuds beinahe überwältigter Kommentar. Der hypnotischen Methode, die Freud Mitte der 90er Jahre aufgibt, folgt die von seinem Lehrer und Freund Breuer erarbeitete „kathartische Kur", die Freud weiterentwickelt und lieber „analytische [Kur]" nennt. 30 Bei ihr kommt es darauf an, vom Patienten „psychische [...] Vorgänge [...] reproduzieren zu lassen, um sie zu einem Ablauf durch bewußte Tätigkeit zu leiten". 31 „Die analytische Therapie [...] will wegnehmen, herausschaffen", 32 die Beseitigung der Krankheitssymptome ist ihr Ziel - ,chimney sweeping' nennt Anna O., Breuers berühmte Patientin Bertha von Pappenheim, dieses Verfahren der ,talking cure'. .Talking cure' - der Königsweg der psychoanalytischen Erkenntnis ist das Wort und das Gespräch: „Worte sind [...] das wesentliche Handwerkszeug der Seelenbehandlung. Der Laie wird es wohl schwer begreiflich finden, daß krankhafte Störungen des Leibes und der Seele durch ,bloße' Worte des Arztes beseitigt werden sollen. Er wird meinen, man mute ihm zu, an Zauberei zu glauben. Er hat damit nicht so unrecht." 33
Dies ist nicht nur der Ausdruck antizipierter Laienmeinung, sondern Freud selbst scheint einmal mehr beeindruckt von der Wirkungsmöglichkeit der Sprache, die er .Zauberei' nennt. Ihr Ort ist das Gespräch, der Dialog bildet das Zentrum der analytischen Arbeit, in der „nichts anderes vor[geht] als ein Austausch von Worten zwischen dem Analysierten und dem Arzt. Der Patient spricht, erzählt von vergangenen Erlebnissen und gegenwärtigen Eindrücken, klagt, bekennt seine Wünsche und Gefühlsregungen. Der Arzt hört zu, sucht die Gedankengänge des Patienten zu dirigieren, mahnt, drängt seine Aufmerksamkeit nach gewissen Richtungen, gibt ihm Aufklärungen und beobachtet die Reaktionen von Verständnis oder von Ablehnung, welche er so beim Kranken hervorruft." 34
Die analytische Behandlung gestaltet Freud als eine Szene, die dem Lebensgefuhl des Bürgers und der bürgerlichen Selbstdarstellung seiner Zeit entspricht: Freuds Ordinationsraum ist das Besuchs- oder Gesellschaftszimmer des bürgerlichen Hauses, welches ganz für die Form des gesellschaftlichen Gesprächs hergerichtet ist.35 In einem solchen Raum treibt man auch in der Berggasse 19 Konversation - im Sinn einer analytischen Behandlung zwar nicht 29 30 31 12 33
" 35
Ebd., 29. Freud 1905, 111. Freud 1 9 1 4 , 2 0 7 . Freud 1905, 112. Freud 1890, 17. Freud 1 9 1 6 - 1 9 1 7 , 4 3 . Angelika Linke beschreibt in ihrer Arbeit die Beschaffenheit dieses bürgerlichen Etablissements im 19. Jahrhundert: Linke 1996, 170.
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gerade die von gleich zu gleich, eher die von Wissendem zu Unwissendem, aber das Klima des kultivierten Gedankenaustausche beherrscht die therapeutische Situation. Dem Status von Sprache als „Sozialsymbol des Bildungsbürgertums" 36 wird auch hier entsprochen, nicht zuletzt, indem Freuds analytisches Konzept gleichsam getragen ist vom aufklärerischen Ideal des Dialogs: „Erkundigung" - wie etwas gemeint ist, warum etwas gesagt wurde - nennt Freud das „Vorbild jeder psychoanalytischen Untersuchung". 37 Und: Der Patient liefert das Material der Analyse, indem er spricht, genauer ausspricht. Als Ort der Gedankenproduktion ist mündliches Sprechen einerseits Schauplatz der Erkenntnis - zu verweisen ist auf Kleists Vorstellung von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Andererseits ist das Gespräch die Sphäre des Zwanglosen, 38 in der am ehesten Wahrhaftigkeit zu haben ist. Auf ihr baut die psychoanalytische Behandlung auf, sie fordert der Therapeut vom Patienten. 39 Allerdings hat das bürgerliche Paradigma Grenzen: Das gesellschaftlich tabuisierte Reden über sich selbst ist Grunderfordernis des therapeutischen Gesprächs. In dieser kommunikativen Situation sind die Rollen also verteilt: Der Patient spricht, versprachlicht sein Inneres. ,Freie Assoziation' nennt Freud diesen Teil der Analyse - nach Hypnose und kathartischer Methode die letztgültige Entwicklungsstation der Freudschen Psychoanalyse. Er gibt dem Patienten auf, sein in der Assoziation wirksames Inneres sprachlich zu erfassen und mitzuteilen und in diesem Mitteilen analytisches Material zu produzieren. Ergebnis der erfolgreichen Erinnerungsarbeit - idealerweise die Beseitigung der Krankheitserscheinungen. ,Von dem allmählichen Verschwinden des pathologischen Defekts beim Reden' könnte das Bild heißen, das Freud für diesen Vorgang findet: „Ist einmal ein Bild aus der Erinnerung aufgetaucht, so kann man den Kranken sagen hören, daß es in dem Maße zerbröckle und undeutlich werde, wie er in seiner Schilderung desselben fortschreite. Der Kranke trägt es gleichsam ab, indem er es in Worte umsetzt." 4 0
So wird der „Zauber des Wortes" manifest z.B. dann, wenn die Intensität eines bestimmten Symptoms „mit vollendeter Aussprache [der hierfür pathogenen Erinnerungen] plötzlich ab[sinkt] oder [...] für eine Weile [verschwindet]". 41 Auf der anderen Seite der Therapeut bzw. Analytiker. Sein Geschäft ist es, „aus den freien Einfallen des Analysierten zu erraten, was er zu erinnern versagte". 42 Freud nennt bescheiden ,erraten', was einen Akt der semantischen 36 37 38 39 40 41 42
Mattheier 1991. Freud 1916-1917, 116f. Schlieben-Lange 1983, 84f. Freud 1915a, 224. Freud 1895,74. Ebd., 89. Freud 1914,207.
Sigmund Freuds Sprachdenken
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Analyse darstellt, denn: Freud konzipiert diesen Vorgang so, dass der Analytiker den vom Patienten mitgeteilten sprachlichen Ausdruck mit Interpretamenten, mit Bedeutungsmerkmalen versieht und übersetzt. Übersetzung ist nötig, der Ausdruck zu Zeiten „arg entstellt", dient er doch dazu, Wünsche zu bezeichnen, „deren wir uns schämen und die wir vor uns selbst verbergen müssen". 43 Für diesen Vorgang des deutenden Übersetzens antizipiert Freud ein mögliches Erkenntnisinteresse der Sprachforschung. Zwar furchtet er, „die gebräuchliche Wortbedeutung [zu überschreiten]", wenn er „das Interesse des Sprachforschers für die Psychoanalyse postuliere". Den Nachweis für die Berechtigung dieser Reklamation erbringt er hingegen gleich anschließend, indem er geltend macht, „daß die Deutungen der Psychoanalyse zunächst Übersetzungen aus einer uns fremden Ausdrucksweise in die unserem Denken vertraute sind". 44 In diesem Kontext sind die Worte des Therapeuten „gute Mittel, um seelische Veränderungen bei d e m hervorzurufen, an den
sie
gerichtet werden, und darum klingt es nicht länger rätselhaft, w e n n behauptet wird, daß der Zauber des Wortes Krankheitserscheinungen beseitigen kann." 4 5
Freud nennt die Psychoanalyse ein „ärztliches Verfahren, welches die Heilung gewisser Formen von Nervosität [...] mittels einer psychologischen Technik anstrebt". 46 Diese .psychologische Technik' ist eine sprachliche Technik, die analytische wie therapeutische Seelenarbeit Freuds ist eigentlich Spracharbeit, indem sie „dem eingeklemmten Affekt [der nicht abreagierten Vorstellung] den Ablauf durch die Rede gestattet" 47 - m.a.W. Unbewusstes bewusst macht, im Zuge des therapeutischen Prozesses unbewusste Vorstellungen, die ihrerseits als Ursache für Neurosen erkannt sind, in bewusste verkehrt. Aufdecken, Bewusstmachen von Unbewusstem heißt demnach: die sprachliche Erfassung von in tiefen Schichten der Seele verborgenen Erinnerungen veranlassen. Denn „diese Wortvorstellungen sind Erinnerungsreste, sie waren einmal Wahrnehmungen und können wie alle Erinnerungsreste wieder bewußt werden". 48
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Freud 1908, 175. Freud 1909-1913, 403. Entsprechend stellt Jürgen Habermas den Psychoanalytiker als Interpreten dar, der „ein und dasselbe Subjekt die eigene Sprache begreifen lehrt. Der Analytiker leitet den Patienten an, damit er die eigenen, von ihm selbst verstümmelten und entstellten Texte lesen und Symbole von einer privatsprachlich deformierten Ausdrucksweise in die Ausdrucksweise der öffentlichen Kommunikation Ubersetzen lehrt" (Habermas 1999 12 , 2 7 9 f ) . Aus psychologischer Sicht rekonstruiert Alfred Lorenzer ebenso das „psychoanalytische Therapieziel der Bewußtmachung unbewußter Inhalte" als sprachliches: „die von Sprache abgekoppelte, aus der Sprache exkommunizierte .Wirklichkeit' wieder zurückzuholen in den Sprachzusammenhang, den man mit anderen teilt" (Lorenzer 1977, 39). Freud 1890,26. Freud 1909-1913, 390. Freud 1895,49. Freud 1923,289.
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Die bewusste Wortvorstellung „umfaßt die Sachvorstellung plus der zugehörigen Wortvorstellung, die unbewußte ist die Sachvorstellung allein." 49 Ich gehe hier nicht auf den Zusammenhang von Denken und Sprache ein, wie Freud ihn voraussetzt, ebensowenig auf die hier ausgedrückte und an Saussure erinnernde bilaterale Struktur sprachlicher Zeichen. Soviel sei vermerkt: An keiner Stelle seiner Lehre wird das Sprachdenken Freuds so manifest wie hier. Es gibt kaum einen deutlicheren Ausweis für die elementare Funktion von Sprache in der Psychoanalyse, auf deren Potenz Freud die Grundidee seiner Lehre vom Unbewussten gründet: Seelische Genesung setzt das gefundene Wort voraus. Sprache ist Bedingung in dem wissenschaftlichen System Sigmund Freuds: Sie ist Gegenstand der Ätiologie wie der Symptomatik, der Anamnese wie der Diagnose, der Analyse wie der Therapie. Der sprachliche Ausdruck ist zum einen Symptom einer psychopathischen Gegebenheit; ist zum andern Ziel der Analyse - den Patienten dazu zu bringen, einen neurotischen Sachverhalt sprachlich zu erfassen und zu artikulieren; ist schließlich Objekt der Analyse: Das Geschäft des Therapeuten ist die begrifflich-inhaltliche Besetzung und damit Deutung des sprachlichen analytischen Materials. Mit anderen Worten: Freud schafft sich mit Sprache sein Analysematerial, erkennt im sprachlichen Ausdruck eine pathologische Gegebenheit, heilt mit Sprechen und Sprechenlassen. Ich breche an dieser Stelle die Rekonstruktion des sprachlichen Denkens Sigmund Freuds ab, um es nunmehr im Sinn der Sprachbewusstseinsgeschichte in die Sprachgeschichte der Jahrhundertwende einzuordnen.
3. Das Sprachbewusstsein Freuds und die Jahrhundertwende Die widersprüchliche Signatur der Zeit um 1900 ist erwiesen - der Glaube an die Kraft der Sprache und Verzweifeln an ihrer Unzulänglichkeit sind gleichzeitige Epochenmerkmale. Freud setzt in seiner Psychoanalyse auf nichts als das Wort - und ist mit diesem Sprachdenken Antipode einer Strömung, deren Exponenten bekanntlich an der Sprache verzweifeln, dem Wort misstrauen, seine Erkenntnis erschließende Potenz leugnen. 50 In Freuds Sprachdenken hat das Lebensgefuhl, der Skeptizismus der literarischen Moderne keinen Platz, die denn auch in seinem Werk nicht stattfindet. Eine Wortfeldstudie Stegers erweist für die Zeit um 1900 hinsichtlich des Wortschatzes der zeit- und kulturkritischen Analyse semantische Merkmale wie ,instabil', ,krank/entartet/dekadent', .Verwirrung'. Positiv besetzte Bestimmungsstücke sind ,Seele', ,Gefühl', , Subjektivität/Ich', .Wendung nach innen' 51 - die Psychologisierung der Zeit, ihre psycho49 50 51
Freud 1915b, 160. Henne 1996. Steger 1989, 92f.
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analytisch gesteuerte Wahrnehmung ist offensichtlich. Diese Kategorien bestimmen Freuds beruflichen Alltag wie auch die Dichtung seiner Zeit. Der Literarisierung dieser Domäne seiner Profession aber weicht er aus, obwohl er ihr bequem hätte begegnen können, ihr vielleicht sogar begegnet ist. Er liest die ,Neue Freie Presse', das Forum von ,Jung Wien', jenem Schriftstellerkreis, zu dem Hugo von Hofmannsthal und Hermann Bahr, Karl Kraus und Richard Beer-Hofmann gehören. Er liest die ,Fackel' und ist zumindest mit der Kraus'schen sprachkritischen Spielart bekannt geworden. In seinem freundschaftlichen Kreis finden sich mit Stefan Zweig und Arthur Schnitzler zwei ihm verbundene Vermittler des zeitgenössischen literarischen Denkens. Indes Hugo von Hofmannsthal über Sigmund Freud: „absolute Mediocrität voll bornierten, provinzmäßigen Eigendünkels" 52 , Sigmund Freud über Karl Kraus: „diese begabte Bestie K.K." und „ein toller Schwachsinniger." 53 Freuds Erfahrungen sind die der gebildeten und lesenden Gesellschaftsklasse. Das Spektrum dieser Erfahrungen ist absichtlich eingeschränkt, gezielt ausgewählt und lässt Freuds Haltung zur klassischen Moderne erkennen. Zwar entdeckt Freud „dieselbe neue Welt [...], die [...] zeitgenössische Dichter und Bildner gestalteten", 54 ist ihnen mithin verwandt. Deren Sprachkrise aber geht ihn nichts an. Zwar sind Dichter vielzitierte Kronzeugen. Freuds Literaturkenntnis und -rezeption aber bezieht sich auf „die allgemein anerkannten Dichter, die auch er bewundert" 55 und die ihm Gewährsleute sind. Zwar deutet er Kunst psychologisch als „eine Tätigkeit, welche die Beschwichtigung unerledigter Wünsche beabsichtigt" 56 - die moderne Literatur, zu deren zentralen Leitmotiven ja etwa das Ich-Erlebnis zählt, sagt ihm nichts. Viel sagen ihm dagegen die Exponenten des Bildungskanons der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit. Ist nicht der ,umnachtete' Hölderlin, der ,debile' Kleist von eben dieser Gesellschaft ignoriert worden zugunsten der die - wiewohl überhöhte - Norm repräsentierenden Heroen Goethe und Schiller? Müssen wir Freuds literarische Wahrnehmung auch in diesem Sinn einordnen und bewerten? Ist auch sie Ausdruck seines unerschütterlichen Sprachglaubens? Hat er die zeitgenössische Literatur auch um dieses Sprachzutrauens willen, das er sich womöglich nicht nehmen lassen wollte, ignoriert? Konnte er die Attitüde der Sprachverzweiflung in dem Raum seines nach Erkenntnis via Sprache und Deutung des sprachlichen Ausdrucks strebenden wissenschaftlichen Selbstverständnisses zulassen? Natürlich nicht! Mit seinem wissenschaftlichen Konzept erweist sich das Sprachdenken Freuds für die Sprachbewusstseinsgeschichte als Gegenkonzept zu der als
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Zit. nach Politzer 1974, 78. An Ferenczi im Februar und April reagierend (Gay 1999, 246). Marcuse 1982, 137. Schönau 1968, 16. Freud 1 9 0 9 - 1 9 1 3 , 4 1 6 .
1910, auf Kraus' Polemik wider die Psychoanalyse
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Epochenmerkmal fixierten Sprachkrise der klassischen Moderne. Wenn Freud den Chandos-Brief gelesen hat - vermutlich tat er es nicht - , war er befremdet. Die „modrigen Pilze" Freuds sind allenfalls nicht heilbare psychopathische Abnormitäten, nicht aber deren sprachliche Erfassung bzw. Symptomatik. Dem Sprachdenken und Sprachbewusstsein des heraufziehenden Skeptizismus und der sich abzeichnenden Positivismuskritik steht Freuds naturwissenschaftliches System gegenüber. Sein wissenschaftliches Handeln besteht dementsprechend auch im Normieren, Klassifizieren, Kodifizieren. 57 Freud schafft Sicherheit gewährende Orientierung, indem er „Gesetz, Ordnung und Zusammenhang" aufzeigt, „wo bisher nur die bizarrste Laune zu walten schien". 58 Neurotische Defekte - sind sie nicht unvereinbar mit dem so verorteten Leitbild der bürgerlichen Gesellschaft? Sind sie dann nicht Störfälle, deren Beseitigung Ausdruck der Normorientiertheit dieser Gesellschaft ist? Freud strebte „nach der Erkenntnis der Gesetze der unbewußten psychischen Vorgänge" 59 - Sprachverzweiflung hätte dieses wissenschaftliche Selbstverständnis ausgeschlossen. Von der larmoyanten, „extrem eskapistischen" 60 Sprachskepsis seiner Zeit ist Freud also nicht angekränkelt. Sprache denkt er nicht wie seine Zeitgenossen der literarischen Moderne als Hindernis zur Wirklichkeit, nicht wie Mauthner als „untaugliches Werkzeug [...] für die Erkenntnis", 61 sondern im Gegenteil: Er setzt gerade auf die erkenntnisfördernde Potenz der Sprache - eine positivistische Vorstellung, ohne die seine Lehre nicht zu denken ist, oder anders gesagt: Mauthner kommt als Erfinder der Psychoanalyse nicht in Betracht. ,Freie Assoziation' und ,Deutung'- die Namen der Freudschen Kategorien analytischer und therapeutischer Arbeit wie auch psychopathischer Gegebenheiten - sind Namen fur sprachliche Akte der Handlungsbeteiligten, deren Geschäft darin besteht, die vom Patienten hergestellten .neurotischen' Referenzidentitäten zu zerstören und durch .richtige, gesunde, normale' zu ersetzen. Das Misstrauen Freuds richtet sich ggf. gegen den Wahrheitswert der vom Patienten hergestellten Referenzidentität, nicht aber gegen die diese Referentialität vermittelnde Potenz der Sprache. Im Gegenteil, er setzt sie voraus in dem Sinn, dass er die individuelle sprachliche Repräsentation von Ereignissen und Erlebnissen des Patienten - also dessen sprachliche Erfassung seiner Wirklichkeit - als gegebenes reales Material wertet und dessen Referentialität als Wegweiser sozusagen zur neurotisch verschütteten Wahrheit nutzt. Indem er den sprachlichen Ausdruck des Patienten als unumgängliche Obligation begreift, indem dieser Ausdruck Analyseobjekt und Therapeutikum ist, setzt Freud auf die Unhintergehbarkeit und Unbegrenztheit der Sprache.
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„Diese Neue Psychologie war am Ende des vorigen Jahrhunderts neu - was die systematische Kodifizierung betraf (Marcuse 1982, 77). Freud 1909-1913,401. Gay 1999', 103. von Polenz 1983,4. Mauthner 1982, XI.
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Sprache ist im Kontext seiner Lehre epistemologisch instrumentalisiert. Ohne unerschütterlichen Sprachglauben ist das Projekt der Psychoanalyse Sigmund Freuds nicht denkbar. Das Sprachdenken Freuds ist ein Stück Wissenschaftsgeschichte wie Sprachgeschichte, Mentalitätsgeschichte wie Sprachbewusstseinsgeschichte der Jahrhundertwende. Dass diese sich unter Umständen kreuzen, bedarf keiner Erwähnung. Es gibt aber wohl kaum ein eindringlicheres Beispiel für ihre Interdependenz, für die gegenseitige Bedingtheit von wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, Sprachbewusstsein, Sprachdenken.
4. Literatur 4.1. Quellen Freud, Sigmund (1873-1939): Briefe 1873-1939. Ausgewählt und herausgegeben von Ernst und Lucie Freud, Frankfurt/M. 1980, 97. Freud, Sigmund (1890): Psychische Behandlung (Seelenbehandlung). In: Schriften zur Behandlungstechnik. Studienausgabe, Ergänzungsband. Frankfurt/M. 1969ff„ 13-35. Freud, Sigmund (1895): Zur Psychotherapie der Hysterie. In: Schriften zur Behandlungstechnik. Studienausgabe, Ergänzungsband. Frankfurt/M. 1969ff., 37-97. Freud, Sigmund (1901): Die Traumdeutung. Studienausgabe, Bd. 2. Frankfurt/M. 1969ff. Freud, Sigmund (1905): Über Psychotherapie. In: Schriften zur Behandlungstechnik. Studienausgabe, Ergänzungsband. Frankfurt/M. 1969ff., 107-119. Freud, Sigmund (1908): Der Dichter und das Phantasieren. In: Bildende Kunst und Literatur. Studienausgabe, Bd. 10. Frankftirt/M. 1969ff., 169-179. Freud, Sigmund (1909-1913): Das Interesse an der Psychoanalyse. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Bd. 8. Frankfurt/M., 396-420. Freud, Sigmund (1914): Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. In: Schriften zur Behandlungstechnik. Studienausgabe, Ergänzungsband. Frankfurt/M. 1969ff„ 205-215. Freud, Sigmund (1915a): Bemerkungen über die Übertragungsliebe. In: Schriften zur Behandlungstechnik. Studienausgabe, Ergänzungsband. Frankfurt/M. 1969ff„ 217-230. Freud, Sigmund (1915b): Das Unbewußte. In: Psychologie des Unbewussten. Studienausgabe, Bd. 3. Frankfurt/M. 1969ff., 119-173. Freud, Sigmund (1916-1917): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Neue Folgen der Vorlesungen zur Einfuhrung in die Psychoanalyse. Studienausgabe, Bd. 1. Frankftirt/M. 1969ff., 34-445.
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Zur deutschen Sprache zwischen 1918 und 1933 Alfred Döblin skizziert 1924 seinen Eindruck von der geistigen Situation in der Weimarer Republik folgendermaßen: „Es ist zur Zeit ein Durcheinander, das Durcheinanderschieben zweier Epochen. Ruinen, Rohstoff, alte und neue Energie sind da. Das Bild muss sein Barbarei, Unsicherheit und Pessimismus, - ein Anblick, der wenig Freude bietet. Aber der Lebende muss wissen, wohin die Fahrt geht." (Literatur I 1987, 5 7 7 ) „Die Ansicht, dass etwas wie ein Zeitgeist, sich gleichmäßig in allen Wesen einer Epoche äußere, ist verkehrt. Es leben immer verschiedene Epochen, Zeitgeister, neben- und miteinander. Ja sogar im einzelnen Menschen ineinander. Das sind [...] Gebilde von der abgeklungenen Tätigkeit des Gesellschaftstriebes. Die Mehrzahl der Künstler und auch der Kunstfreunde schreibt, das ist begreiflich, heute noch 1800 oder 1600. 1900 wird wohl erst 2 1 0 0 erscheinen." (ebd., 579)
Er hat den Eindruck einer Umbruchsituation, weil zwei Epochen aufeinander stoßen. Dabei braucht das Neue, um sich artikulieren zu können, vermutlich noch längere Zeit; denn die Wirklichkeit und die sprachliche Form klaffen nach seiner Meinung, die der Linguist nicht teilen wird, stets weit auseinander, weil offenbar Muster und Konvention des Vorherigen die Autoren der Gegenwart stark prägen. Für die Themenwahl meines kurzen Referates gibt es zwei Gründe: In den beiden vorangegangenen Symposien (Bad Homburg 1986 bzw. 1993) haben wir uns mit der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert befasst. Wir waren damals übereingekommen, dass sich die Zentenarzahlen 1800 und 1900 nicht als Eingrenzung einer geschlossenen sprachlichen Entwicklung eignen, da sie den langfristigen und punktuellen, den vielschichtigen und ungleichzeitigen Veränderungen der Sprache nicht gerecht werden. Periodisierungen sind stets problematisch. Aber in den Geisteswissenschaften kommt man ohne sie nicht aus; denn sie dienen als Ordnungskategorien und sind unentbehrlich, um sich rascher orientieren und gegenseitig verständigen zu können. In allen historischen Abläufen gibt es sichtbare Einschnitte, Phasen des Endes und des Neubeginns. Oft decken sich die Kriterien, nach denen die Wissenschaft die Periodisierungen vornimmt, interdisziplinär nicht, sondern sie weichen voneinander ab, etwa in der Sprach- und Literaturgeschichte, wobei die dabei entstehenden Differenzen und Übereinstimmungen das Verständnis der Situation nicht einfacher machen.
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Die Historiker können sich an datierbare Ereignisse halten, wie z.B. an die Dauer einer Regierung, die Unterzeichnung von Verträgen oder an Beginn und Ende kriegerischer Ereignisse. Solche zeitlich fixierten Einteilungskriterien sind in der Sprachwissenschaft nicht anwendbar. Denn zum einen entzieht sich die stetige, in sich mit ungleicher Geschwindigkeit fortschreitende Sprachentwicklung einer Einteilung in fest umrissene Abschnitte, da sie sich in einer fur uns schwer durchschaubaren Eigengesetzlichkeit bewegt, und zum anderen betreffen die Daten der Historiker meistens politische Konstellationen, die oft sprachliche Veränderungen nicht berühren. Bei der Markierung des 19. Jahrhunderts haben wir trotz der eben genannten Bedenken zwei bedeutsame historische Ereignisse gewählt, die einschneidendere und über die einzelstaatlichen Grenzen hinaus reichende gesellschaftspolitische, also auch für die deutsche Sprache relevante Veränderungen ausgelöst haben als die beiden Jahreszahlen 1800 und 1900, nämlich die Französische Revolution (1789) und das Ende des Ersten Weltkrieges (1918). Mit diesen beiden Eckpunkten wird allerdings die Jahrhundertspanne um etwa ein Drittel verlängert. Das janusköpfige Jahr 1918 dürfte als politisches Ende des abgelaufenen 19. Jahrhunderts wohl noch immer überzeugen, aber ob es auch für den Beginn des 20. eine ähnliche Signalwirkung in der germanistischen Sprachwissenschaft haben kann, müsste vermutlich erneut diskutiert und erwiesen werden. Mit meinen folgenden Überlegungen schließe ich zeitlich dort an, wo wir in den beiden vorausgegangenen Symposien aufgehört haben. Der zweite Grund für den Entschluss, bei 1918 einzusetzen, ist der Blick auf das Ende des Zweiten Weltkrieges. Die germanistische Sprachwissenschaft stimmt in seltener Einhelligkeit darin überein, 1945 die jüngste Periode ihrer Entwicklung, die Deutsche Gegenwartssprache, beginnen zu lassen, die bis heute trotz der inzwischen vergangenen 50 Jahre immer noch weiter läuft (von Polenz 1999, 163 ff.). Die Zäsuren, die man für die Periodisierung des Neuhochdeutschen wählen kann, werden nicht mehr wie bei den altdeutschen Sprachstufen von Veränderungen im Konsonantismus und Vokalismus bestimmt, sondern seit dem Beginn des Frühneuhochdeutschen vom Wandel des Vokabulars (also von Neologismen, Wortbildung, Aufnahme fremden Wortguts und Bildung neuer Phraseologismen), der Grammatik (Morphologie, Kasusrektionen) und vor allem vom Stilwandel im schriftlichen und auch im mündlichen Ausdruck (Nominalisierungen, Funktionsverbgefüge, Kunstwörter, Abkürzungen, differenzierte Anreden, Bevorzugung von kurzen Sätzen und parataktischen Fügungen, zunehmender Einfluss der Fachsprachen etc.). Mit dem Jahr 1945 setzen gewichtige gesellschaftspolitische Neuerungen ein, die mit ihren Konsequenzen in der geschriebenen und gesprochenen deutschen Sprache zu mehr Veränderungen gefuhrt haben als in den Jahrzehnten vor 1945. Man denke an das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und den Neuaufbau eines demokratischen Staates, die Überwindung der
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internationalen Isolation, die großen Migrationsbewegungen mit Flucht und Umsiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung auf Grund neuer staatlicher Grenzen, die Gründung und Vereinigung der beiden deutschen Staaten, den Wiederaufbau des zerstörten Landes und die staatliche Neuordnung Osteuropas, die Verhandlungen und Bemühungen um eine Vereinigung der europäischen Staaten zu einer Union, die sprachliche Dominanz von Funk, Fernsehen und der administrativen Geschäfts- und Verwaltungssprache. An meinem Lebenslauf kann man die Problematik einer solchen sprachlichen Periodisierung sehen: Zusammen mit allen Gleichaltrigen habe ich nach der linguistischen Einteilung erst von meinem 21. Lebensjahr an die deutsche Gegenwartssprache gesprochen und geschrieben und bis dahin einen nicht näher bezeichneten Ausläufer des Neuhochdeutschen: die Sprache der 20er und 30er Jahre. Von den Ereignissen um das Jahr 1945 kann man zahlreiche Parallelen zurück zum Ende des Ersten Weltkrieges ziehen. Auch damals hat sich die Staatsform geändert, von der konstitutionellen Monarchie zur Republik mit der demokratischen Struktur eines vielfältigen Parteiensystems. Es entstanden aus der leidvollen Erfahrung des verheerenden Vielvölkerkrieges erste Gedanken an ein Paneuropa, um künftig eine ähnliche Auseinandersetzung zwischen den Staaten zu verhindern. Die Inflation und die sich anschließende neue Währung brachten der Bevölkerung erhebliche finanzielle Einbußen. Es gab Besetzungen einiger Teile der Republik (Rheinland und Ruhrgebiet) durch die Siegermächte, hohe Reparationsforderungen, Gebietsabtretungen an die Nachbarstaaten, beträchtliche Wanderbewegungen der Bevölkerung, hohe Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Rezession. Kurzum, das tägliche Leben wurde 1918 von ähnlichen Konsequenzen des verlorenen Krieges bestimmt wie nach 1945. Dazu tritt nach beiden Kriegen das Phänomen der Erneuerung. Der situationsbedingte Stillstand und Stau des Fortschritts während der Kriegsjahre löst sich zuerst langsam, dann aber mit zunehmender Vehemenz auf. Abgebrochene Entwicklungen werden wieder aufgenommen, neue kommen hinzu. Mit dem Schwung des Nachholbedarfs beginnt weltweit eine rasante technische Evolution, die sich zunehmend ausbreitet und die beträchtliche Erweiterung fachsprachlicher Vokabelstände zur Folge hat. Diese Entwicklung ist in allen Zivilisationssprachen zu beobachten. Sie trägt zur Internationalisierung der Fachvokabularien bei, da sich viele Entlehnungen aus dem englischen und lateinisch-griechischen Wortschatz über den Transfer des Englischen global durchsetzen. Ein Teil der neuen Erfindungen betrifft vor allem die Verkehrsmittel und die Kommunikationsmedien, die weiter entwickelt und wesentlich verändert worden sind. Nach 1918 erhöhen Auto, Bahn, Schiffs- und Flugverkehr die allgemeine Mobilität der Gesellschaft ganz wesentlich. Die flächendeckenden Übertragungsmedien und Tonträger fur Informationen und Musik nehmen einen nicht vorhergesehenen Aufschwung: die Presse, die Telegrafie, das Telefon, die Fotografie, die Reproduktionsdrucke von Bildern, die Schreib-
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maschine, Funk, Film und die Schallplatte. Diese heute selbstverständlichen oder schon wieder überholten technischen Errungenschaften sind alle mit Schrift, Ton oder Bild verbunden. Sie werden, obschon früher erfunden, erst nach 1918 zu alltäglichen, jedermann zugänglichen Gebrauchsgegenständen. Die gesteigerte Geschwindigkeit der Verkehrsmittel und der Nachrichtenübertragung überspringt die staatlichen Grenzen, lässt die Entfernungen schrumpfen und erlaubt die Teilnahme an fernsten Ereignissen mit nur geringem zeitlichen Verzug. Die jetzt gegebene Streuungsbreite, -dichte und -geschwindigkeit sprachlicher und bildlicher Informationen prägen mit ihrer Dominanz die öffentliche Meinung. Ähnliches lässt sich für die Zeit nach 1945 sagen. Die Mobilität der Gesellschaft wird noch größer und schneller, wie man an dem millionenfachen Passagieraufkommen von Bahn- und Flugverkehr und der nicht weniger großen Ausdehnung des Straßennetzes mit der Zunahme des Autoverkehrs sehen kann. Ebenso werden die genannten Medienkanäle in ihrer Qualität weiterentwickelt, und das heißt: Sie werden schneller, präziser, effektiver und in ihrer Benutzeroder Anwendungsmöglichkeit millionenfach multiplizierbar. Das Medienangebot wird um Fernsehen, Recorder, Computer, Fax, e-mail, Internet und digitale Konservierungstechniken erweitert. Damit haben Umfang, VarietätenfMcherung und die Geschwindigkeit der Nachrichtenübermittlung und -Verbreitung erheblich zugenommen. Die Verfügbarkeit der Apparaturen erlaubt jetzt jedem bisherigen Rezipienten, zugleich auch Produzent zu werden. Die vielen Parallelen zwischen 1918 und 1945 dürfen allerdings nicht vergessen lassen, dass auch gravierende, am Wortschatz ablesbare Unterschiede bestehen, die keinen Vergleich zulassen: So haben nach 1945 spezielle Sprachhandlungen Kommunikationsfelder geprägt, die es 1918 noch nicht gegeben hat. Zu nennen sind die Programe der Nationalsozialisten gegen die jüdische Bevölkerung, der Kulturbarbarismus zwischen 1933 und 1945 mit Emigrationen, Ausweisungen, Pressezensur und Bücherverbrennungen, die Flächenzerstörungen ziviler Gebiete durch militärische Bombardierungen, also die Einbeziehung der Zivilbevölkerung in das Geschehen gegenseitiger Vernichtung, und die Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen und marxistischen Ideologie. Außerdem sind die längere Dauer und die umfangreichere geografische Ausdehnung des weltweiten zweiten Krieges zu bedenken. So möchte ich vor dem Hintergrund der Eindrücke von 1945, die in meiner Erinnerung noch lebendig sind, den Blick auf die parallelen Entwicklungen nach 1918 richten und fragen, ob vielleicht auch damals und in den darauf folgenden Jahren eine spürbare Zäsur im Verlauf der deutschen Sprachentwicklung zu beobachten ist. Anne Betten hat vor kurzem den zweiten Band ihres großen Israel-Projektes (Betten/Du-Nour 2000) vorgelegt, in dem sie zusammen mit zahlreichen Kolleginnen die Tonaufnahmen jüdischer Emigranten, die in den 20er Jahren das deutsche Sprachgebiet verlassen haben, auswertet und damit zu zeigen
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versucht, dass sich hier in einer isolierten Sprachdiaspora die deutsche gesprochene Sprache der Weimarer Republik erhalten hat und heute nach etwa 70 Jahren noch zu fassen ist. Diese sorgfaltig recherchierte Analyse regt an, im binnendeutschen Sprachgebiet parallele Untersuchungen der geschriebenen und gesprochenen Sprache mit Zeitzeugen vergleichbaren Alters anzustellen, auch wenn die isolierte Inselsituation nicht gegeben ist. Im Folgenden lege ich die Skizze eines bescheidenen Anfangs vor, der sich mit Beobachtungen an Texten der überregionalen Presse befasst. Die Zeitung ist als Textsorte nicht unproblematisch; denn sie ist eine mosaikartige Gemeinschaftsarbeit vieler Autoren, so dass selbst bei organgebundenen stilistischen Richtlinien nicht von einem einheitlichen Text gesprochen werden kann. Aber da es sich um ein auf den Augenblick der täglichen Ereignisse gerichtetes Medium handelt, ist dort der aktuelle Sprachgebrauch früher zu fassen als in der Literatur. Ob er den von Döblin kritisierten Verzug des stilistischen Ausdrucks hat, bleibe zunächst offen. Das Quellenmaterial hat den großen Vorzug, leicht zugänglich zu sein. So hat man die Möglichkeit zu fragen: Wie hat z.B. die Presse in ihren täglich erscheinenden Ausgaben verbal auf die neuen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse reagiert? Sind nach dem Ende des Ersten Weltkrieges an das Lexikon und die stilistischen Ausdrucksmittel der deutschen Sprache erhebliche neue Anforderungen gestellt worden? Hat sich der Wortschatz um Neo- und Phraseologismen erweitert? Welchen Einfluss haben fremde Sprachen mit ihrem Lehngut auf die deutsche ausgeübt? Ist es zu stilistischen Veränderungen in einem vergleichbaren Umfang gekommen wie nach 1945? Diese Fragen scheinen bisher noch kaum gestellt und eingehend untersucht worden zu sein. Das lassen die sehr ergiebigen Kataloge des Deutschen Zeitungsarchivs in Dortmund erkennen, wo deutschsprachige Zeitungen von 1500 an und die dazugehörige sekundäre Literatur gesammelt werden und große Zeitungsbestände vorhanden sind. Das Zeitungsmaterial aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts ist sehr umfangreich, sowohl in der Anzahl als auch im Volumen. Die Presseerzeugnisse lassen sich kaum beziffern. Denn es hat eine starke Fluktuation gegeben, weil bald die Publikationsdauer eines Blattes nur kurzlebig war und mit dem Ausbleiben der Abonnenten erlosch, bald Verstöße der Redaktionen gegen die Bestimmungen des Pressegesetzes Erscheinungsverbote von variabler Dauer ausgelöst haben. Der Zeitungsleser bildet sich sein eigenes Urteil. Das 1921 neu gegründete Organ des DGB „Der Deutsche" verlor bis 1924 etwa 90% seiner Auflage von anfangs 60.000 Exemplaren (Koszyk 1972, 59). Im Vergleich zu heute war die Menge an Zeitungstiteln wesentlich größer. Daran sieht man, dass Funktionen und Aufgaben im Laufe der folgenden Zeit von anderen Medien wie Funk, Fernsehen und jetzt dem Internet übernommen worden sind. Die Anzahl der Einzeltitel hat sich auch durch Fusionen vermindert. Die Erscheinungsfolge ist sehr viel dichter als heute gewesen. Die
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großen überregionalen Zeitungen wie z.B. die „Frankfurter" sind an jedem Tag, auch sonntags, dreimal erschienen, in einer ersten und zweiten Morgenausgabe und einer Abendnummer. Das sind 90 bis 93 Exemplare im Monat oder 1093 in einem Jahr. So umfasst das Textkorpus einer überregionalen Zeitung bei dreimaligem täglichen Erscheinen zwischen 1919 und 1933 rund 15.300 Nummern, die allerdings jeweils eine geringere Seitenzahl haben als die heutigen Tagesexemplare, da vor allem die Anzeigenteile wesentlich schmaler sind. Solche Textmengen können nur in einem langfristigen Forschungsprojekt analysiert und ausgewertet werden. Hier liegt vermutlich einer der Gründe, weshalb dies bisher noch nicht geschehen ist. Dazu kommt die mühsame und deshalb zeitaufwendige Lesbarkeit der Mikrofilme, die den Text weiß auf schwarz in kleiner Schrift konservieren. Ein umfassendes Erscheinungsbild von der deutschen Pressesprache während der 14-jährigen Weimarer Republik kann auf Grund meiner Stichproben natürlich nicht entstehen, auch wenn man sie ausgiebig erweitern würde. Es ist lediglich möglich, einen kurzen Einblick in die aspektreiche Vielfalt zu geben, um die Dringlichkeit einer noch ausstehenden Untersuchung zu betonen. Hermann Hesse beurteilt diese Jahre ähnlich wie Alfred Döblin. Er nennt sie „merkwürdig" (Hesse 1970, 323); denn sie seien eine „trübe, verzweifelte, und doch so fruchtbare Zeit nach dem großen Krieg" gewesen. Er empfindet die Depression, aber er sieht auch die hoffnungsvollen Keime des Neuen und die damit verbundenen Experimente, ohne allerdings zu ahnen, dass sie ein Jahr später von Hitler erstickt und zunichte gemacht werden sollten. Denn der Befehl zur Bücherverbrennung nahm einer großen Zahl deutschsprachiger Autoren ihre Wirkungsmöglichkeiten und vertrieb sie aus ihrer muttersprachlichen Heimat in die fremdsprachliche Emigration, z.B. Bert Brecht, Arnold Bronnen, Hilde Domin, Hans Fallada, Leonhard Frank, Thomas und Heinrich Mann, Anna Seghers, Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Stefan Zweig, Jakob Wassermann, Franz Werfel, Carl Zuckmayer u.v.m. Sie alle haben schon vor 1918, vor der Ausrufung der Republik, geschrieben. Nach Kriegsende treten sie mit neuen Publikationen hervor und werden viel gelesen oder im Theater gespielt. Sie prägen qualitativ das Niveau der gebildeten Sprachrezeption. Nach 1933 verschwinden sie plötzlich, weil ihre Lektüre als staatsgefährdend verboten wird. Junge Leute kennen am Ende der nur 12-jährigen Naziherrschaft nicht einmal mehr ihre Namen, geschweige denn ihre Bücher, wie den „Prozess", die „Buddenbrooks", den „Mann ohne Eigenschaften" oder den „Steppenwolf'. Deshalb ist es wichtig, diesen gewaltsamen literarischen und sprachlichen Abbruch zu untersuchen, der einen großen Teil der deutschen Gegenwartsliteratur aus dem Rezeptionshorizont der deutschen Leser verbannt hat. Die Folgeschäden dieser unglaublichen individuellen Sprachregelung haben weit über 1945 hinaus gewirkt. Die deutschen Texte, die während der 15 Jahre zwischen 1918 und 1933 der lesenden Bevölkerung zur Verfugung gestanden und Einfluss auf ihre sprachliche Bildung genommen haben, zeigen eine heterogene Vielfalt. Deshalb
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eröffnet sich für die Untersuchung von Lexikon und Stilistik ein weites Feld. Neben die stilistisch unterschiedlichen Textformen verschiedener -ismen (Naturalismus, Impressionismus, Expressionismus, Symbolismus) tritt die Maschinen- und Industrieliteratur, deren Autoren mit den Arbeitersonetten (Heinrich Lersch) und dem Reportageroman (Egon Erwin Kisch) industrielle Ballungsgebiete wie z.B. das Ruhrgebiet als Ausgangspunkt einer neuen literarischen Ästhetik entdecken. Die umfangreiche expressionistische Lyrik experimentiert auf überraschende Weise mit der Sprache. Sie probiert ungewohnte Formen aus, bricht die Syntax und Wortbildungen auf und eröffnet zwischen den dabei entstehenden Wort- und Satzfragmenten neue semantische Beziehungen. Diese Technik steckt sogar die trivialen Texte der Schlager an, die wie die Lieder der Comedian Harmonists mit spielerischem Witz und Paradoxien der Unsinnspoesie nahe stehen. In enger wechselweiser Beziehung mit der später ins Exil verbannten Literatur und der eben genannten Lyrik stehen alle anderen künstlerischen Ausdrucksformen wie Musik, Tanz, Malerei, bildende Kunst, die Architektur des Bauhauses, das Kunstgewerbe des Werkbundes und Fotografie und Film. Allen gemeinsam ist der Mut zu neuen Ausdrucksformen und zum Experiment, d.h. in dieser politisch unruhigen und wirtschaftlich erfolgs- und trostlosen Zeit entfaltet sich in Deutschland ein künstlerisches Potential von beachtlicher Kreativität. Es ist, wie Hermann Hesse richtig sagt, eine fruchtbare Zeit trotz der chaotisch trüben Verhältnisse in Politik und Wirtschaft. Alle neuen Ansätze werden nach 1933 jäh abgewürgt und vernichtet. Doch sie wirken, und das ist ein tröstliches Zeichen ihrer ungebrochenen Vitalität, im Exil (z.B. in den Vereinigten Staaten) erfolgreich weiter und finden sogar, wenn man z.B. an die Ideen des Bauhauses und an die Literatur denkt, nach 1945 wieder nach Europa zurück. Nicht vergessen werden darf die Kriegsliteratur als spezielle Gattung, die in diesem Umfang nach 1945 nicht entstanden ist. Sie gewinnt in den 20er Jahren viele Leser. Der Erfolg der beiden realistisch-kritischen Antikriegsbücher von Ludwig Renn „Krieg" (1928) oder ein Jahr später von Erich Maria Remarque „Im Westen nichts Neues" wird sehr bald eingeholt von Georg von der Vring, Rudolf Georg Binding, Werner Beumelburg und Edwin Erich Dwinger mit Schilderungen der heroischen Seiten des Krieges, der treuen Kameradschaft, der Opferbereitschaft für das Vaterland, der Verklärung des Heldentodes und der Dolchstoßlegende als Verklärung der Niederlage (Ketelsen 1992). Ihre großen Auflagenerfolge spiegeln die Mentalität der vielen rechts ausgerichteten deutsch-nationalen Leser. Diese Frontsoldaten- und Schützengraben-Literatur verherrlicht pathetisch den Ersten Weltkrieg und findet eine breite Resonanz in der jungen Generation. Dadurch wird dem Nationalsozialismus der Boden bereitet. Diese beiden Seiten des Krieges werden auch in den Zeitungen thematisiert. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi wendet sich 1922 in der Vossischen Zeitung scharf gegen die unzeitgemäße Verherrlichung des Krieges, den er
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einen Kulturschädling und Anachronismus nennt (Leitartikel 1964, 57-62). Für ihn, einen der früh überzeugten Pan-Europäer, ist jeder künftige Krieg ein Bürgerkrieg. Im gleichen Text verwendet Coudenhove-Kalergi das von ihm gebildete Kompositum .Arbeitsfront' (ebd., 58), weil er meint, die Menschen müssen künftig die Arbeit und nicht mehr den Krieg zum Ziel haben. Elf Jahre später stehlen ihm die Nationalsozialisten diesen Begriff, um ihre Nachfolgeorganisation der Gewerkschaften so zu benennen. Hellmut von Gerlach fragt 1930, als bei der Reichtagswahl am 14. September die Nationalsozialisten die Zahl ihrer Mandate von 12 auf plötzlich 107 vergrößern konnten, in einem Leitartikel der „Welt am Montag", woher Hitler die 6,5 Millionen Stimmen fur seinen Erfolg hat gewinnen können (ebd., 107-110). Er meint, er verdanke sie vor allem den jungen Wählern, die den Krieg nicht kennen und sich deshalb für ihn begeistern. Es gibt Pressemeldungen über Ereignisse, die nach 1945 undenkbar gewesen wären. So berichtet z.B. die „Frankfurter Zeitung" am 4. Dezember 1919, also mehr als ein Jahr nach dem Ausrufen der Republik, dass Generalfeldmarschall von Mackensen, der in Rumänien gekämpft hatte, bei seiner Rückkehr auf einem Berliner Bahnhof von seiner Familie, von Generälen und Offizieren empfangen wird. Eine Deputation seines Regiments überreicht ihm einen goldenen Lorbeerkranz. Die Offiziere werden stets mit ihrem Dienstgrad genannt. Die Presse ist zwar ein textreicher, aber doch ein spezifisch eingeschränkter Sektor. Ich gebe hier als erste Probe Einblick in eine kleine Auswahl von zehn umfangreichen Leitartikeln namhafter Journalisten, die über die 14 Jahre gestreut sind und deren Gedanken weiter als einen Tag gewirkt haben. Sie entstammen folgenden überregionalen Zeitungen: „Arbeiterzeitung", „Berliner Tageblatt", „Der Angriff', „Die Sonntagszeitung", „Die Welt am Montag", „Süddeutsche Sonntagszeitung" und „Vorwärts". Dazu kommen zahlreiche kleinere Artikel aus der „Frankfurter Zeitung". 1 Schließlich noch ein Wort zur Reportage. Sie ist in den 20er Jahren als neue Textsorte der Sachlichkeit zwischen Literatur und Bericht entstanden und befasst sich in den ersten Jahren vor allem mit den rasch wachsenden Großstädten und den industriellen Ballungsräumen, besonders mit dem Ruhrgebiet. Klaus Herrmann schreibt dazu: „Als Hochöfen und Waffenfabriken ihre Arbeit begannen, muteten die lyrischen Tiraden weltfremder Schwärmer zwecklos und lächerlich an; wollte einer noch mit Schreiben sein Brot verdienen, mußte er in den Dienst der Zeitmacht Presse treten. So entstand, als Reisebericht zuerst oder als Milieuschilderung, als soziale Anklage
D i e kurzen skizzenartigen Andeutungen sollen ins Gedächtnis rufen, dass es ein breites, sehr varietätenreiches, formal und inhaltlich höchst heterogenes Schrifttum gibt, das bei einer Analyse der Sprachverwendung zwischen 1918 und 1933 nicht mit kurzen Bemerkungen abgetan werden darf und auf eine sorgsame Auswertung wartet, die deshalb besonders wichtig ist, da dann der große befohlene Hiatus kommt, den regimetreue, aber blasse Autoren füllen.
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später [...] aus bitterer Notwendigkeit der Erkenntnis geboren, eine neue Richtung des Schrifttums: die Reportage." (Herrmann 1927, 166)
Die gigantische eisenverarbeitende Maschinenwelt über Tage ist fiir die Berichte genau so interessant wie der Bergbau unter Tage. In beiden Industriezweigen arbeiten Tausende von Menschen iur geringen Lohn und unter harten Bedingungen. Zugleich übt die unerbittliche Mechanik der automatisch gesteuerten Maschinen eine große Faszination auf den Reporter aus. Da Kohle und Stahl die beiden wichtigsten Reparationsgüter sind, die an die Siegermächte termingerecht in der geforderten Menge geliefert werden müssen, so ergibt sich ein großer Arbeitsdruck, ohne dass sich der Ertrag steigert. Das Revier fokussiert die zeitbedingten politischen und sozialen Probleme und Missstände der Nachkriegszeit auf engem Raum. Die Ursachen der daraus entstehenden Unruhen werden deutlich und schnell sichtbar: die französischbelgische Besatzung, die Kontraste von Kapital und Arbeitskraft, die Spannungen zwischen Maschine und Mensch, Reichtum und sozialem Elend, Großstadt und Gesellschaft, Geschichte und Gegenwart. Alle aktuellen Brennpunkte und Reibungsflächen der Nachkriegsgesellschaft werden deutlich. So wird das Revier zum Modethema der sozial engagierten und an der Maschinenwelt interessierten Autoren der Neuen Sachlichkeit (Egon Erwin Kisch „Der rasende Reporter", Erik Reger „Ruhrprovinz", „Reporter im Kohlenpott", Heinrich Hauser „Schwarzes Revier", Josef Winkler „Trilogie der Zeit" und Joseph Roth „Eine Straßenbahn im Revier", „Das Grubenpferd"). Es bekommt in den Reportagen Egon Erwin Kischs oder Joseph Roths sein Profil aus Feuer und Lärm, Ruß und Rauch mit bedrohlich großen Industriewerken, hässlichen Wohnsilos, trübseligen Städten, zersiedelter Landschaft und einer freudlosen, geschundenen Bevölkerung und dem bedrohlichen, aber auch imposanten Mechanismus der Maschinen. Zahlreich sind die Varianten der Geräusche (Rädergerassel, Schreie, brüllende Konverter, donnernde Walzstraßen, stampfende Motoren, pochende Schläge, Kraftgesumm, schrill) und trüben Farben (alle Grautöne bis schwarz, Nacht, nasser Asphalt, Kohle und Staub). Allein das glühende, geschmolzene Metall der Hochöfen gibt einen heißen, roten Farbakzent. So entsteht ein schwarzer Holzschnitt von lange haftender Überzeugungskraft. Denn das Bild hat sich so fest eingeprägt, dass es noch 80 Jahre später die Vorstellungen derer bestimmt, die noch nie das Land zwischen Lippe und Ruhr in seinem heutigen, völlig veränderten Zustand gesehen haben (Literatur II 1987, 622-638). Nach dem Kriegsende 1918 gibt es relativ einmütige Proteste gegen das Friedensdiktat der Entente mit den hohen, nicht erfüllbaren Reparationsforderungen und zugleich die konträrsten Meinungsverschiedenheiten der vielen großen und kleinen Parteien zwischen links und rechts über den richtigen politischen Weg. Die Gegensätze werden nicht nur verbaliter in scharfen Diskussionen, Streitschriften und Presseartikeln ausgetragen. Man scheut auch nicht vor brutalster Gewalt zurück.
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Dazu schreibt der Heidelberger Universitätsdozent E.J. Gumbel, dessen Name 1933 auf der ersten Liste der Ausgebürgerten steht, am 13. Mai 1922 in der in Heilbronn erscheinenden „Süddeutschen Sonntagszeitung": „Der Verfall der politischen Sitten hat in den letzten Jahren in Deutschland eine Massenerscheinung hervorgebracht, die vordem hier vollkommen unbekannt war: den politischen Mord. In den drei Jahren 1919 bis 1921 sind 3 7 8 Morde von rechts und 2 0 von links vorgekommen. A u f diese Weise sind fast sämtliche Führer der extremen Linken durch ungesetzliche Handlungen beseitigt, dagegen ist kein einziger Führer der extremen Rechten getötet worden." (Schaber/Fabian 1964, 3 3 9 341)
Und weiter unten heißt es: „Der Erfolg dieser Morde ist um so größer, als keinerlei Strafe erfolgt ist." (ebd., 339). Unter den Ermordeten befinden sich Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Matthias Erzberger und Walther Rathenau. Vor diesem Hintergrund der politischen Unruhen und Morde, der Notsituationen von Inflation, wirtschaftlicher Rezession und der mit ihr verbundenen Massenarbeitslosigkeit wirkt es geradezu frivol, diese Jahre als die .Golden Twenties' zu bezeichnen. Vermutlich ist dieser Ausdruck eine gedankenlose Entlehnung aus dem Amerikanischen, wo er als nostalgische Erinnerung an die andersartigen Lebensbedingungen in den USA während der Nachkriegszeit seine Berechtigung haben mag. Oder aber er bezieht sich in Deutschland auf die hektisch rege Unterhaltungsindustrie. Sie hat viele schmissige Schlager mit absurd witzigen Texten (z.B. „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad"; „Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt"), melodiös süffige Operetten (z.B. Lehár: „Schön ist die Welt", „Das Land des Lächelns", in Kálmáns „Czárdásfurstin" hängt „der Himmel voller Geigen" und „Im weißen Rössl" von Benatzky singt man „Die ganze Welt ist himmelblau") sowie Boulevardstücke und Filmkomödien aus der Traumfabrik in dichter Folge hervorgebracht, um die Depression und die Not dieser Jahre mit Fröhlichkeit gespenstisch zu überdecken. Das gleiche Rezept haben mit eben solchem Erfolg die Nazis während des Zweiten Weltkrieges angewandt. Am 9. November 1918 hat Reichskanzler Prinz Max von Baden die Abdankung des Kaisers verkündet und die Geschäfte an Friedrich Ebert als Reichskanzler übergeben. Am gleichen Tag ruft Philipp Scheidemann die Republik aus. Dem Thronverzicht des Kaisers und seiner Flucht in die Niederlande räumen die Zeitungen auffallend wenig Raum ein. Den heutigen Leser mag überraschen, dass sich die Benennungen der Regierungs- und Verwaltungsbehörden und -instanzen nicht ändern. So bleibt etwa das Präfix Reicherhalten, obwohl sich die Gewichtung Deutschlands durch Landabtretungen und den Verlust der Kolonien erheblich vermindert hat und man meinen könnte, flir die Siegermächte wäre der Begriff Reich ein Allergicum. Aber die Bezeichnungen Deutsches Reich, Reichsregierung, Reichskanzler, Reichsinnenminister, Reichswehr, Reichsbank, Reichsgericht, Reichsfinanzhof, Deutsche Reichsbahn, Deutsche Reichspost etc. halten sich bis 1945. Ja, es kommt, wie
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man am Titel Reichspräsident fiir das neue Staatsoberhaupt sieht, sogar zur Neubildung. Später bürgert sich anstelle Deutsches Reich die Titulatur Deutsche Republik ein. Ein Grund für die Beibehaltung der Namen von Ämtern, Behörden, Instanzen und Titeln könnte darin liegen, dass die deutsche Beamtenschaft nach dem Kriegsende geblieben und erst sehr viel später und nur punktuell ausgetauscht und ersetzt worden ist. So orientiert sich der Gang der administrativen Geschäftsabläufe am Usus der Kaiserzeit und bleibt deshalb trotz rascher Regierungswechsel (es waren immerhin 20 in den 14 Jahren der Weimarer Republik) relativ stabil. Das gilt ebenfalls fiir die Verwaltungssprache, die sich mit ihren offiziellen Verlautbarungen im Sprachgebrauch der Presse niederschlägt. Verändert haben sich in den Zeitungen weniger Lexik und Syntax als der Ton in der politischen Auseinandersetzung. Da gibt es auf der einen Seite das hohe, nationale Werte beschwörende Pathos, um die Niederlage übertönend zu ignorieren, und auf der anderen werden im harten Konkurrenzkampf der vielen Parteien um die Gunst des Wählers alle Mittel schmähender Demagogie und hetzender Agitation in bemerkenswerter Schärfe verwendet. Bei der Betrachtung der Texte zeigen sich Lücken und Änderungen der Textsorten, die dem heutigen Leser sofort auffallen. Dafür zwei Beispiele: (1) Es fehlen die heute in jeder Zeitung selbstverständlichen und sehr ausführlichen Berichte über alle erdenklichen Sportarten. Da die Wettkämpfe am Wochenende stattfinden, nehmen die Reportagen über den Verlauf und die Ergebnisse in den überregionalen Blättern wie auch in den lokalen einen großen Teil der Montagsnummern ein. Das gibt es in den 20er Jahren noch nicht, und damit entfällt ein breites Fachvokabular, das heute auch von den sportlichen Laien passiv und aktiv beherrscht wird. (2) Bei der Änderung der Textsorte denke ich vor allem an die Form der Theaterkritik. Sieht man einmal von überragenden Kritikern wie Alfred Kerr ab, so erzählt der Rezensent zuerst den Gang der Handlung und würdigt dann die Leistung der Schauspieler. Vom Regisseur, seiner Interpretation des Stückes und damit der Konzeption der Inszenierung beides steht heute im Mittelpunkt der Theaterkritik - wird in der Regel nichts geschrieben. Das Vokabular hat kaum Anglizismen, überhaupt nur wenige Fremdwörter, und fast keine Abkürzungen. Beides ist aus Texten der gegenwärtigen Pressesprache nicht wegzudenken. Selbst die Namen der Parteien werden vollständig ausgeschrieben, vermutlich, weil man bei ihrer Vielzahl dem Gedächtnis des Lesers die Entschlüsselung der Abkürzungsbuchstaben nicht zumuten kann und erklärend helfen muss. Das Fehlen der Anglizismen deutet auf die Distanz zum anglo-amerikanischen Sprachraum hin. Proteste, Artikel oder Adressen an die Siegermächte werden entweder allgemein an die Entente oder allein an Frankreich gerichtet, dann in sehr kühlem, meist scharfem Ton. Auch ist zu bedenken, dass Werbung und Reklame noch nicht ihre suggestive Wirkung ausüben. Sie füllen erst von der Mitte der 20er Jahre an flächendeckend die Zeitungen mit großen Anzeigen und orientieren sich dann
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besonders an amerikanischen Verkaufs- und Werbestrategien. Dabei werden nicht nur das Design übernommen, sondern auch Muster der Wortbildung und Kunstwörter. Ich könnte mir denken, dass die Entwicklung der Überschriften in den Zeitungen zu gesteigerten und sensationslüsternen Schlagzeilen, die es in dieser Form unmittelbar nach dem Krieg kaum gibt, vom Beispiel der Werbungssuperlative beeinflusst worden ist. Die folgenden Belege sind keine Anzeichen eines neuen Wortschatzes oder Sprachgebrauchs. Sie hat es vermutlich schon vor 1918 gegeben. Aber sie stehen in den von mir untersuchten Texten und fallen vom heutigen Standpunkt der Beobachtung auf, da sie in dieser Weise nicht mehr verwendet werden. So zeigt sich bereits die Tendenz, neue Komposita aus einer Addition von zahlreichen Konstituenten zu bilden. Das längste Wort, das ich gefunden habe, ist die sechsgliedrige Schuhmacherbedarfsartikelgroßhandlung aus dem Jahr 1919. Manche technischen Bezeichnungen sind heute veraltet, weil es die gemeinte Sache nicht mehr oder in einer weiterentwickelten, ganz anderen Form gibt: Automobil, Autobetriebsstoff (Benzin), Dampfstraßenwagen, Drahtfedermatratzen, Drahtmeldung (telegrafische Nachricht), die Elektrische (Straßenbahn), Elektrodenkohlenabfälle, Flüssigkeitswagen (Kesselwagen), Klingeldraht, Neuzeitliches Luftverkehrsunternehmen (Zeppelin), Tauchboot (Unterseeboot, U-Boot), Telefondraht, Zeitaufschreibuhren (Stechuhren). Altertümlich erscheinen uns einige Berufsbezeichnungen, die auf Entlehnungen aus dem Französischen oder Lateinischen beruhen und sich im österreichischen Deutsch noch länger gehalten haben, wie etwa Akquisiteur (Kundenwerber), Arbitrageur (Schiedsrichter), Direktrice, Konto-KorrentBuchhalter, Medizinaldrogist, Tarifeur (jemand, der Preise festlegt) oder Vorkalkulator (ein Angestellter des Rechnungswesens). Auch stilistisch begegnen ältere Wendungen, die man vielleicht in der Gartenlaube des 19. Jahrhunderts, aber nicht in einem Zeitungstext der Nachkriegszeit erwartet: „Schmucklos sind die Privathäuser, meist bloß eines, höchstens zweier Stockwerke teilhaftig geworden; im Lichte mussolinischer Gnade wandeln" oder „Zart schwingt des Richters Seele unter der schweren Maske des Formalismus mit den Mördern mit; Affichen kleben an den Häuserwänden." Man denke an das Zitat Döblins zur unzeitgemäßen Verspätung stilistischer Phänomene. Pluralbildungen von Stoffbezeichnungen, auf die immer wieder als spezielle Neubildungen heutiger Fachsprachen hingewiesen wird, finden sich bereits in der „Frankfurter Zeitung" von 1919: Flanelle, Harze, Öle, Plüsche. Auffallend ist eine ausgeprägte Bildhaftigkeit der Sprache: z.B. „Der Kuppelturm eines Verwaltungsgebäudes, einem Mausoleum gleich"; „die Sonne seines Wohlwollens"; „der Prozess ist ein freches Theaterstück"; „das nationalsozialistische Hexeneinmaleins ist fur politische Analphabeten gedacht" etc. Auf diese Weise gewinnen die abstrakten politischen Texte der Leitartikel an Anschaulichkeit. Auch die Industriereportagen der neuen Sachlichkeit verzichten nicht auf farbige Metaphorik: „Im Forst der Schlote"; „die
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Winderhitzer in Form gefüllter Kalodonttuben"; „das Roheisen fließt [...] kaskaden-fröhlich in tausende silberne Tröpfchen zerstiebend". Es gibt eine Menge Neologismen (z.B. Hauptwähler, Stehkragenproletarier, Bandentum, Halbstarke, politische Analphabeten, Arbeitsdienstpflicht, Novemberverbrechen, die staatliche Umwälzung), welche die Ereignisse des politischen Tagesgeschehens bezeichnen. Obwohl die Zeit voller innenpolitischer Turbulenzen ist, sich die rasch einander ablösenden deutschen Regierungen um Reformen bemühen und die Außenminister die schwere Aufgabe haben, das Reich in die Gemeinschaft der europäischen Staaten wieder einzugliedern, ist die Anzahl der dabei entstehenden Neologismen vermutlich sehr viel kleiner als nach 1945. Da es keine messbaren Belegkorpora gibt, sind die eigenen Vergleichseindrücke allein die Grundlage dieser vagen Behauptung. Die revolutionären Aufstände von Wolfgang Kapp (1920 in Berlin) und von Hitler und Ludendorff (9. November 1923 in München) gehen jeweils als Putsch in die Geschichte der Weimarer Republik ein. Putsch wird im Herkunftswörterbuch des Duden als „politischer Handstreich" definiert. Es ist ein Schweizer Wort aus der Zeit von 1830 und wird als Lautmalerei eines knallenden Zusammenstoßes oder Schussgeräusches gedeutet (Duden 7 1989, 561). Es erscheint häufig und in verschiedenen Zusammensetzungen {Putschplan, Putschvorbereitung, Putschversuch, Kapp-Putsch, Militärputsch) und einer Ableitung (Putschist). Die „Frankfurter Zeitung" belegt am 16. März 1920 den Plural Putsche (reaktionäre Putsche, linksextreme Putsche), den der Duden nicht nennt. Anlässlich solcher politischen Ereignisse geben die Redaktionen Extrablätter heraus. Die Arbeiter- und Soldatenräte, die sich in den großen Städten bilden, fuhren zu den Bezeichnungen Räterepublik und Rätesystem. Die zunächst provisorische Regierung des ersten Reichskanzlers Ebert heißt Rat der Volksbeauftragten. Die vielen neuen Gesetze tragen alle Namen: Ermächtigungsgesetz, Republikschutzgesetz, Steuernotverordnung etc. Von der langen Reihe der Neubildungen, die nur noch in Akten und historischen Darstellungen ihr passives Sprachdasein fristen, sind vermutlich die beiden Begriffe Goldmark und Rentenmark als Endpunkte der Inflationszeit noch heute bekannt. Niemand wird mehr wissen, dass Brothilfe und Mehlaushilfe die Überschriften für oft wiederholte Appelle sind, um 1919/20 den österreichischen Nachbarn während einer dort grassierenden Hungersnot zu helfen. Meine Beobachtungen zu deutschen Sprachzeugnissen in den Jahren zwischen 1918 und 1933 möchte ich mit drei Textproben beenden. Sie zeigen, dass man das Nahen der politischen Katastrophe im Vokabular nicht greifen kann; denn es unterscheidet sich von dem der alltäglichen Kommunikation in nichts. Aber, und das ist die Gefahr und Chance des sprachlichen Ausdrucksvermögens, es fügt sich mit der demagogischen Agitation und den darauf folgenden scharfen und mutigen Repliken zu Sätzen von einer zeitbedingten Stilistik.
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Josef Goebbels, seit 1926 Gauleiter von Berlin und von 1927 bis 1933 Herausgeber der von ihm gegründeten Zeitschrift „Der Angriff', veröffentlicht dort am 14. November 1927 eine Proklamation, in der er als Wortführer des nationalsozialistischen Radikalismus Folgendes sagt: „An alle Deutschen! Männer wie Frauen! Es ist an der Zeit! Der Feind steht im Lande! Mitten unter Euch! Noch tanzt und jubelt Ihr und wollt ihn nicht sehen. Noch redet er Euch süße Worte vor von Völkerfrieden und Verständigung. Aber schon wißt Ihr's alle: Es ist Lüge! Es ist Lüge! Die Zeiten sind vorbei, wo Ihr an Phrasen und Versprechungen glaubtet. Das war einmal! Der hochgebildete deutsche Michel hat an den Ohrfeigen gelernt, die ihm die Geschichte der letzten zehn Jahre ins Gesicht geschlagen hat. Noch ist er zu faul und zu feige, mit seinen Verführern und Vernichtern aufzurechnen. Doch es wird Zeit! Es wird Zeit! [...] Statt zu handeln, schlagt Ihr Euch gegenseitig die Köpfe ein. Verdient Ihr denn nicht anderes als Hunger und Prügel? Ihr Dummen, Ihr Feigen, Ihr Kleinmütigen und Verzweifelten! [...] Wir rufen Euch auf! Ihr alle von Amboß und Feder, von Faust und Stirn! Ihr Männer und Frauen! Es ist Zeit! Es ist Zeit!" Der kurze Ausschnitt zeigt, wie geschickt die Mittel der Agitation genutzt werden: Anreden des Publikums, kurze Sätze, scharfe Kontraste, Wiederholungen, Alliterationen, Paarformeln, Ausrufe, herausfordernde Beschimpfungen der Zuhörer, rhetorische Fragen. Es entsteht ein vorwärtsdrängender Sprachrhythmus, der auf die Hörer und Leser suggestiv wirken und sie mitreißen soll. D i e Weimarer Republik endet am 30. Januar 1933 mit der Machtübernahme Hitlers. Einen Tag später schreibt Theodor Wolff, der ein bedeutender Leitartikler und bis 1933 Chefredakteur beim „Berliner Tageblatt" war: „Es ist erreicht. Hitler ist Reichskanzler. [...] Man müßte das deutsche Volk beklagen, aber mit Klagen und Jammern schafft man die Tatsachen nicht aus der Welt. Daß man Hitler einmal die Regierung überlassen werde und daß das deutsche Volk auch noch durch solch eine Periode hindurchmüsse, mit diesem Gedanken hatten sich allmählich auch die Widerstrebenden vertraut gemacht. [...] Es ist hier schon gesagt worden, welches die erste und, falls man nicht direkt in die Katastrophe hineintreiben wolle, die unerläßliche Bedingung war. Diese Regierung muß, wie jede andere, eine parlamentarische Mehrheit haben, und sie muß verschwinden oder sofort zu Neuwahlen schreiten, wenn sie die in der Verfassung vorgeschriebene Zustimmung der Mehrheit nicht erlangt." Aber weder das hoffnungsvolle Vertrauen Theodor Wolffs in die Wirksamkeit der Mechanismen einer mit der Verfassung scheinbar gesicherten Demokratie noch der folgende Aufruf des „Vorwärts" zum aktiven Widerstand haben etwas gegen Hitler auszurichten vermocht. Scharf reagiert am 2. Februar 1933 in Berlin der „Vorwärts" mit einem an Hitler und von Papen gerichteten Artikel, der mit den Worten schließt:
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„ S i e fordern das Vertrauen des V o l k e s ! Wir schreien Ihnen unser Mißtrauen ins Gesicht! Wir fordern alle, die die Freiheit ihres V o l k e s lieben, auf, sich um uns zu scharen und g e g e n Ihre Pläne den Vernichtungsfeldzug aufzunehmen [...]. Fort mit Euch!"
Der skizzenhafte Einblick in den Gebrauch der deutschen Sprache zwischen 1918 und 1933 zeigt eine große Vielfalt an Textsorten, die vor und während des Ersten Weltkrieges noch nicht üblich gewesen sind. Es zeigt sich vermutlich ein vermehrter Zuwachs im Vokabular und in den Stilarten. Aber auf keinen Fall sind die nach 1918 auftretenden Veränderungen im Gebrauch der deutschen Sprache im Umfang und in der Gewichtigkeit mit denen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 zu vergleichen, so dass es keinen solchen Einschnitt gibt. Diese hypothetischen Feststellungen stützen sich auf meine (im Vergleich zum riesengroßen und varietätenreichen Korpus der vorhandenen Texte) nur selektiven Beobachtungen, die anregen mögen, sich in einem größeren Forschungsprojekt mit der deutschen Sprache während der Weimarer Republik zu befassen.
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DiETz BERING
Juden und die deutsche Sprache Fundierung eines Forschungsprojekts Es gibt zuweilen Einfalle, die sich nicht abschütteln lassen, obwohl sie zuerst ziemlich befremdlich, ja bedenklich erscheinen. Handelt es sich obendrein um das deutsch-jüdische Verhältnis, so ist man besonders vorsichtig. Tritt einem dieser Gedanke aber schon seit vielen Jahren immer wieder entgegen, sollte man schließlich vielleicht doch nachgeben und seine Tragfähigkeit systematisch prüfen. Die These, die ich verfechten will, klingt fast skandalös, und man kann sie nur ungeschützt an den Anfang stellen, wenn man gewichtige Plausibilitäten nachliefern und Erklärungspotential anbieten kann, das einen geordneten Blick auf Felder freigibt, auf denen man bisher vielerlei Widersprüche sieht. Die These lautet: „Juden und Deutsche sind ein ,cultural pair'." 1 Sie sind sich also nicht fremd, sondern nah verwandt. Und fur diesen spezifischen Hörerkreis sei als zweites hinzugefügt: Die Strebungs- und Begabungsgleichheit von Juden und Deutschen lässt sich zwar auf vielen Ebenen zeigen, besonders deutlich aber auf dem Gebiet der Sprache. Ich gehe nun davon aus, dass die zweite These die erste ein wenig erträglicher macht, so weit zumindest, dass man sie zunächst einmal für erwägenswert halten kann. Zu einer gewissen Plausibilität wird man es bringen, wenn man zum einen sehr genau den forschungshistorischen Moment beschreibt, an dem man ansetzt. Die Darlegungen seien daher mit einem themenrechtfertigenden Block begonnen. Er handelt drei Fragen ab: (1) Warum ist ein Zeitpunkt erreicht, der solche Fragestellung möglich macht, sie statthaft und fruchtbar erscheinen lässt? (2) Wieso kann man zur Ansicht kommen, dass gerade die Sprachhistoriker kulturgeschichtlicher Prägung in den letzten Jahren auf die hier verfochtene These zugearbeitet haben? (3) Gibt es Möglichkeiten, die Stärke der These nachzuweisen und dennoch in gebührender Entfernung jenes Skandal-Versuchs zu bleiben, die Juden nun zu guter Letzt noch auf die Ebene ihrer Mörder zu ziehen?
Ich habe diese Ansicht mehrfach verfochten, am zugespitztesten 1999, am ausführlichsten 1998, am frühesten 1986. Der vorliegende Aufsatz dient eher einer umfassenden theoretischen Grundlegung. Daher bringt er auch Quellen- und Argumentationsmaterial nicht in solcher Fülle, dass die Thesen bewiesen sind, sondern genau so viel, dass sie nicht mehr als diskussionsunwürdig zurückgewiesen werden können.
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Ich hoffe, alle drei Fragen mit einem befriedigenden, das Projekt stützenden Ergebnis abhandeln zu können. Gerade weitläufige Präliminarien werden dann zum anderen die Frage nach den konkreten Forschungsfeldern aufwerfen. Gesetzt also, es kommt heraus, dass die aufgestellte These statthaft ist und Erklärungspotenz besitzt, durch welche konkreten Analysen auf welchen Arealen kann man sie stark machen? In diesem Forschungsfelder absteckenden Block werden drei Punkte genannt, aus Zeitgründen aber nur zwei umfassender abgehandelt. Es stehen da zur systematischen Prüfung an: (1) Wo sieht man die Parallelen zwischen Deutschen und Juden in ihrem Verhältnis zur Sprache? (2) Wie werden Juden und Deutsche vom Ausland, von Frankreich und England aus gesehen? Werden sie als gegensätzlich oder als gleich wahrgenommen? 2 (3) Sind die Zionisten bei der Fundierung ihres ersehnten Staates einen ganz eigenen Weg oder einen typisch deutschen Weg gegangen? Hat die globale These - zunächst - etwas Skandalöses an sich, so können ihre Unterpunkte nicht besonders anheimeln; auch sie müssen konsequenterweise zunächst etwas befremdend sein.
1. Rechtfertigung der Forschungsziele 1.1. Der Zeitpunkt der Fragestellung Die denkerische und psychische Bewältigung der deutsch-jüdischen Katastrophe war in den fünfziger und sechziger Jahren noch stark beeinflusst von Juden, die ihre geistige Prägung im bürgerlichen Deutschland und Österreich bekommen hatten. Walter Grab z.B. pries Israel zwar als Land, das ihm das Leben gerettet habe, wandte seinen bewundernden Blick aber nicht von der eben auch in dieses Israel geretteten deutschen Klassikerbibliothek ab, die er, (komplett!) zu Bar-Mizwah bekommen hatte. Er traf sich, selbst in Kriegszeiten, mit Gleichgesinnten in Hinterzimmern von Cafés, gab sogar eine kleine Zeitschrift über deutsche Literatur heraus und stellte sie erst ein, als die Kioske, die sie verkauften, immer wieder demoliert wurden. Eine ähnliche geistige Ikonografie könnte man von der grandiosen Eva G. Reichmann zeichnen, die in London zu besuchen mir noch vergönnt gewesen ist, wo sie mir - halb traurig, halb beflügelt - gleich bei der Begrüßung mitteilte, sie habe gerade beim Spülen mit ihrer Freundin so herrliche deutsche Volkslieder gesungen.
Man kann sich hier, aufgrund des größeren Abstandes der Beobachter, besonders interessante Ergebnisse versprechen. Ähnlich scharfsichtig (im Doppelsinne) und triftig in ihrem Urteil könnten auch konkurrierende jüdische Gruppen sein, z.B. deutschlandorientierte C.V.-Juden vs. Israel zugewandte Zionisten. Das Hauptorgan der letzteren, die „Jüdische Rundschau", resümiert am 11. Januar 1921, 13 so: „Der aus dem Zeitalter der Emanzipation stammende Gedanke, Judentum und Deutschtum [...] seien sozusagen füreinander bestimmt [!], müssten sich zur höheren Einheit [!] verbinden, bis das Eine dem Anderen zum .unauflöslichen Bestandteil' wird - diese ganze Metaphysik der Assimilation lehnen wir ab." Das geht gegen eine offensichtlich vitale Gegenwart, nicht gegen eine abgestorbene Vergangenheit.
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An jüdische Deutsche dieser Prägung müssen Vergangenheits-Bewältiger gedacht haben, wie z.B. Manfred Schlösser, als er 1962 Gershom Scholem zu einem Beitrag über das „im Kern unzerstörbare deutsch-jüdische Gespräch" aufforderte. Dieser wies solche Denkvoraussetzungen mit einer derartigen Verve und argumentativen Kraft zurück, dass eigentlich kein Weg denkbar ist, wie man um die Meinung dieses unbezweifelbar Bedeutenden herumkommt: Ein tiefer, nicht zu überbrückender Graben habe in Wirklichkeit zwischen den Deutschen und Juden gelegen. Einen „Schrei ins Leere" 3 habe man zwar auf der jüdischen Seite gehört, jedoch keinerlei Echo auf der deutschen. Seit dem Diktum dieser übermächtigen Autorität sind die Denkbahnen eigentlich festgelegt. Ähnlich gesonnene Wissenschaftlerinnen eher zionistisch geprägter Provenienz dominierten den deutsch-jüdischen Diskurs, wie Jacob Katz oder die in den USA noch hervorragend sozialhistorisch ausgebildete Shulamit Volkov als eine exponierte Vertreterin der zweiten Generation. Was sie festschrieben, gilt heute weithin: Kernpunkt des deutschen Antisemitismus und damit auch des Holocaust ist die tief verwurzelte Fremdheit, die Deutsche und Juden trennt. 4 Auch der hier Vortragende hat eher diese Grundstellung eingenommen, als er über Alltagsantisemitismus mittels Namenstigma gehandelt hat. 5 1.2. Das Konzept von der deutschen Kultumation; der Beitrag der Sprachhistoriker Es ist nun allen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, in erster Linie aber wohl den energischen Anstrengungen von mentalitätsgeschichtlich interessierten Sprachwissenschaftlern zu danken, also Peter von Polenz, Joachim Gessinger und Andreas Gardt (um von den vielen nur einen der Granden, einen besonders Profilierten und einen bemerkenswerten Nachrücker zu nennen), dass das Konzept der ,Kulturnation' als Zentralbegriff für die deutsche (Sprach-) Geschichte intensiv untersucht worden ist. Es steht jetzt fest: Erst die deutsche Kultur und in dieser vor allem die deutsche Sprache hat ein Anfangskristall, einen Nukleus geboten, durch dessen formierende Kraft die fehlende politische Verfasstheit ausgeglichen, vorausgespiegelt und schließlich ziemlich glatt in die Realität 3 4
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Scholem 1977a, 7f. So immer wieder und allenthalben. Ich beschränke mich hier auf Beispiele aus Katz 1989, z.B. Kap. 6 „Nationalismus und Romantik" (77-94): 80f., 90; Kap. 20 „Methodischer Exkurs" (236-253): 237, 242, 251. Außer solchen Einzelnachweisen: Ganze Publikationen sind auf diese Fremdheitsthese gebaut, vgl. z.B. Alter u.a. 1999, vgl. aber genau da den Aufsatz von Mosse 1999, um sofort die Brüchigkeit dieses Ansatzes zu sehen. Interessant auch, dass von literaturwissenschaftlicher Seite in der neuesten umfassenden Publikation über „Nation und Sprache" an der einzigen ausführlicheren Stelle über Juden wieder folgendermaßen auf sie rekurriert wird: „Sie als ,Fremde' und .Ausländer' aus der Nationalkultur auszugrenzen, weil sie durch Bildung niemals an der .geschichtlichen Gemeinsamkeit' der Nationalsprache und daher umso viel weniger am .Volksgeist' zu partizipieren imstande seien, war schon früh das wohlfeile Argument [...]." Harth 2000, 368. Bering 1987.
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gezwungen werden konnte. Freilich, die Machtpolitiker hatten bei der Abschlussprozedur einen größeren Anteil, als einer ,Kultumation' gut tun konnte. Nun ist eine Debatte gegen Übermächtige (und ein solcher ist sicherlich Gershom Scholem) am ehesten ausgeglichen zu gestalten, wenn man nicht totalitär gegen sie angeht, sondern ihre eigenen Festlegungen akzeptiert, diese dann aber mit neuen Forschungsergebnissen so zusammenführt, dass doch eine andere Sicht der Dinge möglich wird. Es hat sogar Scholem zugestanden: In einem Punkte kam es allerdings zu einer wirklichen Berührung zwischen Deutschen und Juden, dies, weil sich nämlich in einem besonderen Moment die Schranken öffneten. Der Moment der Emanzipation war eben auch die Blütezeit der deutschen Klassik, jener Kulturformation also, die für das 19. Jahrhundert und weitere Jahrzehnte im 20. bestimmend blieb. Sogar Scholem spricht von der „Amalgamierung [!] einer großen historischen Stunde". 6 Über diese Relaisstation gab es also tatsächlich einen innigen Kontakt. Was Scholem nun vielleicht als nicht sonderlich großes Zugeständnis meinte konzedieren zu können, das ist eben nicht zuletzt durch die oben apostrophierte Forschung der kulturhistorisch orientierten (Sprach-)Wissenschaftler als der essenzielle, die deutsche Geschichte über weite Strecken hin tragende Punkt herausgearbeitet worden. 7 Schon daraus folgt also vorab, dass die Kontaktfläche zwischen Juden und Deutschen erhebliche Breite gehabt haben muss. Dennoch: Der sich abzeichnende Grundriss des Projekts scheint noch etwas Erdachtes, vielleicht gar etwas Erkünsteltes zu haben. Gewiss, man spürt Erleichterung, wenn man z.B. bei Dietrich Harth liest: „Die Nationalbildung in Deutschland begann als ein säkulares Buchstabengewächs, Frucht einer tief verankerten Schriftgläubigkeit [!], deren protestantisch-pietistischer Nährboden oft genug beschrieben worden ist."8 Unabweisbare Parallelen zu jenem anderen Volk des Buches ahnt man auch, wenn man von der Einschätzung des seinerzeit berühmten Literaturkritikers Wolfgang Menzel hört: eine „geheime Wahlverwandtschaft" habe der deutsche Nationalcharakter „mit den Büchern". 9 Aber wir brauchen mehr. Quellen, wirkliche Beispiele müssen her, in denen sich
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Es ist sinnvoll, die gesamte Passage Scholems anzuführen: „Die Intimität, die für die Juden die Beziehung zum Deutschen annahm, hängt mit der spezifischen historischen Stunde zusammen, in der sie entstand. [...] Man darf sagen, daß es eine glückliche Stunde war, in der die neuerwachende Produktivität der Juden [...] gerade auf den Höhepunkt einer großen Produktivität des deutschen Volkes traf, die ein Bild des Deutschen hervorrief, das vor 1940 auch durch viele bittere und später auch bitterste Erfahrung in sehr weiten Schichten nicht erschüttert worden ist. Diese Amalgamierung [!] einer großen historischen Stunde, für die Juden durch die Namen Lessing und Schiller bezeichnet, hat ihrer Intensität und ihrem Umfang nach keine Parallele in den Begegnungen der Juden mit anderen europäischen Völkern. [...] von diesem neuen Bild her fiel ein großer Schein auf alles Deutsche. Noch heute, nach so viel Blut und Tränen, können wird nicht sagen, daß es nur ein trügerischer war. Er war auch mehr. Er enthielt Elemente von großer Fruchtbarkeit, Ansätze zu bedeutenden Entwicklungen." Scholem 1977b, 29f. Aus der großen Zahl von Arbeiten zur Klassikorientiertheit der deutschen Kultur seien hier nur erwähnt: Frühwald 1986; Vosskamp 1987; Wiedemann 1993; Linke 1996. Harth 2000,362. Ebd., 364.
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ausgedehntere Reflexionen oder zumindest kurze Einräumungen über die angenommene Tatsache finden. Nun braucht man z.B. in „Im deutschen Reich", also in jenem zentralen Publikationsorgan der dominanten Mehrheit der deutschen Juden, nicht lange zu suchen. Mit ganzer Inbrunst beschwören da jene, die eben beides sein wollten: Juden dem Glauben nach, Deutsche der Nation nach, ihre Nähe und unverbrüchliche Treue zum Vaterland. Im Jahre 1897 geht ζ. B. in 37.000 Exemplaren ins Land: „In dieser Beziehung [sc. der Nationalität] haben aber die Juden eine merkwürdige Wahlverwandtschaft mit den Deutschen; sie assimilierten sich seit den Zeiten der Reformation keinem V o l k e so leicht wie dem deutschen." 1 0
Und in Kriegszeiten gaben die Juden, gesammelt im „Centrai-Verein", dem Herausgeber der zitierten Zeitschrift, dieser ihrer Denk- und Fühlrichtung noch mehr Emphase. Da liest man sogar: „Deutschland ist das Mutterland der jüdischen Seele", 11 welche Formulierung doch wohl einen ganz unerhörten Grad innigster Verwandtschaft anzuzeigen sich bemüht. Führt man nun derartige, leicht zu vermehrende Positionsmeldungen in die Diskussion ein, dann hat man sich wiederum ausgerechnet mit Scholem auseinanderzusetzen. In seinem umfassenden Aufsatz „Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900-1930" hat er 1978/1984 derlei Meinungen entgegengerufen: „Selbsttäuschung" (234, 252), „Blindheit" (247), „Trugbild" (252); zum Satz entfaltet, lautet das so: „Ich meine damit die für uns heute nahezu unfassbare, zu der allgemein anerkannten Kritikfähigkeit der Juden im Gegensatz stehende Neigung ihrer Mehrheit zur Selbsttäuschung über ihre Lage, j a zum Selbstbetrug."
Nun wollen wir nicht auf der Tatsache insistieren, dass da nicht einmal versucht wird, jenen selbst einbekannten Widerspruch zur sonstigen jüdischen Art aufzuklären. Wir wollen auch nicht weiter abwägen, dass wir seit Goldhagen doppelt vorsichtig geworden sind, wenn es darum geht, den gut 600.000 deutschen Juden kurzerhand zu erklären, sie seien zu dumm gewesen, der doch eigentlich offen mörderischen Ablehnung klar ins Auge zu blicken. Wir kommen besser durch folgende Kalkulationen zu unseren Beweiszielen: Zum einen könnte tatsächlich eine objektive Wesensverwandtschaft vorliegen, die von den einen, den Juden, erkannt, gepflegt und gefeiert, von den anderen aber trotz ihrer Existenz abgelehnt wird. Sie existierte also .objektiv'. Es wäre gewiss lohnend, diese objektiv verwandtschaftlichen Züge einmal zu benennen und auf sie bauende Diskussionen schlicht nachzuzeichnen. Ihrer realen Existenz könnte man besonders sicher sein, wenn man .christlichdeutsche' Stimmen anzuführen vermöchte, die den Juden diese Verwandtschaft 10 11
Im Deutschen Reich [IdR] 2/1896,366. ebd., 23/1917, 168.
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tatsächlich attestieren. Wir übergehen also Heinrich Heine, dessen Scharfsinn ihm nicht den Satz verbot: „Es ist in der Tat auffallend, welch innige Wahlverwandtschaft zwischen den beiden Völkern der Sittlichkeit, den Juden und Germanen, herrscht." 12 Wir kommentieren auch nicht weiter den wahrlich deutschen Ferdinand Avenarius, der jenen so vieles entlarvenden Skandalartikel von Moritz Goldstein über den „Deutsch-jüdischen Parnaß", also über die jüdische Dominanz in der deutschen Kultur, so kommentieren ließ: „Die Sozialpsychologie hat uns gelehrt, daß ein Einfluß [...] nur da erzielt werden kann, w o die Menge für diesen Einfluß prädestiniert ist, das heißt, wo zwischen dem beeinflussenden und dem beeinflußten Faktor eine tiefinnerliche Wesensverwandtheit besteht." 13
Lässt das schon aufhorchen, so staunt man über folgende Einlassung ausgerechnet eines besonders engagierten Zionisten von Auerbach nicht wenig: „Bei vielen Juden, gerade in Deutschland, ist die Vaterlandsliebe keine Heuchelei, sondern tiefes und wahres Gefühl, sie beruht auf der Wesensverwandtschaft zwischen Judentum und Deutschtum und auf dem innigen Zusammenhang der deutschen Juden mit der deutschen Kultur."14
Aber es gibt sogar wirklich Bestürzendes, das uns ganz sicher macht, eine Denklinie aufgespürt zu haben, die unbedingt prüfend nachgezogen werden muss. Hanno Loewy, der Direktor des Frankfurter Fritz Bauer Institutes, hat in der ZEIT folgende Äußerung Adolf Hitlers abdrucken lassen: „'Der Jude sitzt immer in uns' soll Hitler gesagt haben. .Aber es ist leichter ihn in leiblicher Gestalt zu bekämpfen als den unsichtbaren Dämon. Ist ihnen nicht aufgefallen, wie der Jude in allem und jedem das genaue Gegenspiel des Deutschen ist und ihm doch wieder so verwandt ist, wie nur zwei Brüder sein können.' [.. ,]"15
Das ist schlagend, wenn auch auf geradezu peinigende Weise. Wir sollten daher einhalten und vorweg kalkulieren, welchen Festigkeitsgrad der Boden unter unseren Füßen annehmen könnte: Erster Härtegrad - die stärkste These: Juden und Deutsche haben eine „tiefinnerliche" Wesens- oder Wahlverwandtschaft und sie haben diese auch erkannt. Forschungsziel: Wir suchen Stück für Stück die Parallelen und die Eingeständnisse dieser Verwandtschaft auf beiden Seiten. Zweiter Härtegrad - mit mittlerer Tragfähigkeit: Juden und Deutsche haben tatsächlich diese Verwandtschaft; sie wird aber nur von den Juden, von den Deutschen hingegen (fast) überhaupt nicht anerkannt und dementsprechend von 12 13 14 15
Heinrich Heine 1838, zitiert in: Brenner/Jersch-Wenzel/Meyer 1996, 226. In: Der Kunstwart 1912, 13f. In der - zionistischen! - Jüdischen Rundschau 1902, Nr. 48, 68. In: DIE ZEIT, 1998, Nr. 12, S. 45.
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diesen kaum als Argument benutzt, ja, nicht einmal eingeräumt. Forschungsziel: Wir suchen in gleicher Weise die Parallelen Stück für Stück und geben uns dann Rechenschaft, aus welchen Gründen diese Parallelität anerkannt bzw. vehement verleugnet worden ist. Dritter Härtegrad - die bloß weiche These: Die Verwandtschaft ist objektiv eine Illusion, aber gleichwohl ein Forschungsobjekt, weil sie offensichtlich (ohne Rücksicht auf ihren Realitätsgehalt, gesteuert nur von illusionären Wünschen) im Diskurs und damit geschichtsmächtig war. Forschungsziel: Auffindungsprozeduren für die behaupteten Parallelen mit gleichzeitigem Nachweis ihres phantasmagorischen Charakters und der Schubkräfte, die zu dieser Verblendung gefuhrt haben. 1.3. Die Erklärungskraft der These(n). Keine posthume Eingemeindung der Juden Es stehen noch die eingangs angekündigten Beweise aus, dass es (1.) auf keinen Fall um den zynischen Versuch gehen kann, die Opfer schließlich noch auf die Ebene ihrer Mörder zu ziehen, sondern dass man (2.) mit den hier einjustierten Perspektiven Plausibilität auf einem Felde schafft, das immer noch von Widersprüchen gekennzeichnet ist. Also, wie sollte man denn bisher zusammenbringen: die unbestreitbare Tatsache einer hohen, in fast atemberaubender Geschwindigkeit erreichten Akkulturation der Juden in den deutschen Kulturkreis mit der gleichzeitig behaupteten grabentiefen Fremdheit? Hingegen ist die Annahme einer nach Art und Grad noch zu bestimmenden Verwandtschaft mit dem unsäglichen Schicksal, das die Deutschen den Juden bereitet haben, nur bei oberflächlicher Betrachtung nicht zu vereinen. Lässt man aber eine in die Tiefe gehende Betrachtung zu, dann wird man sehr schnell konzedieren, dass besondere Nahstellung und Verwandtschaft einen Hass viel unerbittlicher, radikaler, geradezu panisch und damit den Hasser fast unfrei machen kann. Der Feind als Verwandter im eigenen Haus,16 - Kain und Abel also - das ist die Konstellation neurotischen Hasses, der den Hausherrn schließlich jedes Maß überschreiten lässt. Er kann nicht ruhen und rasten, bis das feindliche Ebenbild aus seinem Gesichtskreis verbannt ist. Nehmen wir jetzt noch an, dass die Juden genau auf den Parametern den Deutschen nahe rückten, ja sie sogar übertrafen, die die Deutschen selber als identitätsstiflend, als Ich-sichernd betrachteten, dann haben wir beides: erstens den Grund fur die schnelle Akkulturation und in einem Zuge genau damit auch zweitens den Grund für die massive, immer massivere Ablehnung. So bauen sich sinnvolle Forschungsperspektiven auf. Wir dürfen daher den ersten Block, den themenrechtfertigenden und strategieentwerfenden, für beendet erklären und können uns dem zweiten zuwenden, dem themenabhandelnden.
Der Grundgedanke stammt nicht von mir. Der Psychoanalytiker Loewenstein hat ihn 1962 das Phänomen des .cultural pair' genannt und so den besonderen Hass zwischen Juden und Christen erklärt (vgl. bes. 151-163). Schramm hat es 1981, 321 global als „Tragödie der Nähe" bezeichnet. Zu einem umfassenden Erklärungsmodell, das nach allen theoretischen Seiten hin ausgeleuchtet und konkret auf die historischen Fakten und Konstellationen angewandt wird, ist es noch nirgends erhoben worden.
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2. Thematische Abhandlung 2.1. Parallelen: Deutsche - Juden - Sprache Es seien jetzt alle allgemeinen Parallelen zwischen Deutschen und Juden fortgelassen. Wir wenden uns sogleich denen zu, die eine Nahstellung zur Sprache haben. Denn diese interessieren hier. Nun weiß jeder Zuhörer, dass die Verbindung von Nation und Sprache eng, ja noch entschiedener ausgedrückt: dass die Sprache geradezu als Geburtskanal der Nation angesehen worden ist. Solche Vorstellungen entstammen der Romantik. Vital sind sie noch heute - nicht zuletzt bei Juden.17 Es weiß auch jeder, dass den Juden just in dieser romantischen Epoche der Eintritt in die europäischen Staaten gewährt worden ist, weiter: dass sie wenig später Sprachkünstler ersten Ranges und schließlich dann Sprachfanatiker beängstigender Radikalität hervorgebracht haben - denken wir nur an Karl Kraus oder an Eduard Engel, einen der agilsten Frontmänner des „Allgemeinen Deutschen Sprachvereins". In diesen Arealen werden wir also deutsch-jüdische Anschauungs- und Wirkungsparallelen suchen und ziemlich problemlos finden. Es ist aber günstig, nicht erst im 19. Jahrhundert, sondern viel früher anzusetzen, damit wir sehen: Dass jüdische Sprachfertigkeit etwas mit deutscher zu tun haben könnte, ist schon länger im Gespräch als bisher aufgefallen. Man darf es als gut erforscht bezeichnen und allbekannt, dass die deutschen Sprachgesellschaften im 17. Jahrhundert Vorbilder im Ausland gesucht haben, um der eigenen Sprache aufzuhelfen, in Italien und in Holland. Es ist aber übersehen worden, dass kein Geringerer als das Haupt der fruchtbringenden Gesellschaft", Fürst Ludwig von AnhaltKöthen, auch in der jüdischen Kultur Argumentationshilfe gesucht und gefunden hat. Fürs Deutschlehren kämpfend, schrieb er 1619 in seiner Übersetzung von G. B. Gellis „I Capricci del Bottaio"18: Wie sollte die Jugend denn zur Beschützerin der christlichen „sachen" werden können, „als wen[n] sie solche von Jugend auff zu lesen anfiengen/ vnd darinnen allgemach/ wie die Hebreer oder Juden thun/ sich ubeten/ welches aber nicht seyn kan/ wofem man sie nicht wol in die Muttersprache vbersetzet hat."
Nichts Geringeres wird hier attestiert, als dass die Juden einen ganz entscheidenden Kulturvorsprung haben, den es für Deutsche nachzuarbeiten gilt. Luther hatte diesen Egalisierungsprozess schon in Gang gesetzt und es ist für die Härtung unserer Thesen der Hinweis dienlich: Zuerst war Luther eher Freund der Juden - dermaßen, dass er von seinen Gegnern als judenhörig, von einigen sogar als verkappter Jude angeprangert wurde. Als er dann später selber merkte, dass er mit seinem Bibelfiindamentalismus, mit seiner Anleitung zur Bibellektüre für jedermann, mit seiner Aufhebung des Zölibats, mit seiner Abneigung gegen Bilderschmuck in der Kirche und weiterem immer mehr auf Grundpositionen des Judentums zugerückt war, da 17 18
Harshav 1 9 9 3 , 9 . Gelli, 1 6 1 9 , 2 6 9 f . (den Hinweis verdanke ich Eric Th. Nicolau).
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schlug seine anfängliche Toleranz in einen fast neurotischen Hass um, der durch seine unsäglichen Pamphlete dann scheußliche Femwirkung bekam.19 Wie deutlich nun das gerade Vorgetragene auch die angekündigte Zugfolge von Nähe und Hass realisiert - es war das alles nur Vorspiel, denn die Juden waren ja nicht Teil der Ständegesellschaft in den deutschen Staaten. Fast vollkommen isoliert, lebten sie als Eigenberechtigte neben ihr. Vorbereitet durch die Epoche der Aufklärung, kam die eigentliche Kontaktsituation erst in der Napoleonischen Zeit, als sich die deutschen Staaten gegen diesen Ausnahmemenschen zur Wehr setzten. Die Romantik und die auf ihr fußende .Deutsche Bewegung'20 waren ihr Fundament, das sich, nachdem es mehrfach umgebaut und schließlich bis zur Unkenntlichkeit entstellt, ja fast ganz ins Gegenteil verkehrt war, zumindest bis 1945 hielt. Wie passten die Juden in diese romantikfùndierten Konzepte? Niemand braucht mehr die Stellung der Sprache als Nationen schaffende Idee langwierig auszubreiten. Wir kennen die hervorragenden Einzelarbeiten, die, alle in ähnliche Richtung strebend, klare Bilder gezeichnet haben. Sie sind jetzt in dem umfangreichen neuen Sammelband von Andreas Gardt „Nation und Sprache" (Berlin, New York 2000) erstmals stimmig zusammengefügt und in vielen Details noch feiner ausgemalt worden. Man kann sich also darauf beschränken, mit groben Strichen die Struktur des allseits Bekannten nachzuzeichnen und dann, als neues Element (denn Juden kommen auch im zwölfseitigen Sachregister des 924 Seiten starken Kompendiums seltsamerweise gar nicht und im Text selber kaum vor! Ausnahme z.B. 368), mit einiger Ausführlichkeit die Eigentümlichkeiten der eintreffenden Minderheit so darzustellen, dass ihre besondere Einpassfähigkeit deutlich hervortritt. 2.2. Thesen zur Funktion von Sprache und Kultur in der Deutschen Geschichte von 1800 bis 194521 Im Gegensatz zur Aufklärung, die Völker- und individuenübergreifende, also: universelle Prinzipien verfolgte, kam mit der Romantik eine Strömung zur Herrschaft, die den Wertakzent auf individuelle, je einzeln organisch, historisch gewachsene Einheiten setzte. Stifter von Eigentümlichkeit ist nicht zuletzt die Sprache; und nun im Einzelnen die 10 Punkte:
(1) Am Beginn des 19. Jahrhunderts stehen zunächst drei Nationenbegriffe nebeneinander: ein kultureller, ein sprachlicher und ein politischer. Die kulturelle Ausprägung nutzend, spricht August Wilhelm Schlegel durchaus von einer „europäischen Nation" (die verschiedenen Sprachen folgt), und in einem Atemzug redet er von den zwei Kulturen auf deutschem Boden, nämlich von der katholischen und evange-
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Der ganze Komplex umfassend dargestellt in: Bering 1989 und 1990. Fast jedes Buch über das Wachsen und die Schubkräfte des (deutschen) Nationalismus gibt hier Auskunft, z.B. Dann 1996, 52, 54f. Alle im folgenden eingefügten Seitenzahlen beziehen sich auf Gardt (Hg.) 2000. Die Einzelbeiträge werden nicht selbständig zitiert, da im Wesentlichen auf Beispiele zurückgegriffen wird.
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lischen, die beide eine Sprache sprechen (Gardt 2000, 205). Diesem offenen Beginn folgt eine immer stärkere Einengung. Der sprachliche und der politische Nationengriff erfahren eine immer deut(sch)lichere Akzentuierung. (2) Sprache und Nation bedingen einander, beeinflussen sich gegenseitig (209ff.). Jacob Grimm definiert schließlich das Wort ,Volk' als „Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden" (254, ähnlich Herder, 194). Durch Besinnung auf die eigene Sprache bewegt sich das Sprachvolk „gleichsam auf sich selbst zu" (266). Diese Anschauung dominiert länger als ein Jahrhundert: Dr. Max Baege hält z.B. noch 1900 eine Kaiser-Geburtstagsrede, die dies Axiom beschwört und „Rassenmerkmale" ausdrücklich zurückweist (303). Der „Allgemeine deutsche Sprachverein" lässt sich später nur mit Nazi-Gewalt aus dieser letztlich geistfundierten Grundstellung drängen. Faschistische Position war es ja, dass das Blut völkerkonstituierend sei.22 (3) Die Sprache zieht aber nicht nur einen isolierenden Kreis um ihre Sprecher, weil sie eigentümliche Schälle/Ausdruckformen hat; sie spinnt den Menschen auch in eine spezifische, semantisch geformte Weltsicht ein, nach Schlegel z.B. so eng, dass „die Sprache, uns unbewusst, über unseren Geist" herrscht (215). Zusammen mit dem Konzept der ausgleichenden, universellen Mitte-Nation (vgl. Punkt 7) ergibt sich dann, dass „die Deutschen naturgemäß in besonderer Weise mit Sprache befasst und in letzter Konsequenz die sprachlichste der Nationen" (225) sind. (4) Wie aber diese sprachliche Nation in zwei konfessionelle Kulturen geteilt ist, so ist der Vielvölker-, Vielstämmestaat Deutschland durchaus in sehr konträre Dialekte gespalten, und dies in so starkem Maße, dass sich ein jugendlicher „Döskopp" von der „Woaterkant" mit einem Tiroler „Hiatamadl" trotz vielleicht starker Anziehungskraft verbal so leicht nicht hätte verständigen können. (5) Also: Die Einheit musste erst geschaffen, zumindest ausgebaut und befestigt werden. Nicht zuletzt diese Tatsache brachte Jacob Grimm zu jener berühmten Einladung: „Deutsche geliebte landsleute, welches reichs, welches glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane halle eurer angestammten, uralten spräche, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, eure volkskraft und dauer hängt in ihr. noch reicht sie über den Rhein in das Elsasz bis nach Lothringen, über die Eider tief in Schleswigholstein, am
Dieser - natürlich langsame - Übergang ist von mir anhand einer systematischen Analyse einer antisemitischen Zeitschrift („Der Hammer") ausführlich untersucht worden: Bering 1998,284-289.
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ostseegestade hin nach Riga und Reval, jenseits der Karpathen in Siebenbürgens altdakisches gebiet."23 Man hört durch: Der auch noch existierenden sprachlichen Vielfalt des Heute werden „uralte" Sprachzustände als Einheitsphantasmagorie, als verehrungswürdiges Maß gegenübergestellt. (6) Die kulturelle Einheit war aber nicht nur ein sprachliches Projekt. Das zeigt ja der berühmteste Satz Grimms: „was haben wir denn gemeinsames als unsere spräche und literatur?" Der beschwörende Tonfall zeigt: Es ging auch darum einen (Literatur-)Ä^rto« festzuschreiben,24 auf den sich das deutsche Volk in seinem geistigen Leben beziehen sollte. So wurde die Weimarer Klassik aus der Taufe gehoben. Mit ihr war dann abermals ein überzeitliches Sprachvorbild festgeschrieben (363f.). (7) Deutschland ist als typische Mitte-Nation (zwischen Nord und Süd, Ost und West, klimatisch zwischen kaltem Skandinavien und überheißem Mittelmeer) die universell-allseitige Nation schlechthin; sie hat von allen Kulturen Anteile, ist daher auch „die ideale Vermittlerin zwischen den Nationen" (212), gleichsam berufen, „die Vorzüge der verschiedensten Nationen zu vereinigen, sich in alle hineinzudenken und hineinzufuhlen, und so einen kosmopolitischen Mittelpunkt für den menschlichen Geist zu stiften" - das die Worte A. W. Schlegels schon 1803/4 (212), und 1918 redete Th. Mann immer noch in ähnlichen Tönen (225). Daraus folgt für die Frühromantiker eine ausgesprochen kosmopolitische Haltung (220), die erst 1870 deutlich in den Hintergrund trat. (8) „Die deutschen Intellektuellen versuchen die als schmachvoll empfundene politische Realität ideologisch zu kompensieren. Auf dem Felde des Geistes und der Sprache werden die Schlachten geschlagen, die nach den Debakeln von Austerlitz, Jena und Auerstädt und dem Frieden von Tilsit militärisch vorerst nicht mehr möglich waren" (217). Die hier mit den Worten von Jochen A. Bär dargestellte Anfangssituation blieb das ganze 19. Jahrhundert hindurch gültig und bekam nach verlorenem Ersten Weltkrieg einen neuen Akzent in der Weimarer Republik. Bildung also blieb für die
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Grimm, Jacob (1854): Deutsches Wörterbuch. Einleitung zum ersten Band. Abgedruckt in: Janota 1980, 126. Es ist schon hier zu unterstreichen: Die Juden mussten sich mitangesprochen fühlen, denn sie waren deutsche Staatsbürger seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Nur in den preußischen Gebieten Polens war seit der Gesetzgebung von 1833 zwischen den naturalisierten Staatsbürgern und den nichtnaturalisierten jüdischen Untertanen zu unterscheiden. Vgl. o. Anm. 7.
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deutschen Bürger über anderthalb Jahrhunderte der Spitzenwert. Sie implizierte über weite Strecken eine gewisse Verneinung der Politik (224).
(9) „Das politisch nicht existente .Deutschland' ist nur eine ideologische, und zwar hauptsächlich kulturhistorisch definierte Größe"25 Diese spiegelt die noch fehlende politische voraus und kommt als Kultur genau in dem Moment in Gefahr, in dem die politische Einheit erreicht und der deutsche Geist dann zugunsten des deutschen Reiches exstirpiert wird: 1870/71. (10) Deutschland wird eine bestimmte kulturelle Mission zugeschrieben, die immer mehr zu einem gefährlichen Konzept degeneriert, als Weltmachtstreben die Kategorie des „ auserwählten (Kultur-) Volkes" mit einem politisch-imperialistischen Sinn füllt. Ehe wir nun die markantesten Punkte mit zentralen Strukturmerkmalen des Judentums vergleichen, sollte man versuchen die vorgeführte Vielzahl der Punkte in einem Satz aufs Wesentliche zusammenzuziehen: „Das deutsche Volk agiert im 19. und 20. Jahrhundert auf einem besonders kulturell, sprachlich bestimmten Grundriß als eine durch Partikulares charakterisierte Nation, die sich selber als unfertig, noch im Werden befindlich sieht und in der apostrophierten Vielfalt erst eine Einheit finden muß." Zweierlei dürfte sofort auffallen: Zunächst einmal sind hier die Akzente so gesetzt, dass man gleich die Linien sieht, die den Juden signalisieren mussten: Wenn irgendwo, dann liegen hier unsere Chancen. Und zweitens sieht man deutlich, dass man die anvisierten Parallelen auf jüdischer Seite nur klar nachziehen kann, wenn man sich ganz einer kulturgeschichtlich, mentalitätshistorischen und sozialwissenschaftlich fundierten Sprachbetrachtung verschreibt. 2.3. Die Einpassfähigkeit der Juden in die deutschen Strukturen Kultureller, sprachlicher und politischer Nationenbegriff (ad 1) Es ist unbestritten, dass die Juden vor 1800 - mit ihrem Einverständnis - als eigene ,Nation' gesehen worden sind. Fragen wir uns nun, welcher der drei vorangestellten Begriffe bei Juden für die Zeit am ehesten zutrifft, dann kann man sich vielleicht noch streiten, ob man den kulturellen oder den sprachlichen in den Vordergrund rücken soll, denn aufgrund ihres Glaubens, der ja eine bestimmte Art religiös-kultureller Alltagspraxis ist, stachen sie vielleicht noch mehr hervor als durch ihre sprachliche Sonderstellung mit Jiddisch und Hebräisch. Dass aber der politische NationsbegrifF die geringste Rolle gespielt hat, ist unabweislich - und diese Konstellation ist auch bei den Deutschen sehr ähnlich: Dass sie kulturell und sprachlich zusammengehörten, 25
Gardt (Hg.) 2000, 223. Hervorhebung D.B.
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war klar; ebenso offen lag zutage, dass die übergreifenden politischen Institutionen zunächst nur geschwächt und dann aber bis zur Bedeutungslosigkeit verkümmert waren, erstarkt hingegen die politischen Ansprüche der partikularen Kräfte; diese waren gewiss an ihren bayerischen, preußischen, badensischen Untertanen interessiert und viel weniger an deutschen. Mit dem Eintritt der Juden in die deutsche Gesellschaft und Politik traf also unter diesen Gesichtspunkten betrachtet nicht stark Divergierendes, sondern Strukturverwandtes aufeinander. Kürzer gefasst: Die .Nation', für die seit der Zerstörung des Tempels 70 n.Chr., also seit über 1700 Jahren, der politische Nationenbegriff keinerlei Rolle mehr spielte, traf auf eine Nation, die allemal den schwächsten politischen Nationenbegriff aller europäischen Nationen ausgebildet hatte. Sprache - Nation - Weltsicht (ad 2,3) Es scheint günstig, die Punkte 2 und 3 in einem abzuhandeln. Sprache und Nation gehören zusammen (= Punkt 2) - nicht zuletzt, weil jede Sprache einen ziemlich hermetischen semantischen Kreis (= Punkt 3) um ein Volk legt. Wie man nun auch das Tempo der Juden in Richtung deutsche Hochsprache einschätzt, man kann nicht bestreiten, dass sie in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit wohl schon seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, seit der Weimarer Republik aber sozusagen alle den Sprachstandard der Hochdeutschen Schriftsprache erreicht hatten,26 ja, ihm schließlich sogar Maß und Ziel setzten.27 Wenn nun die Mehrheitskultur an ihren klassischen, Herder- und Humboldt-fundierten Grundsätzen festhielt, ja, wenn sie wenigstens bei Ernst Moritz Arndt blieb, also beim schon erheblich abweisenderen, ziemlich enragiert denkenden nationalen Heros,28 dann konnte es keine Zweifel geben: Sprachmächtigkeit garantiert unweigerlich Volkszugehörigkeit. Also: Juden sind Deutsche 29 Über diese Grundtatsache hinaus brachten Juden noch andere Sprachfakten in die Nähe der Deutschen. Sie waren ja mindestens zweier Sprachen mächtig, des Jiddischen und des Hebräischen. Diese beiden grenzten sie nun eigentlich keineswegs in besonderer Weise aus, denn das Jiddische konnte man nicht als fremde Sprache zählen. Es war zum größten Teil wie ein Dialekt des Deutschen. Und das Hebräische? In dreifacher Hinsicht passte es in die deutschen kulturellen Strukturen: Erstens war es die Sprache der Bibel, also die Sprache eines basalen Werks, das der Sprache überhaupt, insbesondere dem Wort, ja dem genauen Wortlaut ein besonderes Gewicht
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Vgl. o. Anm. 17. Abzurechnen sind hier natürlich die neu eintreffenden Ostjuden. Der Kampf jüdischer Autoren, Publizisten und Antisemitismusentlarver gegen das schlechte Deutsch ihrer Gegner wäre eine eigene Untersuchung wert, weil es jenes Übertrumpfen zeigt, vgl. z.B. IdR 24/1918,472: „das völlig ungepflegt schlechte Deutsch" des Adolf Bartels. Auch er hatte j a 1813, 12f. dekretiert: „Die Sprache aber macht die rechte Grenze der Völker. [...] Was beisammen wohnt und einerlei Sprache spricht, gehört auch von Gott und Natur wegen zusammen." Die Juden selber haben diese Deutschheit stiftende Funktion der Sprache immer wieder betont, z.B. IdR 19/1913,403: „Sprache macht die Nationalität aus".
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beimisst.30 Zweitens war es ja auch die Fundamentalsprache des Christentums, mit der sich jeder Theologe bekannt zu machen hatte, und drittens war es eben eine heilige Kultus/r-Sprache neben einer profanen Alltagssprache. Eine solche Zweiheit besaß mit dem Lateinischen auch die aufnehmende Mehrheit,31 so dass man attestieren muss: Es trafen da zwei Völker aufeinander, die ihre Kulturhorizonte nicht vollkommen anders, sondern strukturell ähnlich aufgebaut hatten: eine Alltagssprache und, von ihr verschieden, ein spezifischer Kulturdialekt in einem anderen Idiom. Und beiden war auch gemeinsam, dass sie nicht die Alltagssprache zurückdrängten, sondern in der Zeit von 1812 bis 1933 der Absetzbewegung von ihrer Kultus/rSprache wachsendes Tempo gegeben hatten. Vorab jedoch: Wenn Schlegel und Humboldt in der Vielfalt der Sprachen eine Einheit suchten, um sich so einer Konkretion ihres Höchstwertes „Menschheit" näher zu bringen,32 dann darf man nicht vergessen, dass sie „das Studium der Sprachen" als „goldenen Schlüssel" angesehen haben, „der uns die Geistesschätze fremder Nationen öffnet" (221). Es braucht wenig Rechenkünste, um eine Antwort auf die Frage zu finden: Wer hatte bei dieser typisch .deutschen' Annäherung an die „Menschheit" aufgrund erstaunlicher Sprachenkenntnisse wohl einen Vorsprung - die Juden oder die Deutschen? Unser nächster Punkt wird da keine Zweifel lassen. Dialekte - Prospektive Einheit (ad 4,5) Es passen auch diese beiden Punkte zusammen: also das vielstaatige Deutschland mit seinen zahlreichen, stark divergierenden, breit gestreuten Dialekten, die von einer Einheitssprache überwölbt werden sollten - dies mit dem Endziel, das ersehnte, einheitliche Staatsgebäude aufzurichten und dann zu befestigen mit dem Bindemittel, mit dem man eben zu bauen gedachte: mit kulturellem Mörtel. Wir haben ja noch genau das im Ohr, was sicherlich bei den Juden noch stärkeren Nachhall haben musste, weil es eine ganz außergewöhnliche Chance, geradezu einen kairós artikulierte: jenes Diktum Jacob Grimms: „Deutsche geliebte landsleute, welches reichs, welches glaubens ihr seiet, tretet ein". In welchem europäischen Staate wäre eine derartige Formulierung überhaupt möglich gewesen: „welches reichs, welches glaubens ihr seiet"? In keiner der europäischen Staatsnationen, denn sie waren ja auch in religiöser Hinsicht monolithisch, selbst das in seiner Zerrissenheit partiell ähnliche Italien! Deutschland war eben das konfessionell gespaltene Land, das Land, wie wir gehört haben, mit zwei Kulturen, denen eine dritte hinzuzufügen die Strukturen höchstens erweitert, aber keinesfalls gesprengt hätte. Problemlos hätte dann das Jiddische als Dialekt neben den anderen gestanden, gesetzt natürlich, die Juden hätten sich möglichst schnell in die deutsche Hochsprache eingefädelt. Eben diese 30 31
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Assmann/Assmann 1987,12f. Auch das ist nicht eine Parallelenkonstiuktion ex post. „Im deutschen Reich" (9/1903, 73), das offizielle Blatt des liberalen C.V. führt selber als Argument ein: auch die Katholiken hätten „ihre besondere Kultussprache, das Lateinische", weshalb sie noch lange nicht als von den Protestanten verschieden angesehen würden (wie die Juden wegen des Hebräischen von den Deutschen). Humboldt äußert sich in seinem Hauptwerk mehrfach in diese Richtung, ders. z.B. 1827-29, 51, 124.
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garantierte ja wirkliche Mitgliedschaft, wirkliche Volkszugehörigkeit, ganz nach Humboldts Theorie und oben angegebener Definition. Ihr Kern lautete ja: Wer die Sprache spricht, gehört zwingend, gehört unweigerlich zu diesem Volk - ob es bestimmten Gruppen nun passt oder nicht! Man braucht an dieser Stelle jetzt nur die anerkannte Sprachbegabung der Juden33 zu erwähnen, um zu den anvisierten Beweiszielen zu kommen. Es ist unstreitig, dass sie oft sogar dreisprachig waren: zunächst die Sprache der Mehrheitskultur im Umgang mit ihr, dann Jiddisch (mit seinen drei Ingredienzien: Deutsch, Slavisch, Hebräisch) fur den inneijüdischen Verkehr (oft auch für den internationalen) und Hebräisch für den kulturell-sakralen und internationalen Umgang. Diese dritte Sprache vor allem tat nun den Juden jederzeit dar, dass sie, obwohl staatlich getrennt, dennoch einer staatenübergreifenden jüdischen Gemeinschaft angehörten - was ja nichts anderes heißt, als dass ihnen die typisch deutsche Situation der Einheit in Getrenntheit jahrhundertealte Praxis war. Kurzum: Die so bestens Trainierten hatten keinerlei Mühe in die Sprache einzutreten, wie Jacob Grimm nachdrücklich gebeten hatte. Solche Dringlichkeit, fast Inständigkeit hatte Grimms Diktion ja gehabt, weil er da ja nicht von Gesichertem, lange Existierendem reden konnte, sondern eher von notwendigen Projekten, die der Einigung des deutschen Volkes dienen sollten. Alle seine Worte sind nur eine Aufforderung, die deutsche Sprache nun auch tatsächlich zum gemeinsamem Besitz zu machen und den endgültigen Einzug aller ins Haus der gemeinsamen Sprache symbolisch mit der Erarbeitung eines großen Lexikons abzuschließen. Mag es nun noch zweifelhaft sein, von welchem Zeitpunkt an den Juden attestiert werden muss, dass sie reines, ja reinstes34 Hochdeutsch sprachen, fest steht: Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gehörten sie zu denen, die Deutsch besonders dialektfrei artikulierten, purer jedenfalls als es sich etwa die meisten, dialektal weitgehend fixierten Bayern erträumen konnten. Und weiter: Grimms sprachideologisch höchst bedeutsame Apostrophierung des Deutschen als „eine(r) angestammte(n), uralte(n) spräche", dieses implizite Zurückstoßen des Französischen und Englischen als unreine, gemischte Sprachen mussten die Juden diese Abgrenzung fürchten oder sahen sie Bekanntes, das sie auf dieselbe Stufe hob wie die Deutschen - korrekter eigentlich: Bekanntes, das die Deutschen auf die Höhe der Juden brachte? Nie hat das Abendland gezweifelt, dass das Hebräische zu den drei ursprünglichen, eben angestammten, uralten, heiligen Sprachen gehöre! Und weiter: Jenes „lernet und heiliget sie" klang das in jüdischen Ohren kurios? Nein, es waren genau die mit Hingabe erfüllten
Sehr bemerkenswert ist, dass nach einem ganzen Jahrhundert der bloßen Verhöhnung wegen mangelnder Deutschkenntnisse auch von Antisemiten die sprachliche Überlegenheit der Juden eingestanden wurde und auch gefahrlos eingestanden werden konnte, genau in dem Moment nämlich, w o man zum rassischen Begründungsstil umgeschwenkt war, z.B. Hammer 1911, 30: „sprachliche Gewandtheit"; dort räumt man dann 1912, 291 auch ein, dass die Juden die Deutschen an sprachlichem Geschick durchaus übertreffen - vgl. Bering 1998. Die Meinungen gehen von Jacob Tourys These, dass sie das dialektfemste Hochdeutsch gesprochen haben (zitiert bei Bering 1998), bis zu Warnungen, die Überwindung des Jiddischen nicht zu früh anzusetzen. Die gesamte Diskussion ist umfassend nachzulesen bei Richter 1995, vor allem 18-54.
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Imperative, mit denen die Juden ihr Volk und seine sprachliche Eigenart über 2000 Jahre hochgehalten hatten.35 Alles in einem: Jenes Volk, das sich selbst als „einig in seinen Stämmen" bezeichnet hat und die Formel von der „Einheit in der Mannigfaltigkeit" seit langem kannte (370) - es bot wegen deutlicher Strukturparallelitäten für Juden eine einzigartige Chance. Kanon. Kulturelles Gedächtnis (ad 6) Seit den Arbeiten von Jan und Aleida Assmann wissen wir, dass das kulturelle Gedächtnis für jede Kultur genetischen und erhaltenden Rang hat. In fast allen wird daher ein Kanon geschaffen, in dem in besonders verdichteter Weise festgeschrieben ist, was niemals vergessen werden darf, sondern von jeder Generation erneut internalisiert werden muss. Trotz dieses beinahe universalen Charakters des kulturkonstituierenden Verfahrens gibt es Unterschiede im Intensitätsgrad. Das Judentum ist geradezu das Paradigma für eine Erinnerungskultur, die mit besonders großem Erfolg und hingebungsvoller Intensität das „Erinnere dich" sogar als Gottesgebot konzipiert und strikt beachtet hat.36 Dementsprechend rigoros waren die Forderungen, die kanonischen Texte, eben die Bibel zu lernen, heilig zu halten, immer weiter zu interpretieren und unerbittlich auch die korrelativen Gebote, dass man nichts weglassen, nichts hinzufügen dürfe. Die Juden waren dementsprechend darauf trainiert, ihr gesamtes Leben als Gebäude über derartigen kanonischen Texten zu empfinden. Und welche Strukturstelle hatte nun bei den Deutschen das kulturelle Gedächtnis? Auch sie gehören in die Reihe der Formationen, in denen dieser Nucleus eine besonders zentrale, besonders tragende Funktion hat - natürlich, denn als ,Kultumation' hatten sie ja weite Teile des gesamten Staatslebens auf derartige Fundamente gebaut, viel weniger auf Rechtsnormen einer Verfassung. Daher ihr oft krampfhaft anmutendes Bemühen, die Weimarer Klassik nun als Stützpfeiler in jedes, noch so profane Gebäude einzuziehen - in der 48er Zeit gewiss noch mit rückhaltloser Ehrlichkeit und existenziellem Einsatz - und später dann, wie Nietzsche als Kulturkritiker es befürchtet, Angelika Linke37 und Wolfgang Frühwald38 als sprachlich gerichtete Kulturanalytiker so klar nachgezeichnet haben, als dümmliche, aber unbedingt geforderte Versatzstücke in der Imponierkonversation einer Gesellschaft, die in Konvention und Militarismus erstarrt war. Jedenfalls: Die Juden kannten seit Urväterzeiten den Umgang mit klassischen Texten und kamen in ein Volk, das durch die gerade erst durchgeführte kulturelle Selbstfiindierung Halt und Bedeutung zu finden suchte zwischen den Völkern Europas. Was Wunder, dass die Juden problemlos eine außerordentliche Spitzenstellung gerade bei der Propagierung und
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Die Heiligkeit des Hebräischen war Juden unbezweifelbar - dies nicht nur nach der Einschätzung Mendelssohns (zitiert nach Mayer 1996,289), der betont, dass Gott die biblischen Väter mit diesem Idiom angesprochen habe, dass ihr daraus ein „Vorrang vor allen anderen Sprachen" erwachse, „so daß wir sie als ,heilige' bezeichnen dürfen."; resümierende Wissenschaftler sagen dasselbe: SáenzBadillos 1993,2: „For jews it was [...] the language of sanctity, the holy tongue." Allgemein: Yenishalmi 1988; speziell bei Assmann 1992, 196-228. Linke 1996. Frühwald 1990.
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Pflege der deutschen Klassiker bekamen, bis zu einem derart beherrschenden Grade, dass ihn dann sogar die zionistisch Orientierten in jenem berühmten „DeutschJüdischen Parnass" anprangerten. Dass es Juden waren, die die wichtigsten GoetheBiografien verfassten, ist eine bekannte Tatsache. Ein erhellendes, wenngleich ein besonders dunkles Kapitel, wäre es noch, die Zahl der Stimmen zu sammeln, die auf die Frage, wie sie denn überhaupt die Jahre im KZ hätten überstehen können, geantwortet haben: „Mit Goethe-Gedichten." Nation der Mitte (ad 7) Herders und Humboldts Intention ging nicht dahin, durch scharfe Grenzziehung zwischen den Sprachen auch die Völker hermetischer voneinander abzuschließen oder gar zu hierarchisieren. Sie glaubten durch die Addition der verschiedenen , Weltsichten' zu einer Vision, besser: zu einem umfassenden Blick auf die Menschheit zu kommen (Gardt 2000, 221). Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts politisierte dann immer strikter in Richtung größerer Enge und höherer Grenzzäune, bis es schließlich in aggressiver Borniertheit endete. Aber 1848 z.B., da war liberales Denken noch so stark, dass Jacob Grimm jenen berühmten Zettel als Änderungsvorschlag für die Verfassung aufe Podium reichte: „Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie die auf ihm verweilen macht er frei."39 Es ist klar, dass bei einer derartigen eben auch existierenden Liberalität die Juden hier eine Chance sehen mussten, vor allem, wenn man jene Ansicht von dem deutschen Volke als der typischen, alles integrierenden Mitte-Nation in die Überlegungen einbringt. Legt man die Dinge so zurecht, dann treten Äußerungen, wie sie sogar in relativ unbekannten jüdischen Blättern zu finden sind, in einen schlüssigen Kreis: „Große Nationen sind das Produkt einer geistigen Assimilierung."40 Bildung als Kompensation (ad 8) Am Punkt der Bildungszentriertheit zeigen sich die Parallelen besonders deutlich. Es ist seit langem bekannt, dass jüdische Familien auf Bildung einen ganz außerordentlichen Wert legten. Selbst bei großer Aimut ging das ganze Bemühen vieler seit jeher dahin, einen Sohn fürs ,Lernen', also für das Studium der Bibel und des Talmud freizustellen. Diese hervorstechende Zielstellung brachte dann sogar im Verein mit bestimmten rechtlich-sozialen Schranken, die die Juden von Landwirtschaft, Handwerken und Staatsstellen femhielten, bedenkliche Verhältnisse hervor: Auf den Gymnasien, auf den Universitäten und später dann bei den freien Berufen wie Ärzten und Rechtsanwälten - immer wieder haben Bewunderer wie Hasser des Judentums die ganz außerordentliche Überrepräsentation in diesen Sparten vorgerechnet. Von der apostrophierten grundsätzlichen Bildungsorientiertheit aus gesehen, nimmt sich das Erstaunliche aber als ganz schlüssig aus. George L. Mosse hat 1999 noch
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Abdruck bei Metzner 1996,43. Israelitisches Gemeindesblatt. Organ filr alle Interessen des Judenthums, Köln (4.7.1902,265).
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geurteilt: „Das von altersher geachtete und respektierte Lernen der jüdischen Schriften ließ sich leicht auf die Bildung übertragen."41 Die Juden haben die Tatsache ihrer Bildungsorientiertheit auch immer wieder beschworen, 1906 ζ. B. so: ,Aber so viel darf ich als allgemeine Meinung auch des Auslandes bei aller Bescheidenheit festlegen, daß nirgends früher als in Preußen und Deutschland mit der allgemeinen Schulpflicht als einer Ergänzung der allgemeinen Wehrpflicht vollkommener Emst gemacht worden ist. Der Segen der Schulpflicht hat nirgends mehr in Preußen und Deutschland Anerkennung finden können als in der deutschen Judenheit. Bildung und Gelehrsamkeit erfreuen sich ja hier traditionell einer höheren Anerkennung als Besitz materieller Güter."42
Und wie bedenklich deutsch ist da - wir sind jetzt ja im Jahre 1906! - auch die Verquickung von militärischer und geistiger Bildung! Ehe wir in einem letzten Punkt dann dieses für Juden und Deutsche gefährliche Ineinander darstellen, wollen wir aber noch zeigen, dass die führende Position der Juden auf dem Felde der Bildung auf besonders erhellende Weise beleuchtet werden kann. Oben ist festgestellt worden: Die geistige Bildung, geistige Potenz waren der deutsche Ersatz für die fehlende, zumindest eingeschränkte politische Macht. Jetzt fuhrt eine einzige Frage zu einer außerordentlichen Härtung unserer These von den Juden und Deutschen als eines ,cultural pair', denn es wird sich abermals zeigen, dass die Juden auf genau den Parametern höhere Werte erreichten, die der skeptische Bruder zu seiner IchDefinition deutlich markiert hatte. Welche Bürger, so lautet die Frage, waren in der Wilhelminischen Ära in besonderer Weise von Machtstellungen ausgeschlossen? Man muss hier nur an die Ausgrenzung der Juden vom Offiziersrang und vom Staatsdienst in machtorientierten Ministerien denken. Die Juden hatten demnach aufgrund dieser spezifischen Zurücksetzungen die dringlichsten Gründe, in Bildung und Kultur besonders zu brillieren. Sie sind also, strukturell gesehen, die deutschesten Deutschen. Freilich - solche Sätze sind nur erträglich, wenn man sich mit Peter Gay, George L. Mosse und anderen darüber einig ist, dass es eben zwei Deutschlands gegeben hat. So kann man denn getrost und mit guten Gründen sagen, dass die Juden eben eher Exponenten des .anderen Deutschlands' gewesen sind und dass sie es auch am längsten im Gedächtnis behalten haben. Gleichwohl darf man nicht philosemitisch überzeichnen. Man muss vielmehr klar im Auge behalten, dass - und anschließend erklären, warum - ein nicht geringer Teil der Juden ab 1870 auf dem Weg der liberalen bürgerlichen Parteien in einen mehr oder minder bornierten Nationalismus mitmarschiert ist. Gewiss, jetzt allen beweisen, dass man mindestens so stramm gegen die Feinde des Reichs stehe wie die Deutschen - das war ein immer wieder beschworenes Motiv. Dass das aber so problemlos diese Richtung nehmen konnte, hat vielleicht doch zu tun mit den beiden letzten der genannten Punkte:
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Mosse 1999,22. IdR 12/1906, 65ff.
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Deutschland - eine kulturhistorisch definierte Größe. Das auserwählte Volk (ad 9,10) Die eigentlich kulturhistorisch definierte Größe Deutschland' mit seiner Frontstellung gegen das Zivilisations- und Revolutionskonstrukt Frankreich genau an dem Punkt, als es 1870 durch die erreichte Einheit politische Realität wurde, da kappt es immer deutlicher die universale Richtung (Herders, Humboldts und auch noch J. Grimms), lässt also Freiheit immer mehr verkümmern, formt Kulturorientiertheit in immer unverschämter behauptete Kulturüberlegenheit um. Schließlich endet es in einem fremdenfeindlichen, rigorosen Chauvinismus. Es ist nun interessant, mit welchen Worten erste Anzeichen dieser Entwicklung 1841 schon beschrieben worden sind: „Diese Einseitigkeif', so sagt Friedrich Engels, „machte denn die Deutschen zum auserwählten Volk Israel und mißkannte alle die zahllosen weltgeschichtlichen Keime, die außerdeutschem Boden entsprossen waren" (373). Die Deutschen also immer deutlicher auf dem Wege zur Selbstinterpretation eines ,auserwählten Volkes' - hatten die Juden da besondere Bremsen oder kannten sie eine derartige Position? Die Antwort steht unverschlüsselt im Punkt 10 meines Aufrisses. Wir müssen jetzt die Summe ziehen: Bei allen 10 Punkten ergibt sich ohne große Auslegungskünste tatsächlich eine objektiv bestehende Nähe, manchmal sogar in ganz frappierender Weise. Dass diese Nähe von den Juden gesehen worden ist, ist in den einschlägigen Quellen, Reden, Tageszeitungen, Memoiren, Verbandsakten hundertfach belegt. Es bedarf aber noch eines langwierigen Quellenstudiums, um bestimmen zu können, in welchem Grade a) auch die Deutschen diese Parallelität wahrgenommen und b) in welchem Grade sie sie positiv aufgenommen haben. Es kann durchaus sein, dass letzteres zögerlich geschehen ist und selten obendrein. Von besonderem Interesse wird es dann c) sein, ob bei offenem oder verdecktem Zugeständnis einer Verwandtschaft auch Abwehrreaktionen gerade wegen dieser verwandtschaftlichen Nähe auszumachen sind. 2.4. Der deutsche Weg der Zionisten bei der geistigen Fundierung Israels Wir hatten aber noch einen zweiten Beweisgang angekündigt: Ich erhoffe Argumentationshilfe ausgerechnet auch von denen, die als Zionisten von jeder Illusion Abschied genommen hatten, dass die Juden auf deutschem Boden jemals beheimatet sein könnten. Nun muss man sich vorab in Erinnerung rufen, dass diese Bewegung selber in verschiedene ideologische Grundpositionen gespalten war. Keine einzige von diesen argumentierte nun direkt und ohne Umschweife antideutsch. Sie gaben sich eher als Zurückgestoßene, die nun nicht mehr zögerten, Konsequenzen zu ziehen und von Illusionen Abschied zu nehmen. Dabei meinten sehr viele, durchaus zwei Herren dienen zu können, einerseits gute Deutsche und zweitens mit ganzer Kraft auch hingebungsvolle Zionisten zu sein. Wieso das? Sie zeigten einfach, dass jedes menschliche Leben immer von mehrerlei Solidaritäten durchzogen ist: Familie, Freundschaften, Nation, Religion (die ultramontanen Katholiken etwa) und vielerlei andere Bindungen mehr. Ehe nun gezeigt wird, dass sie in ganz erstaunlicher Weise den typisch deutschen Weg eines Kulturstaates gegangen sind, sei vorher noch ein
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Zitat dargeboten, das diesen typisch deutschen Weg noch einmal in aller Klarheit beschreibt: „Als das heilige römische Reich deutscher Nation am Anfang des 19. Jahrhunderts in Stücke ging, setzte alsbald eine leidenschaftliche Agitation ein, das Gebäude wieder aufzurichten, und ruhte nicht, bis das Ziel erreicht war. Warum? Gewiß, das Bewußtsein gemeinsamer Geschichte, gemeinsamer Sprache wirkte mächtig. Aber wo lag letzten Endes die Einheit der Deutschen, nachdem sie äußerlich verloren war? In dem gemeinsamen Schrifttum. Alle, die Goethes und [...] Schillers Werke als Nationalschatz ehrten, wollten und mußten wieder zu einer politischen Nation werden, nein, sie waren durch die bloße Tatsache dieses Besitzes eine Nation. Der Kenner weiß, wie morsch das Nationalgefuhl in Deutschland war, bevor es wieder eine deutsche Literatur gab. Bald nach unsern Klassikern aber schwillt es mächtig an, es stärkt sich durch ihre Werke und orientiert sich nach ihnen. Bismarck hätte die politische Einheit nie schaffen können, wenn nicht vorher von unsern Klassikern die geistige Einheit begründet worden wäre, und man darf getrost behaupten, daß das Volk, das den Faust in der Ursprache liest, über die politischen Grenzen hinaus und für alle Zeiten zusammenhalten wird." Es würde hier so schnell keiner protestieren, wenn nunmehr mitgeteilt würde, dass das aus dem Munde eines emphatischen Grimm-Anhängers auf dem berühmten 1. Germanistenkongress in der Paulskirche stammt, also 1856 vorgetragen worden ist. In derartig klarer Linienführung ist hier der „deutsche Weg" nachgezeichnet. Es ist hier aber eine Falle gestellt worden, denn es sprach in Wirklichkeit ein bekannter Zionist, eben jener Moritz Goldstein, der sich 1915 Gedanken über „Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur" machte. 43 Ein solches Beweisverfahren wäre nun nicht viel mehr als ein unleidlicher Schabernack, wenn die Reaktion, die gewiss fast alle Leser im Stillen ausformuliert haben, nicht tatsächlich auch von den Zionisten laut und deutlich geäußert worden wäre. 1914 schreibt die zionistische „Jüdische Rundschau", die ich von einem Schüler, Nathanael Riemer, 44 habe systematisch untersuchen lassen: „Denn wir Juden machen jetzt eine ähnliche Bewegung durch wie Deutschland in den Jahren 1770 bis 1870. [...] Auch wir deutschen Zionisten sind mit Goethe und Schiller, mit Lessing und Herder, mit Kant und Fichte groß geworden. Wir genießen deutsche Bildung, wandern in deutschen Landen, dienen im deutschen Heere. Daher haben wir das Recht und die Pflicht, mit dem erforderlichen Takte an der deutschen Zukunft mitzuarbeiten. [...] In jüdischen Sachen jüdisch: Wir Zionisten stehen vor einer ähnlichen Bewegung wie das Deutschland zu Zeit des , Sturm und Dranges' und der Befreiungskriege. Wie Deutschland damals, so legen wir Nationaljuden den Grund zu unserem Werke. Wir wecken die Liebe zu unserem Ahnenlande [!]. Zionistische Turner wandern, wenn der Frühling kommt, hinüber nach Erez Israel und ziehen mit hebräischen Liedern durch die Ebene Saron und die Berge Judas. Auch wir sind im Begriff eine jüdische Universität zu gründen wie Deutschland im Jahre 1810 als
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Goldstein 1915, 19f. Außer ihm habe ich noch Arndt Kremer („Im deutschen Reich") und Jürgen Janesch („Israelitisches Gemeindeblatt") fllr einzelne Zitate zu danken.
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Zeichen nationalen Aufschwungs. [...] Wir deutschen Juden haben die Glanzzeiten Deutschlands erlebt und tief wurzelt in uns deutsche Kultur. [...] Mit den Waffen des Geistes, mit der hebräischen Sprache, führen wir unsere Befreiungskriege. Wenn dann stolz-jüdischer Geist und hebräische Sprache in unsere Schulen und in unsere Jerusalemer Universität eingezogen sein werden, wenn in den Landerziehungsheimen und den Freien Schulgemeinden von Erez Israel Hebräisch gesprochen werden wird, dann wird unser Düppel, Königgrätz und Sedan gekommen sein. Auch wir werden wohl ein Jahrhundert brauchen bis unsere Träume in Erfüllung gegangen sein werden: ein jüdisches Zentrum im Ahnenlande, ein einiges Judentum, gefestigt durch das Band der hebräischen Sprache." 45
Das Ergebnis ist eindeutig, fast in erschreckender Weise: Auch die Zionisten glauben an die tiefe Durchdringung von deutschem und jüdischem Wesen, und um zu ihrem Staat zu kommen, sind offensichtlich viele genau den spezifischen „deutschen Weg" gegangen. Auch moderne Wissenschaft beschreibt die Zugfolge der Zionisten so: „eine Ideologie, die eine Sprache schuf, welche eine Gesellschaft schmiedete, die zu einem Staat wurde." 46 Deswegen müssen die Zionisten auf ihrem typisch deutschen Weg noch lange nicht auch die Abwege der Deutschen mitgegangen sein. Man kann nun resümieren: Bei einer derartigen Struktur des Gesamtfeldes kann man sich vielleicht doch durchringen und sagen: Es lohnt sich, den in Aussicht genommenen Forschungsweg zu gehen. Bei welcher der drei vorgestellten Thesen man Halt machen muss, steht dahin; fest dagegen steht, dass die Menge des zu sichtenden Materials immens sein wird. Dass man diese nun nicht so klar sieht wie den Grundriss, ist arbeitspsychologisch sicherlich eher als Vorteil zu zählen.
3. Literaturverzeichnis Alter, Peter u.a. (Hg.) (1999): Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. München. Arndt, Emst Moritz (1813): Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze. Leipzig. Assmann, Aleida/Assmann, Jan (1987): Kanon und Zensur als kultursoziologische Kategorien. In: Dies. (Hgg.): Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. München, 7-27. Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und Identität in frühen Hochkulturen. München. Bär, Jochen A. (2000): .Nation' und .Sprache' in der Sicht romantischer Schriftsteller und Sprachtheoretiker. In: Gardt 2000,199-228.
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Jüdische Rundschau 21/1914,221. Harshav 1993, 12.
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DMITRI ZAKHARINE
Konversations- und Bewegungskultur in Russland Von der,Sprachdiachronie' zur historischen Kommunikationswissenschaft
1. Neue Tendenzen in der historischen Sprachforschung Die Frage danach, welche Rolle die Sprachwissenschaft fur die Gelehrsamkeit der modernen Gesellschaft spielen soll, kann heute als Überlebensfrage dieser ehemals mächtigen Disziplin gestellt werden. Im pragmatischen Kontext einer komplexen Gesellschaft 1 mit fragilen und variablen sozialen Gruppen, mit ausdifferenzierten Teilsystemen und miteinander konkurrierenden Bild- und Schriftmedien muss die .Sprache' als Objekt der Forschung immer wieder neu definiert und legitimiert werden. Mit einer sich ändernden Spracherfahrung sozialer Akteure ändern sich auch sprachwissenschaftliche Deutungsstrategien und insbesondere der Begriff der Deutungskompetenz. Dieser Begriff vermittelt sozusagen den agonalen Aspekt gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens und muss immer wieder aufs Neue erobert werden. Der fortdauernde Paradigmenwechsel in der Sprachwissenschaft lässt sich in der zeitlichen Inversion an den Fragestellungen erkennen, die zum gegebenen Zeitpunkt schon obsolet geworden sind und den Erwartungshorizont einer Gesellschaft nicht mehr treffen können. Die Notwendigkeit, eine komplexe Gesellschaftsstruktur im Hinblick auf ihre mediale Varietät erklären zu können, hat insbesondere in der Nachkriegszeit zum Aufschwung semiotischer Zeichentheorien beigetragen. Das Zeitalter des Strukturalismus hat von vielen symbolischen Begriffen Abschied genommen, die in der Epoche der Romantik zur Konzeptualisierung der Nationalsprache beigetragen hatten. So fragte man nicht mehr nach dem ,Geist', 2 sondern nach der Struktur der Sprache. 3 Heute fragt
2
3
N. Luhmanns Begriff der Komplexität' umfasst sowohl die Vorstellung von der zunehmenden Ausdifferenzierung und Interpénétration gesellschaftlicher Teilsysteme als auch die Vorstellung von einer spezifischen Borniertheit bzw. Widerstandslust, die freigesetzte Sozialbereiche gegenüber der Umwelt kultivieren. Vgl. Luhmann 1 9 9 9 , 4 5 f f . , 289ff. Herders Tradition, in der dem Geist der Sprache eine kulturstiftende Rolle zukommt, reicht bis in die 50er Jahre des 20. Jh. hinein. Vgl. z.B. Rohlfs 1947. Zur Geschichte und Ideologie des europäischen Strukturalismus des 19.-20. Jh. s. z.B. Schiwy 1984 und Albrecht 1988.
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man nicht mehr nach der Struktur der Sprache, mithin auch nicht nach dem Bestand und der Konfiguration von Sprachzeichen, sondern man fragt nach kollektiven und individuellen Praktiken des Sprachgebrauchs, an denen sich soziale Akteure in zeitlich und räumlich eingeschränkten Kontexten beteiligen. Anstatt sich auf den Begriff , Sprachstruktur' zu stützen, begann sich die Sprachwissenschaft an solchen Begriffen wie ,Sprachhandeln' und .Sprachkommunikation' zu orientieren. Infolge der sog. .pragmatischen Wende' der 70er Jahre rückte in der Terminologie der Sprachwissenschaft der Sprechakt an die Stelle der Aussage, die Konversationstätigkeit an die Stelle des Gesprächs. Das Sprechen ist von Searle letztendlich als „eine Form regelgeleiteten Verhaltens" definiert worden. 4 Die Gleichsetzung von Reden als Handeln entwickelte sich zu einer fundamentalen Grundannahme der pragmatischen Sprachphilosophie, geriet jedoch gleichzeitig in den Mittelpunkt einer anthropologisch ausgerichteten Logozentrismus-Kritik. Heißt .Sprechen' wirklich .Handeln'? 5 Heißt ,Sprechen' immer .Handeln'? Oder ist erst in der europäischen Moderne im Zusammenhang mit der Erfindung des Buchdrucks, 6 mit der Normierung oraler Sprachkultur auf der Basis der Schrift und besonders im Zusammenhang mit der Expansion der Rechtssprache diese Möglichkeit entstanden, die verbale Tätigkeit (den ,Diskurs' also) als Handeln par excellence zu bezeichnen? Die für Hochkulturen relevanten theoretischen Ansätze versagen also bei ihrer Anwendung auf die Analyse ethnischer Peripherien und vormoderner Gesellschaften, in denen entsprechende Normierungsprozesse verlangsamt verliefen bzw. ganz ausbleiben konnten. Die medienhistorische Fragestellung, die im Hinblick auf die Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlichkeit an Relevanz gewinnt, bezieht sich also auf die Variabilität kommunikativer Sprachmedien in verschiedenen sozialen und historischen Kontexten. Während direkte Sprachkommunikation die Anwesenheit von Menschen voraussetzt, stützt sich die indirekte Sprachkommunikation auf solche Sprachmedien, die Kommunikation auch ohne direkten Kontakt von Menschen ermöglichen: Postboten, Postbriefe, Telephonmeldungen, Radionachrichten, E-mails etc. Erst infolge der technischen Revolution konnte die direkte Sprachkommunikation, die für vormoderne Gesellschaften einen typischen Fall darstellte, ihre Re-Medialisierung erleben. Aus der Perspektive der Medientheorie fragt man also nicht nur danach, wie sich die Struktur einer einzelnen Sprache historisch entwickelte, sondern auch danach, welche Sprachmedien den Wandel getragen haben. War es immer die gleiche Botschaft, die in 4
Searle 1 9 6 9 / 1 9 7 9 .
5
Vgl. die klassische, zum Manifest der Pragmatik gewordene Schrift von Austin 1955. Zur .Diskriminierung' der Körpersprache in Austins Sprachkonzept (auch im Hinblick auf die actio- Definition in der antiken Rhetorik) vgl. meinen Beitrag: Zakharine 1998.
6
Zum Wandel der gesellschaftlichen Kommunikation nach der Erfindung des Buchdrucks, s. MacLuhan 1969; Giesecke 1991.
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verschiedenen Zeitepochen auf unterschiedlichen Wegen vermittelt worden war, oder waren es doch unterschiedliche Botschaften, die mit den tragenden Medien eine Einheit bildeten? Mit dem Sammelbegriff .Sprache' werden heute unterschiedliche Normen und Medien gesellschaftlicher Kommunikation benannt. Es handelt sich um die Sprache des Rundfunks und der Printmedien, um die Sprache der Hausfrauen oder der Fußballfans. Unterschiede zwischen den Sprachmedien können heute anscheinend nur im Rahmen der Medienwissenschaft produktiv konzeptualisiert werden. In Anbetracht der medialen Wende scheint die zuvor führende historische Sprachforschung heute in eine Legitimationskrise versetzt zu sein. Im 19. Jh. haben kollektive sprachfundierte Vergangenheitsvorstellungen wesentlich zur Gemeinschaftsstiftung innerhalb europäischer Nationalstaaten beigetragen. Solche Vorstellungen stützten sich auf ein ideelles Sprachkonzept, dem entsprechend die gemeinsame .Ursprache' rational rekonstruiert werden konnte. Die heutige multikulturelle Welt demonstriert hingegen eine ideologisch gesättigte Indifferenz gegenüber dem Konzept kollektiver sprachfundierter Identität. Daher verweist die im akademischen Bereich .routinisierte' Bezeichnung .Diachronie' auf den Versuch, einen aus der Mode gekommenen Begriff in einem Museum der wissenschaftlichen Altertümer zu archivieren. Es ist klar geworden, dass die Gesellschaft nicht mehr nach gemeinsamen Sprachwurzeln, sondern nach generellen Möglichkeiten der Gemeinschaftsbildung, die sozialen Kollektiven ehemals eröffnet waren, fragt. Man setzt dabei voraus, dass die gesprochene Sprache bzw. die Sprache der Schrift in der Vergangenheit nur ein mögliches, aber nicht das einzige Mittel der Gemeinschaftsbildung sein konnte. Mit ihrer neuen Orientierung an der Medien- und Kommunikationsgeschichte wird von der historischen Sprachwissenschaft vor allem die Erschließung kommunikativer Zusammenhänge aus der historischen Perspektive heraus angestrebt. Man rekonstruiert nicht mehr gemeinsame Sprachelemente, sondern eher gemeinsame Gesprächsräume, in denen gesellschaftliche Kommunikationsbedürfhisse realisiert werden konnten. Mithin beschäftigt sich die historische Sprachforschung mit diachron erfassten Transformationsprozessen, die insbesondere seit der Frühen Neuzeit zur Instrumentalisierung der Sprache zum Zweck der Kommunikation beigetragen hatten. So umfasst z.B. der Begriff .Schriftkommunikation' in unserer Forschung historische Prozesse, die zu einer zunehmenden Verschriftlichung 7 des Alltags geführt haben: von der GutenbergRevolution über das Verfassen von Grammatiken bis zur Normierung des privaten Briefwechsels im 18. Jh. Die historische Sprachkommunikation wird im Hinblick auf Prozesse der Versprachlichung der Kommunikation erfasst: Es handelt sich beispielsweise um die Normierung parasprachlicher Signale (Husten, Rülpsen) durch Anweisungen zur Redekunst oder um die Vereinheit-
7
Zur Konzeptualisierung dieses Terminus s. ausführlich: Schlieben-Lange 1997; Ehler 1998.
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lichung und Ästhetisierung der Aussprache, wie es z.B. bei nasalen Vokalen in der französischen Salonaussprache des 18. Jh. der Fall gewesen war. Abgesehen von Wandlungsprozessen, die auf eine zeitlineare Achse bezogen sind, wird der Hauptakzent der historischen Sprachwissenschaft auf die Untersuchung von kulturellen Konfigurationsmechanismen gesetzt, bei denen die Sprache in eine Analogie- bzw. Konkurrenzbeziehung zu anderen Medien tritt. Es wird vorausgesetzt, dass Medien, die einer Gesellschaft zur Verfügung stehen, ein analoges oder sogar gemeinsames System von Signifikanten entwickeln können. In der Geschichte der Geldsprache und der verbalen Sprache stand beispielsweise das gemeinsame Problem der Signifikantenwahl immer an erster Stelle. Erst seit dem 18. Jh. manifestiert sich das Geld als Papiergeld. Mit Aktien und Banknoten sichert sich das städtische Kapital Wälder, Weinberge oder Häuser der Bauern. Erst seit dem 18. Jh. manifestiert sich die gesprochene Sprache als grammatisch und rhetorisch normiertes System, das nach dem Vorbild der Schrift reglementiert wird. Die Geldsprache und die verbale Sprache erleben also eine vergleichbare Vereinheitlichung in einer Epoche, in der der europäische Alltag in mehreren Bereichen verschriftlicht wird.
2. Zur Rekonstruierbarkeit historischer Gesprächsräume In den 60er Jahren des 20. Jh. haben insbesondere die Anthropologie und die Sozialpsychologie einen wesentlichen Beitrag zur Neugründung bzw. zur Modernisierung der Sprach- und Kommunikationswissenschaft geleistet. Beispielsweise wurde die expressive Funktion der Körperhaltung zwischen sprechenden Personen mit Hilfe von Videoaufnahmen untersucht. 8 Es wurde mithin vorausgesetzt, dass die körperliche Zuwendung in Richtung Adressat, der vorhandene oder fehlende Blickkontakt, die Arm- und Beinoffenheit, die Schulterorientierung, die Fußentspanntheit zu den signifikanten Variablen gehören, die den Ablauf und den Charakter einer verbalen Interaktion mitbestimmen. Dabei ermöglichen die entsprechenden audio-visuellen Methoden eine Beobachtung der Gesprächssituation im real-zeitlichen und räumlichen Ablauf, versagen aber dann, wenn es um epochenspezifische Unterschiede, um Stilwandel und kulturellen Paradigmenwechsel geht. Anders als in der Ausdruckspsychologie werden alltägliche Gesprächsstereotypen in der Geschichtswissenschaft als vielschichtige symbolische Konstrukte betrachtet. Der sprechende Körper wird also als ein konkret-historischer Ort begriffen, der im dialektischen Spannungsfeld von Objektivität und Subjektivität lokalisiert ist. Aus dieser Perspektive lässt sich z.B. fragen, welche Regeln des Körper-
Vgl. sowohl die pionierhaften Forschungen von Hall 1956, 1963 und 1964; M e h r a b i a n 1967 u n d 1968 als auch die späteren E x p e r i m e n t e von Bull z u m Verhältnis nonverbaler und verbaler Z e i c h e n in der sozialen K o m m u n i k a t i o n . Vgl. Bull 1983 u n d 1987.
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Verhaltens und welches Wissen einem Gespräch zwischen zwei Personen auf einer sog .persönlichen' Distanz von 1,5m vorgelagert sind. 9 Man fragt dabei nach Kausalbeziehungen zwischen der Gesprächsdistanz und den im politischen, sozialen und privaten Bereich gültigen Verhaltensnormen, die von Epoche zu Epoche variieren. Im Gegensatz zur empirischen Sozialforschung kann die historische Erfahrung nicht registriert, sondern nur noch anhand der historischen Daten rekonstruiert werden. Der ursprüngliche Ablauf des längst Geschehenen ist nur in Form von Erzählungen und Beschreibungen analysierbar: Erinnerte oder imaginierte Beispiele sind bei diesem Zugang nolens volens als Daten zugelassen. Wie kann jedoch eine historisch angelegte Verhaltungsbeobachtung den Gütekriterien der .Réhabilitât', ,Validität' und ,Generalisierbarkeit' entsprechen? In der empirischen Forschung versteht man darunter den Einsatz des gleichen Beobachters zu verschiedenen Zeitpunkten bzw. die Übereinstimmung zweier oder mehrerer Beobachter bei der Bewertung derselben Situation. Mit Hinblick auf die genannten Gütekriterien ist der Historiker darauf angewiesen, über die Beobachtungsart der von ihm analysierten Kommunikationsabläufe zu reflektieren. Daher orientiert man sich in der historischen Verhaltensbeobachtung zunehmend an den Quellen, die Selbstbeschreibungen und Augenzeugenberichte, das heißt unmittelbare ,Performanzfragmente' enthalten. Zu Quellen solcher Art zählen vor allem Memoiren, Tagebücher, Reiseberichte, gesellschaftliche Dramen, Paradeporträts, Karikaturen und andere Zeugnisse, durch welche die Abwesenheit von unmittelbaren Beobachtern teilweise kompensiert werden kann. Nur wenige Forschungen sind bis jetzt imstande gewesen, die Geschichte von verbalen und nonverbalen Verhaltensstereotypen vor dem Hintergrund der sich wandelnden kommunikativen Bedürfnisse der Gesellschaft zu skizzieren. Eine darauf orientierte Forschung würde die Vernetzung und gegenseitige Integration mehrerer überlieferter Mikrogeschichten voraussetzen, wie es z.B. bei der Sprachgeschichte, der Rechtsgeschichte, der Geschichte des Porträts, des Kostüms, der Waffe, des Tanzes oder der Medizin der Fall ist.
9
Der von den Sozialpsychologen ausgearbeitete Begriff für .Distanz' ist vierdimensional: 1) intime Distanz = von 0 bis 4 0 cm (die Kindheit, enge Freundschaft von Erwachsenen) 2) persönliche Distanz = von 4 0 cm bis 1,5 m (ein Gespräch auf der Straße, auf einer Party) 3) gesellschaftliche Distanz = von Im bis 4 m (Gespräch mit einem Kunden, Empfang einer Delegation) 4) öffentliche Distanz = von 4 m bis 8m (ein Politiker vor dem Parteikongress). Vgl. Reineke 1979.
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3. Rekonstruktionsmethoden Besonders fruchtbar unter den anthropologischen Ansätzen erscheint die parallele Betrachtung von verbalen, kinetischen und proxemischen Zeichensystemen nicht zuletzt aufgrund ihrer besonderen Rolle in der öffentlichen Kommunikation. Es handelt sich vor allem um Zeichen der Körperdistanz, um Körperstellungen und um die Gestik. Sie alle dienen neben der Sprache zur Übermittlung von Bedeutungen innerhalb einer sich vollziehenden Kommunikation. Die proxemische Körperdistanz, wie beispielsweise der Abstand dem sozial Höheren gegenüber, wird in jeder Gesellschaft durch besondere Vorschriften geschützt und durch markierte Distanzzeichen, wie z.B. die Schleppe, eine Gruppe von Leibwächtern oder einen langen Bürotisch symbolisch repräsentiert. Bei einer zeremoniellen Entfernung von etwa 10m kann keine Konversation mehr zustande kommen. Es war in den europäischen, vor allem aber auch in nichteuropäischen Gesellschaften bis zum 20. Jh. nicht selbstverständlich, dass man eine Gesprächsdistanz mit jedem Gesprächspartner höheren Standes aufbauen durfte. In der Schaffung einer sozialen Distanz (von 2 bis 4m) manifestierte sich auch die zivilisatorische Leistung der europäischen Konversationskultur: Jeder bekam sozusagen die Chance, eigene Worte in der Gesellschaft zirkulieren zu lassen. Die zweite normative Unterscheidung bezieht sich auf kinetische Zeichen, vor allem auf Posen und Bewegungen des Körpers. Zeremonielle Posituren des Adels unterscheiden sich z.B. von bildungsbürgerlichen Salonposen und diese wiederum von den eher sportlicheren Körperhaltungen der industriellen Gesellschaft. Drittens bildet das verbale Zeichensystem, vor allem aber die gesprochene Sprache einschließlich ihrer phonischen Ausdifferenzierungen, wie Stimmlage, Tonhöhe und redebegleitende Signale (z.B. Husten, Zungenschnalzen etc.) ein regelabhängiges Verhaltensmodell, das mehrere Umschaltmechanismen zwischen unterschiedlichen sozialen Normen festlegt: Im Unterschied zu Erwachsenen dürfen .schlecht erzogene' Kinder beim Sprechen an ihren Fingern lutschen, mit der Zunge schnalzen etc. Die symbolische Ordnung jeder Gesellschaft enthält typologisch konstante Unterscheidungen wie beispielsweise Raumordnung - Bewegungsordnung Sprachordnung', die sich zu verschiedenen Zeiten in epochenabhängigen Zeichenkonfigurationen realisieren. Diese Konfigurationen werden sowohl durch den zeitlichen Wandel (Kontinuität) als auch durch Kontextunterschiede (Diskontinuität) geprägt. Im letzteren Fall erscheint der Vergleich zwischen westeuropäischen, osteuropäischen und nicht-europäischen Kulturen als angebracht.
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4. Verhaltensnormierung und Verhaltenscodes Der Verhaltenscode, der über symbolische Körperhaltungen, DistanznahmeRegeln und Redemuster definiert wird, entsteht infolge der ununterbrochenen kompensatorischen Gegenwirkung von Kontroll- und Konditionierungsprozessen. Die schematische Darstellung solcher Prozesse würde besagen, dass bei der Konditionierung materielle Objekte der Umgebung auf somatische Systeme des Menschen wirken. Die somatischen Systeme passen sich mit Hilfe von .Körper-Adaptoren' an. So bestimmt die Art der Waffe die Körperhaltung des Kriegers. Die Ausgangsstellung eines Schwertritters wäre fur einen Schützen, der ein Gewehr zu bedienen hat, sinnlos. Wer einen Stein oder einen Speer zu schleudern hat, stellt sich anders hin als ein anderer, der eine Hellebarde schwingen soll. Die Stellung eines Bogenschützen ist für den Rapierfechter zweckwidrig.10 Die Notwendigkeit, ein langes Gespräch im Salon führen zu müssen, prägt die bildungsbürgerliche Gesprächsstellung, die sich ebenfalls an bestimmten Muskelgruppen orientiert. Neben der Konditionierung ist die Tendenz zur Festigung von Kontrollmechanismen vorherrschend; dementsprechend werden bestimmte Verhaltensmuster in Form eines Lebensstils routinisiert. Weiter ermöglicht die Befreiung aus den Fesseln des praktischen Gebrauchs eine symbolische und rituelle Verwendung von Gegenständen und Praktiken.11 Die zweckmäßigen Bewegungen, Körperstellungen und Floskeln werden im kollektiven kulturellen Gedächtnis abgespeichert, über mündliche, schriftliche und bildliche Medien tradiert. Sie können im Sinne eines Erinnerungsrituals, das sich auf gegebene oder erfundene Routinen bezieht, als Schaustellungen und Gesprächsfiguren der Elite auftreten, vom Glanz des Schönen und Vornehmen umgeben. Sie etablieren sich als Wertzeichen, die (genauso wie Schmuck und teures Geschirr) von Untenstehenden erstrebt werden. So gilt neben der .Tanzmeisterpose' Ludwig des XIV. (auf dem berühmten Porträt Rigauds) auch die von der Französischen Akademie elaborierte Hofsprache als symbolische , Kontrollinstanz' für die ganze Epoche des fürstlichen Absolutismus. Dieser Stil (von den roten Schuhabsätzen und Allongeperücken bis zu stutzerhaften mots à la mode: ah!, mon dieu!, quel horreur! etc.) wurde in Westeuropa als Recht auf eine exemplarische Selbstdarstellung operationalisiert - das Recht, das am Anfang nur wenigen Personen zukam. Später werden die prominenten Körperstellungen und Ausdrucksweisen von den Kammerherren und vom Hofgesinde wie vor dem Spiegel einstudiert, bis sie in der Rokoko-Zeit zur preziösen petit-maître-Eleganz herabsinken.12 Der Stil der
10
" 12
Vgl. z.B. Gaulhofer 1930/1969. Vgl. Hobsbawm 1998. Analog zur auswärts gedrehten Fußstellung des Adels etabliert sich - so Tikkanen 1912 - die maßgebende .Grätschstellung' des bürgerlichen Mittelstandes in den 30er bis 50er Jahren des
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Kunst, mithin auch der Redekunst, kann also im Leben reproduziert werden. Er kann weiter auch den Lebensstil prägen. Es handelt sich also um die Wechselwirkung von Handlungen und Handlungsstereotypen, welche über das Medium der normativen Anweisungen (z.B. Konversations- und Anstandsbücher) vermittelt werden. Diese Wechselwirkung kann insbesondere in Bezug auf die Ausdifferenzierung von Bild- und Sprachmedien auf verschiedenen sozialsomatischen Ebenen analysiert werden. Die Geschichte der westeuropäischen Höfe seit der Renaissance zeigt, wie die weltlichen Künste - insbesondere die Malerei und Rhetorik - von den mächtigen Fürsten in Dienst genommen werden. 13 Es entsteht ein gesellschaftliches Repräsentationstheater, in dem Tanz- und Konversationsfiguren mit den alltäglichen Verhaltensstrukturen der Noblesse vernetzt sind. Den älteren Kreisen des Bildungsadels und des Bildungsbürgertums entstammt das Bestreben, sich bewusst auf Schriftsteller und Künstler als Gewährsleute zu stützen und „daneben auch auf charismatische Vorstellungen von Kunstschaffen und Kunstgenuss". 14 Der im Sinne der .geistigen Nahrung' inszenierte Konsum der Zeichen- und Schriftwerke repräsentiert im 18. und 19. Jh. eine bewusste Distanzierung des Bürgers gegenüber der Sphäre des existenziell Notwendigen. Der privilegierte Eindruck eines .interesselosen', ,rein ästhetischen' (deswegen Reichten' und .ungezwungenen') Daseins wird durch die Kunststilisierung des Lebens erzeugt. Man spricht dabei von .Mode', wenn es um mediengesteuerte, psychisch kontrollierbare (bewusste) und zeitlich zumeist eingegrenzte Phänomene der Lebensstilisierung geht, vom .Habitus', wenn es sich um spontane (d.h. unkontrollierbare, unbewusste), meist nicht individuelle (sondern gruppenoder schichtspezifische) und lebenslang stabile Verhaltensphänomene handelt. 15 Um die Bildung einer körperlich und sprachlich angelegten Identität handelt es sich zumeist dann, wenn ein Verhaltensmuster in seiner unveränderlichen Form für eine kulturelle Gemeinschaft relevant bleibt.
5. Distanz, Körpergesten und Worte als konkurrierende' Kommunikationsmedien Im Folgenden soll die verbreitete Vorstellung von der führenden Rolle der Sprache in der sozialen Kommunikation West- und Osteuropas relativiert werden. Nicht in allen historischen Zeitperioden und nicht in allen Kultur19. Jh., in der sog. Biedermeier-Zeit. Die Grätschstellung unterscheidet sich von der adeligen, schließt aber an die stilisierten Schaustellungen des alten Rittertums an. 13
In anderen europäischen Gesellschaften, wie z.B. Russland, fehlt die Tradition der weltlichen Kunst bis zum Beginn des 18. Jh.
14
Bourdieu 1987, 161. Nahe an dem Begriff .Habitus' liegt der Begriff .Mentalität', durch den die affektiven und kognitiven Dispositionen eines gesellschaftlichen Individuums betont werden.
15
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kontexten vermochte die Sprache sich als primäres Medium der Kommunikation zu etablieren. Die Instrumentalisierung der Sprache für Zwecke der Kommunikation verlief vor allem als Elaboration gemeinsamer' (< lat. communis) Sprachnormen, die eine Gesellschaft zusammenhalten konnten. Es war jedoch nicht die Sprache allein, die im Zusammenhang mit Kontroll- und Konditionierungsprozessen einer kulturellen Normierung (siehe 4.) unterlag. Normierungsprozesse, die in Europa nicht geradlinig oder phasenverschoben verlaufen konnten, umfassten neben der Sprache sämtliche nonverbale Systeme des menschlichen Verhaltens (wie den gestischen Habitus, Körperposen und Körperbewegungen). So entstanden kommunikative Normen, die nicht primär sprachlich angelegt sein und in eine Konkurrenzbeziehung mit verbalen Verhaltensstrategien treten konnten. 5.1. Die proxemische Ordnung (Körperdistanz) Die erste Art der gesamteuropäischen Verhaltensnormierung bezog sich auf die Einbindung der körperlichen (,proxemischen l ) Distanz in zeremonielle Verhaltensriten der europäischen Höfe im 16. und 17. Jh. 16 Die entstandene Raumordnung zielte vor allem darauf ab, das Zeremoniell im Sinne der Herkunftsordnung zu sichern. Die zeitlich definierte Unterscheidung zwischen Geschlechtern (älter vs. jünger) projizierte sich auf die angelegte körperliche Differenz (fern vs. nah), die jedem Mitglied der Gemeinschaft einen festen Platz und eine fixierte Distanz gegenüber dem anderen in kollektiven Interaktionsritualen zuwies. Die Grenzen der körperlichen Annäherung und Entfernung konnten nicht beliebig verschoben werden, da eine solche Verschiebung die automatische Verletzung der sozialen Statusunterschiede zur Konsequenz hatte. Die Abweichungen von den an der Körperdistanz orientierten Verhaltensnormen waren durch einen einpolig (nicht zweipolig) gerichteten Vektor gesteuert. Allein der Höherstehende durfte die vorgeschriebene Distanz verkürzen, der „gemein man" musste auf die Bewahrung der räumlichen Entfernung achten. Die gleiche Regel galt auch auf der verbalen Ebene. Derjenige, dem nach seinem Rang eine geringere Rolle im Diskurs zugeteilt war, durfte das Gespräch weder anfangen bzw. abschließen noch das Thema frei wählen und erörtern. Mit anderen Worten: Es wurde eine freie Bewegung im Rahmen des Gesprächs in diesem Fall untersagt. Das räumlich angelegte Zeremoniell blockierte mithin den Mechanismus wechselseitiger interpersonaler Rhetorik, die sich als normatives Kommunikationsmodell lange nicht etablieren konnte.
16
Einem phänomenologisch Uberhöhten Begriff .Distanz', welcher Bildung, Sprache und Herkunft als Merkmale sozialer Unterschiede umfasst, steht der Begriff .Proxemik' gegenüber. Gemeint ist die Entfernung zwischen zwei stehenden oder sitzenden Personen, durch welche Statusdifferenzen gekennzeichnet werden (siehe 4 ).
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Von den sozialen Bedingungen der überwiegend ,proxemisch' geregelten Kommunikation fallen unmittelbar folgende ins Auge: der niedrige Grad individueller (sozialer) Mobilität und die unfreie Handlungswahl, die sich in der unfreien Wahl von Sitz- und Stehpositionen widerspiegelt. 5.2. Die kinetische Ordnung (Körperbewegungen, Gesten und Posen) Die zweite Art der Normierung bestand in der zunehmenden Abgrenzung der kinetischen Zeichen (wie z.B. vornehme Körperstellungen) von der proxemischen Raumordnung. Eine freie Zirkulation der Sprecher ging mit der Vereinheitlichung der kinetischen Verhaltensregeln einher. Zu solchen zählt man insbesondere symbolische Stehposen, Manieren des Gehens, des Grüßens, des höflichen Entgegennehmens und des Anerbietens. Insbesondere waren es im Hinblick auf den Militär- und Hofdienst die adeligen Kommunikationstechniken (wie Reverenz, Tanz oder Fechten), die eine an der Effizienz und Leistung orientierte körperliche Verfassung voraussetzten. Durch ausgefeilte Körpertechniken integrierte sich der Dienstadel in den Herrschaftszusammenhang des Hofes, während für die alte Aristokratie die Rang- und Autoritätsverhältnisse öfter an der körperlichen Distanz orientiert blieben. 17 Auch tänzerische Schemata wurden zur Orientierung des täglichen Verkehrs mehrerer, sich in ihren Interessen unterscheidender Personen bereitgestellt, wobei mit einer solchen kinetischen Regelung dem Verhalten der höfischen Existenz mithin eine größere Prognostizierbarkeit zugeteilt wurde. So wurden z.B. zum Zweck der Schadensminimierung in Fechtanweisungen „treffbare" Körperbereiche in Sekunden, Tertien und Quarten aufgeteilt und mit Ziffern versehen. Der Ausdifferenzierung von juristischen Praktiken auf der Basis der Grammatik und Rhetorik war vermutlich eine Reglementierung des körperlichen Interaktionsrituals vorangegangen. Dies wird durch den Charakter der Reglementierung bestätigt, die zunächst in Form einer zunehmenden Grammatisierung körperlicher Kommunikation zum Vorschein kam. Bewegungen auf dem Tanzparkett wurden bei den Tanzmeistem von Feuillet bis Rameau dem Federschreiben gleichgesetzt und in grammatische Abschnitte aufgeteilt. 18 Die Positionen der Füße, die wir heute aus dem Ballett (Abb.l) kennen und die im 18. Jh. zur gesellschaftlichen Etikette gehörten, sowie die Regeln für die Abnahme des Hutes wurden mit Ziffern bzw. mit Buchstaben versehen.
18
Der Begriff .Körpertechnik' im Gebrauch von Mauss, „als die Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen", erscheint uns zu vage. Er enthalt nämlich keine Vorstellung von Deutungsmustern, derer sich soziale Akteure in Bezug auf eigene Körpertechniken bedienen. Solche Muster sind bei der Bewertung des Klettems, Laufens ganz anders angelegt als beispielsweise bei der Deutung des gesellschaftlichen Tanzrituals in westeuropäischen Hochkulturen. Vgl. Mauss 1975, 199-223. Vgl. Feuillet 1700 ; Rameau 1725.
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Es liegt die Vermutung nahe, dass die elaborierte kinetische Ordnung wesentliche Grundlagen für die Standardisierung der gesprochenen Sprache schuf und Möglichkeiten für die Substitution nonverbaler Zeichen durch verbale in politischen, juristischen und zeremoniellen Praktiken des 18. und 19. Jh. eröffnete.
Position I
Position II
Position III
Position IV
Position V
Abb. 1: Fußpositionen (nach Feuilett 1700; Rameau 1725).
5.3. Die verbale Ordnung (Konversation) Die dritte Art der Verhaltensnormierung umfasst also die Sprache. Generell kann man dabei sagen, dass die Regeln fur soziale Annäherungen bzw. die Kriterien, wie sich eine Interaktion zum Aufbau eines bestimmten Ausmaßes an Vertrautheit zu gestalten hatte, mit der Zeit zunehmend an verbale Kommunikationsabläufe gebunden wurden. Was die bewusste Markierung sozialer Unterschiede anbelangt, so hat die bisher so maßgebende Körperdistanz zugunsten neuer sprachlich organisierter Unterscheidungen an Relevanz eingebüßt. Signifikant wurde die Unterscheidung von Siezen und Duzen, der Gebrauch von Imperativen im Gespräch mit Knechten und deren Vermeidung im Gespräch mit vornehmen Herren. Dabei ist diesen neuen sprachlich organisierten Interaktionsmodi durchaus auch eine kommunikative Entlastungsfunktion zuzuerkennen, wie es z.B. beim
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Wechsel vom körperlichen zum verbalen Kompliment erkennbar werden kann. 19 So schrieb man fortan kniefällig, anstatt tatsächlich zu knien. Die Versprachlichung der Geste des Handkusses im österreichischen Küss die Hand! oder der Geste der Hutabnahme im franz. Chapeau! findet dabei eine Parallele in der Versprachlichung der tiefen Verbeugung, die durch die russische Floskel Vam poklon ot nas (*Wir verbeugen uns vor Ihnen; d.h. Wir grüßen Sie!) ausgedrückt wird. Körperlich angelegte Zeremonien konnten fortan auch ganz ausbleiben, unter der Voraussetzung, dass beide Sprechenden bereit waren, Floskeln statt der Körperzeichen sozusagen als .Zahlungsmittel' zu akzeptieren. Dennoch musste der Kredit des Vertrauens immerhin bis ins 18. Jh. hinein ausgehandelt werden: „Mein Herr/meine Dame, wollen wir ohne Zeremonien reden" war deshalb oftmals der erste Satz eines Gesprächs, mit dem auf die gewünschte Art und Weise der weiteren Gesprächsformalien verwiesen wurde. Unter den Umständen der .Verschriftlichung' und .Versprachlichung' des Alltags entwickelt sich die Beziehung zwischen Worten und Gesprächsgesten zunehmend als gegenseitige Modifikation. Hierbei ist vor allem an die Illustration und Verdeutlichung der verbalen Zeichen zu denken. Im bildungsbürgerlichen Salon wird nicht der Tänzerstellung, sondern der Sprache und den ausdifferenzierten begleitenden Gesten (Illustratoren 20 ) die wichtigere Rolle zuteil. Die repräsentative Körperhaltung verliert hingegen an Bedeutung und entzieht sich der Reglementierung, während das gesellschaftliche Ideal von Körper (Sport) und der gesellschaftliche Anstand immer weiter auseinander treiben. 21 Im Sport wird der Körperkult gesteigert, wobei die Gesellschaft von der körperlichen Arbeit und von körperlich angelegten Anstandsvorstellungen immer weiter abrückt. Die reglementierte und geübte Körperstellung löst sich zu Beginn des 19. Jh. im romantischen Konzept des trägen, melancholischen und spleen-kranken Körpers auf. Bereits ab dem 17. Jh. wird das Wettstreiten sichtbar, welches sich im Rahmen der Dualität zwischen den überwiegend körperlich und den überwiegend verbal orientierten Kommunikationsstrategien entfaltete. 22 Die überwiegend körperlichen Strategien waren dabei an den Raum der Säle gebunden, in dem zumeist getanzt und kaum räsoniert wurde. Die überwiegend sprachlichen Strategien entfalteten sich vor allem beim Gespräch im Salon, in dem man fortan nicht mehr in der Mitte, sondern an der Wand stand, an der man sich an eine Säule oder an ein Kamingitter lehnen konnte.
" 20
21 22
Zur Versprachlichung des Kompliments sehr ausführlich und systematisch: Linke 1996. Wie .batons' (Taktzeichen), .ideographs' (logisch-diskursive Bezeichung von Gedankengängen), .deictic movements' (Objektverweise), .spatial-movements' (Raumbezeichnungen), .kinetographs' (Zeichen für Körperbewegungen) und .pictographs' (ikonische Objektbezeichnungen). Vgl. Eichberg 1978; Bette 1988. Dieser Aspekt des Verhaltenswandels ist insbesondere von A. Linke ausgearbeitet worden. Vgl. Linke 1996 und 1998.
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6. Die Variation körperlicher und sprachlicher Verhaltenscodes in Europa 6.1. Das Übergewicht körperlicher Gesprächsdistanz gegenüber der Sprache Die betrachteten historischen Wandlungsprozesse verliefen innerhalb der westund mitteleuropäischen Kulturtradition mit einer gewissen Kontinuität ohne scharfe Zäsuren und harte Traditionsbrüche, die fur andere Gesellschaftstypen jedoch charakteristisch sind. In der ostslavischen Peripherie, z.B. und vor allem in Russland, trat die Modernisierung öffentlicher Kommunikationstechniken mit deutlicher Verspätung zutage. Die räumliche Distanz und die feste Platzordnung erschienen in diesem Raum noch dann überlegen, als in Westeuropa die Rhetorik und graziöse Posituren des Leibes längst in den Vordergrund gerückt waren. Infolge der phasenverschobenen Entwicklung unterschied sich das Zeremoniell im Zarenreich von den vergleichbaren Programmen von Godefroy „Cérémonial de France" (1619), de Callières „Des Mots à la mode et nouvelles façons de parler" (1693) und von Rohrs „Einleitung zur CeremonialWissenschaft" (1728), da in diesen gerade auch der Kunst der Konversation eine herausragende Bedeutung beigemessen wurde. Die wesentliche Charakteristik der gesellschaftlichen Kommunikation in Russland blieb ihr geringer Grad an Versprachlichung. Dies soll nicht heißen, dass man überhaupt weniger sprach. Jedoch zeigt sich die Rhetorik als ein System von Sprachregeln, das unfähig war, kommunikative Abläufe im öffentlichen und politischen Bereich steuern zu können. Der Engländer Fletcher schreibt in einem Traktat über Russland (Ende des 16. Jh.), dass Sitzungen von Bojaren „ohne jeden Diskurs verlaufen" und dass „die Bojaren auf die Fragen des Zaren alle der Reihe nach antworten, ihrem Rang entsprechend, als ob sie zuvor eine Lektion gelernt hätten": „ they answer in order, according to their degrees, but all in one forme without any discourse: as having learned their lesson before." 23 „Solentque colloquia sua sedendo semper soociare" („Sie pflegen ihre Gespräche immer im Sitzen zu ftihren") schreibt 1680 Jacob Reutenfels, der Botschafter des polnischen Königs „und [sie] bewerten uns als Windbeutel, da wir unsere Konversation im Gehen führen". 24 In einem System der traditionellen Rangplatzordnung spielte nicht die Art des Stehens (Positur), sondern die zeremonielle Distanz zum Herrscher eine entscheidende Rolle in der sozialen Kommunikation, wie dies z.B. durch die strikte Festlegung des Stehplatzes zum Ausdruck kam. Bei feierlichen Messen
23 24
Fletcher 1591. Reutenfels 1680, Liber III, cap. 13, 191.
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in der Uspenskij Kathedrale standen der Zar und der Patriarch auf der zwölften Stufe der Treppe, der Metropolit auf der achten, der Erzbischof auf der sechsten, der Bischof auf der vierten. Im Protokoll wurden zuerst die sitzenden Bojaren genannt, dann die rechts vom Thron stehenden, dann die links stehenden, danach wurden die im Vorzimmer sitzenden Adeligen und Gäste aufgezählt. So beschreibt ein Zeitgenosse die Sitzordnung der Bojaren im ausgehenden 17. Jh.: „Und wenn die Bojaren sich zu setzen beginnen, so machen sie dies dem Rang nach: ein Bojar unter dem Bojaren [...] Und manche von denen wollen sich unter die Leute, die ihnen der Herkunft nach gleich sind, am Tisch nicht setzen. [...] Und solche lässt der Zar mit Gewalt hinsetzen, und die Bojaren wollen sich nicht hinsetzen lassen [...]. Und auch wenn ein Bojar unter den Anderen hingesetzt wird, so bleibt er nicht sitzen und arbeitet sich aus dem Tisch heraus, und man lässt ihn nicht fort, und sagt ihm, er solle den Zar nicht erzürnen und er solle hörig sein. Und er schreit, dass selbst wenn der Zar ihm den Kopf abhaut, würde er unter dem Anderen nicht sitzen. Und so kriecht er unter den Tisch hinunter. Und vom Zaren wird befohlen, den hinauszujagen und ins Gefängnis zu schicken. Und nachher wird solchen Bojaren für die Verweigerung des Gehorsams die Ehre, das Bojarentum [...] gekündigt und sie müssen ihre alten Würden dann wieder erdienen." 25
Im Westen ging die Versprachlichung kommunikativer Abläufe mit der fortschreitenden Modernisierung des staatlichen bürokratischen Apparates einher. Kurz formuliert: Eine ständig wachsende Zahl von sozialen Akteuren bekam die Möglichkeit, auf der formalen bzw. sprachlich formalisierten Distanz mit den Inhabern der Herrschaft zu kommunizieren. Dies bedeutet, dass eine unmittelbare körperliche Nähe zum Verteiler der Gnaden im Zuge der Vergesellschaftung an Relevanz eingebüßt hat. In Russland war es dabei vor allem der niedrige Stellenwert von rhetorisch reglementierten Diskursen, der als Ursache für die ungenügende Formalisierung des Rechts- und Verwaltungssystems gelten kann. Anders als im Westen spielte sogar bis in die jüngste Zeit die körperliche oder proxemische Distanz eine prominente Rolle innerhalb der öffentlichen Kommunikation. Mit Vorbehalten könnte man sehr wohl Analogien zwischen den alten bojarischen Sitzordnungen und der zeremoniellen Stehordnung unter den Vertretern der sowjetischen Nomenklatur ziehen. So waren es nicht offizielle sprachliche Aussagen der Staatsleiter, sondern ihre Positionierungen auf der Tribüne des Leninmausoleums, die Information über reale Machtverhältnisse in der Sowjetunion vermittelten. „Informierte Huldiger können aus der Reihenfolge, in der die Politbüromitglieder stehen, den Auf- und Abstieg, mithin die derzeit verbindliche Linie ablesen", schreibt „Der Spiegel" am 14. November 1983. Bei der Beerdigung des Staatschefs konnte sein Nachfolger daran erkannt werden, dass
25
KotoSichin 1645/1676,
66V-67.
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er rechts vom Sarg erschien. „Rechts neben dem Sargträger Andropows Nachfolger Konstantin Tschernenko" - schreibt „Der Spiegel" am 14. Februar 1984 - „links Gorbatschow - nicht zufällig fuhren diese beiden Männer den Begräbniszug an." An diesen Beispielen kann man eine Tendenz zur kontinuierlichen Verlagerung der Körperdistanz-Symbolik aus dem altrussischen ins moderne Zeremoniell feststellen. Grund dafür war die geringe Unterscheidung zwischen einer persönlichen und einer amtlichen Seite der russischen Herrschaft. 6.2. Die unfreie Zirkulation der Sprechenden in öffentlichen Gesprächsräumen Die verspätete Modernisierung prägte insbesondere die kinetische Zeichenordnung, die am Rande Europas äußerst langsam an Relevanz gewann. Unter Berücksichtigung des traditionell hohen Wertes des proxemischen Verhaltens in spät modernisierten Gesellschaften kann die Abschaffung der Rangplatzordnung in Russland im Jahr 1682 dennoch als ein Schritt in Richtung einer distanzunabhängigen Konversationskultur angesehen werden. Aber es waren erst die durch Peter I. eingerichteten Assembleen, die durch eine rationale Manipulation des menschlichen Milieus eine moderne Zirkulation der Worte und der Sprechenden im geschlossenen Gesellschaftskreis ermöglicht haben. Durch einen Erlass vom 26. November 1718 wurde die Kommunikation zwischen verschiedenen Alters- und Geschlechtsgruppen erlaubt, legitimiert und autoritativ durchgesetzt. Die entsprechende, aus deutschen Umgangslehren übernommene Anordnung legte den freien Platz- und Wortwechsel fest: „In der Assemblee darf man frei sitzen, gehen, spielen." Es ist jedem (außer den Lakaien) gestattet, in eine Assemblee zu kommen: „sowohl männlichem, als auch weiblichem Geschlecht". So waren die Ausführungen in diesem Erlass. Gravüren des 18. Jh. zeigen, wie die russische Gesellschaft sich auswechselbare Steh- und Sitzpositionen aneignete. Die Sitte des Promenierens und Diskutierens ist hier modern geworden, berichtet der Holsteiner Bergholz um 1720 aus St. Petersburg. 26 Die Reformen innerhalb des gesellschaftlichen Gesprächsraums, die von der russischen Herrschaft nach westlichen Mustern durchgeführt worden waren, haben jedoch kaum eine qualitative Veränderung der traditionellen Kommunikationskultur bedeuten können. Die erste Unstimmigkeit in der gesellschaftlichen Bewegungskultur Russlands, die von mehreren Beobachtern als solche genannt worden ist, bestand darin, dass diese sich vor dem Hintergrund eines unangemessenen Alkoholkonsums entfaltete. Der Anspruch auf ausgefeilte Körpertechniken und ausgewogene Sprachkomplimente wurde dadurch unter Umständen in Zweifel gestellt, wenn nicht ganz getilgt. Fast alle Abende, die der Holsteiner Bergholz zwischen den Jahren 1721 und 1723 beschreibt, waren begleitet von einem 26
Bergholz (1721/1723).
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enormen Weinkonsum, den man von jedem Teilnehmer erwartete und der den Tanzabenden üblicherweise auch voranging. Auch Frauen konnten sich dem Umtrunk nicht entziehen, was den Holsteiner anscheinend besonders beeindruckte. Bei einer Maskerade, die am 24. Februar 1723 stattfand, mussten die Damen „ein großes englisches Spitzglas mit ungarischen Wein austrinken, welches vielen Rest gab, so dass sie nachher kaum recht gehen konnten" (Bergholz 1723, 202). 27 Der deutsche Höfling sollte sich mit der Feststellung abfinden, dass russischen Damen nicht die Privilegien bei der Imagepflege zuerkannt wurden, welche an den westlichen Höfen angebracht waren. Offensichtlich besaß die russische Gesellschaft des frühen 17. Jh. keine protektiven Einstellungen im Hinblick auf die Imageverletzung des weiblichen Geschlechts. 28 Als einige Damen bei einer Maskerade im November 1721 ausblieben, verlangte Peter I. sie am nächsten Tag zurück, „um wieder einzuholen, was sie versäumt hatten, nemlich einen vollkommenen Rausch" (Bergholz 1721, 156). Die Damen wussten im voraus, „dass sie schlechte Weine zu erwarten hätten, welche noch wohl gar [...] mit dem abscheulichen Kornbrandtewein vermischt wären." Eine gebürtige Deutsche, die Frau des Marschall Olsuflev - „eine recht artige fromme Frau", ist gleich nach der Ankündigung der Folter zur Zarin gefahren und bat um Erlaubnis, wegzubleiben, da sie hochschwanger sei. Die Zarin konnte der Marschallin selbst nicht helfen und schickte sie weiter zum Zaren. Aber auch dieser lehnte die Bitte der Dame ab, mit der Begründung, „er wolle ihr solches gern zu Gefallen thun, allein er könnte es unmöglich, wegen der andern vornehmen russischen Damen, weil ja ohnedem schon bey ihnen die Deutschen so verhasst wären, und dieses könnte die Eifersucht gegen die Ausländer verstärken". Nach dem Umtrunk hatte die Hofdame eine Fehlgeburt (ebd., 157). Im Westen kam die zunehmende Sensibilität der Gesellschaft in der Umkehrung realer Machtverhältnisse (demonstriert durch die fuhrende Position des Mannes) zum Vorschein. Die Ausgefeiltheit gesellschaftlicher Kommunikationstechniken wurde in der Umsetzung auf die körperliche und sprachliche Gewandtheit von Frauen demonstriert. Eine solche Demonstration ist im Fall des dominierenden, hierarchisch angelegten Herrschaftszeremoniells in Russland nicht möglich gewesen. Während die westeuropäische, sprachfundierte Salonkultur schon im 18. Jh. vorwiegend von Frauen dominiert wurde 27
Vgl. die Beschreibung des Festes am 11. August 1723: „Dieses Fest währete von 6 Uhr Nachmittags bis nach 4 Uhr des anderen Morgens; und da der Kaiser heute Lust hatte zu trinken, und zu verschiedenen Malen sagte, dass derjenige, welcher sich heute nicht mit ihm einen Rausch trinke, ein Schurke sey, so ward auch so grausam getrunken, w i e noch niemals auf einem Fest seit unserm Aufenthalt in diesem Lande geschehen. Es wurden auch die Damen nicht verschonet [...]." (Bergholz 1723, 300)
28
Eine Unterscheidung von defensiven Einstellungen im Hinblick auf die Wahrung des eigenen Images und protektiven Einstellungen im Hinblick auf die Wahrung des Images anderer trifft Goffman 1986, 19.
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und die weibliche Ausdrucksweise im öffentlichen Bereich als maßgebend galt, konnte dies im 18. Jh. in Russland mit Sicherheit noch nicht der Fall gewesen sein. Laut einem Bericht vom 27. März 1723 wollte Bergholz dem Umtrunk entgehen, der vor dem Tanzabend bei der Zarin stattfand. Die älteste Prinzessin nötigte den Holsteiner zum Trinken, und zwar nicht wegen der Präsenz der Damen, die ebenfalls tranken, sondern mit der Begründung, dass der standesgemäß ältere (Herzog von Holstein) sein Glas ja getrunken habe. 29 6.3. Unstabilität des öffentlichen Konversationsrahmens Für die Stabilisierung der Konversationskultur West- und Osteuropas im 18. Jh. spielte die Kodifizierung gesellschaftlicher Gesprächsthemen eine herausragende Rolle. In Russland wurde das .Konversationsstück' mit der Aneignung zweisprachiger deutsch-französischer und französisch-deutscher Konversationsbücher eingeführt. Solche parallelsprachigen Lehrbücher, wie „Dialogues domestiques" (1749) von G. Platz, „Französische, Deutsche und Russische Gespräche" (1782) von M. Kramer oder „Nouveaux dialogues françaises et russes" (1799) von Fabian erfüllten in geschlossenen Erziehungsanstalten für den Adel eine Funktion universaler Anweisungen zum verbalen Umgang. Sie zeigten nicht nur, wie man Französisch und Deutsch spricht, sondern auch, wie man höflich und gesellig zu sprechen hatte. Durch maßgebende Dialoge - wie beispielsweise „Man redet von Kaffee", „Man raucht Taback", „Man ruft Marichen", „Man nöthiget die Gäste zu essen", „Man redet von schocolat" wurden austauschbare Gesprächsthemen definiert. Die allgemeine Gültigkeit eines Konversationsstücks verweist dabei auf die zunehmende Verlegung der gesellschaftlichen Kommunikation auf eine verbale Achse. Man begann die Worte als universelles Tauschmittel zu bemessen, analog zu petrinischen Rubeln, die 1700 (kurz vor der Einrichtung von Assembleen) als einheitliches Zahlungsmittel eingeführt worden sind. Sobald es einen verbal angelegten kommunikativen Raum gab, konnte das Aussteigen aus dem Gespräch nicht unbemerkt bleiben. Das Schweigen wird zwar als Konversationsverzicht, nicht aber als Kommunikationsverzicht thematisiert. Darauf verweisen maßgebende Dialoge, in denen man den Gesprächspartner bat, ständig zu reden:
„[...] wir begegneten auch zum öfteren der Kaiserin, bey welcher hernach allen Damen, nebst Ihro Hoheit und Deroselben Suite, der gemeine Brandtewein präsentiret wurde. Ich wäre mit demselben verschonet worden, wann mich nicht die älteste kaiserliche Prinzessin dazu gebracht hätte, als welche mich mit lächelndem Munde fragte, warum ich mich verstecken wollte. Ich müsste trinken, weil Ihro königl. Hoheit getrunken hätten. U m halb 10 Uhr Abends ging der Tanz an [...]." (Bergholz 1723, 2 7 0 )
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Pourqoui on ne parle pas
Warum man nicht redet
Monsieur, d'où vient, que vous ne dites rien?
Mein Herr wie kommts, daß Sie nicht reden?
M., j ' a i l'honneur de vous écouter.
Mein Herr, ich habe die ehre, Ihnen zuzuhören.
CnpauiHBaeics, una nero He roBopuT focyaapb MOH, ΑΠΛ nero Bw HH CJlOBa He rOBOpHTe? Λ rocy/iapb MOÍÍ, 3a necTb noHHTaio, Bac cjiymaTb. HaM Hej1b3H BCeM BApyr rOBOpHTb, HO HAÄOÖHO KOMYHHÖYÄB H3
Hac MOJiiaTb. Ce n'est pas cela Mr. Je crains, que vous ne soyez fâché de quel que chose. Vous paraissez tout chagrin.
Ich meine das nicht. Ich fürchte nur, Sie möchten verdruß Uber etwas haben. Sie sehen ganz niedergeschlagen aus.
He .ayMaio Λ, HTO6 TO πρΗΗΗΗΟΚ) TOMy SblJlO, HO onacaiocb, He AOcaaHO m BaM: Bbi noTyrmcb CHflHTe.
Je vous demande pardon. Mr. j e n'ai pas sujet de l'être, étant en une si belle compagnie & si bien traité. Je parlerai bien à mon tour.
Ich bitte um Vergebung, ich habe nicht ursach betrübt zu sein, da ich in einer so schönen gesellschaft bin und werde so wol tractirt: ich will schon reden, wenn es an mich kommt.
He H3B0JibTe Toro AyiuaTb, He ο nein MHe nenaJiMTbc», KOraa c T3KHMH teCTHblMH JHOÄbMH BMeCTe 6blTb yaocTOHJic». Η Memi cro/ib Η3ρ«ΛΗΟ nOflMHBaiOT. fl Toma roBopHTb CTaHy, «orna λο MeHH oMepeAb ΛοΗΛβτ.
Vous ferez donc Mr. selon vôtre commodité, mais en vous taisant, vous ne cesserez pas de manger, j e vous prie.
So thun Sie dann nach Ihrer bequemlichkeit. Jedoch bitte, daß Sie bei Ihrem stillesitzen nicht vergessen zu speisen.
H3B0^bTe AeJiaTb, xax BaM yr0ÄH0 TojibKO npouiy y » e xoTb noKyuiaTb.
(aus: Platz 1749, 198.) A b d e n 5 0 e r Jahren d e s 18. Jh. ( i m w e s t e u r o p ä i s c h e n K o n t e x t a l s o s e h r s p ä t ) können die aus den übersetzten Umgangslehren
übertragenen
Sprachmuster
a u c h in d e r r u s s i s c h e n A l l t a g s s p r a c h e r e g i s t r i e r t w e r d e n . D i e s b e l e g e n v o r a l l e m die
Memoirenliteratur
Sprachnormen
und
die
widerspiegeln.
ersten
Man
Lustspiele,
sieht,
wie
sich
die die
sozial soziale
differenzierte Distanzvor-
s t e l l u n g in d i e S p r a c h e v e r l a g e r t . Im G e s p r ä c h m i t S t a n d e s g l e i c h e n w u r d e n z . B . I m p e r a t i v s ä t z e v e r m i e d e n u n d d u r c h I n f i n i t i v p a r a p h r a s e n ersetzt: „als an statt zu sagen: Sie gehen/ Sie kommen/ sie thun dieses/ sie sogen daß/ etc./ M u ß m a n durch einen U m s c h w e i f reden/ sie wuerden wohl thun/zu gehen; Wuerden sie nicht vor gut befinden /zu kommen/'.30
30
La civilité moderne, 51.
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Den gleichen Mehrwert, der einem höflichen Ausdruck zukommt, erreichte man durch die Hinzufìigung einer Anrede zur Rückmeldungspartikel: anstatt ,Ja' und ,Nein' musste man sagen ,Ja, mein Herr' oder ,Nein, meine Dame'. In den im 18. Jh. ins Russische übersetzten Konversationsbüchern tauchen Redemuster auf, die das 17. Jh. noch nicht kennt. Das betrifft vor allem die so genannten Schaltwörter, d.h. Wörter, die eine Redeftinktion - wie z.B. ehrlich gesagt oder vorsichtig ausgesprochen -, eine Funktion des Redekommentars, der Reformulierung oder der Dialogsteuerung erfüllen. Die russischen Ausdrücke skazat und govorja entsprechen in diesem Sinn den französischen ά proprement dire, ά dire la vérité. Mit Vorbehalten kann man den neuen Sprachmodus auch als einen fortschreitenden lokutiven Regress bezeichnen: 31 Je mehr man darüber sagt, was und wie man etwas sagt, desto weniger wird in Wirklichkeit ausgesprochen. Auf der fortgeschrittenen Stufe des lokutiven Regresses kann ein Satz nur aus solchen Zeichen des „Sagens" allein bestehen. So z.B.: „Ich würde jetzt darüber sprechen, worüber ich eigentlich nicht sprechen sollte, obwohl man auch, ehrlich gesagt, zugestehen müsste, dass wenn man darüber nichts sagt, dann wird auch wörtlich nichts gesagt, mit anderen Worten, will ich sagen, das bedeutet nicht "ich will sagen", aber ich nehme nur an, egal wie darüber jetzt die anderen sprechen, also ich behaupte, dass das jetzt Gesagte nur ein Teil des Gesagten ist, anders formuliert, alles kann man nicht sagen."
Die Aufnahme solcher Redeformen in den russischen Sprachstandard des 18. Jh. unterlag einer allgemeinen Modernisierungstendenz, der entsprechend das öffentliche Handeln zunehmend mit Sprechen bzw. mit Diskurs identifiziert wurde. Wie jeder Tausch funktioniert der Wortaustausch auch als System von versprochenen und auf der Zeitachse verschobenen Zahlungen. Wie man behaupten kann, alles sei Geld, so kann man von nun an umgekehrt behaupten, alles sei Kredit, d.h. Zahlungsversprechen, Zukunflswirklichkeit. Dementsprechend wird das Handeln in der modernen Rhetorik als ,Sagen-Wollen', , Sagen-Können' oder eben ,Nicht-Können' präsentiert. Ungeachtet der Aneignung westlicher Redemuster durch den russischen Adel wurde die Herausbildung des nationalen Sprachstandards durch die Gespreiztheit sozialer Sprachnormen verlangsamt. Redereformulierende Ausdrücke mit ,Sagen-Zeichen' gehörten beispielsweise bis zum Ende des 18. Jh. zu einem als ,fremd' markierten Sprachmodus: In russischen Komödien wurden sie öfters den französisch sprechenden Stutzern zugeschrieben. Erst seit Anfang des 19. Jh. etablierten sich solche Ausdrücke als Merkmale einer allgemeinen Sprachnorm. Vor dem Hintergrund der russisch-französischen Zweisprachigkeit fiel es dem ersten Stand z.B. schwer, eine nationalbewusste Einstellung zu importierten höflichen Redemustern zu entwickeln. Vom russischen Bildungsadel Hinrichs spricht in diesem Zusammenhang über den Sagen-Regress. Vgl. Hinrichs 1983.
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wird die Anrede ,Sie' öfter französisch als ,vous' ausgesprochen. Katharina II meinte, sie würde lieber immer duzen und fragte sich, warum man das Siezen überhaupt brauche. Durch Sinnfragen dieser Art wurde das verbale Höflichkeitsritual suspendiert. Auch in Bezug auf andere Sprachrituale präsentierte sich der russische Adel als Teilnehmer und als Außenseiter gleichzeitig. Von ihrer kommunikativen Effizienz her bedeutete die Konversation im russischen Salon des 19. Jh. viel weniger, als dies im Westen der Fall war. Gerade die russischen diskursfilhrenden Schichten wenden sich öfter den zivilisatorisch veralteten Wegen der Konfliktlösung zu. Die rhetorische Salonpolemik endete häufiger als im französischen oder im deutschen Raum mit einer körperlichen Auseinandersetzung. Darauf verweist die äußerste Brutalität russischer Pistolenduelle, die zumeist tödlich endeten. In vielen Fällen kann man beobachten, wie ein Gesprächsabbruch von radikal gesinnten russischen Adeligen absichtlich provoziert wurde. 32
7. Resümee Meine abschließende Bemerkung soll implizit auf die Bedeutung einer interkulturellen Perspektive im Hinblick auf die Analyse europäischer Sprachnormen verweisen. Diese können nur im Vergleich mit außereuropäischen Normen des sprachlichen Verhaltens produktiv analysiert werden, was in der traditionellen eurozentrischen Forschung bisher eher selten getan worden ist. Es dürfte deutlich geworden sein, dass der vergleichende Ansatz in der Sprachwissenschaft ohne Berücksichtigung des bedeutungszuweisenden und normprägenden Kulturkontextes kaum realisiert werden kann. Das Medium der Sprache konstituiert sich erst innerhalb der gesellschaftlichen Kommunikation, und zwar als Ergebnis einer Medienselektion, bei der sich die Sprache von anderen Medien abgrenzt und im Zusammenhang mit anderen Medien ihren Beitrag zur Vermittlung des Sinns leistet. Der Sprachvergleich, bei dem nur Strukturen einzelner Sprachen einem Vergleich unterzogen werden, erscheint aus der Perspektive der Kommunikationswissenschaft zwecklos, und zwar aufgrund der Überlegung, dass eine ,vordefinierte' Struktur sich nie vollständig in der Kommunikation realisieren kann. Die sprachwissenschaftliche Pragmatik definiert zwar einen Kommunikationsrahmen und Kommunikationsziele der Sprechenden, reduziert jedoch das kommunikative Handeln auf das Sprachhandeln und die Kommunikation auf die verbale Kommunikation. Daher wird
So wandte sich beispielsweise Lunin, Teilnehmer des Dezemberaufstandes von 1825, an einen der Anwesenden im Salon mit der Frage: „Mein Herr, haben Sie Gefallen getan, etwas zu sagen?" Die Antwort war: „Nein, ich habe nichts gesagt." Darauf Lunin: „Meint damit der Herr, dass ich lüge? In diesem Fall schlage ich vor, dass wir beide morgen früh unsere Revolver austauschen." Am nächsten Tag fand in der Regel ein Duell statt. Meistens schoss Lunin jedoch in die Luft, (ausführlich: Ejdel'man 1970)
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die Aktualität der erörterten medialen und anthropologischen Forschungsansätze, mit denen sowohl die Funktionen einzelner Sprachelemente als auch die Funktionen einzelner Sprachen und Sprachmedien im Hinblick auf ihre Rolle in der gesellschaftlichen Kommunikation analysiert werden können, plausibel.
8. Literatur 8.1. Quellen Bergholz, F. (1721/1723): Tagebuch, welches er in Russland von 1721 bis 1725 als holsteinischer Kammerjunker gefiiehret hat. In: Buesching, A. (Hg.): Magazin für die neue Historie und Geographie. 19. Teil (1721). Halle 1785, 3-202 sowie 21. Teil (1723). Halle 1787, 180-360. Feuillet, R. A. (1700): Chorégraphié ou l'art d'écrire la Dance, par caracterès, figures, et signes démonstratifs, avec lesquels on apprend facilement de soy-même toutes sortes de Dances. Par M. Feuillet, Maître de Dance. A Paris. Facsimile. Reprint New York 1968. Fletcher, G. (1591): The Russe Commonwealth. In: Berry, L./Crummey, R. (eds.): Rude & Barbarous Kingdom. Russia in the Accounts of Sixteenth Century English Voyagers. London, 109-246. Kotosichin, G. (1645-1676): O Rossii ν carstvovanie Alekseja Michajlovica. Nachdruck Oxford 1980. La civilité moderne (1705): Die Hoeflichkeit der heutigen Welt. Übersetzt von Menantes. Hamburg. Platz, G. (1749): Dialogues domestiques. floMaiuHHe pa3roBopbi. FIeTep6ypr. Rameau, P. (1725): Le Maître A Danser. Qui enseigne la maniere de faire nous les différents pas de Danse dans toute la régularité de l'Art, & de conduire les Bras à chaque pas. Par le Sieur Rameau, Maître à danser des Pages de Sa Majesté Catholique la Reine d'Espagne. Paris. Reprint New York 1967. Reutenfels, J. (1680): De rebus Moschoviticis. Patavii. Liber III. 8.2. Forschungsliteratur Albrecht, J. (1988): Europäischer Strukturalismus: Ein forschungsgeschichtlicher Überblick. Tübingen. Austin, J. (1955): How to do things with words. Oxford. Bette, Κ. Η. (1988): Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit. Berlin, New York. Bourdieu, P. (1987) Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. (Frz.: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979).
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Dmitri Zakharine
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ELIZAVETA LIPHARDT
Politische Rede der extremen Linken in Deutschland und Russland in den Jahren 1914 bis 19191 1. Vorbemerkung. Ziel der Studie und Untersuchungsgegenstand Das vorliegende Projekt setzt sich zum Ziel, Vergleiche in der Sprachverwendung der extremen Linken in Deutschland und in Russland (19141919) in den Bereichen der persuasiven Begriffsverwendung durchzuführen. Die lexikalisch-semantische Ebene wird dabei mit der satzsemantischen Ebene verknüpft, wenn es darum geht, komplexe zusammenhängende Begriffsnetze oder metaphorische Interpretationsmodelle herauszuarbeiten. Dabei darf die pragmatische Dimension im Sinne der „impliziten Handlungsfolgen" 2 der Verwendung einzelner Schlagwörter nicht vernachlässigt werden, auch wenn ihre Untersuchung nicht zu den primären Fragestellungen dieser Arbeit gehört. 3 Den thematischen Kern der Untersuchung bildet die Frage nach den Prozessen, die die Begriffsbildung der extremen Linken im Zeitraum zwischen 1914 und 1919 beeinflussen. Dabei werden diese Prozesse am Beispiel der Entwicklung der extremen Linken in zwei Ländern untersucht, in Deutschland und in Russland. Somit hat die Untersuchung einen kontrastiven Charakter. Eine solche Gegenüberstellung wird durch zwei Umstände gerechtfertigt. Erstens hat der ideologische Hintergrund in beiden Fällen denselben Ursprung, und zwar die marxistische Theorie. Zweitens beziehen sich die Auseinandersetzungen, die in den Quellentexten die Diskussionsbasis darstellen, thematisch auf die gleichen oder vergleichbare Geschehnisse im Verlauf des besagten Zeitraums. In diesem Beitrag möchte ich mich auf die Diskussion zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschränken. Die Parallelen
2 3
Der folgende Text stellt eine fragmentarische Momentaufnahme meines Dissertationsprojekts im Oktober 2000 dar. Das Projekt wurde im Januar 2000 begonnen und ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch in Arbeit. Kopperschmidt 1991, 83. Hermanns (1994, 4) weist daraufhin, dass die Bereiche Semantik und Pragmatik in der Erforschung der politischen Sprache ineinander greifen müssen, damit die Analyse umfassend gestaltet werden kann. Besonders deutlich wird seine Sicht in der Bezeichnung der politischen Semantik als .pragmatische' Semantik. Dazu vgl. auch Dieckmann 1969, I lf.; Burkhardt 1996, 83.
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betreffen in diesem Fall die Spaltung der Sozialdemokratie in beiden Ländern. In Deutschland wie in Russland bezog sich die Uneinigkeit in den Reihen der Sozialdemokratie auf die Frage der Kriegskreditbewilligung im Parlament und auf die Frage des .Burgfriedens'. Diese zwei Streitpunkte führten dazu, dass sich in den beiden Ländern die extreme Linke von der gemäßigten Sozialdemokratie abspaltete. In Deutschland bildete sich als Ergebnis dieses Prozesses die Gruppe Internationale, später der Spartakusbund und die KPD; in Russland distanzierte sich die bereits 1903 gegründete Partei der Bolschewiki zunehmend von der gemäßigten Sozialdemokratie.4 Die Vertreter der gemäßigten Sozialdemokratie wurden dabei als konkurrierende Gruppe in der Einflussnahme auf den gleichen Adressatenkreis gesehen, und dieser Umstand bildet die Grundlage für die semantischen Kämpfe, für die Besetzung von Begriffen und für ideologische Polysemie.
2. Methodische Überlegungen Das Besondere an der politischen Sprache ist die Dimension der Macht. Die Sprachstrategien, mit deren Hilfe die Machtübernahme oder die Machterhaltung gewährleistet werden soll, werden eingesetzt, um Kompetenz und Glaubwürdigkeit zu vermitteln. Bezeichnet Dieckmann die Sprache generell als einen Faktor der „Auslösung oder Nahelegung einer Handlung",5 so bekommt diese Sichtweise umso mehr Berechtigung im Zusammenhang mit der politischen Sprache. Das pragmatische Potential der politisch relevanten Begriffe geht aus der Tatsache hervor, dass diese Begriffe als „Interpretationsangebote sozialer Wirklichkeit mit impliziten Handlungsfolgen"6 zu verstehen sind. Felder spricht von „handlungsleitenden Konzepten", wobei sich in seinem Ansatz der Oberbegriff Konzept „von den Termini Begriff und Teilbedeutung [...] ausschließlich in der Komplexität unterscheidet".7 Es liegt nahe, gerade in der politischen Sprache nach den persuasiven Mechanismen zu suchen, die die Handlungsdimension im kognitiven Apparat des Rezipienten im Visier haben. Der „Wille zur Macht" wird als „dominierende Intention politischen Handelns" von Kuße (1998, 72) unterstrichen. Auch Straßner (1991, 137) betont die Bedeutung der „subjektiv interessengeleitet(en)" Sichtweisen, die in der Politik zum Durchsetzen eigener Interessen dem Rezipienten vermittelt werden. Die theoretisch-methodische Grundlage, die sich für dieses Projekt in Hinblick auf die gewählten Fragestellungen am besten eignet, wurde in den 80er 4
Vgl. Scherrer 1987, 2 4 7 ; Zuravlev 1998, 341 .ff. Eine detaillierte Chronologie der SPDSpaltung ist in Miller (1988, 316f.) in tabellarischer Form dargeboten.
5
Dieckmann 1969, 31.
6
Kopperschmidt 1991, 83. Felder 2 0 0 0 , 116.
7
Politische Rede der extremen Linken
319
und 90er Jahren im Zusammenhang mit der linguistischen Erforschung der Begriffsverwendung in der politischen Sprache entwickelt. Die ersten Impulse zu der Untersuchung des konkurrierenden Sprachgebrauchs innerhalb der Ideologiesprache gab schon Dieckmann (1969, 6Iff.). Er untersuchte die „Unbestimmtheit" des Wortinhalts, die sein manipulatives Potential begünstigt, in Hinblick auf die Merkmale der Abstraktheit, der Kompliziertheit, der Unscharfe, der Relativität, der Polysemie und der Mehrdeutigkeit. Dabei merkte er an, dass nicht alle diese Merkmale exklusive Bestandteile eines genuin ideologischen Wortschatzes sind, sondern zum Teil natürlichen lexikalischsemantischen Gegebenheiten der Sprache verpflichtet sind (so z.B. beruht die Schwierigkeit des Verständnisses von „komplizierten Wörtern" auf der „Komplexität der Wirklichkeit", wobei Dieckmann hier „komplizierte Wörter" wie .Demokratie' und .Faschismus' mit .Universum' und ,Milchstraßensystem' vergleicht). 8 Als besonders fruchtbar erwies sich sein Ansatz zur Untersuchung der ideologischen Polysemie. Dieckmann (1969, 72f.) sah die Ursachen der Entstehung von ideologischer Polysemie in der unterschiedlichen Verknüpfung und Bewertung einzelner Merkmale eines Begriffs. Laut Dieckmann ist ein politischer Begriff dann besonders gefährdet, zum Objekt der ideologischen Polysemie zu werden, wenn er einen allgemein anerkannten und positiv besetzten komplexen Inhalt aufweist, der unterschiedlich akzentuiert werden kann. 9 Im Text wird diese These durch die Analyse des Wortes .Demokratie' unterstützt. 10 In Bezug auf die ideologische Polysemie betont Hermanns 1982 die symptomfunktionale Bedeutung einzelner zentraler parteisprachlicher Begriffe im Zusammenhang mit seiner These von den „Fahnenwörtern" und „Stigmawörtern". 11 Die symptomfimktionale Bedeutung dieser Begriffe, so Hermanns, besteht darin, dass der Sprecher seine Zugehörigkeit zu einer (bestimmten) Partei bzw. seine Abneigung gegen die Gegnerpartei signalisiert. 12 Die Ursache fur die Entstehung der ideologischen Polysemie sieht er in der abbildtheoretischen Vorstellung von der „wahren" Bedeutung, die ein Wort haben soll. Diese „wahre" Bedeutung wird für den Sprachgebrauch der eigenen Partei gewissermaßen reserviert, während der Gegnerpartei eine „Verdrehung" der Begriffe unterstellt wird. Dabei beruft sich Hermanns auf Lübbe und die Vorstellung von dem „Streit um Worte". 13
8 9 10
" 12 13
Dieckmann 1969, 62f. In Anknüpfung an den Aufsatz von Gallie 1962. Dieckmann 1969,73. Hermanns 1982, 91 f. Hermanns 1982, 88. Hermanns 1982, 95; Lübbe 1967.
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Die Einführung der Termini „Fahnenwort" und „Stigmawort" blieb für weitere Forschungen im Bereich der politischen Sprache relevant. 14 Eines von den zentralen Werkzeugen der oben vorgestellten theoretischmethodischen Grundlage, die Metapher vom „Besetzen der Begriffe", 15 verdankt seine Bezeichnung einer Rede, die 1973 vom damaligen CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf gehalten wurde. 16 Das eingeführte Besetzungsmodell wurde zum Anlass für eine breite und anhaltende publizistische Diskussion. 17 Die Terminologisierung dieser Wendung erfolgte durch Josef Klein, der die komplexen Mechanismen der strategischen sprachlichen Manipulation von politisch relevanten Begriffen in mehreren Arbeiten differenziert erläutert hat. Bereits 1989 erschien die erste systematische Aufarbeitung des „BegriffeBesetzens" von Klein, in der „Typen des Kampfes um Wörter" in der öffenlichpolitischen Kommunikation vorgestellt werden. Später - 199118 - baute er diese Typologie auf, sie wurde in den späteren Arbeiten immer wieder aufgenommen (Klein 1993, 1998b) und an verschiedenen Beispielen plausibel gemacht. Diese Typologie besteht aus fünf grundsätzlichen Elementen: „Begriffsprägung", „Bezeichnungskonkurrenz", „deskriptive Bedeutungskonkurrenz", „deontische Bedeutungskonkurrenz", „Konkurrenz um konnotativen Glanz". 19 Da in den vorliegenden Texten die Fälle der Bezeichnungskonkurrenz und der Bedeutungskonkurrenz überwiegend vorkommen, wird sich die Analyse in erster Linie auf diese Techniken beziehen, wobei sie mit der Analyse der Fahnen- und Stigmawörter nach Hermanns verknüpft wird. Dass diese Verknüpfung methodologisch möglich ist, weist Klein (1989, 23f.) nach. Zur Unterscheidung zwischen den Bezeichnungen ,Leitbegriff, Schlüsselwort' oder , Schlagwort' sowie zu ihrer Taxonomie gibt es divergierende Aussagen in der Forschung. 20 Wichtig erscheint die Hervorhebung der Funktion einzelner, zentraler Lexeme und ihrer Vernetzung in der politischen Kommunikation.
14 15
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" 20
So berufen sich z.B. Klein 1 9 8 9 , 2 3 Í ; Burkhardt 1998, 101 f. darauf. Diese Metapher bedarf zwar einer Präzisierung (vgl. Klein 1991), ist jedoch anschaulich und einprägsam genug, um in der Forschung wiederholt erwähnt und diskutiert zu werden (ζ. B. Liedtke/Wengeler/Böke 1991). Vgl. Klein 1991,44ff.; Hermanns 1994, 21. Burkhardt 1998, 104. In Klein 1991 wird zum ersten Mal ausdrücklich vom „Begriffe-Besetzen" gesprochen. Der Terminus ,deontisch' wird im o.g. Sinne zuerst von Fritz Hermanns (1989, 73f.) verwendet. Dazu z.B. Burkhardt 1998, 103; Böke u. a. 1996, 32ff.
Politische Rede der extremen Linken
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3. Textkorpus Bei der Entscheidung über den Aufbau des Textkorpus wurden folgende Kriterien berücksichtigt: erstens die Textsorte, zweitens der zeitliche Rahmen der Untersuchung und drittens die Themenschwerpunkte. Die Textsorte, die für diese Untersuchung herangezogen wird, ist die politische Rede. Die signifikanten Besonderheiten dieser Textsorte bestehen darin, dass sie der öffentlich-politischen Art der Kommunikation zugerechnet wird, 21 dass sie empfängerbezogen ist, also eine bestimmte Wirkung auf den Rezipienten ausüben soll. Die Untersuchung dieser Textsorte lässt es infolgedessen erwarten, die Leitbegriffe und Schlagwörter in der politischen Kommunikation in einer besonders akzentuierten Form präsentiert zu sehen. Der Redner steht vor der Aufgabe, in einem zeitlich und wahrnehmungstechnisch begrenzten mündlichen Vortrag die eigene Position so prägnant wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig müssen die möglichen Einwände der Rezipienten antizipiert werden. Diese Merkmale machen die Textsorte politische Rede' zu einem geeineten Objekt im Hinblick auf die genannten Untersuchungsziele. Außerdem erweist sich die Herstellung einer einheitlichen Basis als eine unerlässliche Bedingung, 22 da diese Untersuchung als eine kontrastive gedacht ist. Diese Bedingung wird ebenfalls mit dem Bezug auf die gleiche Textsorte erfüllt. Der zeitliche Rahmen der Untersuchung ist ausgehend von den folgenden Gegebenheiten gewählt worden: Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 gerät die extreme Linke in den beiden Ländern in einen äußerst dynamischen Prozess, in dem sie sich als eine eigenständige politische Bewegung darstellt und von dem gemäßigteren Teil der ehemaligen Gesinnungsgenossen zunehmend Abstand nimmt. 1919 ist das letzte Jahr, in dem die ideologischen Unterschiede zwischen der extremen Linken in Deutschland und in Russland noch bestehen. Ab dem Jahr 1920 wird auf die KPD ein ideologischer Druck von Seiten der bolschewistischen Partei ausgeübt, der keinen Platz für Meinungsunterschiede lässt. Die Begrenzung auf einzelne thematische Schwerpunkte ermöglicht es, die Analyse der Leitbegriffe und Schlagwörter der extremen Linken in den beiden Ländern auf einer vergleichbaren Grundlage durchzuführen.
22
Zu den Typen der politischen Kommunikation vgl. Strauß u.a. 1 9 8 9 , 3 0 f . Zum Prinzip der Homogenität bei der Erstellung eines Textkorpus vgl. Teubert 1998, 191: „Texte müssen funktional möglichst gleichartig sein, damit sie erfolgreich miteinander verglichen werden können."
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4. Exemplarische Analyse der Reden in Hinblick auf die Strategien der Aufwertung und der Abwertung In diesem Beitrag werden zwei Reden zu einem der thematischen Schwerpunkte, der fur beide Ländern relevant ist, behandelt. Dieser thematische Schwerpunkt ist der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die darauf folgende Spaltung der Sozialdemokratie in beiden Ländern nach der Bewilligung der Kriegskredite. Am Beispiel von zwei Reden werden einige Mechanismen der persuasiven Sprachverwendung aufgezeigt. Diese Mechanismen betreffen in erster Linie die lexikalisch-semantische Ebene der Texte. Zunächst werden in Anlehnung an Kriterien, die von Klein vorgeschlagen wurden, die Schlagwörter der beiden Reden festgestellt, damit sie im nächsten Schritt genauer analysiert werden können. 23 Diese Schlagwörter sind von den ideologischen Voraussetzungen der extremen Linken bestimmt. Gleichzeitig veranschaulicht ihre Analyse die aktuellen Aufgaben und Notwendigkeiten der extremen Linken in den beiden Ländern, die in der agitatorischen Tätigkeit der öffentlichen Vorträge ihren Niederschlag finden. Nach einem methodischen Vorschlag von Hermanns kann man unter den Schlagwörtern im Fall einer semantischen Konkurrenzsituation ,Fahnenwörter' und ,Stigmawörter' hervorheben. Die ,Fahnenwörter' werden definiert als „positive (affirmative) Schlagwörter, die zugleich auch als Erkennungszeichen von Parteiungen fungieren und fungieren sollen". 24 Dem Fahnenwort wird das Stigmawort gegenübergestellt. Gemeint ist damit ein solches Schlagwort, das „in plakativer Weise" die Begriffe der gegnerischen Gruppe dekonstruiert, ihr Kompetenz oder Vertrauenswürdigkeit abspricht. 25 Klein (1989, 23 f.) weist ausdrücklich darauf hin, dass der „semantische Kampf um die deontische Bedeutung" ganz besonders die Fahnenwörter und die Stigmawörter betrifft. In Anbetracht der Tatsache, dass in den vorliegenden Reden in erster Linie gerade der Kampf um die deontische Bedeutung geführt wird, erlaube ich mir in dieser exemplarischen Untersuchung, das Hauptaugenmerk auf die Fahnenwörter und Stigmawörter zu richten.
23
Nach Klein (1989, 11) werden als (politische) Schlagwörter solche Wörter bezeichnet, die „in öffentlichen Auseinandersetzungen häufig, oft inflatorisch, verwendet werden und [...] in komprimierter Form politische Einstellungen ausdrücken oder provozieren." Eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Begriff des Schlagwortes und Angaben zu seiner Systematisierung finden sich in Burkhardt 1998, lOOff.
24
Hermanns 1994,16. Hermanns 1982, 92. In einer anderen Untersuchung behandelt Hermanns die Stigmawörter noch differenzierter, indem er daraufhinweist, dass „'Stigmawort' und .Fahnenwort' [...] gar nicht auf derselben Ebene der Pyramide der Begriffe angesiedelt (sind)" (Hermanns 1994, 15). An dieser Stelle erlaube ich mir jedoch, auf eine genauere Auseinandersetzung mit dieser Terminologie zu verzichten.
25
Politische Rede der extremen Linken
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4.1. Karl Liebknecht: Rede gegen den Sozialpatriotismus (1915) 4.1.1. Fahnenwörter Die Fahnenwörter, die in der analysierten Rede festgestellt worden sind, beziehen sich in erster Linie auf die Selbstbezeichnungen des Redners bzw. die Bezeichnungen der politischen Gruppen, zu deren Mitgliedern sich der Redner zählt. Zu dem oben genannten Zeitpunkt ist die formale Spaltung der Sozialdemokratie noch nicht vollzogen; 26 dennoch wird bereits eine deutliche Distanzierung der extremen Linken von der gemäßigten Sozialdemokratie artikuliert. Die Fahnenwörter sind .Sozialdemokratie', 27 Sozialdemokraten', 2 8 ,(internationale) Sozialisten', 2 9 ,Klassenkampf 3 0 und .Proletariat'. 31 Die Fahnenwörter .Sozialdemokratie', .Sozialdemokraten', .Sozialisten' werden für den eigenen Sprachgebrauch reserviert; der gemäßigten Sozialdemokratie wird indessen Verrat vorgeworfen. 32 Der Streit um die (Selbst-) Bezeichnung .Sozialdemokraten' wird von der extremen Linken in den folgenden Jahren dadurch gelöst, dass neue Selbstbezeichungen 33 von mehreren (zum Teil untereinander konkurrierenden) linken Gruppen eingeführt werden (Gruppe Internationale 1916, Sozialdemokratische Arbeitergemeinschaft 1916, USPD 1917, Spartakusbund 1917, KPD 1918).34 Bezüglich des Fahnenwortes .Proletariat' sind Schwierigkeiten im Bereich der Referenzzuweisung zu verzeichnen. Der Redner distanziert sich ausdrücklich von den „Volksmassen", „Massen" und „Menge" in dem Abschnitt, in dem es um die „Stimmung der Volksmassen" als Reaktion auf die Kriegskreditbewilligung geht: „Die Berufung auf die Stimmung der Volksmassen ist mit wenigen Sätzen abgetan. [...] Die johlende, kreischende, rasende Menge [...] mußte jedem Sozialdemokraten abschreckend, nicht vorbildlich sein. [...] Aber selbst wenn die große Masse des Volkes die Kreditbewilligung heischte: die Sozialdemokratie [...] hat Führerin, nicht Geführte der Massen zu sein, und noch nie gemeint, durch Nachgiebigkeit und Anpassung an die Masseninstinkte ihren Idealen zu dienen, sie ist im Kampf mit
26
27 28 29 30 31 32
D i e „Gruppe Internationale" wird erst 1916 gegründet; auch in der russischen Sozialdemokratie zeichnet sich die Spaltung noch nicht in ihrer vollen Radikalität ab, obwohl die Spaltung in Bolschewiki und Menschewiki bereits 1903 stattfand. Liebknecht 1957, 89f. Liebknecht 1957, 89. Liebknecht 1 9 5 7 , 9 1 . Liebknecht 1957, 92. Liebknecht 1 9 5 7 , 9 2 . Zu der Widersprüchlichkeit des Verrat-Vorwurfs der extremen Linken gegenüber der SPD vgl. Miller 1 9 8 8 , 3 0 6 .
33
Im Sinne der Neuprägung; Klein 1991, 51.
34
Miller 1 9 8 8 , 3 1 6 .
324 Masseninstinkten
Elizaveta Liphardt geworden
und gewachsen
und
noch
heute eine
Partei
der
Minderheit des Volkes." 3 5
Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass man die Massen erziehen muss und sich nicht von den Masseninstinkten verleiten lassen darf. Dementsprechend betrifft die Bezeichnung .Proletariat' offensichtlich nur einen Teil des Volkes, und zwar den Teil, der im Sinne des Sprechers bereits erzogen ist. Andererseits bezieht sich der Sprecher an einer anderen Stelle auf das gesamte Volk bzw. auf die Volksmassen: „Wird eine Apotheose der preußischen Reaktion das Ende vom Lied sein? [...] Es hängt [...] vor allem ab vom Proletariat, von den Volksmassen selbst und ihrer Haltung. [...] Geschenkt erhält das Volk keinen roten Heller, auch nicht nach dem Kriege." 3 6
Es bleibt also unklar, welchen Anteil von ,Volk/Volksmassen' das .Proletariat' ausmacht oder ob diese Begriffe hinsichtlich des Klassenkampfes gar identisch zu betrachten seien. 37 Das ist m.E. ein grundsätzliches Problem des Sprachgebrauchs der extremen Linken, die die tatsächliche Lage und die Wunschperspektive in der terminologischen Undeutlichkeit vermengt. Hermanns (1994, 39f.) zeigt dies an den Beispielen .Sozialismus' und .Kommunismus' 38 auf und bezeichnet eine solche ideologische Polysemie als „Koinzidenz von Ziel- und Status-quo-Begriff'. Ein weiteres Fahnen wort ist .Klassenkampf, das in der Entgegensetzung zum Begriff des Krieges gebraucht wird, um die unmittelbaren Ziele der Sozialdemokratie (wenn sie sich denn entscheiden könnte, das Prinzip des Internationalismus zu wahren) hervorzuheben: „Klassenkampf ist die Losung des Tages. Klassenkampf nicht erst nach dem Kriege. Klassenkampf gegen den Krieg. N i m m t die Partei nicht heute, während des Krieges, den Kampf auf, so wird man auch an ihren Kampfgeist nach dem Kriege nicht glauben, weder in den Arbeitermassen noch in den Reihen ihrer Gegner." 3 9
Es wird der Begriff .Klassenkampf dem Begriff .Krieg' entgegengestellt. Damit werden die Ziele der Sozialdemokratie im Geiste des Internationalismus bestimmt. In der Rede von Lenin werden diese Ziele noch radikaler formuliert,
35 36 37
38
39
Liebknecht 1957, 89. Liebknecht 1957,92. Bachem (1979, 79) bezeichnet den persuasiven Mechanismus, bei dem die benachbarten Wörter durch wiederholtes gemeinsames Auftreten als adäquat erscheinen (sollen), als „paradigmatische Kontiguitätsassoziationen." Allerdings bezieht sich Hermanns in seinem Beispiel auf einen anderen Zeitraum und z.T. auf den Sprachgebrauch in der DDR. Liebknecht 1957, 92f.
Politische Rede der extremen Linken
325
indem er (wie man sehen wird) den Bürgerkrieg fìir eine erstrebenswerte Alternative zum nationalen Krieg erklärt. 4.1.2. Stigmawörter Wie schon in Bezug auf die Fahnenwörter angemerkt wurde, werden in der untersuchten Rede die Begriffe .Sozialisten' und .Sozialdemokraten' als Bezeichungen für die eigene Gruppe, also für den äußeren linken Flügel der Sozialdemokratie, gebraucht. Gleichzeitig wird der konkurrierenden Gruppe (in diesem Fall der gemäßigten Mehrheit der SPD) die Eigenschaft abgesprochen, die wahre Sozialdemokratie zu vertreten. Distanzierung vom Sprachgebrauch der konkurrierenden Gruppe vollzieht sich in der Einführung der Stigmawörter ,Angstpatriotismus' 40 und ,Illusionismus/Illusionspolitik'. 41 Der konventionelle Patriotismus-Begriff wird entwertet durch die kompositionelle Erweiterung. 42 Mit den Begriffen ,Illusionismus/Illusionspolitik' wird die Ansicht bezeichnet, dass man auch mit parlamentarischen Mitteln die Ziele der Sozialdemokratie durchsetzen kann. Für die Vertreter der gemäßigten Sozialdemokratie werden Bezeichnungen gebraucht, die auf den Aspekt der Zusammenarbeit mit der Regierung hinweisen, der als Verrat interpretiert wird: „Patrioten aus Angst" 43 bzw. „Angstpatrioten", 44 „Schacherpatrioten", 45 „Schacherpolitiker", 46 „Patrioten der guten Hoffnung, der Sehnsucht nach Belohnung für Artigkeit", 47 „Trinkgeldpolitiker der guten Hoffnung". 48 Auch hier wird entweder durch die Kompositumbildung mit einem Unwertwort 49 oder durch, eine herabsetzende Attributverknüpfung 50 die erwünschte Wirkung erreicht. Die eigene Position wird als kompromisslos und unbestechlich charakterisiert, während die Politik und die Urteilskraft der gemäßigten Sozialdemokratie als leichtfertig, ängstlich oder käuflich dargestellt wird. Insgesamt wird die Position der konkurrierenden Gruppe als moralisch verurteilenswert dargestellt und herabgesetzt.
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Liebknecht 1957,91. Liebknecht 1957,92. Dieses Mittel wird von Klein (1998b, 379) als Abwertungsstrategie durch „Kompositumbildung mit einem [...] Unwertwort" angeführt. Liebknecht 1957, 90. Liebknecht 1957,91. Liebknecht 1957,90. Liebknecht 1957,91. Liebknecht 1957, 90. Liebknecht 1957,91. ,Unwertwort' definiert Hermanns (1994, 19) als Gegenbegriff zu ,Hochwertwort', womit er eine gesamtgesellschaftliche und dauerhafte Ablehnung bzw. Anerkennung eines Sachverhaltes meint. Im Fall der Stigma- und Fahnenwörter sind die Bewertungen dagegen gruppenbezogen und temporär. Beide Strategien - vgl. Klein 1998b, 379.
326
Elizaveta Liphardt
Die Nähe von politisch-extremistischen und religiösen Diskursen wurde in der Forschung bereits thematisiert, sowohl in der Politikwissenschaft als auch in der Rhetorik. Grieswelle (2000, 94ff.) untersucht diese Nähe sehr ausfuhrlich anhand des Begriffs der politischen Religion, der bereits 1938 von Eric Voegelin geprägt wurde. 51 Auch der Arbeit von Kuße (1998) liegt eine prinzipielle Vergleichbarkeit des politischen und des religiösen Diskurses zugrunde. Am vorliegenden Beispiel lassen sich ebenfalls einige Anleihen sowohl aus den biblischen Texten als auch aus der religiösen Konzeptualisierung (was m.E. noch wichtiger ist) feststellen. Ein direktes Zitat aus der Bibel wird von Karl Liebknecht angeführt, um seine Argumentation fur die Vernachlässigung des äußeren Bestandes der Partei zu bekräftigen: „Für eine Organisation, die, um ihren äußeren Bestand zu retten oder gar zu steigern, auch nur ein Gran ihrer revolutionären Ehre, ihres sozialistischen Geistes preisgäbe, würde gelten: ,Was hülfe es, wenn du die ganze Welt gewönnest, und nähmest doch Schaden an deiner Seele'." 52
Die Übernahme der religiösen Konzeptualisierung 53 findet statt im Appell an die Opferbereitschaft im Namen der unbestimmten Zukunft, die eine Verwirklichung der Hoffnungen bringen und die glaubenserfilllten Sehnsüchte stillen wird: „So [durch den Klassenkampf, E.L.] kann sich die Partei Kredit verschaffen für alle Zukunft, Kredit bei Freund und Feind, Kredit für die ernstesten Zukunftsmöglichkeiten, Kredit, der - mit Opfern des Augenblicks erkauft - dereinst ihre Macht unwiderstehlich machen wird." 54
Auch bei dieser Konzeptualisierung findet ein Kampf um Begriffe statt: Der Opferbereitschaft im Zeichen der Staatshörigkeit wird die Opferbereitschaft im Dienste des Klassenkampfes entgegengestellt: „Die Arbeitermassen, die gehorsam und opferbereit ins Feld zogen, kehren als andere zurück." 55 „Und mögen Opfer [im Klassenkampf, E.L.] fallen; sie werden, wie je, tausendfaltig Früchte tragen." 56
51 52 53
54 55 56
Vgl. auch Salamun 1992. Liebknecht 1957, 90; vgl. Mt 16, 26; Mk 8,36; Lk 9, 25. Backes ( 1 9 8 9 , 243) unterstreicht eine grundsätzliche Verbindung der ,,kommunistische[n] Doktrinen mit religiösen Heilsbewegungen" auf der Basis der „chiliastischen Impulse". Dazu auch Grieswelle 2 0 0 0 , 322ff. Liebknecht 1 9 5 7 , 9 3 ; Hervorhebungen E L. Liebknecht 1 9 5 7 , 9 2 . Liebknecht 1957, 92.
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Politische Rede der extremen Linken
4.2. Vladimir I. Lenin: „Das Proletariat und der Krieg" (1914) 4.2.1. Fahnenwörter Die Fahnenwörter in der Rede von Lenin entsprechen den bereits behandelten Fahnenwörtern in der Rede von Liebknecht. Diese Fahnenwörter sind ,C0imaJiHCTbi'57
(Sozialisten),
,co3HaTejibHbie)
nponeTapHH
'5S
(klassenbe-
wusste Proletarien), ,npojieTapHaT'59 (Proletariat), ,counaji-,neMOKpaTbi ' 60 (Sozialdemokraten). Die Intention ihrer Verwendung entspricht der Intention in der Rede von Liebknecht: die Distanzierung vom Sprachgebrauch (und von dem Wertekomplex) der gemäßigten Sozialdemokratie, die Anklage der Bestrebung der europäischen (und insbesondere der deutschen) Sozialdemokratie, die formale Einigkeit der Partei zu wahren, der Anspruch, die „wahre" S o z i a l d e m o k r a t i e z u v e r t r e t e n . D e r B e g r i f f ,repMaHCKHe couHan-aeMOKpaTbi'
(deutsche Sozialdemokraten) wird durchgehend negativ konnotiert gebraucht, was die Distanzierung und die Stigmatisierung des Begriffs .Sozialdemokratie' (in seiner Verwendung durch eine konkurrierende Gruppe) durch die AttributVerknüpfung deutlich macht: „ T e M ö o j i e e H e j i e n C T p a x p a c c r p o H T b CBOK) o p r a m m u m o ,
n p o f l B J i s n o i u H f i c f l Tan
Η ρ κ ο y r e p M a H C K H x c o u n a j i - Ä e M O K p a T O B , T e M H C J i e n e e 3 τ ο τ j i e r a n i w M BO h t o 6 b i τ ο
HH erano." 61 (Umso unsinniger ist die Angst, die eigene Organisation zu beschädigen, die so deutlich unter den deutschen Sozialdemokraten zum Vorschein tritt, umso unsinniger ist dieser Legalismus um jeden Preis.)
Dass Lenin in dieser Rede die Position der deutschen extremen Linken nicht erwähnt, erklärt sich aus dem folgenden Umstand: Zu diesem Zeitpunkt (Oktober 1914) hat die deutsche extreme Linke noch keine öffentliche Ablehnung der SPD-Politik bekundet. Erst im Dezember 1914 stimmt Karl Liebknecht im Reichstag gegen die Kriegskredite,62 was zu der ersten formalen Demonstration der Spaltung innerhalb der SPD wird. Bei der Diffamierung der deutschen Sozialdemokratie geht Lenin sogar so weit, einem Vertreter dieser Gruppe „Agententätigkeit" zu inkriminieren: „H caM 3κχαεκγΜ nrpaeT οδιεκτκΒΗΟ pojib arema HeMeuKoro npaBHTejibCTBa [...] 63 (Selbst Südekum fungiert objektiv gesehen in der Rolle eines Agenten der deutschen Regierung.) 57 58 59 60 61 62 63
Lenin 1961, 28ff. Lenin 1961,29. Lenin 1961,35. Lenin 1961, 31. Lenin 1961,30. Miller 1988,316. Lenin 1961,31.
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Elizaveta Liphardt
Diese Technik hat bei Lenin einen systematischen Charakter, und sie wird später von Stalin übernommen und regelmäßig angewendet. 64 Die rein assoziative Verbindung von Personen oder Positionen „mit Sachverhalten von eindeutiger Wertigkeit" gehört laut Klein 65 zu den beliebtesten Auf- oder Abwertungsstrategien. 66 Nebenbei impliziert die Unterstellung einer Agententätigkeit in den Reihen der vermeintlich Gleichgesinnten die Atmosphäre einer Verschwörung. Der Topos der Verschwörung gehört zum persuasiven Kanon der extremen politischen Gruppen. 67 Interessant ist der Begriff ,co3HaTejibHbie npojieTapHH'68 (klassenbewusste Proletarien), da an ihm deutlich wird, dass erst mit der Erlangung des Klassenbewusstseins die nötige Grundlage fiir die Deutung der Geschehnisse im Sinne des Sprechers möglich wird. Auch in der Rede von Lenin wird ein expliziter Hinweis darauf gegeben, dass das Proletariat erst „erzogen" bzw. „organisiert" werden muss: „HyacHO ΗΛΤΗ T y a a ( H a BOifay - E . L . ) H 0praHH30BbiBaTb TaM n p o / i e T a p n a T Ä/ISI KOHEHHOH
uejiH, TAK KaK yroriHH ayMa-n», HTO npojieTapnaT προΗ,αετ κ Heß MHPHMM
nyreM."69
(Man muss dorthin [in den Krieg, E.L.] ziehen und dort das Proletariat für das Endziel organisieren, denn es ist eine Utopie zu glauben, dass das Proletariat es auf dem friedlichen Weg erreichen wird.)
,KoHeMHaa uejib' (das Endziel) ist eine Umschreibung fiir den Bürgerkrieg, dessen Forcierung an einer anderen Stelle zu einem wichtigen Ziel der Sozialdemokraten erklärt wird: „[...] 3aaana coiwajiHCTOB - npeepamaTb BoßHy 'HauHOHajibHyio' Β rpaayiaHCKyio."70 (Die Aufgabe der Sozialisten besteht darin, den .nationalen' Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln.)
Die Anführungszeichen des Adjektivs .national' deuten darauf hin, dass sich der Redner von der Charakterisierung des ausgebrochenen Krieges als eines nationalen Krieges distanziert und gleichzeitig eine andere Interpretation der Geschehnisse anbietet. Da die semantische Verschiebung des Begriffs ,Krieg' in dieser Rede sehr aufwendig betrieben wird, wird sie gesondert behandelt (siehe 4.2.3).
64
Vajskopf 2 0 0 1 , 9 4 .
65
Klein 1 9 9 8 b , 3 7 8 .
66
Vgl. dazu auch B a c h e m 1979, 107: „ D i f f a m i e r u n g durch A s s o z i a t i o n . "
67
Backes 1989,243.
68
Lenin 1 9 6 1 , 2 9 .
65
Lenin 1 9 6 1 , 3 5 .
70
Lenin 1 9 6 1 , 3 1 f .
Politische Rede der extremen Linken
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4.2.2 Stigmawörter Die Stigmawörter der vorliegenden Rede sind ,6ypMcya3na'71 (Bourgeoisie), ,6yp»ya' 7 2 (Bourgeois), ,KaroiTajiH3M'73 (Kapitalismus), ,HMnepHanH3M'74 (Imperialismus). Diese Stigmawörter sind insofern für den extremen linken Sprachgebrauch charakteristisch, als dass sie einerseits auf ein komplexes ideologisches System referieren und andererseits bereits als Termini eine ausgeprägte negative Deontik haben. Glimm (1961, 527) hat diese Besonderheit (speziell für den Sprachgebrauch Lenins) wie folgt festgehalten: „Kampfwörter 7 5 [...] werden zur Bezeichnung bestimmter, innerhalb der marxistischen Lehre als negativ empfundener Erscheinungen gebildet und sind ursprünglich analytische, beschreibende, w i s s e n s c h a f t l i c h e ' Bezeichnungen. [...] D i e s e Wörter haben durch den negativen Zusammenhang, in dem sie immer wieder gebraucht werden, die Tendenz, in Schimpfwörter überzugehen [...]. Lenin [...] weist darauf hin, daß die benutzten Wörter wissenschaftliche Begriffe, keine beliebigen polemischen Redewendungen seien."
Der vorliegende Text ist ausgesprochen reich an Definitionen, die einen normativen Charakter haben, z.B.: „HMnepHajiH3M - 3το faicoe cocrcwHHe KannTajw3Ma, Koraa oh, βμπο,πηηβ Bce äjm Hero B03M0HCH0e, noBopaHHBaeT κ ynajiKy. 3 τ ο - oco6eHHaa 3noxa He β co3HaHHH COUHanHCTOB, HO Β (JmKTHHeCKHX OTHOUieHHSX."76 (Der Imperialismus ist ein solcher Zustand des Kapitalismus, wenn er, nachdem er alles fiir ihn mögliche erfüllt hat, sich zum Untergang wendet. Das ist eine besondere Epoche nicht im Bewusstsein der Sozialisten, sondern in den faktischen Gegebenheiten.)
Die Verwendung der normativen Wendungen in der persuasiven Funktion ist kennzeichnend fiir den Sprachgebrauch Lenins. Besonders deutlich wird es am Beispiel der semantischen Verschiebung der Leitbegriffe .Krieg' und .Vaterland'. 4.2.3. Semantische Verschiebung der Leitbegriffe .Krieg' und .Vaterland' Die semantische Verschiebung wird im vorliegenden Fall durch eine Kombination der deskriptiven und der deontischen (Neu-) Besetzung der Begriffe
71 72 73 74 75 76
Lenin 1961,27. Lenin 1961,31. Lenin 1961, 28ff. Lenin 1961,29. In der Terminologie meiner Arbeit sind dies Fahnen- und Stigmawörter. Lenin 1961, 29f.
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vollzogen. 77 Objekte dieser Begriffsbesetzung sind die Leitbegriffe ,Krieg' und .Vaterland'. Diese zwei Leitbegriffe beziehen sich aufeinander. Als erstes möchte ich den Begriff des Krieges näher betrachten. In der Rede wird eine Umdeutung dieses Begriffs zunächst mit den Mitteln der Bedeutungskonkurrenz vorgenommen. Dabei werden sowohl deskriptive als auch deontische Elemente des Begriffs .Krieg' betroffen. Die Bewertung des Begriffs wird neu definiert, und zwar dadurch, dass die deskriptiven Komponenten neu definiert werden. Einige semantische Merkmale werden aufgehoben, andere werden hinzugefügt. Erstens wird dem Rezipienten suggeriert, dass das, was er mit dem Begriff des Krieges assoziiert, sich auf einen veralteten Begriff beziehe und dass diesem Begriff jetzt eine neue Bedeutung zukomme, die in den folgenden Punkten erläutert wird: „TOJIBKO paccMaTpHBaa 3Ty BOHHy Β e e OTJIHHHTCJII>HOH HCTopHMecKOH oßcraHOBKe, KaK 3TO oSsnaTeJitHO ansi MAPKCHCRA, M M MOHCCM ΒΕ>ΙΗΟΗΗΊΊ> cBoe OTHOIIICHHC Κ Heft. HHane
6yaeM
MBI
cTapbiMH
onepnpoeaTb
ΠΟΗ»ΤΗ«ΜΗ,
apryMeHTaMH,
npmioxceHHbiMH κ HHOH, κ CTapoñ 06cTaH0BKe." 78 ( N u r w e n n wir d i e s e n K r i e g in s e i n e m s p e z i f i s c h e n h i s t o r i s c h e n K o n t e x t betrachten, w i e e s fur e i n e n M a r x i s t e n a u c h u n u m g ä n g l i c h ist, k ö n n e n wir unsere E i n s t e l l u n g z u i h m klären. S o n s t w e r d e n wir mit alten B e g r i f f e n , A r g u m e n t e n o p e r i e r e n , d i e in e i n e m anderen, in e i n e m veralteten K o n t e x t a n g e w a n d t w e r d e n . )
Zweitens wird das Merkmal .national' dem neuen Kriegsbegriff abgesprochen mit dem Hinweis, dass nur Kriege im 18. und 19. Jahrhundert als .national' bezeichnet werden dürfen. Stattdessen wird der aktuelle Krieg als imperialistisch' bezeichnet: „HacToamaji BoiiHa - HMnepnaJincTHHecKa5i, Η Β STOM e e OCHOBHOH xapaicrep. Η τ ο 6 e r o BbiacHHTb, Haao paccMOTpeTt, I T O TaKoe n p e a t w y i m i e B O H H U Η HTO Tanoe HMnepnajiHCTHHecKaH BofiHa." 79 (Der
gegenwärtige
Krieg
ist
g r u n d l e g e n d e r Charakterzug.
ein
Um
imperialistischer,
und
darin
besteht
ihn z u klären, m u s s m a n erkennen,
was
sein die
v o r a n g e g a n g e n e n K r i e g e w a r e n und w a s ein imperialistischer K r i e g ist.) „ECJTH
HauHOHajibHbie
KanHTanH3Ma HMnepHajiH3M
-
BOHHU
XVIII
MMnepnaJincTHHecKne ecTb
το,
HTO
H
XIX
ΒεκοΒ
03HaMeH0BajiH
ΒΟΡΙΗΜ yKa3biBai0T
HaKjianwBaeT
coBceM
Ha e r o
ocoöbifl
Hanajio
KOHeu.
[...]
oTnewaTOK
Ha
( W e n n d i e n a t i o n a l e n K r i e g e d e s 18. und d e s 19. Jahrhunderts d e n B e g i n n
des
coBpeMeHHyK) BOHHy, OTJiHMaeT e e ο τ Bcex n p e f l b w y m n x . " 8 0 K a p i t a l i s m u s b e d e u t e t e n , s o d e u t e n d i e i m p e r i a l i s t i s c h e n K r i e g e a u f sein E n d e hin.
77
7! 79 80
Dazu Ballnuß 1996, 32: „Die deskriptive und die deontische Funktion eines Begriffs sind untrennbar mitinander verbunden, insbesondere basiert eine Verschiebung der deontischen Funktion immer auf einer Änderung der deskriptiven Funktion." Lenin 1 9 6 1 , 2 9 . Lenin 1 9 6 1 , 2 8 . Lenin 1 9 6 1 , 2 9 .
Politische Rede der extremen Linken
331
[...] Der Imperialismus ist das, was dem gegenwärtigen Krieg ein ganz besonderes Gepräge verleiht, was ihn von allen vorangegangenen Kriegen unterscheidet.) „ [ . . . ] 3TO COBCEM He τ ε BOHHM, I T O e e j i i i c b p a H b i i i e , Η [ . . . ] COOTBERCTBEHHO, 3AAAMH,
CTaBHmueca nepeji couwajiHCTaMH, H3MeHM0Tca."81 ([...] das sind gar nicht diese Kriege, die früher geführt worden sind, und [...] die Aufgaben, die sich den Sozialisten stellen, verändern sich dementsprechend.) „nojToca HAUHOHAJIBHBIX BOÍÍH npouuia. ÍTepe/i HaMH BofiHa - HMnepnanHCTHHecicaji, H 3aaana couHaJiHCTOB - npeepaTHTb BOHHy 'HauHOHajibHyio' Β rpajnnaHCKyio."82 (Die Periode der nationalen Kriege ist vorbei. Vor uns ist ein imperialistischer Krieg, und [...] die Aufgabe der Sozialisten besteht darin, den nationalen' Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln.)
Die ausführliche und immer wiederkehrende Charakterisierung des Krieges als .imperialistisch' enthält gleichzeitig den Hinweis auf die marxistische Theorie und auf die Notwendigkeit, den Begriff des Krieges gemäß der aktuellen historischen Situation neu zu definieren und zu bewerten. Die neue Definition beinhaltet eine Veränderung der deskriptiven Komponente, die neue Bewertung impliziert eine Veränderung der deontischen Komponente. Die semantische Verschiebung, die auf diesem Weg erreicht wird, findet statt in einem kontinuierlich wirkendem terminologischen Rahmen der marxistischen Ideologie. Der Imperialismus wird von Lenin als letztes Stadium des Kapitalismus definiert, und somit unterstreicht die Kennzeichung des Krieges als eines imperialistischen Kriegs den wissenschaftlichen Charakter dieser ideologischen Umdeutung. Außerdem wird von Lenin ein Hinweis darauf gegeben, dass es als konstitutive Bestandteile des neuen Begriffs ,Krieg' weder Angreifer noch Angegriffene gibt. Der als veraltet dargestellte Begriff des nationalen Krieges, in dem es noch Angreifer und Angegriffene gibt, wird herabgesetzt, und zwar als eine naiv-kindliche Schreckensvorstellung vom nächtlichen Überfall: „CouHajiHCTbi, He AaBiiwe ce6e OTHeTa Β TOM, HTO /laHHa» BOHHa ecTb HMnepHajiHCTHiecKaa, HHMero Β 3TOH BoüHe He noHMyr, H OHH cnocoÔHbi ce6e npejiCTaBJiflTb ee .aexcKH-HauBHO, Β TaicoM BH^e, HTO HOHbio ΟΛΗΗ cxearaji apyroro 3a ropjio, η coceßflM πρΗΧΟΛΗται cnacaTb xcepTBy Hana^eHna HJJH 3annpaTbcsi TpycjiHBO Ha KJIIOH [ . . . ] . " 8 3
(Die Sozialisten, die sich nicht darüber im Klaren sind, dass der gegenwärtige Krieg ein imperialistischer ist, werden nichts in diesem Krieg verstehen. Sie sind imstande, sich diesen Krieg kindlich-naiv vorzustellen, in der Art, dass der eine den anderen nachts an die Gurgel gepackt hat und die Nachbarn müssen das Opfer des Überfalls retten oder sich feige einschließen.)
81 82 83
Lenin 1961,30. Lenin 1961, 31f. Lenin 1961,31.
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Indem betont wird, dass der spontan assoziierte Begriff des Krieges ein veralteter, naiver, nicht mehr aktueller ist, wird die Verteidigung des Vaterlandes ebenfalls als eine nicht mehr aktuelle Folgehandlung entwertet. Stattdessen wird vielmehr die Überführung des imperialistischen Kriegs in einen Bürgerkrieg gefordert. Damit knüpft der Redner an eine Tradition in der Auffassung des Kriegsbegriffs an, wie sie zum Beispiel bei den Frühsozialisten wie Wilhelm Weitling vorkommt. Weitling entwickelt 1841 den Gedanken, dass der Bürgerkrieg die bürgerliche Gesellschaft vernichten soll, damit der ewige Frieden einkehren kann. 84 Dieser Gedanke wird in der marxistischen Ideologie weiterverfolgt. Der Begriff des Vaterlandes wird ebenfalls umgedeutet und als veraltet herausgestellt: „K T3KHM y c T a p e j i b i M ΠΟΗΑΤΗΛΜ npnHa/ME>KHT nofwrae 0 6 85 O T e n e c T B e [...]." (Zu solchen veralteten Begriffen gehört der Begriff des Vaterlandes [...].) Bei der Umdeutung geht der Redner jedoch vorsichtiger um, da dieser Begriff sehr stark positiv besetzt ist. Das stärkste Argument bei der Herabsetzung des Vaterlandsbegriffs ist in dieser Rede die Berufung auf das Kommunistische Manifest, in dem das Vaterland als historische Kategorie erscheint, die einer bestimmten Entwicklungsstufe der Gesellschaft entspricht und dann überflüssig wird. Die Zuspitzung dieser Umdeutung ist das abgewandelte Zitat aus dem Kommunistischen Manifest: „ n p o j i e T a p n a T He MoaceT JIIO6HT& ΤΟΓΟ, Hero y Hero HCT. y
npojieTapnaTa HCT
OTenecTBa." 86 ( D a s Proletariat kann nicht d a s lieben, w a s e s gar nicht hat. D a s Proletariat hat k e i n V a t e r l a n d . )
Die Idee, dass man auf den herkömmlichen Begriff des Vaterlandes verzichten muss, findet ihren Ursprung in den religiösen Texten, was an dieser Stelle belegen soll, dass die Leitbegriffe der extremen Linken zu einem gewissen Teil den religiösen Konzepten verpflichtet sind. 87 In diesem Fall besteht die Analogie darin, dass man den Begriff des .wahren Vaterlands' in eine Dimension versetzt, die nicht irdisch ist, die mit den herkömmlichen Empfindungskategorien und Wertkategorien nichts zu tun hat. Ein Bestandteil der linken Ideologie ist die chiliastische Ausrichtung, die die Rezipienten über-
84 85 86
87
Brunner, u.a. 1992, s. v. .Krieg' 609 f. Lenin 1 9 6 1 , 2 9 . Lenin 1961, 32. Im Kommunistischen Manifest heißt es wörtlich: „Die Arbeiter haben kein Vaterland." Diese Beobachtung wurde in politikwissenschaftlichen Arbeiten gemacht (vgl. Backes a. a. O.), aber auch in der russischen Philosophie, so z.B. bei Berdiajew: „Die Idee des Kommunismus [...] ist religiösen und im gewissen Sinne auch christlichen Ursprungs. [...] Wir dürfen nicht vergessen, dass [...] die kommunistischen und sozialistischen Strömungen der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts in Frankreich einen spiritualistischen und religiösen, wenn auch sehr unbestimmten und undeutlichen Charakter hatten." (Berdjaev 1934, 8)
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zeugen soll, nicht im Sinne der herkömmlichen (nationalen, bourgeoisen etc.) Wertkategorien zu handeln, sondern im Sinne der ideologischen Gemeinschaft (hier: das internationale Proletariat). Im vorliegenden Beispiel beinhaltet diese Taktik die Verstärkung des Appells, den imperialistischen Krieg in den Bürgerkrieg zu überfuhren, was den Interessen des „wahren" Vaterlandes entsprechen würde. Die Betrachtung des entsprechenden Textes auf der deutschen Seite zeigt, dass hier die Umdeutung des Vaterlandbegriffs nicht im gleichen Maße verwendet und propagandistisch eingesetzt wird. Das ist dadurch zu erklären, dass die deutsche Sozialdemokratie die Erfahrung des Sozialistengesetzes hat; und die berühmte Äußerung Bismarcks, der die Sozialdemokraten als „vaterlandslose Gesellen" bezeichnet hat, hat dazu geführt, dass an der deutschen Sozialdemokratie das Odium des Halblegalen haftete. Deshalb musste die SPD ihre Salonfähigkeit immer wieder beweisen und auch ihre Einigkeit nach außen demonstrieren. Damit ist auch zu erklären, dass am 4. August 1914 im Reichstag die SPD-Fraktion für die Bewilligung der Kriegskredite gestimmt hat, nach den erbitterten Debatten in der Fraktionssitzung. 88 Das ist m.E. der Grund dafür, dass in der Rede von Liebknecht der Vaterlandsbegriff nicht unmittelbar dekonstruiert, sondern die Kritik durch die Beschuldigung der gemäßigten Sozialdemokratie vollzogen wird.
5. Zusammenfassung Nach der vergleichenden Gegenüberstellung der untersuchten Reden können folgende Schlüsse gezogen werden: - Die Distanzierung der extremen Linken von der gemäßigten Sozialdemokratie wird sowohl auf der deutschen als auch auf der russischen Seite vollzogen. Dabei wird die konkurrierende Gruppe des Verrats und der mangelnden Urteilskraft beschuldigt (naives oder käufliches Verhalten wird unterstellt). Eine große Rolle spielen dabei die Fahnen- und Stigmawörter, die den ideologischen marxistischen Hintergrund sowie die Mechanismen der Distanzierung von der gemäßigten Sozialdemokratie deutlich werden lassen. -
-
88
Die Technik des Begriffe-Besetzens wird vermehrt angewandt, um die denotativen und die deontischen Elemente der umstrittenen Begriffe gemäß der eigenen ideologischen Position neu zu prägen. In Ansätzen lassen sich in beiden Reden charakteristische Merkmale der linksextremen Sprachverwendung feststellen (deontische Belastung der Termini, terminologische Unscharfe, verschwörungstheoretische Spekulationen, religiöse/ chiliastische Konzeptualisierungen). Miller 1988,316.
334 -
-
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In der Rede von Lenin finden sich zahlreiche definitorische Feststellungen, die einen normativen Charakter haben und auf das komplexe ideologische Geflecht des Marxismus verweisen. Auffallend ist dabei die systematische Neudefinition der konventionellen Begriffe (.Krieg', ,Vaterland'), die im Rahmen der ideologischen Theorie eine kontinuierliche Begründung für die semantische Verschiebung erfahren. Während in der Rede von Liebknecht ,Klassenkampf als Gegenbegriff zu , Krieg' fungiert, tritt in der Rede von Lenin in dieser Rolle der Begriff Bürgerkrieg' auf. Insofern sind zwar beide Reden gegen den Krieg gerichtet, jedoch implizieren Schlagwörter und Leitvokabeln der Reden unterschiedliche Handlungsfolgen für die Rezipienten.
6. Literatur 6.1. Quellen Lenin, Vladimir Il'iö: Referat na temu „Proletariat i vojna" (Vortrag zum Thema „Das Proletariat und der Krieg"). 1 (14) Oktober 1914. In: Ders. (1961): Polnoe sobranie socinenij (Gesammelte Werke). Bd. 26. Moskau, 27-35. Liebknecht, Karl (1957): Rede gegen den Sozialpatriotismus auf einer SPDVersammlung in Neukölln. In: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Reihe II., Bd. 2. Berlin (O), 89-93. 6.2. Sekundärliteratur Backes, Uwe (1989): Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie. Opladen. Bachem, Rolf (1979): Einführung in die Analyse politischer Texte. München. Ballnuß, Petra (1996): Leitbegriffe und Strategien der Begriffsbesetzung in den Grundsatzprogrammen von CDU und SPD. In: Diekmannshenke, Hajo/ Klein, Josef (Hgg.) (1996): Wörter in der Politik. Analysen zur Lexemverwendung in der politischen Kommunikation. Opladen, 29-76. Berdiajew, Nikolai (=Berdjaev, Nikolaj) (1934): Wahrheit und Lüge des Kommunismus. Luzern. Boke, Karin/ Liedtke, Frank/ Wengeler, Martin (1996): Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära. Berlin, New York. Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hgg.) (1992 4 ): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart.
Politische Rede der extremen Linken
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JÓZEF W l K T O R O W I C Z
Die deutsch-polnische Nachbarschaft und ihre Widerspiegelung in der polnischen Sprache Die deutsch-polnischen sprachlichen Kontakte dauern schon länger als 1000 Jahre. Die Auswirkungen dieser Sprachkontaktgeschichte zeigen sich vor allem in vielfältigen lexikalischen Entlehnungen, aber auch in einigen anderen Bereichen hat die lange und wechselhafte Geschichte der gegenseitigen Sprachkontakte ihre Spuren hinterlassen. Wenn man sich bei der Betrachtung der Sprachkontaktgeschichte nicht nur auf ihren Einfluss auf das interne sprachliche System beschränkt, sondern auch die Geschichte der Beziehungen zwischen den Sprechern der beiden Sprachgemeinschaften mit berücksichtigt, kann man beobachten, dass die Sprachkontaktgeschichte auch einige Aspekte der Sozialgeschichte aufdecken kann. Die gegenseitigen Sprachbeziehungen prägten auch das gegenseitige Bild der Sprecher der beiden Sprachgemeinschaften. Die Richtung der lexikalischen Beeinflussung, die lexikalischen Sachgebiete geben auch Auskunft über die Beziehungen zwischen den Sprechern der beiden Sprachgemeinschaften. Zunächst will ich auf die lexikalischen Einflüsse des Deutschen auf das Polnische eingehen. In althochdeutscher Zeit, also in der vorliterarischen Periode des Altpolnischen, kommt es zu den ersten Sprachkontakten; diese Zeit ist durch die Christianisierung Polens geprägt. 1 Aus dem Althochdeutschen werden in dieser Zeit noch relativ wenige Wörter übernommen. Die deutschen Entlehnungen im Polnischen gehören drei Sachgebieten an; ein Drittel der Lehnwörter stammt aus dem religiösen Bereich, ein Drittel kann der Alltagslexik zugeordnet werden, und ein Drittel der Lehnwörter gehört dem Verwaltungswortschatz an: biscof munich klostar scado stadel muta
-
poln. biskup mnich klasztor szkoda stodola myto
dt.
messing pfenning scîba kuhhina (h)wîla
-
poln. mosi^dz pieni^dz skiba kuchnia chwila
Traditionelle Periodisierung des Deutschen: Ahd. (800-1050), Mhd. (1050-1350), Frühnhd. (1350-1700), Nhd. (seit 1700); traditionelle Periodisierung des Polnischen: vorliterarische Zeit (800-1150), Altpolnisch (1150-1500), Mittelpolnisch (1500-1800), Neupolnisch (1800-2000), gegenwärtige Periode (seit 2000).
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Józef Wiktorowicz
Durch tschechische Vermittlung gelangen ins Polnische unter anderem: dt. abbat altâri kastei bâbes
-
tschech.
opat oltar kostel papez
-
poln.
opat ottarz kosciól papiez
In der altpolnischen Periode, die sich teilweise mit dem Mittelhochdeutschen deckt (nach der traditionellen Einteilung), entwickeln sich sehr enge Beziehungen zwischen den beiden Sprachgemeinschaften, weil im Zuge der Ostkolonisation und der zahlreichen deutschen Städtegründungen in Schlesien und im Norden des polnischen Sprachgebiets direkte Kontakte zwischen den beiden Sprachgemeinschaften bestehen. Es entstehen bilinguale Gebiete und auch deutsche Sprachinseln innerhalb des polnischen Sprachraums. Schlesien war damals ein solches bilinguales, sogar trilinguales Gebiet, wenn man das Tschechische mitberücksichtigt. Krakau, der Sitz der polnischen Könige, war im 14. Jahrhundert eine Stadt mit fast ausschließlich deutschen Bürgern. In mittelhochdeutscher Zeit, also zur Zeit des Altpolnischen, siedeln sich im polnischen Sprachgebiet viele deutsche Bürger an. Die Intensität der gegenseitigen Sprachkontakte ist auch daran erkennbar, dass das Polnische in dieser Periode mehr als 400 Wörter aus dem Deutschen entlehnte. Manche dieser Wörter sind später verschwunden, weil die entsprechenden Denotate im alltäglichen Leben nicht mehr verwendet wurden. Die Übernahme aller dieser Lehnwörter erfolgte auf dem mündlichen Wege; dies ist unter anderem daran erkennbar, dass die entlehnten Wörter dem polnischen Lautsystem angepasst wurden. Die deutschen Entlehnungen stammen fast ausschließlich aus dem hochdeutschen Raum, lediglich zehn Lehnwörter können dem niederdeutschen Raum zugeordnet werden (bei mehr als 400 Entlehnungen). Aus dem Niederdeutschen wurden in dieser Zeit unter anderem poln. brak (Fehler) aus nd. Brack, poln. kawal (Fragment) aus nd. Kavel, poln. s luza (Schleuse) aus nd. Sluse entlehnt. Die entlehnte Lexik gehört meist dem Bereich des Handwerks an, zum Teil sind es auch Ausdrücke aus dem Verwaltungswortschatz, weil die neuen Siedler auch neue Organisationsformen in der Stadtverwaltung einführten, die der polnischen Sprachgemeinschaft fremd waren: dt. blech sieht smecken rathûs heller, haller Schilling kraemer schenker traeger jarmarket breme
-
poln. blacha szlachta smakowac ratusz halerz szel^g kramarz szynkarz tragarz jarmark brama
dt. rinc geleite vorwerk bîgûs esterich gemach gesimse smer maier schlosser färber
- poln. rynek glejt folwark bigos strych gmach gzyms smar malarz slusarz farbierz
339
Die deutsch-polnische Nachbarschaft pinsei
-
pçdzel
kanzler
-
kanclerz
vogt
-
wójt
gemeine
-
gmina
Der deutsche Einfluss beschränkt sich nicht nur auf rein lexikalische Einflüsse; in dieser Zeit werden auch zwei deutsche Suffixe entlehnt, die im polnischen Wortbildungssystem bis heute produktiv sind. Aus dem deutschen Suffix ,-er7,-aer', mit dessen Hilfe Berufsbezeichnungen gebildet werden, ist das Suffix ,-arz'/,-erz' entstanden, das im Polnischen eine ähnliche Funktion hat: dt.
maier
poln.
malarz
färber
farbiarz
krämer
kramarz
schlosser
slusarz
kanzler
kanclerz
Zunächst bildete ein deutsches Wort die lexikalische Basis, dann wurde das Suffix auf die polnische lexikalische Basis Ubertragen. Man konnte dann das Suffix ,-arz' zu einer polnischen lexikalischen Basis hinzufügen, um eine Berufsbezeichnung zu bilden: stolarz (Tischler), piekarz (Bäcker). Ähnlich hat sich aus dem deutschen Suffix ,-unc' das polnische Suffix ,-unek' entwickelt: rachunek (Rechnung), frasunek (Kummer), szacunek (Achtung, Schätzung), stosunek (Verhältnis). In der mittelpolnischen Periode wurde der Einfluss der deutschen Sprache auf das Polnische etwas schwächer. Erst zum Ende des Mittelpolnischen, d.h. zur Zeit der Herrschaft der Sachsenkönige August des Starken (1697-1733) und August III. ( 1 7 3 3 - 1 7 6 3 ) in Polen, wurden neue Lehnwörter aus dem Deutschen übernommen, vorwiegend waren es Wörter aus dem militärischen Bereich: fechmistrz (Fechtmeister), heim (Helm), pancerz (Panzer), pika (Pike), rotmistrz (Rottenmeister), szturm (Sturm) u.a. Eine neue große Welle der deutschen Entlehnungen kam in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Zunahme der deutschen Lehnwörter in dieser Periode wurde vor allem durch zwei Faktoren begünstigt: Zum einen durch die Ausdehnung der deutschen Sprachinseln im polnischen Sprachraum im Zuge der deutschen Kolonisation; zum anderen durch die Teilung des polnischen Staates durch Preußen, Österreich und Russland. Im 18. Jahrhundert wurde die deutsche Kolonisation insbesondere von Friedrich II. gefördert und unterstützt. Eine verstärkte deutsche Kolonisation erfolgte nach den Teilungen Polens, d.h. in den Jahren 1772 bis 1793. Auch im österreichischen Teil Polens unterstützte man die deutsche Kolonisation. Und auch in dem von Russland besetzten Teil Polens entstanden deutsche Kolonien um Lodz, Warschau und Lublin. Im polnischen Sprachgebiet entstanden damit viele deutsche Sprachinseln, und auch in den Städten gab es einen gewissen prozentuellen Anteil deutscher Bürger.
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Józef Wiktorowicz
Auf die sprachliche Entwicklung des Polnischen hatte nicht nur das Nebeneinander der polnischen und deutschen Sprachträger einen Einfluss, sondern auch die äußere politische Situation. Im 19. Jahrhundert war das Polnische die Sprache einer Nation, die keinen eigenen Staat hatte. Das Polnische war dem politischen Druck der Teilungsmächte ausgesetzt. Die Unterdrückungspolitik gegenüber dem Polnischen wurde in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens mit unterschiedlicher Intensität - j e nach dem Teilungsgebiet - geführt. Dem stärksten Druck war das Polnische im preußischen, später deutschen Teil Polens ausgesetzt. Einem äußerst starken Druck war das Polnische auch im russisch besetzten Teil Polens ausgesetzt, aber dies betrifft die polnischrussischen Sprachbeziehungen, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Der preußische Staat hat jede Form des polnischen Nationalbewusstseins als Gefährdung seiner Existenz betrachtet; die Polen wiederum gaben den Gedanken nicht auf, irgendwann die Unabhängigkeit des polnischen Staates wiederzuerrichten. Die preußische Staatsmacht fühlte sich vom polnischen Streben nach einem eigenen Staat bedroht, daher wurden verschiedene Maßnahmen getroffen, um einen sprachlich homogenen preußischen Staat zu schaffen. Die Homogenität des preußischen Staates ließ sich aber nur durch die Germanisierung der nicht-deutschsprachigen Bevölkerungsteile erreichen. Daher versuchte man, die polnische Sprache - insbesondere nach dem polnischen Aufstand von 1863 - stufenweise zu verdrängen. Dem stärksten Druck war die polnische Sprache in der Periode des Kulturkampfes ausgesetzt. Es wurden äußerst restriktive Gesetze in der Sprachenpolitik eingeführt: 1872 wurde Deutsch als Unterrichtssprache in den Schulen in allen Fächern, auch im Religionsunterricht, eingeführt. 1876 wurde Deutsch als einzige Amts- und Gerichtssprache eingeführt. Hinzu kam das Ansiedlungsgesetz von 1886, das ermöglichte, mit Steuergeldern polnische Güter zu erwerben und ausschließlich an deutsche Siedler aufzuteilen. 1894 wurde der Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken gegründet. Der Ostmarkenverein ist im Polnischen unter der negativ besetzten Bezeichnung Hakata bekannt, nach den Namen seiner Gründer: Hansemann, Kennemann und Tiedemann. Hakata ist eine Bezeichnung, die bei jedem Polen negative Konnotationen hervorruft, weil diese Organisation eine aggressive Germanisierungspolitik betrieb. Da die Ansiedlungspolitik - vom Standpunkt der deutschen Regierung aus - nicht die erhofften Ziele brachte, folgten weitere Gesetze, die den Ankauf von Gütern durch Polen verboten und die Enteignung polnischen Landes zuließen. Die restriktive Sprachen- und Schulpolitik sowie die Boden- und Ansiedlungspolitik haben die Zahlenverhältnisse zwischen den deutschen und polnischen Sprechern nur geringfügig verändert; dafür hat diese Politik zur Polarisierung zwischen den Deutschen und Polen geführt. Deutsche und Polen lebten in den von Deutschen besetzten Gebieten sozial und kulturell voneinander getrennt, Ehen zwischen Polen und Deutschen waren selten, nicht nur wegen des konfessionellen Gegensatzes. Die Deutschen waren in der Regel von der Überlegenheit der deutschen Kultur überzeugt. Stellvertretend für diese
Die deutsch-polnische Nachbarschaft
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Haltung möchte ich zwei Autoren zitieren: Heinrich von Treitschke (18341896) und Friedrich Engels (1820-1895). „Während die Deutschen andern Nachbarnvölkern gegenüber nur zu oft eine haltlose Empfänglichkeit zeigten, fühlten sie sich hier im Slawenlande [d.h. im von Preußen besetzten polnischen Gebieten, J.W.] allesamt stolz als Herrscher und Lehrer, als Träger einer überlegenen Gesittung; kein Deutscher lernte polnisch, wenn er nicht mußte, denn was hatte diese arme Literatur ihm zu bieten?" (von Treitschke 1928, 246)
Über Polen, Tschechen und Deutsche: „Die Bedeutung des deutschen Elements in den slawischen Grenzgebieten, die mit dem Wachstum der Städte, des Handels und der Industrie zunahm, steigerte sich noch, als es sich zeigte, daß fast alles, was zur geistigen Kultur gehört, aus Deutschland eingeführt werden mußte." (Engels 1852, 233)
Über die Wiederherstellung Polens: „Andererseits mußte man sich fragen, sollten ganze Landstriche, hauptsächlich von Deutschen bewohnt, sollten große, völlig deutsche Städte einem Volk überlassen werden, das bisher noch nicht bewiesen hatte, daß es fähig sei, sich über einen auf bäuerlicher Leibeigenschaft beruhenden Feudalzustand hinaus zu entwickeln?" (Engels 1852, 234)
Damals ist ein Fremdwort ins Polnische übernommen worden, das im Polnischen stets mit negativen Konnotationen gebraucht wurde. Es handelt sich um das Wort Kulturträger (poln. kulturtregier). Die Überzeugung der Deutschen von ihrer kulturellen Überlegenheit stärkte nur das polnische Nationalbewusstsein und den polnischen Nationalstolz, was gelegentlich zu extrem nationalistischen Äußerungen auf der polnischen Seite führte. Stanislaw Przybyszewski (1868-1927), den man hauptsächlich als Vertreter der deutschen Literatur betrachten kann, weil er die meisten Werke in deutscher Sprache geschrieben hat, der sich in Berlin, München und Wien wie zu Hause fühlte, vertrat die These, dass die Polen das geistig kultivierteste Volk der Welt seien. Viel besser war die sprachliche Situation im österreichischen Teil des polnischen Sprachgebiets, aber auch dort musste man - um einen Hochschulabschluss zu erlangen - an eine Universität gehen, an der Deutsch die Unterrichtssprache war. Auch an den Universitäten in Krakau und Lemberg war Deutsch die Unterrichtsprache. Viele Polen studierten auch in Wien, Berlin, München oder Heidelberg. Der Zugang zu den Ämtern und die Hochschullaufbahn waren nur dann möglich, wenn man über gute Kenntnisse der deutschen Sprache verfugte. Die polnischen Zeitungen und Zeitschriften bezogen ihre Informationen zum Teil über die deutschsprachige Presse.
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Aber fìir die Zunahme des Fremdwortanteils ist nicht nur die damalige politische Situation verantwortlich. Das 19. Jahrhundert ist die Periode der raschen Industrialisierung. Die Entwicklung der Eisenbahn, der Textilindustrie, des Bergbaus und einiger anderer Industriezweige hat zur Folge, dass viele deutsche Fachausdrücke zunächst in die polnische Fachsprache und teilweise auch in den polnischen Allgemeinwortschatz eindringen. Durch den technischen Fortschritt kam es zu unzähligen Sachentlehnungen und zusammen mit den Denotaten wurden auch die deutschen Bezeichnungen übernommen, die erst später durch polnische Benennungen ersetzt wurden. Das achtbändige Wörterbuch der polnischen Sprache,2 das Ende des 19. Jahrhunderts verfasst wurde, verzeichnet eine Fülle von deutschen Entlehnungen, von denen heutzutage 40% dem polnischen Sprachbenutzer nicht mehr bekannt sind. Wenn man sich die Liste der deutschen Entlehnungen ansieht, stellt man sehr schnell fest, dass dabei Wörter überwiegen, die Dinge des Alltags bezeichnen. Meist sind es Bezeichnungen für Werkzeuge, Haushaltsgegenstände, Bezeichnungen aus dem Bereich des Handwerks. Das Deutsche war eine Quelle für Wörter zur Benennung neuer Erscheinungen des 19. Jahrhunderts. Es ist auffallend, dass das Deutsche Benennungen im Zusammenhang mit dem technischen Fortschritt lieferte im Unterschied zum Französischen, aus dem Entlehnungen aus dem Bereich der geistigen Kultur im Polnischen überwiegen. Die Deutschen wollen gern als Land der Dichter und Denker gesehen werden. Die Polen dagegen sahen in den Deutschen vorwiegend das Land der Denker und Handwerker. Mehr als die deutsche Literatur wurde in Polen die deutsche Philosophie und Sachliteratur geschätzt. Der Deutsche sei für Polen - nach der Auffassung des polnischen Germanisten Namowicz, 3 der sich mit der Rezeption der deutschen Literatur in Polen beschäftigt - homo faber und nicht homo litteratus. Diese Beobachtung, die sich auf das Bild der Deutschen in Polen bezieht, findet ihre Bestätigung auch in den Entlehnungsvorgängen. Bei den Entlehnungen können wir beobachten, dass das Polnische z.B. im Bereich der Theaterterminologie aus dem Französischen Bezeichnungen für neue Theater-Typen übernommen hat (kabaret, varíete u.a.); aus dem Deutschen dagegen Wörter aus dem technischen und administrativen Bereich: ferzenk (versenkbare Bühne), flug (Einrichtung, die es dem Schauspieler ermöglicht, sich über die Bühne zu erheben), sztraf (Strafe für das Zuspätkommen zur Probe), forszus (Anleihe). Es wird darüber hinaus darauf hingewiesen, dass die deutschen Entlehnungen eine Tendenz zur negativen Färbung zeigen: geszeft (anrüchiges Geschäft), grynder (Person, die ein Unternehmen zu Spekulationszwecken gründet). Als Reaktion auf die große Fülle von Fremdwörtern im Polnischen bildeten sich puristische Tendenzen heraus, die gegen die fremden Einflüsse in der polnischen Sprache gerichtet waren. Es wurden nicht nur deutsche, sondern auch 2 3
Sfownik Warszawski 1900-1927. Namowicz 2000, 7.
Die deutsch-polnische Nachbarschaft
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russische und französische Einflüsse bekämpft. Unter den polnischen Puristen gab es zwei Tendenzen; einerseits gab es radikale Gegner jedes Fremdworts, die jedes Lehnwort durch ein polnisches Wort ersetzen wollten, und andererseits gab es gemäßigte Puristen, die die lexikalischen Entlehnungen im Großen und Ganzen akzeptierten, dafür aber den syntaktischen Einfluss der anderen Sprachen auf das Polnische bekämpften. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen viele puristische Arbeiten, die die sog. .Verunreinigung' und ,Vergiftung' der polnischen Sprache anprangerten. Sie enthielten Ratschläge, welche Wörter und syntaktische Konstruktionen gemieden werden sollten und welche Wörter und syntaktische Konstruktionen ein sprachbewusster Pole bevorzugen sollte. Nach dem ersten Weltkrieg, als der polnische Staat wieder errichtet wurde, wurden die puristischen Tendenzen noch stärker. Die polnischen Puristen setzten sich zum Ziel, die polnische Sprache vom Einfluss des Deutschen und Russischen zu befreien, d.h. vom Einfluss der Sprachen der Teilungsmächte. Interessanterweise haben die Fachausdrücke .Germanismus' und ,Russizismus' eine negative Bedeutungskomponente, nicht aber die parallelen Ausdrücke ,Bohemismus', ,Latinismus' oder .Anglizismus'. Deutsche Lehnwörter wurden entweder durch direkte Lehnübersetzungen: dt.
Bahnhof Briefträger Windbruch Sprachwissenschaft Steinbruch Zeitschrift Wegweiser Blutkreislauf Hellseher Dampfschiff Winkelmesser Weltanschauung Feuerfest Sachverständiger
-
poln.
-
-
banhof - dworzec kolei (kolejowy) bryftregier - list-o-nosz wiatr-o-lom jçzykoznawstwo kamieni-olom czasopismo drog-o-wskaz krwioobieg jasno-o-widz parostatek k^t-o-mierz áwiatopogl^d ognio-trwaty rzeczoznawca
oder durch Neubildungen des 20. Jahrhunderts ersetzt: poln.
bormaszyna wasserwaga lochajza rajzbret lochmaszyna raszpla winkielajza
poln.
wiertarka poziomnica dziurkownik rysownica dziurkarka tarnik k^townik
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Wenn man die Zahl der deutschen Entlehnungen in der polnischen Gegenwartssprache mit der Beeinflussung durch andere Sprachen vergleicht, stellt man fest, dass das Deutsche - was die Zahl der Lehnwörter im modernen Polnischen anbetrifft - an zweiter Stelle steht. An erster Stelle steht das Lateinische mit 11% und das Deutsche mit 5,4% an zweiter Stelle. Den Einfluss einiger europäischen Sprachen auf das Polnische veranschaulicht folgende Tabelle: gesamte Lexik (in %) 26,2
in Texten (in %)
Griechisch-Lateinisch
11,0
6,2
Deutsch
5,4
3,3
Französisch
4,3
2,0
Tschechisch
2,2
künstliche Fremdwörter
1,9 1,6
Englisch
1,0
0,3
Italienisch
0,8
0,3
Ukrainisch-Weißrussisch
0,5
0,15
Russisch
0,4
0,09
Entlehnungen insgesamt
14,5
0,4
Prozentualer Anteil der Entlehnungen im modernen polnischen Wortschatz (nach Witaszek-Samborska 1993)
Die meisten der deutschen Lehnwörter sind sehr stark in das lexikalische System des Polnischen integriert, weil es meist Wörter sind, die nicht isoliert stehen, sondern durch einige Derivate vertreten sind: dt.
Sold Söldner (Ge)schmack malen
-
poln.
¿oíd, 2oldak, zoldacki, i o l d a c t w o ¿olnierz, zofnierski, zolnierzyk, zolnierka smak, smakowac, smaczny, smakowity, smakosz malowaé, malarz, malowidto, malarski, malowanka, malowniczy, malowanie.
Der Einfluss der deutschen Sprache zeigt sich auch im syntaktischen Bereich. Manche Tendenzen in der Entwicklung der syntaktischen Erscheinungen gehen nicht nur auf den Einfluss des Deutschen zurück. Die Entstehung der festen Verbindungen ,Verb+Substantiv', die im Deutschen als Funktionsverbgefiige bezeichnet werden, lässt sich im Polnischen schon im 15. und 16. Jahrhundert beobachten, wobei damals die lateinischen Vorlagen fiir den Gebrauch solcher Konstruktionen verantwortlich waren. Feste Verbindungen von Verben mit Substantiven im Akkusativ, in denen das Verb semantisch leer war, waren häufig belegt: dac blogoslawienstwo, audiencje, dozwolenie, klqtwç (den Segen, eine Audienz, eine Erlaubnis, einen Fluch geben) u.a. Auch mit dem Verb klasc (legen) gibt es viele Beispiele: klasc krzyz, (*ein Kreuz legen; d.h. jmd. eine schwere Last aufbürden), klqtwq (*einen Fluch legen; d.h. verfluchen).
Die deutsch-polnische Nachbarschaft
345
Im 19. Jahrhundert haben sich weitere Konstruktionen herausgebildet, die ihre Entstehung dem deutschen Einfluss verdanken. 4 Als Funktionsverben treten nun - nach dem deutschen Vorbild - polnische Verben hervor: stawiac (stellen), znalezc, znajdowac (finden), prowadzic (führen), udzielic (erteilen). Als Funktionsverbgefiige gibt es dann: stawiac pytanie (eine Frage stellen), warunki (Forderungen), wniosek (Antrag), diagnozq (Diagnose); Znalezc uznanie (Anerkennung finden), poklask (Beifall), zastosowanie (Anwendung), wyjasnienie (Erklärung); prowadzic rosmovç walkç (ein Gespräch, einen Kampf führen); Udzielic odpowiedzi, nagany, rady (eine Antwort, einen Tadel, einen Rat geben/erteilen). Möglicherweise haben sich polnische Konstruktionen mit dem substantivierten Infinitiv auch unter dem Einfluss der deutschen Infinitivkonstruktionen herausgebildet. Ihr Aufkommen im 19. Jahrhundert liegt in der Periode der stärksten Beeinflussung des Polnischen durch die deutsche Sprache. Die deutschen Konstruktionen ,sein+zu+Infinitiv' und ,haben+zu+Infinitiv' haben im Polnischen ihre Entsprechungen, wobei im Polnischen statt des Infinitivs seine substantivierte Form steht: Jego poiozenie byio nie do pozazdroszczenia. (*Seine Lage war nicht zum Beneiden; Seine Lage war nicht zu beneiden.)
To byio do przewidzenia. (•Das war zum Voraussehen; Das war vorauszusehen.)
Mam ci cos waznego do powiedzenia. (*Ich habe dir etwas zum Sagen; Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.)
Bei der Konstruktion mit ¿yc/sein besteht die Möglichkeit des zusätzlichen Einflusses durch die deutsche Konstruktion Es ist nicht zum Aushalten, die eine wortgenaue polnische Entsprechung hat: To jest nie do wytrzymania. Allerdings sind solche Konstruktionen mit dem substantivierten Infinitiv im Deutschen starken Restriktionen unterworfen. Die Entwicklung der Konstruktionen byc, miec + substantivierte Infinitive im Polnischen konnte noch zusätzlich durch den Einfluss des Französischen verstärkt werden, wo es parallele Konstruktionen gibt: J'ai qch à régler, cela est à régler. Im Deutschen kann in solchen Konstruktionen das Verb ,sein' durch das Verb .bleiben' ausgetauscht werden, und ein ähnlicher Austausch ist ebenfalls im Polnischen möglich: Pozostaje jeszcze tylko wspomniec (Es bleibt noch zu erwähnen). Ergänzend muss hinzugefugt werden, dass solche Konstruktionen im Polnischen ohne deutsche Beeinflussung weiter entwickelt wurden; zur Verlaufsphase mit dem Verb byc (sein) wurde auch die inchoative Konstruktion mit dem Verb stac, siq, stawac (werden) gebildet, die im Deutschen fehlt: Sytuacja stawala sie nie do opanowana. (*Die Situation wurde nicht zu beherrschen).
4
Weiss 1987, 270ff.
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Eine andere syntaktische Erscheinung geht ebenfalls auf den Einfluss des Deutschen zurück; es handelt sich um den Gebrauch des Akkusativs statt des Genitivs in negierten Sätzen und bei Verben mit Genitivrektion. Das Auftreten des Akkusativs statt des Genitivs wurde im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen stilistischen Ratgebern als normwidrig kritisiert und dem deutschen Einfluss zugeordnet. Beim Schwund der Genitivrektion zugunsten der Akkusativrektion kann man auch an eine eigenständige Entwicklung des Polnischen denken, denn der Übergang vom Genitiv zum Akkusativ bedeutet zugleich eine morphologisch-syntaktische Vereinfachung, wenn man bedenkt, dass die Akkusativform im Polnischen oft mit der Nominativform übereinstimmt. Beim Gebrauch des Akkusativs statt des Genitivs in negierten Sätzen handelt es sich eindeutig um den Einfluss der deutschen Sprache, denn im Polnischen muss bei der Negierung immer eine Genitivform stehen: M a m ksi^ikç. (Ich habe ein Buch.) N i e m a m ksiqzki. (Ich habe kein Buch.) *Nie m a m ochotç tego sluchaé. (Ich habe keine Lust das zu hören.)
Schließlich will ich noch darauf hinweisen, dass die Verwendung von attributiven Partizipialkonstruktionen in polnischen geschriebenen Texten des 19. Jahrhunderts auf den Einfluss der entsprechenden deutschen Konstruktionen zurückgeht. Im 19. Jahrhundert waren solche Konstruktionen mit dem erweiterten Attribut in polnischen Zeitungen relativ häufig anzutreffen, und auch heute lassen sich solche Konstruktionen in Texten deutsch-sprechender Polen finden. Regional lassen sich noch einige andere Beispiele für den Einfluss des Deutschen im syntaktischen Bereich feststellen. Aber solche syntaktische Konstruktionen werden in der polnischen Standardsprache als abweichend betrachtet, wie z.B. die Bildung von Entscheidungsfragen nach dem deutschen Vorbild. Zum Schluss möchte ich noch einige Sätze zur lexikografischen Erfassung des Lemmas Niemiec (Deutscher) in den heutigen einsprachigen Wörterbüchern sagen. Die lexikografischen Angaben spiegeln zum großen Teil das stereotype Bild der Deutschen in Polen wider. So findet man in einem modernen Wörterbuch die Formulierung: „Geizig, sparsam, fleißig, redlich wie ein Deutscher". 5 Und weiter: „Allgemein hält man die Deutschen für besonders pflichtbewußt und fleißig". Die Lexikografen haben im Wörterbuch bestimmte Stereotypen festgehalten, die auch von empirischen Untersuchungen bestätigt werden. Diesen Untersuchungen entsprechend sind die Deutschen auf der einen (positiven) Seite ,stolz, fleißig, pflichtbewusst, klug, genau und ehrgeizig' und auf der anderen (negativen) Seite ,kalt, nicht offen, überheblich, geizig'. Beim Adjektiv niemiecki (deutsch) bringen die polnischen Lexikografen als usuelle Kollokationen folgende Beispiele: .deutsche Ordnung, deutsche Qualität, deut5
Praktyczny Stownik Wspolczesnej Polszczyzny, hrsg. von Zgótkowa, Haiina, Bd. 23.
Die deutsch-polnische Nachbarschaft
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sches Pflichtbewusstsein'. Viel seltener erscheint das Adjektiv niemiecki in negativen Kollokationen: siedziec jak na niemieckim kazaniu (*sitzen wie auf einer deutschen Predigt; d.h. ohne etwas zu verstehen), jasny jak filozofia niemiecka (*klar wie die deutsche Philosophie; d.h. unverständlich). Schon im 19. Jahrhundert brachten die Lexikografen die andere Bedeutung von niemiecki (deutsch) - unverständlich und umständlich. Insgesamt überwiegt das positive Bild der Deutschen im Bewusstsein der meisten Polen, was auch die Lexikografen im Wörterbuch festhalten.
Literatur Biatoskórska, Miroslawa (1992): Slownictwo prasy polskiej potowy XIX wieku. Zjawiska progresywne i recesywne (Der Wortschatz der polnischen Presse um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Progessive und regressive Erscheinungen). Szczecin. Buttler, Danuta (1984): Die Entwicklung der polnischen Sprache in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Slawistik 29, 864-871. Buttler, Danuta (1986): Deutsche Lehnwörter gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Slawistik 31, 559-564. Engels, Friedrich (1852/1974): Polen, Tschechen und Deutsche. In: Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Bd. 2, Berlin, 231-236. Kaestner, Walter (1939): Die deutschen Lehnwörter im Polnischen, Hamburg. Karszniewicz-Mazur, Alicja (1988): Zapozyczenia leksykalne ze zródla niemieckiego we wspótczesnej polszczyznie (Lexikalische Entlehnungen aus dem Deutschen in der polnischen Gegenwartssprache). Wroclaw. Kurcz, Ida (1994): Zmiennosé i nieuchronnosc streotypów. Studium na temat roli stereotypów w reprezentaeji umystowej swiata spolecznego (Veränderlichkeit und Unvermeidlichkeit von Stereotypen. Eine Studie über die Bedeutung von Stereotypen in der mentalen Repräsentation der sozialen Welt). Warszawa. Mazur, Jan (1993): Geschichte der polnischen Sprache. Frankfurt/M., Berlin, Bern. Namowicz, Tadeusz (2001): Deutsche Literatur in Polen. In: Grucza, Frantiszek (Hg.): Tausend Jahre deutsch-polnische Beziehungen in Sprache, Literatur und Kultur. Materialien zum Millennium-Kongress 5.8. April 2000, Warschau, 170-187. Nipperdey, Thomas (1993 6 ): Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie. München.
348
Józef Wiktorowicz
Nowowiejski, Boguslaw (1992): Nieznane zapozyczenia leksykalne ze zródla niemieckiego w polszczyznie ogólnej 2 poiowy XIX w. (na materiale czasopism) (Unbekannte lexikalische Entlehnungen aus dem Deutschen im Polnischen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts (anhand von Zeitschriften)). In: Studia nad slownictwem XIX wieku 1, 138-151. Nowowiejski, Boguslaw (1996): Zapozyczenia leksykalne ζ jçzyka niemieckiego w polszczyznie XIX wieku (Lexikalische Entlehnungen aus dem Deutschen im Polnischen des 19. Jahrhunderts (anhand von Zeitschriften) Bialystok. Pohl, Alek/Vincenz, André de (Hgg.) (1987): Deutsch-polnische Sprachkontakte: Beiträge zur gleichnamigen Tagung 10.-13. April in Göttingen. Köln, Wien. Polenz, Peter von (1999): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 3:19. und 20. Jahrhundert. Berlin. Przybyszewski, Stanislaw (1994): Studienausgabe. Werke, Aufzeichnungen und ausgewählte Briefe in acht Bänden und einem Kommentarband. Hamburg. Slownik Warszawski (1900-1927): Slownik jçzyka polskiego (Wörterbuch der polnischen Sprache), hrsg. von Karlowicz, J./Krynski, Α. A./ Niedzkwiedzki, W., Bd. I - VIII, Warszawa. Treitschke, Heinrich von (1928): Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Zweiter Teil: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig. Urbanczyk, Stanislaw (1987): Wiek 19. w kontaktach jçzykowych polskoniemieckich (Das 19. Jahrhundert in den polnisch-deutschen Sprachkontakten). In: Pohl/de Vincenz 1987, 245-256. Vincenz, André de (1987): Sprachkontakte und die Konstituierung des polnischen Wortschatzes. In: Pohl/de Vincenz 1987, 257-264. Weiss, Daniel (1987): Funkcjonowanie i pochodzenie polskich konstrukcji typu „mam coá do zalatwienia" i „cos jest do zalatwienia" (Funktion und Herkunft der polnischen Konstruktion vom Typ „Ich habe etwas zum Erledigen" und „Es ist etwas zum Erledigen"). In: Pohl/de Vincenz 1987, 265-286. Witaszek-Samborska, Mafgorzata (1993): Zapozyczenia ζ ró¿nych jçzykôw we wspólczesnej polszczyznie - na podstawie slowników frekwencyjnych (Entlehnungen aus verschiedenen Sprachen im modernen Polnisch anhand von Frequenzwörterbüchern). Poznan. Zgólkowa, Haiina (Hg.) (1998): Praktyczny Slownik Wspólczesnej Polszczyzny (Das praktische Wörterbuch der modernen polnischen Sprache). Bd. 23, Poznan.
WERNER HOLLY
,Tschechen' und ,Deutsche' in den Böhmen-Debatten der Paulskirche Ein frame-analytischer Beitrag zur Geschichte der sprachlichen Konstruktion deutsch-tschechischer Beziehungen
1. Vorbemerkung Die Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen sind bis heute heikel, spätestens seit dem 19. Jahrhundert. Obwohl aus jetziger Sicht die Ereignisse der neueren Geschichte seit 1938 das Bild beherrschen, der Einmarsch der deutschen Truppen, der .Anschluss' des Sudetenlandes und die Errichtung des Protektorats, die Verbrechen der Nazis und - nach dem 2. Weltkrieg - die Vertreibung der Deutschen, reicht doch vieles aktuell Erscheinende weiter zurück. Mit dem sogenannten .Erwachen' von nationalem Bewusstsein in der Zeit der Französischen Revolution und danach wurden auch die Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen neu formiert, und es wurden neue Konfliktlinien sichtbar: Mit der Ideologie des Nationalstaats stellte sich die Frage, wie eine .große' Nation wie die deutsche mit einer kleineren .Nationalität' wie der tschechischen umgehen wollte, die auf dem traditionell von ihr beanspruchten Territorium lebte; und umgekehrt: wie eine ,kleine' Nation wie die tschechische, auf deren traditionell beanspruchtem Boden eine beträchtliche Minorität jener sie umgebenden und einbettenden großen Nation lebte, unter diesen Umständen eine .nationale' Eigenständigkeit erlangen und sichern konnte. Hinzu kam das Problem, dass mit dem Habsburgerreich, zu dem die .Länder der böhmischen Krone' - zugleich als ein Teil des Deutschen Bundes gehörten, eine staatliche Einheit entstanden war, deren Vielvölker-Struktur kaum, jedenfalls nicht ohne weiteres, in einen deutschen Nationalstaat zu integrieren war, zumal die Deutschen in diesem Reich zwar die dominierende Kraft, aber eben auch eine Minderheit darstellten. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass beim ersten ernst zu nehmenden Versuch der Bildung eines deutschen Nationalstaats, in der Frankfurter Paulskirche, ,die böhmische Frage' eine Rolle spielte; es ist allerdings erstaunlich, dass dies keine besonders große Rolle war. Dies lässt sich nur daraus erklären, dass der revolutionäre Schwung in den Jahren 1848/49 nicht einmal für eine kleindeutsche Lösung ausreichte, geschweige denn fìir den ,großen' National-
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Staat, der auch den neu formierten deutsch-tschechischen Konflikt hätte lösen müssen, was nun in die alleinige Zuständigkeit der Habsburger Monarchie zurückfiel. Und doch zeigen die wenigen Debatten der Paulskirche (Ende Mai bis Anfang Juli 1848), die sich mit der Thematik beschäftigten, bis heute relevante Züge deutsch-tschechischer Beziehungen, die auch bei deren ganz neuer Formierung im Rahmen europäischer Strukturen noch im Hintergrund wirken können. In diesem Beitrag will ich untersuchen, wie die Abgeordneten der Paulskirche das böhmische Problem angegangen sind, allerdings nicht von einem originär geschichtswissenschaftlichen Standpunkt aus,1 sondern indem ich als Sprachwissenschaftler der Frage folge, wie sie den Konflikt zwischen Tschechen und Deutschen .sprachlich konstruiert' haben. Ich gehe also davon aus, dass in die sprachlichen Formulierungen der Debatten mentale Modellierungen der Thematik eingegangen sind, die sich umgekehrt wieder aus ihnen herauslesen lassen. Man hat in der lexikalischen Semantik solche mentalen Modelle oder mentalen Repräsentationen unter verschiedenen Termini und mit einigen Varianten aufgegriffen und diskutiert, die aus Zusammenhängen der Philosophie, Psychologie oder Kognitionsforschung kamen (z.B. Stereotyp, Schema, Frame). Sie lassen sich aber auch in einem diskursanalytischen Rahmen heranziehen und als Werkzeuge historisch-semantischer Textanalyse (dazu Holly 2001) verstehen und nutzen. Mit ihrer Hilfe kann man versuchen, sowohl verschiedene Teilaspekte eines semantischen Zusammenhangs auszudifferenzieren (in unserem Fall z.B. die komplexe Struktur von .Deutschland', das ,Österreich' und damit auch .Böhmen' einzuschließen beansprucht), als auch Ausdrucksvielfalt als politisch-semantische Differenzierung eines Zusammenhangs zu deuten (in unserem Fall das Nebeneinander der Ausdrücke Böhmen, Slawen und Czechen, mit denen verschiedene Aspekte der .anderen Seite' konstruiert werden).
2. Die historische Situation vor den Böhmen-Debatten Schon im Vorfeld der Frankfurter Nationalversammlung gab es Anzeichen dafür, dass die zunächst als so selbstverständlich geltende Zugehörigkeit Böhmens zum künftigen Nationalstaat problematisch werden könnte. 2 Der sogenannte Fünfziger-Ausschuss, hervorgegangen aus dem Frankfurter .Vorparlament', hatte Anfang April 1848 beschlossen, mit weiteren österreichischen Parlamentariern fur eine angemessene Vertretung des Habsburger1 2
Vgl. hierzu: Prinz 1963; Wollstein 1977, 2 0 2 - 2 2 2 ; Burian 1992; Kren 1996, 71-108. D i e Schilderung der Ereignisse in Frankfurt, Prag und Wien in dieser Periode kann hier nur sehr kurz sein. Zu ausführlicheren Darstellungen s. vor allem Burian 1962; Prinz 1963 und 1968; Pech 1969; Wollstein 1977, 189-222, Prinz 1988, 35-83; Hoensch 1992, 3 3 8 - 3 4 4 ; Koralka 1993; Urban 1994; Melville 1998.
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reiches in diesem Gremium zu sorgen, und hatte am 6. April in diesem Zusammenhang auch den als liberal-konstitutionell geltenden tschechischen Historiker FrantiSek Palacky aus Prag eingeladen. Sein berühmt gewordener Absagebrief vom 11. April, der den Parlamentariern am 17. April bekannt wurde, 3 wurde erst später als programmatisch und repräsentativ für die tschechische Nationalbewegung angesehen. Nach Pressemeldungen, die darauf deuteten, dass die Wahlen in Böhmen, vorgesehen fur den 28. April, nicht oder nur partiell stattfinden würden, zeigte sich das Vorparlament alarmiert und schickte eine Delegation nach Prag, die dort am 28. April eintraf. In Prag hatte die Revolution schon am 11. März mit einer Volksversammlung in der Wenzelsbad-Gaststätte eingesetzt, die - nach Einsetzung eines Ausschusses und unter dem zunehmenden Einfluss gemäßigter Politiker schließlich zu einer Petition an den Kaiser mit der Forderung nach Gleichstellung von tschechischer und deutscher Nationalität führte. Die Delegation, die sie am 19. März übergab, erhielt am 23. März mit kaiserlichem Handschreiben allerdings nur unverbindliche Zusagen, ansonsten aber den Verweis auf eine zukünftige Verfassung. In dieser Phase war zwischen Deutschen und Tschechen in Prag noch eine Völkerfrühlings-Stimmung vorherrschend, die am 23. März in einer gemeinsamen Erklärung tschechischer und deutscher Schriftsteller und Publizisten im Tone gefühlsbetonter Verbrüderung gipfelte. Sehr rasch setzte sich aber dann wechselseitiges Misstrauen und Konfrontation mit der Furcht vor Unterdrückung durch die jeweils andere Gruppe durch und damit eine Trennungsideologie: Die Studentenschaft und die Künstlervereinigung zerfielen in zwei Lager; der Nationalgarde unter deutschem Kommando wurde die St. Wenzelsbrüderschaft entgegengestellt. Die nationalen Auseinandersetzungen spitzten sich zu, nachdem am 27. März, nach der Rückkehr der Abordnung, die Reaktion des Kaisers bei der Bevölkerung Enttäuschung ausgelöst und zur Formulierung einer neuen, schärferen Petition gefuhrt hatte. Inzwischen versuchte der österreichische Gubernialpräsident in Prag, Graf Stadion, den am 29. März neugewählten Stadtrat zur Autorität zu machen, was zu einem Konflikt zwischen Ausschussmitgliedern führte. Am 31. März brachte eine große Volksversammlung den Ausschuss und schließlich auch Graf Stadion dazu, einer neuerlichen Deputation nach Wien zuzustimmen, die am 2. April dort eintraf. Sie erreichte schließlich am 8. April beim Innenminister Franz von Pillersdorf, dass in einem Kabinettsschreiben (manchmal als .böhmische Charte' bezeichnet) einige Zugeständnisse gemacht wurden: die Gleichstellung der Sprachen, die Zusage von böhmischen Zentralbehörden und die Aussicht auf den Ausbau der ständischen Vertretung (Landtag), allerdings nicht die geforderte Vereinigung der Länder der Wenzelskrone.
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Text in Palacky 1874, 148-155.
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In Wien hatte sich inzwischen unter der Führung von Ludwig von Löhner der „Verein der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien zur Aufrechterhaltung ihrer Nationalität" gegründet, der am 9. April auch eine Denkschrift an Pillersdorf übergab und damit eine deutsche Gegenposition formulierte. Im Prager Gremienkonflikt mit Graf Stadion einigte man sich schließlich am 13. April auf die Bildung eines fusionierten ,Nationalausschusses', der sich mit einer ,SvornoSt l genannten tschechischen Nationalgarde auch ein militärisches Organ schuf. Einen Rückschlag erlitten die Bemühungen um einen gemeinsamen Landtag und ein gemeinsames Grundgesetz für alle böhmischen Länder, als sich am 14. April die mährischen Stände und später auch die Vertreter von Österreichisch-Schlesien gegen die Vereinigungspläne aussprachen. Mit dem Votum des Nationalausschusses vom 18. April gegen die Abhaltung von Wahlen für die Paulskirche - nach Palackys Absage-Brief vom 11. April - war auch der Konflikt mit den Prager deutschen Vertretern eskaliert, die am 19. April austraten und sich als eigenständiger „Constitutioneller Verein" formierten. Nach der Denkschrift des Nationalausschusses an den Kaiser vom 24. April, in dem die Ablehnung der inzwischen ausgeschriebenen Wahlen ausführlich begründet wurde, kam es zum endgültigen Bruch der Deutschen mit dem Ausschuss und am 25. April zu einer eigenen Eingabe an den Kaiser, die für die Tschechen „freieste Entwicklung", aber die Einheit von Böhmen und ganz Österreich mit Deutschland vorsah. In diesem Konflikt plädierte der designierte neue Gubernialpräsident Leo Graf von Thun für eine neutrale Haltung Wiens: Man beließ es bei der Ausschreibung, aber bestand auch nicht auf der Durchführung der Wahlen. Am 28. April sprach sich auch die Mehrheit des mährischen Landtages gegen die Wahlen aus. In dieser brisanten Situation standen die Verhandlungen der Frankfurter Delegierten (Wächter, Kuranda und Schilling) in Prag am 29. April unter keinem guten Vorzeichen; es wäre beinahe zu Handgreiflichkeiten zwischen Schilling und Palacky gekommen. Nach dem Scheitern dieser Gespräche spitzte sich die Stimmung weiter zu. So gab es ein populäres Couplet des Schriftstellers Havlicek mit einer vulgären und demagogischen Version des Palacky-Briefes, und die nun kooperierenden Wiener und Prager DeutschenVereine propagierten in manchen Äußerungen die Teilung des Landes nach Sprachgrenzen. Als die Wahlen dann schließlich vereinzelt in den ersten Maitagen, mehrheitlich aber am 13., 20. und 23. Mai stattfanden, wurde nur in 13 von 68 böhmischen Wahlkreisen korrekt, in weiteren sieben Wahlkreisen nur durch eine Minderheit gewählt; auch in Mähren fanden - am 24. und 25. Mai reguläre Wahlen nur in den Städten statt. Viel mehr waren die Tschechen an der verschobenen Wahl zum böhmischen Landtag interessiert, an der neuen österreichische Verfassung vom 25. April und an dem kaiserlichen Patent vom 8. Mai, das die Wahlordnung für den österreichischen Reichstag enthielt.
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3. Die Debatten im Überblick Bevor ich mich im Einzelnen mit dem .Frame' der deutsch-tschechischen Beziehungen in den Böhmen-Debatten der Paulskirche beschäftige, gebe ich noch einen kurzen Überblick über die sechs verschiedenen Situationen von Mai bis Juli 1848, in denen Böhmen dort zum Thema wurde. Dabei ging es zunächst um eine Garantie von nationalen Minderheitenrechten, von der man sich eine werbende Wirkung auch bei den Tschechen versprach, dann um die Durchsetzung der Wahlen und schließlich um die Sicherheit der Deutschen in Böhmen: (1) Am 27. Mai, neun Tage nach der konstitutierenden Sitzung der Paulskirche vom 18. Mai, wurde ein Antrag des Abgeordneten Mareck zum ersten Anlass für die Erörterung der böhmischen Frage. Er schlug eine Erklärung vor, welche die Rechte von Nationalitäten und die Anerkennung ihrer Sprache als Unterrichts-, Verwaltungs- und Gerichtssprache garantierte. Mit Zustimmung des Antragstellers wurde die Sache in den Verfassungsausschuss überwiesen. (Wigard I, 118-121) (2) Am 31. Mai wurde dann über eine feierliche Ausschuss-Erklärung, welcher der Mareck'sche Antrag zugrunde lag, abgestimmt; sie ist in ihrem Kern mit dem späteren § 188 der Paulskirchen-Verfassung identisch. (Wigard I, 183184) (3) Am 5. Juni wurde ein Antrag des Abgeordneten Höfken diskutiert, der wegen der mangelhaften Durchführung der Wahlen in Böhmen die Einrichtung eines Ausschusses zur Untersuchung dieser Sache verlangte; außerdem sollte der Ausschuss Maßregeln zu ihrer Durchsetzung verlangen. Die Sache wurde zur Begutachtung aber lediglich in den schon bestehenden Legitimationsausschuss verwiesen; auch der Auftrag zur Unterbreitung von Vorschlägen unterblieb. (Wigard I, 212-217) (4) Am 7. Juni, also nur zwei Tage später, beantragte der Abgeordnete Ostendorf einen besonderen Ausschuss in derselben Angelegenheit, allerdings mit einem erweiterten Auftrag. In der Zwischenzeit war die Erklärung eines Vorbereitungskomitees des umstrittenen Prager Slawenkongresses bekannt geworden, in der wiederum gegen die Beschickung des Frankfurter Parlaments votiert wurde; dies bewirkte einen Meinungsumschwung: Es wurde die Bildung eines gesonderten Ausschusses „für die Begutachtung der österreichisch-slawischen Frage", kurz „Slawenausschuss", beschlossen, der auch die Durchführung der Wahlen untersuchen sollte. (Wigard I, 237-243) (5) Am 20. Juni wurde ein Antrag der Abgeordneten Berger und Schilling diskutiert, der das Einschreiten deutscher Bundes-Truppen aus Sachsen und Bayern in Böhmen verlangte. Vorausgegangen waren Berichte vom sog. .Prager Pfingstaufstand': am 12. Juni und danach war es zu Straßenkämpfen gekommen, durch die sich auch die Deutschen in Prag bedroht fühlten. Der österreichische Bundestagsgesandte und Vorsitzende des Bundestags Anton Ritter von Schmerling nahm dem Antrag den Wind aus den Segeln, indem
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er am frühen Morgen einen Bundestagsbeschluss erwirkte, der Preußen, Bayern und Sachsen anwies, „beträchtliche Truppenteile bereitzuhalten", für den Fall, dass die österreichische Regierung sie anfordern sollte. So wurden die souveränen Rechte Österreichs gewahrt und ein Eingreifen der Paulskirche verhindert. Der Antrag wurde an den schon bestehenden Slawenausschuss verwiesen. (Wigard I, 418-422) (6) Am 1. Juli wurden schließlich zwei Berichte des Slawenausschusses diskutiert, zur Durchführung der Wahlen und zum militärischen Eingreifen in Böhmen. Ein mögliches Eingreifen deutscher Bundes-Truppen hatte sich inzwischen durch die Niederschlagung des Aufstands und den vollständigen Sieg der österreichischen Truppen des Fürsten von Windischgrätz ohnehin erübrigt; insofern enthielt der Ausschussbericht lediglich die Bekräftigung des vom Bundestag schon vorgesehenen Unterstützungsangebots. In der Wahlfrage wurde eine laue Aufforderung an die österreichische Regierung verabschiedet, die rückständigen Wahlen „unverzüglich und förmlich anzuordnen". (Wigard I; 660-677)
4. .Tschechen' und ,Deutsche' in den Debatten Wie lässt sich nun der ,Frame' oder besser: wie lassen sich ,Frame'-Elemente der deutsch-tschechischen Beziehungen in diesen Debatten beschreiben? Was sind hier mögliche , Frame'-Konstituenten? Versucht man die Grundstruktur des Frames zunächst mithilfe lexikalischen Wissens zu ermitteln, 4 so kann man feststellen: Sie erscheint für einen solchen Beziehungs-,Frame' denkbar einfach, handelt es sich doch erst einmal um eine Relation zwischen zwei ethnischen Gruppen oder deren Staaten, also um insgesamt drei Konstituenten; dies sind - prädikatenlogisch gesprochen - die beiden Referenzobjekte (.Deutsche', .Tschechen'), die als Besetzung der Argumentstellen der zweistelligen Relation (.Beziehungen') fungieren, und diese Relation selbst. Dabei ist immer zu berücksichtigen, dass - sprachpragmatisch gesehen - diese Relation hier nur von einer Seite her perspektiviert ist: Die .Tschechen' sind in den Paulskirchendebatten natürlich .die anderen', die .Deutschen' sind auf der .eigenen Seite'. Schaut man sich nun in den Texten an, wie diese Konstituenten versprachlicht werden, wird die Sache schon etwas komplizierter, damit aber auch interessanter. 5 Ich will deshalb versuchen, anhand der Texte den .Frame' differenzierter und reichhaltiger zu entwickeln, um mehr Aufschluss über die semantischen Strukturen des .Frames' zu bekommen; dabei will ich vor allem die Texte selbst sprechen lassen. Es geht mir aber überhaupt nicht um den 4
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Zum hier verwendeten Frame-Begriff s. Holly 2001 ; Klein 1999; Fraas 1996; grundlegend zum Zusammenhang mit lexikalischem Bedeutungswissen Konerding 1993. Die Gewinnung von Frames scheint deshalb eher in einem hermeneutischen Zirkel möglich, so auch Heringer 1999, 128.
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genauen Verlauf in der Darlegung verschiedener Positionen, welche die einzelnen Abgeordneten verschiedener politischer Couleur einnehmen, 6 sondern um ein Gesamtbild von überindividuellen semantischen Strukturen. Dabei gehe ich hier nur von den beiden Argumentstellen aus und beschreibe die jeweiligen Relationen dabei nicht gesondert, sondern beziehe sie jeweils ein. Ich werde mit der .tschechischen' Seite beginnen, die mit der ausdrucksseitigen Differenzierung in Böhmen, Slawen und Czechen eine interessante politischsemantische Abstufung von unterschiedlichen Teilframes aufweist. Auf der .deutschen' Seite ist zu beobachten, dass mit der Böhmen-Frage die extensionale Bedeutung von deutsch und Deutschland problematisch wird: In welcher Beziehung stehen die Bedeutungen von deutsch/Deutschland und Österreich und wo sind die Deutsch-Böhmen hier zu lokalisieren? 4.1. .Tschechen' Es fällt auf, dass die .andere' Seite dieses Beziehungsframes, für die wir hier ausgehend vom jetzigen Sprachgebrauch .Tschechen' gesetzt haben, in den Debattentexten sehr uneinheitlich und - wie nicht anders zu erwarten - mit bedeutsamen Tendenzen versprachlicht wird. In den ersten vier Situationen, in denen es um die Rechte nationaler Minderheiten auf deutschem Boden und dann um das Problem der unvollständigen Wahlen in Böhmen geht, tauchen die Ausdrücke Czeche/n und czechisch fast gar nicht auf. Im ersten Zusammenhang, der ja auch allgemeinerer Natur ist, wird nahezu durchweg von Slawe/n und der slawischen Nationalität gesprochen. Der Antragsteller Mareck, ein Advokat aus Graz, hat bei seinem Plädoyer für die Garantie von Minderheitenrechten vor allem die Slowenen in der Steiermark im Sinn, die ebenso wie andere Slawen in Österreich gegen panslawische/panslawistische Führer, Wühler und auch gegen die ebenso agitierende Geistlichkeit für Deutschland gewonnen werden sollen, und damit auch gegen ein slawisches Österreich oder gegen ein südpanslawisches Reich (1/118f). 7 Ähnlich mag bei den Abgeordneten Neuwall und Giskra aus Mähren die Referenz auf Slawen, slawische Bevölkerung, slawische Wahlmänner und slawische Bewohner zunächst noch so zu erklären sein, dass sie sich auf die slawischen Theile Mährens beziehen (1/119f.), wo - in genauerem Sprachgebrauch - auch keine .Tschechen' zu Hause sind. Giskra gibt mit einer Äußerung zu den Verhältnissen in drei mährischen Wahlbezirken aber schon einen Hinweis auf eine Differenzierung von slawisch und czechisch, die noch bedeutsam werden wird: „Die slawischen Bewohner [...] wiesen entschieden die czechischen Wühlereien zurück." (1/120) 6
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Dazu vor allem Wollstein 1977, 202-222, der allerdings darauf verweist, dass der parteipolitische Aspekt bei diesem Gegenstand nicht im Vordergrund stand (ebd., 222), und Prinz 1963. Die Ziffern verweisen vor dem Schrägstrich auf die jeweilige Nummer der sechs kurz charakterisierten Debatten, danach auf die Seitenzahl bei Wigard 1848. - Immerhin bezieht Mareck auch die Czechen in diese Überlegungen ein und liefert so einen Beleg für einen zunächst ungewöhnlich erscheinenden Gebrauch, auf den ich zurückkommen werde.
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4.1.1. Böhmen·, harmlose .Tschechen' und andere Im zweiten Zusammenhang, der Frage der .Wahlen in Böhmen', thematisiert durch den Antrag des Abgeordneten Höfken, dominiert - vielleicht ausgelöst durch die lokalisierende Formulierung des Themas - zunächst eine andere Weise des Referierens: In der Debatte vom 5. Juni ist überwiegend von den Böhmen, dem böhmischen Volk, der böhmischen Bevölkerung die Rede (3/213216). Diese Redeweise enthält allerdings zwei Probleme: zum einen ist der Ausdruck Böhmen primär ein geografisch-räumlicher und/oder ein territorialpolitischer, so dass die Gruppenbezeichnung die Böhmen und das Relationsadjektiv böhmisch keine klare ethnische Differenzierung erlauben, denn beide Ausdrücke können auch mit Bezug auf deutsche Bewohner verwendet werden, wenn entweder ethnisch übergreifend oder vordergründig nur im Hinblick auf lokale Herkunft referiert wird. So kann der Abgeordnete Kuranda eigentlich nur Deutsche meinen, wenn er sagt: „Wir Böhmen hingegen treten jetzt erst im Momente der Krisis vor Sie [...]" (6/664); nicht-deutsche Abgeordnete aus Böhmen gab es nicht. Und in der Einleitung zum Antrag von Ostendorf heißt es: „Aus diesen Gründen wolle die hohe Reichsversammlung, den glühenden Hoffnungen der besten böhmischen Patrioten entsprechend, folgenden Antrag genehmigen [...]." (3/213)
Auch hier sind vermutlich eher deutsche als tschechische, im besten Fall ,gesamt-böhmische' Patrioten gemeint. 8 Meist wird böhmisch und die Böhmen aber im Sinn von .tschechisch' und ,die Tschechen' gebraucht, d.h. im Kontrast zu .deutsch' und .die Deutschen', so etwa wenn es heißt: „[...] es sind dort, wo böhmisch gesprochen wird, böhmische Schulen und werden böhmische Predigten gehalten, und deutsche Schulen und deutsche Predigten, wo deutsch gesprochen wird" (Neuwall, 1/119f.); „Es liegt zu Tage, daß es auf ein allgemeines Gemetzel der Böhmen gegen die Deutschen abgesehen ist" (Berger, 5/418); „Die Czechen sagen, der Boden sei böhmisch, die Deutschen, der Boden sei deutsch." (Kuranda, 6/664)
Die letzte Äußerung zeigt, dass hier der Sprachgebrauch inkonsequent ist, sollen es doch nicht die Böhmen, sondern die Czechen sein, die den Boden als 8
Wollstein 1977, 190; Anm. 4 weist auf den häufigen Gebrauch von böhmisch im Sinn von .tschechisch' hin und übersetzt ihn deshalb in .tschechisch' oder ,deutsch(gesamt-)böhmisch'; auf die spezielle Verwendung von czechisch (s.u. 4.1.3.) geht er allerdings nicht ein. Auch Schamschula 2000, 272f. verweist darauf, dass beide Ausdrücke zunächst wechselweise gebraucht wurden, später aber in der Weise ausdifferenziert, dass der eine geografisch bezogen wurde, der andere ftlr „alles auf die tschechischsprachige Kultur und Gesellschaft Bezogene" (ebd.) verwendet wurde. Gegen diese Differenzierung wollten die tschechischen Wortführer erreichen, dass böhmisch analog zu cesky in beiderlei Sinn gebraucht würde.
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böhmisch fur sich reklamieren. Zur eindeutigen ethnischen Differenzierung finden sich dann auch die Ausdrücke Deutsch-Böhmen (als Selbstbezeichnung bei Kuranda, 6/665), Deutschböhmen (Neugebauer, 6/669) und deutsche Böhmen (Arndt, 6/674); ganz überwiegend ist aber später von den Deutschen in Böhmen die Rede, gelegentlich auch von den deutschen Bewohnern Böhmens. Als Gegenbegriffe fanden sich dann die Ausdrücke Nationalböhmen, Stockböhmen, gebohrne Böhmen oder eben ächte Czechen (Schamschula 2000, 272). Dass der Gebrauch von böhmisch auch im Bewusstsein der damaligen Sprachteilhaber nicht ganz unproblematisch war, zeigen sprachreflexive Anmerkungen wie etwa der Einschub in der folgenden Äußerung von Neugebauer: „Es mögen etwa 2 0 bis 3 0 Jahre sein, als sich in Prag eine slavische Fraction zusammenfand, welche sich den Zweck setzte, die böhmische Sprache mit Wort und Schrift zu verbreiten. Gesellschaften und Vereine wurden gebildet, in welchen untersagt war, deutsch zu reden, und worin nur die böhmische Sprache (ich gebrauche den Ausdruck „böhmisch" zum Unterschied von der deutschen Sprache), gebraucht werden durfte." (6/669)
Hier geht es vielleicht nur um eindeutiges Verständnis, denn von der .slawischen Sprache' zu reden, wäre nicht angemessen, da es eine solche Einzelsprache nicht gibt; der Ausdruck czechisch scheint filr die Sprache noch nicht nahe zu liegen. Andere sprachreflexive Passagen zeigen dagegen deutlicher eine politische Brisanz des Wortgebrauchs auf. Diese hängt im Verlauf der Paulskirchendebatten zunächst an der zweiten Problematik des Ausdrucks böhmisch. Nachdem es durch die ganze Debatte (um die Wahlfrage) unproblematisch erscheint, dass schon im Antrag und auch später von „den Angelegenheiten der böhmischen Wahlen" gesprochen wird, korrigiert ein namentlich nicht genannter Abgeordneter den Präsidenten bei der Formulierung der Abstimmungsfrage, es sei dies eine Sache „nicht nur der böhmischen, sondern auch der mährisch-slavischen Angelegenheiten" (3/216). 9 Hier kommt ins Spiel, dass zu den sogenannten .Ländern der Wenzelskrone' auch Mähren und Österreichisch-Schlesien gehörten, auf die - besonders aus der Sicht der Betroffenen - mit böhmisch unzureichend referiert wird, auch wenn sonst häufig verkürzend von den böhmischen Ländern die Rede ist. Auf den ,böhmisch-mährischen' Gegensatz wird dann auch von verschiedenen Sprechern hingewiesen, natürlich vor allem von mährischen Abgeordneten selbst und mit der politischen Tendenz, Verbündete gegen die Czechen und Ultraczechen auszumachen, neue kontrastierende Bezeichnungen, die nun zur Verschärfung ins Spiel kommen (s.u.):
Diese sprachreflexive Passage zeigt sehr schön die Bedeutung des parlamentarischen Abstimmungsverfahrens im Entstehungsprozess von Sprachbewusstheit. Da man sah, wie wichtig die Formulierung der Abstimmungsfrage für das Abstimmungsverhalten war, wurde man fìlr präzisierenden Sprachgebrauch sensibilisiert. Zu parlamentarischen Sprachhandlungsmustern in der Paulskirche Holly 1982; zur Sprachgeschichte von parlamentarischen Geschäftsordnungen im 19. Jahrhundert Holly 1996; 1998; 2000.
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Werner Holly „Mähren ist ganz gegen Böhmen, es hat sich dieses in der letzten Zeit gezeigt. [...] das Volk hat sich durchaus gegen die Czechen ausgesprochen. Es herrscht eine nationale Antipathie zwischen den Böhmen und Mähren. Es gibt in Mähren Bezirke, obwohl von Slawen bewohnt, wo der czechische Name mit einem Fluchnamen belegt ist. Sie mögen sie nicht, sie sind durch deutsche Gebiete getrennt, noch mehr aber durch ihren Haß." (Beidtel, 5/420) „Diesen Charakterzug der Unterdrückung, der wilden Eroberungssucht haben die Ultraczechen gleich in den ersten Tagen unserer Revolution dadurch kund gegeben, daß sie sogleich auf der Einverleibung der Provinzen Mähren und Schlesien in die Krone Böhmens bestanden. Vergebens antwortete der Kaiser auf ihre erste Deputation in diesem Punkte mit milden, ablehnenden Worten. Sie bedrängten ihn mit einer zweiten, und bestanden, trotzdem die Mähren und Schlesier sich entschieden gegen diese czechische Anmaßung aussprachen, auf der Erfüllung dieses Eroberungswunsches, - den sie auf alte Pergamente stützten." (Kuranda, 6/665)
Vor diesem Hintergrund soll nun der Ausdruck böhmische Wahlen ersetzt werden durch Wahlen der österreichisch-slavischen Provinzen bzw. - nach einem präzisierenden Zusatz des Abgeordneten Jucho - „Wahlangelegenheiten in den österreichisch-slavischen, zum deutschen Bunde gehörigen Provinzen," was der Antragsteller billigt (3/216). Gegen diese Formulierung macht nun der Abgeordnete Ostendorf einen politisch motivierten Einwand: „Ich ergreife das Wort, um gegen einen Ausdruck im Antrage zu protestieren. [...] Die Nationalversammlung darf die [...] Länder unmöglich österreichisch-slavisch nennen. Böhmen ist eine Landschaft, theilweise oder vielleicht vorzugsweise von Slaven bewohnt; aber die Deutschen in Böhmen sind doch wahrlich nicht, wie einzelne Panslawisten behaupten, bloße Eindringlinge, sie sind vielmehr ebenso gut Urbewohner und berechtigte Bürger jenes Landes als die Slaven. Ein gleiches Verhältnis besteht in Mähren und Schlesien. Ich trage daher darauf an, jenen Ausdruck dahin zu verändern, daß gesagt wird: Es soll ein Ausschuß gewählt werden, um die Angelegenheiten der zum deutschen Bunde gehörigen, von Deutschen und Slaven gemischt bewohnten Länder seiner Begutachtung zu unterziehen." (3/217) Wie ist diese Korrektur zu verstehen? Der Ausdruck österreichisch kann sich im Verständnis der Zeit offensichtlich nur auf die territorial-politische Zugehörigkeit beziehen. Ethnisch-nationale Ansprüche fur einen deutschen Einheitsstaat lassen sich damit nicht markieren. Auch zwei Tage später, als unter dem Eindruck der Erklärung des Slawenkongress-Vorbereitungskomitees die Aufgabe einem gesonderten Ausschuss übertragen wird, wiederum auf Antrag von Ostendorf, wird kaum noch von Böhmen und der böhmischen Frage gesprochen, 1 0 dafür um so mehr von den „slawisch-deutschen Ländern", „dem slawisch-deutschen Gebiet" und abwechselnd von der „slawisch-deutschen"
Ausnahmen bilden nur wenige: Venedey, der von der böhmischen Frage, der böhmischen Nation und sogar von einer böhmischen Commission spricht (4/238), und Giskra, der allerdings auch die Böhmen im engeren Sinne meint.
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oder „deutsch-slawischen Frage" (4/237-242), ein frühes Beispiel dafür, wie stark Forderungen nach politisch korrektem' Sprachgebrauch momentan wirken können. Am Schluss der Debatte genügen aber Einwürfe von einigen Abgeordneten, um den Präsidenten wieder in die Nähe der früheren Formulierung zurückzubringen, deren neue Fassung nun lautet: „österreichischslawische Frage, insoweit es sich um deutsche Bundesländer handelt." Gegen die ideologische Begründung sprach vermutlich das Bedürfnis nach referenzieller Präzision, die den territorialen Bezug gegenüber der ethnischen Zugehörigkeit als wichtiger erscheinen ließ; mit deutsch-slawisch wären Provinzen in Preußen nicht ausgeschlossen gewesen. Als im Schlussbericht der Kommission dann doch wieder von „deutsch-slawischen Reichslanden des österreichischen Staates" die Rede ist, wird die Auseinandersetzung noch zugespitzt: Der Abgeordnete Wiesner protestiert heftig dagegen: „Ich kenne kein slavisches Reichsland auf deutschem Boden, wie es hier im Bericht heißt. Es ist somit im Bericht ein Begriff festgestellt, der Deutschland ungemein gefährlich werden kann. [...] Dieser Boden ist nach dem Zeugniß der Geschichte deutsch." (6/668)
Man beantragt schließlich, nur von deutschen Reichslanden zu sprechen, was aber in der Kombination mit einem anderen Antrag, der eine Passage hinzuzufügen will, sehr kompliziert erscheint und deshalb in der Abstimmung verworfen wird. 4.1.2. Slawen in zwei prototypischen Varianten: .friedfertige' und .gefährliche' Im Zusammenhang mit dem Slawenkongress wird endgültig deutlich, dass Slawen und slawisch in zweierlei Weise prototypisch gebraucht wird. Auf der einen Seite steht die Masse der Slawen, der größere Theil [...] unserer slawischen Brüder, eine größtentheils slawische Bevölkerung, slawische Bauern, slavische Landleute, die slavische ländliche Bevölkerung, die Landbevölkerung Böhmens, slawische Bewohner, slavisch Redende - für diesen Prototyp der ,Slawen' gilt, was ein Abgeordneter so formuliert: „der größte Theil der böhmischen Slaven ist edel und gut" (Neugebauer, 6/669). Dieses friedliche Bild einer bäuerlichen Bevölkerung erinnert an Herders berühmtes ,Slawen-Kapitel'. 11 Es scheint - nach den Äußerungen einiger Abgeordneter besonders zutreffend für die slawischen Theile Mährens, wo „das Vertrauen auf Deutschland gekräftig werden kann, wenn die Slawen zur Überzeugung kommen, daß die erwähnten Wühlereien auf hohlem Boden sind [...]." (Giskra, 1/120)
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Dazu Püschel 1996, Wirrer 1996, Baumann 1996.
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Das prototypische Gegenbild wird vor allem im Kontext des Slawencongresses, des slawischen Vorparlaments, entworfen: Es betrifft die slawischen Führer, welche slawische Interessen vertreten, die slawische Bewegung oder Slawenbewegung, den slawischen Fanatismus, das Slawenthum, den Slawismus, wenn nicht sogar slavische Tyranneigelüste, durch die jetzt schon slawische Übergriffe zu beklagen sind; diese - in den Augen der Warnenden - gefährlichen ideologischen Bestrebungen wollen das „slawische Princip" durchsetzen, sie zielen entweder auf ein Slavenreich, ein siidpanslawisches Reich oder doch zumindest darauf, „daß Österreich seiner Zeit ein vorzugsweise slavischer Staat werden könnte, ein slavisches Österreich". Dieses als bedrohlich empfundene Bild der Slawen hat zwei Ausprägungen: zum einen die schon erwähnten panslawistischen Führer, die panslawistischen Wühler, die panslawistische Geistlichkeit, den Panslawismus, die Panslavisten, die panslawistische Bewegung, die panslavistische Partei oder Gegenpartei', diese sind die Protagonisten von panslavistischen Einflüsterungen, panslavistischen Umtrieben mit dem Ziel eines panslavistischen Reiches, eines panslavistischen Ungeheuers. Entschärft wird die .Bedrohung durch die Panslawisten' allenfalls insofern, als man ihnen mangelndes Verständnis untereinander, wenn nicht Uneinigkeit unterstellen kann. In diesem Sinn äußern sich die Abgeordneten Beidtel und Kuranda - nicht ohne Spott - über den Slawenkongress: „Ich wollte, das slawische Vorparlament wäre länger in Prag geblieben, es wäre nicht weiter gekommen. Sie haben sich lächerlich gemacht. Der Pole hat den Illyrier nicht verstanden, der Dalmatier den Czechen nicht. Wäre das Parlament zusammengeblieben, so hätte man doch gesehen, daß es mit der slawischen Nationalität nichts ist, sondern daß alle im Vorparlament nur germanisirte Leute waren." (5/420) „Obendrein sind diese Herren gleich nach den ersten Tagen des Congresses in mannigfachen Zwiespalt gerathen. [...] So verfolgte jeder Stamm seine besonderen Interessen und Ideen. Wenn es auch nicht wahr sein mag, daß die Verhandlungen in diesem Congresse theilweise deutsch gefuhrt wurden, so ist es doch nicht minder wahr, daß die einzelnen Sectionen durch Dolmetscher miteinander verkehren mußten, und nur auf diese Weise sich verständigen konnten. Mißverständnisse und Zwiespalt aller Art drohten bereits auf eclatante Weise auszubrechen." (6/665)
Die anfängliche Solidarität für die nationalen Bestrebungen, die zu der hochgestimmten Erklärung Ende Mai geführt hatte, findet sich noch im Vorfeld des Kongresses bei dem Abgeordneten Ruge, der sich als Mitanreger der Bewegung versteht, auf die europäische Dimension der Revolution verweist und auf den gemeinsamen Wert der Freiheit·. „Wenn wir gegen die Slawen kämpfen, dann wird es heißen, die Nationalversammlung wolle die Freiheit stürzen, und, meine Herren, wir sind in der Paulskirche versammelt, um die Freiheit zu gründen, nicht um sie zu stürzen." (4/240)
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Am Ende überwiegt - nach dem Pfingstaufstand"- bei den meisten der Eindruck, es handle sich in Prag nicht um einen Kampf der Slawen fur die Revolution und gegen die Reaktion, sondern um einen ethnisch geleiteten K a m p f gegen die Deutschen, in dessen Bewertung Konservative wie der Abgeordnete von Radowitz und gemäßigte Linke wie Giskra so gut wie übereinstimmen und für den sie beide das czechische Element, czechische Gesinnung verantwortlich machen: „Unsere,
ich sage, einseitige und ausschließliche Auffassung des Nationalitäts-
Princips hat das czechische Element, das dort seit mehreren Jahren sein Haupt weit emporgehoben, ermuthigt, kühn gemacht, und zu den Dingen geführt, die wir gesehen haben." (von Radowitz, 6 / 6 6 6 ) „ [...] die Folgerung ist falsch, daß die letzten Bewegungen in Prag ein K a m p f der aristokratischen und der demokratischen Partei gewesen; denn klar liegt es vor, daß die B e w e g u n g in B ö h m e n überhaupt und auch die letzte eine B e w e g u n g gegen die Deutschen geworden ist. [...] so viel ist gewiß, daß die Veranlasser des ganzen Aufstandes, die Träger derselben, die Handlanger darin allesamt czechisch gesinnt waren, und daß Viele derselben den tiefsten Haß gegen die Deutschen, j a bis zur gänzlichen Vernichtung der Deutschen, gehegt und ausgesprochen haben." (Giskra,
6/671) 4.1.3. Czechen als Träger einer deutschfeindlichen
Bewegung
Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Ausdrücke Czechen und czechisch in nennenswerter Häufung erst nach dem Pfingstaufstand, also in den letzten beiden Debatten, vorkommen, und zwar meist als ,Stigmawörter', mit denen - neben der panslawistischen - die andere als gefährlich geltende Ausprägung der Slawen markiert wird. Gefährlich erscheinen die czechische Partei, das czechische Element, die czechischen Aufrührer, die czechische Bewegung, die czechisch gesinnten Handlanger des Czechenaufstandes, die czechische Anmaßung, die czechischen Angriffe, die Verschwörung von Czechen gegen die Deutschen, die identifiziert werden mit einer entschieden deutschfeindlichen Partei, einem deutschfeindlichen Aufstand, einer deutschfeindlichen Bewegung überhaupt. Auch früher schon ist in diesem Sinn vereinzelt die Rede von czechischen Wühlereien und von czechischem Fanatismus. Zwar findet sich gelegentlich am Beginn der Debatten (siehe Anm. 7) und auch noch später ein nicht-stigmatisierender Gebrauch, so z.B. bei Venedey der Hinweis, es gebe „noch einen großen Theil von Czechen, die nicht bereit sind, uns mit den Waffen entgegenzutreten", und die Warnung vor einem „Weg, auf welchem wir Krieg mit allen Czechen und Slawen bekommen" (5/419). Auch Kuranda mahnt zunächst noch zur Zurückhaltung mit differenzierenden Formulierungen: „In Prag steht nicht der Czeche dem Deutschen gegenüber"; und er argumentiert, nur wenige Gruppen „bilden das einzige Czechenthum" (5/420). Im Antrag von Ostendorf wird sogar gefordert, man dürfe „die alten Rechte Böhmens und besonders auch die der Czechen in Böhmen auf keine
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Weise beeinträchtigen"; letzteres wird übrigens vom Slawenausschuss entschieden zurückgewiesen (6/664). Häufiger taucht der Wortstamm aber in radikalisierenden und konfrontativen Kontexten auf: „bis Hülfe verlangt wird, ist die deutsche Nationalität in Böhmen so halb und halb geczecht" (5/419). Selbst der als besonnen geltende Kuranda rechtfertigt schließlich den Truppeneinsatz des Fürsten Windischgrätz, indem er die .Tschechen' sprachlich in die Ecke zu drängen versucht; er bestreitet ihre alleinigen Ansprüche auf den Boden Böhmens mit einem etymologischen Argument und charakterisiert ihren Kampf um vorgebliche Gleichstellung als konterrevolutionäre Eroberungssucht von Ultraczechen: „Der Name des Landes ist auch ein deutscher - Böheim, Bojerheim nannten es die Nachfolger der Bojaren - in keiner Chronik wird er Czechien genannt." (6/664) „Ja, Contrerevolution, das ist der wahre Name der ultraczechischen Consequenzen. Eine Contrerevolution gegen alle Errungenschaften deutscher Bildung und deutschen Rechts. Diesen Charakterzug der Unterdrückung, der wilden Eroberungssucht haben die Ultraczechen gleich in den ersten Tagen unserer Revolution [...] kund gegeben [...]. So verstehen diese Ultra-Czechen die Freiheit. [...] Doch müßte es diesen ultraczechischen Gleißnern klar werden, daß ihre eigene Kraft zu schwach sei, um gegen die Deutschen, um gegen den ganzen Inhalt einer Jahrehunderte alten Civilisation mit Erfolg kämpfen zu können." (6/665)
Mit Wortbildungen wie geczecht, Czechien, Czechenthum und ultraczechisch zeigt sich, dass in der hochemotionalisierten Situation der Debatte mit allen Mitteln eines semantischen Kampfs versucht wird, die .tschechische' Seite des Beziehungs-Frames den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu perspektivieren; sie wird extrem negativ aufgeladen, und so wird ein regelrechtes Feindbild aufgebaut. 4.2. .Deutsche' Ging es bisher bei der Rekonstruktion des Frames um den Teil der .andern', so soll jetzt die komplementäre Darstellung der eigenen Seite erfasst werden, die nicht weniger komplex ausgestaltet ist. Auf der .deutschen' Seite des Frames hat man es mit mindestens drei Gruppen zu tun, die sich z.T. überschneiden und ein sich blockierendes Interessengefuge bilden: (1) die Deutschen als Mitglieder des neu zu bauenden Deutschland, (2) Österreich, das vielleicht Teil dieses Deutschland sein wird, jetzt aber unübersehbar eine eigenständige Politik macht, und (3) die Deutschen in Böhmen, die zumeist Anhänger des neuen großen Deutschland sind, aber eben auch zu Österreich gehörig, ohne das sie nicht zu Deutschland kommen können. Hartmut Schmidt (2001) weist daraufhin, dass die Extension des Begriffs .Deutschland' in den Paulskirchendebatten nicht mehr fraglos Österreich einschließt und so eine neue sprachliche Opposition Deutschland vs. Österreich
.Tschechen' und .Deutsche' in den Böhmen-Debatten der Paulskirche
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entsteht. Mir kommt es hier darauf an zu zeigen, wie sich in der Beziehung zu den ,Tschechen' drei Subframes abzeichnen, die auch semantisch verschieden ausgestaltet sind: Deutschland und die Deutschen sind Ausdrücke für Prädikate einer (noch nicht existierenden) staatlichen Einheit, mehr noch einer ethnischen Gruppe, welche beide mit nationalem Pathos und auch mit Großmachtansprüchen belegt werden; österreichisch und Österreich werden dagegen (ähnlich wie Böhmen) für eine regionale/territoriale Zuordnung gebraucht, mehr noch für eine staatlich-institutionelle Einheit, gleichbedeutend mit österreichische Regierung. Die beiden Subframes sind also verschiedenen Prädikatsklassen oder ,Matrixframes' (dazu Konerding 1993) zuzurechnen; die Deutschböhmen/Deutschen in Böhmen sind in dieser entstehenden Opposition (noch) beiden Frames zugehörig, als ethnische Gruppe zu .Deutschland' und ,den Deutschen', politisch-institutionell sind sie Teil von .Österreich' und insofern ,österreichisch'. Ihre Hoffhungen gehen dahin, dass sie ihre ethnische Identität in der Zugehörigkeit zu Deutschland eindeutig sichern können, ihr Realitätssinn bringt sie aber dazu, darauf zu vertrauen, dass auch Österreich, das die politisch-institutionelle Macht hat, diese gewährleistet und nicht zu einem slawischen Österreich wird. 4.2.1. Deutschland: ,gute' Deutsche, überheblich und wortstark Am Anfang, als es um Minoritätenrechte geht, erscheinen die , Deutschen' in Gestalt eines Landes, das alle guten Eigenschaften aus dem Wertekatalog der Zeit zu vereinen scheint: „Deutschland erklärt [...] feierlich, [...] daß es zur Unterdrückung irgendeiner Nationalität nie die Hand bieten werde", und dass es - wie es im Text der verabschiedeten Erklärung heißt „im vollen Maaße das Recht anerkenne, welches die nichtdeutschen Volksstämme auf deutschem Bundesboden haben, den Weg ihrer volkstümlichen Entwickelung ungehindert zu gehen [...] wie es sich denn auch von selbst verstehe, daß jedes der Rechte, welche die im Bau begriffene Gesammtverfassung dem deutschen Volk gewährleisten wird, ihnen gleichmäßig zusteht." (2/183)
Die Großzügigkeit gegenüber Minoritäten scheint ganz aus dem Gefühl der Stärke zu kommen, die ein einiges und großes Deutschland selbstbewusst machen kann; es klingt sogar etwas gönnerhaft und herablassend, wenn es weiter heißt: „Das fortan einige und freie Deutschland ist groß und mächtig genug, um den in seinem Schooße erwachsenen andersredenden Stämmen eifersuchtslos in vollem Maaße gewähren zu können, was Natur und Geschichte ihnen zuspricht." (2/183)
Zugleich ist diese hochgestimmte und edle Haltung bei vielen nicht ganz uneigennützig, wenn sie darauf spekuliert, dass sich mit diesem Versprechen weitergehende Wünsche der kleinen Nationen niederhalten lassen. So
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argumentiert Neuwall, man müsse - ebenso wie der österreichische Kaiser eine solche Erklärung abgeben, um die Ängste der slawischen Bevölkerung zu zerstreuen: „es muß übrigens zur Beruhigung aller Nationalitäten beitragen, wenn wir als deutsche Versammlung auch hier diese Überzeugung aussprechen, und als heiliges und unveränderliches Grundgesetz unserer Verfassung hinstellen werden. Achtung jeder Sprache und jeder Nationalität!" (1/119)
Aber die Rechnung scheint nicht aufzugehen. Schon fünf Tage später muss man öffentlich zur Kenntnis nehmen, dass die Wahlen in Böhmen von einer dieser doch so großzügig behandelten Minoritäten boykottiert wurden. Derselbe Nerwall kann sich dennoch gar nicht vorstellen, dass es jemanden geben kann, der sich von diesem Deutschland abwenden will, und er hofft nun - mehr als auf Proklamationen - auf die Überzeugungskraft der zukünftigen Verfassung: „Wenn unsere Verfassung beendigt sein wird, wenn man sehen wird, daß unser vereinigtes Deutschland den Hort für alle auch nicht deutsch sprechenden Brüder bildet, wenn man sieht, daß hier die Freiheit, das Recht jedes Einzelnen auf ewig geschützt sein wird, so wird diese Verfassung mehr wirken, wie Proclamationen; auch die nicht deutsch redenden Völker werden einsehen, daß es recht gut, sicher und wohnlich in Deutschland, daß es der beste Aufenthalt für freigesinnte Völker ist [...] daß fur jeden freigesinnten Bewohner, was er immer für eine Sprache reden mag, die deutsche Einigkeit, die deutsche Freiheit das Wünschenswertheste ist. Dann werden die Völker einsehen, daß man sie mit Gewalt von Deutschland trennen wollte, sie werden einsehen, wo der letzte Grund dieser Trennung liegt, und daß mit der Trennung von Deutschland auch ebenso gut die Freiheit der einzelnen Länder den Todesstoß erhält. Wenn sie unsere Verfassung kennen - und sie wird, so Gott will, bald und gut zu Stande kommen - , so werden sie Alle gern mit Deutschland einig sein." (3/215)
So ,groß und mächtig' und so .wünschenswert' dieses Deutschland zu sein scheint, so wenig kann es letztlich verstehen und noch weniger dulden, dass sich nur einer abwendet, wie das im Wahlboykott der Tschechen zum Ausdruck gekommen war. Dies „mit Stillschweigen geschehen zu lassen" wäre „eine Schwäche, der Nation unwürdig, hieße den Aufruhr gleichsam gegen unsere Macht und Ehre ermuntern". Es würde „allen andern etwa bestehenden Sonderungsgelüsten neue Nahrung geben, da könnten noch fünf und zehn Theile von Deutschland sich melden". Auf einmal ist dieses große Deutschland - so der Abgeordnete Wedekind „niedrig geworden und herunter gekommen. Wir sind auf dem Wendepunkt, auf dem wir aussprechen müssen, daß kein Fuß, keine Scholle deutscher Erde jemals mit unserm Willen wegkommen sollte." (3/215)
.Tschechen' und .Deutsche' in den Böhmen-Debatten der Paulskirche
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Mit der häufig wiederholten Formel vom Fußbreit deutscher Erde, der nicht preisgegeben werden darf, wird ein großes allgemeines Prinzip formuliert, das auch gelegentlich mit dem Schlagwort .Integrität' verbunden wird: dass der Wahlboykott gegen die Integrität Deutschlands gerichtet ist, dass die Integrität Deutschlands gefährdet ist, daß jeder in seinem Herzen darauf bestehen muß, daß die Integrität Deutschlands, die Unverletztheit des Bundesgebiets kräftig aufrecht erhalten werde, daß eine Verletzung der Integrität des deutschen Gebiets niemals von uns zugelassen werden darf. Schließlich mündet dieses .Prinzip' in den Antrag des Abgeordneten Wiesner, die Nationalversammlung möge erklären: „Das deutsche Bundesgebiet ist unverletzlich und jeder Angriff auf dasselbe ist Landesverrath." (4/238) Für den speziellen Fall Böhmen wird eine Reihe von Gründen vorgetragen, 12 warum dieses Prinzip hier besondere Geltung haben müsse: man spricht von Böhmen als einem ursprünglich deutschen durch Natur, Geschichte, Bildung, durch Gesetz und Recht mit Deutschland untrennbar verbundenem Lande, das bis ins Herz des Vaterlandes reicht, das in unserm Herzen liegt, mitten in seinem Herzen, Jahrhunderte lang ein Theil des deutschen Reichs, ein großes Kurfürstenthum, rings umgeben von deutschen Völkern. Wenn es sich aber abwendet, so droht größte Gefahr: Böhmen ist ein Keil, eingetrieben in die deutsche Eiche, um sie zu spalten.13 Für den Ausschuss - wie eigentlich für alle - steht außer Frage und muss deshalb nicht gesondert erklärt werden, „daß die böhmische Frage als eine deutsche und zur Competenz der Nationalversammlung gehörige anzusehen sei." (6/664) Man steht ungläubig und empört vor der Frage, ob diese Böhmen nun mit einem Male sich herausreißen wollten, mitten aus Deutschland. Deshalb geht es darum, wie Böhmen verhindert werden kann, sich von Deutschland loszureißen. Mag sein, da wollen Gegner ein Land, das seit Jahrhunderten fest an Deutschland gekettet ist, davon losreißen, aber es steht fest, daß, was ein Jahrtausend zu uns gehört hat und ein Theil von uns gewesen ist, femer zu uns gehören muß\ man dürfe nicht hinnehmen, diese 600jährige Verbindung Böhmens mit Deutschland zerreißen zu lassen, stattdessen müsse man die Verbindung Böhmens mit Deutschland aufrecht erhalten und versuchen, dem Nationalwillen in Böhmen Nachdruck zu verschaffen, einer will sogar einen Bürgerkrieg nicht scheuen. Auch hierbei fehlt es gelegentlich nicht an Überheblichkeit, etwa wenn Arndt mit kulturellem Hochmut bezweifelt, dass sich Böhmen wirklich separieren könne, „denn wie es umgeben ist, wäre es dem Hungertode, wenn auch nicht von Brod und Wasser, doch von Bildung preisgegeben." (3/215)
Dazu auch Burian 1992, 243ff. mit weiteren Belegen aus der politischen und publizistischen Auseinandersetzung der Revolutionszeit. Burian 1992, 2 3 9 merkt an, dass diese Auffassung von Böhmen als Zentrum Deutschlands im Jahre 1848, als man noch von den Grenzen des alten Reiches ausgehen konnte, noch nicht so befremdlich wirkte wie heute.
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Ohnehin sind die Töne nach der Slawenkongress-Erklärung deutlich schärfer geworden. Man spricht offen vom Feind, von Taten, von Krieg und Schwerth: „Wir müssen den Slawen mit Ernst entgegentreten und erklären, daß, wenn sie uns den Handschuh hinwerfen, wir ihn aufnehmen werden. [...] Gestern konnten wir zweifelhaft sein, ob die Slawen unsere Freunde oder Feinde seien, heute aber können wir hierüber nicht mehr zweifeln. [...] Wir wollen in dem Augenblicke, w o directe Gefahr droht, ihr direct gegenübertreten. [...] es hängt davon ab, ob wir den Slawen zeigen wollen, daß wir bereit sind, wenn es Noth thut." (Venedey, 4/237) „So weit mir diese Völkerschaften bekannt sind, werden sie nicht auf Worte hören, alle Worte werden vergeblich sein, wir werden zur That schreiten müssen." (von Wartensleben, 4/239) „Es ist eine Kriegsfrage. Es handelt sich darum, den Feind nicht festen Fuß fassen zu lassen, und deshalb müssen wir ihn überwachen in seinen Operation, damit wir wissen, was zu thun nothwendig ist." (Hartmann, 4/241) „Darum bin ich fur die [...] Erwägung und Vorbereitung energischer Mittel, damit auf eine solche Protestation gegen die Frankfurter Wahl eine Gegenprotestation nicht nur mit Worten erlassen, sondern auch darauf hingewiesen werde, daß wir n ö t i g e n f a l l s mit dem Schwerdte bereit stehen." (Giskra, 4/241)
Nach dem Ausbruch des Pfingstaufstandes nehmen die kriegerischen Töne noch zu, gipfelnd in der Forderung Giskras, „daß die czechische Bewegung ganz niedergehalten und für die Zukunft vernichtet werde." (6/672) Allerdings muss man sich zugleich klar machen, dass diese starken Töne lediglich zur Einrichtung einer Kommission führen, die am Ende nichts anderes vorschlägt, als die österreichische Regierung aufzufordern, Wahlen durchzuführen, und die im übrigen dankbar gutheißt, dass jene den inzwischen ausgebrochenen Pfingstaufstand niedergeschlagen hat - ohne das Zutun der Wortgewaltigen. Dass .Deutschland' inzwischen zum bloßen Zuschauer geworden ist, findet seinen Ausdruck auch darin, dass der Problemkomplex Wahlen nun wieder die österreichisch-slawische Frage genannt wird (nachdem man zuvor doch darauf bestanden hatte, es müsse deutsch-slawisch heißen) und die Frage des militärischen Eingreifens nun die böhmisch-czechische (6/661) heißt; man kommt nicht um die Tatsache herum, dass der Schlüssel des Konflikts zwischen Böhmen und Deutschland in der Haltung Österreichs liegt, denn - so heißt es im zweiten Bericht der Kommission - es geht ja für „die Slawen jener Provinz darum, durch Österreich bei Deutschland zu bleiben" (6/662) und angesichts der Machtverhältnisse kann man Österreich zu nichts zwingen, allenfalls kann man es unterstützen mit der „Voraussetzung, daß die österreichische Regierung die Interessen Deutschlands wahren werde." (6/660f) 4.2.2. Österreich: ,zweifelhafte Deutsche', .schuldig' oder ,ganz deutsch'? Ohne Frage ist Österreich, im Sinne der österreichischen Regierung, ein wichtiger Teil der deutschen Seite des Beziehungsframes, vor allem ist damit aber das schwierige Verhältnis zwischen dem Habsburgerreich und der Frank-
.Tschechen' und .Deutsche' in den Böhmen-Debatten der Paulskirche
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furter Nationalversammlung im Spiel. Die politische Frage, ob sich Österreich wie ein Teil Deutschlands verhält, schlägt sich sprachlich darin nieder, dass man nun fragt, ob Österreich ganz deutsch sei und ob es deutsch bleiben wolle. Dass das Problem Böhmen nicht nur zwischen Prag und Frankfurt abgehandelt werden kann, sondern im Dreieck mit Wien gesehen werden muss, wird in den Debatten schon früh deutlich, wenn etwa der Abgeordnete Neuwall der Versammlung berichtet, am Wahlboykott der Leute sei auch schuld, dass man „von Ihnen als von einem Herrn Frankfurt sprach, welcher dem österreichischen Kaiser Aufträge und Befehle geben würde."(l/l 19) Der Abgeordnete Jeitteles erzählt, man habe den Wählern gesagt, „daß sie außer ihrem österreichischen Kaiser noch einen Frankfurter Kaiser bekommen würden" (3/213). Hier ist schon angedeutet, dass anstelle der alten Inklusionsbeziehung zwischen .Deutschland' und .Österreich' eine Alternativrelation treten könnte. Ähnlich äußert sich Neugebauer, der außerdem der österreichischen Regierung dabei einen Vorwurf macht und behauptet, „sie sah dem Treiben ruhig zu" (6/669); und wiederum Neuwall führt an, „die Bauern in Mähren und Schlesien sind, wenn auch nicht sehr deutsch, doch durchaus österreichisch gesinnt, und haben eine große Anhänglichkeit an das österreichische Kaiserhaus." (6/673)
Viele Abgeordnete, vor allem Deutschösterreicher, fürchten aber Bestrebungen, ein großes Slawenreich an die Stelle Österreichs zu setzen, ein slawisches Österreich, und sind deshalb überzeugte Anhänger einer ,großdeutschen' Lösung, sind für den Anschluß an Deutschland, wie der oberösterreichische Abgeordnete Achleitner: „Zwei Slawen kommen hier auf einen Deutschen, und die Interessen der Deutschen sind bei weitem mehr gefährdet, als die der Slawen. [...] ich bin auch der Ansicht, daß wir uns entschieden für das deutsche Princip erklären. Ich vertrete Oberösterreich, und stimme dafür, daß wir erklären, wir wollen uns entschieden an Deutschland anschließen, und diese Erklärung so bestimmt als möglich aussprechen, denn dieses wird auch ein Mittel werden, die Slawen davon zu überzeugen, daß wir uns durch sie nicht einschüchtern lassen. [...] sie sollen sehen, daß sie nicht so leicht in Deutschland ein slawisches Reich bilden können, und deshalb wiederhole ich nochmals: wir sollen uns entschieden fur den Anschluß an Deutschland und dafür erklären, daß wir unsere Verfassung nur von Deutschland erwarten." (1/120)
Auch die Redeweise vom ,Anschluß' geht eigentlich nicht von einer Inklusionsbeziehung aus. Am entschiedensten ,großdeutsch' ist die Mehrzahl der böhmisch-mährischen Abgeordneten, die - aus Furcht vor einem böhmischen Landesstaat innerhalb Österreichs, in dem sie nur eine Minderheit wären - zunächst überwiegend zum linken, großdeutschen Flügel der Liberalen gehörten, während nur wenige von ihnen wie Neuwall oder sogar der radikalliberale Beidtel großösterreichisch eingestellt waren. Auch der fraktionslose Jeitteles äußert sich als glühender großdeutscher Patriot:
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„Meine Herren! Ich liebe mein Vaterland, nämlich das große, einige Deutschland. Ich kenne kein größeres Glück, als das, ein Deutscher zu sein. Preußen, Österreich, und alle andern Herzogthümer und Ungethümer, wie sie heißen mögen, sind nichts als Irrthum." (3/214) Die Hinwendung zu Frankfurt ist nicht zuletzt durch eine tiefe Skepsis gegen Wien begründet, dem man, was den Schutz der Deutschen angeht, unterstellt, keine besondere Neigung für die Sache zu haben. Kuranda fordert, „mit aller Energie die österreichische Regierung zu bewegen, daß sie die Sache der Deutschen in Böhmen zu der ihrigen macht, damit wir nicht in der Unruhe fortan leben müssen, daß Österreich mit den Deutschen in Böhmen ein falsches Spiel treibt." (5/418) Die Regierung wird vor allem wegen der Wahlen kritisiert, „daß sie früher nicht ganz bona fide diese Wahlen unterstützt hätte." (6/670) Die heftigsten Vorwürfe macht, neben dem Kommissionsbericht, Neugebauer mit vielen Details der Vorgeschichte - etwa bei der Bildung des Nationalausschusses in Prag - , wobei er besonders die Rolle des Landesgouverneurs Graf von Stadion betont, welcher bei den Wahlausschreibungen zur mangelnden Durchsetzung durch die Regierung beigetragen habe: „und ich habe hier eine sehr schwere Pflicht zu erfüllen, denn ich muß geradezu die österreichische Regierung anklagen, daß sie an dem Treiben, welches in Böhmen noch gegenwärtig dauert, an dem Unglück, das wir in Zukunft noch zu erwarten haben, Schuld sei. [...] sie liebäugelte mit dem Panslawismus, und die von den Czechen eingereichten Petitionen wurden selbst zum Nachtheil der Deutschen bewilligt; [...] ein österreichischer Minister sagte einer Deputation von Wienern, [...] ob es nicht möglich sei, daß Österreich seiner Zeit ein vorzugsweise slavischer Staat werden könne?" (6/669) Grund für die Bevorzugung der Slawen und die mangelnde Unterstützung der Deutschen sei, dass der Panslawismus momentan vorgibt, „den österreichischen Staat in seiner Integrität, die österreichische Regierung in ihrer ungeschmälerten Souveränetät erhalten und stärken zu wollen," und zwar „den deutschen Strebungen gegenüber," so der Kommissionsbericht (6/661). 1 4 Damit „verlarvt er seine Bestrebungen in einem österreichischen und respective böhmischen Patriotismus" (ebd.). Umgekehrt wird fur das Anwachsen der „czechischen Partei" die Regierung direkt verantwortlich gemacht: „Die Stellung, welche die österreichische Regierung der panslawischen Bewegung gegenüber eingenommen hat, war eine höchst bedauerliche. Die verkommene Politik
In den Augen der Großdeutschen hatten die Tschechen deshalb den Ruf, „Reaktionäre um nationaler Vorteile willen zu sein"; sie galten als „die sichersten Stützen einer mehr und mehr erstarkenden konservativen Politik in Österreich." (Prinz 1963, 109)
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. T s c h e c h e n ' und . D e u t s c h e ' in den B ö h m e n - D e b a t t e n der Paulskirche
dieser Regierung, die in dem K a m p f der verschiedenen Nationalitäten unter sich ihre eigene
Sicherheit
und
eine
Stärkung
des
absolut-monarchischen
wie
des
aristokratischen Princips suchte, ihre Schwäche, die, sich selbst aufgebend, sie aller Würde und Achtung entkleidete, ihre halben, widersprechenden, das Slawenthum begünstigenden Maßregeln, welche die deutsche Bevölkerung entmuthigten, haben der slawischen
und namentlich
der czechischen
Partei eine ihre Macht
weit
übersteigende Meinung von sich selbst beigebracht und haben in ihnen diesen Übermuth
großgezogen,
der zur terroristischen
Unterdrückung
der
deutschen
Bevölkerung herangewachsen ist." (6/661)
Allerdings ändert sich diese heftige Gegnerschaft zwischen Frankfurt und Wien schrittweise; schon mit der klaren Wiener Ablehnung einer .provisorischen böhmischen Landesregierung', die Graf von Thun - nach der ,Sturmpetition' und der Flucht des Kaisers nach Innsbruck - in Prag gebildet hatte, kommen versöhnliche Töne auf, man lobt das Ministerium dafür, „daß es sich mannhaft gegen die provisorische Regierung in Prag ausspricht," man vertraut darauf, „daß man es der österreichischen Regierung überlassen kann, ihre Slawen zu meistern," und Neuwall glaubt, „daß die österreichische Regierung uns nicht betrügen will; wenn sie auch eine große Thätigkeit bisher nicht entwickelt hat, so glaube ich doch, Sie aus Überzeugung versichern zu können, daß sie es redlich meint und uns nicht betrügen will." (4/241)
Vor allem dann mit der Niederschlagung des Aufstandes durch Windischgrätz setzt sich eine vertrauensvollere Haltung durch. Viele betonen jetzt, die Regierung Österreichs dürfte vielleicht nach dem 15. und 26. Mai eine andere geworden sein; daß die österreichische Regierung es jetzt mit Deutschland ehrlich meint, seitdem ihre Intention wesentlich geändert hat, seit der Bewegung in Wien ihre Richtung geändert hat; man müsse zuerst das Vertrauen auf die österreichische Regierung aussprechen, weil eine neue Richtung in die österreichische Regierung hineingekommen ist; die österreichische Regierung sei jetzt ganz deutsch geworden, und man könne sich auf sie vom Standpunkt deutscher Interessen ganz verlassen. Zumindest hofft man, daß die österreichische Regierung, bei dem Princip, in das sie durch die neue Bewegung gekommen ist, bleiben möge. Jeitteles zeigt wieder einmal am meisten Enthusiasmus: „Wahrlich, Österreich verdient es, daß Deutschland ihm die Bruderhand reicht; Österreich, welches man mit allen Mitteln des Jesuitismus undeutsch zu machen suchte und noch sucht, Österreich hat gezeigt, daß es deutsch bleiben will, und nun lassen S i e auch uns zeigen, wie wir diesen Willen hochhalten." (6/667)
Auch in dieser Äußerung schwankt die Konzeptualisierung des Verhältnisses von Deutschland und Österreich zwischen Nebeneinander (.Bruderhand') und Inklusion (.deutsch bleiben'). Trotz des großdeutschen Optimismus sind einige
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wie Wiesner weiterhin misstrauisch, schon allein weil sie wissen, dass sie Windischgrätz „vom Standpunkte unseres demokratischen Princips später vielleicht als Gegner, als Feinde werden entgegentreten müssen" (Kuranda, 6/664); auch fur Ruge „steht gar nicht fest, ob der Sieg von Windischgrätz der Sieg der Deutschen ist" (6/671) und Giskra spricht offen seine Zweifel aus: „Angesichts der Wichtigkeit jenes Aufstandes einer entschieden deutschfeindlichen Partei, kann ich mich daher des Verdachts nicht erwehren, daß das Ministerium mit energischen Schritten gegen die czechische Partei nicht auftreten wolle und werde." (6/672)
Am deutlichsten äußert - nach den Erfahrungen einer Wiener Delegation bei Windischgrätz - der Abgeordnete Berger, was er von dessen Rolle hält: „Der Fürst Windisch-Grätz sieht sich nicht als einen Vertheidiger der deutschen Sache an, welche in Wien siegte, sondern Fürst Windisch-Grätz ist ein Werkzeug der Camarilla, und als solches erkläre ich ihn von dieser Tribüne aus. [...] Nun die Sache in Böhmen ist die, der Deutsche hat nicht gesiegt und der Czeche hat nicht gesiegt, die Czechen und die Deutschen aber befinden sich gegenüber der Reaction, und es wird vielleicht bald die Zeit eintreten, wo wir beide zusammen gegen eine dritte gefahrliche Macht werden in Schutz nehmen müssen." (6/674)
Andererseits weiß man schon seit Schmerlings Bundestags-Coup, der die Bundestruppen fernhielt, dass Österreich seine Souveränität nicht würde beeinträchtigen lassen; man weiß, „daß Österreich mächtig genug ist, diese Bewegung zu unterdrücken" (Beidtel 4/429), „daß der Vorschlag, deutsche Truppen sogleich ohne Befragung der österreichischen Regierung den Deutschen zu Hülfe zu schicken, höchst gefährlich für uns Deutsche wäre" (Kuranda 4/420), „daß weder die österreichische Regierung noch der General mit einem derartigen Antrag einverstanden wäre" (von Lichnowsky 4/421). Man respektiert, dass die Ausgestaltung der Gleichberechtigung der Nationalitäten in Prag Sache der österreichischen Regierung sei, man sieht, die österreichische Regierung ist Herrin von Prag, und vertraut auch in der Wahlfrage darauf, daß die österreichische Regierung in diesem Augenblick die volle Macht dazu besitzt. Eine Minderheit der Kommission, vertreten von Ruge, will deshalb möglichst viel Zurückhaltung und erklärt die Sache zu einer „wesentlich speciell österreichischen Angelegenheit": „Wir haben [...] gemeint, wir dürften nicht interveniren, weil das die österreichische Regierung und auch die böhmische Bevölkerung verletzen könnte, weil es einen Racenkrieg herbeiführen könnte, den wir vermeiden wollen, und weil diese wesentlich speciell österreichische Angelegenheit nach den Vorträgen der Herren, die genau unterrichtet sind, so verwickelt ist, daß es von hier aus nicht zu erkennen ist, ob sie eine demokratische oder aristokratische ist." (6/671)
,Tschechen' und .Deutsche' in den Böhmen-Debatten der Paulskirche
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So will man Truppen nur schicken, wenn Österreich das Einrücken für nöthig erachtet, und belässt es in der Wahlfrage bei der lauen Aufforderung. Es geht in der Frage der deutsch-tschechischen Beziehungen in der Paulskirche implizit immer auch um das Verhältnis zwischen .Deutschland' und .Österreich'. In den meisten Äußerungen ist deutsch und österreichisch nicht mehr inklusiv, sondern in Opposition gebraucht, allerdings mit einem kategoriellen Unterschied: österreichisch bezieht sich auf die politischinstitutionelle Ebene, deutsch kann sich auf eine institutionelle Ebene beziehen (die es bisher aber nur in Form des deutschen Bundes gibt) oder auf die Bezeichnung einer ethnischen Einheit. 4.2.3. Deutsche in Böhmen: .bedrohte Deutsche', Minorität, Kraft und Taktik Die unmittelbar Betroffenen, die das vitalste Interesse am Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen haben, sind natürlich die Deutschen in Böhmen, oder besser: die Deutschen in Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien. Sie sind mit etwa 50 Abgeordneten relativ zahlreich in der Paulskirche vertreten15 und haben - wie nicht anders zu erwarten - an den Böhmen-Debatten einen starken Anteil; ihre prominentesten Sprecher sind Beidtel, Berger, Kuranda, Neuwall und Hartmann, aber auch andere treten hervor wie Giskra, Jeitteles, Neugebauer, Schuselka oder der aus Prag gebürtige Wiesner, der aber einen niederösterreichischen Wahlkreis vertritt; Mitglieder im Slawenausschuss aus dieser Gruppe sind außer Giskra und Berger auch Reitter, Lausch und Sommaruga. Die Selbstdarstellung der Gruppe ist ambivalent. Einerseits fühlen sie sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Überlegenheit stark und leiten daraus auch Ansprüche ab. Kuranda weist darauf hin, dass die Deutschen in Böhmen zwar eine Minorität seien,16 dies werde aber bei weitem durch die Kraft aufgewogen, welche sie in die Schale legen. Als Belege nennt er den Ackerbau, die Hauptsitze der Industrie, die Brunnen- und Badeorte, die Bergwerke, deutsche Hände, deutschen Fleiß, das Städtewesen, den Bürgerstand, den fleißigen, behäbigen Mittelstand und schließlich noch Wissenschaft und Unterricht, von den Zeiten des deutschen Kaisers Karl IV., der die erste Universität in Prag gründete, bis auf die heutige Zeit; so begründet er, „daß jene Kraft welche das Land bewegt, auch wohl ein Recht zur freien Existenz hat." (6/664f) Ähnlich gibt Beidtel eine Reihe von Argumenten, warum die Deutschen gegenüber den Slawen in Böhmen, wenn man ihre gegenseitige Stellung und Kraft beurtheilt, eine überlegene Position haben:
15
"
Dazu vor allem Prinz 1963. Zu Daten über die Abgeordneten s. Best/Weege 1996. N a c h seinen Zahlen machen die Deutschen in Böhmen etwa 43% aus; Wollstein 1977, 189 (zitiert nach Burian 1962, 54); eine Zählung von 1846, nach der in Böhmen etwa 40%, in Mähren mehr als 2 5 % und in Österreichisch-Schlesien knapp 50% der Bevölkerung deutschsprachig waren.
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Werner Holly „Der Deutsche hat das Gebirge für sich, die ganze militärische Stellung für sich, die Deutschen haben ferner den Saatzer, den Ellenbogener Kreis, die fest an Deutschland anliegen, die Deutschen liegen im Böhmer Walde, die Deutschen haben die Grenzen von B ö h m e n und Österreich, sie sind überall v o n Deutschen umringt, sie haben eine feste Stellung. D i e Slawen befinden sich dagegen in der Mitte des Landes, in einer völlig wehrlosen Ebene. D i e Städte sind deutsch, deutsch ist der Handel, deutsch die Industrie Böhmens, deutsch ist Alles, was in B ö h m e n gebildet ist, und alle Überlegenheit ist auf Seiten der Deutschen." ( 5 / 4 2 0 )
Die Rechte der Deutschen in Böhmen, ihre Ansprüche auf Zugehörigkeit zu Deutschland werden auch immer wieder - mit mehr oder weniger Nachdruck historisch begründet: „Die Deutschen in Böhmen haben ein sehr altes Recht. Sie sind Jahrhunderte hindurch daselbst die fleißigsten Bebauer des Landes gewesen." (Rössler, 6/670) Man verweist auch auf die Marcomannen und Hermunduren, auf den deutschstämmigen Namen des Landes (s.o.), 17 und - noch einmal Arndt - auf die vermeintlichen besonderen Qualitäten dieser ,Urbewohner' : „Sie sind ausgezeichnet durch g e w i s s e Eigenschaften, durch Natürlichkeit, durch Faustkräftigkeit, die die Bewohner der Städte in Schlesien und Böhmen, die eingeführt sind, nicht haben." ( 6 / 6 7 4 )
Trotz dieser Überlegenheit fühlt man sich nun zunächst durch den Wahlboykott mit seinen zahlreichen Umtrieben und Intriguen, dann durch die Erklärung des Slawenkongresses bedroht, und schließlich befürchtet man mit dem Pfingstaufstand sogar, „daß es auf ein allgemeines Gemetzel der Böhmen gegen die Deutschen abgesehen ist" (Berger, 5/418), „daß der Bürgerkrieg in Prag wüthet", und stellt dramatisch fest: „das Vaterland ist in Gefahr" (Wiesner, (5/418). Man verweist auf die eigenen Familien, die dort beteiligt sind (Kuranda, 5/420) und fordert „die entschiedensten Schritte zum Schutz der deutschen Bewohner in Prag und dem Königreich Böhmen" (Kuranda, 5/421). Auch vorher schon hatte Hartmann auf die Nutzlosigkeit von Proklamationen hingewiesen (3/213) und von einer Kriegsfrage gesprochen (4/241). Zum anderen sind es aber gerade die böhmisch-mährischen Abgeordneten, die immer wieder beschwichtigend auf die Debatten einwirken, 18 wobei sie sich eher in die Perspektive der ,Böhmen' begeben und sogar - im Widerspruch zu der geforderten Zugehörigkeit zu Deutschland - die deutschen Truppen als .fremde Macht' konzipieren. Sie befürworten am stärksten die Erklärung der
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Auch Kuranda benutzt - anders als Prinz (1963, 112) ihm zugute hält - das historische Argument; sein angeblicher .Verzicht' darauf ist natürlich rein rhetorischer Natur und hindert ihn nicht daran, auf Markomannen und Bojerheim hinzuweisen (6/664). Vgl. auch Wollstein 1977, 208: „Diese Politiker [...] zeichneten sich in ihrer Mehrheit durch einen mäßigenden Einfluß auf die Nationalversammlung aus."; später ist noch einmal von ihrer „relativ maßvollen Haltung" die Rede (ebd., 221, Anm. 62). Besonders für Kuranda sei eine „abwägende Haltung" charakteristisch gewesen (ebd., 214).
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Minoritätenrechte, werben um Verständnis dafür, „daß die Böhmen in einer schwierigen Lage sich befinden, daß sie zuerst ihre häuslichen Angelegenheiten ordnen wollen" (Neumann, 3/215), „daß die Slawen-Proclamation des Comité's [...] kein Actenstiick sei" und „daß eine directe Antwort auf dieses Schreiben nicht nöthig sei" (Neuwall 4/241); man glaubt „mit Rücksicht auf die starke Stellung der Deutschen in Böhmen [...] nicht, daß es nothwendig ist, eine fremde Macht hineinzubringen" (Beidtel 5/420). Kuranda rät trotz aller Sorge um die Familien, man solle sich vor der Truppenentsendung mit der österreichischen Regierung abstimmen, und entdramatisiert die Lage: „Nehmen Sie die Sache practisch; indem Sie uns helfen wollen, stoßen Sie uns nieder! Meine Herren, wir sind keineswegs in der unglücklichen Lage, daß in ganz Böhmen ein Bürgerkrieg stattfindet; die Landbevölkerung Böhmens ist ruhig, und sie hat den Czechen keinen Zuzug geleistet. [...] In Prag steht auch nicht der Czeche dem Deutschen gegenüber, es ist blos die fanatische Partei der Nationalgarde." (5/420) Im selben Sinn wird im Ausschussbericht, an dem die böhmisch-mährischen Abgeordneten mitgewirkt haben, mit Verweis auf die österreichische Regierung für Abwarten plädiert: „Eine übereilte Hülfe, wenn sie gleich nur in dem moralischen, aber kräftigen Einfluß dieser Versammlung lag, könnte die gefährliche Lage der deutschen Bewohner Böhmens noch verschlimmern, könnte den Zwist, der vielleicht ein mehr innerer, häuslicher war, leicht verstärken, könnte den Kampf, der vielleicht ein abgegrenzter, auf die Stadt Prag beschränkter ist, möglicherweise zu einem allgemeinen machen und den Bürgerkrieg erst recht durch das ganze Land entzünden." (6/663) Schuselka und Giskra verweisen ebenfalls auf eine mögliche Eskalation bei der Bevölkerung, die aus Bürgern Deutschlands bestehe, durch fremde Truppen·, Schuselka will nicht „über diese unsere Brüder und Bürger Deutschlands triumphiren. [...] Aus Rücksicht der Klugheit möchte ich davon abmahnen, weil ich überzeugt bin, daß eine solche Verfügung das Entgegengesetzte hervorbringen, und das böhmische Landvolk vielleicht bis zu dem Waffengebrauch aufregen würde." (6/670) „Es wird vielmehr bei Vielen große Zweifel erregen, ob nicht der Zuzug fremder Truppen, welche die Gefahr beseitigen sollen, eine Stütze für Reactions-Versuche abgeben werde, und dadurch in unerwartet neuer Richtung die Parteien in Bewegung gesetzt werden." (6/671) So sind am Ende nahezu alle der Meinung, dass man mit Rücksicht auf Österreich nichts Spektakuläres tun sollte. Man gewinnt den Eindruck, dass es den Deutschen in Böhmen um die Möglichkeit geht, den Schutz ihrer Rechte zur Not von Frankfurt zu erhalten, aber man will diese Karte nicht spielen,
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wenn Österreich zu erkennen gibt, dass es seine einseitige Unterstützung der Palacky-Partei aufgibt. Um deren Zerschlagung will man zwar kämpfen, aber man will die Tschechen auch nicht zu Märtyrern machen. Dass die Niederschlagung des Aufstandes eine ganz andere, nämlich demokratische Fraktion trifft und sekundär die Palacky-Partei sogar noch stärkt, ist vielleicht einigen klar, aber die Hoffnung auf Wien scheint im Moment zu überwiegen. Zwar gilt auch weiterhin - wie Prinz (1963, 124) formuliert - : „Je besser sich Palacky mit Wien arrangierte, umso stärker trieb er die Sudetendeutschen nach Frankfurt." Aber dort ist die Hoffnung schon nach wenigen Monaten mit der kleindeutschen Tendenz endgültig erloschen. Implizit ist damit auch ein semantisches Konzept verbunden, nachdem .deutsch' zwar als Gruppenbezeichnung die Deutschen in Österreich und Böhmen miteinschließt, .deutsch' als politische Einheit aber zunehmend in Opposition zu österreichisch' erscheint.
5. Fazit Auf beiden Seiten des Beziehungsframes sind mehrere Komponenten vorhanden, die ein flexibles Bild ergeben, so dass negative und positive Tendenzen durch die Komplexität in eine gewisse Balance geraten. Wie wird der Frame für die tschechische Seite in der Paulskirche semantisch konstruiert? - Es ist eine mindestens dreiteilige Struktur: Traditionell, vor dem Ausbruch des Konflikts, werden auf dieser Seite brave Böhmen (und Mähren und Schlesier) gesehen, die zu einem großen Teil Slawen sind und die untereinander uneinig sind; insbesondere sind dort seit vielen Jahrhunderten Deutsche, genauer Deutschböhmen; jedenfalls kann an der Zugehörigkeit des Gebiets und damit auch aller Bewohner zu Deutschland nicht gezweifelt werden. Im Zuge des Konflikt erhalten die Slawen dann eine doppeltes Gesicht mit einer Struktur von bösen Verfuhrern und naiven Verführten: Sie sind einerseits - in ihrer Masse - ein friedliches, harmloses Volk von Bauern; andererseits gibt es eine gefährliche Bewegung von Panslawisten, die ein Großreich anstreben, möglicherweise auf österreichischem Boden, sicherlich zum Schaden der Deutschen in der Habsburger Monarchie; zum Glück sind sie ebenfalls uneinig. Die Speerspitze dieser Bewegung sind derzeit die Czechen, die sich, solange der panslawistische Staat noch nicht greifbar ist, in aggressiver Weise gegen die Deutschen richten, um nicht nur in Böhmen, sondern auch in Mähren und Schlesien, das sie sich einverleiben wollen, einen eigenen Staat innerhalb Österreichs zu bilden, auf jeden Fall aber außerhalb des deutschen Nationalstaats. Wie sieht die Selbstdarstellung der deutschen Seite aus und wie werden die verschiedenen Mitspieler auf dieser Seite konstruiert? - Auf deutscher Seite ist zunächst das große, noch zu bauende Deutschland, der Hort der Freiheit, der kleineren Minoritäten gerne gewisse Rechte einräumt, allerdings keine fremde Eigenstaatlichkeit auf seinem traditionellen Gebiet dulden kann. In dieser Frage
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muss man unerbittlich um seine Integrität kämpfen, besonders aber im Fall von Böhmen, das mitten in seinem Herzen liegt. Deshalb muss Deutschland die aufrührerischen Czechen als Feinde bekämpfen, auch wenn ihm dabei noch die Hände gebunden sind und es sich einstweilen noch auf Österreich stützen muss, das man nicht übergehen kann, dessen Haltung zu diesem Deutschland aber noch nicht eindeutig ist. So ist die entscheidende Frage, ob Österreich ,wirklich deutsch' ist oder ob es andere Interessen verfolgt, ob es möglicherweise sogar Schuld an dem Erstarken der tschechischen Bewegung trägt. Je weiter die Debatte führt, desto deutlicher wird, dass man im Verhältnis zu den Tschechen an Österreich und seiner Souveränität nicht vorbeikommt, man wird sich der eigenen Machtlosigkeit bewusst. So kann man sich in der Wahlfrage nicht mehr als eine Aufforderung an Wien leisten, und in der Frage der Entsendung von Truppen bleibt es bei verbaler Unterstützung und Vertrauen auf die Wahrung der deutschen Interessen. Die Protagonisten dieser Zurückhaltung sind die Deutschen in Böhmen (und Mähren und Schlesien), die sich zwar für eine starke und historisch berechtigte Minderheit halten, die aber erfahren mussten, dass Wien die Czechen zumindest zeitweilig bevorzugt hat. Auch wenn sie sich deshalb - oder aus Überzeugung - zunächst an die Frankfurter Paulskirche halten, müssen sie erkennen, dass sie angesichts ihrer Abhängigkeit von Wien und im Interesse ihrer Zukunft mit den slawischen Böhmen und Mähren Deutschland sogar mäßigen müssen; dessen wortstarke Unterstützung haben sie ohnehin. Die Uneinigkeit im deutschen Lager sorgt also für ein widersprüchliches Bild: Bei den schlechtinformierten .Reichsdeutschen' neigt man zu einer Mischung aus einer hochgestimmten Völkerfrühlingssolidarität, die nicht frei von Herablassung ist, und einer ebenso überheblichen, aber unrealistischen Verbalradikalität, die jedoch letztlich ohne Folgen bleibt; die österreichische Regierung unterstützt sogar noch gegen die Deutschen die ihnen genehmere Fraktion der tschechischen Aufrührer, schlägt dann aber einen radikaldemokratischen Aufstand nieder, beides im Interesse der Aufrechterhaltung ihrer Souveränität; die Deutschböhmen appellieren an Deutschland um Unterstützung, solange sie von Österreich enttäuscht werden, dämpfen aber den Ton, als sie den Eindruck haben, dass sie an Österreich nicht vorbeikommen und dies ihnen Entgegenkommen signalisiert. Politisch-semantisch wird österreichisch immer deutlicher in Opposition zu deutsch gebraucht. Für die andere Seite liegen mit Böhmen, Slawen und Czechen unterschiedliche Framekonstrukte für die verschiedenen Haltungen bereit, die jeweils herangezogen werden können. In diesem komplexen Spiel sind zwischen ,Deutschen' und .Tschechen' positive Beziehungsstrukturen der Verbrüderung (unter den Revolutionären) und national-ethnischen Respektierung (von Demokraten wie von Realpolitikern) ebenso enthalten wie negative Tendenzen der ethnisch-kulturellen Überheblichkeit (von Deutschen gegen Slawen), der machtpolitischen Unterdrückung (von größeren gegen kleinere Nationen) und sogar der
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Verketzerung (von ,Bedrohten' gegen .Bedroher'). Im nationalen Konflikt wirken die deutschböhmischen Interessenvertreter einerseits mit Elementen kultureller Überheblichkeit und Forderungen aggressiver .Gegenwehr' eskalierend, anderseits mäßigen sie die Spannungen mit grundsätzlichen Ideen der nationalen Toleranz und realpolitischen Überlegungen der Schadensbegrenzung, auch mit differenzierenden Hinweisen auf unterschiedliche Tendenzen auf der anderen Seite. Im historischen Rückblick kann man wohl sagen, dass die Beziehungsmuster zwischen Deutschen und Tschechen, die später und bis heute unheilvolle Folgen oder eben Chancen der Verständigung hervorbringen würden, allesamt schon angelegt sind.
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Deutsch und Tschechisch in der Familie Kafka In der älteren Kafka-Forschung wurde die Sprache fur das entscheidende Kriterium der nationalen Zugehörigkeit der Mitglieder der Familie Kafka gehalten: Danach soll der Vater Hermann Kafka ein tschechischer Jude, die Mutter eine deutsche Jüdin gewesen sein. In anderen Darstellungen werden beide als deutsche Juden deklariert. Der vorliegende Beitrag vermeidet solche eindimensionalen sprachnationalen Zuschreibungen, denn das hieße den Stoff aus der Außenperspektive zu betrachten, und die würde gerade bei einer jüdischen Kaufinannsfamilie im Böhmen dieser Zeit wenig aussagen. Im Kontext dieses Bandes müssen jedoch die vielfältigen inneren Sprachverhältnisse der Familie näher in den Blick genommen werden. Abgesehen von einem Brief vom 21. Juni 1924 an die Direktion der ArbeiterUnfall-Versicherungs-Anstalt in Prag,1 der höchstwahrscheinlich von Josef David konzipiert 2 und von Hermann und Julie Kafka nur unterschrieben wurde, gibt es von Hermann Kafka paradoxerweise nur deutsch geschriebene Texte, während die Mutter dem Material nach auch tschechisch schrieb. Gerade deswegen stellt sich die Frage nach dem konkreten Sprachverhalten in der Familie bzw. der deutschen und der tschechischen Sprachkompetenz beider Elternteile, von wo aus es möglich ist, den tschechisch-deutschen und deutsch-tschechischen Bilingualismus sowie Franz Kafkas Annäherung an das Tschechische besser zu verstehen.
LA PNP, Fond Franz Kafka. - Ich gehe allerdings im Folgenden vor allem von der privaten Korrespondenz der Familie Kafka aus, die in einem Sonderfond der Bodleian Library in Oxford ohne Numerierung der einzelnen Briefe und Kartons aufbewahrt wird. Bei der Datierung „Tag/Monat/Jahr" stütze ich mich auf die expliziten Angaben in den Briefen unter Berücksichtigung der Briefumschläge. Im Falle, dass ich bei der Datierung nur vom Inhalt der Briefe ausgehen musste, sind diese durch Fragezeichen gekennzeichnet. Um schwierig datierbare Briefe zitieren zu können, gehe ich bei diesen von der Angabe des Entstehungsortes aus (Pürs. = Pürstein usw.). Hinweise zu anderen Quellen (Franz-Kafka-Fond, Jüdische Kultusgemeinde usw.) werden in den jeweiligen Anmerkungen und in der Übersicht der Quellen erläutert.) In der Anrede hditelstvi statt „Feditelstvi" wurde dieselbe Form verwendet wie in den Briefen von Franz Kafka, nachdem sie von Josef David übersetzt wurden. Außerdem ist Josef David im Brief eindeutig als Vermittler genannt.
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1. Hermann Kafka Hermann Kafka (1852-1931) wurde in der Judengasse in Osek/Ossek/Wossek, einem südböhmischen Dorf in der Nähe von Strakonice/Strakonitz, geboren, in dem er - wenn auch das Dorf in einer überwiegend tschechischsprachigen Gegend liegt - mit dem Deutschen, dem gesprochenen Tschechischen, wahrscheinlich auch dem Jiddischen konfrontiert war. Nach Sommer (1833-1840) gab es in Osek 55 Häuser und es lebten hier 382 Einwohner.3 Nach Seznam mist ν králavství ceském4 gab es Anfang des 20. Jahrhunderts in Osek 53 Häuser und 279 Einwohner. In der insgesamt sinkenden Zahl der Einwohner spiegelt sich die seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzende Auswanderung der Landbevölkerung in größere Städte und Industrieund Handelszentren wider, die durch tiefgreifende Änderungen der Jahre 1848/1849 wie die endgültige Abschaffung des Frondienstes sowie die Auflösung der jüdischen Ghettos überhaupt ermöglicht wurde. Franz Kafkas Großvater Jakob war übrigens der letzte Einwohner aus Osek, der im Jahre 1889 auf dem jüdischen Waldfriedhof bei Osek beigesetzt wurde.5 Ende der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts wird die Zahl der jüdischen Familien auf 20 geschätzt,6 wobei davon auszugehen ist, dass nur die durch das Familiantengesetz zugelassenen Familien gerechnet wurden. Danach lebten in Osek bzw. in Klein-Wossek - in der Judengasse und um die Synagoge - etwa 100 Einwohner. Auch Die Notablenversammlung der Israeliten Böhmens in Prag (1852) gibt 20 Familien und 95 Gemeindemitglieder an.7 Nach der Karte aus dem Jahre 1837s gab es allein in der Judengasse 19 Häuser, hinter der Synagoge neben der Straße nach Radomyäl/Radomischl weitere 16; im „tschechischen" Teil des Dorfes gab es nur 17 Häuser, mit dem Schloss im Dorf insgesamt 55 Häuser für 94 Wohnparteien.9 Wenn man in Betracht zieht, dass eine Wohnpartei - wie im Falle der Eltern von Hermann Kafka - aus acht Leuten bestand (durchschnittlich sind es im gesamten Dorf vier Köpfe auf eine Wohnpartei) - dürfte die Zahl der Juden in Osek sogar deutlich höher als 100 gewesen sein, denn allein in der
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Vgl. Northey 1994, 12 und Wagnerová 1997, 29f. Seznam 1907, 503. Auf dem oberen Teil seines Grabsteines befindet sich die hebräische Inschrift, auf dem unteren die deutsche. Nach dieser richtet sich hier die Schreibweise seines Namens. Außer dem Namen „Jakob Kafka" und dem Satz „Friede seiner Asche" sind weitere Teile der Inschrift (wie das Sterbedatum) ohne Restaurierung nicht lesbar. Nach Northey 1988 ist der Großvater 1888 gestorben, beigesetzt wurde er 1889. Sommer 1840, 103. Kohn 1852,41 Iff.; nach Northey 1994, 12. Ich danke Frau Dipl.-Ing. Pavía Kostková vom Ústfedni archiv zemèmëFictvf a katastru (Praha) sowie Herrn Jindfich Zdráhal vom Katastrální ufad Strakonice fllr die Vermittlung der Karten aus den Jahren 1837 und 1914. Hier stütze ich mich auf die Angaben aus dem Jahre 1837, die mir durch Dipl.-Ing. Pavia Kostková, Zemêmèfiisky ufad (Praha), vermittelt wurden.
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Judengasse konnten auf Grand dieser Annahme 130 Menschen leben.10 Weitere dürften wohl die Häuser hinter der Synagoge neben der Straße nach Radomyäl bewohnt haben. Aus diesen Angaben ergibt sich das Bild einer relativ großen und auch sozial strukturierten Gemeinde, die sich in gewissem Sinne selbst genügen konnte bzw. musste. Neben der Synagoge gab es auf der Kreuzung der Straßen nach Malá Turná/Klein Turna (1 km) und Radomysl (3 km) ein Gasthaus, in einer „Nebenstraße" quer zur Judenstraße einen Krämer und einen Schneider. In der Judengasse hat auch der dortige Metzger Jakob Kafka, der Großvater Franz Kafkas, gewohnt. Auch weitere Krämer und Hausierer, sowie ein Schuhmacher11 und ein Glaser dürften in Klein-Wossek gewohnt haben. Nach den Angaben aus dem Jahre 1837 beschäftigten sich 44 „Wohnpartheien" „mit der Cultur des Bodens", 32 „mit Gewerben", 17 „mit der Cultur des Bodens und Gewerben zugleich", eine „mit keinem von beiden". Gerade die 32 „Wohnpartheien", die sich nur „mit Gewerben" beschäftigten, dürften die nichtprivilegierten Juden in der Judengasse sein, denen der Grundbesitz und die Beschäftigung „mit der Cultur des Bodens" kaum möglich war.12 Wagnerová vermutet aber unter den Juden in Osek sogar eine privilegierte jüdische „Oberschicht" (Pächter der Brauerei, der Branntweinbrennerei, der Pottaschensiederei).13 In diese Richtung weist auch die Angabe, dass es 1837 in der Nähe der Synagoge ein Judenspital gab.14 Diese Oberschicht würde sich allerdings in dieser Zeit am ehesten mit dem Deutschen identifiziert haben, eine ernst zu nehmende tschechischjüdische Bewegung gibt es erst ab den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts.15 So ist anzunehmen, dass nicht nur in der Synagoge und beim Religionsunterricht deutsch gesprochen wurde. Das Hebräische spielte allein beim Gottesdienst eine Rolle, das Jiddische fiel zu dieser Zeit einzelne Wörter ausgenommen - kaum mehr ins Gewicht, obwohl Hermann Kafka laut seinem Sohn auch später ab und zu jiddische Wörter in seine Rede
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Ich gehe bei dieser Berechnung von den Angaben des Katasters aus dem Jahre 1837 aus: 55 Häuser, 94 Wohnparteien, 406 Einwohner, vier Köpfe pro Wohnpartei. Das macht 1,7 Wohnparteien pro Haus, mal 19 Häuser (die errechnete Zahl 32,3 Wohnparteien für die Judengasse entspricht der Angabe im Kataster, dass 32 Wohnparteien sich mit Gewerben beschäftigten, was den Juden vor 1848 am ehesten möglich war), mal vier Köpfe pro eine Wohnpartei. Bei dieser Rekonstruktion ging ich auch von den Ortsnamen aus, die von der ältesten Generation in Osek benutzt werden. Ich beziehe mich auf eigene Interviews, die ich im Sommer 2000 durchgeführt habe. Die Befragten waren Männer im Durchschnittsalter von 70 Jahren, die in Osek geboren und aufgewachsen sind und hier auch immer gelebt haben. Die meisten der von ihnen so bezeichneten Lokalitäten existieren physisch nicht mehr. Die Gewerbebezeichnungen wurden angeblich bereits in ihrer Kindheit und Jugend nur als Bezeichnungen zur Identifikation von Häusern, nicht zur Identifikation von Gewerben und Gewerbe treibenden Leuten verwendet. Vgl. Anmerkung 9. Wagnerová 1997,30. Northey 1994, 13, der sich hierfür auf Archivangaben stützt. Kieval 1988.
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einfließen ließ.16 Einen Rabbiner hatte die Gemeinde nachweislich in den Jahren 1823 bis 1827,17 sonst teilten sich wahrscheinlich die von der Größe her vergleichbaren jüdischen Gemeinden in Pisek, Osek und Strakonice einen Rabbiner und Lehrer. Der Kreisrabbiner lebte in Strakonice (etwa 10 km südlich von Osek), der Lokalrabbiner in HoraZd'ovice.18 Die Gemeinde hatte auch einen Gemeinde- bzw. Synagogendiener (Schammes), der wohl auch - auf Deutsch Unterricht erteilen konnte. 19 Dem Handel ging man nicht nur in der nächsten Umgebung, sondern auch z.B. in dem etwa 15 km östlich liegenden Pisek nach, so dass Kenntnisse des Tschechischen - im Hinblick auf den überwiegend tschechischen Charakter der Besiedlung dieser Gegend - vorauszusetzen sind. Die Auflösung der Ghettos nach 1848 bedeutet keinesfalls eine schnelle Änderung im Leben der Juden. Auch in Osek nicht. Klein-Wossek war vom Rest des Dorfes durch das Schloss, die umliegenden Grundstücke, Teiche und ein Auengebiet getrennt. Von der heute nicht mehr existierenden Synagoge, die die einheimischen katholischen Tschechen als „kostel" (Kirche) bezeichneten, waren es bis zur kleinen Kapelle vor dem inzwischen zum Teil abgerissenen Schlosskomplex mindestens 800 m, denn auf dem Weg von Klein-Wossek (Osek) nach Osek musste man das Schloss und die zu ihm gehörenden Grundstücke umgehen - eine Entfernung, die die Isolierung der Juden forderte. Vom Schloss führte zwar eine direkte Straße zum Ortsteil Klein-Wossek und weiter nach Turná bzw. nach Radomyäl und Strakonice, doch diese war nicht öffentlich. Die Juden hatten sowohl im Alltag als auch in ihrem Glauben andere Orientierungspunkte und Zentren, einen anderen Lebensrhythmus als die Katholiken im Dorf, wie dies auch in einem Brief Kafkas an seinen Vater thematisiert wird: „ D u hattest aus der kleinen ghettoartigen Dorfgemeinde wirklich noch etwas Judentum mitgebracht, es war nicht viel und verlor sich noch ein w e n i g in der Stadt und beim Militär, immerhin reichten noch die Eindrücke und Erinnerungen der Jugend knapp zu einer Art jüdischen Lebens aus." 20
Der katholische Teil des Dorfes führte in mancher Hinsicht ein eigenes Leben. Es gab hier ein Wirtshaus, einen Schmied, einen Krämer usw.21 Im Dorf gab es aber keine tschechische Schule, so dass die tschechisch erzogenen Kinder jeden Tag zu Fuß nach dem etwa 2 km entfernten Jemnice gehen mussten. Dieser Weg führte in 16
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Kafka 1992, 44; Kafka 1990b, 214 zitiert Hermann Kafka, der Max Brod „einen meschuggenen ritoch" nennt. Bei Julie Kafka sind in einem Brief aus Pürstein „Miäpoche" bzw. in einem Brief vom 12. Juli 1925 „Mischpoche" belegt. - Vgl. auch Northey 1988. Northey 1994, 13, der sich auch in diesem Punkt auf Archivquellen stützt. Vgl. Seznam míst ν královstvíceském 1907, 503. Northey 1994, 18 vermutet, dieser Diener sei Jakob Kafka gewesen, was jedoch wohl bedeuten würde, dass das Deutsche in der Familie geläufig war. Kafka 1992,44. Vgl. Anmerkung 10.
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eine andere Richtung, so dass nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder aus beiden Teilen des Dorfes in der Kindheit Hermann Kafkas (d.h. in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts) wenig Kontakt hatten und Erwachsene vor allem in der nächsten Umgebung unter ihresgleichen Partner suchten. Jakob Kafka lebte vor der Heirat im Haus Nr. 30, seine Braut Franziska Platowski im Haus Nr. 35. 22 Die Juden waren also nicht nur räumlich, sondern auch durch einen - in Arbeit und Religion - anderen Lebensrhythmus getrennt. Inwieweit sich dabei der latente Antisemitismus auf den Alltag auswirkte, bleibt offen. Es ist allerdings festzustellen, dass es 1859 in Südböhmen und 1861 im 10 km entfernten Strakonice zu Ausschreitungen gegen Juden gekommen war, die erst durch den Einsatz der Armee unterbunden werden konnten. 23 Auch das Sprachverhalten der Juden unterschied sich in der Regel von dem der Tschechen. 24 Sie waren bereits durch die Ausbildung und den Beruf für die deutsche Sprache offener als der andere Teil des Dorfes. Bis 1848 wurden den Juden deutsche Schulen und die deutsche Sprache in gewerblichen Schriftstücken vorgeschrieben. Auch die Religionslehrer hatten in dieser Zeit konsequent eine deutsche Ausbildung bekommen. Was die Unterrichtssprache betrifft, hat sich nach 1848 an jüdischen Schulen zunächst wohl nichts geändert. Und gerade in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts „[wurde] der Unterricht in der tschechischen Sprache eingeschränkt", 25 das Netz der tschechischen und deutschen Schulen wurde in den gemischten Gemeinden und Gebieten erst in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts bzw. erst mit der Autonomie des Schulwesens (1873) dichter, was für Hermann Kafkas Schulbildung wohl bereits irrelevant ist. Bereits dies begründet wohl hinreichend die Annahme, dass Hermann Kafka eine deutsche Ausbildung erhalten hat.26 Hinzu kommen tagtägliche Notwendigkeiten (Handel) wie auch allgemeinere gesellschaftliche Tendenzen (Identifikation mit der deutschen Sprache, die den Juden zusammen mit anderen für sie positiven Reformen von Joseph II. mit auf den Weg zur allmählichen Emanzipation gegeben wurden), die das Sprachverhalten der Juden beeinflussten. So wurden in jüdischen Familien - und die Familie Kafka ist hier keine Ausnahme - deutsche Vornamen sowie deutsche Schulen gewählt, 27 und zwar noch in der Zeit, als dies keine gesetzliche Pflicht mehr war.28 Selbst bei den emotional hochgradig relevanten Grabinschriften entschied sich die 22 23 24
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Zu den Familienverhältnissen vgl. v.a. Northey 1988. So auch in Prag, wie es bei Kieval 1988, 18 erwähnt wird. Angaben über die verwendete Sprache fehlen allerdings in den Angaben des Katasters vollständig. Kfen 2000, 111. Vgl. Anmerkung 31. Vgl. dazu Kafkas Stammbaum z.B. bei Northey 1988; 1994. Hermann Kafkas Geschwister tragen deutsche Namen, so auch ihre Kinder bis auf den 1885 geborenen Zdenëk, den Sohn seines Bruders Philip/Philipp (so schreibt es Hermann Kafka in dem Brief vom 25.7.1882) und seiner Schwägerin Klara Kafka, geb. Polááek. Vgl. Nekula 2000a.
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Familie für das Deutsche. 29 Die Tatsache, dass der Schlossherr in Osek, Ritter von Daubek, und seine Umgebung deutsch sprachen und „dachten", erscheint in diesem Kontext eher nebensächlich, da sie sich vor allem in Prag aufhielten. 30 Im sprachlichen Sinne prägten die Herren das dörfliche Leben allerdings doch in gewissem Ausmaß, indem sie eine tschechische Schule im Dorf nicht zuließen bzw. nicht einrichteten. Wie andere aus der Judengasse in Klein-Wossek hat auch Hermann Kafka eine elementare Ausbildung erhalten, mit Deutsch als Unterrichtssprache, 31 so dass er höchstwahrscheinlich nicht im Stande war, völlig korrekt tschechisch zu schreiben. Daran hat sich nicht einmal in den drei Jahren beim Militärdienst (seit 1872) etwas geändert, obwohl er bei der mündlichen Kommunikation mit der Mannschaft das Tschechische sicherlich reichlich benutzen konnte. Die Kommandosprache war Deutsch, so dass eher noch eine Vervollkommnung im Deutschen angenommen werden müsste. Die wenigen vorhandenen Bohemismen, die in seinen Briefen vorkommen, belegen außerdem seine grundsätzlichen Schwierigkeiten mit der tschechischen Orthografie: Pñbík/Pñbik, Tabor, Písek, Budín, Götzova statt eher ,Gôtzovà', Dañek statt ,Danëk', Kc statt ,K£\ Mseno statt ,M§eno'. 32 Bei Dañek (statt richtig ,Danëk') wusste Hermann Kafka nicht einmal, dass das palatale ñ- vor -e ohne Häkchen als -né- und nicht -he- grafisch wiedergegeben wird. Bei Budín (statt richtig ,Budyñ' od. ,Budyné') fehlt das Wissen, dass die Palatale t\ d, ñ vor i als -ti-, -di-, -ni-, die Alveolare t, d, η vor y [i] als -ty-, -dy-, -rty- verschriftlicht werden. Dies sind die elementarsten Orthografieregeln, die in der ersten Klasse eingeübt werden. In anderen Fällen fehlen Häkchen und Dehnzeichen bzw. diese werden falsch gesetzt.
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Der Grabstein von Jakob Kafka ist zweisprachig - hebräisch und deutsch. Die übrigen 39 erhaltenen Grabsteine auf dem Waldfriedhof bei Osek sind hebräisch bis auf 2 Ausnahmen: David Hollub (deutsch und hebräisch) und Julie Auler (deutsch). Northey 1994, 12. Wagnerová 1997, 40 will in Osek eine deutsche Dorfschule kennen. - Deutsche (jüdische) Schulen sind selbst in diesem überwiegend tschechisch bewohnten Gebiet keine Ausnahme. Eine solche wird 1898 in Strakonitz aufgelöst; vgl. Wlaschek 1997,29. - Für eine deutsche Ausbildung Hermann Kafkas spricht aber mit Sicherheit die damals übliche „deutsche" Kurrentschrift, die Hermann Kafka in seinen Briefen an Julie Löwy im Jahre 1882 benutzt, während in den tschechischen Schulen dieser Zeit auch auf dem Lande bereits vorauszusetzen ist, dass die reformierte lateinische Schreibschrift verwendet wurde. Der Wechsel zur heutigen lateinischen Schreibschrift in der Form, die ftlr das Tschechische im Prinzip bis heute verwendet wird, ereignet sich nämlich in tschechischen Schulen um das Jahr 1848. Vgl. dazu z.B. die vergleichende Tabelle der tschechischen Schriftnormen in Öapka/Santlerovä 1998. Diese sowie andere private in diesem Kapitel zitierte Briefe werden in der Bodleian Library Oxford aufbewahrt und mit der Erlaubnis der Bibliothek zitiert: 24/3/1926,9/6/1882,9/6/1882, 6/7/1882 (BLO; laut Profous 1947/1954, 230; Budynè nad OhH, im Volksmund Budynê oder Budyñ), 24/3/1926, 24/3/1926, 24/3/1926, 11/7/1882. - Hermann Kafka benutzt in der Regel deutsche Ortsnamen wie Böh. Leipa (11/7/1882), so dass Tábor (dt. Tabor) in diesem Sinne, d.h. nicht als Fehler verstanden werden sollte.
Tschechisch und Deutsch in der Familie Kafka
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Aber auch mit der deutschen Rechtschreibung bzw. mit der geschriebenen deutschen Schriftsprache dürfte er wegen der mangelnden Ausbildung Schwierigkeiten gehabt haben. Denn „schon mit 10 Jahren [mußte er] ein Wägelchen auch im Winter und sehr früh am Morgen durch die Dörfer schieben"33 bzw. „schon mit sieben Jahren mußte ich mit dem Karren durch die Dörfer fahren." 34 Und in seinem weiteren Leben war er - neben dem Tschechischen - überwiegend mit der deutschen Umgangssprache konfrontiert. Seine Beziehung zum Deutschen war dabei von besonderer Art. Wie gesagt, war das Deutsche in Osek nicht nur die Sprache des Schlossherrn, sondern auch die Sprache der Schule, die Verkehrsprache in und um die Synagoge. Das Tschechische - in welcher Form auch immer - hat dagegen in der Gegend eine wichtige Rolle beim Handel in unmittelbarem Kontakt mit den Kunden gespielt. Dies trifft wohl auch für den jungen Hermann Kafka zu. Ähnliches gilt auch nach dem Umzug nach Prag, wo zwar das Tschechische für einen beträchtlichen Teil der Kunden wichtig war, 33 das Deutsche jedoch bei Verhandlungen mit Handelspartnern sowie mit anderen Kunden 36 in Prag-Altstadt eine besondere Rolle spielte - ebenso bei Hermann Kafkas Geschäftsreisen nach Wien. 37 Bereits vor seiner Heirat mit Julie Löwy war das Deutsche ein fester Bestandteil seines privaten Lebens, nach der Heirat hat sich diese Tendenz noch verstärkt. So sprach er mit seiner Frau und seinen Kindern deutsch.38 Er besuchte mit seiner Familie deutsche Synagogen,39 ließ seine Kinder deutschsprachige Schulen besuchen, las das Prager Tagblatt,40 Anzeigen brachte er in deutschsprachigen Zeitungen unter.41
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Kafka 1990b, 323. Kafka 1992, 29. Für das innere Prag werden im Jahre 1857 etwa 50%, im Jahre 1880 etwa 20% Deutsche angegeben. Zum inneren Prag zählen Altstadt, Neustadt, Kleinseite, Hradschin, Josephstadt. In den 80er Jahren kommen VySehrad und Holeäovice-Bubny hinzu, 1901 auch Libeñ. Dazu müssen auch Vorstädte bzw. aus heutiger Sicht selbständige Stadtviertel gerechnet werden, die 1921 zu Oroß-Prag zusammenwachsen. Die Einwohnerzahl stieg durch diese Regelung im Jahre 1921 von 241.898 auf 656.675, davon sind 94,3% Tschechen, 4,6% Deutsche, 0,9% Juden, 0,3% andere Minderheiten, 1,97% Ausländer. Vgl. dazu Masaryküv slovnik naucny (1931/V: 945) bzw. Statistickä kniika kr. hlavniho mèsta Prahy, zur Forschungsliteratur PeSek 1999. Vgl. Northey 1994, 15, Anmerkung 20. Festgehalten in den Briefen aus dem Jahre 1882. Auch die Briefe der Kinder an die Eltern sowie Zitate des Vaters im Brief an den Vater sind deutsch. Selbst die Redewendungen, die Hermann Kafka benutzt haben soll, fallen nicht durch Bohemismen auf wie im Falle der Wendung Jemanden wie einen Fisch zerreißen" (Kafka 1992, 23) - im Tschechischen würde man „eine Schlange zerreißen" („roztrhnu té jako hada"). Wagenbachs Behauptung (1991, 16), dass Hermann Kafka im Vorstand der 1890 gegründeten Synagoge in der Heinrichsstraße war, ist m.E. falsch. Falls Franklins ins Tschechische übersetzte Biografie dem Vater tatsächlich zur Lektüre empfohlen wurde, dann hat er wohl auch tschechisch gelesen. - Vgl. dazu Kafka 1992, 45 bzw. Born 1990, 169. So die Erwähnung in dem Brief von Julie Kafka an Elli und Karl Hermann vom 14. März 1926.
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Auf den möglichen tschechischen Hintergrund von Hermann Kafka weisen die tschechischen Anreden in seinen Briefen an Julie Kafka hin: Vielgeliebte Julinko, Liebe Julinko, Julinko."'1 Hermann Kafka benutzt dabei neben den tschechisch diminuierten Namen seiner zukünftigen Frau {Julie, dim. Julinka)43 ebenso den tschechischen Vokativ (Nom Julinka, Vok Julinko). Doch häufiger und parallel zu tschechischen Anreden verwendet er am Anfang der Briefe sowie in deren Text die deutschen Anreden: Hochgeschätztes Fräulein, Mein liebstes theuerstes Julchen, Mein Vielgeliebtes Julchen!, liebstes Julchen, Vielgeliebtes Julchen!, Theuerstes geliebtes JulchenZ44 Die tschechischen Anreden, an weniger prominenter Stelle situiert, erscheinen daher vor allem als „zärtliche", weniger offizielle Varianten zur deutschen Anrede. Für diese Interpretation sprechen auch die Anreden Liebste Ottilko!, Liebste Otilko! und Liebe Ottilko! bzw. Liebste Ellynko! und Liebe Ellynko,45 die Julie Kafka bei der Anrede ihrer Töchter benutzt. Eine solch zärtlich-liebevolle Anrede scheint für eine Familie typisch zu sein, in deren Haushalt das Tschechische - gerade im Hinblick auf die Kinder (Ammen, Kindermädchen, Dienstboten) - ein Bestandteil des privaten Alltags geworden ist. Dies ist auch in anderen deutschsprachigen Familien (mit tschechischen Dienstboten) belegbar.46 Das Tschechische hat Hermann Kafka um die Jahrhundertwende in der Kommunikation mit einigen seiner Verwandten,47 vor allem aber in der Kommunikation mit den Dienstboten in seinem Haushalt sowie mit den Angestellten, einem Teil der Kunden in seinem Geschäft und mit Geschäftspartnern benutzt. Mit Vorliebe, aber nicht ganz zutreffend erwähnt man auch, wie gewandt Hermann Kafka nicht nur die Sprache, sondern auch die nationale Symbolik zu wechseln versteht, indem er im deutschen Briefkopf die Dohle auf dem Eichenzweig, im tschechischen auf dem Lindenzweig sitzen lässt.48 So konsequent war diese Unterscheidung aber keineswegs, denn die Dohle kann im deutschen Briefkopf auch auf einem Lindenzweig sitzen.49 In dem Brief an den Vater erwähnt Kafka zwar, dass der Vater über das tschechische Personal schimpfte,50 im Geschäft haben jedoch sowohl Franz als auch sein Vater mit dem Personal tschechisch gesprochen und verhandelt.51 So
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25/7/1882; 2 5 / 7 / 1 8 8 2 , 2 9 / 7 / 1 8 8 2 ; 11/7/1882.
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Diese waren aber auch in ausschließlich deutschsprachigen Familien beliebt; vgl. Nekula 1998b. 9/6/1882; 6/7/1882; 11/7/1882,29/7/1882; 30/7/1882; 3 0 / 7 / 1 8 8 2 , 3 1 / 7 / 1 8 8 2 ; 1/8/1882. 9/8/1917, 24/8/1917, 6/7/1918, 14/11/1918, 20/11/1918, 1/12/1918; Juli-August 1925; 20/7/1910, 13/5/1925,9/8/1925; 20er Jh.; 1/8/1923. Vgl. Nekula 1998b. Kafka erwähnt im Brief an Feiice Bauer vom 13. zum 14. Januar 1913 das Wort „knëZna", das sein Vater stolz fllr seine frisch verheiratete Tochter Valli benutzte. Hermann Kafka zitiert hier j e d o c h einen seiner Verwandten. - Vgl. Kafka 1967, 249. Wagenbach 1991, 17.
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So z.B. in dem Brief von Julie Kafka an Ottla Kafka v o m 24. August 1917. Kafka 1992, 17, 19. Vgl. Nekula 2000b.
Tschechisch und Deutsch in der Familie Kafka
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konnte Hermann bzw. Hefman Kafka/Kavka 52 selbst im sprachnational denkenden Prag als der „tschechische" Kaufmann gelten.53 - Zu Hause hat Hermann Kafka Uber das tschechische Personal nicht nur geschimpft, sondern es auch tschechisch ausgeschimpft: „To je zrádlo. Od 12 ti se to musí vafit." 54 Die Wortwahl ist nicht besonders fein, tschechisch ist sie aber auf jeden Fall. Aus dem Abdruck der Archivmaterialien in Krolop (1968), genauer gesagt auf Grund der Anzeigezettel zur Zählung der Bevölkerung, sowie aus anderen Quellen lässt sich wenigstens zum Teil rekonstruieren, welche Dienstboten in der Familie Kafka tätig waren. Entscheidend fur die Zuordnung zur Nationalität ist jedoch nicht die Angabe über die Umgangssprache, die im Prag dieser Zeit wegen des äußeren gesellschaftlichen Drucks irreführen kann, sondern eher der Vor- und Nachname. Problematisch ist aber beides: sowohl die Angabe über die Umgangssprache als auch die „Nationalität" der Namen. Die Angaben über die Umgangssprache (vor allem im Hinblick auf zusätzliche Änderungen - von der deutschen Umgangssprache zur tschechischen - wie im Falle des deutschen Geschäftsmanns Wilhelm bzw. Vilém Feigl bei der Volkszählung im Jahre 1910)55 sowie die Angaben der Namen (im Hinblick auf die im Formular eingetragenen Namen der Familie Kafka, d.h. „Kafka Hefman", „Kafková Julie", „JUDr Kafka Frantiäek", „Kafková Valerie", „Kafková Otilie",56 die sich auf den Stand zum 31. Dezember 1910 beziehen) dürfen jedoch bei der Identifizierung der Nationalität nicht überbewertet werden. So waren in der Familie Kafka - z.B. in der Privatkorrespondenz - die deutschen Varianten der Namen, d.h. Hermann Kafka, Julie Kafka, JUDr Franz Kafka, Vallerie Kafka, Ottilie Kafka (so selbst in den Anzeigezetteln 1890 bzw. 1900) üblicher. 57 Der Wechsel zwischen der deutschen und tschechischen Variante der Namen je nach der Domäne (privat vs. öffentlich, Gemeindeämter vs. staatliche Ämter) 58 bzw. die parallele Führung der beiden Varianten stellt keine Ausnahme dar, wenigstens nicht im Prag dieser Zeit. Laut Anzeigezettel für das Jahr 1890 wohnen bei der Familie Kafka: [...] 6. FrantiSka Nedvëd H 55 Horovitz k sv δ sluzba; kuchafka 7. Marie Zemanová Η 70 Rataj k sv δ sluzba; chüva
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In dieser Form ist der Name z.B. in den Akten des Polizeipräsidiums vom 19. September 1906 und 19. April 1934 fixiert. LA PNP, Fond Franz Kafka. Wagenbach 1958, 19. „Das ist aber ein Fraß. Es muss ab 12 [Uhr] gekocht werden." - Franz Kafka an Ottla vom 19. April 1917. - Vgl. Kafka 1974, 33. Krolop 1968, 55. Ebd., 54. Anzeigezettel 1890: Hefmann Kafka, Julie Kafka, Franz Kafka, Gabriela Kafka, Valerie Kafka. - Anzeigezettel 1900 (Konzept): Hermann Kafka, Julie Kafka, Frantiäek Kafka, Gabriela Kafková, Valerie Kafková, Otilie Kafková. - Anzeigezettel 1900 (Reinschrift): Hermann Kafka, Julie, FrantiSka (sie!), Gabriela, Valeria, Ottilie. Vgl. Nekula 2001b.
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8. Anna Cuchalová [...]
H 68 Vavrinetz
k sv δ sluába; kojná 59
Entscheidend für die Bestimmung ihrer Muttersprache sind nicht die Angaben über die Sprache - auch die Familie Kaika führt c (= Ceská/Tschechisch) als ihre Umgangssprache an - , sondern - trotz des vorhin Gesagten - die Namen. Da weder die Nachnamen („Julie Kafka"), noch die Vornamen („Franz Kafka") 60 in der Familie Kafka hier bei dieser Volkszählung tschechisiert wurden, während die Dienstboten tschechische Vor- (FrantiSka) und Nachnamen (Zemanová, Cuchalová) haben, ist wohl anzunehmen, dass es sich um Tschechinnen handelte. Besonders bei dem kleinen Franz, d.h. in der Zeit des intensiven Einsatzes der beiden Eltern im Geschäft, ist die besondere Rolle der Dienstboten und ihrer Sprache nicht zu unterschätzen. Überinterpretiert könnte man hinter Kafkas Stocken und Stottern - im Zusammenhang mit Kafkas Vater erwähnt61 - sogar übliche Sprachprobleme eines ungleich bilingualen Kindes suchen. So weit kann man sich jedoch kaum vorwagen. In dem für die Sprache sensibelsten Alter hatte Franz Kafka übrigens ein Kindermädchen, dessen Umgangssprache wohl deutsch war; es handelt sich um Franziska Haas, die im Jahre 1885 wegen eines der Familie Kafka entwendeten Wäschekorbs als Zeugin von der Polizei vorgeladen wurde. 62 Die Angabe des Deutschen und des Böhmischen/Tschechischen als Muttersprache in den Katalogen seiner Volksschule 63 spiegelt jedoch die Tatsache wider, dass das Tschechische im Haushalt der Familie Kafka - gerade in der Zeit, als der kleine Franz eingeschult wurde - für ihn im Umgang mit seiner Umwelt eine wichtige Rolle spielte. Laut Anzeigezettel für das Jahr 1900 wohnen bei der Familie Kafka: [...] 7. Bofena HofCióková H 71 Sobotka k sv δ sluiba; sluèka 8. Anna S e d ^ k o v á Η 66 Kluzinka k sv δ osobní slu2ba [...] Die Interpretation der Angaben ist ähnlich wie im Falle des Anzeigezettels für das Jahr 1890 nur mit dem Unterschied, dass der tschechisierte Nachname Kafkovä in 59
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Krolop 1968, 56. Die Angaben stehen in folgender Reihenfolge: Name, Verwandschaft oder sonstiges Verhältnis zum Wohnungsinhaber (H = Haus- und Kuchenpersonal: Dienstmädchen u.a.), Geburtsjahr, Geburtsort, Glaubensbekenntnis (K = römisch-katholisch bzw. k = fímskokatolické), Familienstand (1 = ledig bzw. sv. svobodny, svoboden), Umgangssprache (b = böhmisch bzw. ò = íeská), genaue Bezeichnung des Hauptberufszweiges (sluika/Dienstmädchen), Stellung im Hauptberufe (kuchafka/Köchin, chuva/Kindermädchen, kojnà/(Sâug-) Amme). Krolop 1968, 56. Kafka 1992, 22, 54. Franziska Haas war laut Angaben aus dem Jahre 1885 etwa 22 Jahre alt, ledig, katholisch, aus Podëbrady stammend (einer überwiegend tschechisch bewohnten Kleinstadt) als Kinderfräulein in der Familie Kafka tätig. - Vgl. Wagnerová 1997, 81. Vgl. Nekula 2000a.
Tschechisch und Deutsch in der Familie Kafka
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dem Entwurf des Anzeigezettels bei der Mutter nicht vorliegt. Sowohl die Vorund Nachnamen der Dienstboten (Bofena HorCiCková, Sedláóková) sowie die Geburtsorte (Sobotka, KluZinka) sind eindeutig genug, um bei den Dienstboten auf die tschechische Muttersprache schließen zu können. Gerade als Franz' Schwestern aufwuchsen, wirkten im Haushalt der Familie Kafka neben den tschechichen Dienstboten auch primär deutschsprachige Kindermädchen und Erzieherinnen, was - wie auch die Umzugsziele - den sozialen Aufstieg der Familie widerspiegelt. Um die Jahrhundertwende wird in der Familie Kafka Elvira Sterk angestellt, mit der sowohl die Mutter als auch die Schwestern Franz Kafkas auf Deutsch verkehren.64 Sie bleibt bis zum Sommer 1902 bei der Familie Kafka. In dieser Zeit wirkt in der Familie Kafka auch die „Französin" Celeine/Céline (Josephine) Bailly, geb. 1879 (Monthiersfen] Bresse, Belgien), katholisch.65 Eindeutig ist die Benutzung der tschechischen Muttersprache bei Anna Pouzarová, die „am 1. Oktober 1902 auf Empfehlung von Bekannten von Herrn Kafka aus Strakonice" als Erzieherin in der Familie Kafka angestellt wird und „bis Ende Oktober 1903" im Dienst bleibt.66 Im Hinblick auf die Tschechisierung der Angaben in der Familie Kafka bei der Volkszählung im Jahre 1910 (Namen sowie Umgangssprache) 67 scheint mir die dominante Umgangssprache bei „Anezka Ungrová" bzw. „Anna Unger", die im Dezember 1910 bei der Familie Kafka wohnt, trotz den Angaben im Anzeigezettel unklar zu sein: [...] 6. Ungrová Anezka H 79 Svejkovice k sv C domácí sluzby; sluíka; domácnost u maj. bytu68
[...] Ungeachtet dessen scheint das Tschechische im Haushalt der Familie Kafka offensichtlich eine wie auch immer stark ausgeprägte Konstante zu sein. Um das Jahr 1910 werden Kontakte zwischen der Familie Kafka und dem „Fräulein", d.h. Marie Werner(ová), geknüpft, 69 die ebenfalls spätestens 1921 bei den Kafkas einzieht und auch nach dem Tod des Vaters mit der Familie
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Vgl. dazu die Kopien der Briefe von Julie Kafka an Elvira Sterk in Literární archiv (PNP Praha) sowie den Abdruck der Briefe der Schwestern an Elvira Sterk in Wagnerová 1997, 96f. In der Anmeldung bei der Polizeidirektion taucht sie am 19.10.1889 (bis etwa 1904) als Erzieherin bei Frau Leonie Weil, später ab 1907 als Lehrerin auf. SÚA, Fond Polizeipräsidium, alphabetisch. Pouzarová 1995, 55, 65. Eine Ausnahme stellt Franz Kafka dar. Er wird als Frantiäek geführt, die Umgangssprache wird mit η (= nêmeckà/deutsch) charakterisiert. Vgl. Krolop 1968, 54. Krolop 1968, 54. Wagnerová 1997, 80; während Binder 1979a von einem früheren Zeitpunkt ausgeht.
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verbunden bleibt. 70 Die dominante Sprache von Marie Wemerová war sicher Tschechisch, da sich sowohl Franz Kafka 71 als auch die Mutter Julie 72 beim schriftlichen Verkehr auf Tschechisch an sie wenden. Ob sie des Deutschen aber überhaupt nicht mächtig war, wie Binder behauptet, 73 bleibt offen, denn es gibt von ihr neben einer tschechischen 74 auch eine deutsche Grußzeile. 75 Dass sich Hermann Kafka mit den Dienstboten in seinem Haushalt, den Angestellten in seinem Geschäft sowie mit einem Teil der Kunden tschechisch unterhielt, ist eine Tatsache. Dass er mit der nächsten Familie sowie im Geschäft wenigstens mit einem Teil der Kunden - deutsch sprach, ebenso. Welches Deutsch jedoch Hermann Kafka gesprochen hat, lässt sich im Nachhinein nicht genau sagen, da man nur von schriftlich erhaltenen Texten ausgehen kann. Erhalten geblieben sind einige Briefe, die er im Jahre 1882 an Julie Kafka bzw. im Jahre 1917, 1926 und 1929 an Karl, Elli und Gerti Hermann geschrieben bzw. mit geschrieben hat.76 Die zahlreichen Unregelmäßigkeiten gegenüber dem heutigen Deutsch in den ersteren veranlassten Wagenbach zu behaupten, dass Hermann Kafkas Umgangssprache Tschechisch gewesen sei.77 Zumindest die Briefe aus dem Jahre 1882 widersprechen der These Wagenbachs. Leider bin ich nicht befugt, diese privaten Dokumente abzudrucken. Der Leser muss sich daher mit einzelnen Zitaten und meinen zwangsläufig etwas weiter ausgreifenden linguistischen Interpretationen dieser Belegstellen begnügen. 1.1. Rechtschreibung Hermann Kafkas Orthografie spiegelt zeitliche, regionale sowie individuelle und funktionale Besonderheiten seines Deutschs wider. So entspricht die Schreibweise von -c-, -th- oder -ß-l-s- wie in Princip, direct,™
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Kafka 1999, 637. In einem Brief an Elli Hermann, der im Januar 1924 geschrieben wurde. Vgl. dazu z.B. den Anhang zum Brief von Julie Kafka an Elli und Karl Hermann vom 1.8.1923. Binder 1979a, 153. Kafka 1974,60. Vgl. Anhang zum Brief von Julie und Hermann Kafka an Elli und Karl Hermann vom 24.3.1926. Diese sowie andere private in diesem Kapitel zitierte Briefe werden im Rahmen eines speziellen, der Öffentlichkeit unzugänglichen Bestands in der Bodleian Library Oxford aufbewahrt und mit der Erlaubnis der Bibliothek zitiert. Wagenbach 1991, 16. Vgl. Anmerkung 1 - 11/7/1882; 9/6/1882. - Vgl. dazu auch Korrespondenz und Akten der Prager Synagogen: Cantor Hirsch (20.7.1913)/Kantor Hirsch (21.5.1914) Function, Functionär in AHMP, ZNO, Karton Nr. 262; Copie, Concept, Cultusgemeinde (27.2.1893) in AHMP, ZNO, Karton Nr. 259; Kassencontrollor, Cassenführer, Inspector, Chorinspicient, Commissionen, Cantor/Kantor (2.5.1867) in AHMP, ¿NO, Karton Nr. 218; Protocoll, Capitel, Cultusgemeinde, Parcellen, Publicum (25.12.1893) in AHMP, ZNO, Karton Nr. 219; Cultusgemeinde=Repraesentanz (\2A. 1882) in AHMP, ZNO, Karton Nr. 261, u.a.m.
Tschechisch und Deutsch in der Familie Kafka
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theuer, thun, mittheilen, Theil, frohen Muthes, nöthig,79 ich mus/muß, daß im Sinne von ,das', daßselbe, (ich) weis80 u.a.m. dem damaligen Usus des geschriebenen Deutschs.81 Der regionale Aspekt macht sich bei der Verschriftlichung der Synkopen und Apokopen wie gehn, sorgn, Wiedersehen/Wiedersehn, Langweile, aufs Mündliche, da gibts, da gibts kein Protest, daß ich von mein[em] Alles auf der Welt geliebt werde, eu/1 sowie bei falschen Analogien wie könnenlernen und unaussprächlich83 und Schwankungen wie ich möchte/mochte/du mechts, glückselig! glucklich, hören/horen, mit grossier Sehnsucht!meine grösste Sorge84 bemerkbar, die die Entrundung der Vokale sowie das Fehlen der Rundung reflektieren dürften.85 Beide Merkmale kommen in den siid(west)böhmischen Dialekten des Deutschen vor86 (alle Beispiele stammen aus den „frühen" Briefen).87 Bei einigen der nicht umgelauteten Formen wie taglich88 usw. lassen sich Analogien zu Formen wie Tag usw. voraussetzen, wie sie auch in Abwesenheit/Abwesendheit89 nach ,abwesend sein' vorliegen. Andere schriftliche Besonderheiten sind dagegen kaum „hörbar" wie die Groß/Kleinschreibung wie einige Zeilen zu Schreiben, ich möchte gern mehr Schreiben, ich (konnte) nicht mehr Schreiben, oft Spazieren, u Baden", habe Vereinbart, ich Grüsse, ob Du recht fleißig Promenierst·, Nachts', es [ist] Dir Vorteilhaft, Persönlich, heute Früh; mein Vielgeliebtes Julchen, Lebe Wohl, von
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1/7/1882, 9/6/1882, 9/6/1882, 31/7/1882; 6/7/1882, 29/7/1882; 31/7/1882; 1/8/1882; 29/7/1882; 1/8/1882. - Vgl. dazu auch Korrespondenz und Akten der Prager Synagogen: Eigenthum (30.10.1881), Beirath (12.4.1882), Abtheilung (30.3.1886) in AHMP, ¿NO, Karton Nr. 261; Synagogenrath (2.5.1867) in AHMP, ¿NO, Karton Nr. 218, ertheilen, nöthig (25.12.1893) in AHMP, ZNO, Karton Nr. 219, u.a.m. 6/7/1882, 31/7/1882; 30/7/1882,30/7/1882, 1/8/1882, 1/8/1882,25/7/1882; 1/8/1882,31/7/1882; 1/8/1882. - Vgl. dazu auch Korrespondenz und Akten der Prager Synagogen: Hofzynagoge (14.5.1883) in AHMP, ZNO, Karton Nr. 261, u.a.m. Vgl. auch 2.1.1. 9/6/1882; 31/7/1882; 9/6/1882, 1/8/1882; 31/7/1882; 1/8/1882; 18/12/1917; 18/12/1917; 6/7/1882; 18/12/1917. - Vgl. dazu auch Korrespondenz und Akten der Prager Synagogen: Synagog (12.4.1882) in AHMP, ZNO, Karton Nr. 261, sowie 2.1.1.8. 9/6/1882; 9/6/1882. 11/7/1882; 9/6/1882; 9/6/1882; 11/7,26/7/1882, 6/7/1882. Könnenlernen ist auch in dem Brief von Julie Kafka vom 1.12.1925 belegt. Auf die falsche Analogie wirkt sich die Entrundung bzw. das Fehlen der Rundung bei Vokalen aus. Vgl. PovejSil 1980, 39f. - Vgl. dazu auch Korrespondenz und Akten der Prager Synagogen: Grossen= Hof-Sinagoge, Sinagoge (30.10.1881, 16.11.1890, 17.12.1890) sowie auch die große Hofsynagoge (21.12.1883) in AHMP, ZNO, Karton Nr. 261, u.a.m. Vgl. auch Wiesinger 1970, Karte 9. Im Hinblick darauf, dass die Tinte an vielen Stellen fast ausgeblichen ist, lässt sich die Möglichkeit, dass einige von diesen Beispielen in dieser Form erst „im Nachhinein" entstehen konnten, nicht ausschließen: in Ihren treuen schonen Augen (9/6/1882), Angehörige (1/8/1882, 6/7/1882), Geschäft (11/7/1882,25/7/1882). 11/7/1882. 9/6/1882;.30/7/1882.
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Ihnen auszahlen statt ,νοη ihnen auszahlen',90 die Getrennt-/Zusammenschreibung wie zuvernemen, ein Kleks mussein, michmacht, nachdem glückseligen Augenblicke, schreibe wie der, kann [...] zu rechnen,91 fehlende/überflüssige explizite Dehnzeichen wie vernemen, befielt, Warheit, Einmahl, wollwohl/Wohl, gezaltlbezaltlauszahlen, geth!geht/vergeht,92 vielleicht auch Verschriftlichung der artikulatorischen Assimilation mit den Fahr[t]en.93 Als mögliche Bohemismen ließen sich einige Trennungsbesonderheiten interpretieren. Einige der zusammengeschriebenen Wörter wie seligmachen (tschech. oblazit .selig machen') und besserwerden (tschech. lepsit se .besser werden')94 dürften wohl auch unter dem Einfluss des Tschechischen als eine Einheit wahrgenommen werden. Da Hermann Kafka die Verdoppelung der Buchstaben in der Regel durch einen Strich über den jeweiligen Buchstaben indiziert95 (z.B. Engelsstim=e), ließe sich das Fehlen der Doppelzeichen (Donerstag, imer, den[n\ daß ist, dan, inig/herzinigst/in meinem tiefmersten Gefühl, wil/so Gottwil/wollte, verpaken, könte/kan/kan=, Herman/Herrman=, ewig/ewwig, Sinen=f6 einfach als Schreibfehler verstehen, die auf Unachtsamkeit (so Sinen=) bzw. fehlende Übung im geschriebenen Deutsch, nicht aber auf die Unkenntnis des Deutschen insgesamt zurückzuführen wären. Schwankungen aller Art bzw. das Fehlen der Umlaute sind am ehesten Zeichen der Unsicherheit im schriftlichen Verkehr, bedingt durch den verhältnismäßig kurzen Bildungsweg von Hermann Kafka.97 Deutlich wird dies beim Vergleich mit Julie Kafka, bei der solche Schwankungen nur selten vorkommen. 90
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6/7/1882; 11/7/1882; 29/7/1882; 25/7/1882; 24/3/1926; 24/3/1926; 6/7/1882; 25/7/1882, 29/7/1882; 25/7/1882; 29/7/1882; 30/7/1882; 11/7/1882; 25/7/1882; 24/3/1926. 31/7/1882; 1/8/1882; 9/6/1882; 9/6/1882; 30/7/1882; 24/3/1926. 31/7/1882; 18/12/1917; 9/6/1882; 11/7/1882; 9/6/1882, 6/7/1882, 25/7/1882; 24/3/1926; 11/7/1882, 31/7/1882, 6/7/1882, 25/7/1882, 6/7/1882. - Vgl. dazu auch Korrespondenz und Akten der Prager Synagogen: Massnahmen (25.12.1893) in AHMP, ZNO, Karton Nr. 219, u.a.m. 6/7/1882. - Vgl. dazu auch Korrespondenz und Akten der Prager Synagogen: auj[f]ühren (25.12.1893) in AHMP, ZNO, Karton Nr. 219. 9/6/1882; 24/3/1926. Im Folgenden in den Belegen kodiert als: m= und n=. 29/7/1882; 9/6/1882; 30/7/1882; 24/3/1926; 9/6/1882, 9/6/1882, 9/6/1882; 25/7/1882, 30/7/1882, 14/3/1926; 1/8/1882; 9/6/1882, 24/3/1926, 6/7/1882, 24/3/1926; 9/6/1882, 6/7/1882, 11/7/1882, 25/7/1882, 29/7/1882, 31/7/1882, 30/7, 1/8/1882; 9/6/1882, 29/7/1882, 31/7/1882; 11/7/1918. Zur vergleichenden Stichprobe für das Tschechische benutzte ich einen der privaten Briefe von Herrn Kfemen, einem tschechischen Muttersprachler, an seine Frau und Tochter vom 22. 4. 1928 aus Velké Uherce (Privatbesitz von M. N ). In diesem Fall hatten beide Ehegatten die Bürgerschule besucht. Diese Stichprobe zeigt krasse Lücken in der Kenntnis der tschechischen Orthografie, die jedoch nicht die Unkenntnis des gesprochenen Tschechisch indizieren: Quantität: Vas, zobaji, nozu (statt nozu), ñkaji, ñkám, ñkala, lide, chleb, néni, jizva\ Palatalen/Jotation: dédine, mñe, stasine (ähnlich auch bei Hermann Kafka in 1., dagegen die Verwendung von i in den Gruppen -di-, -ti-, -ni- im Unterschied zu Hermann Kafka korrekt), jeste, ñeco, obédnaí; Trennung: i s[ ]autem, za celi (statt zacelí), jsi[-]li; Assimilation:
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Das ist offensichtlich auch der Grund, warum Hermann Kafka im Jahre 1882 wahrscheinlich zu einem Briefsteller griff. Die mechanische, unmotivierte Getrennt-/Zusammenschreibung wie michmacht, nachdem glückseligen Augenblicke, schreibe wie der, kann ... zu rechnen'8 dürfte jedenfalls die Vermutung stützen, dass die Briefe von Hermann Kafka aus einem Briefsteller" nur abgeschrieben bzw. nach Diktat geschrieben worden sein könnten. Diese Interpretation dürfte wohl bei dem Brief vom 9. Juni 1882 auch stimmen, gerade weil darin neben vergessenen Buchstaben (Warheit, wof) gleich mehrere Trennungsfehler vorhanden sind. Die Wortkargheit der sonstigen Briefe Hermann Kafkas kontrastiert geradezu auffallend mit den ungewöhnlich einfallsreichen Formulierungen, die er in dem Brief vom 9. Juni 1882 verwendet, in dem er seine künftige Frau zum ersten Mal schriftlich anspricht, vgl.: hochgeschätztes Fräulein, mein verehrtes geliebtes Fräulein, nie ein holdseligeres, liebenswürdigeres und edleres Wesen (als Sie), theures Fräulein·, inig, in meinem tießnersten Gefühl, seien Sie ... herzinigst tausendfach begrüßt, glückselig, englgleich, beseelt [...]; eine trübe Frage beschleicht meine trüben Gedanken. Damit stellt er eine Ausnahme unter Hermann Kafkas Briefen dar, die sonst auf Reisen entstanden sind, wo ja die Benutzung eines Briefstellers eher unwahrscheinlich erscheint. 1.2. Morphologie Die Anwendung der zeitgemäßen „vollen" Formen des Dativs -e und des Imp. Sg. -e {nachdem glückseligen Augenblicke, imper. schreibe100) durch Hermann Kafka, der sonst apokopierte und synkopierte Formen verschriftlicht, dürfte wenigstens bei dem Brief vom 9. Juni 1882 die Annahme stützen, dass bei dem ersten Brief an Julie Kafka ein Briefsteller benutzt wurde. Dafür, dass dies „kreativ" geschah, spricht der Infinitiv schmeich-len und versich-eren.101 Im Falle des Genusfehlers bei Princip (ich habe [?gegen?] meiner Princip geschrieben (11/7/1882) statt ,mein Prinzip') 102 lässt sich feststellen, dass es im Deutschen ein Neutrum, im Tschechischen dagegen ein Maskulinum ist. Die Beeinflussung durch das Tschechische ist zwar nicht ausgeschlossen, doch im Hinblick auf die „Exklusivität" des Wortes eher unwahrscheinlich. Im Falle, dass
98 99 100
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vspomínám, us, na schledanou\ Gräfe i/y: abis (2mal) labych, brzi, mislim, uslisela\ Vereinfachung konsonantischer Gruppen: ñákou (4mal, statt nêjaky), cen[n]é. Ähnliche Fehler finden sich auch bei Franz Kafka. Vgl. Wagenbach 1991, 16. 9/6/1882; 30/7/1882. - Vgl. dazu auch Korrespondenz und Akten der Prager Synagogen: vom Vorstande, zum Worte, unserem Vorstande, außer dem Bereiche (25.12.1893) in AHMP, ¿NO, Karton Nr. 219, u.a.m. 9/6/1882; 11/7/1882. - Die regelmäßigen Formen des Infinitivs sind als Analogien zum Infinitiv auf -en interpretierbar. Als solche liegen sie auch im Jiddischen vor; vgl. Lockwood 1995. Heutiger Stand von -ern vgl. Duden 1984, 118. Bei Kafka 1990b, 337 ein solches Princip. Die Form des Possessivpronomens .meiner' ist im Jiddischen in dieser Form vorhanden.
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man die von mir eingesetzte Präposition gegen gelten ließe, wäre an ein Femininum zu denken. Andere Fehler in der Konjugation (seit statt ,seid' 103 ) und Kongruenz (Euren l [ieben] Kinder [sind] sehr bravm) sind wohl orthografischer Art. 1.3. Syntax Das Zeugma in Hermann Kafkas Texten (Ich habe meiner Princip geschrieben statt eher sinngemäß ,ich habe gegen mein(e) Prinzip(ien) geschrieben' 105 ; da ich den Brief zum Zug den Hausmann übergeben muß (6/7/1882) statt eher ,da ich zum Zug muß, [um] den Brief dem Hausmann [zu] übergeben', wo ein Schreibfehler ,den Hausmann' statt ,dem Hausmann' bzw. ein Zeugma von ,j-m etw. übergeben' und ,an j-n etw. weitergeben'; und räumen Sie in Ihrem lieben Herzen mich mir ein kleines Plätzchen ein (9/6/1882), wo Konstruktionen ,j-m etwas einräumen' und ,j-n im Herzen einschließen' konkurrieren) 106 ist ein typisches Merkmal der gesprochenen Sprache, in der die Äußerungsperspektive oft verloren geht bzw. mitten im Satz geändert wird. Der Einfluss der gesprochenen Sprache ist auch am kontextbedingten Fehlen der obligatorischen Partizipanten ([ich] werde anfangen [, die Kästen] zu verpaken)[07 erkennbar. Auch die Wortfolge (da aber/man doch bereit sein muß oder geschrieben eher ,da man aber doch bereit sein muss'; meine grösste Sorge jetzt/ist die oder geschrieben eher ,meine grösste Sorge ist jetzt die'; Ich freue mich sehr/von Dir/liebes Julchen/auf Antwort)10* oder geschrieben eher .Liebes Julchen, ich freue mich sehr auf eine Antwort von Dir'), die Determination bei Eigennamen (von der Götzova, Der Herr Oberst, der Pribik)109 und die hypertrophe Anbindung des Nebensatzes (besonders auf daß, daß Du gesund und wohl Dich befindest110 statt .besonders darauf, daß Du Dich gesund und wohl befindest') deuten auf den Einfluss des gesprochenen Deutschs. Sowohl das Fehlen als auch die Verdoppelung der Satzglieder/Wörter (daß Du gesund [bist?] und wohl Dich befindest; welches nur mein Wunsch ist von Dir zu hören ist; u freue mich, Dich gesund und frohen Muthes Dich zu begrüßen·, Euren /[ieben] Kinder [sind] sehr brav)iU ist dabei einer der gravierendsten Fehler in Hermann Kafkas Texten, die für wenig Erfahrung mit geschriebenen (deutschen) Texten und ihrem inneren Aufbau (vgl. das fehlende Pronomen in 103 104 105
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24/3/1926. 18/12/1917. Nimmt man das Fehlen von gegen an, das im Bairischen mit dem Dativ kombiniert werden kann, wäre das Wort auch als Femininum denkbar. 11/7/1882. 1/8/1882. 1/8/1882; 6/7/1882; 5/7/1882. 24/3/1926; 18/12/1917; 24/3/1926. 6/7/1882. 6/7/1882; 29/7/1882; 18/12/1917.
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so mochte ich [sie nicht] versäumen)m und wenig Erfahrung mit komplizierteren Satzkonstruktionen (vgl. abhängiger Infinitiv in da ich den Brief zum Zug den Hausmann übergeben mußin statt eher ,da ich zum Zug muß, [um] den Brief dem Hausmann [zu] übergeben') sprechen. Ein direkter Einfluss der tschechischen Satzmuster ist bei Hermann Kafka dagegen nicht belegbar. So würde z.B. der Konstruktion Schade für die Spesenm im Tschechischen am ehesten eine einfache Genitiv-Konstruktion ,Skoda poplatkû' entsprechen. Auch die Subjektellipse ist kaum auf den Einfluss des Tschechischen als pro-drop-Sprache zurückzufuhren. In u werde morgen anfangen zu verpacken', kan= ich Dir nicht beantworten -. Und werde Dir es so Gottwil bald, wie im=er bin115 geht es um Subjekte in der 1. Person (Singular), auch die Wiederholung des Subjekts wirkt sich motivierend aus. Andere Beispiele erinnern zwar an einen Telegrammstil (Mein vielgeliebtes Julchen mir ist sehr bange, u kan= schon den Sonntag nicht erwarten·, Heute habe Kästen gekauft, Jedenfalls erbitte mir Anwort nach..:, Auch muß Dir mittheilen·, also habe sehr wenig Zeit', Dein Schreiben [...] habe heute erhalten undfreue mich)116, doch gibt es keine weiteren Merkmale, die in diese Richtung weisen würden. Da sich ähnliche Beispiele wie Das Neueste muß Ihnen mittheilen11 jedenfalls auch bei Julie Kafka finden lassen, über deren gutes Deutsch sonst kein Zweifel besteht, ist die Subjektellipse in den angeführten Fällen auf keinen Fall ein individuelles Merkmal des Deutschen Hermann Kafkas, sondern ein Merkmal des geschriebenen Deutsch in den Briefen dieser Zeit." 8 Nicht einmal in der Wortfolge ist der Einfluss des Tschechischen nachweisbar. Die Reihenfolge der pronominalen Objekte im Mittelfeld (und werde Dir es" 9 statt eher ,und werde es dir') entspricht zwar - im Falle der nicht aktualisierten Form - eher den Wortstellungsregeln des Tschechischen als des Deutschen (Akkusativ-Dativ: es dir), dieselbe ist jedoch auch im Bairischen, Jiddischen120 (Dativ-Akkusativ: dir es), mit spezifischer Betonung gar im gesprochenen Deutsch möglich. Auch die Wortfolge im Satz mit Futur (Daß wird werden ein freudiges Wiedersehn statt eher ,Das wird ein freudiges Wiedersehen werden')121 ließe sich zwar als tschechischen Wortstellungsregeln folgend deuten (Verbum
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11/7/1882. 6/7/1882. 11/7/1882. - Statt eher „Schade um die Spesen". 1/8/1882; 29/7/1882; 18/12/1917. 6/7/1882; 1/8/1882; 11/7/1882; 31/7/1882; 18/12/1917; 24/3/1926.
18/6/1882. Vgl. auch PovejiSil 1980, 39f. - Povejäil 1980, 108 weist fllr das 18. Jahrhundert daraufhin, dass die Auslassung des Subjekts in der 1. Pers. Sg./Pl. im damaligen Kanzleistil üblich war. Im 19. Jahrhundert wird das Fehlen des Subjekts in den Briefstellern dieser Zeit zum Teil „bekämpft", so dass die Benutzung eines Briefstellers seitens Hermann Kafkas fraglich ist. 29/7/1882. Zum Jiddischen vgl. Lockwood 1995, 133.
1/8/1882.
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finitum und Infinitum als eine Einheit gegenüber den anderen obligatorischen Gliedern), sie liegt jedoch auch im Jiddischen122 sowie im gesprochenen Deutsch 123 vor. Dass die Norm des gesprochenen Deutsch in Böhmen dennoch durch die Kontaktsituation mit dem Tschechischen mit geprägt wurde, spiegelt sich u.a. in der Verwendung des Relativpronomens was (die zwei Tage, was ich von Dir Abschied genom=en habe124 statt ,die zwei Tage, seitdem ich von Dir Abschied genommen habe'), das bei Hermann Kafka - ähnlich wie im Jiddischen bzw. ähnlich wie sein tschechisches Äquivalent co (was) - semantisch unscharf ist. Eher als Hermann Kafkas individuelle Interferenz ist dieses Beispiel als kollektiv verankerter Usus bei was zu interpretieren. Dies dürfte auch bei einigen anderen oben erwähnten Beispielen zutreffen. 1.4. Lexik Austriazismen (Kasten, pl. Kästen für .Schrank'; 125 Kinderl,126 Inwohner für „Mieter"), Kolloquialismen (Kleks, melden im Sinne ,sagen') und - stilistisch nicht immer geschickte - Professionalismen (einige Tage bei Dir, wo ich mir alles einbringen werde nach kaufmänn. .Geldforderung einbringen') zeichnen Hermann Kafkas Lexik aus. 127 Außer Anreden, Eigen- und Ortsnamen (s. oben) sind jedoch lexikalische Bohemismen in Hermann Kafkas deutschen Texten nicht vorhanden. 1.5. Zusammenfassung Hermanns Kafkas Deutsch ist keinesfalls frei von Besonderheiten, z.T. auch Fehlern. Die Besonderheiten sind auf die Zeit, den Raum und den gesprochenen Charakter seines Deutschs zurückzuführen. Die Zeit der Entstehung der Texte kennzeichnen Orthografie von -c-, -th- und -s-l-ss-l-ß-, „volle" morphologische Formen oder Satzgefüge mit welches. Der räumliche Aspekt ist an lexikalischen Austriazismen, Verschriftlichtung von Synkopen und Apokopen sowie an der fehlenden Rundung bzw. der Entrundung erkennbar. Den gesprochenen Charakter seines Deutschs markieren Erscheinungen wie das Zeugma, die Wiederholung von Satzgliedern, die spezifische Verbindung von Sätzen, das fehlende Subjekt, eine spezifische Wortfolge oder der Gebrauch des Artikels bei Eigennamen. Außerdem gibt es im Text Schreibfehler, die sich bei lautem Vorlesen nicht auswirken würden, d.h. für das gesprochene Deutsch irrelevant sind, wie Groß/Kleinschreibung, Getrennt-/ Zusammenschreibung, fehlende (Dehn-) Zeichen
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Vgl. Lockwood 1995, 135. Vgl. PovejSil 1980, 103ff. 11/7/1882. Ähnlich bei Franz Kafka; vgl. Thieberger 1979, 184. Kasten und Kinderl auch bair. 1/8/1882; 18/12/1917,24/3/1926; 24/3/1926; 1/8/1882; 24/3/1926; 11/7/1882.
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usw. Diese sind vor allem aus dem verhältnismäßig kurzen Bildungsweg Hermann Kafkas zu erklären. Nur einige wenige Wortformen und lexikalische Einheiten mögen den tschechischen Hintergrund Hermann Kafkas indizieren: Anreden, vielleicht auch mechanische Trennungen wie wie der statt wieder sowie besserwerden, seligmachen u.a., fehlendes Subjekt, fehlende/überflüssige Satzglieder, fehlerhafter Artikelgebrauch wie der statt das Prinzip, Wortfolge und Satzgefüge mit was. Der Einfluss des Tschechischen ist - wegen des beschränkten Materials - schwerlich als Resultat einer individuellen Interferenz nachweisbar. Die möglichen vorhandenen Bohemismen dürften auch mit Blick auf das Deutsche von Julie Kafka als kollektive Merkmale des Deutschen in Böhmen angesehen werden, die sich hier wohl über tschechische Muttersprachler eingebürgert hatten, die von ihren Sprachgewohnheiten im Tschechischen auch beim Benutzen des Deutschen Gebrauch gemacht haben (Aussprache, Artikel/Genusmerkmale, Wortfolge). Bei Hermann Kafka handelt es sich eher um Ausnahmen. Die Annahme, dass der Brief vom 9. Juni 1882 nach einem Briefsteller verfasst wurde, wofür sowohl die auffallende Länge dieses Briefes als auch dessen mannigfaltige Ausdrucksweise sprechen, ist kein Beweis dafür, dass Hermann Kafka das Deutsche nur ungenügend beherrschte. Briefsteller wurden in dieser Zeit gerade bei solchen Anlässen wie bei der Eröffnung des BriefVerkehrs besonders von ungeübten Briefschreibern benutzt und für diese auch produziert. Daher sind die „mechanische" Getrennt-/Zusammenschreibung sowie fehlende Zeichen im Falle des Briefes vom 9. Juni 1882 auch als Abschreibfehler zu deuten. Die anderen Briefe, die auf Reisen entstanden sind, sind weder in ihrem Umfang noch in ihrer stilistischen Mannigfaltigkeit mit dem Brief vom 9. Juni 1882 vergleichbar, doch sind sie - bis auf die wenigen oben genannten Ausnahmen, die die Benutzung des Briefstellers in Frage stellen - grammatisch, syntaktisch und lexikalisch durchaus korrekt.128 Das späte Deutsch Hermann Kafkas ist dann sicherlich sowohl durch subjektive als auch neue objektive Faktoren bestimmt. Das Tschechische spielte im normalen Leben in Prag - so besonders nach 1918 - eine immer wichtigere Rolle. Dies wirkte sich z.T. auch auf das Sprachverhalten in und gegenüber den Familien der Kinder von Hermann Kafka aus. Es ist aber fraglich, ob sich dies auch auf das Deutsch Hermann Kafkas negativ auswirken konnte. Denn die (wenigen kurzen) Texte, die von ihm überliefert sind, sind trotz der orthografischen Fehler und einiger Besonderheiten durchaus idiomatisch. Diese rühren vor allem vom gesprochenen, z.T. auch regional geprägten Deutsch her. Wenn sich etwas auf das geschriebene Deutsch Hermann Kafkas mit der Zeit negativ auswirken konnte, dann waren es Umstände, die nicht sozial, sondern eher subjektiv bedingt waren: Hermann Kafka übertrug nicht nur die private, sondern in frühen
128
Hilfe von anderen, wie in Wien in der Zeit vom 25. Juli bis 31. Juli vom Bruder „Phillip", ist unwahrscheinlich bzw. ohne Relevanz.
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Jahren auch die geschäftliche Korrespondenz und Buchführung an seine Frau Julie Kafka. Daher war er im aktiven Gebrauch des geschriebenen Deutschs nicht übermäßig bewandert. Außerdem dürften sein Gesundheitszustand (Schlaganfall) sowie sein Alter seine intellektuelle Flexibilität geschwächt haben. Insgesamt lässt sich feststellen, dass Wagenbachs Erklärung der sog. Fehler in den Briefen aus einer Dominanz des Tschechischen bei Hermann Kafka 129 durch die erhaltenen Texte nicht gestützt wird. Bezeichnenderweise sind keine tschechischen Briefe Hermann Kafkas erhalten geblieben. Wagenbachs These ist - wenn überhaupt - nur indirekt (Zeugnisse der Zeitzeugen), kaum aber auf Grund der Texte bzw. der Biografie zu halten.
2. Julie Kafka Julie Kafka, geb. Löwy (1854-1934), stammte aus Podëbrady, einer tschechischen Kleinstadt, auf das sich das von Franz Kafka zugeschriebene Puppenspiel Georg von Podëbrad bezieht.130 Seit 1877 lebte ihre Familie in Prag.131 An ihre Geburtsstadt sowie ihre Familie erinnert sie sich auch in der bekannten mit Bleistift geschriebenen biografischen Notiz aus dem Jahre 1931,132 Julie Kafka hat in Podëbrady ihre Ausbildung erhalten, wohl von einem Hauslehrer, denn eine deutsche Schule wurde in Podëbrady erst 1871 eingerichtet.133 Diese Ausbildung hat im Übrigen dem damaligen eher niedrigen „Standard für Frauen" entsprochen. Erst im Jahre 1890 wurde in Prag das erste Mädchengymnasium der Κ. K. Monarchie eröffnet. Die Ausbildung für Frauen konzentrierte sich bis zu dieser Zeit auf die praktische Führung des Haushalts, d.h. auch Fächer wie Rechnungsführung u.ä. Diese hat Julie Kafka zunächst auch im Familiengeschäft übernommen.134 Hermann Kafka lebte „seit 1880 bis zu seiner Heirat im Jahre 1882 [...] in dem Haus seines Cousins Angelus in der Platnergasse 13."135 Julie lernt er im Frühjahr 1882 kennen, denn in seinem ersten Schreiben an sie vom 9. Juni 1882 aus Tábor/Tabor leitete er „die Berechtigung zu diesen Zeilen [...] aus Ihrer gütigen Erlaubnis ab". Seinem Gruß schließt er die Bitte um eine Antwort sowie um ihre Fotografie an. Von Tábor soll er sich - laut seinem Schreiben - „in ca 6 Tagen" nach Pfsek begeben, wohin ihm die Post nachgeschickt werden soll. Ihr wohl erster erhaltener Brief, Antwort auf sein Schreiben, wurde am 18. Juni 1882 geschrieben. Da es in dem Brief heißt, dass an ihn auch Grüße der 129 130 131 132 133 134 135
Vgl. Wagenbach 1991, 16. Brod 1963, 19. Northey 1994, 16; laut Wagnerová 1997, 57 bereits seit 1876. In Bodleian Library Oxford , zitiert z.B. in Wagenbach 1991, 12-14. Wagnerová 1 9 9 7 , 5 6 . D i e Familie Kafka hatte allerdings auch einen Buchhalter, vgl. Kafka 1990b, 84. Wagnerová 1997, 62.
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lieben Eltern und Geschwister folgen würden und dass ihr Bruder, der gerade aus Paris angereist war, ihn kennenlemen möchte, hatte die Beziehung offensichtlich von Anfang an die damals erforderliche Verbindlichkeit. Am 6. Juli 1882 schreibt Hermann Kafka aus „Neustraschitz" und bittet um eine Antwort nach „Budín a/d Eger" (Budynë). Am 11. Juli 1882 schreibt er aus „Mseno" (Mäeno) und bittet um eine Antwort nach „Niemes b. Böh. Leipa" (Mimoñ). Ab Mitte Juli bis Anfang August 1882 weilt Hermann Kafka in Wien. Hier kauft er u.a. auch „Kästen", wohl für ihr Prager Geschäft, das im September 1882, nach der Trauung am 3. September 1882, am Altstädter Ring Nr. 929-1 eröffnet wurde. Vor sowie bereits bald nach der Geburt ihres Sohnes Franz am 3. Juli 1883 widmet Julie Kafka fast ihre ganze Energie dem neugegründeten Geschäft. So wird der kleine Franz vor allem der Obhut der Dienstboten überlassen. Im Geschäft und in ihrem Haushalt konnte sie sich sowohl auf Deutsch als auch auf Tschechisch verständigen. 2.1. Julie Kafkas Deutsch Julie Kafka hat ihre Briefe auf Deutsch und Tschechisch geschrieben. Erhalten geblieben sind Briefe an Hermann Kafka vom 18. Juni 1882, an Franz, Ottla (u. Irma) und Karl, Elli, Gerti und Felix Hermann aus den Jahren 1910 bis 1929, an das Kindermädchen Elvira Sterk aus den Jahren 1902 und 1903 u.a. Einige wurden auch gemeinsam mit Hermann Kafka geschrieben. Die tschechischen Textstellen in dem Brief an Elli und Karl Hermann vom 1. August 1923 bzw. in dem Brief an Ottla aus Pürstein aus dem Jahre 1925 sind an Frau Wemerová und Julòa gerichtet. Das idiomatische und differenzierte Deutsch von Julie Kafka, die sich in ihren Briefen keineswegs auf Pflichtgrüße beschränkt, sondern durchaus auch packend erzählt und - wie der Brief vom 1. Dezember 1918 zeigt - die Atmosphäre in der jungen Tschechoslowakei plastisch wiedergeben kann, zeichnet sich ähnlich wie Hermann Kafkas Deutsch durch spezifische Besonderheiten aus. 2.1.1. Rechtschreibung Die Orthografie von Julie Kafka ist vor allem durch Einflüsse von Zeit, Raum sowie durch Bildung und soziale Stellung gekennzeichnet. Die Verwendung von -c-, -th- und -ß-l-s- in Karte/Cor. Carien, Carton, Kusin, Paquet!Packet,™ thun, mittheilen, thun, mittheilen/Theil, irrthümlich, theuer, Thee131, daß (,das l ), dieß, dießmal, dießbezüglichldiesbezüglich, abßolut, Weichsel/Weichßelfleisch, Beiweiß (,Beweis'), Abwechßlung, Rätßel, Geheimniß, Ereigniß, Augenglaß, Speiß, Blumenstraus, wachßen, biß („bis"), geküsst
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20/7/1910; 20/11/1918.
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13/6/1910; 2/7/1917; März-April 1918; 6/7/1918; 24/3/1926; Dezember 1917; 18/12/1917; 20/11/1918.
20/9/1917;
7/11/1918
20/11/1918,
20/11/1918, 14/11/1918;
6/7/1918; 14/12/1917;
27/12/1926, 18/6/1882;
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und gegrüßt bzw. ausnahmsweise auch geküst und gegriist, (sie) last, must du/muste/müste, (ich) weis138 u.a. ist im zeitlichen Kontext zu sehen. Bei der Konkurrenz von -s-l-ss-l-ß- wird deutlich, dass die Wahl von -ß- [s] sich nach der Aussprache des Konsonanten, nicht nach der vokalischen Quantität richtet (Franz Kafka präferiert in diesem Falle -ss-). Julie Kafkas Orthografie entspricht insgesamt - so auch wie in Blouse/Bluse129 bzw. in gescheidtes Mädchen140 dem damaligen Usus deutschsprachiger Benutzer des Deutschen. Während das Fehlen von „Dehnungszeichen" bzw. die unterlassene Verdoppelung der Buchstaben (Kam[m], Zwieba[c]k, (ich) hoj[f\te, Herrschaften, intelligent, Himbe[e]rsaft, Bri[z]fe)w als übliche Schreibfehler wie in umsä[u]mt, begeister[t], abgeschickt], mi[t] dir, Jetz[t]142 bzw. als Reflex der Assimilation wie in eregtm aufzufassen sind und auch wegen ihrer Einmaligkeit nichts über die gesprochene Form des Deutschen aussagen müssen, ist es mit den „zusätzlichen" expliziten „Dehnungszeichen" (Kusienen, Wiederrede, erwiedert, unwillkührlig, Trähnen)144 und der fehlenden Rundung (wir wisten, gefrühstickt)145 deutlich anders. Das letztere dürfte als Reflex der fehlenden Rundung im Deutschen in Böhmen bzw. in oberdeutschen Dialekten aufgefasst werden. Deutlich wird dies auch im Falle von kennen/können bzw. kennenlernen/könnenlernen, das als falsche Analogie weiter verbreitet war (Felix kön=t schon alle Ziffern, damit er auch seine [...] Verwandte können lernt) U6 Was die sog. Verdoppelung von Buchstaben fur Konsonanten betrifft, spiegelt sie die Aussprachegewohnheiten der Vokale in Böhmen bzw. im süddeutschen Raum wider. Die kurze Aussprache von Killo/Kilo und Minuttew statt Kilo, Minute fällt mit der kurzen Aussprache von kilo und minuta im Tschechischen zusammen, in das diese wahrscheinlich über (süd)deutsche Vermittlung kommen. Beides ist als Resultat der Kürzung des betonten langen Vokals erklärbar.148 So ist z.B. auch die Orthografie von bestättigen, Kanape,
138
139 140 141 142 143 144 145 146 147 148
13/6/1910; 18/12/1917; 6/7/1918 (3mal); 12/7/1925; 29/3/1929; 18/12/1917; 1/8/1923; 12/7/1925; 24/3/1926; 9/8/1925; Buchh.; 12/7/1925; 2 7 / 1 2 / 1 9 2 6 ; 14/12/1917; 12/7/1925; Pürstein; 6/7/1918; 13/5/1925; 24/3/1926; 2 4 / 3 / 1 9 2 6 ; 2 4 / 3 / 1 9 2 6 ; 2 4 / 3 / 1 9 2 6 ; 1/12/1918; 2 4 / 3 / 1 9 2 6 ; 2 9 / 3 / 1 9 2 9 ; Dezember 1917; 18/12/1917; Pürs., 14/3/1926; 2 7 / 1 2 / 1 9 2 6 (2mal); 1/12/1918; Buchh.; 12/7/1925; Pürs.; Pürs.; Pürs.; 18/12/1917, 1/12/1918 (2mal), 12/7/1925, 14/3/1926, 2 4 / 3 / 1 9 2 6 (2mal); 14/11/1918, 13/6/1910. 14/12/1917. 13/6/1910. 20/7/1910; 24/8/1917; 18/12/1917; 13/5/1925; 1/12/1918; 6/2/1918; 14/3/1926. 14/3/1926; Buchh.; 27/12/1926; 29/3/1929; Pürstein, 9/8/1925. 1/3/1918. Pürs.; 2 4 / 3 / 1 9 2 6 ; 2 9 / 3 / 1 9 2 9 ; Pürs.; 2 9 / 3 / 1 9 2 9 . 12/7/1925; 14/3/1926. 18/12/1917; 1/12/1925. 20/9/1917, 1/12/1918, 6 / 2 / 1 9 1 2 , 2 7 / 1 2 / 1 9 2 6 , 2 0 / 1 1 / 1 9 1 8 ; 6/7/1918. D i e s e Kürzung kommt laut Skála 1 9 6 6 , 9 0 im Kleinseitner Deutsch vor.
Tschechisch und Deutsch in der Familie Kafka
401
nunn'49 statt bestätigen, Kanapee und nun zu erklären. Gerade im österreichischen Deutsch ist Kanapee am Ende betont. Süddeutsch geprägt ist auch die Schwankung Hausbrot/Bischofsbrod.150 Die Apokope {Speiszim=èr, heut, ausnahmsweise Euer treue Mutter, sonst Euere treue Mutter),151 besonders in unbetonten Endsilben in der 1. Pers. Sg. (ich schick), im Imperativ Sg. (schick),152 die Synkope im Infinitiv und Partizip (schickn, geh'n, steh'n, Wiederseh'n, geseh'n),153 in der Deklination der Adjektive (meiner jüngstn Tochter)154 u.a. sowie das Zusammenrücken der Enklitika mit den betonten Wörtern (wenn ich aber nicht weis, obs ankommt)^55 gehört zu wichtigen Merkmalen des gesprochenen Deutsch insbesondere im Süden, wo diese Formen auch verschriftlicht wurden. Die Besonderheiten in der Groß-/Kleinschreibung {Die Kinder sollen nicht schreiben, lieber Baden und Spielen, Morgen (.morgen'), Heute, Gestern, daß Erste, das Nächstemal)156 und bei der Getrennt-/Zusammenschreibung ( Weihnacht Feiertage)157 sind vom Umfang her im Vergleich mit denen von Hermann Kafka gering, wobei das bearbeitete Korpus der Texte von Julie Kafka wesentlich größer war. 2.1.2. Morphologie Julie Kafka tendiert zu „vollen" verbalen sowie nominalen Formen, die vollkommen zeitgemäß sind: So Imper. PI. -et (lasset, schreibet, küsset, gebet, lebet, kaufet)158 neben -t (schickt, lebt)159 und Imper. Sg. (lebe)160, 2. Pers. PI. Indik. Präs. (ihr habet/sehet),161 2.-3. Pers. Sg. Indik. Präs. von geben (du giebst, man giebt/gibt)162 bzw. Prät. von gehen (gieng)163 sowie Dat. Sg. (mit 149
Dezember 1917; 1/3/1918; 141/11/1918; 1/8/1923; 27/12/1926; 18/12/1917; 20/11/1918; Püis., 9/8/1925; 14/3/1926; 24/3/1926; 27/12/1926; 27/12/1926; 1/12/1918 (2mal), Buchh. (2mal), 12/7/1925 (3mal); 7/11/1918. - Vgl. dazu auch Korrespondenz und Akten der Prager Synagogen: bestättigt (12.4.1882) in AHMP, ZNO, Karton Nr. 261, u.a.m. - Bei Franz Kafka jedoch Kanapee (Kafka 1990a, 138,76), Lederkanapee (Kafka 1990b, 131,157). 150 2/7/1917; 29/3/1929. - Vgl. z.B. Povejäil 1980, 65f. 151 7/11/1918; 14/12/1917; 14/12/1917. 152 14/12/1917; 1/3/1918; 14/12/1917; 6/4/1918. 153 1/3/1918; 18/12/1917; 14/11/1918; 29/3/1929; 1/8/1923; 6/4/1918; 14/11/1918. 154 6/7/1918. 155 14/11/1918. 156 Buchh.; 13/6/1910; 1/3/1918; 6/7/1918; 20/11/1918; 6/7/1918; 29/3/1929. 157 14/12/1917. 15 * 14/12/1917; 21/12/1917, März-April 1918; 9/8/1925; 14/12/1917, 18/12/1917; 14/3/1926; 20/9/1917; 14/3/1926; 18/12/1917. - Die e-Erweiterung gilt als veraltet, in Österreich jedoch „zuweilen heute noch verwendet" (Duden 1984, 120), d.h. auch früher hier stärker vertreten. 159 14/12/1917; 9/8/1925. 160 Pürs., Buchh., 12/7/1925. - Laut Duden 1984, 116, 125 ist auch noch heute nur die Imperativform mit -e zulässig, bereits zu dieser Zeit sind jedoch apokopierte Formen üblich. 161 18/12/1917; 13/5/1925; 24/3/1926; 12/7/1925. 162 13/6/1910; Buchh., 24/3/1926. 163 14/3/1926.
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dem Rate, dem letzten Berichte, im Hause, am Lande, in Besitze, zu meinem 70' Geburtstage, Sehnsucht nach dem Eltnernhause, im Geschäfte, aus dem Geschäfte, in dem Briefe, nach seinem Besuche, Narbe am Bauche).!M Die Aussagekraft der Formen ohne -n im Plural bzw. im Dativ Plural165 und in der Kongruenz der Adjektive (Deine zwei Schwester[n]·, Von meinen lieben Eltern und Geschwister[ri\, von Vater und Kinder[n] Grüße\ deine diesbezügliche[n] Wünsche, seine zukünftigen näheren Verwandte[n])166 ist schwer einzuschätzen, da sie wahrscheinlich nur aus Versehen fehlen (wie Zeichen in umsä[\i\mt, begeistert], abgeschickt], mi[t] dir, Jetz[t] 167 usw.). Analogisch gebildet sind Imperative gebe statt gib, vergesse statt ν er giss.m 2.1.3. Syntax Neben einem Versehen wie dem Empfang bestättigen neben wo Du mir mein Schreiben bestätigst,169 das auf die fehlende Unterscheidung zwischen dem Dativ und dem Akkusativ beim Artikel im Oberdeutschen zurückzuführen ist, sind in Texten von Julie Kafka auch regionale („österreichische", „süddeutsche", „böhmische") und kolloquiale Konstruktionen vorhanden. Als kolloquial gelten Sätze, in denen kontextbedingt obligatorische Aktanten fehlen (Also folge [mir]; und da haben sie große Freude [daran]; Nächste Woche werde ich wieder [etwas] schicken·, Donnerstag werden es 4 Wochen [sein] was wir hier sind',170 so irrst du [dich] dennoch)171 bzw. in denen die kolloquiale (süddeutsch geprägte) Dublette gewählt wird (damit Du [etwas] auf [/ für] die Rückreise hast, Kan=e aufs Wasser!Flasche für Petroleum, Auf [/ für] Deine Größe, ist die Gewichtabnahme viel zu viel·, Am [/ auf] Lande', auf[/ für] einige Wochen zur Erholung in ein Sanatorium schicken', Vorbereitung zur [/ für] Franzens Reise', auf[l für] % Stunde spazieren gehen', keine Zeit zu einem solchen Briefe [/ für + Akk.]; ich freue mich mit der Nachricht [/ über + Akk.], Mit deinen l. Zeilen haben wir uns sehr gefreut (tschech. ,potëSit se + (s) [mit] + Instr. '); 164
165
166
167 16,1
169 170
171
20/11/1918; 12/7/1925; 12/7/1925; 9/8/1925; 14/3/1926; 24/3/1926; 29/3/1929; 2/7/1917; 1/12/1918; 18/12/1917; 1/12/1918; Pürs. Dativ Plural ohne -n auch im Süddeutschen (vgl. von Vater und Kinder Grüße, in Analogie dazu wohl auch wenn die Briefe in des Vaters Hände gekommen wären, 13/6/1910) sowie im Jiddischen; vgl. Lockwood 1995, 161 u.a. 13/6/1910; 18/6/1882; 6/4/1918; 27/12/1926; 1/12/1918. - Ähnlich auch in so hatte ich liebet] Franz Furcht (6/4/1918). 14/3/1926; Buchh.; 27/12/1926; 29/3/1929; Pürstein, 9/8/1925. 12/7/1925; 27/12/1926. - Ähnlich auch im Jiddischen; vgl. Lockwood 1995, 84. - In Prag sind süddeutsche Konjugationsparadigmen auch anderswo belegbar. Vgl. dazu auch Korrespondenz und Akten der Prager Synagogen: Obmann Herr Jos. Inwald... ubertragt das Referat Herrn Gottfr. Weltsch (25.12.1893) in AHMP, ZNO, Karton Nr. 219, u.a.m. Dezember 1917,1/3/1918; 14/11/1918. Im Tschechischen hat das Verb byt [sein] nur einfaches Futur budu [ich werde], das zugleich als Hilfsmorphem für das zusammengesetzte Futur (budu plavat ,ich werde schwimmen') füngiert. Ein Zusammenhang mit dem Tschechischen ist daher nicht ausgeschlossen. 13/6/1910; 18/12/1917; Buchh.; 1/8/1923; 6/7/1918.
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trotzdem er sich auf[l über] ihn ärgert (tschech. ,zlobit se na' [auf] + Akk.).172 Kolloquialität signalisieren auch Zeugma (Jetzt ist 5 Uhr und habe ich mit dem l. Vater und Onkel Siegfried Verabredung und [wir werden] uns ins Lesezim=er zu treffen nach ,sich irgendwo treffen' und ,sich irgendwohin begeben') 173 und der - im Tschechischen besonders frequentierte - freie Dativ mir. Mit dem Rate [...] habe ich es dir ganz gut gemeint; Grüßt mir auch herzlich Fräulein Werner; grüße mir die lieben Kinder.174 Auch die Subjektellipse, besonders in der 1. Pers. Sg. wie in Brot hatten wir nicht & werde Dir,... haben wir erhalten undfreute mich sowie und bleibe Deine Dich liebende Mutter,115 gehört zu den Merkmalen des gesprochenen Deutschs bzw. wird anders motiviert: durch Koordination des Subjekts (Du wirst von uns allen gerne geseh'n. Bekommst auch wieder dein kleines Zim~er\ Ich hoffe mich in Franzensbad zu erholen, habe es schon sehr notwendig gehabt; ich habe ihn so viel als mir möglich war unterstützt, habe den Diener von Löwy zu seiner Reise nach Pest gemietet...', Wir hatten schon große Sorgen, da die letzte Karte am 30/XI datiert war, [und da wir] also 16 Tage keine Nachricht von Euch hatten; Dr. Fleischmann haben wir telefonisch angefragt, er hat aber noch keinen Bericht und werden ihn in einer Woche wieder anrufen)176 oder Telegrammstil (Wir sind besorgt, weil keine Nachricht von Euch haben)}11 Doch in den Beispielen wie Das Neueste muß Ihnen mittheilen; Diese Woche werde trachten; Vorgestern hat uns die l. Vally mit Peppo besucht und sind gestern bzw. auch Daß dort genug Son-e ist; und wenn kalt ist; daß es dir & den lieben Kindern gut geht & und gut aussehet178 lässt sich der Einfluss des Tschechischen als prodrop-Sprache nicht ausschließen. Da ähnliche Formen auch bei Hermann und Franz Kafka sowie Max Brod u.a.m. vorkommen, scheint dies jedenfalls ein kollektives, nicht ein individuelles Phänomen zu sein. Andere Auslassungen sind dagegen als Versehen beim „fließenden" Schreibvorgang einzuschätzen und zwar auch im Hinblick darauf, dass ähnliche Formeln oder Sätze sonst korrekt benutzt werden: Ich hoffe Dich in Zürau glücklich angelangt und wieder Deiner ländlichen Beschäftigung nachgehend [zu wissen], die [Decke] welche ich jetzt schicke überziehen), Nunn leben [ Sie?] wohl und seid umarmt [von] Euerer treuen Mutter179 // lebt wohl und seid umarmt von Euerer treuen Mutter. Anders bei und da gestern noch der Dr. Rezek Véra angeschaut
172
173 174 175 176 177
20/7/1910; 14/12/1917; 14/12/1917; 6/7/1918; 9/8/1925; 14/11/1918; 1/12/1918; 27/12/1926; 1/12/1918; 20/9/1917; 27/12/1926; 24/3/1926. 14/3/1926. 20/11/1918; 14/3/1926; 12/7/1925. 2 0 / 1 1 / 1 9 1 8 ; 2 0 / 1 1 / 1 9 1 8 ; 24/8/1917. 14/11/1918; 6/7/1918; 12/7/1925; 18/12/1917; 1/3/1918. 18/12/1917.
178
18/6/1882; 6/2/1918; 9/8/1917; 2/7/1910; 12/7/1925; 12/7/1925.
179
9/8/1917; Dezember 1917; 18/12/1917.
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[hat] sagte er, daß [...]180 wo das Fehlen des Hilfsverbs als ein Merkmal des (geschriebenen) Österreichisch gesehen werden darf. Im Bereich der Wortfolge gibt es bei Julie Kafka fast keine nennenswerten Besonderheiten. Nur die Wortfolge nach der Konjunktion und entspricht der nach den Konjunktionaladverbien wie in und läßt er; und ist mir ein Stein vom Herzen gefallen; Jetzt ist 5 Uhr und habe ich mit dem l. Vater und Onkel Siegfried Verabredung und uns ins Lesezimmer zu treffen; & bitte ich dich meine Worte zu \ und wären wir froh; und haben wir heute Rest Schinkenflickel, und haben wir uns schon daran gewöhnt; den Brief haben wir erhalten und freut es uns; wir alle freuen uns [...] und sandte ich; dagegen auch: Jetzt wird bei uns inventiert & ich bin nicht dabei; und ich kann mir denken.181 In einigen Fällen macht sich außerdem der Verlust der Äußerungsperspektive bemerkbar, der für die gesprochene Sprache typisch ist: Die frühere Adresse habe ich vom Onkel angegeben}*2 Das Setzen des Artikels ist bei Julie Kafka in einigen Fällen als fehlerhaft bzw. kolloquial zu bezeichnen: so der Nullartikel vor dem Superlativ, der Artikel vor dem sächsischen Genitiv u.a.: ([die] größte Kalamität ist mit der Kohle, Vorbereitung zur Franzens Reise, Auch schicke ich Euch [einen] vollen Kübel Petroleum', ein junges Mädchen, die noch gar keine Erfahrung hat.m Auch der bestimmte Artikel vor Eigennamen und Titeln (Darum schick ich Heute den Karl, den Dr. Kräl fragen, bei der Stüdl in Schelesen, der Dr. Rezek, dem Fräulein Werner, für den Franz, das Fräulein Stüdl)m kennzeichnet den kolloquialen Charakter des geschriebenen Deutschs von Julie Kafka. Die unkontrahierte Kombination der Präposition mit dem Artikel ((wir) schlafen in dem Zim-er)XK sind dagegen auch in privater Korrespondenz noch häufiger belegbar. Die Fälle, wo der Artikel nach der Präposition (vor allem nach den Präpositionen in, von) fehlt (In Besitze, in Mai, Stein von Herzen),186 ließen sich als Einverleibung (Assimilation) des oberdeutsch geprägten (unbetonten) Artikels in die Präposition interpretieren, die in deutschen Texten bairischer Muttersprachler beim Substantiv ohne Attribut vorliegt.187 Gewisse Besonderheiten sind auch auf der Ebene der Satzverbindung zu verzeichnen. Als eher kolloquial gilt die ausnahmsweise benutzte Kombination von Präposition und Relativpronomen wenn du schreiben würdest, auf was du 180 181
182 183 184 185 186 187
Buchh. 14/12/1917; 18/12/1917; 14/3/1926; 6/7/1918; 1/8/1923; 6/2/1918; 7/11/1918; 29/3/1929; 6/7/1918; 1/12/1918. 14/3/1926. - Für das Jiddische vgl. Lockwood 1995, 133f. 18/12/1917; 1/12/1918; 14/12/1917; 6/7/1918. 1/3/1918; 14/11/1918; 14/11/1918; Buchh.; Buchh.; 1/12/1918; 1/12/1918. 14/11/1918. 14/3/1926; 29/3/1929; 18/12/1917. Zum Bairischen vgl. Zehetner 1985, 112. Auf das Bairische deutet auch die fehlende Unterscheidung zwischen dem Dativ und Akkusativ beim Artikel wie in dem Empfang bestätigen (Dezember 1917, 1/3/1918).
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Appetit hast sowie des semantisch unscharfen Relativadverbs wo in Deinen l.
Brief haben wir erhalten, wo Du mir mein Schreiben bestättigst.m Die Frequenz des Relativpronomens welcher (Gans für welche..., Brot, welches..., die [Decke] welche; daß Spiel, welches; Fleisches, welches usw.)189 ist eindeutig höher als die des Relativpronomens der. Die Konjuktion trotzdem im Sinne von ,obwohl' wird - wohl mit Unrecht - als Element des Prager Deutsch bewertet.190 Julie Kafka benutzt parallel auch die Konjunktion obzwar: ist uns sehr bange trotzdem
unsere Mispoche unberufen genug vertreten ist; Hahicka sehnt sich nach ihren Kusienen, trotzdem hier viele Kinder sind; wie er ihm, trotzdem er sich auf ihn ärgert folgt; Trotzdem wir Euch und die lieben Kinder sehr gerne sehen würden, müssen wir Euch von einem Besuch dringend abraten neben keinen Brief bekommen, obzwar ich Euch angefragt habe; obzwar sie Dasinka heißt, nennt sie der Vater Vëruska.m Das Satzgefüge mit was (Gestern waren es 8 Tage, was ich mit der l. Vally in Franzensbad weile; Don=erstag werden es 4 Wochen [sein] was wir hier sind)m im Jiddischen und Tschechischen.
ist als süddeutsch einzuordnen mit Parallelen
2.1.4. Lexik Die Lexik zeichnet sich aus durch Austriazismen, Kolloquialismen, in familiärem Kontext gebrauchte Professionalismen sowie Ausdrücke, die sich als Bohemismen deuten ließen, wobei es unklar bleibt, inwieweit diese auf die individuelle Interferenz oder auf die Gruppensprache (der Deutschen in Prag/Böhmen) zurückzuführen sind. Einige sind einfach als Austriazismen zu identifizieren: Abmeldezettel (polizeiliches Ab- /Anmeldeformular), Bäckerei, -en (süßes Kleingebäck), Ein-
brenn (Mehlschwitze), Erdäpfel neben Kartoffeln, {der) Gehalt (Lohn), Jäner, Nachtm[al]/Nachtmahl, Pischengertorte, (der) Polster (das Polster),
recomandiert,
Rindsfett,
Selchfleich/geselchtes
Fleisch,
Schinkenflickel
(Schinkenfleckeln), Spagat, Speiß (Speisekammer), Striezen (Striezel), Weichsel/Weichßelfleisch, Wunschbrief (Gratulationsbrief), Wurstel}93 Andere Wörter lassen sich zwar kaum als Austriazismen bezeichnen, doch wurden sie
188
2/7/1917;14/ll/1918. Dezember 1917; 20/9/1917; Dezember 1917; 18/12/1917; 1/3/1918. 190 Z B Thieberger 1979, 188f. u.a.; Krolop 1992, 54 stellt dagegen in Frage, ob dies als Austriazismus gelten kann. Trotzdem mit der Bedeutung „obwohl" ist u.a. auch in deutschen Dialekten in Böhmen (Friedland) vorhanden. 191 Pürs.; Pürs.; 24/3/1926; 9/8/1925; 1/3/1918; 9/8/1925. 192 6/7/1918;l/8/1923. 193 14/ll/1918;6/4/1918, 13/5/1925:20/11/1918; 13/5/1925, 20/11/1918; 6/4/1918; 18/12/1917; 14/3/1926, 1/12/1918; 27/12/1926; Dezember 1917; 6/7/1918; 2/7/1917; 6/2/1918, 1/3/1918; 6/2/1918; 14/12/1917; 1/12/1918; 14/12/1917; 7/11/1918, 1/12/1918; Pürstein, Pürstein; 24/3/1926; 1/3/1918. - Einbrenn, Erdäpfel. Gehalt, Jänner, (der) Polster, Selchfleisch, Speiß, Würstel bair., Spagat stlddt. 189
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im süddeutschen Raum194 häufiger benutzt bzw. - auf jeden Fall von Julie Kafka - gegenüber synonymen hochsprachlichen/neutralen Ausdrücken präferiert: Jetzt haben wir täglich zweimal Spielchen arangiert, von den avisierten (angekündigten) Sachen, erkühlen/verkühlen/Verkühlung (erkälten, Erkältung), biß Früh (bis morgen), (wir) freuen uns herzlich, daß.195 Zu den lexikalischen Besonderheiten gehört auch die höhere Frequenz von Diminutiven, die für das Wiener Deutsch auf den intensiven Kontakt mit den slavischen Sprachen zurückgeführt wird,196 auch wenn bei Julie Kafka vorhandene Beispiele Enkerl, Mäderl·, Tischchen, Paquetchen, Spielchen197 nicht für das österreichische Deutsch spezifisch sind. Als lexikalischer Bohemismus konnte neben den Anreden z.B. die Wendung denn wir haben jetzt alles [=MöbeI im Zimmer] überstellt198 statt umgestellt interpretiert werden. Den kolloquialen Charakter des geschriebenen Deutsch von Julie Kafka unterstreicht neben den Wörtern und Wortverbindungen wie bißchen närrisch, den Kopf am rechten Fleck, Fressware, Großmama, recht bald/warm/oft/gut/ neugierig, riesig ärgern199 auch die Verwendung von Partikeln wie in jetzt kann man doch nicht gar zu weit fahren, sonst geht es uns allen ganz [gut], Franz geht es so ziemlich?00 Die Sprache von Julie Kafka ist im lexikalischen Bereich im besonderen Maße durch die Familiengeschichte geprägt. Ich denke hier an im familiären Kontext gebrauchte geschäftliche Ausdrücke (Jetzt wird bei uns inventiert, in Verlust geraten, denn auch in Prag haben [wir] von diesem Artikel [=Sonne] starken Überfluß),201 Zeichen und Abkürzungen (von Franz & Vater, & bleibe Deine treue Mutter, Ich grüße & küsse Dich, Jetzt haben wir täglich zweimal Spielchen arrangiert und zwar spielen wir, ich & Vater mit Beiden daß Spiel, welches du Felix gekauft hast)202 Spezialausdrücke, die mit der Krankheit des Sohnes zusammenhängen (Kostschmerzen, Mastkur),203 einige wenige jiddische Ausdrücke (Mischpoche/Mispoche, Weichßelfleisch) sowie Ausdrücke, die eine Assimilierung des böhmischen Judentums signalisieren (Weihnachts 1,4
195
1,6 197 198
Vgl. dazu auch Korrespondenz und Akten der Prager Synagogen: Werketage ( 3 0 . 1 0 . 1 8 8 1 ) in A H M P , ZNO, Karton Nr. 261, Stimmenberechtigung (2.5.1867) in AHMP, ¿ N O , Karton Nr. 2 1 8 , u.a.m. 18/12/1917; 18/12/1917; März-April 1918, 12/7/1925, 2 7 / 1 2 / 1 9 2 6 ; 14/3/1926; 13/5/1925, 27/12/1926. - Zu Verkühlung vgl. auch Thieberger 1979, 184. In Janko/Siebenschein 193940/11 beschreibt man in diesem Kontext die Bedeutung von herzlich als ,sehr'. Vgl. z.B. Dressler/Barbaresi 1994. 14/3/1926, Buchh.; Pürs.; 14/3/1926; 29/3/1929; 18/12/1917. 14/11/1918.
199
13/6/1910; 13/6/1910; 6/2/1918; 29/3/1929; 6/2/1918; 7/11/1918; O.A., März-April 20/11/1918; 9/8/1925; 1/12/1918; 13/6/1910.
200
14/11/1918; 20/11/1918; 7/11/1918. 6/7/1918; 24/3/1926; 2/7/1917. 2/7/1917; 13/6/1910; 9/8/1917; 18/12/1917. So auch kaufmännische Abkürzungen für .durch' sowie ,per' in den Briefen vom 6 / 4 / 1 9 1 8 , 2 0 / 1 1 / 1 9 1 8 , Buchh. 7/1 1/19 1 8 ; 20/11/1918.
201 202
203
1918;
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Feiertage),204 aber auch Sommerfrische, gespeist?05
sozial differenzierende Ausdrücke:
Chais-long,
2.1.5. Zusammenfassung Das Deutsche von Julie Kafka trägt alle wesentlichen Merkmale des Deutschen ihrer Zeit: Orthografie von -c-, -th- und -s-/-ss-/-ß-, „volle" Formen besonders im Dativ (im Geschäfte), Imperativ (lasset), in der 2. Pers.Pl. (ihr habet) u.a., Präferenz des Präteritums vor dem Perfektum beim Erzählen,206 relativ hohe Frequenz des Relativpronomens welches u.a. Regional geprägt ist ihr Deutsch vor allem im Bereich der Lexik. Hinzu kommen auch weitere Phänomene wie die Aussprache von Killo, Minutte, Kanape sowie gefriistickt, und können [ken'n], Verschriftlichung der Synkopen und Apokopen, relativ hohe Frequenz der Diminutive, Fehlen und Fehlsetzung des Artikels, vielleicht auch die konzessive Satzverbindung mit trotzdem u.a. Bohemismen sind eher selten: Anreden, Ortsnamen, Zitatwörter, semantische Verschiebungen wie im Falle überstellen, fehlendes Subjekt, semantisch unscharfe Verwendung des Relativpronomens was. Deutlich jedoch im Bereich der Satz- und Phrasenstruktur. Dagegen lässt sich in dem gegebenen Korpus die angeblich höhere Frequenz des Konditionals 207 in Böhmen gegenüber dem Konjunktiv nicht bestätigen. Der kolloquiale Charakter ihres geschriebenen Deutschs ergibt sich aus der Lexik, fehlenden Subjekten, bestimmten Artikeln bei Eigennamen, spezifischer Wortfolge, unscharfer Verwendung des Relativadverbs wo u.a. 2.2. Julie Kafkas Tschechisch Julie Kafka hat tschechisch nicht nur gesprochen, obwohl sie dies bei komplexeren Themen und Gesprächen wohl eher anstrengte,208 sondern auch - in einfacher Form - geschrieben. Neben in verschiedenen Briefen verstreuten Bohemismen (vor allem Eigen- und Ortsnamen), gibt es auch zwei kurze Texte in den Briefen an Karl und Elli Hermann sowie Marie Wernerová und an Ottla David sowie Julôa vom 1. August 1923 und Ende Juli bis Anfang August 1925. Auch diese Briefe können hier nicht reproduziert werden, und der Leser muss sich wiederum nur mit einer Zusammenfassung begnügen. In einem Haushalt, in dem tschechische Ammen und Kindermädchen die Kinder erzogen, haben sich tschechische zärtlich liebevolle Anreden eingebürgert, die auch den BriefVerkehr bestimmen: Liebste Ottilko!, Liebste Otilko! und Liebe 204
12/7/1925; Pürs.; Pürstein; 14/12/1917.
205
Buchh.; 9 / 8 / 1 9 2 5 , 2 9 / 3 / 1 9 2 9 , 12/7/1925, Buchh.; 14/3/1926. 13/6/1910, 2 0 / 9 / 1 9 1 7 , 18/12/1917, 6/4/1918, 6/7/1918, 2 0 / 1 1 / 1 9 1 8 , 13/5/1925, 14/3/1926, 24/3/1926, 2 7 / 1 2 / 1 9 2 6 , 29/3/1929.
206
207
So z.B. in Cermák 1997, 282.
208
Vgl. Binder 1969, 537.
1/12/1918,
Buchh.,
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Ottilko! bzw. Liebste Ellynko! und Liebe Ellynko209 die Julie Kafka bei der Anrede ihrer Töchter benutzt. Neben den tschechischen Formen der Namen ihrer Kinder benutzt sie die tschechischen Namen der Verwandten und Bekannten (bei Enkelkindern und anderen Kindern diminutiv - Veruäka, HaniCka, Helenka, Pepiöek, DaSenka) sowie die tschechischen Ortsnamen: SI. Otila Kajkovä, u pi Hub, Véra, Vëruska, Hañicka, Helenka, Pepa, Peppa, Pepo, Peppo, Pepicek (statt , Pepicek'), Dasinka (statt eher ,Dá§enka'), Juica, Marka, Sladky, Julie Kafkova, Praha/Staroméstské nâmësti, Strakoñitz, Prachat'itz.2I° Nur ausnahmsweise kommen in den deutschen Texten andere Bohémica vor: Lieblings-„Bäckerei" Vlaské pecivo2U statt richtig ,vla5ské peöivo', ein Familienkinderspiel namens Tisek oder eher noch Pisek,212 die Form Mispoche gegenüber Mischpoche.m Es fällt auf, dass die letzten Beispiele einen starken privaten, familiären Bezug haben. Bereits bei den in deutschen Texten verstreuten Bohemismen wird deutlich, dass Julie Kafka nicht gelernt hat, das Tschechische zu schreiben. Weniger weil sie die Häkchen und Dehnzeichen vergisst ( Vlaské pecivo, Dasinka, Pepicek), sondern weil sie nicht weiß, dass das palatale t-, d-, ñ- vor -i ohne Häkchen geschrieben wird (Hañicka statt richtig ,Haniöka', Prachat'itz statt ,Prachatitz' bzw. ,Prachatice', Strakoñitz statt ,Strakonitz' bzw. .Strakonice') - immerhin eine der elementarsten Regeln der ersten Volksschulklasse. Diese Tendenz macht sich auch in den zwei erwähnten tschechischen Texten bemerkbar: 214 ν prádelñiku, nie, domovñici, nestrat'ilo, uklidit, ñej. Daneben gibt es in ihrem Tschechisch Fehler in der Kennzeichnung der Quantität: zustávam, vyborné, Kaflcova; od nasi statt ,na§i';yzz statt ,jiz', dóbre statt ,dobfe'. Das letzte Beispiel fällt dadurch auf, dass sich darin die „deutsche" Aussprache des Tschechischen (Betonung auch durch Dehnung des Vokals ausgedrückt) reflektiert. Außerdem lässt sich in diesen Texten die Tendenz zur Vereinfachung konsonantischer Gruppen feststellen, die für die tschechische Umgangssprache typisch ist und die sich bei einem ungeschulten Schreiber auch in der geschriebenen Sprache wiederfinden lässt: jesli statt jestli', vemete statt .vezmete'. Die andere Seite der Medaille sind die hyperkorrekten Formen jsi/jse, in denen das Reflexivpronomen se/si in Analogie zum Hilfsverb jsi [si], jsem [sem],y'57we [sme], jsou [sou] falsch geschrieben wird: vede jse, nechte jsi, vemete 209
9/8/19 1 7 ; 24/8/1917; 6/7/1918; 14/9/1918; 20/11/1918; 1/12/1918; Juli-August 1925; 20/7/1910, 13/5/1925; 9/8/1925; 20er Jh.; 1/8/1923.
210
7/11/1918; Pürs., Buchh.; 9/8/1925 (2mal), Pürs., Buchh.; 24/3/1926, Pürs., Buchh.; Pürs.; 1/8/1923, 9/8/1925; 1/8/1923; 1/8/1923, Pürs. (2mal); 9/8/1917, 12/7/1925 (2mal), Pürs.; 6/7/1918; 9/8/1925; Pürs.; 1/8/1923; 24/3/1926; 27/12/1926; 1/8/1923; 29/3/1929.
211
27/12/1926. 18/12/1917.
212 213
Pürs., 12/7/1925.
214
In den Briefen v o m 1. August 1923 und Ende Juli-Anfang August 1925.
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jsi. Es ist aber davon auszugehen, dass derselbe Text von Julie Kafka in dieser Hinsicht phonetisch einwandfrei gesprochen/gelesen worden wäre. So auch im Falle der Setzung von y statt i und umgekehrt: bratrowy (statt bratrovi - Dat. Sg.), zotavily (statt -li), mi (statt my)215 bzw. von w statt ν in bratrowy,216 sowie im Falle der falschen Trennung: takjsi II tak jsi (akustisch nicht relevant, da jsi ein Enklitikon ist). Auch die Niederschrift des Wortes nestrat'ilo, die mit seiner semantisch begründeten Orthografie mitratilo kontrastiert, würde wegen der regressiven Assimilation bei der akustischen Realisierung desselben nicht auffallen. Der Eindruck, dass es sich hier - bis auf Akzentuierung/Quantität - um akustisch absolut einwandfreie Texte handelt, wird auch durch ihre Grammatik und Lexik unterstrichen. Der Umfang ihrer erhaltenen tschechischen Texte ist zwar nicht groß, doch bei 17 Verben findet sich kein Aspektfehler, die drei Personen werden im Singular und Plural richtig benutzt (Julie Kafka benutzt gegenüber Marie Wemerová die V-Anrede in der 2. Pers. Pl., wie dies das Tschechische, anders als das Deutsche mit der 3. Pers. Pl., verlangt). Die Verben werden in allen drei Zeitformen (Präteritum, Präsens, Futur) sowie in allen drei Modi (Indikativ, Konditional, Imperativ) richtig angewandt. In der 1. Pers. PI. Indik. Präs. benutzt Julie Kafka neben den korrekten auch umgangssprachliche Formen (pozdravujeme/pozdravujem), die in der privaten Korrespondenz auch bei tschechischen Muttersprachlern - wie zum Beispiel dem Schriftsteller Jakub Demi 217 - verbreitet sind. Im Infinitiv präferiert sie umgangssprachliche Formen auf -t statt -ti2li (dät, uklicfit) bzw. -et statt -ci (pomoct). Die Substantive bzw. auch Adjektive sind im Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Vokativ, Lokal (Sg./Pl.) belegt. Es fehlt nur der Instrumental. Alle Formen sind korrekt, die Endung od domovnici statt ,od domovnice' ist da umgangssprachlich. Neben der Orthografie und Morphologie zeigt sich die Umgangssprache auch in der Lexik: umgspr. ν sufleti (vom dt. ,Schublade') statt neutral ,v zásuvce', ν kredenci (vom bair./dt. veralt. ,Kredenz'/dt. ,Küchenschrank') statt neutral ,ve skleniku', umgspr. Marka (dim. von ,Mari', veralt. Variante zu ,Marie'). Die Sätze sowie die Texte sind korrekt tschechisch gestaltet. Sie fallen nicht einmal durch ihre Wortfolge auf.
215 216 217 218
Im Tschechischen beides als [i] ausgesprochen. Hier zeigt Julie Kafka eindeutig, dass das Deutsche ihre Erstsprache sowie Schriftsprache ist. Vgl. Nekula 1998c; Demi 1998. Vgl. dazu.z.B. Gebauer 1902a und b.
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3. Zweite und dritte Generation219 Die (kleinen) Unzulänglichkeiten im Tschechischen, die man in den Texten von Julie Kafka feststellen kann, sind eher den Zeitumständen als biografischen Besonderheiten zuzuschreiben. In Böhmen wurde nämlich erst ab Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts allmählich ein Schulsystem eingerichtet, das Tschechen und Deutschen eine natürlichere intellektuelle Entwicklung und den Zugang zu der jeweils anderen Sprache und Kultur ermöglichte. Diese Möglichkeit nutzte - von den Eltern unterstützt - erst Franz Kafka. In der deutschen Volksschule hatte er in der 3. und 4. Klasse Tschechisch als Unterrichtsfach, auf dem deutschen Gymnasium widmete er sich dem Tschechischen - von einem halben Jahr abgesehen - ganze acht Jahre. Doch nicht nur er, ein Drittel bis die Hälfte der Klasse machte es ebenso. Im Tschechischunterricht lernte er nicht nur die tschechische Orthografie, schulte er nicht nur seine Fähigkeiten, selbst tschechisch zu schreiben oder sich mit anspruchsvolleren tschechischen Fachtexten auseinanderzusetzen, sondern gewann auch Einblick in die tschechische Literatur und Kultur. Er hinkte in dieser Hinsicht den Abiturienten tschechischer Gymnasien nicht hinterher. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass ihn das Jahr 1918 und die Veränderungen in der Stellung des Tschechischen und des Deutschen in den staatlichen und halbstaatlichen Institutionen nicht aus der Bahn warfen und er - von krankheitsbedingten Unterbrechungen abgesehen - seine Arbeit in der Versicherungsgesellschaft auf leitendem Posten fortfuhren konnte. Seine Kollegen, denen das Tschechische weniger vertraut war, mussten die Institution - auch in Hinblick auf die Tschechischprüfiing, die Angestellte staatlicher und halbstaatlicher Einrichtungen erwartete - , verlassen. Kafkas Generation konnte ihre Sprachgewohnheiten nach 1918 kaum radikal ändern. Auch Franz Kafka sprach natürlich mit seinen Eltern und seinen Geschwistern weiterhin Deutsch. Doch kam es durch den sich verändernden Kontext bei der jüngeren Generation zu individuellen Korrekturen. In der Familie von Kafkas Schwester Elli Hermann wurde Deutsch gesprochen, die Kinder besuchten deutsche Schulen und erhielten von ihrer Großmutter deutsche Briefe; 220 in den Familien von Kafkas Schwestern Valli Pollak und Ottla David hingegen waren die sprachlichen Verhältnisse ganz anders. Die Kinder wuchsen zwar in einer bilingualen Umgebung auf, besuchten aber tschechische Schulen. Die Erwachsenen - einschließlich Franz Kafka - neigten dazu, mit ihnen Tschechisch zu sprechen. Ähnlich war dies auch in anderen bilingualen Familien, sei es in Prag oder in den gemischten Gebieten. Konstant bleibt der Bilingualismus jedenfalls nicht.
218 220
Zu diesem Fragenkomplex vgl. ausführlicher Nekula 2000a, c; 2001a-b. Julie und Hermann Kafka an Felix Hermann v o m 27. Dezember 1926 und Julie und Hermann Kafka an Gerti Hermann vom 29. März 1929.
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