Der deutsche Zukunftsroman 1918-1945: Gattungstypologie und sozialgeschichtliche Verortung 9783110947397, 9783484351134

The underlying belief informing the German utopian novel in the first half of the 20th century was that technological pr

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German Pages 415 [416] Year 2007

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Der deutsche Zukunftsroman 1918-1945: Gattungstypologie und sozialgeschichtliche Verortung
 9783110947397, 9783484351134

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger

Band 113

Dina Brandt

Der deutsche Zukunftsroman 1918-1945 Gattungstypologie und sozialgeschichtliche Yerortung

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://chb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-35113-4

ISSN 0174-4410

(Ö M a x Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter G m b H & Co. K G http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Dina Brandt, München Gesamtherstellung: A Z Druck und Datentechnik G m b H , Kempten

Danksagung

Die vorliegende Dissertation ist im Oktober 2004 an der Ludwigs-MaximiliansUniversität, München, eingereicht worden. Mein besonderer Dank gilt Prof. HansEdwin Friedrich, der mich in hervorragender Weise betreute. Er zeigte nicht nur viel Geduld und Sachverstand bei der Beantwortung all der kleinen und großen Fragen, die im Laufe eines solchen Projekts entstehen, sondern ließ auch genug Raum, die eigenen Gedanken fortzuentwickeln. Andere haben mir bei vielen Einzelfragen weiterhelfen können. Zu nennen wären hier die kritischen Anmerkungen des Zweitgutachters, Prof. Georg Jäger, sowie in Fragen der Technikund Wissenschaftsgeschichte Prof. Elisabeth Kraus, die auch so freundlich war, bei der Disputatio das Nebenfach zu prüfen. Hilfreiche Hinweise erhielt ich auch von Prof. Martin H. Geyer, Dr. Jochen Kirchhoff, Dr. Olaf Simons, Prof. Helmuth Trischler, Dr. Stefan Willeke, Prof. Reinhard Wittmann und Prof. Karin Zachmann. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich auch Holger Miehlke, der den Nachlaß von Hans Dominik auswertet. Er hat mir nicht nur seine Materialien zur Verfügung gestellt, sondern sich auch die Zeit genommen, die Inhalte in langen Telefongesprächen mit mir zu diskutieren. Ebenso großen Dank gebührt der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, namentlich Thomas Le Blanc und Bettina Twrsnick. Sie ermöglichten mir den uneingeschränkten Zugang zum gesamten Buchbestand und der Infrastruktur der Bibliothek. Die dort jährlich stattfindenden »Tage der Phantastik« waren ein Ort der immer wieder überraschenden Begegnung mit anderen Science Fiction-Begeisterten. Auch hier nahm ich jeweils viele gute Tipps mit nach Hause; besonders sei an dieser Stelle Dr. Ralf Bülow und Jörg Weigand gedankt. Franz Rottensteiner war so freundlich, mir nicht nur bei meinen Fragen zu helfen, sondern mir dazu die Möglichkeit zu geben, am »Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur« mitzuschreiben. So hilfreich und nützlich die fachlichen Antworten und Hinweisen auch waren mein größter Dank gilt meiner Familie und meinen Freunden. Meine Eltern haben in einer bewundernswert selbstverständlichen Art finanziell und auch moralisch dazu beigetragen, daß ich diese Dissertation realisieren konnte. Viele Freunde haben mich unterstützt und mir in manchmal schwierigen Phasen sehr geholfen. Einige haben auch tatkräftiger durch Korrekturarbeiten oder Diskussionen zum Gelingen des Projekts beigetragen. Zu nennen sind hier Udo Legner, Manuela Ullmann, Miriam Falkenberg, Margit Brandt und Ute Elbracht, letztere war so freundlich auch bei der Drucklegung noch einmal ihr Können zu zeigen. Stephanie Reichenbach-Klinke hat die hier vorliegende Fassung lektoriert. Professionell und mit stoischer Gelassenheit hat sie in vorbildlicher Weise von der ersten bis zur letzten Seite meine Arbeit durchgesehen und verbessert. Für diese nicht einfache Aufgabe bin ich ihr besonders dankbar. V

Inhaltsverzeichnis

Einleitung 1

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1

Gattungsfragen 1.1 »Zukunftsroman« 1.1.1 Definition und Abgrenzung 1.1.2 Weitere Traditionslinien 1.2 Trivialliteratur? - Schema-Literatur! 1.2.1 Ergebnisse der Forschung 1.2.2 Fragen der Vergleichbarkeit mit »hoher« Literatur: Zimmermanns Konzept der »Schema-Literatur« 1.3 Der deutsche Zukunftsroman in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich« 1.3.1 Bisherige Forschungsergebnisse 1.3.2 Weiteres Vorgehen Bestandsaufnahme 2.1 Die Gattung bis 1918 2.1.1 Deutsche Autoren und das literarische Umfeld der Zukunftsromane vor 1914 2.1.2 Der politisch-militärische Zukunftsroman und der Erste Weltkrieg 2.2 Der deutsche Zukunftsroman 1918-1945: Überblick 2.2.1 Allgemeine Vorbemerkungen 2.2.2 Die Autoren und ihre Positionierung auf dem Buchmarkt Die Szenarien und ihre Periodisierung 3.1 Der Grundtypus: Ingenieursphantasie 3.1.1 Das technische Großprojekt 3.1.2 Unterszenario: Autarkie und Lebensraum 3.1.3 Unterszenario: »Vorstoß in den Weltenraum« 3.1.4 Unterszenario: Fremde Welten 3.2 Völkerbund und Weltkrieg 3.2.1 Völkerbundszenario 3.2.2 Weltkriegszenario 3.3 Zusammenfassung: Private und gesellschaftgestaltende Szenarien 3.4 Vom Schema abweichende Geschichten

5 5 6 14 16 17 21 25 25 36 41 41 42

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51 56 56 58 69 69 70 79 83 88 94 94 99 104 107 VII

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5

6

Die Handlungselemente im Zukunftsroman 4.1 Der Ausgangspunkt 4.2 Die Personen 4.2.1 Der Held 4.2.2 Figuren des Kontrastes: Gehilfe, Kameradin, Gegner . . . . 4.3 Die Mittel 4.3.1 Wissenschaft, Technik und Ingenieursvisionen 4.3.2 Räume der Öffentlichkeit: Politik, Finanzmärkte und Medien

113 113 117 117 121 129 130

Die politischen Zielvorstellungen 5.1 Der »Schandfrieden von Versailles« und das Weimarer System . . . 5.2 Die politischen Vorstellungen in den gesellschaftsgestaltenden Szenarien 5.2.1 Völkerbundszenarien 5.2.2 Weltkriegszenarien 5.3 Allen Szenarien gemeinsame Themen 5.3.1 Gewalt 5.3.2 Rassismus, Biologismus, Eugenik 5.3.3 »Führer«

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152

179 179 182 188 188 193 209

Der Ingenieur als Technokrat 6.1 Die Technokratiebewegung 6.2 Die Umsetzung der technokratischen Ideen im deutschen Zukunftsroman 6.2.1 Der Held 6.2.2 Kulturwert der Technik: Ideologische Sinnaufladungen . . . 6.2.3 Sozialer Anspruch 6.2.4 Ideologische Nähe: Technokraten und »Reaktionäre Modernisten« 6.3 Zukunft in den technokratischen Visionen

236 236 239 252

7

Die Nationalsozialisten und der Zukunftsroman 7.1 Anbiederungsversuche 7.1.1 Schmid, Im lahre 2000 im Dritten Reich (1933) 7.1.2 Bialkowski, Leuchtfeuer im Mond (1934) 7.2 Die Beurteilung durch die Nationalsozialisten 7.2.1 Die Literaturpolitik der Nationalsozialisten 7.2.2 Einschätzungen durch die offiziellen Behörden 7.2.3 Buchbesprechungsorgane 7.3 Fazit

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8

Kontinuitäten und Diskontinuitäten 8.1 Zäsuren 8.2 Beispielskarrieren 8.2.1 Otto Willi Gail (1896-1956) 8.2.2 Hans Dominik (1872-1945)

317 317 320 320 322

VIII

221 221

257 264

8.3

9

8.2.3 Paul Alfred Müller (1901-1970) Ausblick auf die Entwicklung der Gattung nach 1945 8.3.1 Kontinuitäten 8.3.2 Neue Themen

Schlußbewertung: Triviale Zukunft

330 335 335 338 345

Literaturverzeichnis 1. Quellen 2 Sekundärliteratur

351 351 375

Index

403

IX

Einleitung

1940 schrieb ein Verfasser namens Görlich in der Zeitschrift Der deutsche Schriftsteller, dem Organ der Reichsschrifttumskammer für die ihr zugehörigen Schriftsteller, einen Artikel mit dem Thema »Technik und Schrifttum«. Er beginnt den Aufsatz folgendermaßen: Die Technik und ihre Auswirkungen im weitesten Sinn des Wortes haben seit jeher auch die Phantasie des Menschen beschäftigt. Er dachte sich aus, wie es kommen könnte, wenn dies oder jenes Wirklichkeit würde. Er schwelgte in der Beherrschung des Stoffes und der Elemente, und nicht selten ist tatsächlich das, was oft jahrzehntelang früher als >Utopie< galt, später von Erfindern und Technikern gestaltet worden. So ist es auch kein Wunder, wenn sich ein eigenes, schön geistiges Schrifttum entwickeln konnte, das die Großleistungen der modernen Technik oder allerlei Zukunftsmöglichkeiten zum Gegenstand seiner Darstellung gemacht hat. 1

Aufgabe dieser Arbeit wird es sein, die von Görlich beschriebene Gattung, die »die Großleistungen der modernen Technik oder allerlei Zukunftsmöglichkeiten zum Gegenstand [ihrer] Darstellung gemacht hat«, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts näher zu betrachten. »Technik« und »Zukunft« sind die Schlagwörter, die Görlich für das Genre verwendet und in der Tat wird sich zeigen, daß in den Zukunftsromanen der Zwischenkriegszeit Vorstellungen von Technik und der Gestaltbarkeit der Zukunft eine besondere Verbindung eingegangen sind. Jedoch anders als bei Görlich, dem vor allem wichtig ist, daß die imaginierten Zukunftsleistungen tatsächlich irgendwann umgesetzt wurden, rückt dabei die historische Bedingtheit der Zukunftsvorstellungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Zeit zwischen 1918 und 1945 bot viel Anlaß zur Spekulation über die Zukunft Deutschlands: In der Weimarer Zeit 1918-1933 brachte einerseits die neue Staatsform Demokratie mit den neuen Partizipationsmöglichkeiten eine ungeahnte Offenheit mit sich. Allerdings schränkten die wirtschaftlichen aber vor allem auch psychologischen Befindlichkeiten aufgrund des verlorenen Krieges das Denken der Zeitgenossen zugleich ein. Das Leben der Menschen nach 1933 dagegen war von einem totalitären System geprägt, das viele (Denk-)Möglichkeiten von vornherein ausschloß und dem Einzelnen nur wenig Spielraum ließ. Die vorliegende Arbeit befaßt sich also mit der Frage, wie sich die Autoren des deutschen Zukunftsromans angesichts der jeweiligen historischen Bedingungen die weitere Entwicklung ihres Landes und der Welt vorstellten. Zudem soll eruiert werden, auf welche Weise der System Wechsel hier die Imaginationsmöglichkeiten beeinflußte. Die Technik spielte dabei ein wichtige Rolle: weniger in dem Sinn, welche 1

E. Görlich: Technik und Schrifttum. In: Der deutsche Schriftsteller 5 (1940), S. 41.

1

Erfindungen möglich erschienen und welche nicht, sondern welche Bedeutung man ihr für die Gestaltung der Zukunft grundsätzlich zuschrieb und welche Hoffnungen man mit ihr verband. Die historische Analyse darf aber nicht allein von den politischen Rahmenbedingungen bestimmt sein. Ebenso bedeutsam sind auch literarische Fragen, die sich in diesem Fall vor allem auf die Situierung der Gattung innerhalb des literarischen Spektrums konzentrieren. Der deutsche Zukunftsroman ist, bis auf wenige Ausnahmen, keine Gattung einer schriftstellerischen Elite. Vielmehr gehört er zur Unterhaltungsliteratur, die ihre eigenen Regeln und Beschränkungen hat. Anders als bei der Höhenkammliteratur können solche Romane nicht einzeln für sich betrachtet werden. Sie stehen in einem größeren Kontext, bedienen einen bestimmten Markt und haben eine Tradition, die mitberücksichtigt werden muß. Zwei untrennbare Aufgaben stellen sich so in der vorliegenden Arbeit: es gilt zum einen, die literarischen Linien und Strukturen des deutschen Zukunftsromans 1918— 1945 zu identifizieren. Dazu gehören sowohl die Schemata, denen die Geschichten folgen, als auch die Funktionsweisen einzelner Elemente darin. Deren historische Bedingtheit öffnet die Perspektive auf die zweite Aufgabe: die Verortung der Gattung im zeitgenössischen, politischen Kontext. Im ersten Teil der Arbeit (Kapitel 1 bis 4) sollen die Zukunftsromane allein deskriptiv dargestellt werden. Damit wird ein Beitrag zur Geschichte der Gattung geleistet, an die auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg angeknüpft werden kann. Das öffnet ebenfalls den Blick auf die Frage nach Zäsuren, die sich nicht nur in bezug auf den Regimewechsel 1933 stellt. Aufbauend auf dem Schema der Zukunftsromane 1918-1945 wird dann eine ideologische Analyse folgen, die die Romane im historisch-politischen Spektrum verortet (Kapitel 5 und 6). Es wird sich zeigen, daß der Zukunftsroman eine gewisse Eigenständigkeit entwickelte. Dies belegt nicht zuletzt die Rezeption durch die Nationalsozialisten (Kapitel 7). Am Ende des in dieser Arbeit betrachteten Zeitabschnitts konnte sich eine Gattung entwickeln, die ihre eigenen Regeln besaß und sich zum Teil vom politischen System entfernt hatte. Zugleich hatte sie sich auf dem literarischen Markt so gut etablieren können, daß sie nun Autoren den Lebensunterhalt ermöglichte. Die Startbedingungen für den Zukunftsroman waren daher 1945 andere als noch 1918 (Kapitel 8). Die gefundenen Ergebnisse eröffnen neue Fragen, die weiterer Forschung überlassen werden muß. So würden sich neue Perspektiven ergeben, wenn die Betrachtung auf andere Medien ausgeweitet würde. 2 Zudem wäre ein internationaler Vergleich aufschlußreich. Immerhin zeigt das Selbstverständnis der Autoren von deutschen Zukunftsromanen, daß sie der Technik eine besondere Bedeutung zuschrieben bei der Bewältigung nicht nur der nationalen Probleme, sondern auch der Moderne allgemein. Ein Vergleich könnte aufzeigen, ob es sich hier um ein internationales Phänomen handelt, das durch einen noch ungebrochenen Glauben an die Segnungen der 2

2

Derzeit arbeitet Rüdiger Graf, Humboldt-Universität zu Berlin, an einer Auswertung politischer Pamphlete und Zeitungen verschiedener politischer Ausrichtungen in bezug auf konkrete Zukunftsvorstellungen. Die Darstellung von Zukunft im Medium Film in den Jahren 1918 bis 1945 würde sich ebenfalls für eine genauere Analyse anbieten.

Technik bedingt ist, oder aber doch um einen »Sonderweg«, der mit den spezifischen Umständen der deutschen Geschichte in Verbindung steht. Die vorliegende Arbeit kann auch als ein Beitrag zur Geschichte der Massenliteratur allgemein angesehen werden. In einem Vergleich mit anderen Gattungen der Unterhaltungsliteratur könnte sich zeigen, in welchem Umfang die Popularität bestimmter Gattungen an die soziokulturellen Bedingungen der Zeit gebunden ist. E. Görlich, der Verfasser der Zeilen von 1940 über das »eigene, schön geistige Schrifttum«, das sich entwickeln konnte und »das die Großleistungen der modernen Technik oder allerlei Zukunftsmöglichkeiten zum Gegenstand seiner Darstellung gemacht hat«, schließt jedenfalls seinen Aufsatz mit folgenden Worten ab: Technik und Schrifttum. Sie scheinen etwas Grundverschiedenes zu sein - und für gewöhnlich mag man den phantasiereichen Schriftsteller und den erfahrenen logisch denkenden und Wirklichkeitserfüllenden Techniker für Gegensätze halten - auch sie können im Dienste gemeinsamer Ideen zusammenwirken, und aus ihrer Zusammenarbeit entsteht ein starkes, gesundes und kräftiges Schrifttum, das wir im großen Bereich unseres völkischen Schrifttums nicht mehr missen möchten. 3

Ob der deutsche Zukunftsroman wirklich zum »völkischen Schrifttum« gehört, wird diese Arbeit untersuchen. Unzweifelhaft ist jedoch, daß »Technik und Schrifttum« in dem Untersuchungszeitraum 1918-1945 tatsächlich auf besondere Weise eine Verbindung eingegangen sind.

3

E. Görlich: Technik und Schrifttum. In: Der deutsche Schriftsteller 5 (1940), S. 41.

3

1

Gattungsfragen

1.1

»Zukunftsroman«

Der Eintrag zum Stichwort »Zukunftsroman« in Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur von 1989 veranschaulicht das Problem, das sich stellt, will man diese Gattung 1 bestimmen. Wilpert zählt schlicht folgende andere Begriffe auf: »Utopie«, »Staatsroman«, »Anti-Utopie« und »Science Fiction«, eine eigene Definition des Begriffes wird nicht gegeben. Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (2003) wird bei »Zukunftsroman« lediglich auf »Science Fiction« verwiesen. Im Metzler-Literatur-Lexikon (1990) heißt es wiederum »Form des sachlichen Motivationen: national-egoistischer Präferenzen (Phantastik), forschungsgeschichtlich bedingter Aufwertungsbemühungen (SF) und methodischweltanschaulicher Akzentsetzungen (Utopie). Sie haben dazu geführt, daß die drei Begriffe nicht nur in älteren und neueren, sondern eben auch in französischen, deutschen und amerikanischen Forschungsarbeiten unterschiedlich oder zumindest anders akzentuiert verwendet werden.« 2

1

2

In dieser Arbeit werden die Begriffe »Gattung« und »Genre« synonym verwendet; vgl. dazu u. a. den Eintrag »Gattung« bei Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 1989, S. 320-322, und den Eintrag »Gattungen, literarische« bei Peter Wenzel. In: Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen, hg. von Günther und Irmgard Schweikle, 2., überarbeitete Auflage. Stuttgart 1990, S. 173f. Reimer Jehmlich: Phantastik - Science Fiction - Utopie. Begriffsgeschichte und Begriffsabgrenzung. In: Christian W. Thomsen/Iens Malte Fischer (Hg.): Phantastik in Literatur und Kunst. Darmstadt 1980, S. 11-33, hier S. 21f.

5

In diesem »Gattungsdschungel« 3 kann man sich leicht verirren, ohne daß tatsächlicher Erkenntnisgewinn am Ende stünde: Die Diskussionen greifen zumeist auf die großen Traditionslinien zurück, wie sie etwa in der Utopie durch Thomas Morus begründet wurde. Sie betrachten die literarisch erfolgreichen und anspruchsvollen Science Fiction-Traditionen beispielsweise aus Osteuropa bzw. Amerika. 4 Die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Romane dagegen werden von den Diskussionsteilnehmern oft nicht wahrgenommen. Da ihnen zumeist ein weniger komplexes Weltverständnis zugrunde liegt (vgl. das Kapitel zu Schema-Literatur), können daran vermeintlich auch keine allzu großen Literaturtheorien entwickelt werden. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, ein eigenständiges Konzept des Zukunftsromans vorzustellen. Forschungsliteratur soll nur dann miteinbezogen werden, wenn sich daraus ein direkter Erkenntniszuwachs für die Themenstellung ergibt. Gewählt wurde eine historische Herangehensweise, die sich auf den konkreten Untersuchungszeitraum beschränkt. Sie strebt keine absolute Begriffsbestimmung an. Auf die bisher erschienenen Arbeiten über den Zukunftsroman im Untersuchungszeitraum 1918-1945 soll anschließend in einem gesonderten Kapitel eingegangen werden. Sie unterscheiden sich nicht durch ein grundsätzlich anderes Verständnis der Gattung, sondern vielmehr in der Kategorisierung der einzelnen Ausprägungen (Fisher) oder der ideologischen Deutungen (Nagl, Hermand).

1.1.1

Definition und Abgrenzung

Ohne Berücksichtigung des Definitionsballast erscheint es möglich, einen Zukunftsroman intuitiv als solchen zu erkennen: das entscheidende Merkmal ist offensichtlich die Situierung in der Zukunft. Der Zukunftsroman soll daher folgendermaßen charakterisiert werden: Die erzählte Handlung in einem Zukunftsroman kann zwar zu dem Zeitpunkt (oder früher), zu dem das Buch erschienen ist, beginnen, sie muß aber - technische oder/und - politische oder/und - soziale Elemente/Konstellationen aufweisen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich, aber für die Zukunft denkbar sind. Entscheidend ist, und hier liegt schon die wesentliche Unterscheidung zur Phantastik, daß diese Bedingungen und Konstellationen eindeutig in die vorstellbare Zukunft verweisen und nicht in eine imaginäre Welt. 5 Ein Merkmal der phantastischen 3

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6

So überschreibt Suvin das entsprechende Kapitel; vgl. Sarko Suvin: Poetik der Science-fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung. Aus dem Amerikanischen von Franz Rottensteiner, 1. Auflage. (Phantastische Bibliothek 31) Frankfurt a. M. 1979, S. 38-63. So ζ. B. das Buch von Hienger, das sich ausschließlich mit der angelsächsischen Science Fiction beschäftigt; Jörg Hienger: Literarische Zukunftsphantastik. Eine Studie über Science Fiction. Göttingen 1972. Zu den teilweise fließenden Grenzen zwischen Science Fiction und Phantastik gegen Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Karl Riha: Science Fiction und Phantastik. Zur unterschiedlichen literarischen Reaktion auf den technischen Prozeß um die Jahrhundertwende. In: Götz

Literatur ist, daß Gegenwelten eröffnet werden, die die Realität verfremden und ins Irreale überführen: »Erdichtung von erkennbar Unmögliche[m]« 6 , so lautet eine der Definitionen von phantastischer Literatur. Die wichtigste Forderung an den Zukunftsroman dagegen lautet, von dem Erzählten in jedem Fall einen rationalen Entwicklungsweg von der »Jetztzeit« des zeitgenössischen Lesers bis zu der im Roman beschriebenen Welt nachvollziehbar zu halten. Magische oder »höhere« Werte können nicht als letzter Erklärungsgrund für die erzählten Ereignisse gelten, solange sich diese Werte nicht in unmittelbar naturwissenschaftlich begründbarer Weise realisieren. Damit werden jegliche Romane, die esoterische Hintergründe haben, ausgeschlossen. Dies gilt beispielsweise für Nebel der Andromeda (1920) von Fritz Brehmer. 7 Er erzählt zwar die Erlebnisse des Helden auf einem fremden Planeten, läßt ihn jedoch dorthin auf wundersame Weise über einen See in Südamerika geraten. Es wird kein Versuch gemacht, zu erklären, wie dies möglich sein könnte. Es geht nur um diese »Gegenwelt«, in der der Held fremde Lebensumstände und die Liebe seines Lebens kennenlernt. Durch die strenge Definition, die verlangt, daß die Erzählungen tatsächlich in der Zukunft stattfinden, müssen ebenfalls Geschichten unberücksichtigt bleiben, die ihre Handlung vermeintlich in kommender Zeit spielen lassen, sich aber am Ende als einen Traum erweisen. Beispiele hierfür wären Ludwigs Die japanische Pest (1925) und auch Enskats Marso der Zweite (1936, wiederaufgelegt 1941 unter dem Titel Weltraumschiff Unimos). Ein weiterer Titel, der fast immer bei der Untersuchung der deutschen Zukunftsromane 1918-1945 besprochen wird, ist Walter Müllers Wenn wir 1918... Eine realpolitische Utopie (1930). 8 Der Sozialdemokrat Müller hat mit diesem Roman versucht, die deutsche Geschichte nachzuerzählen, wie sie sich hätte entwickeln können, wäre die sozialistische Revolution 1918 erfolgreich verlaufen. Er reiht dazu fiktive Berichte von kommenden Ereignissen aus Zeitungen unterschiedlicher politischer Provenienz aneinander. Müllers Roman ist der ungewöhnliche Versuch, die deutsche Geschichte umzuschreiben. Es handelt sich hierbei allerdings um keinen Zukunftsroman. 1930 erschienen, versucht er, die Vergangenheit neu zu erzählen und nicht in die Zukunft zu blicken. 9

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Großklaus/Eberhard Lämmert (Hg.): Literatur in einer industriellen Kultur. Stuttgart 1989, S. 239-257. Marianne Wünsch: Phantastische Literatur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literatur gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hg. von Jan-Dirk Müller, Band III: P-Z. Berlin, New York 2003, S. 71-74, hier S. 71. Wünsch betont allerdings, daß die Vorstellungen davon, was als das »erkennbar Unmögliche« angesehen wird, vom jeweiligen Realitätsbegriff der Gesellschaft abhängen. Zur Zitierweise der Primärtitel: Stets werden Autor, Titel und Erscheinungsjahr der Erstausgabe genannt. Sollte eine spätere Auflage zitiert werden, geht dies aus dem Literaturverzeichnis hervor. Vgl. dazu Wolfgang Both: Walter Müllers Sozialutopie >Wenn wir 1918... < in Neuauflage. In: die vitrine 5 (2004), S. 5 - 9 . Bei großzügiger Auslegung der Forderung nach eindeutig zukünftigem Geschehen, kann man noch Ohligers Bomben auf Kohlenstadt (1935) zu den Zukunftsromanen zählen, in

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Science Fiction In der t h e o r e t i s c h e n B e t r a c h t u n g d e r Z u k u n f t s r o m a n e k o m m t der S c i e n c e Fiction e i n e Schlüsselrolle zu. D e n n sie m u ß in b e s o n d e r e r W e i s e d e r F o r d e r u n g nach der » D e n k b a r k e i t von Z u k u n f t « i m S i n n e von E x t r a p o l a t i o n u n d L i n e a rität

e n t s p r e c h e n . 1 0 D i e Welt der S c i e n c e Fiction unterliegt den G e s e t z e n

der

Naturwissenschaften und bedarf der logischen Herleitung. SF seeks to win from the reader the acknowledgement that the imaginary world is plausible, in an intellectual, logical, or even >scientific< sense which is not independent of, or inconsistent with, the reader's subjective impression of reality. 11 D i e S i t u i e r a n g d e s Z u k u n f t s r o m a n s in einer eindeutig v o n d e r Jetztzeit u n t e r s c h i e d e n e n Z u k u n f t setzt, u m n i c h t in die P h a n t a s t i k abzugleiten, e i n e klare historische E n t w i c k l u n g s l i n i e voraus. D e r Plausibilität des E r z ä h l t e n k o m m t g r o ß e B e d e u t u n g zu. D i e s gilt b e i m Z u k u n f t s r o m a n ü b e r die t e c h n i s c h e n D i n g e h i n a u s a u c h f ü r ζ. B . politische K o n s t e l l a t i o n e n . S o läßt sich die E n t s t e h u n g des Z u k u n f t s r o m a n s , e n g g e f ü h r t mit d e r S c i e n c e Fiction, a u c h zeitlich verorten. D e r Z w a n g z u r a l l g e m e i n e n Plausibilität w u r d e erst m ö g lich u n d nötig, als g e n a u dies d u r c h die e x a k t e n W i s s e n s c h a f t e n e i n f o r d e r b a r w u r d e . D a s erklärt, w a r u m in der F o r s c h u n g die E n t w i c k l u n g d e r S c i e n c e Fiction zu einer e i g e n s t ä n d i g e n G a t t u n g z u m e i s t auf d a s letzte Drittel d e s 19. J a h r h u n d e r t s gelegt wird: - der Zeit des Positivismus, des E m p i r i s m u s u n d d e r m o d e r n e n N a t u r w i s s e n s c h a f t e n . 1 2 D a r ü b e r h i n a u s e r w e i s t sich das t e c h n i s c h e M o m e n t in j e d e r A r t von Z u k u n f t s r o m a n nach 1918 als so relevant, d a ß es nicht m ö g l i c h ist, die G a t t u n g e n S c i e n c e F i c t i o n v o n d e n a n d e r e n S u b f o r m e n zu u n t e r s c h e i d e n . S o m i t ist die Konsti-

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dem explizit vom Jahr 1934 gesprochen wird. Da man davon ausgehen muß, daß das Buch vielleicht nicht 1935, sondern mindestens ein Jahr früher geschrieben wurde, stellt es somit keinen direkten Schritt in die Vergangenheit dar. Ansonsten handelt es sich um einen Roman, der auf fiktionale Weise die Bedingungen für effektiven Luftschutz thematisiert und weniger die Ausgestaltung einer Zukunftsgesellschaft; vgl. dazu Peter Fritzsche: Α Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination. Cambridge, Mass. 1992, S. 2 1 2 215. Für einen Überblick zur Forschungsliteratur bezüglich der Science Fiction vgl. Hans-Edwin Friedrich: Science Fiction in der deutschsprachigen Literatur. Ein Referat zur Forschung bis 1993. (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 7. Sonderheft) Tübingen 1995. Darin wird ausführlich auf die unterschiedlichen Forschungspositionen in bezug auf die Definitionsfrage eingegangen. Ein weiterer Forschungsüberblick stellt auch Hans-Joachim Schulz: Science-fiction. (Sammlung Metzler Μ 226) Stuttgart 1986 dar. Ein Problem in diesem Zusammenhang ist, daß es nur wenig neuere Forschungen zu diesem Thema gibt. Die Literatur wird von Ergebnissen aus den 1970er und frühen 1980er Jahren dominiert. Neuere, kulturwissenschaftliche Ansätze zur Gattungsspezifikation lassen sich dagegen kaum finden. William B. Fischer: The Empire Strikes Out: Kurd Lasswitz, Hans Dominik, and the Development of German Science Fiction. Bowling Green 1984, S. 18. Fischer stellt seiner Analyse von Laßwitz und Dominik mit Ausblick auf die Nachkriegsliteratur einen sehr ausführlichen theoretischen Teil voran. Vgl. dazu Ulrich Suerbaum/Ulrich Broich/Raimund Borgmeier: Science Fiction. Theorie und Geschichte, Themen und Typen, Form und Weltbild. Stuttgart 1981, Kapitel 2.2.4: »Science Fiction und das 19. Jahrhundert«, S. 43^4-5. In diesem Zusammenhang sprechen die Autoren auch von »Zukunftsliteratur« und nicht mehr nur von Science Fiction.

tuierung der Gattung der Science Fiction im 19. Jahrhundert auch die der Gattung Zukunftsroman. Science Fiction soll damit so verstanden werden, wie sie beispielsweise Suvin definiert hat. Er bezeichnet die Science Fiction als eine »erkenntnisbezogene« und »verfremdete« Literatur. Die Erkenntnisbezogenheit stellt die positivistisch-empirische Vorgabe dar, die Verfremdung dagegen ist im Fall der Science Fiction das Moment des Zukünftigen. 13 Die Ausrichtung auf die Zukunft wird vor allem durch die Technik bzw. deren Möglichkeiten hergestellt. Dabei wird meist mit dem Mittel der Extrapolation gearbeitet. 14 Bekannte Entwicklungen in der Forschung werden in die Zukunft verlängert, zugespitzt und ausgebaut. Extrapolation reicht jedoch nicht aus, um alle technischen Ideen in einem Roman zu erklären. Auch aus Märchen bekannte Elemente, wie ζ. B. die Tarnkappe, kann man in der Science Fiction wiederfinden: das Verschwinden ist dann beispielsweise mit Hilfe eines neuentdeckten Gases möglich. 15 Es gilt dabei aber immer die wissenschaftliche Plausibilitätsprämisse. Das Erzählte kann nach Földeak noch so »phantastisch« sein, solange es eine »realistische Absicherung« erfährt. 16 Damit unterscheidet sich die Science Fiction von der Fantasy-Literatur, deren Definition sich allerdings ähnlich problematisch gestaltet. 17 Anders als bei der Science Fiction handelt es sich jedoch, um eine »Anderswelt«, die von der Realität abgegrenzt und nicht naturwissenschaftlichen Gesetzen unterworfen ist. Märchenelemente und Fabelwesen reichern die imaginierte Welt an. Figuren und Helden unterliegen nicht mehr dem Plausibilitätsgebot, sondern archaischeren Regeln. Nagl betrachtet diese Unter13

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Vgl. dazu Suvin, Poetik der Science-fiction, S. 38^-3. Vgl. dazu auch Jens Malte Fischer: Science Fiction - Phantastik - Fantasy. In: Karl Emert (Hg.): Neugier oder Flucht? Zu Poetik, Ideologie und Wirkung der Science Fiction. (Literaturwissenschaft - Gesellschaftswissenschaft 50) Stuttgart 1980, S. 8-17, hier S. 8. Vgl. Michael Salewski: Technik als Vision der Zukunft um die Jahrhundertwende. In: Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. lahrhundert, in Verbindung mit der Gesellschaft für Geistesgeschichte hg. von Michael Salewski und Ilona Stölken-Fitschen. (Historische Mitteilungen, Beiheft 8) Stuttgart 1994, S. 77-91, hier S. 77: »Technik und Zukunft gehören zusammen: Jedes neue technische Produkt oder Verfahren verändert zukünftiges Handeln, läßt die Mittel und Methoden der Gegenwart und Vergangenheit als >altmodisch< erscheinen.« Zur Frage der Extrapolation vgl. u. a. Fischer, Science Fiction - Phantastik - Fantasy, S. 14ff. Vgl. dazu Bialkowski, Der Stratosphärenflieger (1938). Hans Földeak: Neue Tendenzen der sowjetischen Science Fiction. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München. (Slavistische Beiträge 88) München 1975, S. 9-11. Der Begriff »Fantasy« selbst ist noch nicht sehr alt; vgl. dazu den Überblick über die Gattung bei Hans-Edwin Friedrich: Was ist Fantasy? In: 1000 und 1 Buch 5 (2004), S. 4 - 8 . Vgl. auch Franz Rottensteiner: Zweifel und Gewißheit. Zu Tradition, Definitionen und einigen notwendigen Abgrenzungen in der phantastischen Literatur. In: ders. (Hg.): Die dunkle Seite der Wirklichkeit. Aufsätze zur Phantastik. (Phantastische Bibliothek, 199) Frankfurt a. M. 1987, S. 7-32, hier S. 14. Zu den Unterschieden der Gattungen zwischen »Science Fiction«, »Fantasy« und »Märchen« und deren verschiedenen Konjunkturen vgl. auch Siegfried Becker/Gerd Hallenberger: Konjunkturen des Phantastischen. Anmerkungen zu den Karrieren von Science Fiction, Fantasy und Märchen sowie verwandten Formen. In: Wolfgang Haubrichs (Hg.): Anfänge des Romans. (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 89) Göttingen 1993, S. 141-155.

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Scheidung als ein reines »Scheingefecht« sei. Letztlich könnten auch Magie und Okkultismus Eingang in die Science Fiction finden, solange sie nur systematisiert und ritualisiert würden. 18 Tatsächlich lassen sich gerade in der Science Fiction der 1940er Jahre auch Märchenelemente in den Romanen entdecken. 19 Dies ist ein Hinweis darauf, daß die Trennlinien letztlich doch nicht so scharf gezogen werden können, wie zuerst postuliert. Nagl stellt die Science Fiction neben der Fantasy auch noch den HorrorGeschichten gegenüber. 20 In der Fantasy findet sich dort Horror, wo das Märchenhafte ins Grauenhafte umschlägt. Und auch in der Science Fiction müssen die beschriebenen (zukünftigen) Welten keineswegs ausschließlich bessere sein. Somit ist die Aufteilung in Fantasy - Science Fiction - Horror nicht überzeugend. Auch wenn die Gattung »Science Fiction« strukturell in ihrer Grundvoraussetzung der Plausibilität mit dem Zukunftsroman zusammenfällt, kann in diesem Zeitraum nicht ausschließlich von Science Fiction gesprochen werden. »Zukunftsroman« erscheint nach wie vor als die bessere Bezeichnung. Dies kann zum Teil historisch begründet werden. Als die hier behandelten Romane geschrieben wurden, gab es den Begriff »Science Fiction« noch nicht. Er wurde 1926 von Gernsback in den USA geprägt und fand erst nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Eingang in den deutschen Sprachgebrauch. 21 Dabei florierte das Genre in Europa viel früher als in den USA. Laut Nagl wurden »zwischen 1920 und 1935 [ . . . ] mehr deutsche Science Fiction-Romane ins Englische übersetzt als umgekehrt.« 22 Die Untertitel der Romane zu dieser Zeit variieren stark: »technischer Zukunftsroman«, »kosmischer Roman«, »Roman von Morgen«, »utopischer Roman«, »utopistischer Roman«, »phantastischer Abenteuer-Roman«, »Roman aus der Zukunft der Technik« etc 23 Damit wird deutlich, wie stark diese Gattung noch im Fluß war. Das Genre war offensichtlich noch nicht an eine bestimmte Bezeichnung gebunden und 18

Schließlich sei in der Science Fiction-Zukunft nichts unmöglich, außer dem »humane Sozialismus«; Manfred Nagl: Science Fiction in Deutschland. Untersuchungen zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur. (Untersuchungen des LudwigUhland-Instituts der Universität Tübingen 30) Tübingen 1972, S. 117f. Auch Tzschaschel vertritt diese Ansicht und lehnt eine strenge Trennung zur Phantastik ab. Was er dabei vergißt, ist, daß gerade die Verwendung von Mythen und - wie er es nennt - »okkulten« Elementen der Untermauerung von pseudowissenschaftlichen Theorien dienen kann; Rolf Tzschaschel: Der Zukunftsroman der Weimarer Republik. Eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung. (Schriftenreihe und Materialien der Phantastischen Bibliothek Wetzlar 30) Wetzlar 2002, S. 39^12. Siehe dazu auch Kapitel 4.3.1: Wissenschaft, Technik und Ingenieursvisionen, unten, S. 130ff.

19

Vgl. dazu auch Becker/Hallenberger, Konjunkturen des Phantastischen. Vgl. Manfred Nagl: Science Fiction. Ein Segment populärer Kultur im Medien- und Produktverbund. (Literaturwissenschaft im Grundstudium 5) Tübingen 1981, S. 26. Vgl. Friedrich, Science Fiction in der deutschsprachigen Literatur, S. 3. Nagl schreibt allerdings, daß der Ausdruck schon wesentlich früher nachgewiesen werden kann. Er datiert ihn auf 1851, vgl. Nagl, Science Fiction, S. 17. Nagl, Science Fiction in Deutschland, S. 171. Eine leider wahrscheinlich nicht vollständige Übersicht bietet eine private Website unter http://www.gloss-sciencefiction.de/d_in_eng.htm (vom 21.4.2006). Vgl. dazu die Titel der untersuchten Romane im Literaturverzeichnis, unten, S. 351-370.

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entsprechend offener. 24 Einige Romane akzentuieren dazu noch die politische Zielrichtung zuungunsten der Technik so stark, daß man sie nach heutigen Vorstellungen sicherlich nicht mehr zur Science Fiction zählen kann.

Utopie Auch die Traditionen der Utopie und des Staatsromans sind in den Zukunftsroman eingeflossen. 25 Der Staatsroman entwirft, laut Wilpert, ein positives oder negatives »Kontrastbild mit erzieherfischen] und theoretischen] Absichten [...,] das Idealbild efines] Staates« und führt dieses »fiktional als bereits verwirklicht« 26 vor. Ziel dieser Romane war die Kritik an den bestehenden staatlichen Institutionen. Jedoch wurde dieser Romantypus weitgehend nur von den Staatswissenschaften rezipiert. Gleiches gilt auch für die Utopie, die allerdings, ihrem Begründer Morus geschuldet, dezidiert in ein »Nirgendwo« gesetzt ist. Während der Staatsroman also theoretisch noch die Möglichkeit hat zu erklären, wie dieser Idealstaat von der Jetztzeit zu dem geworden ist, was er in der Zukunft ist, bleibt der Utopie nur der Verweis darauf, daß sie nicht im Hier und Jetzt spielt. Müller bezeichnet dies als die »Unbeweglichkeit«, zu der die Utopie bestimmt ist. 27 Tatsächlich ist aber der Begriff des Staatsromans von dem der Utopie schon lang abgelöst worden. Dies zeigt sich beispielsweise an dem Grandlagenwerk von Martin Schwonke (1957): Zwar will es die Entwicklung Vom Staatsroman zur Science Fiction beschreiben, doch im tatsächlichen Text wird ausschließlich von »Utopie« gesprochen. 28 Schwonke verwendet im übrigen die »naturwissenschaftlich-technische Utopie« synonym zu »Science Fiction«, als der (il)legitimen Nachfolgerin der Utopie, was aus heutiger Sicht eher problematisch erscheint. 24

An dieser Stelle muß Krysmanski widersprochen werden, der den technischen Zukunftsroman von der Science Fiction unterscheidet. Seine Argumentation allerdings ist nicht sehr schlüssig: Seiner Meinung nach ist die Science Fiction »in ihren reinen Formen wortwörtlich naturwissenschaftliche Literatur^ nicht an den technischen Wunderleistungen interessiert - diese werden als Selbstverständlichkeit behandelt.« Das Ganze wird noch unschärfer, wenn er schreibt, daß die Science Fiction »mit den Möglichkeiten auf der Basis des heutigen wissenschaftlichen Weltbildes« spekuliere und damit gewissermaßen als »kommentierender Hofnarr und manchmal sogar Hofphilosoph gemeinsam mit den Naturwissenschaften bis an deren Grenzen« vorstoße; Hans-Jürgen Krysmanski: Die utopische Methode. Eine literatur- und wissenssoziologische Untersuchung deutscher utopischer Romane des 20. Jahrhunderts. Köln, Opladen 1963, S. 89. Der technische Zukunftsroman, synonym mit der technischen Utopie, dagegen popularisiere den Umgang mit der Technik, vgl. S. 83-91.

25

Einen Überblick über den Forschungsstand bietet Hans Edwin Friedrich: Utopie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hg. von Jan-Dirk Müller, Band III P - Z . Berlin, New York 2003, S. 739-743.

26

Staatsroman. In: Gero von Wilpert: S ach Wörterbuch der Literatur, 7., verbesserte und erweiterte Auflage. Stuttgart 1989, S. 882f., hier S. 882. Vgl. Götz Müller: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart 1989, S. 11. Martin Schwonke: Vom Staatsroman zur Science Fiction. Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlich-technischen Utopie. Stuttgart 1957.

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Wie Hölscher ausführt, verändert sich die Bewertung, die mit dem Begriff der Utopie verbunden ist, durch die Zeit. 29 Dies gilt es zu berücksichtigen, will man den utopischen Gehalt der Romane für den gesetzten Zeitrahmen adäquat einschätzen. Im 19. Jahrhundert - jetzt erst wird der Begriff vom Französischen übernommen rückt zunehmend in den Blick, daß die darin erdachten Orte niemals erreicht werden können. Utopien erhalten den Nimbus des Irrealen, Unrealistischen. 30 Die Literaturform gerät endgültig in eine Krise, als sie besonders mit den kommunistischsozialistischen Programmen assoziiert wird. Daneben, darauf weist Krysmanski hin, war am Ende des 19. Jahrhunderts »die soziale Wirklichkeit [... ] inzwischen zu komplex geworden, als daß ihr noch mit gutem Gewissen ein >vollständiges< Gegenbild gegenübergestellt werden könnte, das Ansprach auf direkte und vollständige Verwirklichung erhebt.« 31 Die isolierte Beschreibung eines utopischen Staatsgefüges, das unabhängig von der tatsächlichen Welt irgendwo existieren könnte, erschien dazu angesichts der Tatsache, daß die Welt so weit wie möglich geographisch erschlossen war, nicht mehr plausibel. Die Imagination der idealen Gesellschaft wurde darum am Ende des vorletzten Jahrhunderts nicht mehr räumlich vollzogen, sondern wechselte in die zeitliche Dimension. Infolgedessen mußte das Geschilderte nun nachvollziehbar und plausibel auf einem linearen Zeitstrahl liegen. 32 Dennoch lebte der Begriff »Utopie« weiter fort. Er erhielt jedoch eine wesentlich philosophischere Ausgestaltung. Negative Idealbilder, »Dystopien«, waren zu Beginn des 20. Jahrhundert die Folge. 33 29

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31 32

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Lucian Hölscher: Der Begriff der Utopie als historische Kategorie. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung, Band 1. (Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie) Stuttgart 1985, S. 402^118. Dazu und zum Folgenden vgl. auch Stephan Meyer: Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung. (Europäische Hochschulschriften 1,1790) Frankfurt a. M. u. a. 2001, Kapitel B: »Anti-utopische Grundhaltungen. Ein ideengeschichtlicher Abriß«, S. 147-196. So wurde der Begriff »Utopia« lange mit dem des »Schlaraffenlands« synonym verwendet; vgl. Meyer, Die anti-utopische Tradition, S. 159f. Siehe dazu auch Hiltrud Gnüg: Der utopische Roman. Eine Einführung. (Artemis Einführungen 6) München, Zürich 1983, S. 11. Krysmanski, Die utopische Methode, S. 75. Nagl stellt dazu die These auf, daß die Verlagerung aus dem Raum in die Zeit eine Konsequenz aus dem Kapitalismus darstellt: »Wird in dem Maße, in dem im Kapitalismus die Zeit zur wichtigsten Dimension des Wirtschaftens sich entwickelt (als >Vorsprung< vor Konkurrenten, Bedeutung der Planung, der Börsenspekulation usw., aber auch in der Intensivierung der Produktionsgeschwindigkeit), die Beherrschung der Zeit zum wünschbarsten aller Wünsche?«, Nagl, Science Fiction, S. 30f. Meiner Ansicht nach kehrt Nagl hier allerdings den Zusammenhang zwischen neuzeitlichem Anthropozentrismus, der den Menschen Gestaltungsmacht über das Leben gibt, und dem Entstehen von kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen um. Koselleck hat anhand zweier Einzelbeispiele (eines bereits aus dem Jahr 1770) die schrittweise Verlagerung der Utopie aus dem Räumlichen in das Zeitliche nachverfolgt; Reinhart Koselleck: Die Verzeitlichung der Utopie. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Band 3. Stuttgart 1982, S. 1 14. Siehe auch Wilhelm Voßkamp: Utopie als Antwort auf Geschichte. Zur Typologie literarischer Utopien in der Neuzeit. In: Hartmut Eggert/Ulrich Profitlich (Hg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart 1990, S. 273-283. Friedrich, Utopie, S. 741.

Die »Fortschrittsutopie« 34 stellt zur historischen Entwicklung der Verzeitlichung eine Art Übergangsgattung dar. Denn in der Fortschrittsutopie, beseelt von den neuen Erkenntnissen in den Naturwissenschaften (Evolutionstheorie), lassen sich Denkmöglichkeiten für die Zukunft durchspielen, die an Erfahrungen und Wahrnehmungen der Gegenwart gekoppelt sind. Nicht mehr die Kritik an den vorhandenen Zuständen, wie es mit Hilfe des utopischen Gegenbildes geschah, steht im Vordergrund, sondern die aktive Konstruktion einer besseren Welt. Die Variabilität der Zukunftsgestaltung und weniger der Endpunkt rückt damit in den Blickpunkt. »Dem Fortschritte gebührte der Vorrang, weil er die als rational manipulierbar betrachtete Kluft zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit konkret zu schließen versprach.« 35 Damit lassen sich im Zukunftsroman, wie er im folgenden verstanden wird, Science Fiction und Utopie in einem Konzept der Plausibilität, Rationalität und Linearität zusammenführen. Dennoch bleiben auch die Autoren des deutschen Zukunftsromans im frühen 20. Jahrhundert der Idee verhaftet, Einfluß auf die Geschichte nehmen zu können, indem sie mögliche, ideale Zielpunkte beschreiben. 36 Dies geschieht zum einen durch eingefügte utopische Elemente. Diese Elemente zeichnen sich durch das Bemühen aus, ideale Gesellschaften zu beschreiben. Im Unterschied zur Utopie sind diese Elemente aber eingebunden in eine Romanhandlung. Es muß begründet werden, wie der Romanheld, der eindeutig aus einer für den Leser nachvollziehbaren Lebenswelt kommt, auf diese ideale Gesellschaft gestoßen ist bzw. wie sich in dieser Lebenswelt der ideale Staat entwickeln konnte. Dies geschieht zum Beispiel durch den Flug zum Mars und der Konfrontation mit den dortigen, höher entwickelten Bewohnern oder aber auch im Kleinen in den »Werkstädten«, die extra für ein technisches Großprojekt erbaut wurden. Weiter lassen sich noch Romane finden, die explizit den Weg zu einem Idealstaat thematisieren. Hierbei wird aber die Entwicklung hin zu diesem Staat in den Vordergrund gerückt, wenngleich auch große Mühe auf die ausführliche Beschreibung des idealen aber konkreten Staates (also Deutschland, ein europäischer Bund oder sogar ein Weltstaat) verwandt wird. Streng nach naturwissenschaftlicher Methode gilt es hier, das Entstehen für den Leser nachvollziehbar zu gestalten. Dies ist dem oben beschriebenen Fortschrittsideal geschuldet. Damit erhält die utopische Welt die »Beweglichkeit«, die der eigentlichen Utopie fehlt. Es gilt, eine Geschichte mit Anfangs- und Endpunkt, Handlungs- und Spannungsbogen und Personen zur Identifikation zu erzählen. Genaueres für den deut-

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Vgl. dazu Birgit Affeldt-Schmidt: Fortschrittsutopien. Vom Wandel der utopischen Literatur im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1991. In diesem Buch findet sich auch eine sehr ausführliche Darstellung des zeitgenössischen Begriffsverständnisses dieses Themenkomplexes. Affeldt-Schmidt, Fortschrittsutopien, S. 96. Tatsächlich kann man von einer Umdeutung und erneuten Aufwertung utopischen Denkens vor und nach dem Ersten Weltkrieg durch u. a. Ernst Bloch und Karl Mannheim sprechen, die ihm wieder Einflußmöglichkeiten auf die Gesellschaft zusprachen; vgl. dazu Rüdiger Graf: Die Mentalisierung des Nirgendwo und die Transformation der Gesellschaft. Der theoretische Utopiediskurs in Deutschland 1900-1933. In: Wolfgang Hardtwig (Hg.) unter Mitarbeit von Philip Cassier: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 56) München 2003, S. 145-173.

13

sehen Zukunftsroman 1918-1945 wird sich in Kapitel 3 und 4 in den Beschreibungen der Szenarien und Mittel finden lassen. Anti-Utopien, die ein Ende der (bekannten) Welt ohne Hoffnung beschreiben und die heutzutage vielleicht eher als die legitimen Nachfolger der Utopien angesehen werden können, lassen sich dagegen nur wenige finden. Dies hat einerseits etwas mit den ideologischen Dispositionen der Autoren zu tun (vgl. dazu Kapitel 6), aber auch mit der Tatsache, daß es sich größtenteils um Trivialliteratur handelt, die nur glückliche Romanausgänge zuläßt (vgl. dazu das folgende Unterkapitel). Die bisherigen Ausführungen lassen also zwei Pole erkennen, die zumeist unterschiedlich akzentuiert werden, sich jedoch in jedem Zukunftsroman entweder explizit (durch die beschriebenen Elemente) oder zumindest implizit (durch die erzählte Handlung) wiederfinden lassen: den technischen und den politisch-sozialen. In den verschiedenen Szenarien werden zwischen beiden Polen zwar unterschiedliche Gewichtungen vorgenommen, sie kommen jedoch immer in beiden Formen des Zukunftsromans vor. Hierauf wird in bezug auf die konkreten Realisierungen noch einzugehen sein.

1.1.2

Weitere Traditionslinien

Die Romane, mit denen sich diese Arbeit beschäftigt, waren weniger einem philosophischen als einem unterhaltungsliterarischen Anspruch verpflichtet. Auch wenn gerade in der trivialen Unterhaltungsliteratur in besonderer Weise implizit ganzheitliche Weltentwürfe transportiert werden, seitens des Lesers bietet er zuerst einmal unterhaltenden Zeitvertreib. 37 So übernahm die deutsche Science Fiction bzw. der deutsche Zukunftsroman ebenso Elemente aus anderen Unterhaltungsgenres. Innerhofer nennt dies die »unreinen Ursprünge« der Science Fiction. 38 So ist der deutsche Zukunftsroman bis 1945 einer Tradition besonders verbunden: der des technischen Abenteuerromans. Der Held muß sich hier in einem außergewöhnlichen Abenteuer beweisen. Spannung und das Bangen um den Erfolg des Helden stehen hier im Vordergrund. Jules Verne gelang in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts quasi eine Modernisierung des Abenteuerromans mit Hilfe der Technik. Bei ihm geschieht die Bewältigung des Abenteuers durch Erfindungen und naturwissenschaftliche Kenntnisse. 39 Eng damit verbunden ist der Reiseroman. In 37

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Nagl betont in einem kurzen historischen Abriß der Entwicklung von Zukunftsvorstellungen in der Literatur, wie ab dem 18. Jahrhundert gerade das Unterhaltungsmoment zum aufklärerischen Impetus der Utopie verstärkt hinzukam; Manfred Nagl: Zukunft. In: Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, hg. von Hans-Otto Hügel. Stuttgart, Weimar 2003, S. 530-539, hier S. 53lf. Roland Innerhofer: >Unreine< Ursprünge. Phantastik und Science Fiction um die Jahrhundertwende. In: Winfried Freund/Johann Lachinger/Clemens Ruthner (Hg.): Der Demiurg ist ein Zwitter. Alfred Kubin und die deutschsprachige Phantastik. München 1999, S. 2 2 9 239. Manfred Nagl bezeichnet dies als »Amalgamisierungsverfahren der Science Fiction«; Nagl, Science Fiction in Deutschland, S. 135. Vgl. dazu auch Karlheinz Steinmüller: Die Geburt der Science-fiction aus dem Geist des 19. Jahrhunderts. In: Olaf R. Spittel (Hg.): Science-fiction. Essays. Halle, Leipzig 1987, S. 8-28. Vgl. dazu Roland Innerhofer: Deutsche Science Fiction 1870-1914. Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung. (Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Litera-

der besonderen Ausformung der Robinsonade finden sich auch wieder Anknüpfungspunkte an die Utopie. 40 Aber auch Elemente aus dem Detektiv- und Spionageroman werden häufig mit eingebunden. Diese Traditionslinien garantieren ein großes Maß an Spannung, sei es durch die besondere Mobilität, durch die Exotik der Orte, die sogar über die Erdgrenzen in den Weltraum reichen, oder aber durch Verwicklungen mit fremden Mächten, die sich neue Erfindungen aneignen wollen. In jedem Fall werden die Geschichten dadurch bunter und spannender. Auch hier kommt der Technik eine besondere Rolle zu. Sie garantiert die Novität des Erzählten, geht es doch immer um »neue Erfindungen«, also per se »Zukünftiges«, noch nie Dagewesenes. Der Held erhält durch die Technik größere Beweglichkeit und die bösen Mächte ihre Motivation. Eine weitere Traditionslinie muß in diesem Zusammenhang ebenfalls berücksichtigt werden: der Ingenieursroman. Motiviert durch das Bemühen, dem Ingenieursstand in der Gesellschaft mehr Ansehen zu verschaffen, werden hier ebenfalls Fragen der Technik behandelt. Wie die ausführliche Analyse durch Miloradovic-Weber belegt, 41 handelt es sich hierbei um eine Art modernen Bildungsroman. Der Lebensweg des Ingenieurs wird nachgezeichnet. Seine menschliche Bildung vollzieht sich dabei nicht mehr auf der Wanderschaft, sondern vielmehr durch die Beherrschung von Technik und ihre Nutzbarmachung für die Gesellschaft. Es geht um den sozialen Aufstieg, der durch eine ingenieurstechnische Großleistung (ζ. B. den Brückenbau) möglich wird und mit einer Liebesheirat mit einer eigentlich standeshöheren Frau belohnt wird. Dabei wird größter Wert auf Aktualität und Gegenwartsbezogenheit gelegt. In den technischen Zukunftsromanen dagegen ist der Lebensweg des Helden eher unwichtig. Es ergeben sich trotzdem Probleme bei der Gattungstrennung. Auch wenn der Entwicklungsweg des Helden im Zukunftsroman zumeist keine Rolle spielt, läßt sich auch dort oftmals ein privater Handlungsstrang finden, in dem eigene Hindernisse bewältigt werden müssen, und der sich erst am Ende des Romans glücklich löst. Darüber hinaus besitzt das ingenieurstechnische Projekt, das der Held entwickelt, sowohl im Ingenieursroman als auch im Zukunftsroman oftmals eine beeindruckende Größendimension. Da die Situierung der Zukunftsromane in der Zukunft meist ausschließlich darüber geschieht, daß technische Dinge entwickelt werden, die es so bisher noch nicht gegeben hat, ist eine eindeutige Unterscheidung der beiden Genres nicht immer möglich. Je nachdem, ob man nun den privaten oder den technischen Aspekt mehr betont, wird man in der Beurteilung auch der in dieser Arbeit besprochenen Romane zu unterschiedlichen Einteilungen kommen. Systemtheoretisch betrachtet sind Funktionswandel oder Funktionserweiterung vorhandener Gattungen ein Versuch, Erfahrungen in ein System zu integrieren, für

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tur 38) Wien u. a. 1996, Kapitel B: »Die Modernisierung des Abenteuerromans durch Jules Vernes«, S. 85-131. Vgl. dazu Götz, Gegenwelten. Christa Miloradovic-Weber: Der Erfinderroman 1850-1950. Zur literarischen Verarbeitung der technischen Zivilisation - Konstituierung eines literarischen Genres. (Zürcher Germanistische Studien 15) Bern u. a. 1989. Sie verwendet die Bezeichnung »Erfinder-Romane« allerdings pauschaler.

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die es zuvor keinen Platz gab. 42 Dies geschieht entweder durch Modifikation dieser Gattungen, durch Schaffung neuer Gattungen, durch »Mischgattungen« oder durch eine radikale Verwerfung des überholten Systems. Es wird sich zeigen, daß am Ende des Prozesses, der hier in einem Ausschnitt mitverfolgt werden soll, die neue Gattung Science Fiction stehen wird. Sie ist als Antwortversuch auf die Moderne und die Herausforderungen der Technik zu verstehen und Ausdruck des Denkens einer neuen gesellschaftlichen Gruppe: der Ingenieure. Zugleich gelingt es aber auch, die Utopie zu aktualisieren und Elemente aus Abenteuer-, Reise, Kriminal- und Spionageliteratur zu integrieren. Das literarische System wird dadurch allerdings nicht gestürzt - im Gegenteil, ein Grund hierfür mag auch in der Verortung dieser Art von Literatur im Gesamtsystem liegen.

1.2

Trivialliteratur? - Schema-Literatur! 4 3

Wenn [ein] Leser die >Volksliteratur< einem >guten Buch< vorzieht, so geschieht das auf Grund eines bestimmten, seelischen Seins, das an die Lektüre bestimmte Forderungen (z. B. klare fassliche Sprache und verständliche Charakterzeichnung) und Wünsche (ζ. B. Erlebnisanreicherung) stellt. Selbst wenn man die theoretischen und praktischen Möglichkeiten vorbehaltlos bejaht, wird es Generationen dauern, bevor das Ziel erreicht ist. In der Zwischenzeit müssen wir weiterhin mit Millionen von Lesern rechnen, die aus seelischer Bedingtheit heraus nicht zum >guten Buch< sondern zur >Volksliteratur< greifen. 44

Mit diesen Worten versucht ein Autor aus dem Untersuchungszeitraum, Paul Alfred Müller, 1935 gegenüber einer offiziellen Prüfstelle seinen Beitrag zur »Volksbildung« zu legitimieren. Müller geht davon aus, daß man die Bevölkerung zum »guten Buch« erziehen kann. In seinen weiteren Ausführungen wird deutlich, daß seine literarischen Arbeiten dazu dienen sollen, die erwähnten Forderungen zu erfüllen, aber gleichzeitig das Niveau von Sprache und Inhalten anzuheben; ein ambitioniertes Unternehmen, wenn man berücksichtigt, daß Müller hier von einer Groschenheft-Reihe spricht. Dieser kleine Exkurs in die Selbstwahrnehmung eines Autors dient vor allem dazu, einen weiteren Problemkreis der Zukunftsromane in der Zwischenkriegsphase zu eröffnen. Nicht ohne Grund sind diese Romane heute in Vergessenheit geraten: Sowohl Inhalte, als auch Stil und Erzählstrukturen sind von geringer Qualität. »Trivialliteratur« - so muß auf den ersten Blick das Urteil lauten. »Trivialliteratur ist nicht das Problem der Leute, die sie lesen, für die wird sie nicht zum Problem. Sie ist das Problem der Leute, die sich mit ihr kritisch beschäftigen, die kommen mit diesem Problem nicht zu Rande.« 45 Zimmermann beschreibt 42

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44

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16

Vgl. dazu Erich Köhler: Gattungssystem und Gesellschaftssystem. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 7-21, hier S. 18f., so auch das Folgende. Die Kapitelüberschrift ist angelehnt an Hans Dieter Zimmermann: Trivialliteratur? SchemaLiteratur! Entstehung Formen Bewertung, 2. Auflage. Stuttgart u. a. 1982. BA Berlin R 181/2, S. 367-377, Schreiben Paul Alfred Müller an die Prüfstelle Berlin, 1.2.1935, hier S. 374. Zimmermann, Trivialliteratur? Schema-Literatur!, S. 9.

hier ironisch die Anstrengungen der Forschung bei der Beschäftigung mit diesem Phänomen. Fragen nach der Bewertung von Trivialliteratur bzw. nach Unterscheidungskriterien zwischen »hoher« und »niederer« Literatur haben die Forschung zwar vor einiger Zeit stark beschäftigt, führten zugleich aber dennoch ein seltsames Eigenleben, abgetrennt von sonstiger Literaturbetrachtung. Die Literaturwissenschaften entdeckten die Formen von Literatur, die bisher nur »die kleinen Leute« zur Unterhaltung lasen, als Forschungsgegenstand relativ spät. 46 Erst in den sechziger Jahren begann man, sich mit dem Bereich der »Trivialliteratur« auseinanderzusetzen. 47 Dies gestaltete sich erkennbar schwierig. 48 Letztlich befand man sich gegenüber der traditionellen Literaturwissenschaft was Methodik und Relevanz der Untersuchungsgegenstände anbelangte, immer in der Defensive. Am fruchtbarsten waren die Studien, bei denen man sich auf den interdisziplinären Charakter der Forschung besann und mit anderen Bereichen wie Soziologie und Geschichtswissenschaften zusammenarbeitete 49 Insgesamt verebbte das Interesse relativ schnell. In den 1980er Jahren folgten noch einige spezielle Untersuchungen, aber schon in den 1990er Jahren verschwand dieser Forschungsbereich wieder. Höchstens die Frage der allgemeinen Kanonbildung ist - getragen von einer Koalition aus Kulturwissenschaft, gender und postcolonial studies - noch von Interesse. Es scheint, daß man sich auf diesem Gebiet nicht genügend etablieren kann, um dauerhafte Forschungen zu initiieren. Dennoch sind bei der Auseinandersetzung mit diesem doch eher »sperrigen« Feld auch einige produktive Herangehensweisen entwickelt worden, auf die im folgenden eingegangen werden soll.

1.2.1

Ergebnisse der Forschung

Grandthese der Forschung ist, daß die Trivialliteratur andere Bedürfnisse als die »anspruchsvolle« Literatur bedient. Allgemein wird als ihr Hauptziel angesehen, den 46

Summers weist allerdings lange Traditionslinien bestimmter Argumente innerhalb der Trivialliteraturkritik nach; Ronald Eugene Summers: The German Critical Reception of Trivialliteratur, 1775-1933. Mikroverfilmung 1986. Zur historischen Entwicklung der populären Literatur vgl. Helga Geyer-Ryan: Der andere Roman. Versuch über die verdrängte Ästhetik des Populären. Wilhelmshaven 1983. Zur Entstehung von »populärer Kultur« bis 1900 vgl. Hermann Bausinger: Populäre Kultur zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg. In: Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 29^15.

47

Vgl. Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 5) Frankfurt a. M. 1970. Zum Forschungsstand vgl. Manfred Nusser: Trivialliteratur, Stuttgart 1991, S. 10-20. Einen guten Überblick über die Forschungsdiskussionen bietet auch Zdenko Skreb: Trivialliteratur. In: ders./Uwe Baur (Hg.): Erzählgattungen der Trivialliteratur. (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft: Germanistische Reihe 18) Innsbruck 1984, S. 9-31. Im folgenden stütze ich mich vor allem auf Nusser und Skreb. Vgl. zu den Schwierigkeiten in bezug auf die Science Fiction Ingrid Cella: Die Schwierigkeiten der Germanistik mit der Science Fiction. In: Fantasia 16 (1994), S. 21-29. Vgl. dazu vor allem Bernd Lenz: Popular Literature und Cultural Studies. Bilanz und Perspektiven. In: Dieter Petzold/Eberhard Späth (Hg.): Unterhaltungsliteratur. Ziele und Methoden ihrer Erforschung. (Erlanger Forschungen, Reihe A 55) Erlangen 1990, S. 161-175.

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Menschen eine Fluchtmöglichkeit aus dem Alltag zu bieten. 50 Wie Höllerer darlegt, sucht der moderne Mensch, der sich durch Individualisierung und steigende Komplexität der Welt nach einem ganzheitlichen Weltbild sehnt, eine Möglichkeit, der »heldenfernen Arbeitsteiligkeit« 51 zu entkommen. Dazu ist so etwas wie eine »Wirklichkeitsumformung« 52 notwendig, die die Welt wieder als ein Ganzes erscheinen läßt. Undurchschaubares wird ausgeblendet, es gibt einfache Antworten auf einfache Fragen, ein Happy End ist gewährleistet. Der Leser muß also nicht reflexiv auf das Gelesene reagieren. Es gibt keine Widersprüche oder ausweglose Situationen. Er weiß, daß der Held die Fähigkeiten hat, zu bestehen und alles zu einem guten Ende zu führen. Der Erzählstil ist auktorial, der Leser kann sicher sein, über alle wichtigen Ereignisse zeitnah und umfassend informiert zu sein. Komplexere Literatur dagegen thematisiert gerade das Widersprüchliche in der Welt und kann allenfalls eine Auflösung auf einer höheren Ebene leisten. Der Erzählstil ist entweder personal oder so multiperspektivisch, daß der Leser keine eindeutige Haltung zum Erzählten einnehmen kann. Der große Vorwurf, der mit der Berechenbarkeit des trivial Erzählten verbunden ist, ist der affirmative Charakter, der dem Trivialroman zwangsläufig eigen ist. 53 Probleme, die sich dem Menschen in einer komplexen Welt stellen, finden keinen adäquaten Eingang und können somit auch nicht in eine (fiktive) Lösung münden. Ziel des Trivialromans ist es, durch Emotionalisierung dem vom wahren Leben frustrierten Leser die Möglichkeit zu geben, sich durch das Lesen »abzureagieren« 54 , um so die Welt, wie sie wirklich ist, wieder ertragen zu können. Das bedeutet auch, daß Erwartungshaltungen zuerst aufgerufen werden müssen, um dann auch entsprechend erfüllt zu werden. Überraschungen dürfen nur in einem fest abgesteckten Rahmen vorkommen und gewisse Grenzen der Stereotypie nicht überschreiten. 55 Grundsätzlich ist festzustellen, daß mit dem Trivialen zumeist auch das Konservative einhergeht. 56 Wenn Erwartungshaltungen erfüllt werden müssen, finden Innovationen nur schlecht Eingang in die Geschichten. Als Beispiel kann hier auf den Heimatroman verwiesen werden, der ein Bild der ländlichen Lebenswelt vermittelt, das schon lange nicht mehr - wenn überhaupt jemals - der Realität entspricht. 57 50

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Vgl. Gerhard Teuscher: Perry Rhodan, Jerry Cotton und Johannes Mario Simmel. Eine Darstellung zu Theorie, Geschichte und Vertretern der Trivialliteratur. Stuttgart 1999, S. 28. Walter Höllerer: Über Ergebnisse der Arbeitskreise »Untersuchungen zur Trivialliteratur< an der Technischen Universität Berlin. In: Heinz Otto Burger (Hg.): Studien zur Trivialliteratur. Frankfurt a. M. 1968, S. 34-56, hier S. 36. Hans Friedrich Foltin: Zur Erforschung der Unterhaltungs- und Trivialliteratur, insbesondere im Bereich des Romans. In: Heinz Otto Burger (Hg.): Studien zur Trivialliteratur. Frankfurt a. M. 1968, S. 242-270, hier S. 242. Vgl. Höllerer, Über Ergebnisse der Arbeitskreise »Untersuchungen zur Trivialliteratur< an der Technischen Universität Berlin, S. 53. Nusser, Trivialliteratur, S. 122. Dies gilt ζ. B. auch für einen traditionellen Kriminalroman, bei dem zur Erwartungshaltung gehört, davon überrascht zu werden, wer der Mörder war. Vgl. Hermann Bausinger: Wege zur Erforschung der trivialen Literatur. In: Heinz Otto Burger (Hg.): Studien zur Trivialliteratur. Frankfurt a. M. 1968, S. 1-33, hier S. 26. Vgl. dazu Höllerer, Über die Ergebnisse der Arbeitskreise »Untersuchungen zur Trivialliteratur< an der Technischen Universität Berlin, S. 41.

Um die gewünschte Wirkung - Flucht aus der Wirklichkeit - zu ermöglichen, werden bestimmte formale und inhaltliche Mittel eingesetzt, die der literarästhetischen Kritik ausgesetzt sind. Die wichtigsten Stilmittel sind ein immer gleicher Aufbau, ein auktorialer Erzähler, Klischees, kurz: Kitsch. Grandvoraussetzung für das Funktionieren der Trivialliteratur ist, daß es dem Leser gelingt, sich vollkommen mit dem Haupthelden der Handlung zu identifizieren. Nur so ist die Flucht möglich, kann die »heile« Welt geglaubt werden. Entscheidend für das Funktionieren einer um Geschlossenheit bemühten Welt sind einfache Dichotomien wie gut - böse, häßlich - schön, erfolgreich - erfolglos etc. Der Held erfüllt alle positiven Eigenschaften und sieht sich einem Gegner gegenüber, der wiederum alle negativen Eigenschaften auf sich vereint. 58 Diese Stereotype sind notwendig, damit sich der Leser schnell zurechtfindet und die geschilderte Welt zu kennen glaubt. Wie bereits oben erwähnt, möchte der Leser, daß diese Erwartungshaltung bestätigt und nicht ins Wanken gebracht wird. Denkleistungen werden nicht implizit geleistet, sondern müssen zum Mitverfolgen explizit im Text erarbeitet werden: »Daß der Autor mehr gewußt hat als der Leser, ist in Ordnung; aber daß er mehr gedacht hat, wird ihm nicht so leicht verziehen«, sagte Karl Kraus einmal. 59 So werden Aufbau und Sprache der Forderung nach Erfüllung der Erwartungen untergeordnet und das Geschehen berechenbar - das Erzählte erscheint kitschig. 60 Letztlich wird dem Kitsch vorgeworfen, er betreibe reine Effekthascherei. 61 Auch wenn dieser Vorwurf in der heutigen Zeit, in der der Kitsch Eingang in die »hohe« Kunst gefunden hat, überholt ist, 62 so kann er doch als Beschreibungsmittel des Stils von Schema-Literatur herangezogen werden. Es werden Anleihen bei Techniken und Bildern aus der anerkannten Kunst genommen, wenn diese sich etabliert haben, um den gewünschten Effekt zu erzielen (»Popularisierung abgenutzter Effekte« 63 ). Das Gefühl soll angesprochen werden. 64 Ein wichtiges Element ist wohl die maßlose Übertreibung, die damit einhergeht. Es muß vom Autor in jedem Fall gewährleistet 58 59 60

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Vgl. Nusser, Trivialliteratur, S. 127. Karl Kraus: Sprüche und Widersprüche. Frankfurt a. M. 1965, S. 127. Ein Vorwurf, der, wie Braungart zu Recht feststellt, vor allem dazu dient, Kunst in Abgrenzung von Kitsch zu definieren. Braungart schreibt: »Kitsch ist das schlechte Gewissen der Kunst; Kitsch und Kunst sind ein Begriffspaar, das voneinander nicht loskommt.«; Wolfgang Braungart: Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Einige verstreute Anmerkungen zur Einführung. In: ders. (Hg.): Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Tübingen 2002, S. 1-24, hier S. 2. Zum Begriff »Kitsch« vgl. auch in demselben Band Hans-Edwin Friedrich: Hausgreul - Massenschund - radikal Böses. Die Karriere des Kitschbegriffs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, S. 35-58, sowie Jochen Schulte-Sassen: Die Kritik an der Trivialliteratur seit der Aufklärung. Studien zur Geschichte des modernen Kitschbegriffs. (Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 6) München 1971. Einen Überblick über den Forschungsstand bietet Dietrich Mathy: Kitsch. In: Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, hg. von Hans-Otto Hügel. Stuttgart, Weimar 2003, S. 281-284. Vgl. Umberto Eco: Die Struktur des schlechten Geschmacks. In: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt a. M. 1984, S. 59-116. Friedrich spricht sogar davon, daß um 1980 die Diskussion um den Begriff »kollabiert« sei, vgl. Friedrich, Hausgreul - Massenschund - radikal Böses, S. 35. Eco, Die Struktur des schlechten Geschmacks, S. 73. Vgl. Braungart, Kitsch, S. 22.

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werden, daß der gewünschte Effekt einsetzt. Dies ist nur zu erreichen, wenn kein Zweifel mehr an der Wirkung aufkommen kann. Daraus läßt sich erklären, warum in den Romanen häufig unklare Vorboten von Unheil zu linden sind. Wenn die Handlung schon (kurzfristig) eine ungute Wendung nehmen muß, damit die Spannung erhalten bleibt, wird dennoch Wert darauf gelegt, daß der Leser darauf rechtzeitig vorbereitet wird. Auch hier darf die Überraschung nicht zu groß sein. Es läßt vermuten, daß es das ist, was einem »anspruchvolleren« Leser die Lektüre so langweilig macht: der gewünschte Effekt setzt viel zu schnell ein, man weiß bereits, was die Zielrichtung sein wird, und muß trotzdem dasselbe noch in verschiedenen Variationen mitverfolgen. Wie bereits gesagt, ist das Ziel solcher »Effekthascherei« immer, daß der Leser sich in der fiktionalen Welt zurechtfindet. Er bedarf also gewisser Schablonen, die ihm dies problemlos und schnell ermöglichen. Das hat zugleich auch etwas mit den Produktionsbedingungen von Massenliteratur zu tun. Wie Foltin darlegt, unterscheidet sich die Herstellung eines Trivialromans nicht sehr von derjenigen anderer industrieller Güter. 65 Stil und Produktionsweise lassen sich also nicht mehr voneinander trennen. 66 Besonders Serienautoren, die vertraglich zu bestimmten Abgabefristen verpflichtet sind, sehen sich zu standardisierten Erzählmustern gezwungen. Dies läßt sich schon bei Jules Verne feststellen, der klare, serielle Produktionsbedingungen hatte und diesen mit einem Zettelkasten an technischen Daten und Motiven zu begegnen versuchte 67 Leserumfragen über bevorzugte Geschichten und Formen tun heute ein übriges. Dies mag für den Massenroman vor dem Zweiten Weltkrieg noch weniger gelten als für die heutige Trivialliteratur. Ansätze dazu konnte man aber sicherlich schon finden. Am Beispiel Hans Dominiks zeigt sich, wie sehr er auf bewährte Muster zurückgreift. Hauptziel dieser Art von Romanen ist es zwar, einerseits eine neue Geschichte zu erzählen, aber auch Altbekanntes und -bewährtes zu präsentieren, so daß der Leser genau das geboten bekommt, was er sich aus der Kenntnis des letzten Romans her erwartet hat. 68 Der Markt dient als ausschließliche Orientierung, Experimente sind zu vermeiden. Das Produktionsverfahren ist für die in dieser Arbeit betrachteten Bücher zum Teil relevant, erschienen sie doch gelegentlich erst als Fortsetzungsromane in Zeitungen, bevor sie ihre Buchform erhielten. Auch hier kann Dominik als Beispiel dienen. Bei ihm fehlen Kapitelunterteilungen, dafür kommt es manchmal zu etwas unmotivierten Szenensprüngen. Der Aufbau der Geschichte verlangt bei einer seriellen Produktion, daß einerseits jede Teilgeschichte genügend Spannung und Auflösung bietet, aber andererseits dazu anspornt, weiter zu lesen. Die Handlung muß rasch und doch übersichtlich voranschreiten.

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Vgl. Foltin, Zur Erforschung der Unterhaltungs- und Trivialliteratur, insbesondere im Bereich des Romans, S. 257. Vgl. dazu auch Friedrich, Hausgreul - Massenschund - radikal Böses (vor allem S. 4 7 54), der hervorhebt, daß gerade das Entstehen von Massenkultur die Diskussion um Kitsch auslöste. Vgl. dazu Innerhofer, Deutsche Science Fiction, S. 30f. Vgl. dazu Fischer, The Empire Strikes Out, S. 199.

Hügel weist in seiner Einleitung zum Handbuch der Populären Kultur daraufhin, daß der Wert eines populären Kunstwerks weniger in seiner autonomieästhetischen Konzeption liegt - wie dies bei einem Kunstwerk der »hohen« Kultur der Fall wäre als vielmehr in seinen Kontextualisierungsmöglichkeiten. 69 Populäre Kultur bedarf eines außerhalb des konkreten Produkts liegenden Rahmens, bestehend aus ähnlichen Produkten und einer gemeinsamen Rezipientengruppe. Dies bedingt auch die Herausbildung einer gewissen Art von »Insidern«, also Anhängern, die sich dieser Referentialität bewußt sind.

1.2.2

Fragen der Vergleichbarkeit mit »hoher« Literatur: Zimmermanns Konzept der »Schema-Literatur«

Eine Richtung der Forschung zu Trivialliteratur versucht, wie im vorangegangenen Abschnitt kurz aufgezeigt, die Unterschiede zwischen »hoher« und »niederer« Literatur herauszuarbeiten. 70 Andere Richtungen dagegen wehren sich grundsätzlich gegen eine Vergleichbarkeit: 71 der Leserkreis, sogar die Vertriebskreise seien zu verschieden etc. Die Arbeit von Falck konnte hier zeigen, daß sich von Seiten der Rezipienten eine solch strikte Trennung nicht aufrechterhalten läßt. 72 Eine grundsätzliche Ablehnung von Überschneidung oder Vergleichbarkeit zwischen den beiden Literaturarten ist tatsächlich nicht sinnvoll. Auch »hohe« Literatur hat Gebrauchswert; nicht alles, was im Kanon steht, wird allein wegen des metaphysischen Inhalts gelesen. 73 Darum wurde vor allem von Foltin der Versuch unternommen, eine Mittellage zwischen den beiden Ebenen einzuziehen, die der »Unterhaltungsliteratur«. Für ihn gehören dazu »Werke der Schönen Literatur, die keinen bemerkenswerten ästhetischen Genuß vermitteln (der stets mit erhöhter Aufmerk69

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»Die Bemühungen der Hörer (und nicht nur der Fans) von Popsongs um die Texte [... ] und die zahlreichen Angebote im Internet, auf Plattencovern und Booklets, in Übersetzungen und Songbooks, die die Lyrics nachlesbar machen, sind ein Indiz, daß auch beim populären Text Bedeutungsproduktion als Realisation von Bedeutung und nicht bloß als eigenschöpferisches Herstellen von Bedeutung aufzufassen ist. Der Rezipient produziert nicht beliebig aus seiner sozialen oder gar aus seiner psychischen Befindlichkeit heraus die Bedeutung des Textes, sondern realisiert etwas, das Text und Kontext strukturiert anbieten.«; Hans-Otto Hügel: Einführung. In: Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, hg. von Hans-Otto Hügel. Stuttgart, Weimar 2003, S. 1-22, hier S. 16. Vgl. u. a. Christa Bürger/Peter Bürger/Jochen Schulte-Sassen (Hg.): Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur. (Hefte für kritische Literaturwissenschaft 3) Frankfurt a. M. 1982. Vgl. dazu Bausinger, Wege zur Erforschung der trivialen Literatur, S. 5ff. Lennart Falck: Sprachliche >Klischees< und Rezeption. Empirische Untersuchungen zum Trivialitätsbegriff. (Zürcher Germanistische Studien 33) Bern u. a. 1992. Falck wählte ein empirisches Vorgehen und befragte Leser mit unterschiedlichen Leseerfahrungen zu Texten unterschiedlicher Niveaus. Das Ergebnis seiner Untersuchungen zeigt, daß die Bewertungen der Texte durch die Leser nicht in Verbindung mit ihren sonstigen Leseerfahrungen gebracht werden konnten. Vgl. dazu auch Günther Fetzer: Wertungsprobleme in der Trivialliteraturforschung. München 1980. Fetzer versuchte als Erster, dieser »Dichotomie« entgegenzuwirken. Vgl. Foltin, Zur Erforschung der Unterhaltungs- und Trivialliteratur, insbesondere im Bereich des Romans, S. 263. 21

samkeit und einiger Reflexion verbunden ist), sondern einfach die Langeweile des Lesers vertreiben wollen«. 74 Dagegen ließe sich einwenden, daß eine solche weitere Ebene zwischen der trivialen und der hohen Literatur das Problem von Vergleichbarkeit nicht behebt, sondern nur verschiebt. 75 Wie so oft in der kritischen Auseinandersetzung mit Abgrenzungsversuchen, bleibt zu konstatieren, daß der Übergang ein fließender ist. Zimmermann stellt in seiner Untersuchung ein Kategoriensystem auf, das anhand einzelner Merkmale im Bereich der Literaturproduktion, des Autorenverständnisses, der Werke selbst und auch des Leserpublikums eine Art von Skala zur Verfügung stellt, die eine Zuordnung zu einer der drei Literaturstufen Trivial-, Unterhaltungsund, wie er es nennt, »Literatenliteratur« ermöglicht. 76 Im Bereich »Herstellung und Vertrieb« sind das Fragen wie Erscheinungsformen und Produktionszeiten, Aufmachung, Vertriebsorte etc. »Hohe« Literatur würde sich dadurch auszeichnen, daß sie relativ langsam entsteht, eine solide Aufmachung besitzt und über Buchläden vertrieben wird. Unterhaltungsliteratur dagegen wird relativ schnell geschrieben, die Aufmachung ist tendenziell reißerisch, der Vertrieb bezieht auch den Kiosk oder das Kaufhaus mit ein. Trivialliteratur dagegen muß sehr schnell fertig gestellt sein, ihre Titel und Umschläge sind effekthascherisch, das Endprodukt wird man wohl weniger in Buchläden als vielmehr fast ausschließlich an Kiosken finden können. 77 Ähnliche Unterscheidungsmerkmale betreffen den Autor, wie ζ. B. sein Bekanntheitsgrad, Bezahlung (pauschal, Verkaufsbeteiligung, Höhe), der Ausbildungsstand und Sozialprestige. Das Werk an sich kann von der inhaltlichen und stilistischen Ausprägung eher starren Regeln folgen oder aber innovativ sein, es kann den Erwartungen der Leser entsprechen oder sich gezielt dagegen verhalten. Dies hängt allerdings auch vom Erwartungshorizont der Leser ab. Hier spielen Ausbildung, Kritikfähigkeit und Themenvorlieben ein große Rolle. »Hohe« Literatur verhält sich in jedem einzelnen Punkt zumeist anders als »niedere«. Nach Zimmermann hängt die Positionierung des jeweiligen Literaturtypus von den Zeitumständen ab. Er weist daraufhin, daß etwa das Festhalten an strengen Normen, wie ζ. B. der Poetik von Aristoteles, zeitweise eindeutig ein Merkmal der hohen und nicht der Trivialliteratur war. 78 Veränderungen an der vorgegebenen Struktur der literarischen Produktion entstehen für Zimmermann dadurch, daß langsam Innovationen, die durch einzelne Texte vorgenommen werden, die literarische Tradition transformieren und umstrukturieren. Literaturgattungen, die kanonisiert sind, haben hier aber zum Teil weniger Möglich74

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Foltin, Zur Erforschung der Unterhaltungs- und Trivialliteratur, insbesondere im Bereich des Romans, S. 263. Dasselbe gilt für Versuche, eine andere Begrifflichkeit einzuführen, wie ζ. B. durch Schröder, der den Begriff der »Paraliteratur« verwendet. Er will damit den Unterschied zwischen »anerkannter« und »nicht-anerkannter« Literatur stärker hervorheben. Für ihn zeichnet sich die Paraliteratur besonders durch ihren Warenwert aus; Horst Schröder: Science Fiction Literatur in den USA. Vorstudien für eine materialistische Paraliteraturwissenschaft. Gießen 1978. Vgl. Zimmermann, Trivialliteratur? Schema-Literatur!, S. 22-26. Interessant wäre es, heute, im Zeitalter des Internets, diese Vertriebswege noch einmal zu überprüfen. Es ist zu erwarten, daß sich die Unterscheidung nivelliert und alle Literaturarten gleichermaßen über dieses Medium vertrieben werden. Vgl. Zimmermann, Trivialliteratur? Schema-Literatur!, S. 39.

keiten zur Innovation als nicht-kanonisierte, wobei die konkrete Zuweisung zum Kanon wiederum historisch bedingt ist. Das Beispiel der Poetik von Aristoteles weist auf den, historisch gesehen, begrenzten Spielraum der damaligen »anspruchsvollen« Literatur hin, in der Moderne dagegen kommt gerade der »Literatenliteratur« die Aufgabe zu, Neues zu schaffen, von Bekanntem abzuweichen. Die Fortentwicklung der literarischen Tradition wird somit zu unterschiedlichen Zeiten durch unterschiedlicher Ausprägung von Literatur geleistet. Um dieses Phänomen, bzw. das »System Literatur«, wie Zimmermann es nennt, beschreibbar zu machen, müssen neue Begrifflichkeiten gefunden werden. Zimmermann führt aus diesem Grund den Begriff »Schema-Literatur« ein. 79 Schema-Literatur erfüllt die Funktion des Normalfalls, der Regelhaftigkeit, die keinen Ansprach auf Innovation erhebt. Dies geschieht unabhängig von den ästhetischen Ansprüchen und läßt auch die Beobachtung von Entwicklungen zu, die jenseits der etablierten Literatur stattfinden. Wie bereits gesagt, sind oftmals die noch nicht endgültig ausdifferenzierten Gattungen und Literaturarten diejenigen, die innovativ sein können und zwar auf unterschiedlichen Ebenen. Dies schließt dann neben der Ausgestaltung eines konkreten Werkes auch Bereiche wie die Produktionsbedingungen, das Selbstverständnis des Autors sowie des angesprochenen Lesers ein. Erfolgreiche Literatur innerhalb der bekannten (trivialen) Gattungen wie ζ. B. Arztroman, Heimatroman, aber auch Wildwest-Roman muß Schema-Literatur sein, da sie Erwartungshaltungen erfüllen muß. Sie wird von »Dominanten«, also festen, klar erkennbaren Elementen strukturiert, die sich eindeutig beschreiben lassen. 80 Änderungen daran werden nur selten und langsam akzeptiert, wenngleich sie durchaus möglich sind. Verstößt ein Werk dagegen ganz explizit und gewollt gegen das Schema, bestraft der Leser das Buch durch reine Mißachtung. Zimmermann selbst erwähnt die Science Fiction als ein solches Literatur-System: Jules Verne, so seine Überlegung, habe es begründet und ein »begrenztes Feld von Wahlmöglichkeiten geschaffen [, im Anschluß erfolgte dann] die Reduktion dieses Feldes auf ein Schema, das wir in den Perry Rhodan-Heftromanen finden [und schließlich gab es] die Befreiung vom Schema in den Romanen von Stanislaw Lern, in denen die neuen Werke durchaus das System innovieren.« (S. 37) Der Zukunftsroman von 1918 bis 1945 changiert hier noch zwischen diesen Polen. Die einzelnen Autoren schreiben mit unterschiedlichem Anspruch und Erfolg, die Produktionsbedingungen waren bei weitem noch nicht so seriell wie bei den Perry Rhodan-Heften üblich. Die unterschiedlichen Merkmale von hoher und trivialer Literatur lassen sich zu diesem Zeitpunkt bei einzelnen Werken noch nicht einheitlich auf der Bewertungsskala verorten. Das Schema mußte sich erst entwickeln. Dies hat seinen Anfang sicherlich bereits im 19. Jahrhundert genommen und bildete sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts aus, ehe sich die innovativeren, anspruchsvolleren Werke davon abheben konnten. 79 80

Vgl. Zimmermann, Trivialliteratur? Schema-Literatur!, S. 36. »In noch deutlicherem Maße als literarische Texte sind Gattungen durch ihre >Selektionsstruktur< charakterisiert, bei der die jeweiligen Dominanten (Text- und Lesererwartungskonstanten) eine entscheidende Rolle spielen und die Geschichte der Gattung weitgehend strukturieren.«; Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. In: Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre. Heidelberg 1977, S. 27^14, hier S. 29.

23

Ein großer Anteil der vorliegenden Untersuchung ist der Beschreibung des Schemas gewidmet, das im Untersuchungszeitraum entstand. Das Schema, also die Norm, an der sich die Literatur auszurichten hat, beinhaltet eine auf Wiederholbarkeit angelegte Struktur, die sich in klischeehaften Bildern und Geschichten zeigt, und ist mehr auf Affirmation denn auf Innovation ausgerichtet. Als ein gemeinsames Merkmal jenseits der Gattung können darüber hinaus die ökonomische Ausrichtung und die Produktionsbedingungen angesehen werden, die, anders als in der »hohen« Literatur, ein Erfolgskriterium sind. Schema-Literatur wird durch eine eindeutige Charakterisierung erst beschreibbar, unabhängig davon, ob der Einzelfall diesem Schema wirklich in allen Details entspricht. Auch wenn ein Schema hilft, Normen zu erkennen, zu verstehen und auf Seiten der Autoren auch anzuwenden, birgt der Zukunftsroman das Potential zu mehr Komplexität als andere Genres. Dies wird die weitere Analyse zeigen. Immerhin ist das Charakteristikum der Science Fiction, daß sie »von allen unterhaltungsliterarischen Genres das flexibelste [ist], da sie wie kein anderes die Kombination beliebiger inhaltlicher Elemente anderer Gattungen mit eigenen Elementen zuläßt«. 81 Das eröffnet theoretisch die Möglichkeit, variationsreicher als andere Gattungen erzählen zu können. Wie bereits in der Darstellung zu den Traditionslinien der Science Fiction deutlich wurde, kann man den Zukunftsroman somit auch als einen besonders exotisch ausgestalteten Reiseroman lesen. Die Space Operas, also Science Fiction, die sich besonders dem Reisen durch den Weltraum und dem Leben auf fremden Planeten widmet, wären ein schönes Beispiel hierfür. Diese verschiedenen Ausgestaltungsmöglichkeiten verlangen auch vom Leser eine gewisse Bereitschaft, sich mit Neuem auseinanderzusetzen. Zukünftiges an sich muß anders sein als das Bekannte. Damit allerdings verstößt der Roman explizit gegen die Regeln der Schema-Literatur. Zum Schema des Zukunftsromans gehört quasi paradoxerweise, nicht hundertprozentig dem Schema zu entsprechen. Der Leser eines Zukunftsromans wird also aufgrund der Gattungsform und anders als sonst beim Trivialroman erwarten, daß eben nicht alles so ist, wie er es kennt. Die oben erwähnten festen Erzählstrukturen garantieren natürlich ebenso, daß die Flexibilität des Lesers nicht überstrapaziert wird. Fischer hat sich in seiner Spezialstudie zu Kurd Laßwitz und Hans Dominik mit diesem Aspekt in seinem theoretischen Einführungsteil ausführlich beschäftigt: 82 The generic presupposition of SF requires that the imaginary world be different from our own, and that the author impresses the difference upon the reader. At the same time the reader must be persuaded to accept the imaginary world as a real and plausible environment. Thus the >exploration< of the imaginary world which is conducted in SF has a complex effect on the reader, one involving elements of both alienation and familiarization or d o mestication^ as H. G. Wells called it. (S. 26)

Seiner Ansicht nach ist ein wichtiges Mittel, dem Leser Unbekanntes auf »reale und plausible« Weise nahezubringen, eine »transparent diction« (S. 51), worunter Fischer 81

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Gerd Hallenberger: Macht und Herrschaft in den Welten der Science Fiction. Die politische Seite der SF: Eine inhaltsanalytische Bestandsaufnahme. (Studien zur phantastischen Literatur, 3) Meitingen 1986, S. 74-78. Vgl. Fischer, The Empire Strikes Out, Kapitel I: »Imaginary World, Imaginary Science: A Descriptive and Theoretical Analysis of Science Fiction«, S. 14-55.

konventionelle Plots, chronologische Strukturen, einfach konstruierte, fast stereotype Charaktere und eine Vorliebe für nebensächliche Details versteht, einhergehend mit einem unauffälligen Erzählstil in der dritten Person. 83 Dies sind natürlich wiederum Merkmale, die jeder Trivialliteratur innewohnen, daher verwundert es wenig, daß die Science Fiction oft vorschnell und pauschal in die »triviale« Ecke gestellt wird. Der Darstellung der theoretischen Verortung der Gattung folgen nun die konkreten Forschungsergebnisse zum deutschen Zukunftsroman 1918-1945. Die bisherige Forschung hat den Roman weniger nach gattungstheoretischen Gesichtspunkten als hinsichtlich ihrer ideologischen Ausrichtung untersucht. Jedoch können ohne ausreichende Kenntnis des Schemas keine Aussagen über die Inhalte getroffen werden. Gründe für diese Annahme werden im Anschluß an den Forschungsüberblick noch einmal ausführlicher dargestellt.

1.3

Der deutsche Zukunftsroman in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich«

1.3.1

Bisherige Forschungsergebnisse

Nur wenige Literaturwissenschaftler haben sich bisher ausführlicher mit dem Zukunftsroman der Zwischenkriegszeit beschäftigt. Für manche begann die deutsche Science Fiction grundsätzlich erst ein eigenständiges Dasein nach dem Zweiten Weltkrieg zu führen. So ζ. B. für Wolfgang Jeschke, der ohne weitere Begründung feststellt: »Den Beginn der Science Fiction in Deutschland kann man 1952 ansetzen.« 84 Die wenigen Autoren, die sich ausführlicher mit den Zukunftsromanen vor 1945 auseinandergesetzt haben, seien hier kurz vorgestellt und ihre Ergebnisse diskutiert. 85 Die auch theoretisch sehr ausführliche Arbeit von William B. Fischer (The Empire Strikes Out. Kurd Lasswitz, Hans Dominik, and the Development of German Science Fiction, 1984) wird an dieser Stelle nicht besprochen, da sie eher eine 83

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Fischer, The Empire Strikes Out, S. 51. In der Analyse gerade von Hans Dominiks Romanen scheint Fischer nur noch wenig Gebrauch von dieser Überlegung zu machen. Er wirft Dominik die Einfachheit seiner Erzählstrukturen (neben den ideologischen Inhalten) vor. Wolfgang leschke: Science Fiction in Deutschland. In: Rolf-Dieter Kluge/Rolf Kellner (Hg.): Aspekte der Science Fiction in Ost und West. Vortragsreihe des Slawischen Seminars im Rahmen des Studium Generale der Universität Tübingen. Tübingen 1985, S. 7 7 88, hier S. 77. Jeschke legt diesen Beginn mit einer (gescheiterten) vierbändigen Reihe von »Weltraumbüchern« im Karl Rauch Verlag fest; vgl. dazu Kapitel 8.3: Ausblick auf die Entwicklung der Gattung nach 1945, unten, S. 343ff. Weitere Autoren, die die Vorläufer der Science Fiction ignorieren, sind beispielsweise Reimer Jehmlich: Die deformierte Zukunft. Untersuchungen zur Science Fiction. München 1974, oder auch Michael Pehlke/Norbert Lingfeld: Roboter und Gartenlaube. Ideologie und Unterhaltung in der Science-Fiction-Literatur. München 1970. Vollständigkeitshalber muß noch Michael Salewski: Zeitgeist und Zeitmaschine. Science Fiction und Geschichte. München 1986, erwähnt werden. Dieser wenig systematische Geschichts- und Themenaufriß der Science Fiction seit immerhin dem Mittelalter hat allerdings stark essayistische und polemische Züge. Ein kurze Darstellung, die einige Romane und Filme inhaltlich vorstellt, und auf die nicht näher eingegangen werden muß, findet sich bei Robert Hector: SF in Deutschland vor dem II. Weltkrieg. In: Fantasia 108/109 (1997), S. 101-109.

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Spezialstudie zu den genannten Autoren darstellt als eine Gattungsbeschreibung. Sie wird an den entsprechenden Stellen Erwähnung finden.

Pionierarbeit und Ideologieverdacht: Manfred Nagl Manfred Nagl war der erste, der sich 1972 in seiner Studie zur Science Fiction in Deutschland besonders mit der Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur auseinandersetzte. Nagl beschäftigt sich im Gegensatz zu den anderen Science Fiction-Forschern sehr intensiv mit den Zukunftsromanen der Zwischenkriegszeit. Für seine Analyse zieht er ein großes Spektrum an Romanen heran, stellt sie aber grundsätzlich unter einen »Ideologieverdacht« (S. 22). Da er von vornherein davon ausgeht, daß »Massenliteratur«, wie er Schema-Literatur nennt, als »Konformliteratur« zu verstehen ist, die nur systemkonformen Interessen dient, findet er in den Bücher auch nur das, wonach er sucht: »die direkte oder latente Propagierung von Ideologie zur Legitimation bestehender Herrschaftsverhältnisse« (S. 22). Nagl knüpft an die Überlegungen zur Geschichte der Utopie an. Seiner Ansicht nach stellt die deutsche Science Fiction ihre illegitime Nachfolgerin dar, mit Hilfe derer sich die bürgerlichen Kräfte durch die politischen Enttäuschungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins »Unverbindlich-Phantastische« (S. 24) zurückzogen. 86 Mit Jules Verne übernimmt nach diesem Rückzug die Technik das Ruder: sie ist das handlungsleitende Prinzip, das entweder als Bedrohung oder Optimierung der Gesellschaft fungiert. Alles lief, so Nagl, auf die Entmündigung des Individuums zugunsten der Technik und damit der herrschenden politischen Kräfte hinaus. Davon ausgehend interpretiert Nagl nun die deutschen Zukunftsromane bis zum Erscheinen seiner Arbeit in den frühen 1970er Jahren. Er wird dabei Opfer seines eigenen Mißtrauens. Gewillt, ideologische Funktionsweisen zu entlarven, entdeckt er auch nur solche. Alle Romane aus den 1920er Jahren avancieren so zu aktiven Mithelfern der Machtübernahme Hitlers. 87 Deutlich wird dies ζ. B. an dem Roman Druso (1931) von Friedrich Freksa [d. i. Kurt Friedrich], der sich für Nagl als eine »sexualpathologischefn] Sekundärmotivation des Rassenhasses« (S. 167) darstellt. Der Roman beschreibt, wie im 24. Jahrhundert die Erde von riesigen Insekten überfallen und die Menschen seitdem als Sklaven gehalten werden. Frauen sind dazu gezwungen, als Masseurinnen und sogar Brütund Melkstationen für die Aufzucht der Insekten zu dienen. Unbestritten finden sich hier viele sexuell konnotierte Bilder, die Insekten sind äußerst ekelhaft. Nagl sieht in ihnen die für den zeitgenössischen Leser nur wenig verschlüsselte Metapher von

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Nagl schreibt, daß sich die »Science Fiction [... ] (gegenüber anderen Formen der Massenliteratur) als pervertiertes Erbe der Utopie die direkt politische Indoktrination zugunsten der bürgerlichen Reaktion bewahrt« habe (S. 96). An solchen Sätzen erkennt man den politischen Impetus, den Nagl hinter seine Untersuchung gesetzt hat. »Auch in jenen Romanen, die nicht direkt zur faschistischen Machtübernahme aufriefen, finden sich zumindest Teile jenes Syndroms von autoritären, elitären, apolitischen (nicht unpolitischen!), rassistischen, antidemokratischen und vor allem antisozialistischen Tendenzen, das die emotionale Basis des Nationalsozialismus bildete.« (S. 164)

Dekadenz und Schmarotzertum, die, seiner Meinung nach, nur für die Juden stehen können. Nagl ist sich der Fiktionalität dieser Texte nicht bewußt. Ganz offenbar sucht er Beweise, die seinen Ideologieverdacht belegen und dabei unterscheidet er nicht mehr zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Alles, was in den Texten zu finden ist, muß im Sinne einer politischen Aussage deutbar gemacht werden. Andere Textebenen als die der politisch motivierten haben in einem solchen Verständnis von Funktion der Literatur keinen Platz. Kann daher ein Roman nicht mehr unmittelbar politisch gedeutet werden, dann muß nach »Bildern« gesucht werden, die »für etwas stehen«, damit sie wieder in diesem Sinne verständlich werden. In dem Versuch, Allegorese zu betreiben, wird für Nagl aus Riesenspinnen, die die Welt kolonisieren, eine große Allegorie auf das Weltjudentum, das sein Netz überall ausbreitet und die Menschen aussaugt. Den Beleg für seine Aussage gewinnt er durch Analogie mit anderen zeitgenössischen - nichtfiktionalen - Texten, nicht aber aus dem Roman selbst. Daß es sich um einen Romantypus handeln könnte, der Horrorelemente mit einer Zukunftsvorstellung kombiniert und damit den Schauerroman wiederbelebt, zieht er nicht in Erwägung. 88 Nagl übersieht, daß es sich um ein literarisches Produkt handelt, das vielleicht auf seine Weise ideologische Inhalte transportiert, aber auch eine Eigengesetzlichkeit entwickelt hat, deren Funktionsweise erst ermittelt werden muß. Davon ausgehend, daß Schema-Literatur dieser Art nicht ohne weiteres Innovationen in die Handlung einführen kann, bedarf es eines Blicks auf das literarische Umfeld über den konkreten Titel hinaus. Freksas Einzelstellung in der Romanlandschaft läßt darauf schließen, daß die Innovationsbereitschaft, ausgedrückt durch die Idee der Invasion durch Insekten - abgesehen von einer Zeitreise, einem im Untersuchungszeitraum eher seltenen Motiv - keine Nachahmer gefunden hat. Sein Roman konnte sich unter der zeitgenössischen Konkurrenz nicht behaupten, er paßte zuwenig ins Schema. Dies verwundert bei einen Roman, der nach Nagl, die faschistoide Grundstruktur des Zukunftsromans als exponiertes Beispiel belegen soll. 89 Noch in anderer Hinsicht mißt Nagl bestimmten Romanelemente zu große Bedeutung bei. So kommt er beispielsweise zu dem Ergebnis, daß ein Gattungsmerkmal der frühen Science Fiction gerade der Irrationalismus ist, der vom Faschismus zur Lenkung der Massen eingesetzt wurde. Er bezieht sich auf die Widersprüchlichkeit der nazistischen Denkweise, die sowohl eine »Blut und Boden«-Ideologie propagierte als auch technische Aufrüstung betrieb. Er belegt dies anhand zahlreicher Pseudowissenschaften, wie der Welteislehre oder Hohlwelttheorie, die sich in der Zeit

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Zum Spannungsverhältnis zwischen Phantasie und Allegorie vgl. Lynette Hunter: Modern Allegory and Fantasy. Rhetorical Stances of Contemporary Writing. New York 1989. Als weiteres Beispiel für die präjudizierende Logik von Nagls Interpretationen kann gelten, daß die Gattung aus seiner Sicht so ausreichend ideologisch gefestigt war, daß sie sich nicht einmal mehr an das Tabu der »Rassenreinheit« halten mußte und Vereinigungen von Menschen mit Außerirdischen zulassen konnte; Nagl, Science Fiction in Deutschland, S. 193. Dagegenhalten ließe sich, daß solche Tabubrüche genauso gut als ein Hinweis auf eine gewisse Unabhängigkeit der Gattung gegenüber dem politischen System gesehen werden kann.

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auch in den Romanen großer Beliebtheit erfreuten. 90 Irrational sind diese Theorien aber nur aus der Rückschau bzw. aus konkret-wissenschaftlicher Perspektive. Daß sie aber innerhalb eines Romans vor allem die Funktion zur Herstellung der geforderten Plausibilität erbringen, wird von ihm, die fiktionale Logik von Romanen ignorierend, ausgeblendet. Die Kritikpunkte werten das Hinterfragen der Romane auf ihren ideologischen Grundgehalt nicht ab. Vielmehr muß der erzählerische Inhalt sowohl hinsichtlich seines ideologischen Gehalts als auch hinsichtlich seiner gattungsimmanenten Funktionsweisen untersucht werden. Dies kann vor Vorverurteilung und Überinterpretation bewahren. Manfred Nagl schrieb 1981 noch eine Art »Studienbuch«, Science Fiction. Ein Segment populärer Kultur im Medien- und Produktverbund, in dem er seine eigene Herangehensweise relativiert und auch andere diskutiert. 91 Trotzdem bleibt er auch in diesem Buch ideologiekritisch. Das äußert sich unter anderem darin, daß er beständig die vermeintliche Minderwertigkeit des Genres herausstellt. Dies ist bedauerlich, da er mit diesem Buch den Versuch unternimmt, diese Gattung auch als Marktphänomen greifbar und beschreibbar zu machen. Seine Ansätze wären ergiebiger, sähe er nicht gleichzeitig die von ihm beschriebenen Mechanismen von vornherein als perfiden ideologischen Ausdruck eines inhumanen Kapitalismus.

Zukunftsromane als Propagandamittel: lost Hermand und Christian Härtels Erwiderung Was bei Manfred Nagl die fatale Folge des Niedergangs der Gattung »Utopie« darstellt, nämlich, daß diese lediglich Ausdruck der herrschenden faschistischen Kräfte ist, wird bei lost Hermand schon zum expliziten Propagandainstrament: Hermand nimmt die Romane von 1933 bis 1940 (aber auch schon davor) als Beweis dafür, daß gezielte (offizielle) nationalsozialistische Phantasien darin einen geeigneten Ort zur Verbreitung fanden. Der Autor betrachtet wiederholt die Frage nach den Utopien der Nationalsozialisten bzw. der »völkischen Utopie« allgemein: sein Buch Der alte Traum vom neuen Reich stellt seine sonstigen Darstellungen 92 in einen größeren 90

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Vgl. Nagl, Science Fiction in Deutschland, S. 172-194, eine genauere Darstellung dieser Theorien findet sich in Kapitel 4.3.1: Wissenschaft, Technik und Ingenieursvisionen, unten, S. 13 Off. Nagl nennt seine Methode »intentionalistisch«, also mit einem klaren Ziel versehen, da sie die Science Fiction als unterschwellig ideologisch reaktionäres Genre begreift; Nagl, Science Fiction, S. 21. Dies steht im Gegensatz zu einer neutraleren Sichtweise, die sowohl Utopie als auch Science Fiction in ihrer Folge anti-ideologisch auffaßt. Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus. Frankfurt 1988. Frühere Aufsätze sind: ders.: Ultima Thüle. Völkische und faschistische Zukunftsvisionen. In: ders.: Orte. Irgendwo. Formen utopischen Denkens. Königstein 1981, S. 185-189, ders.: Ein Volk von österlich Auferstehenden. Zukunftsvisionen aus dem ersten Jahr des Dritten Reiches. In: Hiltrud Gnüg (Hg.): Literarische Utopie-Entwürfe. Frankfurt a. M. 1982, ders.: Zwischen Superhirn und grüner Siedlung. Faschistische Zukunftsvisionen. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 40 (1988), S. 134-150, ders.: tausendjähriges Reich< oder >Ewiger Kampf ums Dasein