Negative Identität und Lebenspraxis: Zur praktisch-philosophischen Rekonstruktion unverfügbarer Subjektivität 9783495997604, 9783495481769, 3495481761


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Table of contents :
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Vorwort
Einleitung
Erster Teil: Systematik negativer Identität
I.1. Identitätsdiskurs und praktische Philosophie
I.1.1. Systematik des Identitätsdiskurses
I.1.2. Identität und Moderne
I.1.3. Eine Fragestellung praktischer Philosophie
I.2. Identität und Verzweiflung (Michael Theunissen)
I.2.1. Auf der Suche nach existenziellen Lösungen
I.2.2. Existenzdialektik der Verzweiflung
I.2.3. Verzweiflung unter der Herrschaft der Zeit
I.2.4. Selbstverlust, Selbstverwirklichung, negative Identität
I.3. Identität und Alterität (Paul Ricoeur)
I.3.1. Eine andere Identität (Locke, Parfit, Ricoeur)
I.3.2. Facetten negativer Identität: Alterität, Bezeugung, Narrativität
I.3.3. Negation von Identität und Sinn
I.4. Identität und moralische Güter (Charles Taylor)
I.4.1. Aporien des Intrasubjektivismus
I.4.2. Eine transzendentalphänomenologische Handlungstheorie
I.4.3. Intersubjektivität aus identitätstheoretischer Sicht
I.4.4. Kritik des modernen Identitätsbegriffs
I.4.5. Negative Identität und moralische Güter
I.5. Zum identitätstheoretischen Sinn von Negativität
I.5.1 Dialektische und konstitutive Negativität
I.5.2. Von der Schwierigkeit, Identität negativ zu denken. Ein kritisches Zwischenergebnis
Zweiter Teil: Negative Identität und Lebenspraxis
II.1. Identitätskonstruktion? Kritik der instrumentellen Identität
II.1.1. Zum Identitätsbegriff der Sozialwissenschaften
II.1.2. Kritik am Instrumentalismus
II.1.3. Orientierung am Guten (zugleich: Kritik an der Kompensationsphilosopie)
II.2. Das Leben – ein Kunstwerk? Kritik der Philosophie der Lebenskunst
II.2.1. Die Gefahr einer unphilosophischen Theorie der Lebenskunst
II.2.2. Philosophische Kritik der Lebenskunst: Verlust von Negativität
II.2.3. Negativität und Lebenskunst
II.3. Nichtverstehbarkeit. Phänomenologie als negative Hermeneutik
II.3.1. Das negative Moment der Phänomenologie
II.3.2. Negation primären Verstehens als Methode des Sichtbarmachens
II.3.3. Phänomenologie als Ideologiekritik und Emanzipation
II.3.4. Negative Hermeneutik des Nicht-Verstehbaren
II.4. Fremdsein. Interkulturalität und negative Ethik
II.4.1. Negativität und Interkulturalität
II.4.2. Systematische Diskussion:Was spricht für eine Ethik der Negativität?
II.4.3. Negative Identität und interkulturelle Praxis
Schluss
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Negative Identität und Lebenspraxis: Zur praktisch-philosophischen Rekonstruktion unverfügbarer Subjektivität
 9783495997604, 9783495481769, 3495481761

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Philipp Thomas

Negative Identitt und Lebenspraxis Zur praktisch-philosophischen Rekonstruktion unverfgbarer Subjektivitt

BAND 76 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997604

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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https://doi.org/10.5771/9783495997604 .

Über dieses Buch: Der Ansatz dieser Habilitationsschrift stellt den Versuch dar, systematisch den modernen Topos einer sich selbst begründenden Subjektivität zu sprengen. Dies geschieht in Auseinandersetzung mit zentralen Denkern der Gegenwartsphilosophie (Taylor, Ricœur, Theunissen), welche ältere Identitätsquellen erschließen: Nichtverstehbarkeit und fehlende Selbstdurchsichtigkeit, Unverfügbarkeit und Widerfahrnischarakter des Selbst, apriorische Konstitution von Subjektivität durch Intersubjektivität. Doch erst vermittelt über das Negativitätsdenken des 20. Jhs. (Heidegger, Wittgenstein, Adorno) sind diese älteren Quellen auf der Problemhöhe des Gegenwartsdenkens wieder zugänglich. Im zweiten Teil der Untersuchung werden die Ergebnisse ausführlich auf zentrale Fragen der praktischen Philosophie bezogen. Der Autor: Philipp Thomas, geb. 1965, studierte Philosophie, evangelische Theologie und Biologie in Freiburg i. Br., Berlin und Heidelberg; Promotion in Philosophie in Darmstadt, Habilitation in Philosophie in Dresden. Hauptarbeitsgebiete: Orientierungsfragen, Ethik, Anthropologie, Phänomenologie, Negativitätstheorie.

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Philipp Thomas Negative Identitt und Lebenspraxis

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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Gnther Bien, Karl-Heinz Nusser und Annemarie Pieper Band 76

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Philipp Thomas

Negative Identitt und Lebenspraxis Zur praktisch-philosophischen Rekonstruktion unverfgbarer Subjektivitt

Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen https://doi.org/10.5771/9783495997604 .

Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/Mnchen 2006 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Fhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2006 www.difo-druck.de ISBN-13: 978-3-495-48176-9 ISBN-10: 3-495-48176-1

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Inhaltsverzeichnis

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil: Systematik negativer Identität

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Vorwort

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I.1. Identitätsdiskurs und praktische Philosophie . . . . . . I.1.1. Systematik des Identitätsdiskurses . . . . . . . . I.1.2. Identität und Moderne . . . . . . . . . . . . . . I.1.3. Eine Fragestellung praktischer Philosophie . . . . I.2. Identität und Verzweiflung (Michael Theunissen) . . . I.2.1. Auf der Suche nach existenziellen Lösungen . . . I.2.2. Existenzdialektik der Verzweiflung . . . . . . . . I.2.3. Verzweiflung unter der Herrschaft der Zeit . . . I.2.4. Selbstverlust, Selbstverwirklichung, negative Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.3. Identität und Alterität (Paul Ricœur) . . . . . . . . . . I.3.1. Eine andere Identität (Locke, Parfit, Ricœur) . . . I.3.2. Facetten negativer Identität: Alterität, Bezeugung, Narrativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.3.3. Negation von Identität und Sinn . . . . . . . . . I.4. Identität und moralische Güter (Charles Taylor) . . . . I.4.1. Aporien des Intrasubjektivismus . . . . . . . . . I.4.2. Eine transzendentalphänomenologische Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . I.4.3. Intersubjektivität aus identitätstheoretischer Sicht

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Inhaltsverzeichnis

I.4.4. Kritik des modernen Identitätsbegriffs . . . I.4.5. Negative Identität und moralische Güter . . I.5. Zum identitätstheoretischen Sinn von Negativität I.5.1 Dialektische und konstitutive Negativität . I.5.2. Von der Schwierigkeit, Identität negativ zu denken. Ein kritisches Zwischenergebnis . .

Zweiter Teil: Negative Identität und Lebenspraxis

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II.1. Identitätskonstruktion? Kritik der instrumentellen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.1. Zum Identitätsbegriff der Sozialwissenschaften . II.1.2. Kritik am Instrumentalismus . . . . . . . . . . . II.1.3. Orientierung am Guten (zugleich: Kritik an der Kompensationsphilosopie) . . . . . . . . . . . . II.2. Das Leben – ein Kunstwerk? Kritik der Philosophie der Lebenskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.1. Die Gefahr einer unphilosophischen Theorie der Lebenskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2. Philosophische Kritik der Lebenskunst: Verlust von Negativität . . . . . . . . . . . . . . II.2.3. Negativität und Lebenskunst . . . . . . . . . . . II.3. Nichtverstehbarkeit. Phänomenologie als negative Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3.1. Das negative Moment der Phänomenologie . . . II.3.2. Negation primären Verstehens als Methode des Sichtbarmachens . . . . . . . . . . . . . . . II.3.3. Phänomenologie als Ideologiekritik und Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3.4. Negative Hermeneutik des Nicht-Verstehbaren . II.4. Fremdsein. Interkulturalität und negative Ethik . . . . II.4.1. Negativität und Interkulturalität . . . . . . . . . II.4.2. Systematische Diskussion: Was spricht für eine Ethik der Negativität? . . . . . . . . . . . . . . II.4.3. Negative Identität und interkulturelle Praxis . .

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

. 168 . 168 . 176 . 182 . 189 . 191 . 196 . 200 . 212 . 214 . 220 . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Sachregister

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Vorwort

Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift mit gleichem Titel, die im WS 2004/05 von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden angenommen wurde. Die Arbeit wurde ermöglicht durch die Unterstützung vieler Personen und Institutionen – ihnen bin ich zu Dank verpflichtet. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft gewährte ein Habilitandenstipendium. Besonders bedanken möchte ich mich bei den Professoren Gernot Böhme, Ekkehard Martens, Thomas Rentsch und Johannes Rohbeck, die mich in dem Versuch bestärkt haben, lebenspraktische, phänomenologische und negativitätstheoretische Begriffe zusammen zu denken. August 2005

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Einleitung

Es gibt freilich Rechtfertigung; aber die Rechtfertigung hat ein Ende. Ludwig Wittgenstein Es gibt kein Denken, das all unser Denken umfasste. Maurice Merleau-Ponty Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt. Robert Musil

Der Begriff negative Identität bezeichnet die Unmöglichkeit der Selbstbegründung und der Selbsterhaltung des denkenden und handelnden Subjekts. Er umschließt auch jene Auswirkungen, welche die Einsicht in diese Unmöglichkeit auf das Selbstverständnis des Subjekts hat. Welches philosophische Forschungsprogramm mit der Formulierung negative Identität umrissen ist, lässt sich am besten philosophiegeschichtlich beschreiben. Philosophen wie Robert Spaemann, Hans Blumenberg, Dieter Henrich, Walter Schulz und anderen verdanken wir die in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts geleistete systematische Erschließung der »Grundstruktur der modernen Philosophie«, 1 die mit dem Terminus Selbsterhaltung bezeichnet worden ist. Spaemann konnte (etwa bei Spinoza und Hobbes) eine Inversion der Teleologie nachweisen: Anders als in der antiken und christlichen Teleologie liegt das zu realisierende Gute in der Moderne nicht mehr außerhalb des Seienden, vielmehr, wenn etwa die Formulierung der natura naturans jene ältere der creatio conDie Formulierung stammt von Dieter Henrich (vgl. Henrich 1996a). Zum Folgenden vgl. vor allem die in dem von Hans Ebeling herausgegebenen Band Subjektivität und Selbsterhaltung versammelten Ausschnitte aus den Werken der genannten Philosophen (vgl. Ebeling 1996a, ders. 1996b, Spaemann 1996, Blumenberg 1996, Henrich 1996a, ders. 1996b).

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Einleitung

tinua beerbt, ist nun das Seiende selbst das Ziel. Dass diese Interpretation des Neuen lediglich als einer Art Schwundstufe des Alten zu wenig das Eigenrecht des Selbstverständnisses der Moderne und der modernen Konzeption von Vernunft bestimmen kann, hat Blumenberg gegen Spaemann eingewandt. Das Prinzip der in der frühen Neuzeit entdeckten spezifischen Form von Rationalität sieht Blumenberg in den intransitiven Erhaltungssätzen (Newton, Spinoza). Henrich legt den systematischen Schwerpunkt stärker auf den Zusammenhang von Selbsterhaltung und Selbstbewusstsein. Besonders in der Philosophie des deutschen Idealismus kann er nachweisen, wie Selbstbewusstsein und die Einheitlichkeit des Bewusstseinszusammenhangs zum Mittel der Selbsterhaltung rationaler Wesen werden. Für die Sache negativer Identität, die ja ihrerseits eher den Abschied vom Prinzip der Selbsterhaltung und von jedem Gedanken der Selbstbegründung bedeutet, ist nun in besonderem Maße jene Bewegung einschlägig, die schon im deutschen Idealismus selbst einsetzt und im nachidealistischen Denken entfaltet wird, nämlich die systematische Thematisierung der Unmöglichkeit der Selbstbegründung. Was hier seit der Wende vom 18. zum 19. Jh. in der Philosophie thematisch wird, ließe sich als Vorläufer oder als historisch erste Form dessen bezeichnen, was dann im 20. Jh. (durch das Negativitätsdenken der Gegenwartsphilosophie etwa bei Heidegger, Wittgenstein oder Adorno) eine erneute Wendung und Verschärfung erfährt und was als negative Identität auch Gegenstand dieser Untersuchung ist. Den Topos vom unverfügbaren Ursprung der Subjektivität und des Selbstbewusstseins hat Henrich im Werk Fichtes und Hölderlins untersucht. Während Fichte noch 1794 von der schlechthinnigen Selbstsetzung des Ichs ausgeht, denkt er seit 1801 als Grund des Selbstbewusstseins ein Absolutes, welches die Ichheit übersteigt, indem dieses Absolute (als unausdenkbarer Ursprung der Selbstheit) das Wissen des Selbst von sich allererst ins Dasein bringt. 2 In Hölderlins Manuskript Urtheil und Seyn kann Henrich sodann zeigen, wie Hölderlin den Grund des Bewusstseins so denkt, dass Seyn zu Bewusstsein (wie andererseits auch zu Natur) wird. Liegt die (erste) Begründung von Selbstbewusstsein in diesem Prozess der Wandlung einer Substanz, so liegt die fortlaufende Selbsterhaltung in der Beziehung des Bewusstseins zur (aus dem ursprünglichen Seyn geworde-

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Vgl. Henrich 1967, ders. 1993b.

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Einleitung

nen) Natur. 3 In Schellings Spätwerk schließlich, so die Untersuchungen von Schulz, wird das ›Dass der Vernunft‹ ausdrücklich thematisch. Der Geist (das Bewusstsein) erfährt sich gewissermaßen als in seinen Selbstvollzug eingesetzt, als einer ersten Selbstsetzung nicht mächtig – Selbstbewusstsein erfährt sich als endliche Faktizität. 4 Mit dem Grundgedanken des unverfügbaren Ursprungs und der Faktizität der Subjektivität ist schon im deutschen Idealismus ein Problem benannt, dem sich das Gegenwartsdenken in eigener Weise widmen kann. Dass nachidealistische, etwa materialistische Theorien (um noch auf eine andere Traditionslinie zu verweisen) der Problemhöhe dieser in Selbstreflexion gewonnenen Einsicht bei allen sonstigen Vorzügen in einer bestimmten Hinsicht nicht gerecht werden, liegt vor allem daran, dass solche Theorien stets in dem ein oder anderen Wirklichkeitsmodell eine Realität voraussetzen, von welcher das Bewusstsein dann als abhängig vorgestellt wird. Auf diese Weise können sie die Faktizitätserfahrung des Selbstbewusstseins nicht rekonstruieren, denn diese ist wesentlich die Erfahrung einer undenkbaren Wirklichkeit, die das Subjekt existierend zu vollziehen hat. 5 Wie wird der Gedanke der Unmöglichkeit der Selbstbegründung im 20. Jh. weiterentwickelt? Heidegger nimmt den Begriff der Faktizität des Subjekts in seiner frühen Philosophie in der Rede vom Dasein und dem geworfenen Entwurf auf. In Sein und Zeit wird Dasein (radikaler negativ noch als in den Spätwerken des deutschen Idealismus) allein aus ihm selbst ausgelegt, es gibt als Ermöglichungsgrund weder Gott noch eine absolute Vernunft. Als Grund des Bewusstseins entdeckt das Dasein (in spezifischen Stimmungen) in sich Seinsverständnis bzw. (in Was ist Metaphysik?) eine Hineingehaltenheit ins Nichts, welche nun ein Seinsverständnis nicht länger als Fähigkeit (eines Subjekts), sondern als ein Geschehen bedeutet, das unverfügbar im Dasein geschieht. Nach Heideggers Kehre scheint diese radikale Negativität als Kern von Subjektivität sogar noch gesteigert zu werden, insofern Dasein immer passiver (als vom Sein Gebrauchtes usw.) bestimmt wird. Doch der Vergleich zwischen Heideggers früher und seiner späten Philosophie zeigt, dass die späte gerade jene Errungenschaft an Negativität verspielt, welche die frühe Vgl. Henrich 1992: 658 ff. Vgl. Schulz 1955, ders. 1969: 100. Zum Verhältnis der Spätphilosophien Fichtes und Schellings vgl. Wetz 1994b: 18 ff., zu Schelling vgl. auch Wetz 1994a: 68 ff., 122 ff. 5 So Schulz 1969: 101. 3 4

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Einleitung

Philosophie auszeichnet: Während Sein und Zeit Dasein konsequent phänomenologisch, also unter Einklammerung jedes Wirklichkeitsmodells (unter Vermeidung jedes Zuvielwissens und damit streng negativ) zu bestimmen versucht (dies macht den Text auch so künstlich), stellt die Spätphilosophie letztlich doch wieder ein Wirklichkeitsmodell, ein big picture dar, demzufolge es das Sein ist, das den Menschen zu seiner Wahrung bzw. Bergung (in bildender Kunst, Dichtung oder Philosophie) braucht und auf dessen Zuspruch der Denker zu hören hat usw. Anhand dieser Errungenschaft (hinsichtlich Negativität) des frühen Denkens Heideggers und dem erneuten Zurückfallen hinter diese Errungenschaft lässt sich für den Begriff negative Identität indirekt ein Kriterium (und damit eine Aufgabe für diese Untersuchung) formulieren: Es kommt nicht nur darauf an, Subjektivität negativ im Sinne von entsubstanzialisiert, nicht selbstmächtig, passiv usw. zu denken (wie dies in Heideggers Spätphilosophie ja in hohem Maße der Fall ist), sondern mehr noch kommt es darauf an, Subjektivität im Sinne einer prinzipiell fehlenden Selbstdurchsichtigkeit, also vor allem ohne Repräsentationstheorie und ohne das Modell einer Gesamtwirklichkeit zu denken. Denn dies ist der tiefste Sinn des neueren Negativitätsdenkens etwa bei Wittgenstein, Heidegger oder Merleau-Ponty: Negativität ist konstitutiv für Subjektivität als vorgängige sprachliche Bedeutung, als strukturelle Gebrochenheit und Endlichkeit der Existenz und des Verstehens, als Unmöglichkeit absoluter Gewissheit und einer denkenden Bemächtigung der Welt. Sinnkonstitutiv für alles Denken und Handeln sind zudem Intersubjektivität und (dies betont vor allem Charles Taylor) die subjektvorgängige Geltung moralischer Güter, sinnkonstitutiv ist mithin Kulturalität als Bestimmung von Subjektivität. 6 Es kommt also darauf an, den Gedanken von der Unmöglichkeit der Selbstbegründung (als Erbe des deutschen Idealismus) in ganz spezifischer Weise aufzunehmen. Wieso verwendet diese Arbeit den Begriff Identität (statt Subjektivität)? Es stellt ein wesentliches Ergebnis (und eine konsequente Folge) gegenwärtigen Negativitätsdenkens dar, Subjektivität nicht Wie Taylor Kulturalität im Rahmen einer phänomenologischen Handlungstheorie gewissermaßen in konsequenter Selbstreflexion denken kann und damit der naiven Ansetzung einer selbständigen Realität entgeht, von der Subjektivität dann als abhängig vorgestellt wird, versuche ich in I.4. zu zeigen.

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mehr auf die Spitze des Selbstbewusstseins bzw. allein auf die denkende Aktivität des Subjekts einzuschränken. Im 20. Jh. ist nicht mehr vor allem vom Subjekt der Erkenntnis die Rede, sondern vom Subjekt der Lebenswelt (Husserl), von Dasein, In-der-Welt-sein (Heidegger) oder von Être-au-monde (Merleau-Ponty). Diese Tradition fortsetzend wähle ich in der vorliegenden Untersuchung den Begriff der Identität, um das nicht mehr nur erkennende und reflektierende Subjekt zu beschreiben. Untersucht wird die Konstitution von Subjektivität – aber gerade insofern, als Praxis, Intersubjektivität, moralische Güter oder die Lebensgeschichte konstitutiv für Subjektivität sind. Der Begriff der Identität setzt gewissermaßen tief genug an, um hier verschiedene Traditionen zu verbinden und für die Analyse der Konstitution auszuwerten. Der Begriff der Identität ist zwar ein klassischer Begriff der Philosophie etwa in der Tradition des Problems diachroner Selbigkeit, in der romantischen Tradition des authentischen Selbstseins oder in der Tradition der Nicht-Identität (Adorno). 7 Doch gerade im Bereich der Subjektivitätskonstitution sind wegen der starken subjekt- und erkenntnistheoretischen Tradition der Moderne andere Begriffe verwendet worden bzw. der Begriff Identität wird hier einseitig (und voreilig) den Sozialwissenschaften überlassen. Es sind Denker wie Paul Ricœur oder Charles Taylor, die Identität wieder explizit als Terminus der Philosophie etablieren. Sie tun dies, um mittels eines Begriffs, der umfassender ist als jener klassisch moderne des desengagierten Subjekts (Taylor) bzw. des cogito (Ricœur), Phänomene der Subjektivitätskonstitution untersuchen zu können, die in Zusammenhang mit der eigenen Lebensgeschichte, mit dem Anspruch des Anderen oder mit moralischen Gütern (und deren kulturellem Status) stehen. Insofern diese Phänomene ihr Spezifikum gerade darin haben, dass sich Identität nicht selbst konstruiert (wie dies etwa im Kontext des sozialwissenschaftlichen Begriffs der Identitätsarbeit oder des philosophischen Begriffs der Lebenskunst der Fall ist) wird hier schon Negativität bestimmend für Identität. Untersucht wird etwa, wie Alterität (der Anspruch des Anderen, Ricœur), wie anthropologische Grundlagen der Ethik (Nussbaum) oder wie die Artikulation kultureller Werte im Handeln (Taylor) Identität ausmachen. Dies geschieht, verkürzt gesagt, so, Einen Überblick über verschiedene philosophische und außerphilosophische Identitätsbegriffe bietet I.1.

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Einleitung

dass ein Fremdes als Eigenes bewusst wird und dass, um diese Bewegung auf Hegels Begriff der doppelten Negation abzubilden, Identität in ihrer inneren Differenz erkannt und gleichzeitig diese Differenz wesentlich als die innere Differenz einer Einheit gedacht wird. So erscheint dann das Selbst als ein Anderer, wie der Titel des einschlägigen Werks Ricœurs lautet. Neben diesem eher dialektischen Begriff von Negativität geht freilich noch ein weiterer Negativitätsbegriff in die Bestimmung von Identität ein. Dies ist dann der Fall, wenn sich Identität in der konsequenten Reflexion der prinzipiellen Selbstundurchsichtigkeit des Subjekts bildet, in der Reflexion der Unmöglichkeit absoluter Gewissheit oder der verstehenden Weltbewältigung, kurz: wenn der Identitätsbegriff vor dem Hintergrund der bedeutenden Ergebnisse des Negativitätsdenkens der Philosophie des 20. Jhs. konzipiert wird. Es werden also von Seiten der Philosophie gegenwärtig Anstrengungen unternommen (und diese sind Gegenstand der vorliegenden Untersuchung), Subjektivität erstens nicht mehr verengt (etwa verengt auf die Einheit des Selbstbewusstseins) und zweitens nicht mehr im modernen Kontext von Selbsterhaltung, Selbstsetzung, Selbstbegründung oder Selbstkonstruktion zu konzipieren. Stattdessen findet der weitere Begriff Identität Verwendung bzw. stattdessen wird die Konstitution von Identität durch die Struktur der fehlenden Selbstmächtigkeit, der Gebrochenheit des Verstehens usw. untersucht – untersucht wird damit die Konstitution von Identität durch Negativität, untersucht wird negative Identität. Philosophiegeschichtlich bedeutet dies: In den 60er und 70er Jahren des 20. Jhs. konnten bedeutende Forschungen (s. o.) die Grundstruktur der modernen Philosophie (und der modernen Subjektivität) mit dem Prinzip der Selbsterhaltung bestimmen. Gleichzeitig ließ sich zeigen, wie auf dem Höhepunkt des Idealismus die Unverfügbarkeit und die Faktizität eines seienden Subjekts einsichtig und zu einem neuen (idealistisch vermittelten) philosophischen Thema wurde. Dieses Thema (so die Hintergrundthese dieser Untersuchung), genauer der Abschied vom Begriff der Selbsterhaltung (und mehr noch vom Begriff der Selbstbegründung, der Selbstkonstruktion), der gleichzeitig nicht den Rückfall in den vormodernen Topos der Fremdbegründung bedeutet, liegt dem Denken des 20. Jhs. besonders nahe, (anders gesagt:) die Voraussetzungen für Identitätskonzeptionen im Kontext des Abschieds von der Selbsterhaltung sind besonders günstig: Denn das Negativitätsdenken des 20. Jhs. ermöglicht es, den Sinn 18

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Einleitung

dessen, was der Idealismus als Unverfügbarkeit des Bewusstseins für sich selbst und als Faktizität des Subjekts gedacht hat, ganz neu (und vor allem viel breiter, nicht auf Selbstbewusstsein beschränkt) zu bestimmen – nämlich als negative Identität. Bei der Entfaltung und Bestimmung dieses Begriffs kommt es besonders darauf an, jedes big picture zu vermeiden, Negativität also auch gegen jene Tendenz zu Geschlossenheit und Totalität zu richten, der eine philosophische Subjektivitätstheorie unterliegen kann. Dies ist der Hintergrund der Fragestellung der vorliegenden Arbeit. Die Fragestellung selbst lautet: Wie kann Identität heute philosophisch hinreichend bestimmt werden? In theoretischer Hinsicht geht es darum, die Figur der Selbsterhaltung zu unterlaufen und sie nicht etwa (im Sinne der klassischen Modernekritik eines Friedrich Nietzsche) durch den Begriff der Selbsterfindung oder der Selbsterschaffung zu überbieten. Ebenso muss freilich ein Rückfall in vormodernes Denken vermieden werden; der Ausweg in eine metaphysische (oder religiöse) Hintergrundannahme bleibt verstellt. Das erste Kapitel des ersten Teils der Untersuchung lotet zunächst den Begriff der Identität systematisch hinsichtlich der verschiedenen Identitätsdiskurse aus und rekonstruiert die besondere Bedeutung von Identität für das Selbstverständnis der Moderne. Im zweiten bis vierten Kapitel des ersten Teils versuche ich anhand der Werke von Michael Theunissen, Paul Ricœur und Charles Taylor den Begriff negative Identität systematisch zu begründen. 8 Im letzten Kapitel des Das, was negative Identität systematisch meint, hat in der Geschichte der Philosophie sowie in der Gegenwartsphilosophie viele Wurzeln. Eine Vollständigkeit in der Auswahl relevanter Traditionen und Ansätze, soviel war schon zu Beginn der vorliegenden Untersuchung klar, kann nicht erzielt werden. Die drei herangezogenen Philosophen verbindet ein phänomenologisches Element, und es ist dieses Verbindende, auf das sich die Untersuchung bei der Frage nach negativer Identität vor allem konzentriert: Wie vermag gerade jener antireduktionistische Impetus, welcher noch gegen das Denken und gegen Philosophie selbst gerichtet ist und welcher Phänomene im Kontext der Identität gegen ihre vorschnelle Konzeptualisierung bewahren möchte, wie vermag dieser phänomenologische Impetus den Begriff negativer Identität systematisch zu begründen? Die Sache negativer Identität hat eine reiche Tradition. Hierzu zählen die antike Skepsis (vgl. Friedo Ricken (1994): Antike Skeptiker. München) ebenso wie der viktorianische Agnostizismus (vgl. Bernard Lightman (1987): The origins of agnosticism. Victorian unbelieve and the limits of knowledge. Baltimore) und die Subjektivitätstheorien der Deutschen Idealisten (vgl. Henrich 1992, ders. 1993b; Thomas Buchheim (Hg.) (2004): »Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde«. Schellings Philosophie der Personalität. Berlin; Peter Grove (2004): Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion. Berlin). Negativität und Identität sind in der Gegenwartsphiloso-

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ersten Teils wird über eine Differenzierung des Negativitätsbegriffs in dialektische und konstitutive Negativität (als wesentliche Entdeckungen einerseits des 19. und andererseits des 20. Jhs.) eine systematische Bewertung der durch die einzelnen untersuchten Denker ermöglichten Konzeptionen negativer Identität entwickelt. In praktischer Hinsicht (im zweiten Teil der Untersuchung) geht es bei der Frage nach einer hinreichenden philosophischen Bestimmung von Identität um eine spezifische Orientierungsleistung durch Philosophie. Die Frage nach Identität ist im Kontext der Lebenspraxis für uns Bewohner der Moderne stets auch eine Frage nach Orientierung. Der explizit philosophische Entwurf einer negativen Identität tritt lebenspraktisch in Konkurrenz zu jeweils schon bestehender Orientierung: Deshalb kritisiert das erste Kapitel des zweiten Teils der Untersuchung vor dem Hintergrund des herausgearbeiteten Begriffs negativer Identität den sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriff bzw. das (unausdrücklich oder ausdrücklich) orientierende Konzept der Identitätsarbeit. In derselben kritischen Absicht wende ich mich im zweiten Kapitel des praktischen Teils der Arbeit gegen den Identitätsbegriff der Philosophie der Lebenskunst, dem ich Negativitätsvergessenheit vorwerfe. Diese beiden Kapitel versuchen im Anschluss an die systematische Kritik für das jeweilige Praxisfeld Gegenentwürfe im Ausgang von der philosophischen Bestimmung negativer Identität. Diese Gegenentwürfe werden im dritten und vierten Kapitel des zweiten Teils fortgeführt, nämlich im Sinne einer negativen Hermeneutik bzw. einer negativen Ethik. Negative Identität bedeutet wesentlich Nichtverstehbarkeit von Selbst und Welt, die Lebenspraxis negativer Identität ist daher als negative Hermeneutik von einer (phänomenologieanalogen) Urteilsenthaltung geprägt, welche Selbst und Welt auf ihre Nichtverstehbarkeit hin entdeckt und welche entsprechend nicht verstehende Umgangsweisen entwirft. Negative Ethik schließlich meint die konsequente Einbeziehung der Einsicht in die prinzipielle logische Unableitbarkeit phie zentrale Themen von Denkern wie Georges Bataille (vgl. Georges Bataille (2001): The unfinished system of nonknowledge. Ed. and with an introduction by Stuard Kendall. Minneapolis/London), Jacques Lacan (vgl. Joon-kee Hong (2000): Der Subjektbegriff bei Lacan und Althusser. Ein philosophisch-systematischer Versuch zur Rekonstruktion ihrer Theorien. Frankfurt a. M.) oder Jacques Derrida (vgl. Jacques Derrida (1996): Apories: mourir – s’attendre aux »limites de la vérité«. Paris). Vgl. auch Peter Fenves: Artikel »Postmodern theories of alterity and identity« in der Routledge Encyclopedia of Philosophy (1998), Vol 1, 187–192.

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Einleitung

menschlicher Sinnentwürfe für Fragen der Moralphilosophie. Am Beispiel der Interkulturalität versuche ich zu zeigen, wie es diesseits sowohl des Relativismus als auch eines naiven Universalismus gerade das Verständnis moralischer Sätze als kontextgebunden (an einen kulturellen Status gebunden) ist, welches spezifische Weisen interkultureller Kommunikation vorzeichnet. Die Gemeinsamkeit all dieser Gegenentwürfe des zweiten Teils und darüber hinaus auch der theoretischen Bestimmungen negativer Identität des ersten Teils der Arbeit besteht in folgender Einsicht, welche die drei Eingangszitate umschreiben: in der Einsicht nämlich, dass Begründungen nicht bis zur absoluten Gewissheit fortgesetzt werden können, dass unser Denken sich selbst nie (etwa vom Standpunkt einer Vogelperspektive aus) restlos durchsichtig wird und dass wir über Wahrheit nicht verfügen. Diese Entdeckung zeitgenössischer Philosophie (die Entdeckung sinnkonstitutiver Negativität) bietet die Voraussetzung, um Subjektivität heute nicht länger klassisch modern am Leitfaden der Selbsterhaltung zu denken, sondern (weniger zugespitzt auf Kognition) als Identität zu begreifen, genauer als eine Identität, die, weit davon entfernt, ihrer selbst mächtig zu sein, wesentlich durch Negativität konstituiert wird.

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Erster Teil Systematik negativer Identität

Die Aufgabe des ersten Teils der Untersuchung besteht darin, den Begriff negativer Identität systematisch zu begründen. Eine solche Aufgabe umfasst mehrere Facetten: Wie Identität negativ gedacht werden kann, welche Bedeutung einer solchen Konzeption in der Gegenwartsphilosophie zukommt – solche Fragen müssen sich vor dem historischen und gegenwärtigen Identitätsdiskurs, zu dem auch die besondere Verbindung von Identität und Moderne gehört, ausweisen (I.1.). Wie Identität negativ gedacht werden kann – diese Frage wird sodann anhand der Werke dreier Gegenwartsdenker nachvollzogen; die faktisch beschrittenen Wege werden dabei in ihren Möglichkeiten und Problemen deutlich (I.2.–I.4.). Diese systematischen Möglichkeiten und Probleme der Figur negativer Identität müssen dann so reflektiert werden, dass sie auf den Begriff der Negativität bezogen werden können (I.5.).

I.1. Identitätsdiskurs und praktische Philosophie Die Frage, wie Identität heute einerseits philosophisch (und nicht sozialpsychologisch) zum Thema werden kann, und wie sie andererseits so zum Thema werden kann, dass ihr praktisch-philosophisches Potenzial zur Sprache kommt (und nicht der Strenge der theoretischen Philosophie geopfert wird), diese Frage bedarf der Vergewisserung eines historischen und systematischen Hintergrundes, nämlich des abendländischen Identitätsdiskurses. Seine systematische Rekonstruktion und damit die kulturell mögliche Semantik des Identitätsbegriffs (I.1.1.) macht deutlich, dass die Frage nach Identität heute nicht zuletzt als Reflex unerledigter Probleme innerhalb dieses Diskurses verstanden werden kann. Zu diesen Problemen gehört insbesondere die Verbindung zwischen Moderne und Identität (I.1.2.). Sie steht im Hintergrund, wenn sich Modernekritik als IdentitätsA

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Erster Teil: Systematik negativer Identität

kritik oder als Kritik an Identitätsforderungen artikuliert. So ergibt sich schließlich (I.1.3.) ein genuin philosophisches Untersuchungsziel, welches wesentlich darin besteht, systematisch Alternativen sowohl zur typisch modernen als auch zur typisch modernekritischen Konzeptualisierung von Identität herauszuarbeiten. Dieses Projekt gehört in dem Maße in die praktische Philosophie, in welchem sich jene gegenwartsphilosophische Neubestimmung von Identität (die ich mit dem Titel negative Identität meine) auf lebenspraktische Diskurse beziehen lässt. I.1.1. Systematik des Identitätsdiskurses Das Nachdenken über Identität kann sich in praktisch keinem Stadium auf den Commonsense berufen. Vielmehr muss es sich der Denkmöglichkeiten, der jeweils schon erschlossenen Bedeutungsräume vergewissern, welche Tradition und Gegenwartsphilosophie beschrieben haben und noch beschreiben. Diese Bedeutungsebenen des Identitätsbegriffs schließen gleichwohl oft an (Selbst-) Erfahrung an, auf je verschiedene Weise haben sie mit Alltags- oder Lebenserfahrungen zu tun und sind auch über diese zugänglich. Die Systematik des Identitätsdiskurses zu rekonstruieren bedeutet deshalb stets auch, solche Erfahrungen auszuloten und diese als Teil einer spezifischen Problematik (der Identitätsproblematik) zu verstehen. Auch in diesem Sinne gilt: Erst vor dem Hintergrund des Identitätsdiskurses können sich Fragen zum Thema Identität selbst angemessen verstehen. Bei dem folgenden Aufriss des Identitätsbegriffs in seinen verschiedenen Bedeutungen empfiehlt es sich, systematisch und erst vor dem systematischen Hintergrund historisch vorzugehen. Der Grund liegt hauptsächlich darin, dass in der Philosophie- und Ideengeschichte einerseits verschiedene Diskurse um dasselbe Wort Identität geführt worden sind und noch geführt werden (wobei jeweils verschiedene Aspekte von Identität im Zentrum stehen) und andererseits auch bestimmte Gehalte dessen, was wir heute unter Identität verstehen, bis in die historischen Wurzeln unseres Philosophierens reichen, ohne dass diese Gehalte schon immer mit dem Titel Identität versehen worden wären. (1) Identität ist zunächst Thema der theoretischen Philosophie. (2) Eine Mittelstellung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie nimmt das klassische Problem diachroner personaler Selbigkeit ein. Einschlägig für die praktisch-philo24

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sophische Fragestellung dieser Untersuchung sind dann Bedeutungen von personaler Identität, in denen diese (3) als eine Relation konzipiert wird, welche über eine externe Instanz vermittelt wird oder in denen sie (4) als einstelliges Prädikat oder schließlich (5) als NichtIdentität gedacht wird. 1 (1) Identität ist zunächst ein Begriff der theoretischen Philosophie. Identität ist logisch charakterisiert durch Reflexivität (Identität kommt jedem Einzelding als solchem zu, sie bezeichnet die Relation, in der dieses zu sich selbst steht), Substitutivität (wenn gilt, dass a mit b identisch ist, dann gilt auch, dass jede Eigenschaft von a auch eine Eigenschaft von b ist), Symmetrie (wenn gilt, dass a mit b identisch ist, dann gilt auch, dass b mit a identisch ist) und Transitivität (wenn a mit b und b mit c identisch ist, dann ist auch a mit c identisch). 2 Wie kommt man nun z. B. zu der Aussage, dass Odysseus vor Die Systematik des Identitätsdiskurses verdeutlicht sich auch durch Differenzierungen, wie sie etwa Lexikonartikel vornehmen. Die Routledge Encyclopedia of Philosophy (London/New York 1998) behandelt im Artikel ›Identity‹ (Vol. 4: 675 ff.) Identität im Sinne der theoretischen Philosophie, es geht v. a. um das Problem der Identitätsaussagen. Der Artikel ›Personal Identity‹ (Vol. 7: 305 ff.) behandelt Identitätskriterien in Bezug auf menschliche Wesen. Eine ähnliche Thematik, aber stärker noch bezogen auf Fragen der Hirnforschung und der Einheit von Leib und Seele, ist Gegenstand des Artikels ›Mind, Identity Theory of‹ (Vol. 6: 394 ff.). Das modernekritische oder postmoderne Thema der Unmöglichkeit (eines klassischen Begriffs) von Identität, bzw. der Gedanke der Nicht-Identität handelt der Artikel ›Alterity and Identity, Postmodern Theories of‹ (Vol. 1: 187 ff.) ab. Der Artikel ›Morality and Identity‹ (Vol 6: 571 ff.) schließlich beschäftigt sich mit der möglichen These, Moralität sei nicht losgelöst von der konkreten Person denkbar, und umgekehrt sei für eine Person gerade ihre moralische Identität zentral. Dieser Zusammenhang gehört (neben anderen) zur Bedeutung des Begriffs Identität (wie ich mit Dieter Teichert (s. u.) sage) als einer Relation, welche über eine externe Instanz vermittelt wird. Identität kann über Moral vermittelt sein – oder über andere Instanzen: Im Sinne der Sozialpsychologie wäre etwa die gesellschaftliche Umwelt konstitutiv für (Rollen-) Identität. Einen solchen Aspekt der Identität behandelt der Artikel ›Identität, Ich-Identität‹ des Historischen Wörterbuchs der Philosophie (Darmstadt 1971 ff.) (Bd. 4: 148 ff.). Dasselbe Lexikon gibt in dem Artikel ›Person‹ (Bd. 7: 269 ff.) einen Überblick über die reiche philosophische Tradition des Begriffs Person im Sinne dessen, was einen Menschen letztlich ausmacht. Hier wird noch einmal der Unterschied deutlich zwischen der Identität einer Person im Sinne des Problems ihrer diachronen Selbigkeit und der Identität einer Person in jenem anderen Sinne, nämlich im Sinne des Wesens einer Person. Und Identität in diesem Sinne wird oft als vermittelt über eine äußere Instanz gedacht, etwa über Gott. 2 In seiner Habilitationsschrift Personen und Identitäten gibt Dieter Teichert einen fundierten Überblick über die Bedeutung von Identität als Grundbegriff der theoretischen Philosophie (vgl. Teichert 1999a). Indem er die möglichen Verwendungsweisen des 1

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seiner Reise denselben Baum (a) wie nach seiner Reise (b) sieht, was führt dazu, dass der Baum immer noch derselbe ist? 3 Für diese Frage spielen Kriterien der Identität eine bedeutende Rolle. Solche Identitätskriterien sind die numerische Identität (es handelt sich im Sinne der Zählbarkeit um denselben Gegenstand), die qualitative Identität (es handelt sich im Sinne der weitgehenden Ähnlichkeit um denselben Gegenstand, Identität meint Übereinstimmung aller wesentlichen Eigenschaften) und die diachrone Identität (die Selbigkeit einer Entität zu zwei verschiedenen Zeitpunkten). Die diachrone Identität ist besonders deshalb wichtig, weil sich in unserer Welt die meisten Gegenstände ständig verändern. Identitätskriterien sind Gegenstand philosophischer Diskussion. Gänzlich jenseits des Horizonts theoretischer Philosophie liegen freilich Fragen wie jene, ob Identität wünschenswert, wichtig oder sogar moralisch gut sei. Logische Identitätsbestimmungen reichen demnach nicht an jenes Phänomenfeld heran, auf dem sich diese Untersuchung bewegt. (2) Innerhalb der allgemeinen philosophischen Frage nach Identität bildet das Problem der Identität einer Person einen wichtigen Spezialfall. Hier sind verschiedene Zugangsweisen möglich. So kann man zum einen fragen: Was macht eine Person zu einer Person? Bei dieser Frage handelt es sich zwar um das Problem der Individuation – der Unterschied zu anderen Entitäten soll untersucht werden –, aber es geht nicht um die Kriterien der Identität, sondern um die Kriterien der Person, nicht um die Identität einer Person, sondern um die Identität der Person. In der analytischen Philosophie wird die Frage nach der Person heute im Zusammenhang einer möglichen anderen Frage diskutiert, nämlich, was die spezifische diachrone Identität von Personen, gewissermaßen als Sonderfall diachroner Identität überhaupt, ausmacht. Zu diesem Thema gibt es seit den 1960er Jahren wieder eine breite Diskussion und Literatur. 4 In jüngerer Zeit und durchaus mit einem Bezug zur Modernekritik ist diese Diskussion Identitätsbegriffs in logischen Begriffen rekonstruiert, gelingt der Hinweis darauf, in welchem Sinne Identität auch in der praktischen Philosophie ein Grundbegriff sein kann. Ich folge zunächst Teicherts Darstellung (vgl. Teichert 1999a: 1 ff.). Identität als Thema der praktischen Philosophie, also das zentrale Problem der vorliegenden Untersuchung, ist allerdings nicht Gegenstand der Arbeit Teicherts. 3 Vgl. Teichert 1999a: 3. 4 Vgl. etwa Williams 1978a, Perry 1975, Oksenberg Rorty 1976, Siep 1983, Noonan 1993.

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auch in Deutschland aufgegriffen worden. Gegen den postmodernen Schlachtruf vom Tod des Subjekts 5 und gegen die »dekonstruktivistischen Feldzüge gegen Descartes, Hegel und Husserl« 6 hat Manfred Frank die breite Tradition der angloamerikanischen philosophy of mind stark gemacht. Nach den Anfängen im Wiener Kreis und nach der Wende zur Sprache durch Wittgenstein und seine Schüler ist es, so Frank, in einer dritten Phase der analytischen Philosophie zu einer Retranszendentalisierung der Erkenntnistheorie gekommen. 7 Die Überzeugung vom »Primat der Selbstreferenz vor allen anderen Bewußtseinsleistungen« und von der Existenz »vor- und außersprachliche[r] Entitäten« 8 habe sich etwa in den Arbeiten Chisholms, Shoemakers, Castañedas, Rortys oder Putnams durchgesetzt. Frank spricht im Ergebnis von der »Irreduzibilität dessen, wofür das Personalpronomen der ersten Person singularis steht«. 9 Freilich wird in diesen analytischen Zugangsweisen die Identität der Person letztlich nur in einem sehr reduzierten Sinn verhandelt. Stets geht es um einen Begriff von Identität, der (nach einer Unterscheidung Paul Ricœurs) eher Selbigkeit als Selbstheit meint. 10 Mir kommt es aber gerade darauf an, Identität in einer möglichst nicht reduzierten Bedeutung zu untersuchen (Phänomene etwa wie das Ausgemachtwerden durch kulturelle Werte), ohne dabei in der Tradition der Sozialwissenschaften zu denken. Die Grenzen des analytischen Denkens sind, zumindest was den Identitätsdiskurs betrifft, nicht die Grenzen der Philosophie. Das Problem diachroner personaler Selbigkeit kann sich auf eine bedeutende philosophiegeschichtliche Tradition berufen. 11 Schon in Frank 1994: 7. Frank, Haverkamp 1988: XIII. 7 Vgl. Frank 1994: 13. 8 AaO.: 14, 13. 9 Frank 1988: 5. 10 Vgl. Ricœur 1996: 144. Auch ein Denker wie Dieter Henrich schränkt das philosophische Identitätsproblem m. E. vorschnell auf den engen Begriff der Selbigkeit ein: »Ist etwas ein Einzelnes, so ist ihm Identität zuzusprechen. Es hat keinen Sinn zu sagen, daß es Identität erwirbt oder verliert« (Henrich 1979: 135). Jede darüber hinausgehende Bedeutung von Identität gehört für Henrich der Sozialpsychologie an. In einer solchen Bestimmung kann Identität per definitionem nicht Gegenstand praktischer Philosophie werden. 11 Bei der folgenden Skizze orientiere ich mich an Böhme 1996: 322–340, ders. 2000: 251–261, Henrich 1979: 137–140 und Teichert 1999a: 8–13, 25 ff., 33 ff., 130 ff., 183 ff., 197 ff. 5 6

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Platons theoretischer Philosophie finden sich verschiedene Bedeutungen von Selbigkeit (tautón). Selbigkeit meint zum einen gerade keine Relation (und sei es die der Identität), sondern unbezügliches Sein, das Gegenteil relativer Bestimmtheit. 12 In dieser Bedeutung bereitet Selbigkeit die Kategorie der ousia, der späteren Substanz vor. 13 Platon stellt aber auch schon die Frage, was eine Person über die Zeit mit sich selbst identisch sein lässt. 14 So wird die Selbigkeit (ganz im Sinne der diachronen Identität) schon zu etwas, das den Wechsel überdauert, sich also als ein Identisches durch wechselnde Zustände hindurchzieht. Aristoteles behandelt die Frage der Identität vor allem aus Sicht der Individuation. Weder die Materie noch die Form allein, sondern die Materie in der artspezifischen Form gewährleistet das Individuationsprinzip. Dieses bezeichnet die Substanz als das im Entwicklungsprozess der Natur Bleibende. Bestimmte Probleme in der Topik machen aber, so Teichert, deutlich, dass Aristoteles über keinen befriedigend geklärten Identitätsbegriff verfügt, die Grundlage für Identität bietet immer das vorgegebene Individuationsverfahren durch Gattung und Art. 15 Aristoteles prägt den Zugang zum Identitätsproblem für Jahrhunderte im Sinne der ontologischen Grundfrage nach der Substanzialität von Seiendem. Identität im Sinne einer Identität der Substanz bleibt auch in Spätantike und Mittelalter der leitende Begriff. Hier geht es zum einen um die christologische Fragestellung, wie die Identität des Menschen Jesus mit Christus als dem Sohn Gottes zu denken sei, zum anderen steht die trinitätstheologische Frage im Vordergrund, was die Einheit und die Verschiedenheit von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist ausmacht. Insofern in dieser letzten Frage nicht mehr auf einen aristotelischen Individuationsbegriff (nach Gattung und Art) zurückgegriffen werden kann, treten hier, so Teichert, neue Unterscheidungen in die Diskussion, welche die spezifisch neuzeitliche Art und Weise, Identität der Person zu denken, vorbereiten. 16 In der Neuzeit, so lässt sich vereinfachend sagen, tritt an die Stelle der Substanz als Garant für Identität die Kontinuität des BeBöhme zeigt dies an Sophistes 255c5–d1, vgl. Böhme 2000: 252. Ein Mensch ist z. B. an und für sich, was er ist (insbesondere die Idee des Menschen), Knecht ist er nur in Bezug auf einen Herrn. 13 Vgl. Böhme 2000: 260 f. 14 Vgl. Symposion 207 c–208 b, vgl. Böhme 1996: 324. 15 Vgl. Teichert 1999a: 49. 16 Vgl. aaO.: 9. 12

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wusstseins. Leibniz bestimmt Identität als den Fall vollkommen übereinstimmender Aussagen über zwei Entitäten (in der Logik heute noch Leibniz’ Gesetz). 17 Hobbes verabschiedet den Substanzgedanken, indem er metaphysisch nicht einfach abzuleitende Kriterien der Identität einführt: Wir nennen etwa einen Menschen trotz vielleicht vollständig ausgetauschter Materie noch denselben, wenn und weil er immer noch aus denselben Gründen handelt. 18 Locke sieht Identität ebenfalls unabhängig vom Substanzbegriff. Schon die Identität von Gegenständen ist zu verstehen als die »Relation zwischen zeitlich unterschiedenen Vorstellungen einer Sache«, 19 bei Organismen macht die Aufrechterhaltung der Organisation das Identische aus, 20 und bei Personen schließlich ist das Bewusstsein im Sinne des Reflexions- und Erinnerungsvermögens entscheidend. Die Identität der Person wird dadurch gewährleistet, dass ein späterer Bewusstseinszustand einen früheren mit umfasst. 21 Dieses neue Paradigma, Identität von Personen zu denken, wird von verschiedenen Autoren kritisiert, u. a. von Hume. Auch für Hume charakterisieren die Bewusstseinszustände die Person, doch in diesen findet Hume nichts, was Identität im Sinne einer ununterbrochenen Existenz oder Gegenstandsvorstellung garantiert, die Hume für die Vorstellung von Identität fordert. Die von Locke behauptete Identität von Personen scheint Hume so ein haltloser Scheingedanke. 22 Für Hume ist personale Identität vielmehr ein unscharfer, weil kriterienloser Begriff. 23 Eine Sonderstellung innerhalb des neuzeitlichen Identitätsdiskurses nimmt Kant ein. Im Feld der Anschauung sind die Dinge nicht auf Grund von Prädikaten verschieden oder identisch, vielmehr sind sie wesentlich Objekte, in der Anschauung Gegebenes. Begrifflich werden diese Objekte mit Hilfe der Substanz- oder Identitätsvorstellung gedacht. Identität ist bei Kant mithin kein ontologisches Prinzip. Dennoch gibt es auch in Kants Denken ein unhintergehbares Identitätsprinzip, nämlich das des Bewusstseins der notwendigen Synthesis

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Vgl. Henrich 1979: 138, 141. Vgl. aaO.: 139. Teichert 1999a: 132. Vgl. Yolton 1993: 94. Vgl. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand: Kap. 27, z. B. S. 421. Vgl. Henrich 1979: 139. Vgl. Teichert 1999a: 191. A

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der Vorstellungen und der Identität des Bewusstseins in seinen verschiedenen Gedanken. 24 Zuletzt hat Derek Parfit die Frage nach der diachronen Selbigkeit von Personen neu belebt, indem er gewissermaßen den Diskurs auf dem Boden und mit den Mitteln der theoretischen Philosophie auf Fragen der praktischen Philosophie ausgedehnt hat. 25 Vor dem Hintergrund seiner reduktionistischen These, dass bei Personen allein psychologische Relationen für Identität verantwortlich seien und dass diese Identität (in Gedankenexperimenten) auch noch dann gegeben ist, wenn die Person numerisch nicht mehr identisch ist, kommt Parfit zu dem Schluss, (numerische) Identität sei nicht das, worauf es letztlich ankommt. Parfits radikaler und viel beachteter Ansatz wurde zum Anlass für Kritik, Widerspruch und die Entwicklung entgegengesetzter Entwürfe, in denen eine Verbindung von Identität und Moral gesucht wird, etwa im Sinne der concrete identity oder im Sinne der Konstitution von Identität durch Alterität. 26 Im Zusammenhang mit dem Ansatz Ricœurs werde ich unten auf Parfit zurückkommen (I.3.). Mit der systematischen Beschreibung der Identitätsproblematik möchte ich eine Verhältnisbestimmung der verschiedenen historischen und aktuellen Identitätsdiskurse sowohl der theoretischen und praktischen Philosophie als auch verwandter Wissenschaften ermöglichen. Die Tradition der Logik und des Problems diachroner personaler Selbigkeit erreicht aber, so viel wurde bisher deutlich, nicht die eigentliche Fragestellung dieser Untersuchung. Man könnte eher sagen, dass diese Tradition seitens bestimmter, hier relevanter, Ansätze praktischer Philosophie als reduziertes Identitätsdenken wahrgenommen wird, als ein Denken, gegen welches neue, alternative Identitätskonzeptionen entwickelt werden müssen, für die zweierlei gilt: Sie müssen jeden Phänomenverlust vermeiden und sie müssen zugleich genuin philosophisch (nicht etwa sozialpsychologisch) vorgehen. Mit Hilfe des relationslogischen Modells 27 seien im Folgenden einige Identitätsbegriffe mit größerer Nähe zu praktischer Philosophie skizziert. Die Tatsache freilich, dass verschiedene Identitätsbegriffe relationslogisch gesehen zu ein und derselben Gruppe 24 25 26 27

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Vgl. Henrich 1979: 138. Vgl. Parfit 1984. Vgl. Williams 1984b, Ricœur 1996, Teichert 1999b. Vgl. Teichert 1999a: 4.

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gehören, bedeutet keineswegs auch schon eine Verwandtschaft hinsichtlich ethischer Kriterien. Vielmehr müssen in der praktischen Philosophie neue, eigene Kriterien zur Unterscheidung und Bewertung verschiedener Bedeutungen von Identität gesucht werden. (3) Zunächst zur Identität als einer vermittelten Relation. Wird Identität im Sinne eines Modus der Selbstrepräsentation von Individuen und zwar genauer als die Relation einer internen Instanz zu sich selbst, vermittelt durch eine externe Instanz, verstanden, so unterscheiden sich verschiedene Ansätze darin, was jeweils als externe Instanz reklamiert wird. Religionsphilosophisch kann Gott als diejenige Instanz fungieren, durch deren Vermittlung sich ein Individuum mit sich selbst identisch weiß. Diese Gedankenfigur findet sich sowohl in der jüdisch-christlichen Konzeption der Gottesebenbildlichkeit, als auch in der augustinischen Theologie der Innerlichkeit. Martin Luthers Gedanke des von sich selbst her sündigen, durch Gottes Vergebung gleichwohl schon jetzt gerechtfertigten Menschen (simul iustus et peccator 28 ) und ebenso Kierkegaards Beschreibung des durch Gott ermöglichten Selbstverhältnisses haben hier ihre Gemeinsamkeit. Die moderne Geschichtsphilosophie konzipiert Geschichte als Subjekt bzw. als notwendige, sinnvolle Entwicklung. Stellt sich der Einzelne in den Dienst etwa des emanzipatorischen Projekts der Moderne, wächst seiner Existenz dadurch Bedeutung und Eindeutigkeit zu. Geschichte, genauer ihre Gesetzmäßigkeit, ihr letzter Zweck, fungiert als externe Instanz, durch deren Vermittlung das Individuum sich seine Identität repräsentieren kann. So lässt sich davon sprechen, dass identitätstheoretisch Gott von der geschichtsphilosophisch konzipierten Geschichte beerbt wird. 29 Gott als Garant persönlicher Identität wird im 20. Jh. noch von einer weiteren externen Instanz beerbt: In naher Verwandtschaft zum religionsphilosophischen Identitätskonzept steht das Modell, bei welchem Alterität (der Anspruch des Anderen, der Anruf durch den Anderen) die identitätsvermittelnde Instanz einnimmt. Dies ist besonders im Werk Emmanuel Lévinas’ deutlich, aber auch ein Autor wie Paul Ricœur In der Römerbriefvorlesung von 1515/16 schreibt Luther: »Es steht mit uns wie mit einem Kranken, der dem Arzt, welcher ihm ganz sicher die Gesundheit in Aussicht stellt, glaubt«. Denn dieser Arzt »hat schon begonnen, ihn zu heilen, und er rechnet ihm darum die Krankheit nicht zum Tode an« (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abteilung Werke. Weimar 1883 ff., Bd. 56: 271 f.). 29 Vgl. Marquard 1979: 361. 28

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arbeitet an dieser Konzeption (vgl. I.3.). Freilich ist Ricœurs Alteritätsbegriff stärker säkularisiert. So kann es etwa die konkrete Bindung an den Anderen, die Treue zu ihm sein, die personale Identität konstituiert, ebenso kann das Andere das Gewissen sein oder der Leib im Sinne der eigenen Natur. 30 Aus dem Diskurs der analytischen Philosophie über Identität stammt das Konzept der concrete identity. Die Kritik an formalistischer und rationalistischer Ethik und an reduktionistischen Ansätzen bezüglich der Identität von Personen führt etwa bei Bernard Williams zur Wiederentdeckung der konkreten Person mit ihren sozialen Bindungen und Verpflichtungen, die dem Leben dieser Person erst eine spezifische Bedeutung, einen individuellen Sinn geben. Die Gründe, aus denen Personen handeln, so Williams, haben mit der konkreten Person zu tun, eine strikte Begründung des Handelns über abstrakte moralische Prinzipien wäre gewissermaßen monströs. 31 Die externe, Identität vermittelnde Instanz nimmt hier also die konkrete historische, soziale und emotionale Einbettung der Person ein. Ein solcher Ansatz lässt sich wegen der ungeklärten Normativität freilich als philosophisch unterbestimmt kritisieren. Identitätstheoretisch anspruchsvoller ist Charles Taylors Identitätsbegriff, insofern als Identität hier zwar im Kontext der Selbstinterpretation und der darin enthaltenen Ressourcen der Gemeinschaft, der Sprache und der Konzepte des guten Lebens ausgebildet wird, gleichzeitig aber die Verbindung von Ethik und Identität viel differenzierter konzipiert ist. Bei Taylor ist Identität über das ethisch Gute (speziell im Sinne kultureller Werte) vermittelt, diese nehmen den Platz der externen identitätsvermittelnden Instanz ein (vgl. I.4.). Entscheidend ist hier nicht die concrete identity und auch nicht der Umstand, dass die normativen Orientierungen eines Individuums dieses für andere (re-) identifizierbar machen. Vielmehr geht es darum, dass ein Akteur nur unter jener Bedingung in einem vollständigen Sinn der Autor seiner Handlungen genannt werden kann, dass er seine Handlungen an das unbedingt für gut Gehaltene unmittelbar anbindet. 32 Während Alterität bei Lévinas und Ricœur oft unhistorisch gedacht Vgl. Böhme 1985, Ricœur 1996, Thomas 1996. Vgl. Williams 1984b. 32 Die Fälle der (Re-) Identifizierbarkeit einerseits und des Selbstseins im Sinne einer vollen und tatsächlichen Autorschaft für seine Handlungen andererseits unterscheidet Ricœur mit den Begriffen Selbigkeit und Selbstheit wesentlich schärfer als Taylor, der diese Frage nicht eigens thematisiert. 30 31

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wird, kann Taylor seinen Identitätsbegriff sehr gut für historische Analysen nutzen. Dasjenige, was einer Epoche als unbedingt erstrebenswert gilt, als ethisches Gut, das macht in einem sehr grundsätzlichen Sinn auch die Identität der Zeitgenossen aus. Das um seiner selbst willen Geltende, das unbedingt Wertvolle ist offensichtlich in der Antike etwas anderes als in der Neuzeit. So erschließt sich parallel zur Tradition des Begriffs Identität als Grundbegriff der theoretischen Philosophie durch Taylors Identitätsbegriff eine reiche philosophiehistorische Vorgeschichte unserer gegenwärtigen Diskussion um unsere kollektive und individuelle Identität und damit eine reiche Tradition des Begriffs Identität als Grundbegriff der praktischen Philosophie. 33 Im analytischen Identitätsdiskurs sind gegen reduktionistische Ansätze so genannte narrative Prädikate stark gemacht worden. Das Original eines Kunstwerks unterscheidet sich von der Fälschung wesentlich dadurch, dass es im Atelier des Künstlers stand, von diesem hergestellt wurde, dass es durch die Hände verschiedener Sammler wanderte, dabei verschiedene Bedeutungen hatte, dass von ihm bestimmte Geschichten erzählt wurden usw. 34 Wenn Parfit nun Szenarien der Reduplikation entwirft bzw. des Fortlebens einer numerisch nicht identischen Person, welche über dieselben Erinnerungen verfügt, dann lassen sich die narrativen Prädikate als Argument gegen Parfits These verwenden, Identität sei letztlich nicht das, worauf es ankomme. Das Konzept der narrativen Identität geht noch über diese Argumentation hinaus. Hier fungiert die Geschichte des eigenen Lebens als identitätsvermittelnde externe Instanz. Neben anderen hat Ricœur die Konzeption einer narrativen Identität entwickelt. In Zeit und Erzählung untersucht er in Auseinandersetzung mit der Poetik des Aristoteles, aber auch mit modernen Romanwerken, wie die Erzählung Zeit strukturiert und damit dem Subjekt die Dimension des Historischen (auch in der Selbstwahrnehmung) öffnet. In Vgl. Taylor 1996. Weniger noch als in der Geschichte des Diskurses über die diachrone Identität von Personen wird in der Geschichte des Diskurses über das jeweils unbedingt Gute der Begriff Identität verwendet. Dies verdeutlicht noch einmal, weshalb die systematische Aufgliederung verschiedener Bedeutungen von Identität einen differenzierteren und reichhaltigeren Zugang zum Problem zu bieten vermag. Die Untersuchung lediglich der Geschichte des Begriffs Identität müsste sehr viel bescheidener ausfallen und würde für entscheidende Gehalte der Tradition, die unseren eigenen Fragestellungen im Zusammenhang mit Identität sehr verwandt sind, blind sein. 34 Vgl. Teichert 1999a: 262, dort weitere Quellen. 33

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der Fabelkomposition werden durch den konfigurierenden Akt die Ereignisse aus ihrem kontingenten Charakter herausgelöst und »dem Notwendigkeits- oder Wahrscheinlichkeitseffekt einverleibt«. 35 Ganz ähnlich ergeht es der Figur als demjenigen, das die Handlung in der Erzählung vollzieht, so dass »die Identität der Figur als eine Übertragung der zunächst auf die Erzählhandlung angewandten Fabelkomposition auf sich selbst zu verstehen ist«. 36 Hier ist zu unterscheiden: Ansätze narrativer Identität können die Autorschaft über die eigene Lebensgeschichte ganz beim Individuum selbst sehen, die Lebensgeschichte also als eine Art Konstrukt, vielleicht gar als ein selbst gestaltetes Kunstwerk betrachten. Entsprechend kann die (künstlerische) Idee des eigenen Lebens und in diesem Sinne die Geschichte des eigenen Lebens als Identität vermittelnde Instanz verstanden werden. 37 Diese Ansätze lassen sich generell schon deshalb als problematisch bezeichnen, weil sie bereits im Gedanken der Möglichkeit der Konstruktion die Problemhöhe des Negativitätsdenkens des 20. Jhs. nicht erreichen. Ich werde diese Kritik unten weiter entfalten (vgl. II.2.). Andere Ansätze narrativer Identität sehen die Autorschaft über die eigene Lebensgeschichte stärker bei überindividuellen Instanzen, der Einzelne ist gewissermaßen nur ein Koautor des eigenen Lebens. 38 Ricœurs narrativer Identitätsentwurf ist insofern singulär, als er explizit auf Ethik ausgerichtet ist, »auf das ›gute Leben‹ mit Anderen und für sie in gerechten Institutionen«. 39 Entlang der Nikomachischen Ethik versucht Ricœur, den Begriff einer »narrativen Einheit des Lebens« zu entfalten, als einer »Einheit des ganzen Menschen, insofern er einen bewertenden Blick auf sich selbst richtet« 40 und dabei stets auf Selbstachtung ausgerichtet ist. Das vollständige Subjekt gibt es bei Ricœur niemals isoliert, sondern nur zusammen mit einem Gegenüber und mit dem anwesenden anonymen Dritten. Man wird Ricœur zustimmen, dass hierbei Reziprozität, Gleichheit und Gerechtigkeit stets vorausgesetzt werden. 41 Im Sinne Ricœur 1996: 176. Ebd. 37 Vgl. Schmid 1998, Rorty 1989. 38 So etwa Ricœur (vgl. Ricœur 1996: 198). Solche Instanzen können wiederum Gott, Alterität (die hier wesentlich auch die politische oder gesellschaftliche Geschichte meint) oder auch die (geschichtlich gewordenen) Werte einer Gemeinschaft sein. 39 Ricœur 1996: 210. 40 AaO: 217. 41 Vgl. Ricœur 1996: 221, 223, 236, 240. 35 36

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der praktischen Philosophie ist Ricœurs Entwurf narrativer Identität wohl der stärkste. Dennoch bleibt es fraglich, ob im strengen Sinne Ricœurs Versuch gelingt, Narrativität als konstitutiv für eine alteritätsvermittelte Identität zu konzipieren. Ich werde auf diese Frage zurückkommen (vgl. I.3.2). Auch die populäre Philosophie der Lebenskunst, die Ästhetik der Existenz, lässt sich im Sinne einer Selbstrepräsentation, genauer als vermittelte Relation, beschreiben. Jetzt nimmt ein künstlerisches Projekt, ja ein Kunstwerk, die Stelle der externen Instanz ein, sodass man sich zu dem Rohmaterial seines Lebens wie zu etwas verhält, aus dem ein Kunstwerk werden soll. Das Kunstwerk ist die Idee und das Maß, welches eine Vermittlung ermöglicht, aus der kontingenten wird eine gestaltete Existenz. 42 Die Ästhetik der Existenz werde ich in einem eigenen Kapitel kritisch diskutieren (vgl. II.2.). Im 20. Jh. waren es vor allem die Sozialwissenschaften, die einflussreiche Identitätskonzepte entwickelt haben. Diese müssen, obwohl philosophisch oft unbefriedigend, aus zweierlei Gründen berücksichtigt und teilweise in die Untersuchung mit einbezogen werden: Zum einen finden in ihnen wichtige Phänomene im Bereich der Identität Berücksichtigung, etwa die Identitätsforderung durch die moderne Gesellschaft oder die Bildung von Identität im Verlauf des individuellen Lebens. Zum anderen sind sozialwissenschaftliche Identitätskonzepte (oft implizit und unauffällig) in unserer kollektiven Lebenspraxis dominant. Für ein philosophisches Identitätskonzept, wie ich es entwickeln möchte, das praktisch-philosophisch ausgelegt ist und mittelbar in Lebenspraxis übergehen können soll, werden daher sozialwissenschaftliche Identitätsmodelle unmittelbar zum Gegenstand der Auseinandersetzung und Kritik. Im Folgenden finden sie gemäß dem relationslogischen Modell der Identität als vermittelter Relation kurz Erwähnung. Ihren starken modernitätstheoretischen Aspekt werde ich unten näher darstellen (I.1.2.). In der psychoanalytischen Theorie fungiert als externe Instanz für die Selbstrepräsentation die Bezugsperson. Das Kind kann sich als etwas Eigenes nur dadurch erfahren, dass es durch die Mutter zurückgespiegelt wird. Zurückgespiegelt wird freilich das, was die Mutter in ihrem Kind sieht. Das dabei entstehende Identitätsgefühl kann als verinnerlichter spiegelnder Dialog beschrieben werden. 43 Dieses 42 43

Vgl. Schmid 1998. Vgl. Bohleber 2000: 328. A

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Selbstkonzept wird später erprobt, variiert und erweitert. Dabei geht die Psychoanalyse von einem Identitätsgefühl aus, welches als Regulationsprinzip fungiert, »das die Erhaltung von Kohärenz, Konstanz und Integrität anstrebt«. 44 Der klinische und therapeutische Hintergrund färbt diesen Begriff von Identität in sehr spezifischer und unvollständiger Weise normativ. Identität im Sinne von Kohärenz und Konstanz gilt als erstrebenswert, das Gute taucht lediglich im Sinne von Gesundungsprozessen auf. Die Einbettung in das spezifische Praxisfeld hat offensichtlich zu einem Identitätsmodell geführt, für das eine mögliche ethische Qualifizierung von Identität nicht relevant ist. Soziologie und Sozialpsychologie schließlich machen die persönliche Identität zunächst beschreibend zu ihrem Thema. In der Nachfolge von William James ist es vor allem George Herbert Mead, der Identität als soziales Phänomen beschreibt, nämlich als kontinuierliche Internalisierung der Erwartungen des generalisierten Anderen. 45 Die externe Instanz, über die sich ein Individuum repräsentiert, und über die seine Identität vermittelt wird, ist die soziale Rolle und die damit verbundene Anforderung und Erwartung der Gemeinschaft. Identität meint auf individueller Ebene die Verinnerlichung des generalisierten Anderen, zugleich tritt aber auch eine Außenperspektive in den Vordergrund, Identität wird zu einem Koordinatenpunkt im Netz des Sozialen. Der sozialwissenschaftliche Identitätsbegriff, besonders das zeitgenössische Konzept der Identitätsarbeit und der Patchworkidentität, wird unten in einem eigenen Kapitel kritisch diskutiert (vgl. II.1.). (4) Nun zur Identität im Sinne eines einstelligen Prädikats. Der zweite Fall der Identität als Selbstrepräsentationsmodus von Individuen ist gegeben, wenn Identität als einstelliges Prädikat verwendet wird. 46 Jemand sagt etwa von sich, er sei mit sich selbst nicht identisch und meint mit dieser Formulierung, er lebe, arbeite usw. nicht so, wie es ihm gemäß sei. Hinter diesem Konzept steht oft das auf Rousseau und die romantische Tradition zurückgehende Ideal der Authentizität. Wenn dagegen, z. B. im Rahmen von Bildungsprozessen, das eigenständige Denken im Sinne eines emphatischen Selbstdenkens als Ziel erscheint, wird Identität als einstelliges Prädikat vor 44 45 46

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Ebd. Vgl. James 1891, Mead 1988: 182, 194 ff., 245 u. ö. Vgl. Teichert 1999a: 4.

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dem Hintergrund des neuzeitlichen Autonomieideals verstanden. Identität in dieser Bedeutung mag deshalb attraktiv erscheinen, weil sie scheinbar nicht an historisch relative Instanzen gebunden ist. Dieser Schein von Unmittelbarkeit und Absolutheit macht diesen Identitätsbegriff attraktiv für eine Kultur der Selbstverwirklichung, zu der auch Teile der Psychotherapie, ja der Esoterik gehören. Identität im Sinne eines einstelligen Prädikats ist aber nicht notwendig mit einer Verflachung des Identitätsbegriffs verbunden. 47 Gerade genuin philosophische Ansätze können die Selbstrepräsentation des Individuums so beschreiben, dass dieses sich als ein eigentliches, von sozialen Spiegelungen oder Rollen ganz unabhängiges Wesen repräsentiert. In bemerkenswerter Kontinuität, so Marquard, bestimmen Philosophen von Platon bis Heidegger das, was jemand wirklich sei, gerade im Abstand zu jenem, was er auf den ersten Blick darstellt. Mit diesem »Eigentlichkeitsüberschuß des Selbst gegenüber seiner Selbstdarstellung in der Meinung der anderen« 48 benennt Marquard ein klassisch philosophisches Ideal, nach dem sich die Existenz des Philosophen durch höheres Bewusstsein des (eigenen) Seins auszeichnet. Böhme weist die Wurzeln dieses Existenzideals bei Platon nach. 49 Analog zur Dichotomie zwischen geliehenem Sein der Dinge und Selbstsein der Idee steht dem unreflektierten Dahinleben, der unphilosophischen Existenz, welche sich durch die Erwartungen und Üblichkeiten, durch die Neigungen und Triebe bestimmen lässt, das emphatische Selbstsein des Philosophen bzw. des öffentlich und politisch tätigen Menschen gegenüber. Dieses lässt sich vor allem dadurch charakterisieren, dass es durch Erwartungen und Üblichkeiten, Neigungen und Triebe nicht beherrscht wird, sondern vielmehr seinerseits diese beherrscht bzw. sich dieser bedient. Durch Selbstsorge wird eine Existenzweise eingeübt, in der das Selbst als reflexiv konstituierte unabhängige Instanz agiert: Die Sprache, der Leib, die soziale Stellung, diese kontingenten Einflüsse, verlieren ihren subjektkonstitutiven Status und werden zu Instrumenten des Selbst. 50 So rät Sokrates dem in die Öffentlichkeit strebenden Alkibiades, durch Selbstsorge jene Instanz, das Selbst, zu entdecken und zu kultivieren, Taylors Kritik an der zeitgenössischen Kultur des Subjektivismus und Expressivismus könnte freilich diese Vermutung nahe legen (vgl. Taylor 1995a). 48 Marquard 1979: 349. 49 Vgl. Böhme 1996: 324–328, ders. 2000: 254 f. 50 Vgl. Böhme 2000: 255. 47

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die das andere, z. B. Sprache und Leib, gebraucht. 51 Dieses platonische, durch Selbstsorge, also durch explizite Reflexion auf sich selbst zu gewinnende Selbstsein kann ideengeschichtlich als Hintergrund der verschiedenen philosophischen Existenzideale gelten, wie sie sich etwa als Autarkie, Autonomie, Selbstbeherrschung oder schließlich als Eigentlichkeit (Heidegger) artikulieren. Insofern die Instanz des Selbst dem stetigen Wechsel, dem Werden und Vergehen und den Brüchen im faktischen Leben entzogen ist, wird sie zum Bleibenden im Wandel. Damit kann auch der moderne soziologische Begriff der Rollendistanz in der Tradition dieses philosophischen Existenzideals gesehen werden und kann entsprechend als Beispiel für eine Verwendungsweise des Begriffs Identität im Sinne eines einstelligen Prädikats verstanden werden. Für den frühen Habermas etwa ist Identität das Ziel des sich emanzipierenden Subjekts. Identität heißt dann nicht mehr gesellschaftliche Rolle, sondern bedeutet gerade die Unabhängigkeit von einer oder mehreren Rollen durch eine Kontinuität jenseits der verschiedenen Rollen, durch Autonomie im Sinne der Fähigkeit, im Wechsel der Rollen oder ganzer Abschnitte des Lebens und im gesellschaftlichen Handeln mit sich selbst identisch zu bleiben. 52 Das Ich, so Habermas, müsse sich »einzig über die abstrakte Fähigkeit stabilisieren, sich in beliebigen Situationen als jemand glaubwürdig darzustellen, der auch angesichts unvereinbarer Rollenerwartungen und im Durchgang durch eine Folge widersprüchlicher Lebensabschnitte den Forderungen nach Konsistenz genügen kann. Die Rollenidentität wird durch Ichidentität abgelöst«. 53 In den philosophischen Existenzidealen der Selbstsorge und des emphatischen Selbstseins und in dem Begriff der Rollendistanz erscheint Identität als etwas, das erst hergestellt werden muss, dessen Herstellung dem Subjekt aber möglich ist. Und gleichzeitig ist schon geklärt, was jeweils hergestellt werden soll. Diese beiden Aspekte der Identität sind einem Konzept negativer Identität, wie ich es entwickeln möchte, diametral entgegengesetzt: In seinem Kontext gibt es Subjekte nie isoliert, sondern stets nur intersubjektiv in wechselseitiger Konstitution. Weder ist dem Subjekt daher die Selbstherstellung von Ichidentität möglich, noch ist auch schon klar, welche Iden51 52 53

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Vgl. Alkibiades I 129b, c, e, zitiert nach Böhme 1996: 326 f. Vgl. Habermas 1973: 127, 131, ders. 1976: 78. Habermas 1976: 80.

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tität hergestellt werden soll. Im Kontext der Verwendung des Begriffs Identität als einstelliges Prädikat bewegt sich aber ein Identitätskonzept, das negativer Identität sehr nahe kommt, nämlich Kierkegaards Begriff des Selbst, den Theunissen philosophisch rekonstruiert. 54 Kierkegaard entwickelt seine negativistische Methode in einer Zeit, die hinsichtlich der Identitätsproblematik ähnlich verunsichert war wie die unsrige. 55 In der Krankheit zum Tode legt Kierkegaard eine Phänomenologie der Selbstfindung so an, dass sich das Selbst gerade nicht selbst gründet und seine Identität auch prinzipiell nicht wissen, verstehen und über sie verfügen kann, dass sich aber in der stets wiederholten Abwehr von Verzweiflung (definiert als Selbstverlust durch eine fantastische oder überangepasste Existenz) ex negativo ein Selbst herauskristallisiert, ein Selbst, das durchaus an Identität im Sinne eines einstelligen Prädikats erinnert. Die Unruhe dieses Selbst in Bezug auf die Frage »Wer bin ich?« kann sich nur durch das Leben selbst lösen. Identität im Sinne eines einstelligen Prädikats erscheint hier freilich spezifisch gebrochen, insofern stets Gott als Quelle bzw. als konstitutives Gegenüber jenes wahren, auf dem Grunde der Verzweiflung zu findenden Selbst mitgedacht ist. Theunissens philosophische Rekonstruktion dieses Ansatzes stellt ein bedeutendes Material dar, anhand dessen ein Konzept negativer Identität erarbeitet werden kann (vgl. I.2.). (5) Schließlich noch zur Identität als Nicht-Identität. Wird Identität im Sinne einer vermittelten Relation oder eines einstelligen Prädikats gedacht, so gilt sie meist als etwas Erstrebenswertes, das in irgendeinem Sinn zur reifen und verantwortlichen Person gehört. Daneben gibt es aber die bedeutende Tradition der Nicht-Identität, der es um Widerstand gegen Identitätszumutungen geht, welche also in Identität zunächst gerade nicht das Wünschenswerte sieht. Das Ziel, so ließe sich sagen, ist die Befreiung von (notwendig) falscher Identität, das Ziel ist Nicht-Identität im Sinne einer Differenz zum falschen Ganzen. 56 Noch in der vermeintlichen Gewissheit, also in dem vom einzelnen faktisch bekundeten Gefühl, mit sich im Sinne des authentischen Selbstseins identisch zu sein bzw. Identität als vermittelte Relation ausgebildet oder verwirklicht zu haben, entdeckt 54 55 56

Vgl. Theunissen 1991, ders. 1993. Vgl. Theunissen 1993: 42 ff. Vgl. Adorno, Negative Dialektik: 273 ff. u. ö. A

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Adorno eine grundsätzliche Lüge: Was man für sich selbst hält, entpuppt sich unter dem dialektischen Blick der Philosophie als durch und durch gesellschaftlich vermittelt. 57 Das Ziel der geschilderten praktisch-philosophischen Identitätskonzepte, Identität zu entwickeln und auszubilden, muss von Adornos gesamter Philosophie her als Irrweg erscheinen, als eine nur vermeintliche und scheinbare Orientierung in einem gesellschaftlichen und kulturellen Ganzen, das auf falschen Voraussetzungen beruht und deshalb gewissermaßen keine internen Lösungen zulässt. Nicht-Identität fungiert ihrerseits so lange als Ziel, wie wahrhaftige Nicht-Identität als Vorschein einer besseren Welt einer wirklichen Lösung näher ist als die notwendig verlogene Identität. 58 Die Aufdeckung des verlogenen Zusammenhangs, in dem Identitätskonzepte bis in das Subjekt selbst hinein einsichtslos und blind stehen und der Widerstand gegen die gesellschaftlichen Identitätszwänge und Identitätszumutungen sind deshalb Ziele der Philosophie Adornos. »Im Kern des Subjekts wohnen die objektiven Bedingungen, die es um der Unbedingtheit seiner Herrschaft willen verleugnen muss und die deren eigene sind. Ihrer müsste das Subjekt sich entäußern. Voraussetzung seiner Identität ist das Ende des Identitätszwangs«. 59 Auch ein Autor wie Foucault hat mit seiner Kritik an der philosophischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Macht, welche den Einzelnen zwingt, ein (re-) identifizierbares Subjekt zu sein, für Nicht-Identität plädiert. 60 Die Figur der Nicht-Identität ist für die Konzeption negativer Identität relevant Vgl. z. B. Adorno, Minima Moralia: 172 f., 175 f. Auch die genuin philosophische Zusprache von Identität an ein Individuelles, etwa durch ein philosophisches System wie dasjenige Hegels, gilt Adorno als unzulässige Vereinnahmung und Verfälschung dieses Individuellen. Seine Kritik richtet sich gegen jede Philosophie, die sich als prima philosophia begreift, auch gegen die Phänomenologie Husserls und Heideggers. Transzendentale Phänomenologie muss Adorno als Scheinlösung gelten, insofern sie aus seiner Sicht eine falsche Unmittelbarkeit (Gegebenheit, Entdecktheit) mit dem Anspruch der prima philosophia auf Selbstbegründung verbindet (vgl. Adorno, Metakritik der Erkenntnistheorie, ders., Ontologie und Dialektik). 59 Adorno, Negative Dialektik: 277. 60 »Diese Form von Macht wird im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, welches das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muss und das andere in ihm anerkennen müssen. Es ist eine Machtform, die aus Individuen Subjekte macht. Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht« (Dreyfus, Rabinow 1987: 246 f.). 57 58

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und muss in diese Eingang finden. Freilich geschieht dies stärker in lebenspraktischer Hinsicht, etwa wenn ich gegen die Negativitätsvergessenheit einer Philosophie der Lebenskunst argumentiere und Elemente der Nicht-Identität als Teil einer philosophisch befriedigenden Lebenskunst zu etablieren versuche (vgl. II.2.3). Die Beschränkung auf lebenspraktische Phänomene der Nicht-Identität ist Ausdruck meiner Vermutung, dass Adornos These von der notwendigen NichtIdentität nur im Rahmen einer (geschichts-) philosophischen Metatheorie bestehen kann. Diese metatheoretische Kritik an klassischer Philosophie, Wissenschaft und Kultur kann die erwähnten praktischphilosophischen Identitätskonzepte nur noch als Scheinlösungen verstehen, die für ihre eigene Verstricktheit in destruktive Strukturen blind sind. Dabei muss diese Grundsatzkritik notwendig Phänomenbereiche verlieren, auf die m. E. auch eine Theorie negativer Identität nicht verzichten kann. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit Adornos Philosophie kann die vorliegende Untersuchung jedoch nicht leisten. I.1.2. Identität und Moderne Eine Untersuchung der Figur negativer Identität, ihrer systematischen Implikationen und lebenspraktischen Potenziale bedarf nicht nur einer Situierung im systematischen Identitätsdiskurs, sondern auch einer Situierung in jener zeittypischen Konkretisierung der Identitätsproblematik, die durch die Verbindung der Begriffe Identität und Moderne bzw. Identität und Modernekritik angezeigt wird. Der besonderen Beziehung zwischen der Figur personaler Identität und einigen Idealen der modernen Kultur sowie einigen Forderungen der modernen Gesellschaft soll im Folgenden nachgegangen werden (1). Dazu gehört es (2) auch, jene andere Verbindung zu beleuchten, die zwischen Modernekritik und Kritik am Identitätsideal und an den Identitätsforderungen besteht. (1) Die moderne Kultur, so lässt sich sehr allgemein sagen, versteht Identität als etwas Anzustrebendes. 61 Zwei Aspekte sind dabei zu unterscheiden, nämlich das eher kulturell-philosophisch vermittelte Dass die Moderne überhaupt Identität als ein Telos denkt, kann man (freilich einseitig ideengeschichtlich) mit Marquard als Folge des Ausfalls Gottes als eines Identitäts-

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Identitätsideal und die eher gesellschaftlich vermittelte Forderung nach Herausbildung von Identität. 62 Zunächst zum Identitätsideal: Geistesgeschichtlich betrachtet bedeutet Identität im Sinne eines Ideals mindestens dreierlei. Identität steht für Autonomie in der aufklärerisch-emanzipativen Tradition: Modern erscheint Identität z. B. geschichtsphilosophisch als persönliche »Zugehörigkeit zum Endzweck dieser Geschichte«, 63 mithin als Zugehörigkeit zum Fortschritt, als Zugehörigkeit zum emanzipatorischen Projekt der Moderne. Identität bedeutet sodann Authentizität in der romantisch-expressiven Tradition: Identität wird gedacht als authentischer Selbstausdruck, als unverwechselbare Individualität, die Ergebnis von (oft künstlerischer) Selbstverwirklichung ist bzw. die in dieser sichtbar wird. Und Identität ist schließlich entwicklungspsychologisches Ziel im gesellschaftlichen Kontext in der sozialwissenschaftlichen Tradition: Seit Ende des 19. Jhs. beschreibt die Sozialwissenschaft Identität als ein anzustrebendes Gut. Im Kontext einer therapeutischen Sozialpsychologie formuliert etwa Erikson Identität als Bedingung für ein gesundes Leben in der Gemeinschaft. 64 Persönliche Identität als modernes Ideal bündelt also diesseitig teleologische Hoffnungen nach garanten begreifen. Identität würde demnach zum notwendigen Projekt des Diesseits, zum Ersatz für die fehlende transzendente Teleologie (vgl. Marquard 1979: 355 f.). 62 Dabei wird das Ideal des Selbstseins in der Moderne erstmals zu einer Verheißung und Forderung nicht nur für eine kleine Elite, für die schon Platon in diesem Sinne Identität gefordert hatte, sondern potenziell für alle Menschen. Vgl. Böhmes These von der neuzeitlichen Trivialisierung philosophischer Lebensformen (Böhme 1994, ders. 1996: 326 f., 330 ff.). Schon bei Platon (Alkibiades I, 129 b-e) finden sich Fragen der modernen Identitätsproblematik und die Forderung nach emphatischem Selbstsein, gleichwohl ergeht diese Forderung an eine kleine Bildungselite. »Offenbar sind die in der Neuzeit sich progressiv durchsetzenden modernen Lebensformen und Gesellschaftsformationen von der Art, daß sie dem einzelnen, und zwar jedermann, abverlangen, was ursprünglich bei Platon Bestandteil philosophischer Lebensführung war, nämlich eine autonome, in sich reflektierte Persönlichkeit zu sein« (Böhme 1996: 330). 63 Marquard 1979: 361. 64 Diese Identität ist das Ergebnis des erfolgreichen Meisterns verschiedener Lebensphasen, und sie findet nicht zuletzt in der Wahl und Ausübung eines Berufs, in der Zugehörigkeit zu einem Berufsstand ihren Ausdruck. Dies ist, »[…] was die Identitätsbildung jedes Menschen letzten Endes leisten muß. In ich-psychologischen und psychosozialen Begriffen ausgedrückt, würde dies lauten: Um seinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, muß der Mensch zu einer konfliktfreien, gewohnheitsmäßigen Beherrschung seiner vornehmlichen Begabung kommen, die er zu seinem Beruf macht; in der unmittelbaren Ausübung dieses seines Berufes, in der menschlichen Gemeinschaft, die er dadurch findet, und in der Tradition dieses Berufes muß er seine quasi unerschöpflichen Hilfsquellen erkennen« (Erikson 1981: 135 f.).

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persönlicher oder gesamtgesellschaftlicher Entwicklung und Vervollkommnung. Identität kann in der Moderne geradezu als fraglos anerkanntes menschliches Entwicklungsziel gelten, das zu verfehlen nicht nur Einbuße an persönlichem Lebensglück bedeutet, sondern geradezu Unmündigkeit, z. B. im Sinne des Zurückbleibens hinter dem philosophischen Ideal des emanzipierten autonomen Subjekts. 65 Nun zur gesellschaftlich vermittelten Forderung nach Herausbildung von Identität: Modernitätstheoretisch gilt das Problematischwerden persönlicher Identität als konstitutiv für moderne Gesellschaften überhaupt. Eine wesentliche Ursache muss in der Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Institutionen und deren Folgen für die Bewohner moderner Gesellschaften gesucht werden. In archaischen Gesellschaften wurden dem Einzelnen Handlungen und Handlungsnormen in unmittelbarem persönlichem und verwandtschaftlichem Kontakt vermittelt und zwar als wesentlicher Teil »einer außerordentlichen, rituell und symbolisch erfaßten, mythologisch gedeuteten Wirklichkeit«. 66 Dadurch waren Bedeutung und Sinn des persönlichen Handelns in das Ganze einer Wirklichkeit eingebunden, persönliche Identität entfaltete sich in dieser engen verwandtschaftlichen und rituell-religiösen Beziehung. Erst mit der institutionellen Ausdifferenzierung der Gesellschaft und ihren Folgen wird die persönliche Identität auffällig und problematisch bzw. zu einer individuellen Aufgabe. Eine wichtige Folge der institutionellen Spezialisierung besteht nämlich darin, dass die jeweiligen institutionellen Handlungsnormen rein zweckrational begründet werden. Dadurch geht die Bindung an den Gesamtzusammenhang von Sinn verloren, mehr noch, die Institution wird vom Einzelnen unabhängig, das heißt seine Rolle in der Institution wird anonym und damit persönliche Identität zur Privatsache. Hinzu kommt, dass mit der Verfügbarkeit unterschiedlicher Rollen auch das Bewusstsein dafür wächst, dass es sich hier überhaupt um Rollen handelt (die Rolle wird als solche sichtbar). Dieser Vorgang erschwert die Möglichkeit, sich mit der Rolle zu identifizieren. Schließlich verlangt die Frage nach der persönlichen Identität auch dadurch nach einer privaten Reflexion und Beantwortung, dass Mitglieder moderner Gesellschaften potenziell mehrere, wesentlich widersprüchliche Rollen mit widersprüchlichen Identifikationsmöglichkeiten innehaben können. Iden65 66

Vgl. Joas 1997: 237 f. Luckmann 1979: 304. A

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tität wird somit zur Aufgabe, zur Forderung, welche die moderne Gesellschaft strukturell an ihre Mitglieder stellt. Luckmann hält diese Forderung, »Identität in Eigenregie und ohne Rollenidentifikation auszubilden und zu halten« sogar explizit für eine Überforderung. 67 Die moderne Identitätsforderung und -überforderung bestimmt auch die Problemlage der Gegenwart. Wesentlich für spätmoderne Identitätsforderungen ist es dabei, dass sich die Forderungen der Moderne infolge verschiedener Prozesse (etwa Rationalisierung, Globalisierung, Individualisierung, Flexibilisierung) noch verschärfen. So muss der globalisierte Arbeitnehmer in Eigenregie ein den Marktanforderungen gemäßes Identitätsdesign entwerfen. 68 Zugleich ist der Forderung nach Identität in der Spätmoderne immer weniger dadurch zu begegnen, dass etwa, wie dies noch Erikson als Lösung propagierte, die Mitgliedschaft in einem Berufsstand, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit ihren (stützenden) Erwartungen und ihrer Anerkennung Identität gewähren könnte. Sich verändernde Anforderungen an persönliche Identitätsentwürfe treffen mit einer Erosion der Ressourcen für Identität zusammen. Fungiert Identität im Kontext kulturell-philosophischer Programme als modernes Ideal, so erscheint sie im Rahmen gesellschaftlicher Anforderungen an das Individuum immerhin noch als Bedingung von Normalität – der Status eines anzustrebenden Guts bleibt in gewandelter Form erhalten. (2) Eine kritische Sicht der Moderne verabschiedet nun (aus differenzierten Gründen) sowohl das kulturelle Identitätsideal als auch die soziale Identitätsforderung. Zunächst zur Verabschiedung des Identitätsideals: Hier geht es vor allem um Kritik an den Formen, in denen sich das Projekt der Moderne realisiert hat und laufend realisiert. Diese Kritik, oft auch Enttäuschung oder Ernüchterung, 69 trifft aber nicht nur die Formen faktischer Realisierung, sie schlägt auch auf die neuzeitlichen Ideale selbst zurück. So erscheint etwa das Ideal der Autonomie, das emanzipatorische Projekt der Moderne, nur noch als der Tendenz nach illusorische Große Erzählung im Sinne Lyotards. 70 Als eine solche aber kann das Emanzipationsprojekt nicht AaO.: 313. Vgl. Sennett 2000. 69 Bauman spricht von unserer Zeit als der »Moderne ohne Illusionen« (Bauman 1995: 55). 70 Vgl. Lyotard 1994: 96, 107. Die Hoffnung auf eine weltweite Emanzipation von den 67 68

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länger als Garant für persönliche Identität (im Sinne einer Zugehörigkeit zu und Identifikation mit diesem Projekt) fungieren, als externe Instanz der Identitätsrepräsentation und der Vermittlung von Identität fällt dieses Ideal weitgehend aus. Auch die problematischen Auswirkungen des modernen Authentizitätsideals werden kritisiert. 71 So interpretiert etwa Taylor die enorme Wertschätzung des Individuellen als Erbe des romantischen Ideals des authentischen Selbstausdrucks. Diese Wertschätzung geht aber mitunter mit subjektivistischen Tendenzen einher, bis hin zur Forderung, sich voneinander unbedingt unterscheiden zu müssen, die eigene Identität mithin konstruieren und demonstrieren zu müssen. Hier liegt ein Problem, denn die emphatische Suche nach sich selbst wird durch die Ungewissheit über die Echtheit, die Authentizität dessen, was als Eigenes vorgefunden wird, stets aufs Neue in Frage gestellt. Nur die (konsumistisch längst vereinnahmte) gegenseitige Demonstration von Individualität und Originalität bietet dann vorübergehend die Gewissheit, mit sich selbst identisch zu sein, eine eigene Identität entwickelt zu haben. 72 In einer solchen Kritik am Authentizitätsideal, wie sie Taylor vorlegt, werden bestimmte gesellschaftliche Problemlagen als direkte Folgen moderner Identitätsforderungen und Identitätsverheißungen verstanden, und dabei werden deren eigene konstitutive Schwachpunkte herausgearbeitet. 73 Bei der Verabschiedung der gesellschaftlichen Identitätsforderung handelt es sich, wie schon erwähnt, um den Aufweis einer zutiefst widersprüchlichen sozialen Situation: Der Anforderung, Identität unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft selbst ausbilden zu müssen, steht die Erosion der Identitätsressourcen geGefahren der Natur schwindet ebenso wie der Glaube an eine stetig gerechter werdende Welt. Auch kann die Verbesserung der Zustände in bestimmten Gebieten der Welt für andere Gebiete eine Verschlechterung bedeuten. Die Moderne kann dann empfunden werden als »eine von Natur aus insuläre Lebensform, die sich nur durch Vertiefung der Differenz zwischen sich und dem Rest der Welt reproduziert« (Bauman 1995: 321). 71 Vgl. Taylor 1995a. 72 Vgl. aaO.: 71 ff. Vgl. auch Abschnitt I.4.4. 73 Ansätze feministischer Theoriebildung fragen zudem, ob »eine im bisherigen Sinne autonome Ich-Identität für Frauen die allein anzustrebende Form ihres Personseins sein soll«. Dieses klassische Ideal bedeute »den Zwang des Bewußtseins über die äußere Natur und die ›innere Natur‹ der Person« (Weisshaupt 1990: 148). Das Identitätsideal wird also in seiner Abhängigkeit von bestimmten männlich dominierten Gesellschaftsverhältnissen thematisiert. Das »Modell, nach dem Identität gedacht wird, ist männlich« (Ritter 1996: 415). A

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genüber. Neuere sozialpsychologische Ansätze sprechen von einem »Abschied von Erikson«. 74 Dessen Modell einer persönlichen Identität als fester Bestand von Fähigkeiten und Zugehörigkeiten scheint überholt, an seine Stelle treten unsichere Entwürfe einer Patchworkidentität. 75 Moderne Kontinuitäts- und Konsistenzforderungen gelten so als obsolet und werden als falscher Zwang verworfen. Joas spricht vom »Zwang in der Zumutung – auch in der Selbstzumutung – von Konsistenz und Kontinuität der Person«. 76 Dass der sozialpsychologische Identitätsbegriff deshalb als tendenziell unterbestimmt kritisiert werden kann, weil als mögliche Entsprechung zur gesellschaftlichen Identitätsforderung immer nur instrumentell hergestellte Identität in den Blick kommt, sei hier nur kurz erwähnt. Ich werde darauf unten ausführlicher zurückkommen (II.1.). Die Vergegenwärtigung der Verbindung von Identität und Moderne bzw. von Identitätskritik und Modernekritik ist für diese Untersuchung aus zwei Gründen relevant. Zum einen wird dabei eine zeitgenössische Problemlage deutlich. Sehr allgemein kann man sagen, dass für die Bewohner der Kultur der Moderne, und damit auch für uns Zeitgenossen, die Frage nach (lebenspraktischer) Orientierung stets auch die Frage nach Identität ist. Mit der Herausbildung personaler Identität bleiben weiter Ideale und Hoffnungen verbunden. Dies gilt für die selbstverständliche Wertschätzung der autonomen Persönlichkeit ebenso wie für die Konzentration auf hergestellte Identität im Kontext der Anforderungen an das moderne Individuum. Hier ergibt sich die Fragestellung dieser Untersuchung, nämlich die Frage nach der Möglichkeit, Identität heute philosophisch befriedigend und dennoch so zu denken, dass die praktischphilosophische Relevanz der Identitätsfrage voll zum Tragen kommt. Welche (evtl. impliziten) Ansätze der Gegenwartsphilosophie lassen sich hier ausmachen? Der zweite Grund für die Vergegenwärtigung des Zusammenhangs zwischen Identität und Moderne liegt auf Seiten der Identitätsforderung moderner Gesellschaften. Jede Philosophie, die lebenspraktisch bedeutsam sein und zur lebenspraktischen Orientierung beitragen möchte, muss sich auf die Bedingungen einlassen, unter denen der Zeitgenosse lebt, auch gewissermaßen auf die Aufgaben, die an ihn gestellt sind. Eine solche Philosophie muss sich 74 75 76

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Keupp 1996: 382. Vgl. aaO.: 385. Joas 1997: 238.

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aber ebenso auf die Lösungsangebote einlassen, die, etwa von Seiten der Sozialwissenschaft, dem Einzelnen ständig an die Hand gegeben werden. Vor allem aber müssen Aufgaben wie Lösungsangebote kritisch reflektiert werden, denn eine Philosophie, der es um lebenspraktische Orientierung geht, tritt notwendig sowohl (wenn auch weniger) zu den soziologisch konzeptionalisierten und aufgewiesenen und für das moderne Individuum geltenden Anforderungen und Aufgaben wie auch (deutlich mehr) zu den sozialwissenschaftlich formulierten lebenspraktischen Strategien und Lösungen in Konkurrenz. Diese Konkurrenz besteht sowohl in der Kritik als auch im Aufweis von Alternativen. Philosophische Aussagen über Identität und Lebenspraxis haben nicht ein isoliertes und überzeitliches Subjekt zum Gegenstand, sie richten sich nicht an ein Subjekt schlechthin, sondern sie betrachten ein Subjekt, das jeweils schon eine Welt hat, das jeweils schon orientiert ist. I.1.3. Eine Fragestellung praktischer Philosophie Mit der Frage nach den systematischen Möglichkeiten und den praktischen Potenzialen negativer Identität möchte ich die Identitätsproblematik nicht zuletzt aus der sozialwissenschaftlichen Diskussion lösen und wieder zu einer Fragestellung praktischer Philosophie machen. Dies bedeutet zunächst auch, den unmittelbar pragmatischen Kontext (das Feld der Identitätsforderungen und der Identitätsarbeit) einzuklammern. Im zweiten Teil der Untersuchung wird der praktische Kontext gleichwohl wieder aufgesucht, aber erst nachdem ein eigener Standpunkt gewonnen worden ist, der es auch erlaubt, in bestehenden praktischen Diskursen und im Hinblick auf lebenspraktische Themen eine alternative philosophische Position begründet einzunehmen. Wenn ich zu diesem Zweck zunächst Identität als negative Identität zu konzipieren versuche, dann steht hinter diesem Projekt eine dreifache These. Meine These besagt erstens, dass die Gegenwartsphilosophie, ohne dies stets auch zu reflektieren, verschiedene Ansätze unternommen hat, Identität selbst (also genuin philosophisch) zu bestimmen, und zwar als negative Identität. 77 Eine solche Konzeption, die Zur Frage der Auswahl der Ansätze im Rahmen dieser Untersuchung vgl. Einleitung, Fußnote 8.

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Identität in Kategorien wie Passivität und Widerfahrnis oder in Begriffen der Nichtverstehbarkeit und Entzogenheit denkt, kann in diesem Sinne als eine systematische Gemeinsamkeit gelten, die man in verschiedenen Bemühungen gegenwärtigen Denkens aufzeigen kann. Für dieses Denken, so lässt sich auch sagen, ist in Bezug auf Subjektivität ein Element der Schwäche, vielleicht auch der Bescheidenheit kennzeichnend. 78 Meine These besagt zweitens, dass sich jene systematische Gemeinsamkeit als der Versuch verstehen lässt, eine sehr grundsätzliche Kategorie neuzeitlichen Denkens zu unterlaufen, nämlich die Figur der Selbsterhaltung bzw. der Selbstbegründung. 79 Dabei ist freilich der folgende Zusammenhang entscheidend: Autoren wie die von mir untersuchten schreiben implizit oder explizit in einem modernekritischen Impetus, sie suchen nach Alternativen zum cogito, zum absoluten Anfang des Denkens und zur vermeintlich vollständigen Selbstdurchsichtigkeit philosophischer Konzepte. Gleichzeitig folgt das Denken dieser Autoren aber keineswegs der klassischen Modernekritik von Nietzsche über Heidegger bis Foucault, es stellt vielmehr den Versuch dar, dieses Denken seinerseits zu überwinden. Denn, so lässt sich im Sinne der Denker negativer Identität sagen, auch diese klassische Modernekritik bewegt sich noch innerhalb der Kategorie der Selbstbegründung, ist es ihr doch gerade um den radikalen Selbstentwurf, um die Befreiung aus Bemächtigungen, aus Bindungen zu tun. Aus der Perspektive eines negativen Identitätskonzepts stellt sich die klassische Modernekritik allzu sehr als Radikalisierung moderner Kategorien dar, sie ist damit dialektisch gesehen eine ungenügende Kritik. Modernes Subjektdenken wie auch die Kritik am modernen Subjektdenken in ihrer Gemeinsamkeit (dem Begriff der Selbsterhaltung und der Selbstbegründung) zu bestimmen und diese gemeinsame Struktur selbst 78 In diesem Sinne argumentiert auch Gianni Vattimo. Vgl. z. B. das Kapitel Die Wiederkehr und die Philosophie in Vattimo 1997: 18 ff. 79 Vgl. Ebelings Überblick über das moderne Prinzip der Selbsterhaltung und seine Genese (Ebeling 1996b) sowie die Arbeiten in dem von Ebeling herausgegebenen Sammelband (Ebeling 1996a). Selbsterhaltung als Konzept der Moderne beginnt mit der Zurückdrängung der creatio continua bzw. deren Verwandlung in natura naturans bei Spinoza. Es kommt in der Folge zu einer Umkehr antiker und christlicher Teleologie: Seiendes soll nicht mehr die Fähigkeit ausbilden, sich auf ein spezifisches Gut auszurichten und dieses zu realisieren, vielmehr ist das Seiende selbst, seine Erhaltung und Selbststeigerung das Ziel. Vernünftige Selbsterhaltung bleibt heute an Axiome wie Kommunikationszwang, Kontinuitätsdruck oder Wahrhaftigkeitsinteresse gebunden (vgl. Ebeling 1996b: 15 f.).

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zu unterlaufen, dies bedeutet dialektisch den Versuch einer sehr grundsätzlichen Weiterentwicklung des Subjektdenkens, und diesen Versuch unternehmen die Denker negativer Identität. Bei diesem Versuch gehen die untersuchten Autoren verschiedene Wege, diese ähneln sich gleichwohl darin, dass sie, um eine Formulierung Charles Taylors zu bemühen, auf ältere Quellen des Selbst zurückgreifen. Diese Quellen können als grundsätzliche Alternativen zur Figur der Selbstbegründung und der Selbsterhaltung verstanden werden. Michael Theunissen greift auf Kierkegaards Existenzdialektik zurück, also letztlich auf ein Stück christliche Theologie. Paul Ricœur orientiert sich an der Konstitution von Identität durch Alterität, hierbei handelt es sich im Kern um einen jüdisch-christlichen Topos. Und Charles Taylor greift (teilweise in der Tradition Hegels) zurück auf die jedem individuellen und kollektiven Handeln vorausgehenden kulturellen Werte als Instanz zur Vermittlung von Identität. Ein Rückgriff auf solche älteren Identitätsquellen, wie ihn die Denker negativer Identität unternehmen, sollte m. E. nicht als ein naiver Rückfall hinter das moderne Denken und seine Problemhöhe interpretiert werden. Und ebenso muss die spürbare Aufgeschlossenheit für theologische Kategorien, die bei Theunissen, Ricœur und Taylor gleichermaßen vorliegt, nicht vorschnell als eine Retheologisierung des Identitätsdenkens verstanden werden, ja nicht einmal als der grundsätzliche Versuch, theologische Gehalte philosophisch einzuholen bzw. zu rekonstruieren. Vielmehr scheint es mir möglich, negative Identitätskonzepte als Entwürfe zu beschreiben, die auf dem Feld des Identitätsdiskurses wesentliche Gehalte des Negativitätsdenkens des 20. Jhs. fruchtbar machen können, so etwa, um ein Beispiel zu nennen, Heideggers und Merleau-Pontys radikale Kritik am Schein einer sich selbst durchsichtigen Wahrnehmungsoder Handlungstheorie. Der Rückgriff auf solche Quellen der Identität, welche sich von der Figur der Selbstbegründung radikal unterscheiden, welche mit keiner ihrer Spielarten zur Deckung zu bringen sind, geschieht, so lässt sich sagen, als Bewegung des Ausbruchs aus jedem Identitätsdenken im Umkreis der Figur der Selbstbegründung – doch dieser Ausbruch ist noch nicht das negative Identitätsdenken selbst. Vielmehr entsteht ein hinreichendes Konzept negativer Identität erst, wenn sich die systematischen Gehalte jener älteren Quellen der Identität als jene systematischen Gehalte wieder erkennen und reformulieren lassen, welche das Negativitätsdenken für den Identitätsdiskurs bereithält. Diese Reformulierung und RekonstrukA

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tion muss im Folgenden teilweise überhaupt erst geleistet werden, sie ist in den behandelten Werken nicht immer schon Programm und auch nicht immer selbstverständlich intendiert. Meine der Untersuchung zugrunde liegende These besagt drittens, dass die systematische Figur negativer Identität praktisch-philosophische Potenziale birgt – sie stellt tatsächlich eine Möglichkeit dar, wie personale Identität heute gedacht werden kann. Damit aber kann ein solches Konzept auch als Möglichkeit der Orientierung fungieren. Hier sind verschiedene Fragestellungen praktischer Philosophie angesprochen. Im zweiten Teil der Untersuchung werde ich die Figur negativer Identität daher auf Praxisfelder beziehen, indem ich einerseits bestehende Diskurse mittels der gewonnenen systematischen Figur kritisiere; andererseits zeichnet das Konzept negativer Identität seinerseits auch Lebenspraxis vor und kann selbst orientierend wirken. Aber auch schon im ersten Teil der Arbeit steht bei der Rekonstruktion des untersuchten Identitätsdenkens als eines Konzepts negativer Identität Lebenspraxis stets mit im Blick. Die Frage, wie Identität heute philosophisch befriedigend konzeptualisierbar sei, diese Frage ist stets auch die Frage des denkenden Individuums nach sich selbst und damit nach seiner konkreten Lebenspraxis.

I.2. Identität und Verzweiflung (Michael Theunissen) Michael Theunissen ist ein Denker der Negativität. Sein Werk kann exemplarisch für die Möglichkeit stehen, Identität auf spezifische, nämlich auf eine dialektisch negative Weise zu denken. Theunissen unterläuft damit die Figur der Selbstbegründung und der konstruierten Identität. Identität wird systematisch an abgedrängte Traditionen der Konstitution von Subjektivität angeschlossen, zentral ist hier die Existenzdialektik Kierkegaards. Theunissens Werk umfasst mehrere Schwerpunkte: Nach seiner frühen Dissertation über Kierkegaard 1 arbeitete Theunissen in seiner Habilitation zwei konkurrierende sozialontologische Ansätze heraus, den transzendentalphilosophischen (Husserl, Heidegger, Sartre) und den dialogischen (Buber u. a.). 2 Zahlreiche Jahre widmete Theunissen der Philosophie Hegels. 3 Zu1 2 3

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Vgl. Theunissen 1958. Vgl. Theunissen 1977. Vgl. Theunissen 1970, 1978.

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letzt hat Theunissen, aufbauend auf Vorarbeiten, ein umfangreiches Werk zur frühgriechischen Dichtung vorgelegt. 4 In den 80er und frühen 90er Jahren bildeten Kierkegaards Philosophie der Verzweiflung und des Selbst in der Krankheit zum Tode sowie das (meist psychopathologische) Leiden an der Zeit den Schwerpunkt seiner Arbeit. 5 Dieses zuletzt genannte systematische Terrain ist für die Frage nach der Figur negativer Identität besonders interessant. Denn hier geht es um eine dialektisch reflektierte Negativität des Selbst sowie um die Herausbildung von Identität im Sinne einer vermittelten Relation. Die vorliegende Untersuchung wird indirekt freilich auch von den systematischen Problemen profitieren, die sich in Theunissens Ansatz aufzeigen lassen und die, so meine These unten, vor allem in der Unterbestimmtheit von Negativität bestehen. Nach einigen kritischen Vorbemerkungen zu Theunissens Ansatz (I.2.1.) werde ich im Folgenden seine existenz- und zeitphilosophischen Analysen zur Identität immanent rekonstruieren (I.2.2., I.2.3.). So lässt sich besser entscheiden, worin der Beitrag Theunissens zu einer Theorie negativer Identität bestehen könnte und an welcher Stelle die Grenzen dieses Ansatzes überschritten werden müssen (I.2.4.). I.2.1. Auf der Suche nach existenziellen Lösungen (1) Dass Theunissens Werk potenziell einer Kritik von Seiten des klassischen philosophischen Diskurses ausgesetzt ist, hat seinen Grund in einem Umstand, der m. E. eher für als gegen die Arbeiten Theunissens spricht: Es geht darum, dass sich dieses Denken stets an der Grenze der Philosophie bewegt, an der diese in ihr Anderes umschlägt, in Existenz und Lebenspraxis, und es geht auch um eine latente Nähe zur Theologie. Theunissen hat dieses Problem schon früh gesehen; bezeichnend ist etwa, wie er seine Auseinandersetzung mit der Dialogik verteidigt hat, obwohl, wie Theunissen schreibt, die »Sachwalter der akademischen Philosophie dem dialogischen Denken in demonstrativen Gesten ihre Geringschätzung« zeigen: 6 »Wenn Philosophieren heißt: sich auch auf die Gefahr des Scheiterns hin an Vgl. Theunissen 2000. Vgl. Theunissen 1979b, ders. 1991c, ders. 1991e, ders. 1991g, ders. 1991i, ders. 1993, ders. 1996. 6 Theunissen 1977: 483. 4 5

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das noch Ungedachte wagen, dann ist die Ohnmacht des dialogischen Denkens an sich philosophischer als die Macht der Transzendentalphilosophie, die eben deshalb zu weniger problematischen Ergebnissen kommt, weil sie schon im Ansatz weniger wagt«. 7 Theunissens (durchaus sympathisches) Ziel ist das Ungedachte, ist ein Gebiet, dessen Wahrheit selbst nicht denkförmig ist, für das aber gleichwohl Begriffe (etwa solche im Umkreis der Negativität) gefunden werden können. Doch diese Konzentration auf das Existenzielle bedeutet umgekehrt nicht, und auch dieser Umstand spricht für Theunissen, dass seine (oft subtil phänomenologischen) Arbeiten historisch nicht hinreichend reflektiert wären, wie dies etwa bei der klassischen Phänomenologie oft der Fall war. Im Gegenteil, Theunissen verortet seine Philosophie durchaus vor einem modernetheoretischen Horizont. Als charakteristisch für die Gestalt unserer späten Moderne spielen hier zunächst zwei sich ergänzende Verluste eine Rolle, der Verlust des Glaubens an den rettenden (erlösenden) und den sinngebenden Gott sowie der Verlust des Glaubens an die Macht menschlicher Vernunft. 8 Im engeren Sinn als Teil einer historischen Identitätstheorie kann man sodann die Analyse verstehen, wonach als Ergebnis einer Entwicklung bis in die späte Moderne hinein das Subjekt sich gewissermaßen selbst ablehnt: Verfolgte die Metaphysik noch die Idee einer Bestimmung des Menschen (als Gattung) 9 und wandelte sich diese Bestimmung im Renaissance-Individualismus zur Idee einer Verwirklichung der eigenen reichen Individualität, so betont die spätere Moderne, so wie sie sich im 19. Jh. nach Hegel artikuliert, besonders die Beschränktheit und Gebrochenheit und nicht den Reichtum

AaO.: 485. Vgl. Theunissen 1993: 122 f. Theunissen diagnostiziert in der Moderne auch einen Verlust der Idee der Ganzheit (vgl. Theunissen 1982: 9). Der Verlust der Ganzheit setzt das geschichtliche Aufkommen der Idee der Ganzheit voraus, insofern ist auch die Sache der Verzweiflung selbst ein geschichtliches Phänomen. Theunissen sieht einen starken Bruch in der Entwicklung von der mittelalterlichen desperatio (als der zeitweiligen Abwesenheit von Hoffnung) zur modernen Verzweiflung (als dem Gegenteil des Glaubens), in dessen Verlauf die Sache selbst eine andere geworden ist: Erst mit dem Christentum entwickelte sich die Möglichkeit, auf das Ganze glaubend auszugreifen, erst im Verlust des Glaubens konnte es zum Zweifel am Ganzen, zur Verzweiflung am Ganzen kommen (vgl. Theunissen 1993: 122 ff.). 9 Die Idee der gattungsmäßigen Bestimmung des Menschen artikuliert sich in veränderter Form freilich auch noch in Kants Ethik, nämlich als Auftrag der handelnden Verwirklichung des Menschseins in der eigenen Person. 7 8

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der eigenen Individualität. 10 Beide Charakteristika unserer Epoche, der Verlust des Vertrauens in Gott und in die menschliche Vernunft und der Verlust jener Bestimmung des Menschen bzw. der Verlust des positiven teleologischen Programms der Selbstverwirklichung, haben mit dem übergreifenden Thema des Nihilismus zu tun, mit dem Nichtigwerden von Selbst und Welt. Ein identitätstheoretischer Ansatz, der diese Problematik aufgreift, muss sowohl bei der gebrochenen Identität einsetzen als auch gewissermaßen die Sprache des Verlusts und des Nichtigwerdens sprechen und seine Konzepte in dieser Sprache artikulieren. Beides versprechen Theunissens Arbeiten zu leisten, sie werden damit für eine Theorie negativer Identität in besonderem Maße einschlägig. (2) Beschäftigt man sich mit der Gesamtheit des Denkens Theunissens, dann kann man quer zu verschiedenen fachphilosophischen Themen ein spezielles Erkenntnisanliegen ausmachen: Es geht um den Versuch, eine Existenzform zu skizzieren, welche durch Hoffnung und Vertrauen gekennzeichnet ist, die also so etwas wie die Lösung der Problematik der Existenz darstellt. Diese (zumindest teilweise auch theologische) Thematik hat Theunissen in verschiedenen Anläufen konzipiert: sozialontologisch im Zusammenhang der Dialogik des frühen und mittleren 20. Jhs., 11 existenzdialektisch im Ausgang von Kierkegaard, 12 theologisch in einer Auseinandersetzung mit dem Glauben Jesu, 13 zeitphilosophisch über eine Kritik psychopathologischer Theoriemodelle 14 sowie philologisch und erneut zeitphilosophisch in der groß angelegten Auseinandersetzung mit der frühgriechischen Dichtung. 15 In den für die vorliegende Untersuchung herangezogenen Schriften lässt sich nun hinsichtlich des zentralen Themas einer gelingenden Existenz ein Modell rekonstruieren: Indem Theunissen Kierkegaard bei dessen Analysen des Nichtselbstseinwollens (aus der Krankheit zum Tode) folgt bzw. indem er sich auf das Leiden unter der Herrschaft der Zeit einlässt, nimmt sein Denken die Gestalt einer abstrakten, weder religiösen noch metaphy-

10 11 12 13 14 15

Vgl. Theunissen 1993: 43 f. Vgl. Theunissen 1977. Vgl. Theunissen 1991i, ders. 1993. Vgl. Theunissen 1991h. Vgl. Theunissen 1991c, ders. 1991e u. a. Vgl. Theunissen 2000. A

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sischen Heuristik des Glücks und der gelingenden Existenz an. 16 Man kann sagen, dass dieser formale Ansatz systematisch eine Untersuchung jener Bedingungen ist, unter denen eine doppelte Negation in der Bewegung des Existierens gelingt, nämlich die ständige Zurückweisung derjenigen Bedingung, die das gelingende Leben verhindert. Der Gegenstand jener abstrakten Heuristik des Glücks ist die unglückliche und misslingende Existenz, welche mit Verzweiflung als einem Verlust jeder Hoffnung einhergeht und entspricht damit der modernen Thematik einer gebrochenen Identität. Von der misslingenden Existenz aus betrachtet bezeichnet Identität im Sinne jener angestrebten nicht mehr leidenden, ja der gelingenden Existenz, nicht das von je her Bestimmte, das Innerste, etwa in romantischer Tradition. Identität ist vielmehr das Resultat einer dialektischen Bewegung, einer Bewegung von dieser ungewollten Existenz weg und (dialektisch vermittelt) auf diese zurück. Zweifellos ist dieses Modell anspruchsvoll und von hohem existenziellem Interesse. Es soll im Anschluss entsprechend detailliert rekonstruiert werden. Die Tiefe der Analyse ist dabei vor allem der Existenzdialektik geschuldet. 17 Dennoch stellt sich sogleich die Frage, ob das existenzdialektische Modell nicht letztlich zu schematisch ist bzw. inwieweit die Gefahr eines Schematismus einen Schatten sowohl auf die Sache der Verzweiflung und des Glücks als auch auf eine Theorie negativer Identität wirft. Zwar wäre es unzutreffend, Theunissen als einen Philosophen des gelingenden Lebens zu bezeichnen. Theunissen geht es nicht in einem naiven und unmittelbaren Sinn um das gute Leben oder gar um Lebenskunst. Vielmehr geht es Theunissen (durch alle Texthermeneutik hindurch) stets um eine bestimmte Sache, nämlich um Verzweiflung, Angst, Leiden und scheiternde Existenz einerseits und um Hoffnung, Vertrauen, Sinn und glückende Existenz andererseits. Doch eben diese Sache, welche dieses Denken im Sinne lebenspraktischer Weisheit umkreist, geht (so Der von Theunissen sparsam verwendete Begriff Glück steht nicht im Kontext antiker Glücksethik, sondern hat eher eine theologische Konnotation im Sinne des nicht von Menschen gemachten Glückenden (vgl. Theunissen 1991b: 33 f.). 17 Arnold Come versucht, Kierkegaards Methode eher als phänomenologisch denn als dialektisch zu charakterisieren (vgl. Come 1988). Dies trifft sicherlich insofern zu, als eine Existenzanalyse im Stil Kierkegaards stets beim Einzelnen beginnt und auch wieder zu dessen konkreter Wirklichkeit führen soll (vgl. Come 1988: 22). Dennoch ist eine solche Existenzanalyse dialektisch, was ihre theoretische Struktur, ja was das Wirklichkeitsmodell angeht, welches als Hintergrundannahme dieses Denken begleitet. 16

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möchte man sogleich einwenden) in keinem dialektischen Schema auf, selbst wenn mit dem negativen Moment dieses Schemas eine große inhaltliche Neutralität gewährleistet ist. Beides, Verzweiflung wie sinnvolle Existenz, gibt es auch unabhängig von jeder Existenzdialektik. Glück und Gelingen sind kaum identisch mit einer doppelten Negation und ebenso wenig mit der Selbstdurchsichtigkeit einer zu sich selbst gekommenen Existenzbewegung – und Verzweiflung hat neben dem Nichtselbstseinwollen viele weitere Facetten. Gibt es die von Theunissen gesuchten existenziellen Lösungen überhaupt? Diese Frage ist wohl nur dann zu bejahen, wenn die Bedeutung des Erfragten nicht auf ein existenzdialektisches Endstadium reduziert wird. Theunissens negative Methode hat ihre Stärke darin, dass sie bei defizienten Existenzformen ansetzt, dass sie durch Formalität und Prozessualität gekennzeichnet ist und dass sie Negativität als eine Kraft konzipieren kann, welche die Existenzbewegung im Sinne der Dialektik antreibt. Dennoch wird meine These unten sein (vgl. I.5.2.), dass selbst dieser starke Begriff von Negativität noch unterbestimmt ist bzw. dass Negativität fundamentaler (und letztlich auch alltäglicher) anzusetzen ist, als das in der dialektischen Bedeutung dieses Begriffs geschieht. 18 Eine solche allgemeinere Negativität kann dann auch ein anderes Licht auf jene Phänomene werfen, die hier im Zentrum der Reflexion stehen, nämlich Identität und Verzweiflung. Doch zunächst (I.2.2., I.2.3.) gilt mein Interesse den Stärken des negativen Denkens Theunissens und seinen Potenzialen für eine Theorie negativer Identität. Das Problem eines zu engen Ansetzens taucht schließlich auch im Kontext der möglichen Kritik auf, Theunissens Denken sei ethisch nicht hinreichend reflektiert. Zwar versucht Theunissen (immanent durchaus überzeugend), dem Vorwurf durch eine spezifische modernekritische Interpretation der denkerischen Gegenwartsaufgaben zu entgehen: Vor dem Hintergrund des 20. Jhs. an der Sollensethik festzuhalten heiße, so Theunissen, die Realität des radikal Bösen zu verdrängen. Hier wird die zeitgenössische normativistisch-optimistische Moralphilosophie gegen die theologische Lehre vom status corruptionis, von der Sündhaftigkeit der Menschen ausgespielt. 19 GleichzeiDie These, Theunissens Negativitätsbegriff sei noch nicht genügend stark bzw. Theunissens Theorie sei noch nicht genügend negativ, vertritt schon Uwe Justus Wenzel (vgl. Wenzel 1992: 368). 19 Vgl. Theunissen 1991b: 30. 18

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tig trifft Theunissens Ethikkritik auch die Ethik des guten Lebens: Ihr Begriff des Guten kann insofern reduktionistisch genannt werden, als er auf dem Gebiet der Ethik die deontische Bedeutung des Guten ausschließt, auf dem Gebiet der existenziellen Anthropologie die Frage nach den Bedingungen gelingenden menschlichen Lebens vernachlässigt und auf dem Gebiet der Metaphysik jene passivische Bedeutung von Glück nicht berücksichtigt, für die der theologische Terminus der Gnade steht. 20 Besonders in Bezug auf die Ethik des guten Lebens ist Theunissens Kritik nachvollziehbar. Theunissen unterscheidet entsprechend das Gute, das der Ethik zuvorkommt, das ethisch Gute und das Gute, das der Ethik nachfolgt. Sein philosophischer Ansatz konzentriere sich, so Theunissen, auf die erste und die dritte Form des Guten, auf menschliches Existieren einerseits und auf das nicht von Menschen gemachte Gute (wie Würde, Liebe oder Gnade) andererseits. 21 So sehr Theunissens Ethikkritik in einem allgemeinen Sinn zuzustimmen ist, so sehr drängt sich andererseits der Verdacht auf, die Ethikferne seiner Bestimmungen einer gelingenden Existenz stünde in enger Beziehung zum dialektischen Ansatz seines Denkens. Der Maßstab des Guten ist und bleibt die Aufhebung der Verzweiflung und damit der Fortgang der Existenzbewegung, der Maßstab ist mithin teleologisch. 22 Bei Kierkegaard hatte dieses Kriterium noch einen theologischen Hintergrund, insofern das Gesetztsein durch Gott erst in der Aufhebung der Verzweiflung in die Bewegung der Existenz zu sich selbst kommt. 23 Kann Vgl. aaO.: 33 f. Vgl. ebd. 22 Daneben bestimmt Theunissen (in sehr viel geringerem Umfang, vgl. Theunissen 1982) das hinsichtlich des Themas Selbstverwirklichung gesellschaftlich Anzustrebende über den kritischen Vergleich der realen gesellschaftlichen Verhältnisse mit den kollektiven Idealen, die diesen zugrunde liegen (Theunissen 1991b: 31). Dieser Typ von Bewertungskriterium, bei dem die faktische Artikulation eines gesellschaftlichen Grundwerts in den Institutionen dieser Gesellschaft daraufhin befragt wird, ob sie diesen Grundwert angemessen artikuliert, findet sich bei Charles Taylor an zentraler Stelle wieder. 23 Bei Theunissen gibt es allerdings das Element der radikalen Offenheit für Welt, für die Bedürfnisse des Anderen (s. u.). In diesem entscheidenden Punkt geht Theunissen konsequent über Kierkegaard hinaus. Während Kierkegaards Begriff des negativen Selbst ein weltloses Sich-zu-sich-Verhalten bzw. ein Beisichsein im Anderen, nämlich in Gott, meint, ist für Theunissens Begriff des negativen Selbst letztlich Liebe konstitutiv (vgl. Theunissen 1991h: 358 f.). Für Theunissen fallen daher auch das Selbst und die ästhetische Existenz hinsichtlich einer zentralen Größe in eins: Ist der Ästhetiker eine Augenblicksexistenz gewissermaßen aus Leidenschaft, so ist das Selbst eine Augenblick20 21

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überhaupt ein Weg von der Identitätstheorie (und von den gesuchten existenziellen Lösungen) zur Ethik führen? Charles Taylor hat einen solchen entworfen (vgl. I.4.). Unten versuche ich zudem skizzenhaft zu zeigen (vgl. II.4.), welchen spezifischen Zugang zu ethischer Reflexion ein Denken eröffnen kann, welches einer allgemeineren und (im Vergleich zur dialektischen) zugleich fundamentaleren Bestimmung von Negativität folgt. I.2.2. Existenzdialektik der Verzweiflung Theunissens minutiöse Rekonstruktion der Verzweiflungstheorie Kierkegaards beeindruckt besonders deshalb, weil es dabei laufend um die Suche nach existenziellen Lösungen geht. Was im Rahmen eines dialektischen Ansatzes überhaupt zu einer Theorie negativer Identität beitragen kann, ist hier zu finden. Aus den verschiedenen Schriften Theunissens habe ich versucht, immanent ein nachvollziehbares Modell jener Bewegung im Existenziellen zusammenzustellen, die Theunissen gewissermaßen als Lösung der Problematik des Lebens vorschwebt. (1) Worin besteht die spezifische Negativität des Selbst? (2) Wie lässt sich Verzweiflung existenzdialektisch verstehen? (3) Wie kann man sich hier eine existenzielle Lösung im Einzelnen vorstellen? (1) Zunächst ist zu klären, wie in Theunissens Interpretation Kierkegaards das Phänomen Verzweiflung und das Selbst heuristisch zusammenhängen und was die Negativität des Selbst systematisch ausmacht. Zur Heuristik: Untersucht wird anthropologisch und existenzphilosophisch dasjenige Leiden, welches mit einer wie auch immer näher zu bestimmenden mangelhaften Bewegung des Existierens einhergeht. Dies bietet dann (sozusagen in einem zweiten Schritt) die positive diagnostische Möglichkeit, Einblick in den Prozess des Selbstseins (des Selbstwerdens) und damit sowohl in dessen leidende wie in dessen glückende Form zu erlangen. Entsprechend präpariert Theunissen aus Kierkegaards Krankheit zum Tode eine negativistische Methode heraus, 24 der zufolge die Verzweiflung heurissexistenz gezwungenermaßen, muss es doch in jedem Augenblick die Möglichkeit der Verzweiflung zunichte machen (vgl. Theunissen 1991h: 358 f.). 24 Vgl. Theunissen 1991i. Im Folgenden beschränke ich mich auf die Angabe der Stellen A

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tisch, aber auch ontologisch Vorrang vor dem Selbst hat. Dass die Verzweiflung auch ontologischen Vorrang genießt, macht gerade die modernetheoretische Pointe dieses Modells aus: Das angestrebte Selbst, die Identität, ist von sich aus noch nicht existent, das Selbst muss der vorfindlichen Existenzform, der Verzweiflung als der gebrochenen Identität, erst abgerungen werden. 25 Was das Selbst sei, kann man sich daher von der Verzweiflung, von ihren Bedingungen und ihrer Genese anzeigen lassen. 26 Anders gesagt: Wenn die Verzweiflung als Phänomen ohne Reduktionen erklärt werden soll, dann muss die Bewegung menschlicher Existenz, dann müssen Selbstwerdung und Selbst so und so gedacht werden. 27 Kierkegaards gesamte Philosophie bezeichnet Theunissen so als »Morphologie der Selbstverfehlung«. 28 Die verzweifelte Existenz ist diejenige Bewegung, welche laufend Selbstsein verhindert. Heuristisch kommt der Zugang zum positiven Begriff des Selbst so ohne jede vorgängige Bestimmung aus, der Begriff des Selbst ist zunächst nur gleichbedeutend mit nicht leidender Existenz. Was bedeutet nun die Negativität des Selbst im Einzelnen? Hier kann man drei verschiedene Bedeutungsebenen auseinander halten. Negativität ist erstens zu verstehen als etwas nicht Wünschenswertes, zweitens als Substratlosigkeit und drittens als Akt des Negierens. In der ersten Bedeutung bezeichnet Negativität jene Zustände, in denen der Mensch nicht ist, was er sein kann und soll. Eine negative Philosophie des Selbst richtet sich an jenen Phänomenen aus, welche defizientes Menschsein zeigen, und untersucht sie, hier besonders das Phänomen Verzweiflung. Diese erste Bedeutung von Negativität hat auch noch eine methodische Variante, nämlich wenn von den negativen Phänomenen auf gelingende Existenz geschlossen wird. 29 In in den Schriften Theunissens. Die Krankheit zum Tode zitiert Theunissen in eigener Übersetzung aus der dänischen Originalausgabe. Deren Seitenzahlen sind in Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode (siehe Literaturverzeichnis) angegeben (vgl. Theunissen 1993: 13), sodass die Originalstellen bei Kierkegaard leicht auffindbar sind. 25 Im Folgenden verwende ich mit Theunissen und Kierkegaard den Begriff Selbst. Identitätstheoretisch verstanden steht dieser Begriff für dasjenige, was einer werden kann und soll, um mit sich, das heißt hier vor allem mit seiner Faktizität wie mit seiner Freiheit, übereinzustimmen. Der Begriff Selbst kann in diesem Sinne als Synonym für Identität gelten. 26 Vgl. Theunissen 1991i: 16. 27 Vgl. aaO.: 25. 28 Theunissen 1996: 46. 29 Vgl. Theunissen 1991i: 17 f.

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der zweiten Bedeutung meint Negativität des Selbst, dass das Selbst substratlos gedacht wird, nämlich als reine Prozessualität. Das Selbst ist von sich selbst her nichts. Doch was für ein Prozess ist das Selbst? Dies bezeichnet die dritte Bedeutung von Negativität, welche das Charakteristikum dieser Prozessualität beschreibt. Selbstsein heißt Negation, nämlich die ständige Negation von Verzweiflung, welche ihrerseits spontan entsteht und sich einstellt. 30 Umgekehrt gilt natürlich, dass die Verzweiflung die Negation des Selbst ist, nämlich im Sinne einer laufenden Verhinderung der Möglichkeit des Selbst, jenes Prozesses, der Selbst genannt werden kann. 31 Schon auf der Ebene dieser systematischen Skizze zeichnen sich zwei Schwierigkeiten ab. Erstens geht das reiche Phänomen Verzweiflung natürlich nicht in jenem Typ von Verzweiflung auf, welcher im Prozess seines Negiertwerdens die Bewegung der Selbstwerdung ermöglicht. Verzweiflung hat vor allem meist nicht nur innere Ursachen, sondern ist eine Reaktion auf ein Erleiden. 32 Doch außerhalb des Anspruchs einer expliziten Phänomenologie der Verzweiflung und im Interesse einer negativen Theorie des Selbst kann diese Unterbestimmung von Verzweiflung zunächst außer Acht gelassen werden. Die zweite Schwierigkeit besteht im Verdacht, Kierkegaards Selbst sei letztlich doch eine Setzung. Setzt nicht jede Rede von einer Negation, die von der Verzweiflung ausgeht (Verhinderung der Selbstwerdung) ein a priori Seiendes oder sein Sollendes voraus, nämlich das Selbst? Theunissen bestreitet diesen Verdacht, den er als Selbsteinwand formuliert und diskutiert. 33 Eine Widerlegung des Verdachts gelingt freilich nur aufgrund der vollständigen Formalisierung des Selbst im Sinne der Prozessualität und der ständigen Negation der ihrerseits vorgängig und spontan aufsteigenden Verzweiflung. 34 Das Selbst ist demnach nicht als etwas Positives anzusehen – dennoch bleibt m. E. eine gewisse teleologische Perspektive schon durch die Figur der Existenzdialektik selbst ständig in Kraft. In dieser teleologischen Perspektive aber ist das Selbst ein positives Ziel, ein

Vgl. aaO.: 32 f., 53 ff. Vgl. aaO.: 26. 32 Dies räumt auch Theunissen kritisch ein (vgl. Theunissen 1993: 70 ff.). 33 Vgl. Theunissen 1991i: 25–34. 34 Vgl. aaO.: 3. Diese Formalisierung des Selbst findet sich auch tatsächlich bei Kierkegaard, allerdings immer im Zusammenhang mit seiner Theorie des Gesetztseins, die unten noch Thema sein wird. 30 31

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Ziel, das eine bestimmte Stelle (ein Stadium) in einem dialektischen Schema markiert. (2) Nun zur Analyse der Verzweiflung selbst, die existenzdialektisch als Nichtselbstseinwollen verstanden wird. 35 Theunissen bringt die verschiedenen Theoriebestände, in denen Kierkegaard das Phänomen Verzweiflung gefasst hat, in ein geschlossenes und anschauliches Modell. Demnach muss Verzweiflung inhaltlich auf drei Ebenen eines Nichtselbstseinwollens rekonstruiert werden. 36 Dass sich Verzweiflung als komplexes Phänomen nicht in einem Nichtselbstseinwollen erschöpft, ist schon angemerkt worden, dies nimmt den folgenden Analysen aber nicht ihre Glaubwürdigkeit. Denn in diesen Analysen muss sich zunächst nur zeigen, dass es sich umgekehrt beim Nichtselbstseinwollen überhaupt um eine Form der Verzweiflung handelt. Die drei Ebenen des Nichtselbstseinwollens betreffen erstens unser konkretes und kontingentes Dasein, zweitens unser Menschsein (man könnte sagen die conditio humana, vor der wir ausweichen) und drittens unser Selbst. Erstens wollen wir nicht unser vorfindliches, kontingentes Dasein in seinen Beschränkungen, Schwierigkeiten und alles andere als optimalen Strukturen übernehmen. Dieses Zurückweichen vor dem Vorfindlichen kann auf verschiedene Weisen geschehen. Entweder wir weisen es als nicht zu uns gehörig zurück, wir verweigern jede Identifikation mit ihm. Oder, dies eine weitere Möglichkeit der Zurückweisung von Faktizität, wir entwerfen ein hypothetisches, ein konstruiertes Dasein, das wir an die Stelle des kontingenten setzen. 37 In diesem Fall wollen wir uns unbedingt mit diesem konstruierten Entwurf unserer selbst identifizieren (Kierkegaard spricht bekanntlich von einem verzweifelten Selbstseinwollen). Hier geht es um den Versuch, Faktizität dadurch zu fliehen, dass wir uns immer mehr bei (vermeintlichen) Möglichkeiten unserer Existenz aufhalten, unser Dasein sozusagen erträumen. Schließlich lässt sich noch eine weitere Form des Nichtselbstseinwollens des kontingenten Daseins bestimmen: Diese schwache Form des Nichtselbstseinwollens besteht in der dumpfen Weigerung, sich überhaupt zu unserem kontingenten Dasein in ein Verhältnis zu setzen. 38 Das Ausweichen nimmt hier 35 36 37 38

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Eine kurze Einführung in Kierkegaards Modell bietet auch Kraus 1984. Vgl. Theunissen 1993: 18 ff. Vgl. aaO.: 24 ff. Vgl. aaO.: 33 f.

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die Gestalt einer extremen Distanzlosigkeit zum eigenen Dasein an, dieses soll gewissermaßen nicht als solches zu Bewusstsein kommen. Eine zweite Form des Nichtselbstseinwollens bezieht sich auf die Synthesestruktur, welche das Menschsein existenzdialektisch ausmacht, hier geht es darum, nicht in vollem Sinne Mensch sein zu wollen, mithin die anstrengende Aufgabe zurückzuweisen, die mit der Synthesestruktur gegeben ist. Wir wollen uns nicht der Anstrengung unterziehen, die Syntheseelemente des Menschseins in der eigenen Existenz zu vermitteln. Kierkegaard sieht den Menschen bekanntlich als ein Wesen, das gleichzeitig und deshalb wesentlich widersprüchlich von Möglichkeit und Notwendigkeit, von Ewigkeit und Zeitlichkeit und von Unendlichkeit und Endlichkeit ausgemacht wird. 39 Das Zusammenhalten durch das eigene Existieren ist nicht nach Art einer Addition zu verstehen, so als gehe es lediglich darum, beiden Syntheseelementen im eigenen Leben zu ihrem partiellen Recht zu verhelfen. Vielmehr sind die Elemente, so Theunissen, selbst dialektisch zu denken, sie enthalten jeweils in sich ihr Gegenteil, sie sind im tiefsten Sinn nur dann sie selbst, wenn sie das Andere ihrer selbst mit umfassen. Es gilt also, die Syntheseelemente in der Bewegung der eigenen Existenz so sehr zu extremieren, dass sie in ihr Gegenteil umschlagen können, dass sie das Andere ihrer selbst mit zum Vorschein bringen können. 40 Dies ist etwa dann der Fall, so ließe sich vorstellen, wenn die Faktizität des kontingenten Daseins durchaus bejaht wird, doch als Teil von dieser bestimmte zu ergreifende oder auszuschlagende Möglichkeiten entdeckt werden. Möglichkeiten zu haben, nicht festgelegt zu sein, dies kann als das Andere der Kontingenz und Faktizität gelten. Ähnlich verhält es sich, wenn etwa, ausgehend von der Orientierung an der Freiheit zur Wahl unterschiedlichster Existenzmöglichkeiten, als wesentlicher Teil dieser Freiheit die Freiheit zur Aufgabe dieser Freiheit (etwa im Phänomen des Versprechens) verstanden wird. Das Vorfindliche kann auch Gegenstand einer Wahl sein. Das Zusammenhalten der Syntheseelemente ist mit Anstrengung verbunden, insofern es etwa gilt, Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit auszuhalten. Weiter ist es anstrengend, insofern man diese Bewegung selbst machen muss und an keine äußere Instanz delegieren kann. Die Anstrengung zu scheuen heißt gleichwohl, das Menschsein als Aufgabe zurückzuweisen, 39 40

Vgl. aaO.: 37 f. Vgl. aaO.: 145 f. A

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das Spezifische des Menschseins nicht austragen zu wollen. Kierkegaard denkt im Fall des zurückgewiesenen Menschseins an Existenzentwürfe eines unmenschlichen oder vormenschlichen Seins, etwa an die Sehnsucht nach vollständiger Determination oder nach reiner abstrakter Möglichkeit. Verschiedene Formen der Verzweiflung in diesem Zusammenhang sind etwa die Verzweiflung der Endlichkeit und Notwendigkeit, also das Steckenbleiben in der je eigenen Faktizität oder die Verzweiflung der Unendlichkeit und Möglichkeit, also das Sichverlieren in hypothetischen Konstrukten und Entwürfen. 41 Eine dritte Form des Nichtselbstseinwollens bezieht sich auf die Ablehnung, ein Selbst zu haben. 42 Hier geht es um die Zurückweisung der Notwendigkeit des laufenden Sich-Imaginierens und SichRealisierens und um die Scheu, uns selbst in die Stelle der unersetzbaren Subjekte einzusetzen. In der angesprochenen Notwendigkeit zeigt sich eine Facette des Phänomens des Gesetztseins: 43 Das Selbst ist jene Freiheit, die darin besteht, alle im Rahmen des jeweiligen konkreten Daseins bestehenden Möglichkeiten verfolgen zu können, die aber nicht auch frei ist, darüber zu entscheiden, ob sie selbst als diese Freiheit existieren möchte oder nicht, vielmehr ist sich diese Freiheit selbst eine unbedingte Notwendigkeit. 44 Der Freiheit nicht oder nur um den Preis einer verkümmerten Existenz ausweichen zu können kann Angst machen und den Versuch motivieren, dieser Möglichkeit, ein Selbst zu haben, auszuweichen. Ängstigen kann auch die Erkenntnis, dass sich die Autorschaft oder, nimmt man die Faktizität ernst, die Ko-Autorschaft für das eigene Leben schlechterdings nicht delegieren lässt. Auch diese Angst kann als Motiv für diese besondere Form des Nichtselbstseinwollens gelten. Inwiefern muss nun das Nichtselbstseinwollen als Verzweiflung verstanden werden? Handelt es sich bei den Versuchen, den Notwendigkeiten und Freiheiten der eigenen Existenz auszuweichen, nicht einfach um bequeme Lebensformen, von denen erst im Rahmen eines theoretischen Modells behauptet werden kann, diese Lebensformen seien latent von Verzweiflung geprägt? Dies ist (nachvollziehbar) nicht der Fall, vielmehr handelt es sich bei den Formen des

41 42 43 44

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Vgl. Theunissen 1991i: 50 f. Vgl. Theunissen 1993: 20, 39 f. Vgl. Theunissen 1991i: 61 ff. Vgl. Theunissen 1979b: 505.

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Nichtselbstseinwollens um tatsächliches Leiden. Im Zusammenhang mit der ersten Form werden die Versuche, vom konkreten Dasein loszukommen, letztlich zum Scheitern verurteilt sein. So kann man sich, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, etwa im Falle einer freiwilligen Auswanderung zwar von dem kontingenten Ort seiner Geburt, nicht aber von seiner Geschichte trennen. Bei der zweiten Form des Nichtselbstseinwollens handelt es sich im Falle der Vereinseitigung eines Syntheseelements entweder per se schon um ein Leiden. Dies ist etwa dann der Fall, wenn sich vor lauter Möglichkeiten, die sich vermeintlich im eigenen Leben als Existenzformen realisieren ließen, keine Wege zum konkreten Ergreifen und Verwirklichen dieser Möglichkeiten mehr auftun. Oder es quält, im Falle der Sehnsucht nach einem vormenschlichen Sein, etwa völliger Determination, die Einsicht in die Künstlichkeit dieser Lebensform, dass sie nämlich auf einer Wahl, in einer Beschränkung, im Ausschlagen anderer Lebensformen beruht. Ähnlich verhält es sich bei der dritten Form des Nichtselbstseinwollens. Sich selbst als Subjekt des eigenen Lebens zu leugnen, mag vordergründig von Anstrengung befreien, letztlich kann man sich von dieser Aufgabe aber nur um den Preis befreien, von anderen fremdbestimmt zu werden, vor allem aber anderen all jenes schuldig zu bleiben, was nur in Übernahme seiner selbst als Subjekt des eigenen Lebens (man kann es auch Übernahme von Verantwortung nennen) möglich ist. (3) Wie wird schließlich der existenzdialektische Verzweiflungsbegriff in sein Gegenteil getrieben, wie löst sich Verzweiflung auf? Die Aufhebung des Nichtselbstseinwollens zerstört jene Bedingungen (nämlich die Verzweiflung), welche die Selbstwerdung verhindern, so soll es zu einer nicht mehr leidenden Existenz kommen. Dabei ist die Aufhebung des Nichtselbstseinwollens daran gebunden, dass wir die Anstrengung des Existierens auf uns nehmen. Auf der Ebene des Daseins (s. o.) bedeutet das, uns unsere Faktizität, zu der ja auch Möglichkeiten gehören, zuzurechnen, uns mit ihr zu identifizieren. Es bedeutet, uns zu der Kontingenz unseres Daseins ins Verhältnis zu setzen, aus den Gegebenheiten und begrenzenden Bedingungen, aus der Endlichkeit unserer Existenz einerseits und den vorfindlichen, auffindbaren oder sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit ergebenden Möglichkeiten andererseits eine konkrete, lebendige Gegenwart entstehen zu lassen. Dies ist jene Existenzbewegung, welche die von selbst aufsteigende Verzweiflung stets aufs Neue verhinA

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dert. 45 Auf der Ebene des Menschseins (s. o.) gilt es, jene Mühsal und jene Ambiguität als Grund des Existierens zu übernehmen, die sich aus der Gleichzeitigkeit der Syntheseelemente ergeben. Es geht um eine doppelte Bewegung des Selbstseins, nämlich um die Bewegung über die kontingente Faktizität des individuellen Soseins hinaus (nämlich hinaus in den Bereich der noch nicht realisierten Möglichkeiten) und auf diese kontingente Faktizität zurück. 46 In dieser Doppelbewegung wird die Bedingung sowohl der Verzweiflung der Endlichkeit (das Steckenbleiben in der Faktizität) als auch der Verzweiflung der Unendlichkeit (das Sichverlieren in Entwürfen) zerstört. Auf der Ebene des Selbst (s. o.) schließlich ist das Wagnis gefragt, uns selbst konsequent als Subjekte unseres Lebens einzusetzen, und als solche das Geschäft des Scheiterns und auch des Gelingens auf uns zu nehmen, welches sich aus den Selbstentwürfen und ihrem Schicksal unter den kontingenten Bedingungen unseres Daseins ergibt. Bei der Bewegung der Aufhebung von Verzweiflung in Existenz spielt nun jene wichtige Struktur des Gesetztseins eine entscheidende Rolle, sie sei im Folgenden erläutert. Was kann im Rahmen einer Theorie der Existenz sinnvollerweise unter Gesetztsein verstanden werden? Theunissen präpariert wiederum drei verschiedene Bedeutungen heraus und bemüht sich dabei um eine maximale phänomenologische Ausweisbarkeit. Erstens wird Gesetztsein gedacht als eine Endlichkeitserfahrung des prozessual verfassten Selbst. Das Selbst kann vom Prozess des Sich-Imaginierens und des Sich-Realisierens schlechterdings nicht loskommen, es erfährt ihn als notwendig. 47 Notwendigkeit taucht hier nicht (wie auf der Ebene des Menschseins, also im Zuge des Zusammenhaltens der Syntheseelemente) als Gegenspielerin von Möglichkeit und Freiheit, also als Beschränkung der Existenzbedingungen, auf. Vielmehr handelt es sich bei der Notwendigkeit auf der Ebene des Selbst um eine Macht, die jedes Ausweichen vor der Aufgabe, ein Selbst zu sein, nicht zur Ruhe kommen lässt. Veranschaulichen ließe sich dieser Zusammenhang etwa durch die mögliche Erfahrung, dass sich die eigene Freiheit gewissermaßen nicht abwählen lässt. Denn die Wahl einer bequemen Lebensform, in der man etwa nicht selbst planen, entwerfen, entscheiden und wählen 45 46 47

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Vgl. Theunissen 1991i: 40 ff. Vgl. aaO.: 50 f. Vgl. aaO.: 61 ff., Theunissen 1979b: 505.

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möchte, um sich dabei nicht als Selbst zu konstituieren, diese Wahl kann (zumindest in Momenten des Selbstzweifels und der Aufrichtigkeit) das Bewusstsein davon nicht vernichten, dass man auch anders hätte wählen und entscheiden können. Von der Freiheit kann man zwar keinen Gebrauch machen, als Faktum lässt sie sich aber auf Dauer nicht leugnen. Die so erfahrene innere Notwendigkeit jenes Sich-Imaginierens und dabei zugleich jenes Sich-Realisierens kann dann verstanden werden als ein Eingesetztsein in diesen Prozess, den man nicht selbst begründet hat und den man doch als Bewegung der eigenen Existenz betreiben muss. Eine zweite Bedeutung des Gesetztseins geht wieder mehr von den Bedingungen des Daseins und des Menschseins aus, innerhalb deren die Anstrengung des Sich-Imaginierens und Sich-Realisierens geleistet werden muss. Der Versuch, ein bestimmtes hypothetisches, konstruiertes Bild von demjenigen, der wir sein wollen, mit Macht aufrechtzuerhalten, 48 enthüllt sich dann als Flucht vor unserer individuellen Realität und kontingenten Faktizität, wenn er an eben dieser Realität scheitert. Das verzweifelte Selbstseinwollen entdeckt dabei, dass es sich in seiner ungeliebten Faktizität nicht loswird. So zeigt sich, dass wir uns nicht zur Gänze selbst setzen können, dass ein Element der Passivität mit zum vollen Begriff unseres Selbstseins gehört. Erst in einer dritten Bedeutung ist das Gesetztsein schließlich theologisch zu verstehen. 49 Kierkegaard schließt aus der Realität einer spezifischen Verzweiflungsform auf das Gesetztsein durch eine fremde Macht. Wieder handelt es sich um das verzweifelte, das krampfhafte Selbstseinwollen. Dieses kann auch als Trotz auftreten und richtet sich dann unmittelbar auf ein personales Gegenüber, auf Gott. Beharren wir etwa auf unserem unglücklichen Leben, indem wir alle rettende Möglichkeit leugnen und an der Behauptung festhalten, zu unserem Leiden gebe es keine objektive Alternative, schlagen wir also jede mögliche Lösung aus, dann besteht die Möglichkeit, dieses Rechthaben und Rechtbehalten auf eine Weise zu genießen, die besonders ein Rechthaben und Rechtbehalten gegenüber einer transzendenten Macht auszeichnet. Kierkegaard hat hier ein trotziges Aufbegehren gegen Gott im Blick, das sich zu einer Höhe aufschwingt, von der aus Gottes Werk mittels des eigenen Leidens seiner Unvollkommenheit überführt wird. Dabei wird das Gesetztsein inso48 49

Vgl. Theunissen 1991i: 36 ff. Vgl. ebd. A

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fern erfahren, als es nicht nur nicht geleugnet, sondern im Dienste der Widerlegung Gottes sogar gewollt und als Gesetztsein, als Erlittenes vorgezeigt wird. Ist nun das faktische Vorkommen des krampfhaften Selbstseinwollens nur über die Annahme des Gesetztseins überhaupt (und der durch dieses bedingten Unmöglichkeit, von sich loszukommen) verständlich zu machen, so ist das Vorkommen des Phänomens Trotz nur über die Annahme des Gesetztseins durch eine fremde Macht erklärbar. So lässt sich die von Theunissen rekonstruierte Lösung auf dem Gebiet der Existenz vorstellen: Mit dem Gesetztsein ist die Notwendigkeit mitgedacht, ein Selbst zu sein, das heißt sich dem Prozess des Sich-Entwerfens und Sich-Realisierens und im weiteren Sinn der Faktizität und der Widersprüchlichkeit der Syntheseelemente nicht zu entziehen. Diese Bewegung des Existierens hebt das Nichtselbstseinwollen und damit jene die Selbstwerdung verhindernde Bedingung auf. Es geht um die Übernahme einer Struktur, jenes Prozesses nämlich, in welchem sich ein konkreter Mensch daranmacht, seinem Gesetztsein (als der Notwendigkeit seiner Freiheit) dadurch zu entsprechen, dass er die Faktizität seiner Notwendigkeit wie auch die Faktizität seiner Möglichkeiten übernimmt, und das bedeutet: sich selbst tatsächlich will. Im Sinne einer negativen Identitätstheorie lässt sich demnach festhalten: Identität kann als explizit negative Identität verstanden werden, nämlich in diesem Kontext als ein rein negativ bestimmtes Selbst, das ein reiner Prozess ist, ein Prozess, der in der Negation des Negativen (negativ im Sinne der Verhinderung gelingender Existenz) besteht. Identität kann als ein Selbst verstanden werden, das dem Prozess, der es selbst ist, nicht ausweicht, sondern ihn (als sich selbst) übernimmt oder wählt. Damit ist in der Untersuchung der von Theunissen rekonstruierten Existenzdialektik eine wichtige Möglichkeit aufgezeigt worden, wie die Figur negativer Identität systematisch bestimmt werden kann. Innerhalb der Grenzen der oben angeführten Kritik an der dialektisch-schematischen Verengung des gesamten Ansatzes (diese ist freilich auch noch deutlicher geworden) bleibt dies ein wichtiges Ergebnis. I.2.3. Verzweiflung unter der Herrschaft der Zeit Die zeitphilosophischen Arbeiten Theunissens bieten die Möglichkeit, jenen Ertrag für eine Theorie negativer Identität, der sich aus 66

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der Systematisierung der Existenzdialektik Kierkegaards ergeben hat, auf einem anderen philosophischen Gebiet nachzuvollziehen. Dabei wird deutlich, dass Theunissens Theorie eines negativen Selbst nicht lediglich eine Interpretation Kierkegaards ist, vielmehr strebt Theunissen eine systematische Eigenständigkeit an. Allerdings, auch dies wird deutlich, bleibt Theunissen systematisch letztlich immer auf dem Boden einer Dialektik der Existenz, die er lediglich phänomenologisch unabhängig zu machen versucht. Für die Sache negativer Identität bedeutet dies, dass sie von Theunissens Zeitphilosophie weniger systematisch als vielmehr hinsichtlich ihrer Phänomennähe und Anschaulichkeit profitieren kann. (1) Wie kann man sagen, das Leiden an der Zeit sei gleichbedeutend mit Nichtselbstsein? (2) Wie kann sich das Leiden an der Zeit so auflösen, dass man von gelingender Existenz, Selbstsein oder Identität sprechen kann? (1) Das leitende Phänomen auf dem Gebiet der Zeit ist das Leiden unter der Herrschaft der Zeit, die Angst vor dem Vergehen der Zeit und vor der Endlichkeit, vor dem Tod. Es ist das Leiden an der beengenden Macht der Zeit, an ihrer Unerbittlichkeit, Gleichgültigkeit, quälenden Gleichförmigkeit oder auch ihrer Plötzlichkeit. Schließlich ist es auch die Sorge um die Zukunft, der Ausblick in eine düster verhangene Zeit, die alle Hoffnung raubt. Theunissen spricht von der Zeit als von einer uns negierenden Macht. 50 Das unter der Zeit leidende Subjekt wird dabei (in genauer Entsprechung zur Existenzdialektik) einer bestimmten Möglichkeit glücklicher Existenz (identitätstheoretisch formuliert: einer bestimmten Möglichkeit von IdenVgl. Theunissen 1991c: 41 ff. Vgl. hierzu auch Theunissens Forschungen zu Pindar (Theunissen 2000). Die hier untersuchten Zeitformen Tag, Chronos und Kairos besitzen jeweils ihre eigenen Weisen von Herrschaft: Der Tag herrscht im Sinne des Ephemeren, der tückischen Dunkelheit der Zukunft oder des Ausgeliefertseins an das Schicksal (aaO.: 14, 102 f., 193); Chronos herrscht im Sinne einer aus der Vergangenheit bruchlos in die Zukunft sich hineinwälzenden Zeit (aaO.: 57 f., 577 f.); Kairos schließlich herrscht im Sinne der Enge der Öffnung der Zeit, der Kürze des günstigen Augenblicks und ist so ein temporaler Ausdruck für die Endlichkeit des Menschen (aaO.: 826 ff.). Die drei Zeitformen besitzen aber auch ihre eigenen Weisen einer Transzendenz der Zeit: Der Tag kennt etwa den plötzlichen Eingriff des Göttlichen ins Schicksalsgeschehen, wobei dieses im Ganzen zerstört wird (aaO.: 433 f.); Chronos kann als eschatologische Transzendenz auftreten, die eine Kontinuität über das Ende des Lebens hinaus bezeichnet (aaO.: 740 f.) und der Kairos transzendiert Zeit, indem er eine plötzliche göttliche Gunst schenkt, die den Menschen, der den Kairos im blitzschnellen Zupacken nutzt, gleichsam augenblickshaft selbst zu einem Gott macht (aaO.: 824 ff.). 50

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tität) beraubt. Methodisch folgt Theunissen erneut dem negativistischen Prinzip, die angestrebte Existenzform wird gewissermaßen schon in jenem frühen Entwicklungsstadium untersucht, in der sie durch eine negierende Macht an ihrem Entstehen gehindert wird. Zur philosophischen Reflexion dieses Leidens bemüht Theunissen eine Fülle von psychopathologischer Literatur mit vielen Fallbeispielen und Patientenaussagen. 51 Dabei vertritt er freilich die These, das klinische Leiden sei nur eine (pathologische) Steigerung eines konstitutiv menschlichen Leidens an der Zeit, sodass an ihm sichtbar und begreifbar wird, was der Möglichkeit nach auch für den nachvollziehenden Beobachter phänomenal gegeben und aus eigener Anschauung schon bekannt ist. 52 Angst vor dem Vergehen der Zeit, Zukunftsangst sowie Leiden, das mit Schuldgefühlen wegen Ereignissen in der Vergangenheit zusammenhängt, sind Teil der menschlichen Existenz. Der Herrschaft der Zeit unterworfen zu sein, gehört zur conditio humana. 53 Philosophisch analysiert Theunissen das Leiden unter der Zeit als den Zusammenbruch unseres Widerstands gegen die entfremdende Herrschaft der Zeit, welcher mit dem (glückenden) Existieren routinemäßig einhergeht. 54 Dieser Widerstand geschieht üblicherweise Vgl. Theunissen 1991c, ders. 1991e, ders. 1991g. Vgl. Theunissen 1991c: 46. 53 Vgl. Theunissen 1991e: 225. Dass wir diese Verbindung zwischen conditio humana und Zeitlichkeit nicht nur ahnungsweise voraussetzen, sondern detailliert auch für eine frühere Epoche belegen können, verdanken wir nicht zuletzt Theunissens akribischer Untersuchung über die frühe griechische Zeitvorstellung. Hier ließe sich einwenden, der anthropologische Charakter einer zeitphilosophischen Identitätstheorie mache diese für die spezifische Problematik der Identität in der selbstkritischen Moderne uninteressant. Handelt es sich bei der Wahl der Psychopathologie der Zeit als Terrain für das Studium negativer Identität nicht um einen Rückfall hinter Kierkegaard? Dieser Einwand ist nur zum kleinsten Teil berechtigt: Zwar mag das Leiden unter der Zeit die Menschen verschiedener Epochen verbinden, doch die möglichen Gegenstände der Angst sowie die möglichen Lösungen, die möglichen Formen von Identität, können nur aus dem Problem- und Problemlösungsbestand einer Zeit schöpfen. In der selbstkritischen Moderne, nach dem Verlust des Vertrauens in den Erlösergott sowie in die positive Kraft der menschlichen Vernunft und nach dem Brüchigwerden des Modells vorgängiger substanzieller Identität, werden die Lösungsmöglichkeiten auch im Falle des Leidens unter der Zeit sehr spezifische sein müssen. 54 Die hier im Blick stehende Aufhebung des Leidens an der Zeit durch deren Instrumentalisierung ist nur eine sehr schwache Form jener von Hoffnung und Vertrauen geprägten Existenzweise, um deren Aufweis es Theunissen zu tun ist. Unten wird noch die Rede von anderen Formen der Freiheit vom Leiden an der Zeit sein, die sich von der 51 52

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durch eine Instrumentalisierung der Zeit, 55 also indem wir unsere Zeit nutzen, sie verplanen, sie gemäß unseren Zielen einteilen. Diese Vereinnahmung der Zeit bedeutet genauer betrachtet das Ausspannen von Zeit gemäß der je eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bedeutet also ein Lebendighalten der Zeit durch deren Gebrauch in den menschlichen Zeitdimensionen. Je stärker Zeit allerdings entdimensionalisiert und damit zu linearer Zeit wird, und dies geschieht im Nachlassen oder im Zusammenbruch des Widerstands (des Ausspannens von Zeit in ihre Dimensionen), desto mehr werden wir der Herrschaft von Zeit unterworfen. 56 Ein Beispiel für das Entgleiten der Zeit aus ihrem Ausgespanntsein in Dimensionen in reine Linearität ist die Langeweile, 57 in der sich die entfremdende Macht der Zeit als solche bedrohlich zeigt. Die entfremdende Herrschaft der Zeit über uns wird nun für denjenigen (für den Kranken) zu einem existenziellen Leiden, der ihrer Herrschaft ohnmächtig ausgeliefert ist. Hier kann es zu einer extremen Linearisierung der Zeit kommen, in der Zeit als linear und gleichzeitig als fraktioniert erfahren wird. 58 Das Gefühl der Machtlosigkeit gegen die Zeit und gegen die Welt stellt sich ein, die Überzeugung der Abgeschlossenheit und Verschlossenheit aller Möglichkeit, mithin die Unmöglichkeit jeder Hoffnung. Inwiefern entspricht dieses Leiden dem existenzdialektischen Stadium des Nichtselbstseinwollens? Wenn wir uns der Anstrengung verweigern, uns auf faktisch vorhandene Möglichkeiten hin zu entwerfen und diese in der Auseinandersetzung mit den konkreten Bedingungen des kontingenten Daseins zu realisieren, schwindet jener Widerstand gegen die Zeitherrschaft, welcher aus dem aktiven Dimensionieren und damit Instrumentalisieren der Zeit erwächst. Im Rahmen einer weiteren Entsprechung zur Existenzdialektik spricht Theunissen explizit von der Zeitstruktur der Verzweiflung. 59 Jene Flucht vor den Anstrengungen des Sich-Entwerfens und SichRealisierens entspricht dem Versuch, den Bedingungen des Menschseins zu entgehen, indem man sich der Mühe des Zusammenhaltens hier genannten vor allem dadurch unterscheiden, dass sie nicht mit Anstrengung verbunden sind. 55 Vgl. Theunissen 1991c: 56 f. 56 Vgl. Theunissen 1991e: 225. 57 Vgl. Theunissen 1991c: 45. 58 Vgl. Theunissen 1991e: 223 f. 59 Vgl. Theunissen 1993: 135 ff. A

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der Syntheseelemente verweigert. Dabei kommt es, wenn sich das Nichtselbstseinwollen auf Zukünftiges bezieht, zur Verzweiflung der Schwachheit, zu jener Verzagtheit, in der man nicht wagt, seine Zukunft zu gestalten. 60 Eine totalisierte Form dieser auf Zukunft bezogenen Verzweiflung ist die Verzweiflung am Ewigen (an der Möglichkeit, an der Freiheit), hier verstanden als Syntheseelement im Gegensatz zum Endlichen (Wirklichen, Notwendigen). Dabei wird die alle Hoffnung zerstörende Entdeckung gemacht, dass es sich bei der aktuellen Verzweiflung um keine Ausnahme handelt, sondern dass sie eine Hoffnungslosigkeit anzeigt, die, wie Theunissen sagt, »seit je und von weit her über die Menschen gekommen ist«. 61 Theunissen bleibt hier systematisch auf dem Boden der Existenzdialektik: Leiden unter der Zeit ist in seinem Kern Nichtselbstseinwollen. Die an der Zeit verzweifelnde Existenz muss nun in eine Bewegung kommen, die eine Entwicklung, eine Herausbildung von Identität bedeutet. (2) Für die Aufhebung des Leidens unter der Herrschaft der Zeit sieht Theunissen im Wesentlichen zwei Wege. Bei dem ersten (oben schon erwähnten) Weg wird die Zeit unter die Belange der eigenen Existenz subsumiert und dabei instrumentalisiert, das heißt dimensional vollzogen. Die Zeitdimensionen müssen davor bewahrt werden, auf verkürzte, verzerrte oder gar versperrte Weise aufgespannt zu werden. Die Vergangenheit droht, z. B. im Falle der zwanghaften Erinnerung, Macht über die Gegenwart zu erlangen, sich ihr als Fremdes aufzuzwingen, sie heimzusuchen. Demgegenüber gilt es, so Theunissen, in die Vergangenheit zurückzukehren, um sie stets aufs Neue in die Gegenwart hineinzuholen, das Vergangene produktiv als Lebensgeschichte zu verarbeiten und anzueignen, es gilt, das Vergangene in die Bewegung des Existierens hineinzunehmen und es solcherart zu etwas Eigenem zu machen. 62 Das Leiden unter der Herrschaft der Zukunft im Sinne der Hoffnungslosigkeit kann entsprechend nur Vgl. aaO.: 135. AaO.: 137. Zu einer solchen Charakteristik der Verzweiflung vgl. auch Henrich 1975, sowie Abschnitt I.5.2. dieser Arbeit. 62 Vgl. Theunissen 1991e: 259 f. Der mögliche Einwand, hier handle es sich um ein allzu harmonistisches Konzept, greift zu kurz. In seiner Schrift über die Aufgaben und Möglichkeiten öffentlicher Erinnerung in Deutschland (Theunissen 2001) spricht Theunissen von Aneignung in dreifacher Bedeutung. Es geht um die Aneignung einer nicht selbst erlebten Vergangenheit, es geht um das Gedenken der Opfer, und es geht um 60 61

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aufgehoben werden, wenn Zukunft tatsächlich als solche, das heißt als Raum des Möglichen, des in Vergangenheit und Gegenwart noch nicht vollständig Angelegten, ja des Unausdenkbaren offen gehalten wird. 63 Die Gefahr schließlich, die von der Zeitdimension Gegenwart ausgeht, besteht in ihrer Verzerrung durch einen linearen Zeitbegriff, der sie als leeres Jetzt erscheinen lässt. Dagegen gilt es, Gegenwart als den Augenblick des Zusammenhaltens der Syntheseelemente zu verstehen: Steht die Endlichkeit und Notwendigkeit für das schon Geschehene (für die begrenzenden Bedingtheiten des faktischen Daseins) und steht die Möglichkeit und Freiheit für die radikale Offenheit der Zukunft, aber auch für die Freiheit zur Wahl, so steht das lebendige Zusammenbringen dieser beiden Dimensionen, mithin die Realisierungsversuche des Imaginierten, für die Zeitdimension der Gegenwart. 64 Theunissen sieht noch einen zweiten Weg der Aufhebung der Zeitherrschaft, der gleichwohl zu ähnlichen Resultaten kommt. Hier geht es um Weisen des nichtalltäglichen Umgangs mit Zeit, bei denen diese eine Tiefendimension offenbart, welche Theunissen als das Andere der Zeit verstehen möchte 65 und welcher sich im Umgang mit Zeit gegen ihre Herrschaft nutzen lässt. Für das Sichverhalten zu Vergangenem verweist Theunissen etwa auf die von Proust beschriebene Praxis des mimetischen und versöhnenden Zeitumgangs bei der unwillkürlichen Erinnerung. 66 In dieser Erinnerung und in der Zuwendung zum (und nicht etwa Flucht vor dem) Vergangenen erinnert etwas Vergangenes an sich selbst und das heißt an sein Wesen, an etwas Zeitloses, das einem in der vergangenen Begegnung nicht als solches aufgegangen ist. 67 In dieser Öffnung des Anderen der Zeit soll ihre entfremdende Herrschaft zerbrechen. In der Gegenwart tritt Freiheit von der Zeit in dem genannten Sinn z. B. bei der Aneignung unbegreifbarer Schuld, ja von etwas, das Schuld übersteigt: das uns als Menschen vorgängig mit ausmachende Böse (vgl. aaO.: 55–69). 63 Vgl. Theunissen 1991e: 239. Walter Benjamin hat einen entsprechenden Geschichtsbegriff zu konzipieren versucht, der diesen Raum der Hoffnung ermöglicht (vgl. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte). 64 Vgl. Theunissen 1991h: 349 ff., 358. 65 Vgl. Theunissen 1991c: 62. 66 Vgl. Theunissen 1991g: 313, ders. 1991c: 62 f. 67 Theunissen rekurriert hier wie auch in seiner Schrift über Erinnerung (Theunissen 2001) auf Hegels Begriff der Seinserinnerung (Er-Innerung) (vgl. aaO.: 29 ff.). »Er-innern […] versenkt sich in ein vergangenes Sein, das zeitlos vergangen ist, sofern es gegenwärtig bleibt« (aaO.: 65). A

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ästhetischen Anschauung auf. 68 Das Aufgehen im Gegenstand der Anschauung unterbricht das Mitgehen mit der Zeit, das Nach-vornLeben, es zerbricht den innerweltlichen Zusammenhang der Dinge. Auch hier, etwa in der Wahrnehmung von Kunstwerken, kann es, so Theunissen, zu einer Freigabe von Zeitlichem auf etwas Zeitloses hin kommen, zur Freigabe von Ewigkeit als dem Anderen der Zeit. Und Ewigkeit schließlich im Verhalten zur Zukunft zu entdecken, heißt in dem von Theunissen vertretenen Sinn, auf die Möglichkeit wirklich neuer Zeit vertrauen zu können. 69 Auch die zeitphilosophischen Lösungen verbleiben also systematisch in der Existenzdialektik, wobei eigentlich nur der zuerst beschriebene Weg (die Dimensionierung der Zeit) als Aufhebung des Nichtselbstseinwollens rekonstruierbar ist. Die zuletzt referierten Weisen eines solchen Umgangs mit der Zeit, welche in dieser Ewigkeit als das Andere der Zeit entdecken und stark werden lassen, scheinen dagegen eine unmittelbar transzendierende (tendenziell eher theologisch konzipierte) Bewegung zu bezeichnen. Negative Identität heißt im Kontext dieser Zeitphilosophie Negation der Zeit als einer negierenden Macht, einer Macht, die im Kontext eines Identitätsbegriffs, in dem diese als vermittelte Relation gedacht wird, jene externe, vermittelnde Instanz darstellt. Insofern geht es bei dieser Negation der Negation immer auch um Integration, um die Aufhebung einer inneren Differenz: Zeit wird dabei in einem nicht mehr bedrohenden Sinn zu etwas der Existenz Zugehörendem. Eine mit der dialektischen Struktur zusammenhängende Teleologie erscheint im Kontext einer Psychopathologie der Zeit gleichsam von Natur aus zu gelten, geht es doch bei der existenziellen Lösung unmittelbar um die Befreiung von subjektivem Leiden. Im Folgenden sind nun besonders die Grenzen des hier vorgestellten negativen Identitätsdenkens zu benennen. Diese Grenzen weisen aber auch über sich hinaus in eine Richtung, welche dem Denken Theunissens trotz seiner dialektisch-negativen Verengung keineswegs fremd ist.

Vgl. Theunissen 1991g: 314, ders. 1991c: 57 f., ders. 1991 f. Vgl. Theunissen 1991g: 314 f., ders. 1991c: 63 ff. Vgl. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte.

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I.2.4. Selbstverlust, Selbstverwirklichung, negative Identität Der ausführlich dargestellte dialektische Schematismus stellt zwar auch eine systematische Stärke des ganzen Ansatzes dar, er markiert aber zugleich dessen Grenze (vgl. auch I.5.2.). Wie negative Identität innerhalb der Existenzdialektik konzipiert werden kann, dies ist ausführlich dargestellt worden. Jetzt sind die Gefahren zu benennen, die für ein negatives Identitätsdenken aus dem Schematismus erwachsen: So kann es etwa zu einem spezifischen Verlust des Negativen kommen. Schon in der Figur der doppelten Negation kündigt sich gewissermaßen etwas Positives an. Der Prozess der Herausbildung des Selbst, der Identität ist insgesamt von einer unguten Selbstgewissheit. Aus einem negativen Existenzstadium wird mit der Gewissheit eines dialektischen Wirklichkeitsmodells ein Weg zu gelingender Existenz abgeleitet. Dabei vermischt sich, und dies ist m. E. sachlich nicht angemessen, das Gute der sinnvollen, der glückenden Existenz mit jener für gut befundenen und als Ziel angestrebten Selbstdurchsichtigkeit, die typischerweise dem Stadium der Existenzdialektik eignet, in welchem ein Prozess zu sich selbst gekommen ist. Innerhalb der Existenzdialektik ist Identität und Selbstsein stets gleichbedeutend mit Selbstdurchsichtigkeit – fehlende Identität, nicht gelingende Existenz bedeutet entsprechend stets fehlende Durchsichtigkeit, ein mangelndes Verständnis seiner selbst. Doch dies ist schon den Phänomenen nicht angemessen: Erfüllung gibt es auch in alltäglicher, gebrochener Existenz, sie ist nicht dem Endstadium einer Existenzbewegung vorbehalten – und umgekehrt kann (vermeintliche) Selbstdurchsichtigkeit stets auch mit fundamentaler Selbsttäuschung einhergehen. Darüber hinaus ist zu fragen, ob Negativität nicht auch in einem ganz anderen Sinn für Identität relevant werden könnte: Es kann eine Identität untersucht werden, in die Negativität in so fundamentaler Weise eingeht, dass auch jede Selbstdurchsichtigkeit aufgehoben wird. Für eine Theorie negativer Identität könnte gerade jene Frage interessant sein, wie z. B. das fundamentale Nichtwissen zum Prozess der Identitätsbildung beitragen kann (vgl. Teil II). Es ist nun bemerkenswert, dass Theunissens Existenz- und Zeitphilosophie selbst durchaus solche Phänomene einer fundamental negativen Identität herausarbeitet, Phänomene mithin, die den Rahmen des dialektischen Schemas sprengen. Problematisch ist dabei allerdings, dass es Theunissen letztlich nicht gelingt, sie vor der VerA

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einnahmung durch die Existenzdialektik zu schützen. So erscheinen diese Phänomene in einer ihnen nicht angemessenen Weise als Stadien der Existenz: als nur schwierig zu entwickelnde Fähigkeiten oder als seltene Leistungen. Hierfür seien drei Beispiele genannt, nämlich Unbestimmtheit, Vertrauen und Offenheit für den Anderen: Versteht man das Selbst negativ als reinen Prozess, als Austragung des Sich-Imaginierens und des Sich-Realisierens, dann ist zunächst die Übernahme einer spezifischen Unbestimmtheit Bedingung für die Möglichkeit nicht verzweifelten Selbstseins. Die Freiheit von der Übermacht einer hypothetischen Konstruktion des Selbst (das unbedingte Wollen eines so und so bestimmten Selbst), die Freiheit auch von der Übermacht der Angst vor der Faktizität (das unbedingte Nichtwollen eines so und so bestimmten Selbst), diese Freiheit von sich selbst lässt sich so verstehen, dass die Unbestimmtheit des Selbst mächtig werden kann. Dies bedeutet, dass der Unbestimmtheit gegenüber ängstlichen oder narzisstischen Phantasien oder geschlossenen Selbstbildern die tiefere Wahrheit über das Selbst zugetraut wird. Unbestimmtheit meint hier eine umfassende Negativität, die so grundsätzlich ist, dass sie gerade keinen Boden für die Gewissheit eines existenziellen Freigesetztseins bietet und somit nicht in ein existenzialistisches Pathos der Freiheit oder der heroischen Selbstwahl mündet und die auch keine Selbstdurchsichtigkeit bedeutet. Vielmehr stellt diese alles andere umgreifende Negativität einen Selbstverlust (etwa den Verlust hypothetischer Entwürfe, Idealdrücke und Idiosynkrasien) dar, der Voraussetzung ist für jenen anderen Prozess der Selbstwerdung, welcher dann als ein passives Sichempfangen zu denken ist. Der Prozess der sukzessiven Bestimmung des Unbestimmten, also die Selbstwerdung oder die Ausbildung gelingenden Selbstseins, muss hinsichtlich des Mediums, mithilfe dessen sich dieses bildet, zwar aktivisch, nämlich im Sinne des Sich-Imaginierens und Sich-Realisierens verstanden werden. In einem anderen, noch umfassenderen Sinn ist dieser Prozess gleichwohl ein passiver: Der Maßstab für gelingendes Selbstsein ist aktuell jeweils das Freisein von existenzieller Verzweiflung und Leiden. Mit der Zeit wird so eine Art Profil einer individuellen Form nicht verzweifelter Existenz deutlich, verstanden als Zeitgestalt des negativen, des prozessualen Selbst. Diese Zeitgestalt ist als inhaltliches Bestimmtwerden des Gesetztseins zu verstehen und ist als solche gerade nicht das Ergebnis einer selbstmächtigen Selbstwahl, sondern trägt den Charakter einer 74

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Widerfahrnis. 70 Die Passivität der Selbstwerdung umfasst zwei bedeutende Facetten, die auch als tiefere Strukturen der Selbstwerdung verstanden werden können. Die eine besteht gewissermaßen in einer Entsprechung zum Widerfahrnischarakter des Selbst, nämlich in unbedingtem Vertrauen, im Freisein von Protensivität als dem Zwang zur tätigen Vorsorge. 71 Es geht um das Vertrauen in die Möglichkeit des Sichempfangens, das Vertrauen darauf, dass wir mit jenem Prozess des Entwerfens und Realisierens zwar unser Leben, unsere Existenz gestalten, dass wir auf diese Weise aber nicht über unser Selbst bestimmen. Die große Nähe zu theologischen Denkfiguren müsste hier jedoch stärker ausgewiesen und diskutiert werden als Theunissen dies tut. Die andere Facette passiver Selbstwerdung, noch grundsätzlicher wohl als jenes unbedingte Vertrauen, enteignet das Selbst konsequent, sie befreit es vom Zwang des Selbstseins, indem sie dieses radikal für Welt, für den Anderen, öffnet. 72 Sichempfangen hat wesentlich mit dem Anderen zu tun, es ist geprägt durch den Anspruch des Anderen sowie durch das Versprechen, das ihm gegeben wird. 73 Was heißt in diesem Zusammenhang einer passiven, einer widerfahrenden Selbstwerdung Identität? Das Gelingende, von Leid Befreiende, das Identischwerden meint jetzt nicht Abwehr von Verzweiflung und Leiden durch die Anstrengung des Existierens, sondern sozusagen die Einbettung der gesamten Bewegung des Existierens in einen Zusammenhang, der das Existieren von seiner Funktion der Leidabwehr befreit: Sind die tiefsten Bedingungen der Selbstwerdung gegeben (verstanden als die Möglichkeit radikalen Vertrauens und die Möglichkeit rückhaltloser Offenheit für den Anderen), dann Vgl. Theunissen 1979b: 505. Theunissen übernimmt die Begriffe Propulsivität (das vitale, triebhafte Nach-vornLeben), Protensivität (das existierende Von-vorn-Leben, das von der praktischen Voraussicht geregelte Leben) und Prospektivität (das apraktische Schauen ins Bevorstehende) aus der psychologischen Theorie (vgl. Theunissen 1991e: 236 u. ö.). Zum Zwang zur Vorsorge vgl. ders. 1991h: 339 f. 72 Vgl. Theunissen 1991b: 34, ders. 1991h: 357 ff. 73 Hier ergibt sich eine große Nähe zu Paul Ricœurs Konzeption negativer Identität (vgl. I.3.). Mit diesem Aspekt eines negativen Selbst knüpft Theunissen an seine frühe sozialontologische Rezeption der Dialogik Bubers an. Von der dialogischen Philosophie aus formuliert es Theunissen so: »Die Dialektik ist in der tiefsten Wurzel der Umschlag der Aneignung des Anderen in die Veranderung des Eigenen. Aus der Veranderung aber kehrt der Mensch, der als transzendentaler Weltmittelpunkt zunächst sein Ich gegen den Anderen durchsetzt, nicht durch Integration des Anderen in sein Selbst zurück, sondern durch die Gründung seines Selbst auf den Anderen« (Theunissen 1977: 490). 70 71

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sind die an die individuelle Existenz gebundenen Bedingungen für Leiden auch ohne die Anstrengung der Existenz aufgehoben, und das Existieren geschieht gewissermaßen als Austrag des eigenen Gesetztseins, als ein Handeln, das auch auf die Möglichkeit der Veränderung des Bestehenden vertraut. Es ist letztlich diese tiefstmögliche Bedeutung von Selbstwerdung, von Identität, welche die von Theunissen gesuchte Form vertrauender und hoffender Existenz darstellt. Allerdings muss hier erneut die fehlende Diskussion der großen Nähe zur Theologie eingeklagt werden. Wie Theunissen die beschriebenen Phänomene stets in Bezug auf die Existenzdialektik konzipiert, obwohl sie über diese hinausgehen, ist deutlich geworden: Nur dasjenige Selbst, welches fähig ist zur radikalen Existenzbewegung, erreicht jene höchste Existenzmöglichkeit, jenes Reich wirklicher Freiheit, das wie eine immanente Transzendenz anmutet. 74 Im Kontext eines bestimmten Denkens mag dies seine Richtigkeit haben. Im Interesse einer Theorie negativer Identität gilt es dagegen, den unterschiedlichen Sinn von Negativität herauszuarbeiten, der die Phänomene der Existenzdialektik von jenen scheidet, die potenziell unabhängig von dieser Denkfigur sind. Was macht in den beiden genannten Formen der Identität das Moment des Negativen jeweils aus? Im Falle der an die Anstrengung des Existierens gebundenen Form gelingenden Selbstseins besteht das negative Moment in einem dialektischen Prozess, Negativität meint erstens das Noch-nicht-selbst-Sein im Zustand des Negiertwerdens, zweitens den Akt der Negation des Negativen in der Herausbildung von Identität und drittens die Substratlosigkeit des Selbst, seinen rein prozessualen Charakter. Im Falle der noch grundsätzlicheren Form gelingenden Selbstseins oder Identität besteht Negativität in einem Selbstverlust, in der Verabschiedung der Selbstbilder und -konzepte, sie besteht in einer umfassenden Unbestimmtheit (im Sinne praktischer Nichtbenennbarkeit und völliger Freiheit von theoretischen Modellen) des Selbst. Theunissen ist dieser zweiten, so ganz anderen und selbstständigen Form von Negativität nicht eigens nachgegangen. Die von Theunissen eröffneten Möglichkeiten, Identität negativ Günther Figal hat das existenzdialektisch angestrebte Stadium über den Freiheitsbegriff interpretiert (vgl. Figal 1984). »Diese Freiheit besteht im Verzicht des Selbst darauf, im Austrag seiner Bestimmungen zu Ruhe und Gleichgewicht kommen zu wollen« (aaO.: 21).

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zu denken, sowie deren Grenzen, sind damit bezeichnet. Theunissens Theorie negativer Identität sucht vor allem nach einer Alternative zu jenem Konzept der Selbstwahl und des selbstsetzenden Selbstentwurfs, das als Figur der Selbstbegründung und Selbsterhaltung die Moderne insgesamt charakterisiert und das im 20. Jh. auch im Zuge einer Modernekritik lebendig ist. Im Vergleich zu Konzepten autonomer Identitätskonstruktion zeigen sich im Denken Theunissens wichtige Momente eines negativen Identitätsbegriffs: Erstens ist das Moment der Übernahme von Faktizität zentral, wobei zur Faktizität auch jene mit dem eigenen Dasein unleugbar mitgegebenen Existenzmöglichkeiten gehören. Die freie Konstruktion von Identität wird so schon im Ansatz hintergangen. Zweitens stellt jener Selbstverlust, der sich im Verzicht auf das hypothetische Konstrukt des Selbst ergibt, eine notwendige Bedingung für die Bewegung des Existierens dar. Einen solchen Selbstverlust kann es für ein Konzept der Selbstwahl nicht geben. Und drittens erhält das Moment der fundamentalen Unbestimmtheit des Selbst eine spezifische Bedeutung. Unbestimmtheit, verstanden als maximal umgreifende Negativität, meint anders als in den Theorien der Selbstkonstruktion nicht die positive Gewissheit einer rein weltimmanenten existenziellen Geworfenheit in Freiheit. Unbestimmtheit steht vielmehr für die Unmöglichkeit der Selbstbestimmung des Selbst, Unbestimmtheit steht für die Notwendigkeit des Ausgemachtwerdens durch das Andere.

I.3. Identität und Alterität (Paul Ricœur) Auch bei der Rekonstruktion der Identitätstheorie Paul Ricœurs geht es mir vor allem darum, die Figur negativer Identität weiter systematisch zu entfalten, das heißt zu zeigen, wie in einem philosophischen Werk der Gegenwart ein Topos unterlaufen wird, welcher der Moderne wie der Modernekritik gleichermaßen eignet, nämlich der Topos der Selbstbegründung.1 Ricœur unterläuft diesen Topos einerseits, in mancher Hinsicht wie Taylor, antireduktionistisch in Auseinander1 Explizit gegen die Tradition des cogito wie auch explizit gegen diejenige der Auflösung des cogito wendet sich Ricœur in jenem Werk, das im Zentrum dieses Kapitels steht, in Das Selbst als ein Anderer (Ricœur 1996). Vgl. aaO.: 13 ff., 21 ff. Die Seitenangaben bei Zitaten oder Belegen aus diesem Werk beziehen sich auf die deutsche Ausgabe. In dieser Ausgabe sind in eckigen Klammern jeweils die entsprechenden Seiten der französischen Ausgabe verzeichnet.

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setzung mit der analytischen Philosophie. 2 Andererseits greift Ricœur auf die Tradition des dialogischen Denkens, auf die Phänomenologie der Existenz und eine Ethik des Anderen zurück – hier liegen allerdings einige Probleme für die konsequent negative Bestimmung von Identität. 3 Nach der Auseinandersetzung mit Hermeneutik, Sprach- und Literaturtheorie in den 60er und 70er Jahren wendet sich Ricœur erst im Alterswerk dem Identitätsthema eigens zu. Dabei kann er an frühere Werke zum Personbegriff anknüpfen, freilich ohne deren Kontext, den christlichen Personalismus, noch einmal aufzugreifen. 4 Identität wird jetzt vielmehr so zum Gegenstand des Denkens, dass ihre Thematisierung im Rahmen der analytischen Philosophie in Aporien getrieben 5 und dabei einem phänomenologischantireduktionistischen Denken der Boden bereitet wird: Der Handelnde ist stets mehr als ein Akteur, seine Identität geht nicht auf in Selbigkeit. Ricœur selbst sieht das Thema seines Alterswerks allerdings stärker als Fortsetzung seiner Narrativitätstheorie und als Entwurf einer narrativen Ethik. 6 Gegen Derek Parfit möchte er gewissermaßen zeigen, dass narrative Identität das ist, worauf es ankommt. Doch für das zentrale Anliegen einer über Alterität vermittelten Identität, so lässt sich m. E. plausibel machen, ist Narrativität letztlich verzichtbar. Noch ein Wort zu Ricœurs Denk- und Darstellungsstil. Auf Ricœurs Denken trifft eine Charakterisierung zu, die Ricœur selbst vom Stil seines Lehrers Gabriel Marcel gegeben hat. Marcel, so Ricœur, wende eine Zweitreflexion an, »eine Reflexion Zur Verwandtschaft der beiden Denker Paul Ricœur und Charles Taylor vgl. Dauenhauer 1992: 211, 222 f. 3 Stellenweise fällt eine große Nähe zu Lévinas auf, die von Ricœur auch reflektiert wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Lévinas’ Sprache und der philosophische Kern seiner Ethik Ricœur zu radikal, das heißt den Phänomenen, so wie sie Ricœur sieht, nicht angemessen sind. Ricœurs Denken ist, auch hierin an das Denken Taylors wie auch an dasjenige Theunissens erinnernd, stets offen für religiöse Erfahrungsgehalte und für religiöse Sprache. Das Andere, vor dem sich Ricœurs Philosophie als das Denkbare situiert, ist auch ein undenkbares Anderes im Sinne eines Anderen zur Immanenz (vgl. Ricœur 1969, ders. 2002a, ders. 2002b). 4 Zur Abwendung vom Personalismus vgl. Ricœur 1992b. Eine frühe Thematisierung der Negativität, ebenfalls noch im Umkreis christlich-existenzialistischen Denkens, findet sich in Ricœur 1960. Hier entwickelt Ricœur auch die Figur einer existenziellen doppelten Negation, freilich läuft diese auf eine »Urbejahung« des Seins hinaus (vgl. Ricœur 1960: 61 ff.). 5 Vgl. Ricœur 1996: 94 ff. (zu Davidson) und aaO.: 160 ff. (zu Parfit). 6 Zur Narrativität vgl. Ricœur 1991. Zur behaupteten Kontinuität von Narrativität und Identität vgl. ders. 1996: 173 ff. 2

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zweiten Grades, die mit den Waffen der Befragung, der Überprüfung, der Definition, des Zweifels, der Wiederaufnahme kämpft; ihr Kampf ist dabei gegen eine reduzierende Reflexion gerichtet, die innerlich eine Komplizin der Verzweiflung ist, jener Art von Verrat, den die Verfassung dieser Welt selbst nahezulegen scheint«. 7 Ricœurs Antireduktionismus ist oft von bewundernswertem Ernst, mitunter scheint dabei allerdings das Bewusstsein dafür verloren zu gehen, dass sich Tiefe und Nüchternheit des Denkens keineswegs ausschließen müssen. Dies ist nicht nur eine Frage des Stils. Beim Negativitätsbegriff etwa – dies wird im Zuge der kritischen Darstellung der Identitätstheorie Ricœurs deutlich werden – könnte es sich so verhalten, dass eine zu existenzialistische Lesart die tiefste Bedeutung von Negativität (in Bezug auf Identität) verdeckt. Ricœur situiert seine Identitätskonzeption zunächst innerhalb der theoretischen Philosophie (I.3.1.). Ihr Proprium lässt sich letztlich aber nicht in Kontrast zu dieser darstellen, es besteht in ganz eigenen Denkfiguren. Diesen ist andererseits aber auch eine zu große Nähe zur Narrativität abträglich (I.3.2.). Die tiefstmögliche Bedeutung von Negativität in Bezug auf Identität, welche das Denken Ricœurs zu erreichen erlaubt, geht m. E. über dessen systematischen Rahmen hinaus (I.3.3.). I.3.1. Eine andere Identität (Locke, Parfit, Ricœur) Ricœurs Philosophie der Identität stellt sich bewusst in die Tradition der theoretischen Philosophie, genauer in die Thematisierung von Identität als diachroner Selbigkeit. Es ist zunächst dieser Begriff von Identität, den Ricœur gegen die Tradition neu zu entfalten versucht und der dabei als ein ganz neuer, narrativ-ethisch differenzierter Identitätsbegriff etabliert werden soll. Gleichwohl ist Ricœurs Verhältnis zu seinen Bezugstheorien doppelt problematisch: Kann sich Ricœur, so ist zu fragen, überhaupt zu Recht in die Tradition von Locke und Parfit stellen, oder lässt sich sein zentrales (so ganz anderes) Anliegen allenfalls in ein komplementäres Verhältnis zur Tradition von Identität als diachroner Selbigkeit bringen und folglich gar nicht unmittelbar als Kritik verstehen? 8 Und im Gegenzug könnte sich das Beharren auf der Figur der diachronen Selbigkeit als Be7 8

Vgl. Ricœur 1992d: 6. Diese These vertritt Dieter Teichert (vgl. Teichert 1999b: 140 f.). A

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schränkung der Möglichkeit erweisen, Identität radikal anders und neu zu denken, was von der Sache her aber eindeutig Ricœurs Anliegen ist. (1) Derek Parfit kann sich bei seinem Versuch, Intuitionen des Commonsense in Bezug auf Identität aufzulösen 9 in vieler Hinsicht auf John Lockes Überlegungen im 27. Kapitel des Versuchs über den menschlichen Verstand stützen. Wenn es zutrifft, dass diachrone Selbigkeit ausschließlich durch Bewusstseinskontinuität gewährleistet wird, 10 dann ist damit schon bei Locke die Substanzfrage eingeklammert und der Weg frei zu radikalen Gedankenexperimenten. Selbst wenn man sicher sein könnte, so Locke, dass sich die Seele (im Sinne einer Seelensubstanz) einer längst verstorbenen Person in einem heute lebenden Menschen befindet, so reicht das Kriterium der Bewusstseinsidentität um auszusagen, dass es sich nicht um dieselben Personen handeln kann (denn das Bewusstsein reicht nicht zurück bis in das längst vergangene Leben). 11 Und wenn man sich tagsüber immer nur an das erinnern könnte, was man am gestrigen Tag erlebt oder gedacht hat und nachts immer nur an jenes, welches man in der gestrigen Nacht erlebt oder gedacht hat, dann handelt es sich um den Fall, dass zwei Ichs (zwei Bewusstseine, zwei Identitäten) in einem Körper existieren. 12 Mit der Einklammerung der Substanzfrage geht also schon bei Locke die Unabhängigkeit des Bewusstseins von einem Träger einher. Parfit folgt Locke hinsichtlich des Themas (diachrone Selbigkeit) sowie hinsichtlich der Konzentration auf die psychische Kontinuität. Er versucht aber, jene Gleichsetzung aufzusprengen, die bei Locke noch selbstverständlich war, die Gleichsetzung zwischen dem identischen Ich (im Sinne numerischer Identität) und der psychischen Kontinuität. Bestand bei Locke die numerische Identität eben in psychischer Kontinuität, interessiert sich Parfit für die Möglichkeit einer Bewusstseinskontinuität ohne numerische Vgl. Parfit 1984. Parfits Ansatz ist durch Teichert sehr klar rekonstruiert und kritisiert worden, vgl. Teichert 1999a: 225 ff. und ders. 1999b: 133 ff. Meine Diskussion Parfits stützt sich nicht zuletzt auf diese Arbeiten. 10 Vgl. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand: Kap. 27. »Denn durch sein Bewußtsein von seinen gegenwärtigen Gedanken und Handlungen ist es augenblicklich für sich sein eigenes Ich. Es bleibt dasselbe Ich, soweit sich dasselbe Bewußtsein auf vergangene oder künftige Handlungen erstrecken kann« (aaO.: 421). 11 Vgl. aaO.: 425 f. 12 Vgl. aaO.: 432 f. 9

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Identität. 13 Parfit bedient sich der bekannten, durch die Gedankenwelt des Science-Fiction radikalisierten Gedankenexperimente: Wird eine Person technisch verdoppelt, so ergibt sich der Fall, dass zwei numerisch nicht identische Entitäten existieren, die beide eine psychische Kontinuität mit dem Zustand vor der Verdoppelung für sich reklamieren können. 14 Die Logik des Identitätsbegriffs wird dabei insofern gesprengt, als eine Entität E 1 (vor der Verdoppelung) nicht sowohl mit einer Entität E 2 (der eine der beiden Doppelgänger nach der Verdoppelung) identisch sein kann als auch mit einer Entität E 3 (der andere der beiden Doppelgänger nach der Verdoppelung), die ihrerseits mit E 2 nicht identisch ist. 15 Parfit kommt es hier darauf an zu zeigen, dass im Falle des (bei Locke noch nicht erwogenen) Auseinandertretens von Bewusstseinskontinuität und Ich-Identität Letztere ihre geringere Relevanz offenbart, sodass auf Identität verzichtet werden kann. Dieser Nachweis der geringen Relevanz numerischer Identität soll etwa auch mit jenem Gedankenexperiment erbracht werden, in dem jemand bei der Herstellung einer Kopie seiner Person gesundheitlich so sehr geschädigt wird, dass er sich mit seinem baldigen Tod konfrontieren muss: 16 Hier gilt es einzusehen, so Parfit, dass es nicht die numerische Identität ist, auf die es ankommt, sondern es kommt an auf bestimmte individuelle Begabungen, die es zu entwickeln oder bestimmte Vorhaben, die es zu realisieren gilt, mithin auf Projekte, welche der Doppelgänger genauso gut verfolgen kann, wie jener, der bald sterben muss. 17 Übt sich das Denken in die Systematisch führt Parfit in diesem Zusammenhang die Relation R ein (vgl. Parfit 1984: 215), welche die Rolle der Bewusstseinskontinuität übernimmt, ohne auf eine IchIdentität zu verschiedenen Zeitpunkten angewiesen zu sein. Teichert versucht eine Rekonstruktion der Relation R, die noch über Parfit hinausgeht, indem sie jene psychologische Verbindung, die Parfit meint, mit Hilfe eines Modells tiefer zu verstehen versucht (vgl. Teichert 1999a: 233 f.). Zur ausführlichen Kritik der Relation R vgl. aaO.: 236–240. 14 Vgl. Parfit 1984: 199. 15 Vgl. Teichert 1999a: 260. 16 Vgl. Parfit 1984: 201. 17 »My Replica then assures me that he will take up my life where I leave off. […] I must admit that he can finish my book as well as I could« (Parfit 1984: 201, vgl. auch Teichert 1999a: 263). Teichert kritisiert Parfit u. a. wegen der fehlenden Berücksichtigung narrativer Identitätsprädikate: So müsste Parfit, wenn es auf numerische Identität nicht ankommt, die perfekte Fälschung eines Kunstwerks für nicht weniger wertvoll halten als das Original. Kunstliebhaber haben aber gute Gründe dafür, Original und Fälschung zu unterscheiden. Dabei stützen sie sich auf Kriterien wie die Aura des Originals, die wesentlich durch seine Geschichte (der Künstler selbst hat es in der Hand 13

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Möglichkeit der vorgestellten Ereignisse und Konstellationen ein, so Parfits Anliegen, erkennt es mehr und mehr den Vorrang der Bewusstseinsinhalte vor der Ich-Identität. (2) Ricœurs Kritik an Parfit und die anschließende Einführung seiner eigenen Identitätstheorie 18 lässt zunächst nicht deutlich werden, in welchem spezifischen Verhältnis Ricœurs Ansatz zur Tradition der Identität als diachroner Selbigkeit steht. Scheinbar versucht Ricœur einfach eine eigene Antwort auf die Frage, wie personale Beständigkeit über die Zeit denkbar ist, und diese Antwort müsste sich dann in die Tradition mühelos einreihen lassen. Diese Auffassung vom eigenen Vorgehen wäre auch vor dem Hintergrund des Projekts Ricœurs verständlich, das der narrativen Identität gewidmet ist. Doch bei genauerem Hinsehen ist es fraglich, ob Ricœur überhaupt über dasselbe spricht wie etwa Parfit. Ricœur ist deshalb vorgeworfen worden, den Begriff Identität (definiert von der Tradition diachroner Selbigkeit) eher metaphorisch zu verwenden und einem anderen Paradigma zu folgen als Parfit. 19 Mir scheint diese Unklarheit letztlich daher zu rühren, dass Ricœur sich einerseits in die Tradition diachroner Selbigkeit (und damit nicht zuletzt in die Tradition eines sehr angesehenen Identitätsdiskurses) stellt, andererseits aber deren Begriff von Identität von Anfang an als zu eng ablehnt, ohne wiederum diesen Streit um den Identitätsbegriff sogleich explizit zu machen. Dass sich Ricœur den Science-Fiction-Szenarien Parfits (die ja auch sehr konkret die Zukunft der Biotechnologie betreffen und daher ethisch reflektiert werden müssten) nicht in dem Sinne stellt, dass er deren möglicherweise radikale Konsequenzen für das Selbstverständnis moralischer Subjekte diskutiert, 20 lässt sich nur so verstehen, dass ihm der gesamte Ansatz diachroner Selbigkeit nicht leistungsfähig genug erscheint und dass er ihn vor allem als negative Vorlage für gehabt, es hat im Atelier des Künstlers gestanden, das Werk ist durch die Hände von Vorbesitzern gegangen) und damit durch narrative Prädikate ausgemacht wird (vgl. Teichert 1999a: 261 ff.). Diese Kritik trifft Parfit freilich nicht, was die Belange der Binnenperspektive eines kopierten Menschen angeht. Die Kopie erinnert sich ja an dieselbe Geschichte wie das Original. Narrative Prädikate können aber in der Frage eine Rolle spielen, ob auch für die Angehörigen eines Verdoppelten wirklich nur die psychische Kontinuität und nicht die numerische Identität eine Rolle spielt, was zu bezweifeln ist. 18 Vgl. Ricœur 1996: 160 ff. 19 Vgl. Teichert 1999b: 141. 20 Vgl. aaO.: 140.

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eine eigene Identitätstheorie verwenden möchte. Ricœur kritisiert Parfit nicht auf dem Boden von dessen Ansatz, sondern stellt diesem Denken ein anderes gegenüber. Die Gelenkstelle hierbei lässt sich genau bestimmen, sie ist das Relevanzargument: Gegen Parfits Versuch, die untergeordnete Relevanz der Ich-Identität (welche letztlich das Personkonzept beerbt) nachzuweisen, setzt Ricœur die Behauptung, gerade auf diese komme es an. Um dies aufzuzeigen, muss Identität im Licht eines ganz anderen (nämlich über Alterität vermittelten) Identitätskonzepts verstanden werden, und um dessen Entwicklung ist es Ricœur zu tun. Das Besondere an Ricœurs Identitätstheorie ist allerdings, dass diese ihre systematische Innovation und Selbständigkeit noch in der Weiterentwicklung des Kriteriums diachroner Selbigkeit darzustellen versucht, nämlich in der Unterscheidung zweier verschiedener Weisen, in der Zeit man selbst zu bleiben, dem Versprechen und dem Charakter. Diese Verschränkung einer im Kern ganz neuen und anderen Identitätstheorie mit dem zentralen Element der zurückgewiesenen Identitätstheorie ist vor allem deshalb problematisch, weil so zunächst der Eindruck entsteht, Zeitlichkeit (in der Tradition der Diachronizität) sei für Ricœurs Identitätstheorie von zentraler Bedeutung. 21 Von zentraler Bedeutung für Ricœurs Identitätstheorie ist aber letztlich vor allem Alterität: Identität wird konstituiert durch das Fremde, das Gegenüber, das Unverstandene, das Nichtintegrierte. Ricœurs erstes Argument gegen Parfit in diesem Sinne ist sein Vorwurf, Parfit übersehe die Struktur der Jemeinigkeit. 22 Tatsächlich lässt sich Jemeinigkeit als ein Phänomen der Alterität und Negativität verstehen, insofern in ihr schon das Moment der Widerfahrnis des Selbstseins und das Moment der radikalen Situationalität, Kontingenz und Faktizität liegt. Doch Ricœur geht auf diesem Weg jenen entscheidenden Schritt weiter, der jede Monologizität der Jemeinigkeit (wie sie bei Heidegger in der Tendenz vorliegt) überschreitet. 23 Hier kommt es besonders auf folgendes Phänomen an: Es kann Situationen geben, in denen die Kontinuität eines Ichs zusammenbricht, in denen sich aber dennoch sinnvoll, ja sogar in einem starken Sinn von Hier könnte wieder Ricœurs Erwartung im Hintergrund stehen, sein Konzept von narrativer (also zeitlicher) Identität könnte den Kern einer Weiterentwicklung Parfits bilden. 22 Vgl. Ricœur 1996: 163 f. 23 Vgl. Liebsch 1999b: 35, ders. 1999c: 258. 21

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Identität oder der Entstehung von Identität sprechen lässt. Solche Situationen sind einerseits radikale Krisen und Verwandlungen, bei denen sich der Selbstverlust (dialektisch) als Moment der Entstehung von Identität verstehen lässt. Zum anderen ist das (im engeren Sinn zu Alterität gehörende) Phänomen gemeint, dass jemand, der ein Versprechen gegeben hat, gewissermaßen durch den Anspruch des Anderen als er selbst erhalten werden kann. 24 Die im Vergleich zu Parfit zusätzliche Dimension von Identität, die hier sichtbar wird, trägt bei Ricœur den Titel Ipse-Identität. Ricœur differenziert den Begriff der Identität bekanntlich in die zwei Begriffe Selbigkeit und Selbstheit, »einerseits Identität als Selbigkeit (lateinisch: idem; englisch: sameness; französisch mêmeté), andererseits Identität als Selbstheit (lateinisch: ipse; englisch: selfhood; französisch: ipséité)«. 25 Dabei bezeichnet Selbigkeit die klassische Bedeutung von Identität als diachrone personale Selbigkeit. Selbstheit meint demgegenüber zunächst so viel wie Treue oder Beständigkeit einem Anderen gegenüber. Um beide Bedeutungen von Identität voneinander abzuheben (und um die Struktur der Ipséité allererst gegen Parfit freizulegen), wählt Ricœur ein kompliziertes indirektes Verfahren, indem er zwei Weisen personaler Beständigkeit in der Zeit miteinander vergleicht. Bei der einen, dem Charakter, fallen Selbigkeit und Selbstheit nahezu aufeinander. Bei der anderen, der Treue im Zusammenhang mit einem Versprechen, können beide Identitätstypen mitunter auseinander fallen, sodass die Eigenständigkeit der Selbstheit aufgezeigt werden kann. Den Charakter definiert Ricœur als »die Gesamtheit der dauerhaften Habitualitäten eines Menschen, auf Grund deren man eine Person wiedererkennt«. 26 Es ist einerseits gut nachvollziehbar, inwiefern der Charakter einer Person mit der Selbigkeitsbedeutung von Identität zutreffend bezeichnet wird. Der entscheidende Begriff ist die Wiedererkennbarkeit, mithin die Möglichkeit, anhand bestimmter Eigenschaften reidentifiziert zu werden. Das Zusammentreffen von Selbigkeit und Selbstheit im Charakter lässt sich andererseits verstehen, wenn man mit Ricœur annimmt, dass auch »Identifikationen mit Werten, Normen, Idealen, Vgl. Ricœur 1996: 204 f. Systematisch gehören hierher auch Phänomene wie die Möglichkeit, durch das Verzeihen des Anderen trotz einer unwiderruflichen Schuld neu anzufangen (vgl. Arendt 1960: 231 ff., hier 235). 25 Ricœur 1996: 144. Im Folgenden werde ich meist die beiden deutschen Begriffe Selbigkeit für die Idem-Identität und Selbstheit für die Ipse-Identität verwenden. 26 Ricœur 1996: 150. 24

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Vorbildern, Helden, in denen Person und Gemeinschaft sich wiedererkennen« 27 zum Phänomen des Charakters gehören. Denn es ist gerade dieses Element der Loyalität zu …, auch das Element der Entscheidung für …, das wieder jene Treue zu etwas anderem bezeichnet, die Identität in einer Facette von Alterität festmacht und die Ricœur als Selbstheit begreift. Ricœur zieht daraus den Schluss, dass »man ohne das ipse das idem der Person nicht zu Ende denken kann«. 28 Dieser Gedanke stellt eine Kritik (im Sinne des Vorwurfs eines Phänomenverlusts) der Tradition diachroner Selbigkeit dar. Die eigentliche Diskussion der Ipse-Identität freilich sprengt den Rahmen dieser Tradition, ohne dass Ricœur dies eigens reflektiert. Gegenüber dieser Form der Beständigkeit in der Zeit, dem Charakter, steht das Versprechen, die Treue zu dem zu haltenden Wort. 29 Und hier möchte Ricœur zeigen, dass es zu Situationen kommen kann, in denen die Selbstheit aufrechterhalten wird, obwohl die Selbigkeit nicht mehr mit Sicherheit festgestellt werden kann. Gibt man jemandem ein Versprechen, so Ricœurs Beispiel, muss man damit rechnen, dass sich die eigenen Wünsche, Meinungen und Neigungen ändern und man das Versprechen nicht mehr aus eigenem Antrieb einhalten kann. Hält man dennoch sein Wort, so geschieht dies »aus der Verpflichtung, die Institution der Sprache zu bewahren und dem Vertrauen, das der Andere in meine Treue setzt, zu entsprechen«. 30 Hier zeigt sich schon Ricœurs spezifisch existenzielle Lesart der Negativität, die m. E. deren tiefere (aber nüchternere) Interpretation verdeckt: Ricœur geht es um den existenziellen Akt des Versprechens, um das Geschehen zwischen Menschen. Nur en passant erwähnt er, dass die Bedeutung des Begriffs Versprechen (und damit eine moralische Verpflichtung) dem Subjekt entzogen, nämlich (qua Sprache) vorgängig ist. Gerade darin liegt aber auch eine fundamentale Negativität in Bezug auf Identität! Mit der Figur des Vertrauens des Anderen in die eigene Treue knüpft Ricœur an Gabriel Marcels Begriff der Verfügbarkeit und auch an Marcels Begriff der Treue an. 31 AaO.: 151. Ebd. 29 Vgl. aaO.: 152 ff. 30 Vgl. aaO.: 154. Ansätze zu einer Phänomenologie des Versprechens bieten Schaaff 1999 und besonders Liebsch 1999c. 31 Vgl. Ricœur 1996: 324. Ricœur bezieht sich auf Marcel 1954. Vgl. auch Schaaff 1999: 150. Zu Marcels Begriff der Treue vgl. Marcel 1963. Schon Marcel beschreibt den Gegensatz von sturer Beständigkeit und schöpferischer Treue (vgl. aaO.: 147 ff.). Ebenso 27 28

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Dabei unterscheidet Ricœur die Treue zu sich selbst von der Treue zum Anderen. 32 Treue zu sich selbst, also etwa das unbedingte Einhalten eines Vorsatzes, kann im extremen Fall zu einer sturen Prinzipienreiterei werden, man kann dies auch Eigenliebe nennen. 33 Dagegen kann die Treue zum Anderen, wenn diese (und nicht etwa das Interesse an Prinzipientreue) das Halten des Versprechens motiviert, gerade damit einhergehen, dass ein eigener Vorsatz modifiziert wird. Identität, dies versucht Ricœur hier zu zeigen, konstituiert sich als Selbstheit vom Anderen her. Wie erwähnt diskutiert Ricœur Ipse-Identität auch noch im Zusammenhang mit biografischen Brüchen (gemeint sind Krisen oder auch Bekehrungserlebnisse). 34 Mit der Untersuchung dieses spezifischen biografischen Aussetzens von Identität, das Ricœur besonders als dialektisches Moment im Entstehen von Identität versteht, schließt Ricœur in gewandelter Weise an Parfits Relevanzargument an: Im Rahmen der Dialektik von Selbstverlust (auch von Selbstverzicht) und Selbstenteignung einerseits und Herausbildung von Identität andererseits kann Ricœur sagen, Besitz von Selbigkeit, mithin Idem-Identität, sei nicht das, worauf es ankomme. 35 Während Parfit aber von diesem Ergebnis auf die Irrelevanz von Identität insgesamt schließt, benutzt Ricœur dasselbe, um auf eine ganz andere Identität kennt Marcel das Treusein zu etwas, das sich verändert, also z. B. die Treue zu sich selbst als einem sich Verändernden (vgl. Gloyna 1999: 83). Ricœur geht hier insofern über Marcel hinaus, als es ihm vor allem um das Phänomen zu tun ist, dass man sich selbst verändert, gleichwohl aber dem Anderen gegenüber treu bleibt. Begriffsgeschichtlich (vgl. Gloyna 1999) gehört Treue vor allem in das theologische Denken. Im 20. Jh. waren es entsprechend besonders die Dialogische Philosophie und die Existenzphilosophie, welche den Begriff der Treue verwendet haben. Gerade im 20. Jh. ist Treue aber auch ein problematischer Begriff. Vgl. hierzu Stäblein 1993 und hier insbesondere das Gutachten von Hans Buchheim für den Frankfurter Auschwitz-Prozess über die Kameradschaft der SS. Die Verpflichtung zur Treue gegenüber einer fiktiven Größe, etwa dem so genannten ewigen Deutschland, insbesondere im Rahmen eines vereinfachenden Weltbilds, stellt eine Gefahr dar (vgl. Buchheim 1993: 137 ff.). 32 Vgl. Ricœur 1996: 324. 33 So formuliert zu Recht Schaaff 1999: 150. 34 Ricœur steht hier durchaus in der Tradition William James’, der schon früh religionspsychologisch die Bedeutung der Identitätsbrüche für die Herausbildung von Identität untersucht hat (vgl. James 1997: 152 ff., 209 ff.). 35 Vgl. Ricœur 1996: 170 f., 204 ff., hier 206. An Parfit erinnert formal der Gedanke, dass das Wesentliche bestehen bleibt (bei Parfit die rein psychologische Relation R, bei Ricœur dagegen die ethisch konzipierte Selbstheit), obwohl jenes zerbricht, das zunächst als eine notwendige Bedingung für Identität gegolten hatte.

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aufmerksam zu machen, die freilich gerade nicht irrelevant ist. Ricœur geht es um die Abhebung der Bewusstseinsebene, deren Identität in den Beispielen zerbrochen ist, von einer tieferen Ebene der Identität, der Selbstheit, welche sich aus Negativität und Alterität im Sinne von Nichtverstehbarkeit und widerfahrender, passiver Identität speist. Zwar will Ricœur die Differenzierung von Identität in Selbigkeit und Selbstheit nicht als Gegensatz verstanden wissen, 36 wohl auch um zu zeigen, dass, wie im Falle des Charakterbegriffs, zu Ende gedachte Selbigkeit auch ein Moment von Selbstheit mitumfasst. Dennoch liegt m. E. die Radikalität des Ricœur’schen Identitätsbegriffs, mit dem er auf jene andere Radikalität Parfits antwortet, gerade im Gedanken der Unabhängigkeit personaler Identität von Reidentifizierbarkeit und von der Identität der Selbstkonzepte. Bevor diese andere Identität als eine Form negativer Identität untersucht wird, sei die Systematik des Ricœur’schen Denkens anhand des folgenden Gerüsts von Dichotomien kurz veranschaulicht. 37 Zum einen stellt Ricœur dem introspektiven, sicheren und sich selbst begründenden cogito das reflexive, indirekt bezeugte und nur einer hermeneutisch-narrativen Handlungstheorie zugängliche Selbst gegenüber. Nur um dieses ist es Ricœur zu tun. Zum anderen untersucht er dieses Selbst dichotomisch hinsichtlich der Aspekte Selbigkeit und Selbstheit. Der Sinn dieser beiden Gegenüberstellungen ist disjunktiv. 38 Neben diesen disjunktiven unterscheidet Ricœur zwei dialektische Dichotomien, nämlich einerseits die Konstitutionsbeziehung zwischen Selbstheit und Alterität 39 und andererseits die Dialektik von Verdacht und Bezeugung. 40 Besonders diese dialektischen Dichotomien sind im Folgenden von Interesse. Beide Begriffe stehen nicht für etwas Getrenntes. »Ich habe »ipse« und »idem« einander nicht entgegengesetzt« (Ricœur 1999: 206). Vgl. hierzu auch Liebsch 1999b: 19. 37 Vgl. Ricœur 1996: 9 ff. Ricœur nennt drei philosophische Hauptintentionen der Hermeneutik des Selbst. Die erste Intention verfolgt »den Primat der reflexiven Vermittlung gegenüber der unmittelbaren Position des Subjektes« (Ricœur 1996: 9) die zweite Intention »geht dahin, zwei Hauptbedeutungen der Identität auseinanderzuhalten« (aaO.: 11) gemeint ist Selbigkeit und Selbstheit, und die dritte Intention verfolgt »die Dialektik des Selbst und des Anderen als das Selbst« (aaO.: 12). Zu den Dichotomien vgl. auch aaO.: 29, 359 ff. 38 Diese »Bestimmung der Selbstheit über ihren Kontrast zur Selbigkeit« (aaO.: 359) ist von disjunktivem Charakter (aaO.: 382). 39 Ricœur spricht davon, dass diese Dialektik die ersten beiden Dichotomien kröne (aaO.: 29) und räumt der Dialektik von Selbst und Alterität einen »Primat« ein (aaO.: 382). 40 Insofern der Verdacht durch die Bezeugung nicht aus der Welt geschafft wird, son36

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I.3.2. Facetten negativer Identität: Alterität, Bezeugung, Narrativität Dem reflexiven Selbst eignet bei Ricœur eine apriorische Schwäche, welche in der Tradition des Merleau-Ponty’schen Être-au-monde steht. Merleau-Ponty hat diese Schwäche immer wieder auf dem Gebiet der Wahrnehmung untersucht. Während Lévinas dieselbe Offenheit und Schwäche des Selbst auf eine Ethik der Verantwortung hin überschreitet, entfernt sich Ricœur, obwohl es auch ihm um Praxis, ja um Ethik geht, insofern weniger weit von Merleau-Ponty, als er weiterhin versucht, eine Struktur der Subjektivität zu beschreiben, jener Subjektivität, die Lévinas gänzlich überwinden möchte. 41 Doch um diese Subjektivität beschreiben zu können, verlässt Ricœur das Monologische und damit auch den Horizont der Jemeinigkeit Heideggers. Der systematische Kern des Identitätsbegriffs besteht (1) in Alterität und (2) in der Struktur der Bezeugung. Der Durchgang durch diese Begriffe zeigt dann (3), dass Narrativität für die Bestimmung negativer Identität keine entscheidende Rolle spielt, ja diesen Begriff sogar in spezifischer Weise gefährdet. (1) Alterität meint bei Ricœur einerseits mehr als den Lévinas’schen Anspruch des Anderen, nämlich insofern neben dem Anderen 42 auch noch weitere Phänomene, etwa Gewissen und Leiblichkeit untersucht werden. Andererseits verwendet Ricœur einen schwächeren Alteritätsbegriff als Lévinas, nämlich insofern er begründet jenen Schritt vermeidet, den er im Denken Lévinas’ ausmacht, den Schritt zu einem sich selbst aufhebenden Denken, zu einem Denken, das sich radikal in Richtung Praxis transzendieren möchte. Die spezifische Alterität der 2. Person und ihre für Identität konstitutive Rolle veranschaulicht Ricœur besonders am Beispiel des Versprechens: Wenn die Erfüllung einer freiwillig eingegangenen Verpflichtung zeitweise im Widerspruch zu eigenen Wünschen und Bedürfnissen steht und dern der Bezeugung stets anhaftet (adhérance) und innewohnt (inhérance) (vgl. aaO.: 365), handelt es sich auch bei dieser Dichotomie um eine dialektische. »Der Verdacht ist auch der Weg zur und der Durchgang durch die Bezeugung« (ebd.). 41 Zum Verhältnis der drei Denker vgl. Liebsch 1998. 42 Liebsch unterscheidet deshalb terminologisch Anderheit (die auf die 2. Person beschränkte Andersheit) und Andersheit (Alterität im Sinne eines Überbegriffs, welcher auch die Andersheit etwa der Leiblichkeit oder des Gewissens einschließt) (vgl. Liebsch 1999b: 30).

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daher im Versprechen nicht deren Identität, sondern die Identität eines ethischen Selbst versprochen wird (und dies ist tatsächlich kein völlig unwahrscheinlicher Fall einer Ausnahme, sondern im Gegenteil typisch für menschliches Handeln), dann verweist dies, so Ricœur (Ricœur folgt hier seinem Lehrer Marcel 43 ) auf eine apriorische, konstitutive Angehbarkeit und Verfügbarkeit des Selbst durch die 2. Person. Identität wird so sehr von der Alterität her gedacht, dass sie sich nur durch jene Andersheit qualifizieren lässt: Im Falle des Versprechens ist das Selbst nur durch eine vorgängige Ansprechbarkeit zu verstehen, es kann selbst schon ein Versprechen genannt werden. In diesem Konzept verweist die Möglichkeit des Versprechens und der Treue auf eine vorgängige ontologische Struktur des Selbst, eben auf Alterität im Sinne eines, wie man es nennen könnte, Ausgemachtwerdens durch den Anderen. 44 Für die Bestimmung negativer Identität ist dieser allzu existenzielle Ansatz nicht nur ein Gewinn. In der Absicht (die er der Tradition der Dialogik und des christlichen Personalismus entnimmt), die spezifische Verengung des Cartesianismus konsequent zu vermeiden, setzt Ricœur die Bedeutung der Begegnung, des existenziellen Geschehens (im Sinne z. B. der Treue) zwischen zwei Menschen, sehr hoch an. So kann der Eindruck entstehen, Subjektivität komme zunächst ohne Intersubjektivität vor, erreiche dann aber in dieser ihr eigentliches (wie auch immer vorgestelltes) Wesen. Es besteht die Gefahr, auf diese Weise eine einfache, aber fundamentale Struktur, wie die intersubjektive bzw. reziproke Konstitution von Subjektivität, zu überspringen und mit ihr die Einsicht, dass Subjektivität nie diesseits von Intersubjektivität vorkommt. 45 Ricœur betont die Rolle, die Lévinas für sein Konzept der AlteVgl. Ricœur 1996: 324 sowie Ricœur 1992d. Liebsch drückt es so aus: »Selbst-Sein, heißt das, geschieht in der Weise des Antwortgebens auf den Anderen. Das Antworten stützt sich auf eine vorgängige Ansprechbarkeit, die das Selbst in so radikaler Weise ausmacht, daß »man selbst« (soi-même) wie ein Anderer ist« (Liebsch 1999c: 255). Vgl. in diesem Sinne auch Ricœurs Ausführungen zum Titel Das Selbst als ein Anderer (Ricœur 1996: 12). 45 Vgl. etwa Heidegger, Sein und Zeit: § 26, Rentsch 1999: 155 ff. Kritisch ließe sich hier auch von einem Rückfall hinter wesentliche Einsichten Hegels sprechen. Beeindruckend ist etwa, wie Hegel die Konstitution von Subjektivität durch Intersubjektivität auch noch für den Toten beschreibt. Die Bestattung macht den Toten »zum Genossen eines Gemeinwesens, welches vielmehr die Kräfte der einzelnen Stoffe und die niedrigen Lebendigkeiten, die gegen ihn freiwerden und ihn zerstören wollten, überwältigt und gebunden hält« (Hegel, Phänomenologie des Geistes: 333 f.). 43 44

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rität spielt, 46 bestimmt seine eigene Position aber dadurch, dass er einen Weg zwischen dem zu schwachen Husserl’schen Begriff der Appräsentation 47 des Anderen und einem zu starken Lévinas’schen Begriff wie etwa der Geiselnahme durch den Anderen 48 anstrebt. Dieses Verfahren Ricœurs, phänomenologische Analysen durch eine Situierung des Gemeinten zwischen zwei Extremen (die als zu schwach bzw. als zu stark abgelehnt werden) zu ersetzen, scheint mir allerdings problematisch: Der eingeschlagene Mittelweg stellt gerade keine dialektische Überwindung der beiden abgelehnten Positionen dar, außerdem wird er inhaltlich von der Sache her nicht genügend ausgewiesen. Statt um eine systematische Begründung der Konstitution von Subjektivität durch Alterität bemüht sich Ricœur hier vor allem um eine Beschreibung, die bestimmten existenziellen Phänomenen maximal gerecht wird. 49 Andererseits lässt sich an Ricœurs Zurückschrecken vor der sich stets noch steigernden Radikalität Lévinas’ 50 tatsächlich ein genauer Sinn ablesen: Ricœur möchte vermeiden, die Existenz so sehr gegen das Denken auszuspielen, dass sie reflexiv nicht mehr eingeholt werden kann, er möchte vermeiden, dass das Denken sich gegen sich selbst wendet. Ricœur geht es um den Aufweis einer Struktur von Subjektivität, folgerichtig wendet er auch gegen die Behauptung einer apriorisch vom Anderen ausgehenden Initiative ein, diese bleibe stets auf eine vorgängige Empfänglichkeit angewiesen. 51 Für eine systematische negative Bestimmung von Identität scheint mir die sich traditionell nahe legende Konzentration auf Alterität im Sinne eines existenziellen Geschehens zwischen IndividuVgl. Ricœur 1996: 403. Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen: 138 ff., vgl. Ricœur 1996: 400 f. 48 Vgl. Lévinas 1992. Subjektivität sei die »grenzenlose Passivität eines Anklagefalls«, Subjektivität sei »angeklagt dessen, was die Anderen tun oder erleiden, oder verantwortlich für das, was die Anderen tun oder erleiden« (aaO.: 248, vgl. Ricœur 1996: 405 f.). 49 Ricœur wendet dieses unbefriedigende Verfahren in Das Selbst als ein Anderer leider wiederholt an (vgl. Ricœur 1996: 229 ff., 358 ff.). 50 »Die Offenheit, das ist die Entblößung der Haut, die der Verwundung und der Beleidigung ausgesetzt ist« (Lévinas 1989: 93). Die Verwundbarkeit sei die Fähigkeit »Ohrfeigen zu bekommen« (aaO.: 94). »Ohne Ruhe in sich selbst, ohne Ruhestätte in der Welt … das ist zweifellos eine Innerlichkeit eigener Art! Sie ist keine Philosophenkonstruktion, sondern die irreale Realität der Menschen, die im alltäglichen Weltgeschehen verfolgten [sic!] werden, um deren Würde und Sinn die Metaphysik sich nie gekümmert hat und vor der sich die Philosophen das Gesicht verhüllen« (aaO.: 101). 51 Vgl. Ricœur 1996: 407. 46 47

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en zwar fruchtbar, sie bringt aber neue Schwierigkeiten mit sich. Die Gefahr besteht vor allem in einer existenziellen Verkürzung: Negativität scheint (nämlich in der Person des Anderen) gewissermaßen von außen zu Subjektivität hinzuzukommen. Dieser Eindruck entsteht selbst noch dann, wenn etwa von vorgängiger Ansprechbarkeit oder Empfänglichkeit die Rede ist. Neben der spezifischen Alterität der 2. Person zählt Ricœur auch Phänomene wie die Leiblichkeit und das Gewissen zur Alterität. 52 Beide Phänomene zeigen Alterität (und bestimmen damit die Figur negativer Identität) als Fehlen von Selbstmächtigkeit, als Passivität, sie zeigen einen spezifischen Geschehenscharakter der Existenz, ein Ausgemachtwerden durch leibliche Bedürfnisse, Erfahrungspotenziale und Grenzen einerseits und durch die Ansprechbarkeit und die Ansprüche einer Instanz andererseits, die etwa ein Phänomen wie Schuld allererst in die Existenz einbindet. 53 Die Bestimmtheit des Selbst durch Alterität muss freilich stets auch vermittelt, das heißt als Form einer Aneignung verstanden werden, sodass man in diesem Zusammenhang auch von einer doppelten Negation sprechen kann. Negativität im Sinne einer zweiten Negation liegt etwa vor, wenn (um ein Beispiel aus dem Gebiet der Leiblichkeit zu bemühen) Krankheit den Leib für das Selbst allererst auffällig werden lässt, auffällig als etwas, vor dem keinerlei Flucht möglich ist, als etwas, das vielmehr zum Selbst so ursprünglich dazugehört, dass dieses bekennen muss, wesentlich dieser Leib zu sein. Dieses Bekenntnis gilt gerade nicht im Sinne einer Unmittelbarkeitsphänomenologie, das heißt nicht ohne Vermittlung durch ein Selbstverhältnis. Aber ob das Selbst den kranken Leib als sich selbst übernimmt und sich dabei aneignet, was auffällig (oder gar bedrohend) wurde oder ob es vielmehr jenes als sich selbst aneignet, was ihm die Krankheit gewissermaßen als gesunden Rest lässt (und dabei die Krankheit lediglich als Hintergrund und nicht als eigenes Element der IdentitätskonVgl. aaO.: 384 ff., 410 ff. Die Konstitution von Identität durch Alterität qua Leiblichkeit ist weniger gefährdet, Negativität als ein von außen Kommendes zu denken. Die Unterscheidung zwischen dem Körper, den man hat und dem Leib, der man unhintergehbar selbst ist, gehört zu den frühen Einsichten der Leibphänomenologie. Vgl. hierzu ausführlich Thomas 1996. Autoren wie Merleau-Ponty oder Hermann Schmitz sind hier ergänzend zu Husserl und Maine de Biran zu nennen, auf die sich Ricœur bezieht (vgl. Ricœur 1996: 384 ff.). Zu Ricœurs Analyse des Gewissens vgl. aaO.: 410 ff. sowie Dastur 1998. Schon im frühen Werk Ricœurs spielt das Gewissen eine bedeutende, vielleicht die zentrale Rolle (vgl. Villwock 1982).

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stitution fungieren lässt) – in beiden Fällen ist Negativität im Sinne einer zweiten Negation bestimmend für Identität geworden. 54 Für Ricœur gehört all dies in das Zentrum des Selbst, das solcherart, so könnte man sagen, als ein schwaches und gleichzeitig reiches Selbst gedacht wird. Schwach ist dieses Selbst, insofern Alterität die Unmöglichkeit der Selbstbegründung bezeichnet. Der Reichtum des schwachen und sich seine Schwäche eingestehenden Selbst lässt sich an dem (wiederum in die Alterität der 2. Person gehörenden, ernsten und für Ricœur typischen) Beispiel der Sterbebegleitung veranschaulichen. Es geht um die Möglichkeit, in dieser existenziellen Situation eine Erfahrung des gemeinsamen Ausgemachtwerdens durch etwas Anderes, Fremdes, Unverfügbares, das heißt durch Endlichkeit, durch Kreatürlichkeit zu machen. Ricœur spricht von der Erfahrung einer Gleichheit, die durch das gegenseitige »Eingeständnis der Zerbrechlichkeit und letzten Endes der Sterblichkeit« hergestellt wird. 55 Als ein (in der Schwäche entdeckter) Reichtum könnte gerade die Struktur einer kreatürlichen Gleichheit und Solidarität angesichts des Todes gelten, darüber hinaus auch jenes Eingeständnis der Unmöglichkeit existenzieller Selbstbegründung und Selbsterhaltung: Radikal wird das Subjekt hier von einer Aufgabe entbunden, der es letztlich in keiner Weise gewachsen ist. Hier zeigt sich m. E. schon ein Aspekt negativer Identität, der über die Struktur der Alterität hinausgeht. Ricœurs Analysen der Alterität sind auf einer phänomenalen Ebene gut nachvollziehbar und können so auch als ein wichtiger Beitrag zu einem Konzept negativer Identität gelten. Systematisch besitzen sie meist nur die Beweiskraft dichter Beschreibungen, das heißt sie können für sich vor allem beanspruchen, Phänomene ohne modellbedingte Reduktionen und Verluste zu rekonstruieren. Ricœur geht hier nicht explizit in systematische Konstitutionsanalysen zurück. Anders als in der Philosophie Michael Theunissens besteht das Problematische bei Ricœur nicht in einem dialektischen Schematismus. Ricœur verfolgt keine implizite Teleologie, er verkürzt Negativität nicht auf das bewegende Moment einer Stadientheorie. Problematisch scheint im Kontext seines Denkens dagegen eher die starke Orientierung an der dialogischen und existenziellen Tradition. Hier kann es zu einer Verlagerung der Negativität aus der Konstitution von Subjektivität heraus in das konkrete zwischenmenschliche Ge54 55

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Vgl. Thomas 1996: 179. Vgl. Ricœur 1996: 232 ff., hier 234.

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schehen kommen. Zwar ist dieses der Sache negativer Identität keineswegs unangemessen, doch, so könnte man sagen, es ist bezüglich der Negativität der Identität nicht die tiefste oder fundamentale Schicht.56 (2) Zur Bezeichnung des ontologischen Status des Selbst im Sinne der Ipse-Identität führt Ricœur den Begriff der Bezeugung ein. Für die Figur negativer Identität ist dieser Begriff insofern relevant, als mit ihm eine Facette der Negativität des Selbst beschrieben wird, welche in dessen Unsichtbarkeit und empirischer Nichtdarstellbarkeit besteht bzw. auch darin, dass Selbstheit stets bezweifelbar ist, nämlich im Sinne des Verdachts, jenes dialektischen Gegenbegriffs zur Bezeugung. Mit dem Begriff des Verdachts versucht Ricœur, die Destruktion des ethischen Selbst etwa durch Nietzsche und Freud aufzunehmen. Und wenn das Sich-Wissen der Selbstheit als Bezeugung gedacht wird, dann möchte Ricœur eine Gewissheit beschreiben, die sich zwar oberhalb der Gewissheitshöhe des destruierten und reduzierten Selbst, aber ebenso unterhalb der Gewissheitshöhe jeder introspektiven cogito-Gewissheit (etwa Descartes’ oder Husserls) bewegt. Die Wirklichkeit der Selbstheit (also etwa die Möglichkeit des Versprechens) ist eine nicht beweisbare Behauptung, die auch nicht über das empirische Moment der Reidentifizierbarkeit verfügt, wie dies bei der Selbigkeit der Fall ist. Gewissheit von Selbstheit bedeutet vielmehr Glauben, nicht im Sinne eines Für-wahr-Haltens von …, sondern im Sinne eines Glaubens an …, auch im Sinne eines Kreditgebens. 57 So denkt Ricœur Bezeugung als grundsätzliche Alternative zur epistéme, insofern sie weder letztgültig ist noch sich selbst begründet. 58 Bewusst konstruiert Ricœur hier eine ontologische Analogie zu Heideggers Begriff des Daseins als eigener Seinsweise. 59 Für Dasein wie für die sich bezeugende Selbstheit gilt, dass Im Falle des Versprechens besteht diese etwa in der Entzogenheit der Bedeutung des Begriffs Versprechen bzw. in der Struktur der Intersubjektivität und der gegenseitigen Konstitution von Subjektivität. 57 Vgl. Ricœur 1996: 33. Die Übersetzer der deutschen Ausgabe von Das Selbst als ein Anderer weisen darauf hin, dass die Übersetzung des französischen »créance« durch das deutsche »Kredit« nur die eine Bedeutungsnuance wiedergibt, die andere ist »Glauben« bzw. »Glaubwürdigkeit« (vgl. ebd.). 58 Vgl. Ricœur 1996: 32 f. 59 »So gesehen, besteht zwischen der Kategorie der Selbigkeit meiner eigenen Analysen und dem Begriff der Vorhandenheit [im Original deutsch] bei Heidegger die gleiche Art 56

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beide nicht einfach in der Seinsweise der Vorhandenheit existieren, jener Seinsweise, auf die Handlungstheorie oder wissenschaftliche Beschreibung des Handelnden rekurrieren. In der Art und Weise, wie diese eigene, von Vorhandenheit unterschiedene Seinsweise des Handelnden näher qualifiziert wird, unterscheiden sich jedoch Heideggers und Ricœurs Vorschläge. Während Heidegger In-der-Weltsein und Sorge als Grundverfassungen des Daseins nennt, 60 qualifiziert Ricœur Bezeugung, indem er sie aus einem ethisch bestimmten Begriff der Praxis versteht. 61 Auf die Frage, was es denn sei, das bezeugt werde, antwortet Ricœur stets mit dem Hinweis, das Selbst bezeuge eben sich selbst: »Bezeugung ist grundlegend eine Selbstbezeugung«. 62 Genauer heißt dies: In der Bezeugung erlangt man die (allein so mögliche) Gewissheit, dass es Selbstheit gibt, oder, bezogen auf eine andere Person, dass diese in der Weise der Selbstheit existiert, dass sie mit sich im Sinne der Ipse-Identität identisch ist. Bezeugung ist die Gewissheit, »als ein Selbes im Sinn der Selbstheit zu existieren«. 63 Für eine Theorie negativer Identität ist es interessant, Bezeugung im engeren Kontext einer Ethik des Anderen von Bezeugung im weiteren Kontext eines hermeneutisch-narrativen Praxisbegriffs zu unterscheiden, denn zwei Aspekte des Negativen können dabei deutlich werden. Zunächst zur explizit ethischen Bedeutung der Bezeugung. In seiner ›Kleinen Ethik‹ (7.–9. Abhandlung von Das Selbst als ein Anderer) geht es Ricœur um die Vermittlung zwischen den situationsübergreifenden Regeln der Moralphilosophie und den situationsgebundenen ethischen Ansprüchen bzw. den entsprechenden ethischen Gefühlen und den Antworten auf diese ethischen Ansprüder Korrelation wie zwischen der Selbstheit und der Seinsweise des Daseins [im Original deutsch]« (Ricœur 1996: 373). 60 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit: §§ 12 f., §§ 39 ff. 61 Ein Unterschied zu Heidegger besteht auch darin, dass sich Ricœur oft sehr dicht an einer philosophischen Theologie bewegt (vgl. etwa Ricœur 1996: 426). Bezeugung der Selbstheit, so scheint Ricœur mitunter zu meinen, ist Antwort auf den Anruf Gottes: Wo bist du? Ricœur ist es wichtig, sein Denken für Theologie (und für religiöse Welterfahrung) offen zu halten. Gleichzeitig ist es ihm aber stets darum zu tun, dass seine phänomenologischen und ontologischen Analysen auch für sich selbst genommen sinnvoll und nachvollziehbar bleiben. Tatsächlich scheinen mir seine Analysen auch ohne theologische Konnotation plausibel. 62 Ricœur 1996: 34. 63 AaO.: 360. Die Bezeugung, so Ricœur, sage das Wahrsein des Selbst aus, was letzten Endes bezeugt werde, sei die Selbstheit (aaO.: 364 f.).

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che. Ein Beispiel für diesen Vermittlungsversuch (erneut typisch für Ricœurs Denken) stellt die Frage dar, ob man Sterbenden die Wahrheit über ihren Zustand sagen solle. 64 Diese Frage könnte etwa deontologisch im Sinne des Lügenverbots beantwortet werden. 65 Umgekehrt lässt sich aus einer ethischen Intuition unter voller Einbeziehung der konkreten Situation keine situationsungebundene Regel ableiten. Im Interesse der Vermittlung (zwischen Regel und Intuition) durch phrónesis sucht Ricœur nach einem Begriff von Glück, der auch das Leiden umgreift. Er findet ihn in einer Form von Gemeinschaft zwischen dem Handelnden, der mit dem Sterbenden umgeht und diesem Sterbenden selbst, in einer Gemeinschaft, die eine Form von Gleichheit verwirklicht und die Ricœur als ein beiderseitiges »Geben und Empfangen im Zeichen des angenommenen Todes« beschreibt. 66 In diesem Handeln im Dienst der Gemeinschaft mit dem Sterbenden bezeugt sich nun insofern Selbstheit in einem explizit ethischen, von Alterität bestimmten Sinn, als sich gerade kein abstraktes Prinzip moralischer Richtigkeit durchhält, sondern eine Beständigkeit im Sinne einer stets am Anspruch des Anderen orientierten Wahrhaftigkeit, einer Wahrhaftigkeit, die sich gleichsam durch den Anderen führen lässt. Diese Wahrhaftigkeit kann konkret sowohl die Konfrontation mit der Wahrheit als auch das Verschweigen der Wahrheit als auch den Wechsel vom Verschweigen zur Konfrontation bedeuten. Für die Beteiligten existiert eine Beständigkeit, welche die reine ethische Intuition übersteigt, gleichwohl existiert sie nur als Beständigkeit von Selbstheit, mithin nur auf die Weise der Bezeugung, nicht als Beständigkeit eines stets mit sich identisch bleibenden Moralprinzips. Bezeugt wird Selbstheit, die sich in ihrer Offenheit und Ansprechbarkeit zeigt, eine Selbstheit zugleich, die Bezeugung des verwundeten, des fragilen und schwachen Selbst ist. Negativität besteht hier vor allem in der Unmöglichkeit, Beständigkeit (als jenes, was sich durch die jeweiligen Situationen durchhält) durch abstrakte ethische Bestimmungen kontextfrei abzusichern. Vgl. aaO.: 325 f. Bezieht man verschiedene einschränkende Bestimmungen der Situation oder Zusatzannahmen ein, so ließe sich in dieser medizinethischen Frage deontologisch wohl auch eine gegenteilige Regel aufstellen (den Sterbenden nicht mit der Wahrheit konfrontieren). Entscheidend ist hier nicht der Ausgang des Prüfverfahrens bezüglich der in Frage stehenden Handlungsoption, sondern die Situationsunabhängigkeit des Ergebnisses. 66 Vgl. Ricœur 1996: 326. 64 65

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Eine weitere Facette von Negativität wird sichtbar, wenn Bezeugung noch nicht explizit ethisch, sondern als Moment einer generellen Praxis verstanden wird, die sich gleichwohl erst einer hermeneutisch-narrativen Perspektive als jenes Phänomen eröffnet, das Ricœur Bezeugung nennt. Wenn wir, so Ricœur, unser Handeln nicht neutral, sondern narrativ beschreiben, erscheint es zunächst als eingebettet in bestimmte Praktiken, in einen Beruf, eine Kunst oder ein Spiel. Diese Praktiken verleihen den Handlungen Bedeutung, indem sie es mit konstitutiven Regeln verknüpfen, die oft in Traditionen verwurzelt sind und damit weit über die an den Einzelnen gebundenen Kausalitäten hinausgehen. 67 Handlungen in Praktiken beziehen sich zudem auf das Verhalten anderer, andere Handelnde können durchaus der eigenen Handlung erst Bedeutung verleihen. Ricœur verweist hier auf die Mimesis I (die narrative Präfiguration) aus Zeit und Erzählung I. 68 Indem unsere Lebenswelt pränarrative Strukturen enthält, bringen unsere Handlungen, anschaulich gesprochen, eine Art Bereitschaft oder Bedürfnis, erzählt zu werden, jeweils schon mit. Umgekehrt offenbaren sich in ihrem Erzähltwerden, in ihrer Mimesis, jene strukturellen (Ziele, Verantwortlichkeiten etc.), symbolischen (Zeichen, Regeln) und zeitlichen Präfigurationen, die einer bloß empirischen Erfassung der Handlung verborgen bleiben. 69 Die Erzählung weitet das praktische Feld sodann auf Lebenspläne und Lebensentwürfe aus, schließlich auf jene narrative Einheit des Lebens, von der MacIntyre in Der Verlust der Tugend spricht. 70 Ricœur zufolge vermag die hermeneutisch-narrative Perspektive die ontologische Struktur der Bezeugung sichtbar zu machen. Dies gelingt vielleicht besonders gut hinsichtlich jener Lebenspläne oder Lebensentwürfe, in denen sich der Handelnde erzählend auslegt, wobei sich hier rückwärts und vorwärts gewandte Blicke vermischen. Ricœur spricht von einem »vagen und beweglichen Horizont der Ideale und Entwürfe« 71 und von einer Realität der Praktiken, mit ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit, ihren eigenen Regeln und Grenzen. Indem sich die Ideale eines Lebens (sein Entwurf) an den vorfindlichen Praktiken abarbeiten (seine Faktizität), indem das Leben so doppelt bestimmt 67 68 69 70 71

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Vgl. aaO.: 188 ff. Vgl. Ricœur 1988: 90–103. Vgl. Meuter 1995: 139–148. Vgl. Ricœur 1996: 193, vgl. MacIntyre 1997: 273 ff. Vgl. Ricœur 1996: 194.

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wird (von unbestimmten Idealen und weitgehend bestimmten Praktiken), kann für den hermeneutisch-narrativen Zugang eine Sinngestalt dieses Lebens, dieser Ganzheit des Handelns sichtbar werden. In dieser Sinngestalt bezeugt sich, so Ricœur, das Selbst im Sinne der Selbstheit. Selbstheit bezeugt sich dort, wo sich die (auch ethischen) Ideale eines Handelnden an den Realitäten seines Lebens abarbeiten und so eine Spur entsteht, die einem hermeneutisch-narrativen Blick zugänglich ist. Diese Spur wird nicht als Identität im Sinne der Kontinuität einer Selbigkeit verstanden, sondern als Bezeugung einer Selbstheit. Negativität (als Moment von Identität) besteht hier in der empirischen Unzugänglichkeit dieses Identischen (entsprechend auch darin, fortwährend dem Verdacht, der Bezweiflung ausgesetzt zu sein) und darüber hinaus in der kontingenten Faktizität sowohl der jeweiligen Begabungen, Pläne und Ideale als auch der jeweiligen praktischen Bedingungen ihrer Realisation. Bezeugung eines ethischen Selbst und Bezeugung einer Lebensgestalt – Ricœur zeigt den fragilen ontologischen Status von Selbstheit. Zugleich zeigt er aber auch, was mit seiner antireduktionistischen, Phänomene durch dichte Beschreibung bewahrenden Methode Gegenstand des Denkens werden kann, nämlich jene theoretisch nicht ableitbare und empirisch nicht nachweisbare Facette menschlicher Identität, die Ricœur Selbstheit nennt. Verdienstvoll und interessant ist vor allem der Phänomenreichtum des Ricœur’schen Denkens, das heißt das Erschließen verborgener Schichten des Selbst. Gleichzeitig werden aber auch die Grenzen eines rein phänomenologischen Ansatzes deutlich: Es bleibt letztlich bei einer dichten und subtilen Beschreibung, und aus der Tatsache, dass diese stets dem Verdacht ausgesetzt ist, lässt sich eher ein Argument für ihre Subtilität als eine genaue Angabe ihres ontologischen Status machen. Um hier weiterzukommen, scheint es notwendig zu sein, das Gefundene auch in der Sprache eines anderen philosophischen Denkens auszudrücken und dabei zu reflektieren, was es eigentlich ist, das beim Aufweis der Phänomene verstanden worden ist. Im Denken Charles Taylors (vgl. I.4.) kann man genau darin eine Stärke gegenüber Ricœur sehen, dass Taylor dasjenige, was er phänomenologisch an menschlicher Identität herausarbeitet, auch noch auf einem anderen, nämlich auf einem kulturtheoretischen Weg erreicht und so die phänomenologischen Ergebnisse in einer anderen Sprache rekonstruieren kann.

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(3) Hinsichtlich der für Ricœurs Philosophie so zentralen Kategorie der Narrativität möchte ich die These vertreten, dass Narrativität kein konstitutives Verhältnis zu negativer Identität selbst hat und dass im Gegenteil von Narrativität für negative Identität eine spezifische Gefahr der Verflachung ausgeht. Gleichwohl besitzt Narrativität eine fruchtbare Affinität zu einer Kultur der Identität, das heißt zu menschlicher Selbstauslegung im Sinne der Verarbeitung identitätsbildenden Geschehens. Freilich behauptet Ricœur für das Erzählen zunächst eine explizit identitätsbildende Funktion, nämlich im Kontext der Fabelkomposition, welche gewissermaßen auch dort noch (Ipse-) Identität generiert, wo empirisch Reidentifizierbarkeit (also die Feststellung von Idem-Identität) nicht möglich ist. 72 In der Fabelkomposition werden durch den konfigurierenden Akt die Ereignisse eines Lebens, seine Brüche und Diskontinuitäten aus ihrem kontingenten Charakter herausgelöst und »dem Notwendigkeitsoder Wahrscheinlichkeitseffekt einverleibt«. 73 Ganz ähnlich ergeht es der Figur als derjenigen, welche die Handlung in der Erzählung vollzieht, sodass »die Identität der Figur als eine Übertragung der zunächst auf die Erzählhandlung angewandten Fabelkomposition auf sich selbst zu verstehen ist«. 74 Die Gestalt des Lebens, die in der Erzählung sichtbar wird, ist mehr als eine Identität qua Selbigkeit. Für Selbigkeit bleibt die Reidentifizierbarkeit das Identitätskriterium, Selbigkeit muss auf der inneren Gleichheit verschiedener Teile beharren, sie kann Identität nicht aus einem (nachträglichen) hermeneutisch-narrativen Verständnis des Ganzen plausibel machen. Zu Letzterem gehört es besonders, dass der Erzähler des eigenen Lebens, der bei dieser Erzählung zugleich Autor, Leser und Figur ist, sich ethisch auf den Erzählstoff, das eigene Leben bezieht. Indem er nun, wie dies jede Erzählung tut, einen Standpunkt bezieht, diesen Lebensabschnitt etwa als Sackgasse oder Irrweg, jenen als wünschenswerte Entwicklung usw. bezeichnet, schafft er narrative Identität, und diese ist wesentlich eine Bekenntnisidentität. Eine solche aber steht der Selbstheit nahe. 75 Ricœur spricht mitunter sogar davon, Vgl. aaO.: 173 ff. sowie Meuter 1995: 122 ff. Meuter bezieht Das Selbst als ein Anderer nicht in seine Untersuchung ein. Sein Thema ist der poetische Akt des Erzählens anhand der dreifachen mimesis aus Zeit und Erzählung. 73 Ricœur 1996: 176. 74 Ebd. 75 Zur Bekenntnisidentität vgl. Liebsch 1999b: 33 f. Zu fragen ist allerdings, ob ein Bekenntnis (auch etwa eine Bekenntnisschrift) nicht letztlich doch allzu monologisch ver72

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dass narrative und Ipse-Identität dasselbe seien bzw. dass sich diese vor jener lediglich durch ethische Verantwortlichkeit auszeichne. 76 So vermittelt Narrativität zwischen Selbigkeit und Selbstheit, indem sie Elemente personaler Identität als sinnvolle Teile eines Ganzen interpretiert, eines Ganzen, das sich in einem ethischen Urteil, einer Stellungnahme, vielleicht einem Bekenntnis artikuliert. 77 Diese Formulierungen zeigen aber schon die Gefahr der Konstruktion, die Gefahr etwa, Identität durch eine Erzählung allererst zu konstruieren und diese (in einem weiteren Schritt) dann als einen vermeintlich vorgängigen, übergreifenden Zusammenhang und Sinn aus dem Leben herauszulesen. Neben dieser Möglichkeit der Selbsttäuschung kann eine weitere Verflachung darin bestehen, sich bewusst auf das Konstruieren zu beschränken und, wie etwa Rorty dies vorschwebt,78 Identität in einer Geste der Befreiung als radikalen Selbstentwurf zu verstehen. Ein solches Konzept von Identität wird nicht in der Lage sein, das Moment des Passiven, des Widerfahrenden als einen möglichen Grund des Selbst reflexiv einzuholen, als einen Grund des Selbst, den Ricœur (mit großem Verdienst) herausarbeitet. Zwar vermeidet Ricœur die Gefahr einer solchen naiven Selbstbegründung und selbstbegründenden Identitätskonstruktion, insofern er die Vorstellung einer Autorschaft für das eigene Leben fasst ist, um für das Phänomen der Ipse-Identität zu stehen. Ricœur erwähnt auch noch die Möglichkeit, dass die Lektüre des eigenen Lebens zur Formulierung eines Entschlusses, eines ethischen Standpunktes führen kann, dann nämlich, wenn die Lektüre den Charakter eines Neuaufbruchs annimmt. Die Lektüre kann »zu einer Aufforderung, anders zu sein und zu handeln« werden (Ricœur 1991: 399). 76 »… der Unterschied zwischen idem und ipse ist kein anderer als der zwischen einer substantialen oder formalen und der narrativen Identität« (Ricœur 1991: 396). An dieser Stelle heißt es auch, narrative Identität sei für Ipseität konstitutiv. Doch wenig später räumt Ricœur ein, Selbstheit erschöpfe sich nicht in narrativer Identität (vgl. aaO.: 399). Die »ethische Verantwortlichkeit« nennt Ricœur den »höchsten Faktor der Ipseität« (aaO.: 400). Emil Angehrn interpretiert die narrative Identität als dritte Identitätsform in Das Selbst als ein Anderer. Zwar erfahre das Selbst im Ipse seinen Wesenskern, dennoch sei Identität nicht abschließbar. Die Selbst-Erzählung stelle eine dieser (zeitgenössischen) Erfahrung von Unabschließbarkeit angemessene Form des Verhältnisses zur eigenen Identität dar, indem das Selbst immer wieder variierende Fassungen eines Themas erzähle (vgl. Angehrn 1999: 68). 77 Auf die Frage, ob mit der ethischen Dimension der Selbstheit nicht der Horizont einer Hermeneutik des Selbst überschritten sei, antwortet Ricœur: »Der Übergang vom Narrativen zur Ethik vollzieht sich auf der Ebene der Bewertung der Fabel (mythos) ebenso wie der Charaktere nach gut und böse« (Ricœur 1999: 206). 78 Vgl. Rorty 1989: 52 ff. A

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zurückweist. Allenfalls als Koautor, als jemand, der eine Rolle übernimmt, könne das Selbst in Bezug auf das eigene Leben fungieren. 79 Von Ricœur her ist tatsächlich weniger an eine narrative Bemächtigung des Lebens als vielmehr an die oben benannte Bezeugung des Selbst im Sinne einer sich als Spur zeigenden Selbstheit zu denken. Dennoch ist damit jenes problematische Moment der Narrativität nicht neutralisiert, welches in der Fähigkeit, ja der Notwendigkeit der Erzählung besteht, Sinn zu konstruieren. Dies lässt sich am Begriff der Bezeugung gut verdeutlichen: Dass sich für eine hermeneutisch-narrative Perspektive (s. o.) in der Dialektik von Entwurf und Faktizität und in der charakteristischen Spur, welche diese Bewegung hinterlässt, so etwas wie Selbstheit bezeugt, dies ist das eine. Als was sich das Selbst dabei bezeugt, dies ist etwas anderes. Ricœur übersieht diese entscheidende Differenzierung. Den Was-Gehalt vermeintlich verstehen und bestimmen zu können, dies entspricht der (problematischen) Fähigkeit einer klassischen Erzählung. Doch diese Fähigkeit steht zugleich für die Gefahr, stets zu viel zu wissen, zu viel zu verstehen, zu sehr über den Sinn des Selbst zu verfügen. Die Bestimmung des Was verspielt den Gewinn, welcher der Gedanke der Bezeugung von Selbstheit bedeutet. Wenn es aber darauf ankommt, und dies scheint mir plausibel, die hermeneutisch-narrative Perspektive nur so weit einzunehmen, wie es für den rein ontologischen Sinn der Bezeugung (also das Glauben an … im Sinne des Kreditgebens) notwendig ist, nicht aber die Selbstheit im Sinne eines apophantischen Als zu bestimmen, das heißt sie als etwas (anderes) zu verstehen oder sie gar in einem big picture (einer starken Erzählung) zu verorten, wenn es also gerade darauf ankommt, das bezeugte Selbst nicht an eine Konzeptualisierung zu verlieren, dann lässt sich mit Recht fragen, ob Narrativität für die Ipse-Identität überhaupt eine entscheidende Rolle spielt. Zumindest jene Facette einer negativen Identität, welche in der empirischen Unzugänglichkeit der Bezeugung und in der kontingenten Faktizität des Bezeugten besteht, scheint mir in ihrem Gehalt durch Narrativität eher bedroht zu sein. Bedeutend könnte Narrativität, dies lässt sich vom Boden des »Indem ich die Erzählung eines Lebens verfasse, dessen Urheber – was die Existenz anbelangt – ich nicht bin, mache ich mich – was seine Bedeutung anbelangt – zu seinem Co-Autor. Mehr noch: Es ist weder ein Zufall noch ein Mißbrauch, wenn manche stoische Philosophen umgekehrt das Leben selbst, das gelebte Leben, als die Übernahme einer Rolle in einem Stück gedeutet haben, das wir nicht geschrieben haben und dessen Autor, demzufolge, hinter der Rolle zurücktritt« (Ricœur 1996: 198 f.)

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Ricœur’schen Ansatzes aus zeigen, aber für eine Kultur der Identität sein, das heißt sie könnte bedeutend sein als narrative Deutung, Revision und Verarbeitung jenes Geschehens, das identitätsbildend wird. Hier ist die Dialektik von (Ipse-) Identität und Alterität angesprochen, Narrativität kann in einem schwachen Sinn als Vermittlung zwischen beiden fungieren. 80 Jenes Ganze des Selbst, das hermeneutisch-narrativ als Bezeugung sichtbar gemacht werden soll, entzieht sich bei Ricœur streng genommen jedem Versuch einer narrativen Bemächtigung, denn es bleibt stets durch Negativität qualifiziert und kann nur als ein negatives Ganzes konzeptualisiert werden. Der Grund des Selbst ist gerade das Andere des Selbst, ist in diesem Sinne Alterität oder Passivität. Und der Sinn der Spur einer Existenz, das Ganze eines Selbst, diese Strukturen bleiben stets bezogen auf diesen entzogenen Grund: Wir können uns nicht als Ganzes verstehen; doch eben diese Tatsache gehört mit zu dem, was wir verstehen können. Herausbildung von Identität kann so nur Auseinandersetzung mit Negativität als letztem Grund des Selbst bedeuten. Formal heißt dies Negation der Negation, anschaulich formuliert bedeutet es, der Alterität zu entsprechen, das heißt (im Falle des Anspruchs des Anderen) Antwort zu geben, 81 bzw. (etwa im Falle des Ausgemachtwerdens durch Leiblichkeit) sich das Fremde als Fremdes in je verschiedener Weise anzueignen. Freilich ist hier nicht an eine Existenzdialektik gedacht. Ohne selbst diese Aneignung, diese Entsprechung und diese Antwort zu sein, können Erzählungen diese Existenzbewegungen begleiten, sie können dieses Geschehen zwischen Menschen vermitteln und tradieren. 82 Wie kann die Figur negativer Identität von Ricœurs Philosophie her bestimmt werden? Trotz der oben geäußerten Kritik lassen sich wichtige Ergebnisse nennen, dabei geht es um Ricœurs Versuch, die Struktur der Selbstheit oder Ipse-Identität aufzuweisen: Das Selbst ist ein Anderer, insofern es für den Anderen selbst immer schon ein Liebsch bezeichnet die narrative Identität als eine schwache und zerbrechliche Verbindung zwischen Zeit und Erzählung und Das Selbst als ein Anderer (vgl. Liebsch 1999b: 22). 81 Vgl. Görtz 1999: 292 ff. 82 Görtz spricht in diesem Zusammenhang vom Erzählen als dem »Grundakt des ›verwundeten Selbst‹« (vgl. Görtz 1999: 292). Ausführlich diskutiert Liebsch das dialektische Verhältnis von ethischer und narrativer Identität (vgl. Liebsch 1999a: 41 f.). Selbstheit brauche die Erzählung, da sonst »jegliche Verbindung zu geschichtlichen Wegen des Verstehens abreißt« (aaO.: 42). 80

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Versprechen ist, insofern (etwas über Ricœur hinausgehend formuliert) Subjektivität stets aufgrund von Intersubjektivität existiert. Das Selbst ist ein Anderer, insofern es von je her auch aus der Fremdheit seiner Leiblichkeit (seiner Natur), aber auch seines Gewissens existiert. Diese Identität, die sich aus Alterität speist, ist nur indirekt aufweisbar, sie existiert auf eine fragile, empirisch nicht zugängliche und stets von Zweifel bedrohte Weise und besitzt auch nicht etwa die Sicherheit einer kontextfrei geltenden ethischen Regel. Negative Identität umfasst damit in Ricœurs Ansatz zwei verschiedene Facetten: zum einen die Bestimmtheit durch Alterität und zum anderen (gegen die Macht der Narrativität) eine radikale Entzogenheit und prinzipielle Unbestimmbarkeit. I.3.3. Negation von Identität und Sinn Für die vorliegende Untersuchung sind besonders jene Gehalte eines Denkens einschlägig, welche die begriffliche Bestimmung einer praktisch-philosophischen Bedeutung negativer Identität ermöglichen können. In Ricœurs Identitätsbegriff sehe ich ein Potenzial für Lebenspraxis, welches als in spezifischer Weise orientierend bezeichnet werden kann. Dieses Potenzial, das ich im Folgenden beschreiben möchte, sprengt zwar nicht den Rahmen des Ricœur’schen Ansatzes insgesamt, es geht aber über das von Ricœur in Das Selbst als ein Anderer Intendierte hinaus. Ricœur geht es vor allem um die Bestimmtheit des Selbst durch Alterität. Ich möchte dagegen der Frage nachgehen, welche Auswirkungen das Wissen um die radikale Entzogenheit und Unbestimmbarkeit des Selbst für dessen Lebenspraxis hat – ja, man könnte sagen, welche Lebensform (und damit welche Form von Identität) dieser konstitutiven Unbestimmbarkeit entspricht. Meine These wird hier sein, dass ein spezifisches Orientierungspotenzial gerade in radikaler Negativität, genauer in der Negation von Identität und Sinn besteht. Über das aufzuweisende orientierende Potenzial des Ricœur’schen Denkens könnte man auch jenes Wort Heideggers sagen, dass nämlich das gute Denken versucht, gegen sich selbst zu denken. 83 Jenes von Ricœur eröffnete Denken des Selbst, welches das Selbst im Sinne der Selbstheit, der Das Denken »muß gegen sich selbst denken, was es nur selten vermag« (Heidegger GA 13: 80).

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Ipse-Identität begreift, hat sein Zentrum in der Struktur der Negativität. Entscheidend für diese Identität ist letztlich weder das Moment der Diachronizität, noch ist Narrativität als möglicher Fluchtpunkt der Identität von zentraler Bedeutung. Und auch das ethische Moment ist, bei aller Bedeutung, die dem Anderen als dem Gegenüber zukommt, letztlich nur partiell das, worauf es Ricœur ankommt. Die von Ricœur etwa beschriebene Konstitution von Identität durch jene Alterität, welche das Gebiet des Leiblichen ausmacht, betrifft nicht sogleich ethische Fragen bzw. das Ethische ist für diese Identitätskonstitution nicht a priori das Entscheidende. Freilich besteht hier in Ricœurs Texten ein Ungleichgewicht zugunsten der Alterität der 2. Person. Über Ricœur hinausgehend lässt sich nun sagen, dass die konstitutive Unbestimmbarkeit des Selbst gegenüber seiner Bestimmtheit durch Alterität (im Sinne einer primären Negation durch den Anspruch des Anderen, durch Leiblichkeit und durch Gewissen) die grundlegendere Form von Negativität darstellt. Diese Unbestimmbarkeit soll im Folgenden Gegenstand des Interesses sein. Das Negative im Zentrum des Selbst bedeutet, dass sich das Selbst nicht völlig durchschaut, kennt oder ausdrücken kann, dass es sich wesentlich selbst verborgen bleibt. Jede mögliche Erzählung (um ein Beispiel zu nennen 84 ) fußt auf dem Unerzählbaren, insofern die Vorgeschichte und insofern die Bedeutung der Sprache nicht miterzählt und mitgeschaffen werden können und insofern es etwa auch unsicher ist, ob die Bedeutung der Erzählung erhalten bleibt. (1) Um das oben erwähnte lebenspraktische und orientierende Potenzial radikaler Unbestimmbarkeit herausarbeiten zu können, ist es zunächst wichtig, sich eine weit verbreitete problematische Art und Weise zu vergegenwärtigen, wie Identität und Sinn konstruiert werden können. Diese Identitätskonstruktion wird dann von der Einsicht in Unbestimmbarkeit zurückgewiesen, gleichzeitig bietet sich mit dieser eine Alternative. Für die gemeinte problematische Identitätskonstruktion ist es kurz gesagt charakteristisch, dass dabei ein Modell der Wirklichkeit im Ganzen entworfen wird, welches in der Lage ist, Identität, ja Bedeutung und Sinn für das entwerfende Subjekt dadurch zu generieren, dass dieses an einer für das Wirklichkeitsmodell entscheidenden Stelle positioniert wird. Identität wird gewonnen, indem zunächst ein Bild des Ganzen entworfen wird, von welchem so84

Vgl. hierzu auch Liebsch 1999a: 27. A

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dann die Bedeutung der eigenen Rolle in diesem Ganzen abgelesen wird. Einige Beispiele für die gemeinte Denkfigur eines durch ein Wirklichkeitsmodell ermöglichten Zuvielwissens seien genannt. Ricœur selbst erwähnt den selbstgerecht religiös Gläubigen. 85 Für einen solchen könnte es charakteristisch sein, innerhalb einer geschlossenen, der Tendenz nach geheimnislosen religiösen Erzählung vom Ganzen der Welt, von Rolle und Aufgabe der Menschheit und von dem für das Leben des Einzelnen ethisch Gebotenen das eigene Glauben und Tun in seiner Gerechtigkeit zu positionieren. Mit einer solchen affirmativen Positionierung hätte dieser Gläubige eine (scheinbar) sinnvolle Identität konstruiert. Ein anderes Beispiel stellen popularisierende Spielarten der Geschichtsphilosophie dar, 86 in deren Kontext zunächst ein Modell von Ziel und Wirkkräften der Geschichte entworfen wird, das es auch erlaubt, die Entsprechungen dieser Kräfte in Gestalt gesellschaftlicher Akteure z. B. in avantgardistische und revanchistische einzuteilen. Vor diesem Hintergrund kann dann die eigene Identität (z. B. durch die Zugehörigkeit zur avantgardistischen Gruppe oder durch die eigene Rolle für das Projekt des Fortschritts) als eine sinnvolle konstruiert werden. Die Figur einer solchen Selbstaffirmation durch den Entwurf eines big picture findet sich auch in bestimmten Richtungen der Lebenskunstphilosophie (vgl. II.2.). Weiterhin steht auch die abstrakte Struktur eines Evolutionsdenkens (Evolution der Arten, der Kulturen, der Weltanschauungen, des Bewusstseins etc.) in der Gefahr, das Ganze der Welt zum Vorteil des eigenen Standpunktes zu entwerfen. Auch zu kurz greifende ästhetische Programmschriften und entsprechende Programmkunstwerke, etwa im Rahmen politischer Ideologien, können in diesem Sinn selbstaffirmativ sein. Schließlich sei als banales Beispiel für eine verflachte Identitätskonstruktion auch noch die private Lebenslüge genannt, bei der Selbstzufriedenheit aus der Konstruktion einer analogischen Entsprechung zwischen big picture und eigenen Lebensgrundsätzen erwächst. 87 Kierkegaards Begrifflichkeit Für den Gläubigen kommt es gerade darauf an, jede Selbstgerechtigkeit, jedes Selbstgerecht-Sein hinter sich zu lassen. »Indem der gläubige Mensch die Sünde des Gerechten entdeckt, verläßt er die Ethik des Verdienstes; indem er den unmittelbaren Trost seines Narzißmus verliert, verläßt er jede ethische Weltanschauung« (Ricœur 1969: 561). 86 Dieses Beispiel geht nicht zuletzt auf Odo Marquards Kritik der Geschichtsphilosophie zurück (vgl. Marquard 1979: 361). 87 In seiner Erzählung Zuckererbsen lässt Bernhard Schlink seinen Protagonisten, der 85

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aufnehmend ließe sich im Zusammenhang einer solchen Identitätskonstruktion über ein handhabbares Wirklichkeitsmodell auch von einer verhärtenden Verzweiflung sprechen, die darin besteht, dass jene Existenzbewegung, die mit der Verzweiflung beginnt, nicht weitergeführt werden kann. 88 Die beschriebenen Identitäts- und Sinnkonstruktionen können in Anlehnung an einen Gedanken Ricœurs auch narzisstische Versöhnungen (nämlich mit dem unverstandenen, bedrohlichen Ganzen) genannt werden. 89 Das Narzisstische besteht offensichtlich darin, dass das Subjekt die Schlüsselfigur des Ganzen ist, sowohl weil es sich als Autor des big picture in dessen allmächtiger Erklärungskraft spiegelt als auch, weil es in der Welt (so wie sie sich gemäß dem Modell darstellt) eine Schlüsselrolle spielt (etwa für die Verbreitung dieser Weltsicht, für den Fortschritt usw.). Unabhängig von psychoanalytischem Vokabular (Narzissmus) lässt sich dieser problematische Typ von Identitätskonstruktion als Verflachung und (Philosophie missbrauchende) popularisierte Zerrform des modernen Autonomieideals und der modernen und modernekritischen Figur der Selbstbegründung verstehen. Der Versuch der Selbstbegründung besteht hier in der totalen und gleichzeitig auf das entwerfende Subjekt zentrierten denkerischen Welt- und Lebensbewältigung, in dem Glauben, das Ganze zu verstehen und gemäß diesem Verstehen über das richtige Handeln zu verfügen. Ein von Ricœur inspiriertes Negativitätsdenken kann sich als eine Negation dieses Typs von Sinnkonstruktion artikulieren. Weder zum Entwurf eines Ganzen, noch zur affirmativen Positionierung des Autors dieses Entwurfs innerhalb dieses Ganzen kann es kommen, wo das Selbst darum weiß, dass sich seine Fragilität weniger dem Anderen als vielmehr ihm selbst verdankt, dass seine Unbestimmbarkeit konstitutiv ist.

Beziehungen zu drei Frauen gleichzeitig führt, eine solche Lebenslüge in einem inneren Monolog formulieren: »Man muß sich’s gutgehn lassen, damit man sich daran freuen und dazu beitragen kann, daß es anderen gutgeht. Und selbst wenn man nur sich selbst glücklich macht – mit jedem Quentchen Glück, das in die Welt kommt, wird die Welt ein glücklicherer Ort, mit dem eigenen Quentchen ebenso wie mit dem fremden« (vgl. Bernhard Schlink: Zuckererbsen. In: Ders.: Liebesfluchten. Zürich: Diogenes 2000, 151–197, hier 165). 88 Vgl. Kierkegaard, Entweder/Oder II: 235 u. ö. 89 Ricœur spricht demgegenüber schon von der Möglichkeit einer nicht-narzisstischen Versöhnung (vgl. Ricœur 1969: 561). A

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(2) Worin könnte nun ein orientierendes Potenzial jener radikalen Negativität liegen, die mit der Zurückweisung jeder über ein big picture vermittelten Identitätskonstruktion verbunden ist? Bernhard Waldenfels spricht davon, dass im 20. Jh. das Fremde die Problematisierungsschwelle überschreitet. Nicht zuletzt bedeutet dies, dass ein Bewusstsein für die ausschließende Kraft der (Verstehens-) Ordnungen entsteht und in der Folge sich diese nicht mehr einfach auf Kosten der Phänomene (z. B. des Fremden) aufrecht erhalten lassen. 90 Es entspricht der Problemhöhe gegenwärtigen Philosophierens, die konstitutive Gebrochenheit des Verstehens, seine Bedingtheit und seine Endlichkeit in jedem begrifflichen Konzept von Wirklichkeit und Subjektivität mitzureflektieren. In diesem Sinne ist jede Behauptung ungebrochener Gewissheit zu negieren. Negativität als Unmöglichkeit, dem Unverstandenen Herr zu werden, bleibt stets konstitutiv für Identität. Es kann keine Gewissheit über sich selbst, über seine Rolle und Aufgabe in der Welt geben, welche ihre Sicherheit auf ein überkontextuelles, sich selbst genügendes, durch Theorie gesichertes Wissen bzw. auf ein stimmiges und (daher) selbstevidentes Wirklichkeitsmodell gründet. Der Abschied von dieser Möglichkeit und damit von einer Identitätskonstruktion, welche der narzisstischen Versöhnung entspricht (einer Versöhnung mit dem Ganzen in seiner bedrohlichen Entzogenheit), stellt aber auch eine spezifische Befreiung, nämlich die Befreiung von einem Schein dar. Das Selbst der negativen Identität ist befreit von der Bürde, gegen das sich der Integration und der Versöhnung entziehende Fremde den Schein eben dieser Integration und Versöhnung aufrecht zu erhalten, es ist damit auch befreit von der Annahme und Forderung, selbst nicht das Fremde zu sein. Und es ist befreit von der Anstrengung, die faktische Unversöhntheit durch den Verweis auf den Schein jederzeit konstruierbarer Versöhnungsmodelle zu leugnen, wenn etwa in einer Hintergrundannahme daran festgehalten wird, das Nichtverstehbare sei im Grunde (vielleicht für Experten, vielleicht in Zukunft, jedenfalls prinzipiell) ein Verstehbares. Eine Befreiung und damit lebenspraktisch einen Gewinn stellt aber auch noch ein anderer Aspekt der Negation scheinhafter Identitäts- und Sinnkonstruktion dar: Insofern diese Konstruktion als Zerrform der Figur der Selbstbegründung und des Autonomieideals ver90

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Vgl. Waldenfels 1998: 36.

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Identität und Alterität (Paul Ricœur)

standen werden kann, steht sie wie diese in der Gefahr, zu einer unlösbaren Selbstüberforderung zu werden. Diese kann etwa darin bestehen, dass Selbstverwirklichung für das autonome, sich selbst gründende Selbst zu einer unabdingbaren Pflicht wird und dass gleichzeitig die volle Verantwortung für das Gelingen des eigenen Lebens, auch für Identitätsgewissheit, für Sinn und Glück auf diesem Selbst lastet (vgl. II.1.). Wo Selbstbegründung dagegen nicht mehr als eigentliche und letzte Wahrheit über das Selbst erscheint, wo vielmehr im Zentrum des Identitätskonzepts ein überforderter Autonomiebegriff einem Begriff von Endlichkeit, von konstitutiver Negativität weicht, da löst sich auch diese spezifische Selbstüberforderung. In dieser doppelten Befreiung vom Schein verstehender Weltbewältigung und von der Überforderung der Selbstkonstruktion liegt eine erste Facette lebenspraktischer Orientierung radikaler Unbestimmbarkeit und Entzogenheit von Subjektivität. Deren zweite Facette sehe ich darin, dass Negativität als Unbestimmbarkeit gewissermaßen als Bedingung für jene andere (erste) Bedeutung von Negativität fungiert, für das Bestimmtwerden durch Alterität. Dieser Zusammenhang lässt sich folgendermaßen vorstellen: Mit dem Aussetzen jenes Konzeptualisierens, das im Interesse theoretischer Weltbewältigung und Identitätskonstruktion geschieht, kann eine lebenspraktisch wichtige Befreiung für die Situation und damit für die konstitutive Kraft der Alterität verbunden sein. Eine solche Konkretion und Verendlichung sehe ich als den tiefsten Sinn dessen an, was Ricœur als Bezeugung bezeichnet. 91 In dieser Bewegung des Abschieds vom Verstehen (vgl. II.3.) bezeugt sich das Selbst, diesseits aller theoretischen Gewissheit, gerade in seiner Situationalität, Konkretheit und Endlichkeit. So wird Negativität qua Unbestimmbarkeit vermittelt über Alterität lebenspraktisch bedeutsam. Dabei kann es sich darum handeln, einem fremden AnEin interessantes Dokument und ein Beispiel für eine solche ›Verendlichung‹, ein Beispiel für die Negation der Erwartung einer lebenspraktischen ›Lösung‹ durch Philosophie stellt folgender Briefausschnitt von Franz Rosenzweig dar: »Der Verfasser des ›Stern der Erlösung‹, der demnächst bei Kauffmann in Frankfurt erscheint, ist von anderem Kaliber als der von ›Hegel und der Staat‹. Aber schließlich ist das neue Buch eben doch nur – ein Buch. Allzuviel Wert lege ich selber nicht darauf. Die kleine, oft sehr kleine ›Forderung des Tages‹ … ist mir zum eigentlichen und bei allem damit verbundenen Ärger doch geliebten Inhalt des Lebens geworden. Das Erkennen ist mir nicht mehr Selbstzweck. Es ist mir zum Dienst geworden. Zum Dienst am Menschen …« (Aus dem Brief Franz Rosenzweigs an Friedrich Meinecke vom 30. August 1920, mitgeteilt von Frau Edith Scheinmann, Berlin, zitiert nach Casper 1967: 357).

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spruch zu entsprechen, das Recht des Gewissens zu integrieren oder es kann sich darum handeln, sich einer fundamentalen Fremdheit (z. B. im Sinne von Kreatürlichkeit) bewusst zu werden, die man mit dem Gegenüber teilt, mithin die Gleichheit wahrzunehmen, die im gemeinsamen Ausgemachtwerden durch Unverfügbarkeit liegt. Schließlich: Verendlichung als Öffnung oder Befreiung für Alterität, für das spezifisch widerfahrende Moment von Identität, kann insofern als orientierend verstanden werden, als hier gewissermaßen eine Richtung der Sinnsuche bezeichnet wird.

I.4. Identität und moralische Güter (Charles Taylor) Wenn Charles Taylors Philosophie auf ihr systematisches Potenzial für eine Theorie negativer Identität hin untersucht wird, dann geht es besonders um eine Dimension, welche sich aus der Engführung von Identitäts-, Moral- und Kulturtheorie ergibt. Das Ziel dieser Engführung besteht für Taylor in der Erkundung ethisch qualifizierter Identität. Es geht um die Frage, wie sich die Stärken der identitätstheoretischen Perspektive (Konkretion, Faktizität, individuelle Werte) mit jenen der ethischen Perspektive (Intersubjektivität, Normativität) zumindest ansatzweise verbinden lassen. In diesem Kapitel möchte ich zunächst die (unlösbaren) Probleme einer intrasubjektiven Identitätstheorie benennen (I.4.1) und die Auswege und Lösungen verstehen, die Taylor (angesichts der Aporien des Intrasubjektivismus) in der Transzendentalphänomenologie zu finden versucht (I.4.2.). Taylor versucht dabei, zwei Forderungen ethischer Identität zu verbinden, nämlich dass die Handlung über die Identität entscheidet und dass die Handlung intersubjektiv normativ begründbar ist (I.4.3.). Diese Verbindung kann dann als die Beschreibung negativer Identität gelesen werden: Identität verliert die spezifisch moderne Bedeutung der Konstruktion und Selbstbegründung in ihren verschiedenen Facetten (I.4.4.), Identität wird negativ, indem sie gewahr wird, dass sie wesentlich in der Kulturalität moralischer Güter wurzelt (I.4.5.).

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Identität und moralische Güter (Charles Taylor)

I.4.1. Aporien des Intrasubjektivismus Das Projekt einer Identitätsethik kann zunächst jene Attraktivität für sich reklamieren, die sich mit der Figur einer ›inneren Wahrheit‹ verbindet. Doch diese Figur markiert zugleich auch immense systematische Probleme. Und es sind gerade die Schwierigkeiten der Introspektion, welche zu einer Aufgabe dieser Perspektive und zu einer Verwandlung des Identitätskonzepts führen. Einige zentrale Gedanken Taylors kristallisieren sich an Harry Frankfurts Konzept der Wünsche 1. und 2. Ordnung. Die Forschungsliteratur und auch Taylor selbst stellen den Ansatz Taylors deshalb als eine Weiterentwicklung der Theorie Frankfurts dar. 1 Blickt man auf Taylors Philosophie im Ganzen, muss dieser Eindruck revidiert werden. Der introspektive Ansatz beschäftigt Taylor nur vor seiner Wende zur historischen Perspektive, also vor allem in den 70er Jahren. Doch Frankfurts Ansatz ist für Taylor nicht zufällig attraktiv. Von den (vermeintlich) wahren und eigentlichen Wünschen und Werten auszugehen, das bedeutet, introspektiv nach dem Guten zu fragen, das bedeutet mithin, Identitäts- und Moraltheorie zu verbinden. Die Probleme, die mit dieser Perspektive einhergehen, sind freilich zu groß, als dass sie auf dem Boden des Ansatzes Frankfurts gelöst werden könnten. Taylor ist dort stark, wo er sich von der volitionalen Perspektive löst und sich den Forderungen nach intersubjektiver Bedeutung und nach ethischer Autonomie und Normativität stellt, wo er aber gleichzeitig einen identitätstheoretischen Grundgedanken beibehält, nämlich die Forderung, eine philosophische Theorie müsse die Existenz einer radikalen 1.-Person-Perspektive anerkennen, ja mit umfassen. Taylor bleibt den Zielen treu, die sich mit der Koppelung der Frage nach dem Guten und der Frage nach sich selbst verbinden. Doch er kann ihnen nur treu bleiben, indem er den volitionalen Ansatz verlässt – ohne freilich auf das Gebiet der Sollensethik zu wechseln. (1) Ein Wunsch 1. Ordnung ist Harry Frankfurts Unterscheidung zufolge etwas, was einen gewissermaßen überkommt, was sich als Wunsch von selbst, also spontan ergibt. Menschen sind typischerweise aber zu mehr in der Lage, nämlich zu einer Reflexivität in Bezug auf ihre Wünsche 1. Ordnung. Solche Reflexivität nennt Frankfurt

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Vgl. Anderson 1994: 98 ff., Rosa 1998: 102 ff., Taylor 1988b: 9 ff. A

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Wünsche 2. Ordnung. 2 Deren Aufgabe besteht für Frankfurt besonders darin, den Grund des Willens einer Person auszuloten, ihr Ziel ist mithin Authentizität. Schon mit dieser intrasubjektivistischen Verengung, die Taylor allzu unkritisch übernimmt, ist das Projekt einer Identitätsethik im Kern gefährdet. Werden in Frankfurts Konzept keine Zusatzannahmen gemacht, ergibt sich sogleich das Problem des infiniten Regresses: Auch die Wünsche 2. Ordnung können (wie Wünsche 1. Ordnung) reflektiert und bewertet werden usw. 3 Ein (wie auch immer vorzustellender) eigentlicher oder echter Wille kann auf diese Weise nicht bestimmt werden. Frankfurt führt deshalb das volitionale Kriterium des Gefühls der Gewissheit ein: Die Identifikation mit dem wahren Anliegen, das Erreichen des Grundes eines Willens wird durch das Gefühl einer tiefen Zufriedenheit (satisfaction) angezeigt. 4 Zwar trifft sicherlich zu, dass eine gewichtige Entscheidung von der Art sein muss, dass man von ihr tief berührt ist (hiermit wird eine wertvolle Forderung einer Identitätsethik benannt). Dennoch löst auch die Zusatzannahme nicht jene strukturellen Probleme, die an die Intrasubjektivität des Ansatzes gebunden sind. 5 Zum einen ist die Gefahr des infiniten Regresses durch den Verweis auf eine private Evidenz nicht ausgeräumt. Im Erleben der betroffenen Person mag diese Evidenz zwar dafür sorgen, dass ein erneutes Infragestellen der Authentizität des Wunsches nicht sinnvoll erscheint. Doch dies könnte sich bei gewandelten Lebensumständen ändern. Oder die vermeintliche Evidenz könnte sich vom Standpunkt eines Beobachters aus als Selbsttäuschung darstellen. Zum anderen, und dies wiegt noch schwerer, kann Frankfurts Konzept die Kritik nicht entkräften, wonach die Begründbarkeit für die notwendige Identifikation mit einem Wunsch nur in einer Sprache zu leisten ist, deren Bedeutung gerade durch das öffentliche Teilen dieser Sprache konstituiert wird. 6 Diese Kritik am Intrasubjektivismus Frankfurts läuft darauf hinaus, dass die Sicherheit, mit der eine Identifikation als richtig erkannt wird, größer ist, wenn die Identifikation intersubjektiv begründet und verteidigt werden kann als wenn sie lediglich auf einem privaten Evidenzgefühl beruht. Die Wahrheit 2 3 4 5 6

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Vgl. Frankfurt 1971: 6 f. Vgl. Anderson 1994: 98 ff. Vgl. Frankfurt 1992: 13, zitiert nach Anderson 1994: 102. Vgl. Anderson 1994: 102 f. Vgl. aaO.: 103.

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über uns ist auch eine Sache der anderen. Der introspektive Ansatz führt also offensichtlich in eine Sackgasse. Taylor versucht ihn dennoch so immanent wie möglich weiterzudenken und ihn dabei zu überwinden. Taylors Konzept der starken Wertungen stellt den problematischen Versuch dar, auf dem Boden eines volitionalen Ansatzes zu bleiben und gleichzeitig den Anforderungen intersubjektiven Begründens zu genügen. 7 Die Bewertung eines Wunsches 1. Ordnung ist Taylor zufolge eine nur schwache Wertung, wenn nicht der moralische Wert des Wunsches selbst infrage steht, sondern einfach seine Stärke oder Praktikabilität. Es handelt sich dagegen um eine starke Wertung, wenn der Wunsch um seiner selbst willen gut oder schlecht genannt wird, eine Beurteilung, die in moralischen Begriffen geschieht. Nun kann schon die Frage der Praktikabilität im Rahmen der schwachen Wertungen intersubjektiv diskutiert werden, viel mehr noch gilt dies für die starken Wertungen, für moralische Fragen. Solche Fragen bedürfen (selbst im Falle eines inneren Monologs) eines Bedeutungshorizonts, der nur in einer Sprachgemeinschaft gegeben ist. Hier deutet sich der spätere Ausweg über das Konzept der moralischen Güter (der kulturellen Werte) an, wonach die Bedeutung des Prädikats »gut« gewissermaßen zugleich zum Innersten gehört (nämlich zum individuellen starken Werten und damit zur Identität) als auch unverfügbar in kulturellen Institutionen aufbewahrt und durch diese vermittelt wird. Doch Taylor schlägt zunächst zwei problematische Kriterien für die ethische Begründung starker Wertungen vor, die Intersubjektivität einzubeziehen versuchen, ohne den Standpunkt der Selbstreflexion zu verlassen. 8 Zum einen ist dies die Kohärenz und Widerspruchsfreiheit eines Ganzen (eines Systems der Werte), in das einzelne Wertungen einer Person passen müssen. Mit der diskursiven Verständigung über den Stellenwert einzelner Wertungen in einem System der Werte oder einem Werteganzen setzt sich die wertende Person möglicher Kritik aus und kann dadurch ihre Selbstinterpretation auch einer Revision unterziehen. 9 Doch gegen dieses interne Kriterium lässt sich einwenden, die vermeintliche Evidenz eines Systems der Werte könne auf eine Konstruktion zurückgehen, ja das ganze System der Werte sei vielleicht 7 8 9

Vgl. Taylor 1988b: 11 ff. Ich beziehe mich auf Anderson 1994: 107 ff. Vgl. Taylor 1985b: 67 f., vgl. Anderson 1994: 107 f. A

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eine Täuschung. 10 Den anderen (verwandten) Vorschlag eines Kriteriums für die normative Verankerung der starken Wertungen stellt das Konzept der Lebensgeschichte als eines bedeutungsvollen Ganzen dar; hier soll narrative Identität eine normative Funktion erhalten. 11 Zu einer sinnhaften und sinnvollen Einheit wird diesem Kriterium zufolge ein Leben nur unter der Bedingung, dass sich etwa die Orientierung an letzten Werten nicht sprunghaft ändert und dass nur jene Ziele langfristig angestrebt werden, die den tiefsten Antrieben der wertenden Person entsprechen. Zwar geht Taylor hier über Frankfurts Intrasubjektivismus hinaus, insofern sich die wertende Person bei der narrativen Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte als sinnvoller Einheit intersubjektiver sprachlicher Bedeutungen bedienen muss und damit die potenzielle Aufgabe übernimmt, ihre Identität öffentlich zu rechtfertigen oder zu verteidigen. Doch in einem explizit ethischen Sinn kann das Gut der sinnvollen Lebenseinheit offensichtlich nicht bürgen. 12 Die Identität des Handelnden mag in einer gewissen (eher unterbestimmten) Weise gesichert sein, doch lässt sich dabei noch längst nicht von einer ethischen Identität sprechen. (2) Unterschiedliche Hinweise auf eine denkerische Weiterentwicklung ergeben sich aus der Betrachtung zweier Argumente im Kontext der Dichotomien Selbst- und Fremdbestimmung sowie Sein und Sollen. Erstens: Folgt man Frankfurt und Taylor bei ihren Versuchen der Engführung von Identität und Ethik, dann tut sich eine schlechte Dichotomie zwischen gesuchter Selbst- und gemiedener Fremdbestimmung auf. Wie kann die wertende Person je sichergehen, so ist im Sinne des Ansatzes sogleich zu fragen, dass sie in ihren Wertungen als sie selbst in einem möglichst unverkürzten Sinn vorkommt und ihre Wertungen Ausdruck ihrer Identität sind? Besteht nicht die Gefahr, dass starke Wertungen einfach als Reflex des moralischen Commonsense der Sprachgemeinschaft vollzogen werden und in den moralischen Üblichkeiten aufgehen? Das ängstlich verteidigte Reinheitsideal der Selbstbestimmung bei Frankfurt und dem frühen Taylor zeigt ein Problem an, ja, so kann man sagen, es ist selbst das Problem. Denn hier kommt es zu einem verkürzten Begriff von 10 11 12

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Vgl. Anderson 1994: 107 f. Vgl. Taylor 1996: 95 ff., vgl. Anderson 1994: 108 ff. Vgl. Anderson 1994: 109.

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Autonomie, der diese vorschnell mit völliger Freiheit von Fremdbestimmung gleichsetzt. Doch zum Begriff der Autonomie gehört neben dieser Freiheit stets auch das Moment der Gesetzgebung, das heißt einer akzeptierten Geltung, einer zumindest partiellen freiwilligen Aufgabe von Freiheit. Der Intrasubjektivismus kann keinen vollen Autonomiebegriff entwickeln. Wie sich in seinen späten Schriften zeigt, hat Taylor schließlich die Aufgabe gesehen, den Begriff der Authentizität gerade auch im Kontext einer Bindung (einer freiwillig aufgegebenen Freiheit) zu konzipieren; in diese Richtung geht die denkerische Weiterentwicklung. Doch in seinen frühen Schriften reflektiert Taylor diese Probleme zu wenig. Zweitens: Vom Boden der Dichotomie von Sein und Sollen aus könnte eine gewissermaßen maximale Kritik formuliert werden, nämlich dass die Sollensformulierungen starker Wertungen zu sehr auf den Seinsformulierungen bestehender intra- und intersubjektiver Wertvorstellungen beruhen. Muss Taylor nicht ein Verfahren konzipieren, welches in der Lage ist, starken Wertungen ganz unabhängig von jedem faktischen Werten intersubjektiv normative Geltung zu sichern? Mit dieser maximalen Kritik wäre der Ausweg einer Sollensethik privilegiert. Zwar könnte auch in deren Kontext, das heißt im Verzicht auf jede kontingente Faktizität noch an der Forderung nach ethischer Identität festgehalten werden. Diese müsste sich dann im Sinne klassischer Ethikkonzepte etwa durch die Übereinstimmung des subjektiven Willens mit dem Vernunftgesetz ergeben. Doch der Preis für die Privilegierung der Sollensethik ist das Postulat eines abstrakten, kontextfreien und reinen Sollens, mithin die Etablierung einer durchsichtig über sich selbst verfügenden Schicht absoluten Geltens. Diesen Weg einer denkerischen Weiterentwicklung möchte Taylor nicht gehen. Genau dies macht Taylor zu einem Denker negativer Identität: Er versagt sich den (modernetypischen) Ausweg in Akulturalität, Kontextfreiheit, ja Wertfreiheit. Damit aber ist er gezwungen, jenseits des Intrasubjektivismus und diesseits einer Moral kontextfreier Geltungen (diesseits der Sollensethik) konsequent nach einer Alternative zur modernen Figur der Selbstbegründung zu suchen. Diese Suche nach einer Alternative führt Taylor zunächst in die Transzendentalphilosophie und schließlich in die Kulturtheorie.

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I.4.2. Eine transzendentalphänomenologische Handlungstheorie Taylor setzt noch einmal selbstreflexiv an, doch wie geläutert, nämlich transzendental. 13 Die tiefgreifenden Überlegungen im Rahmen seiner transzendentalphänomenologischen Handlungstheorie werden ihn schließlich in eine dialektische Bewegung ziehen, welche die Introspektion in das andere ihrer selbst, in Intersubjektivität überführt. Der Schritt zur Transzendentalität ist (im Sinne der Negativität und der negativen Identität) deshalb so wesentlich, weil sich in ihm zugleich die Kritik an jeder Erkenntnistheorie und Anthropologie artikuliert, welche mit der Annahme einer vorgängigen, äußeren, selbständigen und wahrnehmungsunabhängigen Realität verbunden ist. In der Wahl des transzendentalen Ansatzes artikuliert sich mithin ein Element von Negativität. Dieses wird herausgearbeitet (1), bevor der Status des transzendentalphänomenologischen Arguments und die transzendentalphänomenologische Analyse des menschlichen Handelns (2) rekonstruiert werden können. Schließlich ist zu fragen (3), ob der Transzendentalismus den Aporien des Intrasubjektivismus entgehen kann und welchen Beitrag er zu einer Theorie negativer Identität leistet. (1) Die frühe Lektüre Merleau-Pontys und eine erste Fundamentalkritik des Behaviorismus und aller mechanistisch vorgehenden Wissenschaften vom Menschen 14 wurden zum Auftakt für eine immer wieder neu ansetzende Kritik der von Taylor so genannten epistemologischen Ideologie in ihren unterschiedlichen Spielarten. 15 Diese Diagnose, nämlich eine Ideologie zu sein, stellt Taylor einer Gruppe von Vorstellungen, die den zeitgenössischen Commonsense menschlicher Selbstinterpretation sowie auch weite Teile des philosophischen Diskurses dominieren: Erkenntnistheoretisch gehört zu diesen Vorstellungen etwa die Repräsentationstheorie und mit ihr die Dichotomie von äußerer erfahrungsunabhängiger Welt und innerer Repräsentation dieser Welt. 16 Zu diesem Commonsense gehört aber schon der Begriff der Sinnesdaten selbst: 17 Was mit dem Begriff der SinnesVgl. Taylor 1986a, ders. 1988b, ders. 1993a, ders. 1995d. Taylor bezeichnet seine Identitätstheorie als phänomenologisch und transzendental (vgl. Taylor 1996: 63). 14 Vgl. Taylor 1964, ders. 1975. 15 Vgl. Taylor 1979b, ders. 1986a, ders. 1993a, ders. 1995c. 16 Vgl. Taylor 1995c: 3. 17 Vgl. Taylor 1979b. 13

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daten benannt wird, leugnet seine Konstitution durch unsere Handlungsabsichten oder unsere Unterscheidungen (etwa: bedeutend, unbedeutend). Zu den Vorstellungen im Umkreis der epistemologischen Ideologie gehört sodann das Modell, wonach die grundsätzlichste Form der Wahrnehmung die neutrale, zur Kenntnis nehmende Form von Erkenntnis darstellt und alles Verstehen und Deuten allenfalls zu diesem vermeintlich neutralen ›Haben von Sinnesdaten‹ hinzukommt. Mit der Kritik der epistemologischen Ideologie stellt sich Taylor in eine Tradition, für die schon ein Autor wie Kant, vor allem dann aber Denker wie Wittgenstein, Heidegger und MerleauPonty stehen. Entscheidend ist hier die Einsicht in den Handlungscharakter des Erkennens bzw. in die Rückbindung der Erfahrungen an unseren Status als Handelnde. 18 Weit davon entfernt, dass das neutrale das ursprüngliche Erkennen ist, muss die Kontextualität von Wahrnehmung im möglichen Interesse eines neutralen Erkennens (das selbst auch ein Interesse ist und im Rahmen bestimmter Handlungsabsichten steht) stets erst künstlich abgetragen werden. Den untersten Grund der Gewissheit stellen für diese Kritik der Epistemologie weder die Sinnesdaten noch die Vorstellung einer erfahrungstranszendenten Realität noch auch die unerschütterbare Selbstgewissheit eines cogito dar – vielmehr ist die Vorstellung eines untersten Grundes der Gewissheit selbst unbekannt, und die durch Handeln konstituierte Wahrnehmung muss als unhintergehbar gelten. 19 Mit dieser Negation der Vorstellungen im Umkreis der epistemologischen Ideologie ist zugleich jene verbreitete menschliche Selbstinterpretation verlassen, welche den Handelnden als ein sich selbst durchsichtiges, punktförmiges, gemeinschaftsvorgängiges und unabhängiges Subjekt versteht. 20 Der Schritt in den transzendentalen Ansatz verfolgt somit ein ideologiekritisches Interesse. Als Kriterium der Kritik fungiert, besonders bei der Frage nach dem untersten Grund von Gewissheit, Negativität. Der Handelnde ist sich selbst nicht durchsichtig, sein Handeln und Entscheiden ist ihm nicht nach Art eines Kalküls verfügbar. (2) Wie verwendet Taylor den transzendentalen Begründungstyp, um eine Handlungstheorie zu entwickeln, welche die erwähnten ato18 19 20

Vgl. Taylor 1986a. Vgl. aaO.: 195 ff. Vgl. Taylor 1995c: 7. A

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mistischen Verkürzungen vermeidet? 21 In den folgenden Abschnitten möchte ich Taylors scharfe wie sensible Analysen in größerer Nähe nachvollziehen. In einem vollen Sinn transzendentalphänomenologisch aufweisen lassen sich nur Subjektivität und das starke Werten im Zusammenhang mit menschlichem Handeln. Identität muss dann von menschlichem Handeln abgeleitet und aus diesem heraus transzendental nachvollziehbar gemacht werden. Zunächst zum Status des transzendentalen Arguments, der am Beispiel der Subjektivität veranschaulicht wird. Subjektivität transzendentalphänomenologisch aufzuweisen bedeutet Taylor zufolge, eine konstitutive Bedingung von Subjektivität so zu zeigen, dass zweierlei gleichzeitig gilt. 22 Erstens muss diese konstitutive Bedingung in Teilnehmerperspektive evident nachvollziehbar sein. Und zweitens muss es sich um eine Bedingung handeln, die für Subjektivität so entscheidend ist, dass bei ihrem Wegfall Subjektivität als ganze zusammenbräche. Als Beispiel für solch eine konstitutive Bedingung von Subjektivität führt Taylor u. a. die von Merleau-Ponty aufgewiesene leibliche Prägung des In-der-Welt-seins an. 23 Sobald und sofern man überhaupt von In-der-Welt-sein, von einem Offensein zur Welt sprechen kann, so hat Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung gezeigt, ist dieses In-der-Welt-sein a priori leiblich geprägt. 24 Fiele die leibliche Prägung unseres In-der-Welt-seins ganz weg, dann bräche Subjektivität vollständig zusammen. Damit ist der Status des transzendentalphänomenologischen Arguments definiert: Es wird eine Bedingung benannt, die einerseits für das Phänomen unverzichtbar (konstitutiv, notwendig), und die andererseits nur in einer 1.-PersonPerspektive nachvollziehbar ist. Nur als Teilnehmer kann man etwa Merleau-Pontys These der leiblich geprägten Subjektivität überhaupt nachvollziehen, diskutieren oder kritisieren, weil man ihren Sinn nicht anders als im (stets auch leiblich geprägten) Nachvollzug verstehen kann. Phänomene, die sich transzendentalphänomenologisch Im Folgenden rekonstruiere ich Taylors Handlungstheorie (vgl. Taylor 1988b) vor dem Hintergrund seiner Bestimmung transzendentaler Argumente (vgl. Taylor 1995d). 22 Vgl. Taylor 1995d: 27 ff. 23 Vgl. Taylor 1995d: 22 ff., s. a. ders. 1986a. 24 Unser Weltzugang ist z. B. immer räumlich orientiert, es gibt oben und unten, rechts und links, es gibt hinten und vorn. Dazu gehört auch die Orientierung an dem, was man die menschliche Dimension nennen könnte: Die Dinge sind entweder ›riesen‹groß oder viel zu klein oder eben handlich, also von passender Größe, sie sind gefährlich oder ungefährlich, sichtbar oder unsichtbar – nämlich für uns als leiblich existierende Wesen. 21

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aufweisen lassen, wie etwa Subjektivität (hier analysiert am Beispiel einer bestimmten konstitutiven Bedingung), bleiben einer 3.-PersonPerspektive verborgen. 25 In der Rekonstruktion Taylors lässt sich nun auch die Verbindung von Identität und der Frage nach dem Guten im Sinne eines transzendentalphänomenologischen Arguments aufweisen (obwohl Taylor selbst dies nur ansatzweise so durchführt). Das untersuchte Phänomen ist das menschliche Handeln. Welche Bedingungen, die für den Status des handelnden menschlichen Akteurs konstitutiv sind, lassen sich einerseits in Teilnehmerperspektive evident nachvollziehen und sind andererseits so entscheidend, dass man bei ihrem Wegfall einem Menschen nicht mehr den Status eines handelnden Akteurs zusprechen kann? Drei solche Bedingungen lassen sich bei Taylor ausmachen. 26 Zum Status des handelnden Akteurs gehört es erstens, überhaupt Vorstellungen von dem zu haben, was wünschenswert ist, Ziele, Pläne oder Selbstentwürfe, von denen her verschiedene Optionen und damit die Dinge allgemein überhaupt erst Bedeutung erlangen. Fällt diese Bedingung weg und erscheint jemandem die ganze Welt von einer alles durchdringenden bleiernen Neutralität, dann gibt es für diesen Akteur genau genommen weder Handlungsoptionen noch überhaupt Handeln. Ereignisse, an denen er in irgendeiner Weise beteiligt ist, hätten dann lediglich den Charakter von Naturvorgängen. Eine zweite konstitutive Bedingung ergibt sich aus folgender Überlegung: Wenn in der eben beschriebenen bleiernen Neutralität nun doch einzelne Handlungsoptionen aufträten, aber der Handelnde, der diese verfolgt, über keinerlei Maßstäbe verfügte, die ihm erlaubten, die eine der anderen vorzuziehen, sondern wenn dieser Mensch seinen spontanen Neigungen blind ausgeliefert wäre und er ihnen je nach ihrer Stärke oder nach dem Zeitpunkt ihres Auftretens folgen müsste, dann gingen äußerlich betrachtet zwar Aktionen von diesem Menschen aus, sie wären aber nicht menschliche Handlungen im vollen Sinn dieses Wortes. Maßstäbe zur Beurteilung von Handlungsoptionen stellen somit eine zweite konstitutive Bedingung menschlichen Handelns dar. Eine dritte konstitutive Bedingung ergibt sich aus Überlegungen zur Qualifikation dieser Maßstäbe. 27 Angenommen, unter den KriteDiese Kritik trifft den sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriff (vgl. II.1.). Vgl. Taylor 1988b in einer transzendentalen Rekonstruktion. 27 Diese Überlegungen stellen Taylors Kritik des Utilitarismus dar (vgl. Taylor 1988b: 12, 18 ff.) 25 26

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rien, nach denen ein Handelnder die Wünsche, Pläne, Optionen oder Selbstentwürfe beurteilt, gäbe es nichts, das der Akteur um seiner selbst willen wertvoll findet (das er als Selbstzweck anerkennt), dann wären alle Kriterien und Maßstäbe lediglich Prioritätsregeln, die auf übergeordnete Ziele ausgerichtet wären, welche ihrerseits etwa nach Maßgabe einer rationalen Autorität, von Natur aus oder im Rahmen eines ethischen Wirklichkeitsmodells gesetzt sind (ein Beispiel ist das utilitaristische Ziel des größtmöglichen Glücks). Der Akteur wäre dann lediglich eine kalkulatorische Intelligenz, die im Rahmen eines Wirklichkeitsmodells bestimmte übergeordnete Ziele, z. B. das utilitaristische, als richtig erkennt und auf diese hin ihre Tätigkeiten instrumentalistisch ordnet. Doch einer solchen kalkulatorischen Intelligenz könnte man den Status eines handelnden Akteurs nicht zusprechen, denn der Handelnde selbst käme in seinen Handlungen nicht vor, umgekehrt: Die Handlungen wären alleiniges Ergebnis absolut geltender Regeln. Für eine Prioritätsregel, die Handlungen auf ein vernünftiges Ziel hin ordnet, steht der Handelnde nicht in demselben intensiven Maße (nämlich mit seiner Person) ein, wie er für selbstzweckhafte Werte einsteht, die er anerkennt und mit denen er sich identifiziert. Die kontextunabhängige Prioritätsregel und das vernünftige Ziel gelten gewissermaßen wie mathematische Gesetze, die moralischen Güter gelten dagegen als Werte, die Anerkennung erheischen. Das Besondere an der Eigenschaft moralischer Güter, nämlich dass sie eine größere Nähe zur Identität aufweisen als kontextfreie Geltungen, liegt gerade in ihrer logischen Unableitbarkeit, das heißt in ihrer Negativität. Zwar gelten sie unbedingt, sie haben den Charakter von Selbstzwecken, aber der Kern dieser spezifischen (gerade nicht im Rahmen eines big picture konzipierten) Absolutheit ist fragil und endlich. 28 Wir identifizieren uns auf spezifische Weise mit moralischen Gütern, wir übernehmen auf spezifische Weise Verantwortung für unser Handeln, wenn unser Begründen notwendig unabschließbar ist. Auch deontologische Gehalte können mit der ganzen Person vertreten werden, doch werden sie in diesem Fall gerade als moralische Güter, als kulturelle Werte vertreten und nicht

Moralische Güter sind gewissermaßen auf die Identifizierung des Akteurs mit ihnen und auf ihre Artikulation im Handeln des Akteurs angewiesen. Diesen Zusammenhang wendet Taylor später kritisch gegen eine Kultur, die ihre Werte dadurch gefährdet, dass sie diese zu wenig als Werte (und zu sehr als kontextfreie Geltungen) artikuliert.

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als kontextunabhängige reine Geltungen ›erkannt‹. 29 Als transzendentales Argument formuliert: Erst mit dieser Wendung, das heißt mit der Nähe des moralischen Maßstabs zur Identität, wird ein Geschehen zu einer menschlichen Handlung im stärkstmöglichen Sinn, oder, so könnte man auch sagen: Erst mit dieser Wendung wird eine Handlung menschlich. 30 Die dritte konstitutive Bedingung menschlichen Handelns sieht Taylor entsprechend im Vorkommen von Gütern, die dem Handelnden so wichtig sind, dass sie für ihn Werte darstellen, die um ihrer selbst willen gelten. Diese moralischen Güter gelten unbedingt, aber sie besitzen keinen formalen, logischen oder idealen Status, sie weisen vielmehr eine konstitutive Negativität auf, welche die hier gemeinte spezifische Identifizierung überhaupt erst möglich macht. (3) Kann Taylor mit dem transzendentalen Ansatz den Problemen des Intrasubjektivismus entgehen? Und inwiefern gehört der handlungstheoretisch-transzendentale Identitätsbegriff zur Figur negativer Identität? Man könnte sagen, auch transzendental denke Taylor Identität weiterhin in der Tradition von Authentizität. Noch immer geht es um Introspektion und die Suche nach Echtheit. Aber nimmt man als Ergebnis etwa den Satz, im stärkstmöglichen Sinn Autor seiner Handlungen zu sein, setze die Anerkennung selbstzweckhafter Güter voraus, dann zeigt sich der denkerische Fortschritt. Anders als in volitionaler Perspektive gilt die Aussage nicht in einem emphatisch introspektiven Sinn. Nicht das eigene Innere wird ergründet, sondern das Interesse gilt dem um seiner selbst willen geltenden moralischen Gut. Identität bedeutet jetzt jenes Selbstsein, das mit der Anerkennung eines moralischen Guts einhergeht. Identität ist weder selbst konstruiert, noch folgt sie der romantischen Idee eines verborgenen Kerns des Ichs, sondern sie erhält ihre Bedeutung aus einer Bindung, aus der Anerkennung von etwas nicht selbst Gemachtem und nicht exklusiv Eigenem, das einen aber dennoch wesentlich ausmacht. Anerkennung eines moralischen Guts meint hier, sich hanVgl. Taylor 1986b. Was mit diesem transzendental-handlungstheoretischen Sinn von Menschlichkeit bezeichnet ist, kann auch zerstört werden: »Wenn ich daher durch Folter oder Gehirnwäsche gezwungen würde, diejenigen Überzeugungen aufzugeben, die meine Identität definieren, dann wäre ich zerstört, dann wäre ich nicht länger ein Subjekt, das imstande ist, zu wissen, wo es steht und welche Bedeutung die Dinge für es besitzen« (Taylor 1988b: 37).

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delnd gewissermaßen unter dieses zu stellen und dabei Freiheit zu verwirklichen. Ein solcher Identitätsbegriff kann als Versuch gelesen werden, die modernetypische Figur der Selbstbegründung zu unterlaufen. Es zeigt sich ein erster Aspekt negativer Identität: Während das modernetypische autonome Subjekt sich und das Gute, ja ein ganzes Wirklichkeitsmodell auf einen vermeintlich kontextfreien Teil seiner selbst, etwa auf prozessuale Rationalität, gründet und aus diesem Zusammenspiel von innerer und äußerer Wahrheit seine Identität bezieht, entsteht in Taylors transzendental-pragmatischem Ansatz Identität gerade aus der Anerkennung moralischer Güter, die subjektvorgängig gelten, ohne doch durch das Subjekt selbst hervorgebracht oder logisch abgeleitet werden zu können. Negative Identität ließe sich in diesem Kontext denken als Ausgemachtwerden durch logisch unableitbare moralische Güter. Über deren Geltung und Status kann auf dem Boden des Transzendentalismus freilich noch nichts ausgesagt werden. So entkommt Taylor der Verengung des Intrasubjektivismus, indem er Identität und subjektvorgängige moralische Güter zusammendenkt. Es ergeben sich erste Aspekte negativer Identität. Offen bleiben dabei einige moraltheoretische Grundfragen – sie müssen geklärt werden, wenn Taylor Identität nicht nur handlungstheoretisch, sondern explizit ethisch konzipieren möchte. I.4.3. Intersubjektivität aus identitätstheoretischer Sicht Um in der Frage nach einer explizit ethisch bestimmten Identität weiterzukommen, müssen (1) klassisch ethische Begriffe wie Verantwortung, ethische Autonomie und Normativität mit den Mitteln der Taylor’schen (transzendental-pragmatischen) Identitätstheorie zumindest ansatzweise rekonstruierbar sein. Wenn im Zuge dieser Rekonstruktion Intersubjektivität rehabilitiert werden kann und dabei moralische Güter als kulturell geltende Werte verstanden werden, ergibt sich (2) die Frage nach dem ontologischen Status moralischer Güter. Dieser muss auch im Interesse der unten diskutierten kulturtheoretischen Identitätsanalysen Taylors geklärt werden. (1) Die verschiedenen Ebenen des ethischen Begriffs Verantwortung sind in Taylors Handlungstheorie unterschiedlich gut rekonstruierbar. Verantwortung in einem eher schwachen Sinn, verstanden als zugeschriebene Verantwortung (jedem zurechnungsfähigen Men120

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schen kommt Verantwortung für sein Handeln zu) sowie Verantwortung im Sinne der Verpflichtung, jemandem Rechenschaft geben zu müssen (Verantwortung als soziales Phänomen, als Eingehen einer Bindung), diese Bedeutungsebenen stehen bei Taylor nicht im Vordergrund. Taylor geht es, getreu seiner immer noch subjektzentrierten Perspektive, vor allem um eine dritte Bedeutung von Verantwortung, um die aktive Übernahme von Verantwortung. Diese Schicht des Verantwortungsbegriffs gehört (transzendental verstanden) notwendig zum vollen Begriff menschlichen Handelns, insofern dieses stets unvertretbar ist. 31 Taylors transzendentales Argument lautet: Zum engsten und stärksten Begriff des Handelns und damit zum Akt des identitätsartikulierenden starken Wertens gehört eine bewusste, kritische, als unabschließbar verstandene Reflexion auf das Gute. Handeln in diesem Sinne ist Artikulation jener Güter, für die der Handelnde einsteht, für die er dadurch Verantwortung übernimmt, dass er für seine Handlungen Verantwortung übernimmt. Menschliches Handeln ist in dem Maße unvertretbar, in welchem seine Begründung konsequent nicht delegiert werden kann, auch nicht an eine postulierte Schicht kontextfreier Geltungen. Und die Begründung gewissermaßen auf sich zu nehmen, sich dabei nicht vertreten zu lassen, dies bezeichnet einen wesentlichen Gehalt von Verantwortung. Umgekehrt gilt: Jenes Handeln, das transzendentalphänomenologisch betrachtet noch nicht im vollen Sinn menschliches Handeln ist, wird entweder vom stärksten Wunsch oder Antrieb bestimmt. Diesem, das heißt einer als substanziell gedachten Natur, müsste entsprechend, wenn dies möglich wäre, Verantwortung zugeschrieben werden. Oder, im Falle prozeduraler Ethiken, fiele die Verantwortung, wenn dies möglich wäre, der rational und kontextfrei geltenden Regel zu. Das starke Werten und identitätsartikulierende Handeln dagegen geschieht im Bewusstsein, sich auf keinen naturalisierten oder idealisierten Maßstab zurückziehen zu können. Es geschieht somit in einer Haltung, zu der auch Momente von Negativität gehören, insofern mit diesem Handeln auch das Wissen um die Unabgeschlossenheit seiner tiefsten Überzeugungen, um nötige Revisionen (also um die Möglichkeit von Täuschung und Schuldigwerden) sowie das Wissen um die Grenzen vollständiger, selbstdurchsichtiger Begründ-

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Zu Taylors Verantwortungsbegriff vgl. Taylor 1976. A

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barkeit verbunden ist. Die Ausrichtung an um ihrer selbst willen geltenden Gütern, die maximale Beteiligung (der Identität) des Handelnden an seiner Handlung, das unabgeschlossene Bemühen um eine authentische Artikulation des Guten und die bewusste Übernahme von Verantwortung gehören in Taylors transzendentaler Perspektive untrennbar zusammen. Doch diese Perspektive hat auch ihre Grenzen: Der Begriff Verantwortung lässt sich in diesem Rahmen nur unvollkommen hinsichtlich der für dieses Phänomen konstitutiven Intersubjektivität (der zweiten oben genannten Bedeutung von Verantwortung) rekonstruieren. Die Transzendentalphänomenologie sprengt die Subjektzentrierung des ganzen Ansatzes nur teilweise. Für Intersubjektivität bieten sich lediglich Möglichkeiten der Explikation impliziter Bedeutungen: So sind die anderen in Form der Sprachgemeinschaft oder sogar des konkreten Gegenübers konstitutiv für jenes handlungsbegleitende Bemühen um authentische Artikulation moralischer Güter. Und in der Unvertretbarkeit, in der Möglichkeit, am anderen schuldig zu werden, tritt der andere als fiktives Gegenüber auf, als Instanz, vor der man sich zu verantworten hat. Taylor ist den Schritt in eine Ethik des Anderen nicht gegangen. In seiner Handlungstheorie bemüht er sich vielmehr um den Aufweis interner Normativitätskriterien. Die Grenze, an die er dabei stößt, ist die Intersubjektivität. Diese drängt sich stets aufs Neue auf, nämlich im Zuge der Analysen aus der Perspektive des Subjekts. Intersubjektivität drängt sich auf als wichtiges Ergebnis eines Gedankengangs, doch sie weist diesen in eine neue Richtung und erweist dabei die anfängliche Perspektive des Gedankengangs als zu eng. Der Begriff ethischer Autonomie bezeichnet bei Kant die Selbstbestimmung der praktischen Vernunft, bekundet also die Freiheit des Vernunftwesens Mensch, wenngleich hier Freiheit wesentlich Selbstbestimmung heißt, mithin an das Vernunftgesetz, den kategorischen Imperativ, gebunden ist. »Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, daß die Maximen seiner Wahl [der Wahl des Willens, Ph. Th.] in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen sein«. 32 Diesem starken Begriff von ethischer Autonomie kann vielleicht nur Kants Philosophie selbst genügen – im Rahmen von Taylors an Vorstellungen vom guten Leben orientierter Ethik hätte Autonomie in praktischer Hinsicht aber immerhin so viel zu bedeuten wie das Vermögen zu »erkennen, daß wir unser Leben 32

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Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: 74 f.

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nicht so führen wie wir es sollten«. 33 Menschliche Akteure müssen zu einer Distanz gegenüber Antrieben, Wünschen und Neigungen in der Lage sein, und sie müssen die Freiheit haben, in dieser Distanz ihr Handeln begründet selbst zu bestimmen. Taylor denkt Autonomie zunächst im Sinne einer Differenzierung innerhalb der Neigungen und Wünsche. Erneut bemüht er hier ein internes Kriterium, und wieder wird sich zeigen, dass ein kritisches Ausleuchten des Phänomens schließlich das interne Kriterium in Richtung von Intersubjektivität sprengt. Zwar verabschiedet Taylor grundsätzlich das in der Tradition der Romantik stehende Unmittelbarkeitskriterium: 34 Wünsche, Bedürfnisse und Absichten sind keine unmittelbaren Empfindungen wie z. B. Schmerz. Bei Letzterem macht es keinen Sinn, zwischen einem wirklichen und einem bloß scheinbaren, zwischen einem Schmerz, der tatsächlich meiner oder nur vermeintlich meiner ist, zu unterscheiden (selbst ein Phantomschmerz ist echt und jeweils mein eigener). Aber Taylors Versuch einer autonomen Differenzierung von Wünschen bemüht erneut ein internes Kriterium: Wünsche können dann als unechte Wünsche bezeichnet werden, wenn der Handelnde bei ihrem Wegfall nicht wirklich etwas verliert. 35 Verliert man z. B. im Zuge einer psychologischen Therapie die Angst vor Fahrstühlen und damit auch den wiederholten Wunsch, lieber die Treppe zu benutzen, so ist man im Nachhinein wohl geneigt, diesen Wunsch als nicht wirklich zu einem selbst gehörig zu bezeichnen. Dies lässt sich auch so verstehen, dass die ungehinderte Verwirklichung von Wünschen einen Handelnden nicht in jedem Fall freier macht, ihn nicht zu seinen wertvollsten Entwicklungsmöglichkeiten befreit. Drängt es jemanden etwa ständig zu unbeherrschten, die Umgebung tyrannisierenden Wutausbrüchen, dann bringt es ihn in einem bestimmten Sinn nicht weiter, wenn innere und äußere Schranken gegen solche Wutausbrüche gänzlich wegfielen, im Gegenteil, der Akteur stünde sich hinsichtlich vieler wertvoller Ziele ständig selbst im Weg. 36 Aus dieser erneut viel zu introspektiven Perspektive bedeutet Autonomie nicht Unabhängigkeit von Neigungen, vielmehr führen sozusagen die richtigen Wünsche Autonomie mit sich. Das Kriterium ihrer Richtigkeit bleibt dabei freilich gerade des33 34 35 36

Anderson 1994: 97. Vgl. Taylor 1988d: 140. Vgl. aaO.: 142. Vgl. ebd. A

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halb diffus, weil es nur intern gedacht wird. Auch über den Wert bestimmter Ziele und Entwicklungsmöglichkeiten kann letztlich nur intersubjektiv entschieden werden. Zwar kann es das Phänomen geben, sich selbst im Weg zu stehen bzw. umgekehrt, seinen Weg zu finden, doch schon zu dem Schluss, dass im Falle eines Wunschs oder einer Neigung dieses oder jenes der Fall ist, wird man nur im Austausch mit anderen kommen. Selbst bei einer einsamen Selbstreflexion bedient man sich des Vergleichs mit anderen bzw. einer gemeinsamen Sprache. Auch liegen in den von einer Sprachgemeinschaft geteilten Bedeutungen und Werten schon Vorentscheidungen darüber, was jeweils als wertvolles Entwicklungsziel zu gelten hat. Zu »erkennen, daß wir unser Leben nicht so führen wie wir es sollten«, 37 dieses von Anderson für Taylors Ansatz eingeforderte Kriterium für Autonomie ist in volitionaler Perspektive und mit rein internen Kriterien nicht rekonstruierbar, in seiner frühen Philosophie sieht Taylor diese Unmöglichkeit viel zu wenig. Einen gewissen Ausweg bietet wieder die transzendentale Handlungstheorie. Hier kann Autonomie immerhin als gleichursprünglich mit handelnder Identitätsartikulation und in der Entscheidung übernommener Verantwortung verstanden werden: Indem ein Akteur sein Handeln unter solche Werte und Güter stellt, die für seine Identität stehen und die er mit seiner Person verantwortet, verwirklicht er sozusagen seine Freiheit. In dem Verzicht auf die Delegation der Verantwortung für eine Handlung (etwa an eine vermeintlich beliebig weit begründbare rationale Handlungsregel) und in dem Wissen um die Möglichkeit des Schuldigwerdens setzt der Handelnde also seine Freiheit ein, indem er eine Bindung eingeht, sich also eines Teils seiner Freiheit begibt, um sich selbst eine Bestimmung zu geben. 38 Offen bleibt dabei das Kriterium für die moralische Richtigkeit der Handlung. Was bedeutet schließlich Normativität in Taylors identitätstheoretischem Ansatz? Taylor steht von Beginn seines Philosophierens an der Phänomenologie nahe, mithin einer Tradition, die seit Husserl stark an monologischen Wahrheitskriterien orientiert ist. Gleichzeitig steht er auch schon früh unter dem Einfluss der expressivistischen Tradition. 39 Es ist daher kein Zufall, dass dieser Denker Anderson 1994: 97. Autonomie ist so gleichbedeutend mit einem bestimmen Verständnis von Freiheit, Taylor nennt sie Verwirklichungsfreiheit und setzt sie der so genannten Möglichkeitsfreiheit entgegen (vgl. Taylor 1988d, ders. 1995 f.). 39 Vgl. Honneth 1988: 305 f. 37 38

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erst relativ spät auf die Notwendigkeit aufmerksam wurde, Normativität konsequent intersubjektiv zu denken. Wie unverzichtbar eine Außenbeurteilung des Handelns und starken Wertens und damit die Perspektive der kulturell tradierten Kriterien des Guten ist, macht Taylor sich selbst schließlich am Beispiel eines Terroristen deutlich. Dieser orientiert sich subjektiv an unbedingt geltenden Gütern und vertritt den ethischen Wert dieser Orientierung mit seiner Person; er erfüllt also zunächst die Kriterien einer transzendental-pragmatischen Handlungstheorie. Dennoch würde ein unabhängiger Beobachter den Werdegang des Terroristen (auch hier wieder zeigt sich die Prägung durch die interne Perspektive) als tragischen Irrtum oder als Scheitern einer potenziellen Entwicklung bezeichnen können. 40 Bei einer solchen Beurteilung finden kulturell (und in mancher Hinsicht wohl auch interkulturell) gültige Normen und Werte Anwendung. Ein Terrorist begründet typischerweise sein Handeln, indem er es in den Zusammenhang einer größeren Weltdeutung stellt bzw. indem er kenntlich macht, welche faktischen Strukturen die Durchsetzung bestimmter Werte so sehr behindern, dass dazu Gewalt angewendet werden muss. Wenn selbst in Anbetracht dieser Begründung das terroristische Handeln dennoch als tragischer Irrtum bezeichnet wird, dann geschieht dies einerseits als Bestreitung der Gültigkeit der handlungsleitenden Normen des Terroristen, etwa indem das Recht auf Leben seiner billigend in Kauf genommenen Opfer verteidigt wird. Andererseits wird gerade der spezifische Gebrauch der Handlungsbegründung, nämlich das Verabsolutieren bestimmter Werte, der Ausschluss der Möglichkeit von Irrtum und Täuschung, Gegenstand intersubjektiver Kritik sein. Gerade die Übertreibung des starken Wertens ist es in diesem Beispiel, die den Ausweg in Intersubjektivität nahe legt: Kriterien für das Gute gelten intersubjektiv, sie sind nicht der Besitz einer exklusiven Gruppe oder eines Einzelnen. 41 Kriterien für das Gute sind moralische Güter im Sinne kulturelle Werte. Diese kulturellen Werte sind es also letztlich, die hinter den Maßstäben des starken Wertens stehen müssen, sie bilden die letzte Instanz bei der Suche nach jenem Echten, das den Handelnden notVgl. Taylor 1988d: 141 f. Das Problem des Tyrannenmords ist in diesem Kontext dann kein Gegenargument, wenn die Situation so beurteilt wird, dass der Tyrann und seine Anhänger jene exklusive (terroristische) Gruppe repräsentieren, die Gruppe der Tyrannenmörder sich dagegen auf die Werte der Kultur und der menschlichen Gemeinschaft berufen kann.

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wendig ausmacht, nach jenem Richtigen und Wahren, das in seinen Handlungen unbedingt artikuliert werden muss. Diese Einsicht Taylors markiert nicht weniger als einen radikalen Sprung: Am Ende des introspektiven und später transzendentalen Ansatzes zeigt sich, dass jene moralischen Güter, welche in transzendentaler Perspektive als Kriterium für den vollen Sinn menschlichen Handelns fungieren, letztlich intersubjektiv geltende Normen, also kulturelle Werte sind. Damit ist der introspektive Ansatz endgültig verlassen. Zugleich zeichnet sich eine negative Moraltheorie und in ihrem Kontext die Bestimmung negativer Identität ab: Negativität im Sinne der (logischen) Unableitbarkeit moralischer Güter ist wesentlich zurückzuführen auf ihren kulturellen Status. Der Verzicht auf das Postulat einer Schicht kontextfreier Geltungen bedeutet die Unmöglichkeit, dass ein Subjekt jene identitätsartikulierenden moralischen Güter, unter die es sich gewissermaßen handelnd stellt, in irgendeiner Weise selbst hervorbringen oder logisch ableiten kann. Entzogenheit, Unableitbarkeit der moralischen Güter und ein spezifisches unverfügbares Ausgemachtwerden durch kulturelle Werte, dies ist die Bedeutung negativer Identität im Rahmen der Identitätsethik Taylors. (2) Welchen ontologischen Status haben diese kulturellen Werte? Man hat Taylor vorgeworfen, einen wertrealistischen Standpunkt zu vertreten, Taylor weist diesen Vorwurf zurück. 42 Seit dem frühen Anschluss an Merleau-Pontys Wahrnehmungstheorie verbietet sich für Taylor das Konzept des Realismus, weil in diesem ein Modell (nämlich das einer wahrnehmungsunabhängigen Realität) an die Stelle der leiblich kontingent erschlossenen und von Handlungsinteressen nicht trennbaren Welt (als der letzten zugänglichen Schicht der Wahrnehmung) tritt. Die Ablehnung des Realismus aufgrund dieser transzendentalphänomenologischen Position ist vielleicht weniger leicht nachvollziehbar als eine klare Gegenposition zum Realismus, etwa der Projektivismus. Doch Taylor bestreitet gerade diese ungute Dichotomie von Werten als privaten Setzungen einerseits Vgl. Rosen 1991. »To understand what is involved here is to see that the ›Ding an sich⁄ transcendent reality distinction can get no purchase. The very idea of projectivism makes no sense. There is nothing further out there to project on« (Taylor 1991: 246) »Olafson seems to allow only two positions: a kind of Plato-type realism, on one hand, or some version of non-realism on the other. This is why he has trouble placing my position« (Taylor 1994a: 209). Vgl. auch Anderson 1994: 111 ff., Descombes 1994, Rorty 1994, Taylor 1991: 245 f., ders. 1994b: 236–240. 42

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und Werten als kontextfreien Geltungen andererseits. Als eine (diese Dichotomie überwindende) Alternative verfolgt er das Konzept, dass Werte zwar stets kontextuell, gerade dadurch aber bezogen auf den Einzelnen vorgängig gelten. Wenn Menschen sich sehr grundsätzlich moralisch verorten, wenn sie sich mit Werten identifizieren, dann setzen sie nicht willkürlich neue Werte, sondern sie finden diese in ihrer Welt schon vor, allerdings weniger als ausformulierte Ideale, sondern stärker implizit in der kulturellen Praxis und den Institutionen der Gesellschaft. Als Bürger moderner westlicher Gesellschaften ist unser Leben von den Werten der Neuzeit geprägt, vermittelt allerdings durch die kulturelle Praxis unserer Gesellschaften, besonders durch Erziehung und Bildung. 43 Die Werte unserer Epoche haben ihren Ursprung in älteren Vorstellungen vom Guten, sie stellen kleinere oder größere Veränderungen, mitunter auch Transformationen älterer Werte dar. 44 Diesen ontologischen Status der moralischen Güter bindet Taylor eng an Sprache und Sprachgemeinschaft. Taylor schließt sich weitgehend der Sprachtheorie Herders und Humboldts und der Heidegger’schen Engführung von Sein und Sprache an. 45 In dieser Tradition wird besonders die Vorgängigkeit der Bedeutung vor dem individuellen Sprechen, das heißt dessen Abhängigkeit von der öffentlichen Konversation betont. Sprache kann als objektiver Geist verstanden werden, als soziales Repertoire von Bedeutungen, dessen man sich sprechend bedient und das sich aus dem Wechselspiel von vorgängiger Bedeutung und individueller Sprache und Sprachveränderung konstituiert und regeneriert. Die Verwendung des Begriffs objektiver Geist geht gleichwohl nicht mit der Vorstellung einher, dieser sei das eigentliche Subjekt der Sprache bzw. existiere als vom Menschen unabhängige, an sich seiende Realität. In den Begriffen der Heidegger’schen Sprachphilosophie spekuliert Taylor einmal über die Frage, was sich in der Sprache und in der Lichtung, dem

»Ich bin der Überzeugung, daß wir alle viel zu sehr der modernen Kultur verhaftet sind, der Gewohnheit, unser Leben mit den Kräften der instrumentellen Vernunft zu ordnen, der Suche nach Verklärung durch die schöpferische Phantasie, dem Kult der Freiheit der Selbstbestimmung, als daß wir wirklich imstande sein könnten, uns von diesen poietischen Kräften zu lösen und uns selbst ohne Bezugnahme auf sie zu definieren« (Taylor 1985c: 164). 44 Vgl. Taylor 1996. 45 Vgl. Taylor 1988c, ders. 1994b, ders. 1995e, Descombes 1994. 43

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menschlichen Seinsverständnis, artikuliere. 46 Mit Heidegger kommt Taylor zu dem Schluss, weder sei die auf Sprache angewiesene Lichtung vom Menschen hervorgebracht, noch sei sie Ausdruck eines metaphysischen Prinzips (es artikuliert sich also keine externe Instanz in der Sprache), vielmehr diene sie dem Ziel, Seiendes auf die ihm angemessene Weise zu entbergen. Nur scheinbar ist Taylor hier einer wertrealistischen Position gegenüber aufgeschlossen. Es geht Taylor (und Heidegger) nicht um die externe Geltung oder Setzung von Werten, sondern darum, Seiendes in einem diesem adäquaten Umgang so zu verstehen, dass dabei ein Wert mitverstanden wird, dessen Geltung nur anerkannt, nicht aber produziert werden kann. 47 Etwas mit dem richtigen Wort anzusprechen, so ließe sich in diesem Sinne anschaulich sagen, bedeutet gleichzeitig, seinen Wert zu artikulieren. Der ontologische Status kultureller Werte lässt sich so analog zu dem Status sprachlicher Bedeutungen verstehen. Dies sei noch am Beispiel des Machtbegriffs erläutert. Hier geht es Taylor vor allem darum, diesen Begriff überhaupt erst als einen kulturellen und werthaften sichtbar zu machen, das heißt naturalistische Interpretationen zurückzuweisen. Für diesen Nachweis untersucht Taylor Foucaults Wiederaufnahme der These Nietzsches von der radikalen Wertneutralität und Relativität von Macht. 48 Verschiedene historische Manifestationen der Macht können Foucault zufolge nicht so miteinander verglichen werden, dass sich die eine der anderen vorziehen lässt, sie können vor allem nicht im Sinne einer Humanisierung, einer Entwicklung zum Besseren verstanden werden. Lediglich lasse sich die Form beschreiben, die Herrschaft jeweils annimmt (etwa das Prinzip von Befehl und Gehorsam oder das Prinzip der Selbstkontrolle, der Anonymisierung des Subjekts der Macht usw.). Doch, so entgegnet Taylor, allenfalls vom Sirius aus, also in der irrealen Phantasie totaler Wertneutralität, könne ein solcher wertneutraler Standpunkt eingenommen werden. Z. B. könnten nur SiriVgl. Taylor 1995e. Vgl. aaO.: 124 f. Taylor fragt sich hier, wie vor ihm ansatzweise auch schon Heidegger (vgl. Heidegger GA 29/30), ob das ontologisch richtige, das heißt angemessene Verstehen von Natur, speziell der lebenden Natur, eine theoretische Grundlage für die praktische Forderung des ökologisch richtigen Umgangs mit Natur bieten könne. Vgl. hierzu Thomas 1996: 90 f. 48 Vgl. Taylor 1988e: 224 ff. Zur Relativität der Lebensformen (und besonders der Machtformen) vgl. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft: besonders Viertes und Fünftes Buch sowie Foucault 1978: 34 ff. 46 47

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us-Bewohner wertneutral die Frage stellen, ob sie lieber als Chinese der Sung-Dynastie oder als Europäer des 21. Jhs. auf der Erde geboren werden möchten. 49 Foucault gibt vor, so Taylor, diese Sirius-Perspektive einnehmen zu können, macht sich dabei aber einer semantischen Inkonsistenz seiner Argumentation schuldig. Denn die sprachliche Bedeutung des Begriffs der Macht und der Unterdrückung wird in unseren Sprachen durch den Gegenbegriff der Freiheit oder Befreiung konstituiert. Macht kann nicht ohne den Begriff der (graduellen) Befreiung von ihr verstanden werden. Es handelt sich damit um eine werthafte Unterscheidung, die hinter diesen Begriffspaaren steht, insofern sich Authentizität und Freiheit darin als Werte artikulieren und damit einen Bewertungsmaßstab abgeben, der bezogen auf unsere Kultur einen transzendentalen Charakter hat. Von Machtformen zu sprechen heißt daher stets, diese zu bewerten, sie am Maßstab der Freiheit oder der Wahrheit zu messen. Der Standpunkt der Wertneutralität erscheint so als unmöglich bzw. er zeigt sich als Teil einer Ideologie des naturalistischen Paradigmas. Hinsichtlich der identitätskonstitutiven Werte gilt also, dies zeigt Taylor im Rahmen seiner Theorie plausibel, dass diese in sprachlichen Bedeutungen bewahrt werden. Ihr ontologischer Status ist subjektvorgängig, doch er ist nicht als logisch, natural oder ideal, sondern als kulturell zu charakterisieren. I.4.4. Kritik des modernen Identitätsbegriffs Mit dem Begriff kultureller Werte öffnet sich Taylors gesamter Ansatz für eine kritische Kulturtheorie, die nun vor allem historisch arbeitet. Hier ist (1) kritisch zu fragen, inwiefern Taylors Philosophie mit diesem Schritt Gefahr läuft, ihrerseits zu einem System, zu einem big picture zu werden, und damit die systematische Analysekraft der transzendentalen Handlungstheorie zu verspielen. Ich versuche, Taylor weiter als Identitätstheoretiker zu lesen. Dabei lässt sich (2) zeigen, wie im Rahmen seines Ansatzes eine bestimmte, in Vgl. Taylor 1988e: 232. Freilich könnte diese Wahl nicht durch im weitesten Sinn ethische, sondern lediglich durch ästhetische Kriterien, durch Neugier oder Zufall bestimmt werden. Im weitesten Sinne ethische Kriterien würden bewertende Urteile hinsichtlich der verschiedenen Kulturen ermöglichen. Der Standpunkt der Wertneutralität bedeutet also ein Urteil ohne jede kulturelle Identität (vgl. aaO.: 233).

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der Gegenwartskultur dominante problematische menschliche Selbstinterpretation gerade durch ihre ideengeschichtliche Rekonstruktion kritisierbar wird. Taylor stellt dem modernen Identitätsbegriff eine kritische ›Diagnose‹, die dann umgekehrt auch eine bestimmte ›Therapie‹ vorzeichnet. Diese Wendung macht Taylors gegenwartskritisch zugespitzte Identitätstheorie für die Figur negativer Identität so interessant: Während die problematische moderne Selbstinterpretation (I.4.4.) Züge einer positiven Identität aufweist, kann dasjenige menschliche Selbstverständnis, das Taylor schließlich als Alternative vorschlägt (I.4.5.), als negative Identität verstanden werden. (1) Taylors weitreichende historische Analysen 50 können hier nicht hinsichtlich ihrer ideengeschichtlichen Tragfähigkeit bewertet werden und deshalb auch nicht in ihrem Charakter als geistesgeschichtliche Thesen in die Argumentation eingehen. Quer zur Stoßrichtung dieser Analysen lassen sich freilich ihre geisteswissenschaftliche Verengung kritisieren sowie ihr Systemcharakter hinterfragen. Die allzu geistesgeschichtliche Orientierung Taylors stellt sicher ein Problem dar und ist in der Diskussion entsprechend kritisiert worden. 51 Insbesondere bei der Lektüre der Quellen des Selbst ergibt sich der irritierende Eindruck, die neuzeitliche Identität sei ausschließlich ein Ergebnis philosophie-, literatur- und kunsthistorischer Entwicklungen. 52 Taylor hat sehr viele philosophische und künstlerische Zeugnisse der abendländischen Geistesgeschichte studiert, vor allem hat er sie zu einer der »big sweeping geistesgeschichtlich stories« 53 (wie Richard Rorty so etwas nennt) verknüpft, er erzählt die Vorgeschichte derjenigen kulturellen Werte, die heute unsere Identität wesentlich bestimmen. Weitgehend unberücksichtigt bleiben zu Unrecht Wissenschafts-, Technik-, Sozial- und Politikgeschichte. Zudem kann die (ideengeschichtlich verengte) »big sweeping story« dann auch als eine Art Gesamtmodell gelesen werden, in das die Probleme der Gegenwartskultur eingetragen und so modellhaft verstanden werden können. Die synthetisierenden Gesamtdarstellungen und RekonsVgl. Taylor 1985c, ders. 1991, ders. 1994a, ders. 1995a, ders. 1996, ders. 2002. Vgl. z. B. Reese-Schäfer 1996: 622, Joas 1996: 662 f. 52 Hans Joas zitiert Taylors Versuch, diesen Vorwurf dadurch zurückzuweisen, dass er die Quellen des Selbst eher als Interpretation bewegender Kräfte und weniger als die Analyse von deren Wirkung verstanden wissen will (vgl. Joas 1996: 663). 53 Vgl. Rorty 1984: 56. 50 51

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truktionen der Arbeiten Taylors aus vier Jahrzehnten verstärken noch den Eindruck, Taylors Philosophie stelle ein geschlossenes System dar. 54 Die Erklärungskraft einer Verortung in einem big picture oder diejenige einer Ableitung eines Phänomens aus seinen historischen Wurzeln ist aber derjenigen einer transzendentalphilosophischen und handlungstheoretischen Analyse nicht überlegen. Taylors Stärke liegt nicht in der Konstruktion eines Gesamtmodells, sie liegt in der feinfühligen und scharfen Grundlagenkritik bestimmter sozialer Ideologien. Taylors Identitäts- und Wertetheorie ist der Versuch, bestimmte dominante moderne Selbstinterpretationen mit genuin philosophischen Mitteln zu analysieren, und dazu zählt die systematische wie auch die historische Analyse bestimmter Grundbegriffe. Liest man Taylors Philosophie als Ideologiekritik, werden ihre praktischen Potenziale deutlich. Ich möchte im Folgenden (im Interesse einer Theorie negativer Identität) aus Taylors breit angelegten historischen Analysen eine bestimmte These rekonstruieren, die das Problematische eines typisch modernen Identitätsbegriffs dadurch veranschaulicht, dass sie es historisch zu erklären versucht. Interessant ist dabei diese historische Erklärung (die nur referiert, nicht diskutiert werden kann) – interessanter im Kontext dieser Arbeit noch ist die Veranschaulichung der Probleme eines bestimmten Identitätsbegriffs, denn dieser kann als Begriff positiver Identität gelesen werden und damit als Folie für einen Begriff negativer Identität dienen. (2) Welches Phänomen möchte Taylor im Rahmen der zu rekonstruierenden These historisch erklären (worin, so ist im Interesse dieser Untersuchung zu fragen, besteht entsprechend positive Identität), und welche spezifische Kritik erwächst aus der ideengeschichtlichen Analyse? 55 Als problematisch an gegenwärtig dominierenden Selbstkonzepten und Interpretationen der eigenen Identität kann zum einen die Ideologie der Selbstverwirklichung gelten. In einer gewissen Ruhelosigkeit und Unabgeschlossenheit kann es hier zu einer Suche nach sich selbst, nach einem vermeintlich echten (von Fremdbestimmung freien) Kern kommen: Identität kann in diesem Verständnis zu einem Ideal werden, dem man sich gewissermaßen immer nur

54 55

Vgl. Rosa 1998, Redhead 2002, Smith 2002. Vgl. vor allem Taylor 1995a, ders. 1996. A

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asymptotisch annähern kann, insofern sich die Faktizität der je konkreten Existenz, ihre Kontingenz, ihre Unvollkommenheit, ihre Unfreiheit und ihre Abhängigkeit nicht überwinden lassen. Damit eng verwandt ist eine andere Facette der problematischen modernen Identität, die als Kern einer Ideologie der Selbstbestimmung beschreibbar ist. Man selbst zu sein, dies bezeichnet in dieser Perspektive den Zustand der Freiheit von jeder Bindung, auch den Akt vollständiger Selbstbestimmung. Eng benachbart sind hier wiederum individualistische oder subjektivistische Ideale, etwa die Kultivierung eines eigenen Stils und Geschmacks oder unverwechselbarer Vorlieben und Meinungen. Zum Ideal der Selbstbestimmung gehört auch eine Kultur der Machbarkeit, des Selbstmanagements, ja der Lebenskunst. Es ist diese Kultur, die das spezifisch positive Moment von Identität ausmacht. Eine Selbstinterpretation im Sinne einer konstruierten Identität ist nicht zuletzt auch aus praktischen Gründen problematisch, insofern sie mit dem Anspruch an den Einzelnen einhergeht, seine Identität und damit den Erfüllungszustand seiner Existenz selbst zu ermöglichen, also etwa seine Identität zu finden und zu befreien oder sie zu konstruieren und zu realisieren. Dieser Anspruch ist hoch, oft unerfüllbar – zudem hat er die Tendenz, andere Selbstinterpretationen, andere Identitätsbegriffe und damit auch andere Möglichkeiten der Erfüllung zu verstellen. Doch Taylor geht es bei seiner Kritik nicht in erster Linie um problematische Folgen auf dem Gebiet der Lebenspraxis. Das Kriterium der Kritik an den Ideologien der Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung ergibt sich vielmehr aus einer ideengeschichtlichen Analyse. Wie kann Taylor nun dieses problematische moderne Selbstkonzept durch eine historische Analyse im Sinne einer positiven Identität kritisierbar machen (und dadurch einem reichen Begriff negativer Identität den Boden bereiten)? Im Rahmen differenzierter historischer Studien zu den Entstehungsbedingungen moderner Identität rekonstruiert Taylor die verschiedenen Wurzeln jenes problematischen Identitätsbegriffs der Gegenwartskultur. Eine Wurzel lässt sich wissenschafts- und philosophiegeschichtlich ausmachen: Für Taylor ist die Entstehung des atomistischen Subjektbegriffs nicht ablösbar von der Entwicklung der mechanistischen Wissenschaften, einschließlich der mechanistischen Psychologie im 17. Jh., welche, wie Taylor sagt, den Bericht über mechanische Naturvorgänge (physiologische Zustände und Prozesse) auf den Bericht über menschliche Erfahrungen ausdehnt und diese dabei nach mechanistischem Modell 132

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versteht. 56 Bei dieser Beschreibung in der 3.-Person-Perspektive wird der Erkenntnisapparat zu einem passiven Knotenpunkt, an dem sich lediglich Naturvorgänge abspielen. In Verbindung zu diesem epistemologischen Ideal stehen dann das Ideal der selbst hervorgebrachten Evidenz, wie es Descartes formuliert hat, und des von allen natürlichen (etwa leiblichen) und sozialen Konstitutionsbedingungen und Bindungen entkoppelten Selbst (Taylor nennt es das desengagierte Selbst), das frei und rational die Dinge der Welt für seine Zwecke benutzt und das zudem Träger von gemeinschaftsvorgängigen Individualrechten ist. 57 Mit diesen Idealen gingen und gehen instrumentalistische, utilitaristische und individualistische Theorien und Vorstellungen über die wahre Natur des menschlichen Handelns einher. Das Kriterium der Kritik an den genannten modernen Selbstkonzepten besteht also im Kontext dieser (wissenschafts-) geschichtlichen Analysen im Nachweis unangemessener und phänomenferner Selbstinterpretationen. Diese bedingen eine Verzerrung und Verflachung des Identitätsbegriffs, welche sich dann etwa in den genannten Ideologien der Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung artikulieren kann. Eine weitere Wurzel der problematischen modernen Selbstinterpretation macht Taylor in der impliziten Tendenz der Grundwerte der modernen Kultur aus, sich selbst als akulturell und als naturalisiert zu präsentieren und damit ihren Status der Kulturalität selbst zu verdecken: Mit dem modernen Ideal der Autonomie, der freien Selbstbestimmung des Einzelnen, hängen individualistische Ideale, 58 aber auch Erfolgsideale der instrumentellen Vernunft zusammen, 59 sodann die Vorstellung, dass die Wissenschaft in den Dienst des normalen Lebens der Menschen gestellt werden soll 60 und die (noch auf die Reformatoren zurückgehende) unbedingte Bejahung des Alltags, des Familienlebens und die damit zusammenhängende humanistische Ablehnung alles Höheren, das vom Menschen ablenkt. 61 Eine weitere Gruppe von Idealen wird durch den Begriff Authentizität angezeigt. Hierher gehören das noch auf Augustinus zurückgehende

56 57 58 59 60 61

Vgl. Taylor 1995c: 3 ff. Vgl. Taylor 1995c: 5 ff., ders. 1995 f., ders. 1996: 202, 335 u. ö. Vgl. Taylor 1985c: 120. Vgl. aaO.: 121. Vgl. aaO.: 148. Vgl. aaO.: 147 ff., 154, Taylor 1996: 373 ff. A

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Konzept einer inneren Tiefe des Menschen, eines inneren Selbst, 62 einer menschlichen Würde 63 sowie das Rousseau’sche und romantische Ideal einer authentischen Selbstverwirklichung samt seinen expressivistischen Spielarten auf dem Gebiet der Kreativität und der Kunst. 64 Das problematische Potenzial, das diesen kollektiven Werten innewohnt, zeichnet Taylor folgendermaßen nach: Für Werte im Bereich der Authentizität (um mit der letzten Gruppe zu beginnen) lässt sich eine Entwicklung in Richtung Subjektivismus und Emotivismus aufzeigen, in deren Verlauf das Authentizitätsideal immer stärker verdünnt und verzerrt und sein ursprünglicher Gehalt nicht mehr artikuliert wird. 65 Hier sind es besonders die Problematik des infiniten Regresses bei dem Versuch der Realisierung von Authentizität (hier rekonstruiert Taylor schließlich die Position seiner frühen Schriften) sowie die Tendenz zur Vergewisserung der Authentizität über eine expressive Demonstration des Selbst- und Anderssein (auch mittels käuflicher Attribute), welche das Authentizitätsideal subjektivistisch verzerren. Schon im Angestrengten (und Endlosen) der vergewissernden Demonstration des Selbstseins liegt eine Verzerrung, in der Authentizität als Bürde wahrgenommen werden kann, als gewissermaßen von Natur aus geltendes Gesetz, das den Einzelnen bei Strafe des Lebensmisserfolgs zu einem explizit eigenen Leben, zu einer als unverwechselbar ausweisbaren Identität verpflichtet. In dieser Form ist das Ideal nicht mehr als kultureller Wert und als Gut zu erkennen, das seine je faktisch existierende Form transzendiert. So kann es zu einer Ideologie der Selbstverwirklichung kommen, und diese lässt sich als ein Aspekt einer explizit positiven (gesetzten) Identität verstehen. Auch für Werte im Bereich der Autonomie und Freiheit beschreibt Taylor diese problematische Tendenz der Verflachung durch ein akulturelles Selbstverständnis. Die Tendenz besteht darin, dass gerade jene kulturelle Praxis, die durch Werte wie Selbstbestimmung und Individualität geprägt ist, besonders stark dazu neigt, ihre Orientierung an Werten zu leugnen. 66 Werte wie Autonomie oder Freiheit oder das Ideal eines Denkens, das vom Leib, von Gemütsbewe62 63 64 65 66

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Vgl. Taylor 1985c: 123 ff., ders. 1996: 235 ff. Vgl. Taylor 1985c: 143. Vgl. Taylor 1996: 619 ff., 639 ff. Vgl. Taylor 1995a: 65 ff. Vgl. aaO.: 114 ff. Eine gute Rekonstruktion bietet Rosa 1998: 345 ff.

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gungen und Traditionen losgelöst ist, eines Denkens, das sich selbst verantwortet, sich selbst steuert und sich selbst erzeugt, ein solches Ideal hat gewissermaßen zum Inhalt, dass unser Denken und Handeln von nichts beeinflusst oder abhängig ist. Auf die Dauer kann deshalb gerade die Ausübung dieser Ideale zur Leugnung jeder Abhängigkeit von Idealen führen. Besonders eine sehr freiheitliche und von Individualität und Autonomie geprägte kulturelle Praxis wird daher die hinter ihr stehenden Werte 67 fast notwendig vor sich selbst verbergen und nicht länger artikulieren. Hartmut Rosa spricht in diesem Zusammenhang von einem performativen Selbstwiderspruch der Individualkultur, indem diese kulturelle Praxis implizit dasselbe Ideal voraussetzt, welches eben diese Praxis explizit leugnet. 68 Welche Konsequenzen hat der performative Selbstwiderspruch der individualistischen Kultur für die Praxis? Das naturalistische Paradigma und das mit diesem verbundene Commonsense-Verständnis von Freiheit (nämlich im Sinne von Möglichkeitsfreiheit) haben die Tendenz, sich selbst nicht mehr als kulturelle Produkte zu begreifen und ihre Geltung nicht auf intrinsische Güter, sondern auf natürliche Verhältnisse zu beziehen, also auf eine von Ideologie, Religion und Metaphysik gereinigte vermeintlich natürliche Realität. 69 Vor diesem Hintergrund werden intrinsische Werte als bloß emotivistische Güter verstanden – Werteartikulation artikuliert kontingente, relative Optionen, sie artikuliert positive, konstruierte Identität. In einer solchen Situation, in der eine Hintergrundtheorie private Erfahrungen von Sinn und Wert, von Gutem und Schlechtem nur reduktionistisch (etwa im Sinne positiver Identität) konzeptualisiert, kann die problematische Tendenz entstehen, dass Sinnerfahrungen nur noch als private Konstrukte verstanden werden können. Weitergehende Orientierung bieten dann nur noch die scheinbar von Natur aus geltenden Ziele (das eigene Fortkommen, der eigene Erfolg, glückliche Empfindungen und Erlebnisse, die körperlichen Bedürfnisse und die Gesundheit), sie gelten als das Gute, an dem sich das Leben instrumentell ausrichten kann. Das Kriterium der Kritik an dem problematischen modernen menschlichen Selbstverständnis besteht also im Kontext dieser am Begriff der Kulturalität orientierten historischen Taylor bezeichnet diese bekanntlich als moralische Quellen (vgl. Taylor 1996: 175, 890 f. u. ö.). 68 Vgl. Rosa 1998: 347. 69 Vgl. aaO.: 344 ff. 67

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Analysen im Nachweis eines den modernen Werten immanenten Hangs zu einem akulturellen Selbstverständnis. Dieser Verlust von Kulturalität (und, so kann man hinzufügen, von Negativität) kann dann zu einer Verflachung jener modernen Werte führen, die sich in den beschriebenen Ideologien der Selbstverwirklichung und der Selbstbestimmung äußert. Schließlich ist noch zu fragen, worin die Positivität des typisch modernen Identitätsbegriffs besteht. Der Verlust des Bewusstseins von Kulturalität, so kann man sagen, ist ein Verlust von Negativität. Dieser Verlust geht mit einem problematischen Konzept über den Status der identitätsbestimmenden Werte einher. Diese werden entweder als individuell entdeckte und im Sinne eines authentischen Kerns als individuell gültig oder als individuell konstruierte und im Sinne einer freien Entscheidung wiederum als individuell gültig konzeptualisiert. Die Positivität dieser identitätsbildenden Werte (und damit die Positivität von Identität) besteht dann gerade in ihrem Status der Individualität und Konstruiertheit. Identität erscheint nicht als Schwäche einer vorgängigen Bindung (womit ja auch der Reichtum eines vorgängigen Ausgemachtwerdens durch Unverfügbares gemeint ist), sondern einseitig als Selbstbegründung. Wie lässt sich demgegenüber im Rahmen der kulturkritischen Analysen negative Identität begreifen? I.4.5. Negative Identität und moralische Güter Sehr allgemein gesagt bedeutet negative Identität im Kontext der späten Arbeiten Taylors die Subjektivitätskonstitution über moralische Güter mit kulturellem (also subjektvorgängigem, aber logisch unableitbarem) Status. Im Sinne einer Zusammenfassung des verstreut schon Gesagten ist jetzt zunächst zu fragen: Worin genau besteht Negativität, wie lässt sich von Taylor aus genauer negative (ethische) Identität verstehen, und worin besteht das Kulturkritische des Konzepts? Negativität besteht in Taylors Denken generell schon im Fehlen einer untersten Schicht von Gewissheit und in der fehlenden Selbstdurchsichtigkeit des Subjekts, ist also zunächst mit dem transzendentalphänomenologischen Ansatz und später mit der These der Kulturalität verbunden. Entsprechend bedeutet Negativität Vorgängigkeit moralischer Bedeutungen (diese strukturieren die Wahrnehmungswelt) sowie logische Unableitbarkeit der moralischen Gü136

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ter (diese sind dem Subjekt entzogen). Negative Identität ist bei Taylor spezifisch ethische Identität. Es geht darum, sich handelnd unter unableitbare Güter zu stellen, Werte als Werte handelnd zu artikulieren. Dabei ist die Fragilität der moralischen Güter, die wesentlich mit ihrer Kulturalität und Unableitbarkeit verbunden ist, Voraussetzung für ihren identitätskonstitutiven Charakter. Dieser Zusammenhang lässt sich vielleicht am besten so verstehen, dass nur ein unvertretbares Handeln ein menschliches Handeln ist: Erst wenn die Selbstinterpretation des Menschen als Akteur und das Modell, das sich der Mensch von den ihn im Handeln leitenden Größen macht, in einer umfassenden und fundamentalen Negativität übereinkommen, lässt sich in vollem Sinn von menschlichem Handeln sprechen. Zur Kulturkritik: Die Negativität der Identität besteht auch im Abschied vom romantischen Konzept eines authentischen Kerns, einer privaten Identität, die sich als Ergebnis einer inneren Suche einstellt und sich in individuell-expressiven Akten zeigt. Dieser Negativität als Bescheidenheit hinsichtlich der Figur einer inneren Wahrheit korrespondiert jene andere Bescheidenheit hinsichtlich der Figur der Selbstbestimmung. Im Kontext von Autonomie bedeutet negative Identität nicht den Abschied vom Wert der Freiheit und der Selbstbestimmung (dieser Wert ist vielmehr identitätskonstitutiv), sondern den Abschied von der ideologischen Überhöhung der Selbstbestimmung im Sinne der Bindungslosigkeit, des Selbstmanagements oder einer Lebenskunst, welche Erfüllung allein als Produkt von Lebensgestaltung versteht. Zur kulturkritischen Schicht des von Taylor aus zu entwickelnden Konzepts negativer Identität gehört auch der Gedanke der Artikulation von Werten als solchen. In der Artikulation werden sie zugleich als bedeutend (als identitätskonstitutiv) und gewissermaßen als etwas zu Schützendes verstanden, dessen Wirklichkeit von Artikulation abhängt. Gegen den vermeintlich naturhaften Status der Werte wird in der Artikulation ihre Kulturalität und damit ihre Kontextualität, ihre Abhängigkeit von Praxis, mithin ihre Fragilität bewahrt. Im Gedanken der Artikulation von Werten als Werten liegt die Einsicht in die Notwendigkeit entwickelter gesellschaftlicher Bedingungen für das Fortbestehen jener Institutionen, die Werte implizit artikulieren. Die Kulturalität der moralischen Güter und ihre Bedeutung für Praxis sei (mit Taylor) noch einmal an den Beispielen Freiheit und Interkulturalität erläutert. Zum modernen Freiheitsbegriff. Die auf Hobbes und Bentham A

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zurückgehende Auffassung von Freiheit lässt sich so verstehen, dass die hinreichende Bedingung für diese Freiheit die Abwesenheit von Abhängigkeiten und Hindernissen ist. 70 Demgegenüber vertritt Taylor die These, die hinreichende Bedingung von Freiheit sei die Verwirklichung einer Selbstlenkung, einer faktischen Praxis steuernder Kontrolle über das eigene Leben, 71 wobei der Akzent gerade nicht auf der Abwesenheit innerer oder äußerer Hindernisse liegt, sondern auf einem verwirklichten Vermögen der Selbstregulierung als intrinsischem Wert. Um den entscheidenden Unterschied terminologisch zu fassen, spricht Taylor von Möglichkeitsfreiheit und Verwirklichungsfreiheit. Entsprechend lautet Taylors ideologiekritische These: Wenn wir von menschlicher Freiheit sprechen, meinen wir, zumindest wenn wir den Begriff bestmöglich auslegen, Verwirklichungsfreiheit, und diese existiert als kultureller Wert. Das Modell der Möglichkeitsfreiheit, welches dem Commonsense-Verständnis von Freiheit näher steht, ist widerspruchsvoll und unbefriedigend und taugt nicht als philosophisches Bedeutungsmodell hinter dem alltagssprachlichen Begriff Freiheit. In der Tradition der politischen Philosophie wird Freiheit als Individualrecht eingefordert. Doch, so Taylor, ein Recht zu behaupten heißt mehr als zu gebieten, etwas Bestimmtes zu unterlassen, es nämlich zu unterlassen, ein Individuum an der Ausübung dieses Rechts zu hindern. Vielmehr heiße ein Recht zu behaupten, den Wert jener Fähigkeit zu affirmieren, zu der das Individuum das Recht habe. Nur weil etwa die Fähigkeit des Menschen zur freien Wahl uns Respekt gebietet, formulieren wir ein entsprechendes Recht. Die Affirmation, Bejahung und Wertschätzung einer Fähigkeit schließt auch die Affirmation, Bejahung und Wertschätzung ihrer Entwicklung und ihrer Förderung mit ein. In dieser Perspektive zeigt sich das Recht auf Freiheit als Affirmation menschlicher Freiheit im Sinne eines intrinsischen Werts. Demgegenüber stellt Freiheit im Sinne der Möglichkeitsfreiheit zwar auch einen Zweck dar, aber dieser Zweck ist relativ, er steht im Dienste der angemessenen Verwirklichung anderer, etwa der naturgegebenen Interessen des Individuums. Die Vorstellung, dass der Wegfall von Hindernissen gleichbedeutend mit (der Realisation von) Freiheit ist, schließt jene andere Vorstellung mit ein, wonach dieser Zustand der Freiheit kein Selbstzweck ist oder doch seinen eigentlichen Wert 70 71

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Die Rekonstruktion folgt Taylor 1988d und ders. 1995 f. Vgl. Taylor 1988d: 122.

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durch die Verwirklichung jener anderen Ziele erhält, für die er Bedingung ist. Dass hinter dem Recht auf Freiheit ein stärkerer Freiheitsbegriff im Sinne eines kulturellen Ideals steht, kann der Möglichkeitsbegriff der Freiheit nicht zugestehen, ohne sich selbst aufzugeben, denn er ist an das naturalistische Selbstverständnis gebunden, mithin an eine Metatheorie, welche das Konzept kultureller Werte und kultureller Identität ausschließt. Verwirklichungsfreiheit ist aber auch wesentlich ein sozialer Begriff, hier zeigt sich die Bedeutung der Kulturalitätsthese für die Praxis: Jene Bedingungen, die Freiheit ermöglichen, bestehen nicht schon darin, so Taylor, dass Individuen in ihrer Handlungs- und Willensfreiheit möglichst wenig eingeschränkt werden, sondern in einem komplexen und fragilen Set sozialer Praktiken und Institutionen, sie bestehen etwa in einer Kultur der Diskussion, der gegenseitigen Anerkennung und der gleichen Rechte und des gemeinsamen Beratens und Entscheidens. Freiheit und Autonomie als telos einer Kultur beruhen auf sozialen Bedingungen, die immer wieder neu geschaffen und deren Praxis gepflegt werden muss. Doch diese Regeneration, so ließe sich mit Taylor sagen, wird erschwert, wenn der intrinsische Wert, um den es dabei geht, nicht als solcher artikuliert, das heißt nicht im Rahmen eines Verwirklichungsbegriffs verstanden, sondern im Rahmen des naturalistischen Paradigmas als Möglichkeitsfreiheit vorgestellt wird. 72 Einen kulturellen Wert als solchen zu verstehen, zu artikulieren und zu vertreten, dies entscheidet auch über das Schicksal dieses Werts. Um Artikulation kultureller Werte als Werte ist es Taylor im Interesse einer bestimmten Praxis auch auf interkultureller Ebene zu tun. 73 Hier wendet er sich gegen ein akulturelles Selbstverständnis moderner westlicher Gesellschaften und damit gegen einen (als hegemonial empfundenen) Universalismus. Dieser beruht auf der Naturalisierung moderner Ideale wie Freiheit, individuelle Selbstverwirklichung oder Gleichheit bzw. auf deren Verwendung als deskriptive Begriffe. Taylor schwebt hier ein Modell von Interkulturalität vor, in dem moderne westliche Demokratien ihre Ideale als solche Vgl. Taylor 1995 f.: 98. Als politischer Philosoph macht Taylor schon früh (im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Hegel) auf die Gefahr aufmerksam, die für die politischen Institutionen der Demokratie durch den Verlust des Bewusstseins intrinsischer Werte besteht (vgl. Taylor 1978: 145 f., ders. 1979a). 73 Vgl. Taylor 1993c: 28 ff. 72

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und das heißt gleichzeitig als logisch unableitbare Werte und als eigene kulturelle Identität offensiv vertreten, ihre gesellschaftliche Praxis aber gleichzeitig selbstkritisch immer wieder an diesen Werten messen. Anerkennung anderer Kulturen bezieht sich nicht auf deren potenzielle Modernität, sie gründet nicht auf der Universalität eines bestimmten Vernunftbegriffs. Vielmehr müssen Kulturen bzw. Gesellschaften oder gesellschaftliche Gruppen, hinsichtlich ihrer kollektiven Ziele, Werte und Ideale anerkannt werden. 74 Freilich besteht hier die Gefahr, Ethik nur noch partikularistisch zu denken. Um diesem Vorwurf zu entgehen, bemüht sich Taylor, die Differenz des Kulturellen mit der Identität der conditio humana zusammenzudenken. 75 Konsequent hat diesen Gedanken Martha Nussbaum mit ihrem essenzialistischen Fähigkeitenkonzept entwickelt, in welchem es besonders auch die menschliche Naturhaftigkeit, Leiblichkeit und Kreatürlichkeit ist, die als interkulturelles tertium comparationis fungiert. 76 Interkulturalität ist für Taylor in einem guten Sinn erst möglich, wenn sich Kulturen als Kulturen verstehen, wenn sie sich etwa von einer akulturellen Selbstinterpretation verabschieden, wie sie typisch für die Moderne ist. Dieser Abschied ist zugleich auch, so könnte man sagen, der Abschied von der Figur der Selbstbegründung durch Rationalität. Im Kontext der Interkulturalität bedeutet negative Identität mithin vor allem ein kulturelles Selbstverständnis. So lässt sich Taylors Ansatz im Sinne negativer Identität als Versuch verstehen, die moderne Figur der Selbstbegründung zu unterlaufen: Negativität geht konstitutiv sowohl in Subjektivität als auch in die moralischen Güter selbst ein. Anders als bei Theunissen und Ricœur ist der Sinn von Negativität von Anfang an umfassend, also nicht verkürzt auf existenzdialektische Negativität, wie bei Theunissen, oder auf ein Bestimmtsein (Ausgemachtwerden) von Alterität (als einem äußeren Anderen), wie bei Ricœur. Andererseits scheint mir die (bei Ricœur entscheidende) Differenzierung von Negativität in Bestimmtheit durch Alterität einerseits und Unbestimmtheit andererseits auch bei Taylor sinnvoll. Denn im Kontext seiner (besonVgl. aaO.: 53 ff. Taylor nennt hier die »nodal points« der menschlichen Existenz, also Geburt und Tod, sexuelle Beziehung, Familie, Gemeinschaft oder Liebe. »It matters less that we cannot define this common lot in a way which every culture could subscribe to, than that we all sense that these nodal points offer the sites of really illuminating comparisons between human societies« (Taylor 1994b: 240). 76 Vgl. II.4. 74 75

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ders der historisch-kulturkritischen) Schriften scheint sich mitunter ein gewissermaßen verflachter Begriff von negativer Identität nahe zu legen: Mit diesem wäre (ähnlich wie bei Ricœur) die Vorstellung verbunden, ein vorgängig existierender Akteur werde durch ein äußeres Anderes bestimmt, nämlich durch moralische Güter. Taylor argumentiert nicht konsequent genug auf der Ebene der Subjektkonstitution, allzu oft sind seine Bezugsgrößen das Individuum (und damit die irrige Auffassung eines isoliert vorkommenden Akteurs) oder gleich die Kultur. Taylor verwendet immer wieder Formulierungen, die eine solche beschränkte Interpretation von negativer Identität nahe legen, der zufolge deren Sinn darin aufgeht, dass ein Akteur von einem äußeren Anderen, dem kulturellen Wert, bestimmt wird. Im Kontext einer solchen verflachten Interpretation heißt Negativität zu sehr Bestimmtheit (durch ein Anderes) und zu wenig Unbestimmtheit. Der tiefste Sinn von negativer (ethischer) Identität in Taylors Philosophie ist ein anderer. Schon eine konsequent durchgeführte transzendentale Handlungstheorie verbietet das verkürzte Verständnis von Negativität qua Bestimmtheit durch ein Anderes. Denn in ihrem Kontext wird deutlich (und hier kommt einmal eine Stärke der introspektiven Perspektive zum Tragen), dass sich Akteur und moralisches Gut gerade nicht äußerlich sind. Vielmehr ist Handeln, transzendental verstanden, Selbstartikulation, eine Selbstartikulation freilich, die sich selbst als eine Artikulation moralischer Güter entdeckt, deren Status weder subjektiv noch objektiv, sondern kulturell (und damit zwar subjektvorgängig, aber fragil) ist. Negativität qua Unbestimmtheit meint bei Taylor gerade diese Abgründigkeit des Selbst, die im Sinne seiner negativen Ethik mit der Unableitbarkeit der moralischen Güter zusammenhängt. Für die transzendentale Handlungstheorie wie auch für Taylors Kulturtheorie und für den Grundgedanken der Kulturalität gilt, dass Negativität wesentlich Unbestimmtheit bedeutet: Jede Vogelperspektive, jedes Gesamtmodell von Wirklichkeit bleibt ausgeschlossen, wenn ein Akteur die Unableitbarkeit der ihn leitenden (und zugleich selbstzweckhaft geltenden) moralischen Güter mitreflektiert bzw. wenn eine Kultur sich selbst als Kultur begreift und in ihre Selbstreflexion die Negativität ihrer Werte, ihre Fragilität, ihr Angewiesensein auf Artikulation, mit einbezieht.

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I.5. Zum identitätstheoretischen Sinn von Negativität Bei der kritischen Rekonstruktion dreier Gegenwartsphilosophien haben sich Facetten der systematischen Figur der negativen Identität ergeben. Aufgabe dieses Kapitels ist es nun, diese Facetten auf den Begriff der Negativität zu beziehen. Negativität bedeutet philosophisch im 19. und im 20. Jh. Unterschiedliches (I.5.1.), doch beide Bedeutungen sind in je verschiedener Weise für Identität relevant und auf beide rekurrieren (ohne dass dies eigens thematisch wird) die herangezogenen Philosophien. Aus der Unterscheidung zweier Formen von Negativität, nämlich dialektischer und konstitutiver Negativität, ergibt sich nicht zuletzt die Möglichkeit eines tieferen Verständnisses (und einer Kritik) der verschiedenen Facetten negativer Identität und damit der Identitätstheorien Theunissens, Ricœurs und Taylors (I.5.2.). Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung im Negativitätsbegriff gewinnt zudem die Aufgabe des zweiten Teils der Untersuchung Deutlichkeit, nämlich einen zeitgemäßen und konsistenten Begriff negativer Identität auf Lebenspraxis und ihre Diskurse zu beziehen und dabei Aspekte einer Lebenspraxis im Kontext besonders der konstitutiven Negativität zu entwerfen. Hierzu möchte ich am Schluss des Kapitels am Beispiel der welterschließenden Macht der Verzweiflung einen Vorblick geben. I.5.1

Dialektische und konstitutive Negativität

Negativität leistet als philosophischer Begriff Verschiedenes. Für das Gegenwartsdenken sind vor allem zwei Typen von Negativität entscheidend, nämlich (1) dialektische Negativität als Entdeckung des 19. Jhs. und (2) konstitutive Negativität (wie ich sie nennen möchte) als wichtiges Element (und wichtige Entdeckung) der Philosophie des 20. Jhs. 1 Bevor ich auf diese Unterscheidung eingehe, seien zunächst noch weitere Bedeutungen von Negativität genannt. 2 In der Tradition der theoretischen Philosophie heißt Negativität zunächst im SinIch treffe diese Unterscheidung auch aus heuristischen Gründen: Konstitutive Negativität soll dabei vor allem von einer verengten, schematischen dialektischen Negativität abgegrenzt werden. Die Einzelanalysen Hegels folgen gleichwohl nicht immer einem schematischen Dialektikverständnis, sodass auf sie bezogen wiederum von konstitutiver Negativität gesprochen werden kann. 2 Aus der reichen Literatur zur Negativität seien nur folgende Titel erwähnt: Beierwal1

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Zum identitätstheoretischen Sinn von Negativität

ne der Aussagenlogik Verneinung. Aussagen können negiert werden, diese Aussagen können ihrerseits negiert werden. Die Tatsache, dass sich bei dieser Form der doppelten Verneinung das erste Urteil unverändert wieder herstellt, kann als Kriterium für aussagenlogische Negativität und als wichtigster Unterschied zu dialektischer Negativität gelten: Anders als bei dieser und damit anders als bei den verschiedenen traditionellen oder modernen Stadientheorien, den Modellen der Steigerung oder Entwicklung menschlicher Existenz, zeichnet die doppelte Negation aussagenlogisch kein Moment der Bewegung (und keine Idee eines Fortschritts) aus. Eine weitere Bedeutung von Negativität im Kontext theoretischer Philosophie stellt die Gleichsetzung von negatio und determinatio dar. Im Denken Spinozas findet sich die Figur der mit Gestaltung einhergehenden Negation: Die von sich aus gestaltlose Materie wird in ihrer Integrität für die Gestalt eines Dinges spezifisch negiert. 3 Diese theoretisch-philosophischen Bedeutungen von Negativität haben für meine Untersuchung Relevanz lediglich als theoretische Vorgabe, gegen die sich der Bedeutungsreichtum von Negativität im Kontext praktischer Philosophie behaupten muss. Negativität tritt in der Moderne auch in der Tradition des Emanzipationsideals auf. Sehr allgemein gesprochen geht es hier um die Negation des Faktischen im Interesse der Verwirklichung des Möglichen, wobei dieses Mögliche so gedacht wird, dass es sich als ein ethisch (oder auf andere Weise) Qualifiziertes vom Faktischen abhebt. Bei Kant ist etwa die Negation faktischer Sittlichkeit Voraussetzung für den Sprung in die Moralität. Bei Rousseau und seinen Nachfolgern sind es die eitlen Werte der Gesellschaft, die es im Interesse eines empfindlichen Gefühls für das eigene Dasein und das Gute zu negieren gilt. Gegen die Macht der Konvention und der unreflektierten Existenz Selbstsein (als Akt der Negation des Faktischen) überhaupt erst zu wagen, dies ist auch ein Topos verschiedener Philosophien der Existenz, noch Heideggers Begriff der Eigentlichkeit ist von dieser Tradition zumindest geprägt. 4 Und die Negation einer vortes 1980b, Bonsiepen 1977, Grenz 1974, Henrich 1974, Inwood 1992, Marotzki 1984, Rentsch 1999, ders. 2000a. 3 »determinatio negatio est« (Baruch de Spinoza: Opera. Hg. v. C. Gebhardt (1924), Bd. IV: 240). 4 Eine differenzierte Analyse der Eigentlichkeit gibt Andreas Luckner (vgl. Luckner 2001). Luckner ist es auch darum zu tun, dass die Geste der Eigentlichkeit und Entschlossenheit nicht existenzialistisch missverstanden werden darf (aaO.: 155 f.). Dies gilt A

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gängig durch das (gesellschaftliche) Ganze bestimmten Identität ist ein zentrales Anliegen der Philosophie Adornos, ebenso etwa, sich dem Bann des Ersten, des Ursprungs und der Identität zu entreißen. 5 Im Zusammenhang meiner Arbeit ist dieser emanzipative Negationsbegriff in dem Maße weniger interessant, in welchem er Gefahr läuft, dualistisch zu bleiben, also entweder dialektisch nicht genügend reflektiert ist oder sich nicht in ein Verhältnis zu konstitutiver Negativität setzt. (1) Im Folgenden gilt es nun zunächst, einen dialektischen Negativitätsbegriff zu skizzieren und zu zeigen, wie dieser für Identitätskonzepte bedeutend wird. Hier sind Hegels Begriffe der bestimmten Negation und der Negation der Negation grundlegend, sie zeichnen den Rahmen vor, in welchem in der dialektischen Tradition, das heißt philosophisch im 19. Jh. und sozialwissenschaftlich im 20. Jh., Negativität und Identität aufeinander bezogen werden. Versucht man etwa, allgemeine Aussagen über Intentionen der Phänomenologie des Geistes zu machen, so lassen sich sowohl die spezifischen Potenziale als auch die sich aus diesen ergebenden Grenzen des Hegel’schen Negativitäts- bzw. Identitätsdenkens aufzeigen: So kann gesagt werden, Hegel habe die Vermittlung des Einzelnen mit dem Allgemeinen aufzeigen wollen, genauer den Weg des natürlichen Bewusstseins, das zum wahren Wissen dringt (von der sinnlichen Gewissheit bis zum absoluten Bewusstsein). Ebenso zutreffend ist es, im Rahmen der Phänomenologie von einem Trieb des Selbstbewusstseins zu sprechen, mit sich selbst identisch zu werden oder von Negativität auszusagen, sie sei das Prinzip der Konstitution von Subjektivität und treibe zum Übergang von einer Phase zur nächsten. 6 In solchen Sätzen wird vor allem zweierlei deutlich: Ein dialektischer Negativitätsbegriff verfügt über die begrifflich konsistente Möglichkeit, die traschon deshalb, weil Entschlossenheit stets »vor dem Hintergrund der institutionalisierten Welt- und Sinnbezüge« stattfindet (aaO.: 157). Daher sei auch der Vorwurf des Heroismus ungerechtfertigt (ebd.). 5 Vgl. Beierwaltes 1980b, hier 273; vgl. Grenz 1974. 6 Hegel selbst spricht vom »Weg des natürlichen Bewußtseins, das zum wahren Wissen dringt«, vom »Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen als durch ihre Natur ihr vorgesteckter Stationen, durchwandert, daß sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntnis desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist« (Hegel, Phänomenologie des Geistes: 72). Den Prozesscharakter der Negativität in der Phänomenologie des Geistes rekonstruieren zum Beispiel Bonsiepen 1977: 127 ff. und Marotzki 1984: 106 ff.

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ditionelle (philosophische und theologische) Figur des Aufstiegs, des Wegs, der Läuterung, der Stadien usw. als eine Entwicklungstheorie der Subjektivität zu reformulieren, deren Kern und bewegendes Moment Negativität ist. Damit werden auch verschiedene Aspekte der Identitätsbildung beschreibbar: Konstitution von Subjektivität erscheint in diesem Kontext als dialektischer Prozess, als aufeinander aufbauende Folge von Negationen. 7 Gleichzeitig werden an den genannten Sätzen aber auch Probleme sichtbar, die unmittelbar mit dem Erklärungsanspruch der Entwicklungstheorie zusammenhängen, so etwa der teleologische Charakter von Identitätsbildung oder die Totalität des Wirklichkeitsmodells, beides Attribute einer geschlossenen und in diesem Sinne gerade nicht negativen Philosophie. Zunächst zu den von Hegel eröffneten identitätstheoretischen Möglichkeiten. Diese lassen sich (besser noch als an dem allgemeinen Prinzip der Dialektik von Subjektivität aus der Phänomenologie) in Anlehnung an eine Rekonstruktion Dieter Henrichs an Formen der Negation in Hegels Logik aufzeigen. 8 Eine der von Henrich herausgearbeiteten Formen der Negation stellt einen spezifischen Seinsbegriff dar, das beziehungslose Fürsichsein. 9 Dieses entsteht, wenn in einer ersten Negation das (beliebig) Andere von etwas negiert wird und in einer zweiten (nicht selbstbezüglichen) Negation dann diese erste Negation (die ja lediglich einen anderen Begriff von Beziehung und Bezogensein darstellt) ihrerseits negiert wird, sodass Sein sich beziehungslos affirmieren kann. Obwohl hier anders als im Kontext der Aussagelogik das Ergebnis der doppelten Negation gewissermaßen mehr umfasst als das Etwas vor dessen (erstem) Negiertwerden, treten jene neuen Möglichkeiten, welche ein dialektischer Negativitätsbegriff für Identitätstheorien bereithält, erst in einer zweiten Bedeutung von Negativität als doppelter Negation zu Tage: 10 Bei dieser zweiten Form der Negation handelt es sich um ein Negieren, das von vornherein streng selbstbezüglich ist, das heißt die aufbrechende Differenz wird mit Selbstsein vermittelt, sie geht in Selbstsein ein (dies geschieht durch die zweite Negation). Die erste (schon selbstbezügliche) Negation entdeckt bzw. etabliert eine Differenz, ein Anderssein Dies erklärt auch das Interesse einer Grundlagentheorie der Pädagogik an Hegels Negativitätsdenken. Hier geht es um die strukturelle Grundlegung subjektiver Bildungsprozesse (vgl. Marotzki 1984). 8 Vgl. Henrich 1974. 9 Vgl. aaO.: 246 ff. 10 AaO.: 249 ff. 7

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in sich selbst, sodass eine innere Spaltung, ein Zugleich von Diesersein und Der-Andere-sein entsteht. Etwas ist das Andere von einem bestimmten Anderen, und insofern es sich durch seine Selbstbeziehung zu jenem Anderen von einem bestimmten Anderen macht, kann man sagen, dass es sich entzweit. 11 Die zweite Negation, die sich auf diese erste Negation innerhalb des Selbstseins bezieht, hebt dann diese gegenseitige Ausschließung auf, indem sie die Einheit beider behauptet. Insofern nämlich die beiden Anderen in ihrer Andersheit gerade in der Selbstbeziehung Bestand haben, zerstört die Differenz nicht die Selbstbeziehung. Vielmehr können die beiden Anderen in der Differenz als Eines gelten, die Differenz wird in der zweiten Negation in Einheit aufgehoben, freilich in eine Einheit, die ihr Spezifisches gerade in ihrer inneren Andersheit hat. 12 Identitätstheoretisch ist dieses Modell doppelter Negation insofern interessant, als es dialektische Prozesse der Selbstwerdung vorzeichnet. Es lebt nicht von einfacher Negation, sondern geht aus von der Erfahrung des Nicht-Selbstseins, das heißt von der Erfahrung des Negiertwerdens, nicht, wie im Emanzipationsmodell, von der Erfahrung des aktiven Negierens. Das Negiertwerden kann etwa darin bestehen, dass sich Identität jeweils schon als entzweite vorfindet. Kierkegaard lehnt sich an ein solches Modell dialektischer Negativität an, wenn er menschliches Sein so denkt, dass dieses in sich entzweit ist (in Endlichkeit und Unendlichkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit) und in dieser Entzweiung um sein Sein ringt. 13 Anders als im Kontext der scheinbar selbstverständlichen Bewegung des natürlichen Bewusstseins zum wahren Wissen in der Phänomenologie des Geistes ist der Einzelne bei Kierkegaard nicht selbst in der Lage, die Differenz in eine Einheit aufzuheben. Vor allem ist zur zweiten (erlösenden) Negation nicht das reine Denken befähigt, sondern erst der existenzielle Akt der Begründung in Gott. 14 Neben der Figur der Entzweiung lassen sich noch andere Bedeutungen des Negiertwerdens AaO.: 251. AaO.: 252. 13 Vgl. etwa Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode: 8: »Der Mensch ist eine Synthesis […] Eine Synthesis ist ein Verhältnis zwischen Zweien. Auf die Art betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst. In dem Verhältnis zwischen Zweien ist das Verhältnis das Dritte als negative Einheit«. 14 So kann Kierkegaard etwa formulieren: »Erst, wenn ein Selbst als dies bestimmte einzelne sich bewußt ist, da zu sein für Gott, erst dann ist es das unendliche Selbst« (Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode: 79). 11 12

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(der ersten Negation) ausmachen, etwa verschiedene Erfahrungen der Alterität. Das Fremde, nicht zur Identität Gehörende, kann einen auf eine Weise betreffen bzw. kann als ein solches Widerfahrnis fungieren, dass man sich auf identitätsrelevante Weise zu diesem Anderen verhalten muss. Beispiele bieten die oben behandelten Identitätstheorien. So lässt sich auch Ricœurs Konzept der Konstitution von Identität durch Alterität auf der Figur der doppelten Negation abbilden: Der Anspruch des Anderen bedeutet dabei insofern eine erste Negation, als er eine Verpflichtung ist, ein nicht selbstmächtiges Bestimmtwerden. In diesem negierenden Sinne ist das Selbst dann ein Anderer (um Ricœurs formelhaften Buchtitel zu zitieren). Mit dem vollen Sinn der alteritätsvermittelten Identitätskonstitution wandelt sich schließlich aber auch der Sinn der Aussage, dass das Selbst ein Anderer ist. Man könnte davon sprechen, dass der Gegensatz, den das Selbstsein und das Sich-bestimmen-Lassen bilden, in dem Maße negiert wird, in welchem beide in Ipseität (in Selbstheit) aufgehoben werden, in welchem also (psychologisch verstanden) durch die Integration des Anderen eine noch unrealisierte Möglichkeit von Identität allererst realisiert wird. 15 Die skizzierte Figur der doppelten Negation findet sich (als ein wohl nur selten reflektiertes Paradigma) auch in sozialpsychologischen Identitätstheorien, ja es scheint als hätten diese Ansätze des späten 19. Jhs. und der ersten Hälfte des 20. Jhs. den dialektischen Identitätsbegriff beerbt – zu einer Zeit, als Philosophen wie Heidegger und Wittgenstein schon einen ganz neuen Negativitätsbegriff entwickelten. Wenn etwa Erikson davon spricht, dass der Jugendliche in der Phase des Moratoriums zögert, eine ihm von der Gesellschaft angebotene Rolle anzunehmen, so geschieht dies deshalb, weil der Jugendliche fürchtet, sich selbst dabei zu verlieren, die Möglichkeit eines sozialen Seins erscheint ihm als ein Negiertwerden. Die Erfahrung freilich, dass er auch seine eigensten Veranlagungen und Begabungen erst im Kontext einer Aufgabe entwickeln kann, welche sich aus seiner (zum Beispiel berufsständischen) Stellung in einer Gemeinschaft ergibt, führt Erikson zufolge zur Realisierung einer nun erst möglich gewordenen Identität, welche sich (philosophisch formuliert) der Negation jener gegenseitigen Ausschließung und ihrer Aufhebung in die innere Andersheit einer Einheit verdankt. 16 In sol15 16

Vgl. Ricœur 1996: 202 ff. Vgl. Erikson 1981: 109 ff., 136 ff. A

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chen Konzepten zeigt sich durchaus eine Stärke dialektischer Negativität in Bezug auf Prozesse der Konstitution von Identität. Diese Stärke bewährt sich besonders im Kontext der Aufgabe, Leiden zu lindern. Beispiele sind hier sowohl Eriksons therapeutischer Ansatz als auch Theunissens Verzweiflungstheorie. Welche Beschränkungen und Probleme führen andererseits solche Entwicklungsmodelle (und damit der dialektische Negativitätsbegriff) mit sich? Es lässt sich leicht zeigen, dass diese Probleme vor allem in der Abgeschlossenheit der Modelle liegen. Ihr teleologischer Charakter geht einher mit einer allzu großen Gewissheit darüber, worauf der Prozess jeweils hinauslaufen soll bzw. es fehlt die selbstkritische Reflexion dieser Gewissheit. Unhinterfragt bleibt so auch die (scheinbar von Natur aus geltende) Bewegung der Abschaffung des Widerspruchs und der Herstellung von Harmonie. Solche fehlende Reflexion verdeckt den Systemcharakter und damit die Totalität einer auf Identitätsbildungsprozesse bezogenen dialektischen Negativität. So kann sich eine ungute Nähe zu verflachten Wirklichkeitsmodellen ergeben, die im Sinne eines big picture die Möglichkeit einer wahren Repräsentation des Ganzen vertreten. In dieser Position aber liegt gewissermaßen als blinder Fleck, als nicht wahrgenommene Struktur, der eigene Modellcharakter, mehr noch, die prinzipielle Begrenztheit und Gebrochenheit von Erkenntnis überhaupt. Diese Struktur nicht zu sehen bedeutet aber blind zu sein für eine andere Form von Negativität, eine Negativität, die über dialektische Negativität hinausgeht, die ich als konstitutive Negativität bezeichnen möchte und die ihrerseits auch bedeutende praktisch philosophische Potenziale (etwa für die konkrete Lebenspraxis) bereithält. Die prinzipielle Beschränkung eines dialektischen Negativitätsbegriffs, so lässt sich zusammenfassend sagen, liegt darin, dass in seinem Kontext Negativität als inneres Prinzip einer Bewegung und Entwicklung verstanden wird (das sich zugleich auf das Ganze der Wirklichkeit ausdehnt) und auf diese Weise gerade nicht als ein menschliche Existenz und Erkenntnis umgreifendes Prinzip gedeutet werden kann. Dieses neue Verständnis von Negativität hat die Philosophie des 20. Jhs. herausgearbeitet. (2) Der Begriff einer konstitutiven Negativität sei im Folgenden kurz erläutert – ihr Sinn lässt sich exemplarisch an den Philosophien Heideggers, Merleau-Pontys, Wittgensteins und Adornos skizzieren. Schon Heideggers zentrale Entdeckung in Sein und Zeit qualifiziert 148

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Negativität als eine konstitutive (konstitutiv nämlich für alles unthematisch mitlaufende wie für alles explizite Verstehen): Der Sinn von Sein ist im Falle des Daseins, des Zeugs, der Dinge, des Lebendigen etc. nie derselbe. 17 Ist die dingontologische Vereinheitlichung des Sinns von Sein durch die Tradition als Versuch der Bemächtigung dieses Sinns (und als Verdeckung seiner prinzipiellen Entzogenheit) zu verstehen, 18 so gilt Heidegger umgekehrt der Aufweis der Pluralität der Bedeutungen von Sein schon deshalb als Nachweis ihrer prinzipiellen Entzogenheit, weil sich diese Pluralität der radikalen Verwiesenheit des Sinns von Sein an Praxis verdankt. Die Bedeutung konstitutiver Negativität liegt genau in dieser prinzipiellen Unverfügbarkeit: Dasein ist von Sein in seinen verschiedenen Bedeutungen abhängig, insofern Praxis (sei diese transzendental-anthropologisch oder gesellschaftlich konzipiert) dem Dasein vorgängig ist. MerleauPonty formuliert die Struktur konstitutiver Negativität einerseits mitunter noch eindeutiger als Heidegger, diese Eindeutigkeit verdankt sich andererseits aber einer Beschränkung auf wahrnehmungstheoretische Analysen. Als wichtigste Lehre aus Husserls Versuch einer radikalen phänomenologischen Reduktion bezeichnet es Merleau-Ponty, dass die vollständige Reduktion unmöglich ist. Ein alles Denken seinerseits noch umfassendes Denken kann es deshalb nicht geben, weil unsere Subjektivität stets gleichursprünglich mit Welt ist. 19 Eine solche Subjektivität entzieht sich der Konzeptualisierung, Merleau-Ponty will sie vor allem nicht als res cogitans und auch nicht als Bewusstsein beschreiben, sondern (in Anlehnung an Heideggers Begriffe des In-der-Welt-seins und der Lichtung als Offenheit) als unhintergehbar leiblich geprägtes ekstatisches Zur-Weltsein. 20 Negativität zeichnet diese Subjektivität konstitutiv aus, sie besteht in der prinzipiellen Unmöglichkeit ihrer Selbstbegründung, Selbstkonzeptualisierung und Selbstdurchsichtigkeit, also in einer inneren Schwäche und Passivität. Negativität besteht aber auch in der radikalen Abhängigkeit von Welt, in deren Unerschöpflichkeit, in der Unverfügbarkeit ihres Sinns, welcher wiederum in der Abhän-

Vgl. Heidegger, Sein und Zeit: 12 u. ö. (Dasein); 66 ff., 71 u. ö. (Zeug); 360 ff. u. ö. (Ding); 50, 194 u. ö. (Lebendiges, Natur). 18 Vgl. aaO.: 15 f., 22, 304. 19 Vgl. Merleau-Ponty 1966: 11 20 Zur Kritik an der res cogitans vgl. auch Merleau-Ponty 1986: 77. »Es gibt gar keine ›Subjektivität‹, kein ›Ego‹« (ebd.). Zum Begriff der Negativität vgl. auch aaO.: 78 f., 320. 17

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gigkeit dieses Sinns von (transzendental-anthropologisch konzipierter) Praxis liegt. Eine sprachkritische Formulierung konstitutiver Negativität geht auf Wittgenstein und seine Destruktion verdinglichender, unkritischer Ontologien zurück. Die Beschreibung einer Pluralität von Sprachspielen impliziert die prinzipielle Unmöglichkeit, sprechend über die Sprache hinauszukommen und so etwa Wirklichkeit als Ganzes zu repräsentierten. Sprachphilosophisch lassen sich allenfalls die Grenzen der (Bedeutungs-) Welt aufzeigen. Bedeutungen und Geltungen sind dem Subjekt radikal entzogen, sie sind subjektvorgängig, aber gleichzeitig auf eine Weise subjektkonstitutiv, dass Wittgenstein davon sprechen kann, das denkende und vorstellende Subjekt (als ein sprach- und weltunabhängiges Subjekt) existiere gar nicht. 21 Damit kann die Selbstdurchsichtigkeit von Subjektivität nicht weiter getrieben werden als bis zur Analyse einer Lebensform. Diese ist das Gegebene und Hinzunehmende, 22 weil sich der Vorgängigkeit einer Lebensform die Vorgängigkeit der Bedeutungen, der Geltungen, ja der Wahrheiten und Hoffnungen verdankt. 23 Dies gilt prinzipiell für alle Formen rationaler Begründung. Konstitutive Negativität bedeutet sprachphilosophisch die Unmöglichkeit jeder Selbstbegründung und in lebenspraktischer Hinsicht die Unmöglichkeit kontextunabhängiger Gewissheit. Mit Rentsch lässt sich hier auch von der Unableitbarkeit unserer Sinnentwürfe sprechen. 24 Schließlich gehört auch Adornos sprachphilosophische Kritik an den Identifizierungszwängen und den Hypostasierungen logischer Begriffe in die Figur konstitutiver Negativität. Wenn gerade die Identität des logischen Begriffs für seinen den Sachverhalt zur Identität zwingenden Charakter verantwortlich ist, dann gilt umgekehrt, dass die Negativität der Sprache in ihrer Kontextgebundenheit und ihrer 21 »Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht«, Wittgenstein, Tractatus: 5.631. Vgl. auch Rentsch 2000b, ders. 2000c, ders. 2003: 340 ff. 22 »Das Hinzunehmende, Gegebene – könnte man sagen – seien Lebensformen« (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen: S. 572, vgl. auch aaO.: § 23). 23 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen: § 241: »Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform«. »Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen« (Wittgenstein, Über Gewißheit: § 166). »Es gibt freilich Rechtfertigung; aber die Rechtfertigung hat ein Ende« (aaO.: § 192, vgl. Rentsch 2000c: 354). 24 Vgl. Rentsch 1999: 184.

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Vermitteltheit durch soziale Praxis besteht. 25 Dieser in der Philosophie des 20. Jhs. bedeutend gewordene Begriff konstitutiver Negativität ist nun nicht nur von theoretischem Interesse. Vielmehr birgt er bedeutende Potenziale für Fragen der praktischen Philosophie, etwa auch für die Frage nach negativer Identität. Diese Potenziale möchte ich im Zweiten Teil untersuchen. I.5.2. Von der Schwierigkeit, Identität negativ zu denken. Ein kritisches Zwischenergebnis Die Differenzierung des Negativitätsbegriffs in dialektische Negativität als wichtige Entdeckung der Philosophie des 19. Jhs. und in konstitutive Negativität als wichtige Entdeckung der Philosophie des 20. Jhs. soll im Folgenden als Instrument und Maßstab für eine kritische Bilanz der rekonstruierten Konzepte negativer Identität bei (1) Theunissen, (2) Ricœur und (3) Taylor dienen. Unter Rückgriff auf die Systematik des Identitätsbegriffs (vgl. I.1.) möchte ich dann (4) die Figur einer durch konstitutive Negativität bestimmten Identität skizzieren und an einem Beispiel erläutern. (1) Michael Theunissens Denken, soweit es im Rahmen dieser Untersuchung Beachtung finden konnte, ist stark von einem dialektischen Negativitätsbegriff geprägt. Dieser Umstand verdankt sich nicht nur der Konzentration auf die Existenzdialektik Kierkegaards und damit auf ein unmittelbar an Hegel anschließendes Denken. Ebenso stark wiegt der Versuch Theunissens, gewissermaßen denkend eine glückende Existenz zu entwerfen, eine Existenz vor allem, die durch das Vermögen zu vertrauen und zu hoffen ausgemacht wird. Dieser Versuch einer Lösung des Lebens (der problematischen und strukturell leidenden Existenz) korrespondiert mit den Konzepten zur Psychopathologie der Zeit: Hier wie dort geht es um Gesundheit, wenn Gesundheit (wie dies Theunissen intendiert) andauernde Abwehr von Verzweiflung meint. Diese Vorstellung von gelingendem Leben und Gesundheit steht keineswegs als unreflektiertes, wohl aber als ein sich selbst rechtfertigendes Ziel im Hintergrund des Denkens Zum Zusammenhang von Negativität und Sprache bei Adorno vgl. Rentsch 2000b: 281 f. sowie Grenz 1974: 132. Kritisch zum Versuch Adornos, selbst eine durch NichtIdentität geprägte Sprache und Denkform zu etablieren, vgl. Beierwaltes 1980: 311 ff.

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Theunissens, dieses ist insofern unreflektiert teleologisch. So sehr dies auf dem Gebiet der Psychopathologie bzw. des alltäglichen Leidens nachvollziehbar ist, so sehr besteht die Gefahr, eine solche Teleologie vorschnell auf Identität zu übertragen. Dadurch kann es dann zu einer einseitigen Konzentration auf dialektische Negativität kommen. Die spezifischen Verkürzungen und Probleme, die mit dem Begriff dialektischer Negativität einhergehen, übertragen sich auf diesem Wege auf die Konzeption von Identität. Umgekehrt: Für eine solche Konzeption bleiben einschlägige Potenziale, die sich für Identität aus einem konstitutiven Negativitätsbegriff ergeben, ungenutzt. Theunissens Methode selbst ist negativ; von defizientem Menschsein (als dem Negativen) ausgehend soll auf Positives (Abwehr von Verzweiflung) geschlossen werden. Dass defizientes Menschsein am Anfang steht, dies lässt sich historisch verstehen als Bedingung eines modernen Selbstverständnisses, es lässt sich aber auch existenzdialektisch verstehen als Ansatz bei einem NichtSelbstsein, das in Selbstsein überführt werden soll. Während auf dem Gebiet des Pathologischen das Negative ein sinnloses und vermeidbares Leiden bedeutet, ist das Nicht-Selbstsein als existenzdialektisches Stadium nicht unbedingt mit akuter und bewusster Verzweiflung verbunden. Dass es sich gleichwohl um ein Negatives handelt, ja dass es sich um die Negation von etwas handelt, dies kann nur im Rahmen einer bestimmten Teleologie, im Rahmen dialektischer Negativität ausgesagt werden. Hier gilt: Der Prozess der Selbstwerdung beginnt mit einem spezifischen Negiertwerden, also mit Verzweiflung. Wird aber gefragt, was es eigentlich ist, das in diesem Ausgangszustand negiert wird, dann steht keineswegs eine verdinglichte und in diesem Sinne positive Instanz (etwa eine Art vitales oder biologisches Selbst) im Blick, wohl aber bezieht das Negierte Gestalt aus einer bestimmten Teleologie: Negiert (und damit verhindert) wird die eine Möglichkeit, die (nur) im Menschsein liegt, negiert wird die Möglichkeit, ein Selbst zu haben, wie Kierkegaard dies ausdrückt bzw. (identitätstheoretisch formuliert) die Möglichkeit, eine besondere Form von Identität auszubilden, eine Identität, welche sich der vollen Übernahme der Kontingenz wie der Freiheit, der Anstrengung der Vermittlungsarbeit wie der vollen Verantwortung verdankt. In Kategorien dialektischer Negativität formuliert: Die erste Negation im Prozess der Herausbildung von Identität, wie sie Theunissen beschreibt, besteht darin, dass die spontan aufsteigende Verzweiflung (bzw. die Herrschaft der Zeit) eben diesen Prozess der 152

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Herausbildung von Identität verhindert. Damit wird eine Möglichkeit verhindert, die von sich selbst her sein soll, die Möglichkeit des Zusammenhalts der Syntheseelemente (Endlichkeit, Unendlichkeit) bzw. der Freiheit von der Herrschaft der Zeit. Die zweite Negation besteht dann darin, dass jene Bedingungen, die den Identitätsbildungsprozess verhindern, negiert werden. Doch dies ist zumindest im Kontext der Rekonstruktion Kierkegaards nicht dualistisch (als simple positive Alternative), sondern streng dialektisch gemeint: In der zweiten Negation soll es ja gerade zur Übernahme, zur Integration jener Elemente kommen, die isoliert und unvermittelt eine Verzweiflung bedingende Macht entwickeln, zur Übernahme von radikaler Kontingenz und radikaler Freiheit, existenzdialektisch formuliert zur Übernahme von Gesetztsein. Die Negation der Negation ist also durchaus selbstbezüglich; indem sie Verzweiflung negiert, behauptet sie die Möglichkeit der Einheit der Gegensätze in der existenziellen Vermittlung. Dieser dialektische Prozess der Selbstwerdung stellt bei Kierkegaard in dem Maße eine Alternative zu verflachten Formen der Selbstbegründung und Selbsterhaltung dar, in welchem der Antrieb und damit die innere Negativität des Prozesses nicht immanent (etwa psychologisch), sondern transzendent, nämlich letztlich als Glauben, als Bewegung des Sichgründens in Gott gedacht wird, als eine Bewegung, die ihre Kraft aus ihrem Ziel bezieht. Doch schon bei Kierkegaard und mehr noch bei Theunissens rein phänomenologischer Rekonstruktion nimmt diese Bewegung auch den Charakter einer spezifischen Leistung an und rückt damit in die Nähe der Figur der Selbstbegründung: Das existierende Zusammenhalten der Syntheseelemente bedeutet wesentlich Anstrengung, nicht im Sinne von Leiden, sondern im Sinne von Aktivität. 26 Und diese Aktivität begründet zumindest insofern das Selbst, als sie notwendige Bedingung für jenes ist, was darüber hinaus als Element der Widerfahrnis, als Gelingen, als Freiheit von Verzweiflung oder als durchsichtiges Sichgründen in der setzenden Macht gedacht wird. Dass einerseits die Anstrengung spezifischer Existenz als notwendige Bedingung für geGleich zu Beginn der Verzweiflungsanalyse gibt Kierkegaard das Ziel der Existenzdialektik vor: »Folgendes ist nämlich die Formel, welche den Zustand des Selbsts beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz und gar ausgetilgt ist: indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat« (Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode: 10).

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lingendes Selbstsein, dass die Anstrengung als selbst zu schaffende Voraussetzung für Anstrengungslosigkeit erscheint und dass andererseits die Steigerung der Identität zugleich auch eine Steigerung der Selbstdurchsichtigkeit bedeutet, diese Elemente der Existenzdialektik wie ihrer phänomenologischen Rekonstruktion kommen der Figur der Selbstbegründung näher, als dies notwendig ist. Die einseitige Konzentration auf dialektische Negativität verdeckt Potenziale, welche der Identitätstheorie von Seiten eines konstitutiven Negativitätsbegriffs bereitgestellt werden können. Nun kennt Theunissen im Rahmen seiner denkerischen Arbeit neben dem aktiv betriebenen dialektischen Prozess durchaus auch passive Bewegungen der Existenz, die ich oben als Verlust von Selbstbestimmung, als Aussetzen aller Modelle, als radikale Unbestimmtheit oder als passives Ausgemachtwerden bezeichnet habe (vgl. I.2.4.). Mit diesen Strukturen beschreibt Theunissen Facetten einer umfassenden oder konstitutiven Negativität, hier ist sein Denken radikaler. Als problematisch erscheint dabei freilich, dass diese Strukturen stets auf dialektische Identitätsbildungsprozesse bezogen bleiben: Unbestimmtheit fungiert etwa als existenzdialektisches Moment, wenn das verzweifelte Selbstseinwollen, die Selbstdefinition über hypothetische Selbstbilder, ausgesetzt wird. Oder Unbestimmtheit bedeutet ein passives lebenslanges Sichempfangen, nämlich als Zeitgestalt der nicht verzweifelten Existenz. Diese Einbindung konstitutiver Negativität in den dialektischen Schematismus führt aber vor allem dazu, dass Phänomene wie Unbestimmtheit oder Offensein für den Anspruch der Anderen zu hoch angesetzt werden – sie erscheinen gerade als nicht alltäglich, als Ausnahmephänomene, sie erscheinen (stadientheoretisch vereinnahmt) als höchste Existenzstadien und daher gewissermaßen auch als Frucht einer Arbeit. Innerhalb des dialektischen Schemas sind Phänomene des Negativen einerseits im ontischen Sinne negativ (Verzweiflung, Angst) – zwar handelt es sich hier um etwas Allgemeines, jeden Menschen Betreffendes, doch es bleibt die Auszeichnung des Besonderen, des Dramatischen. Und andererseits stehen Phänomene des Negativen (durchaus im Sinne konstitutiver Negativität) am Ende des Identitätsbildungsprozesses, nämlich als höchste Existenzformen, als radikales Vertrauen (Glauben), als radikales Offensein für den Anderen (Liebe) und als (man ist versucht zu sagen:) Fähigkeit, darauf zu vertrauen, dass auch das Unmögliche möglich ist (Hoffnung). Hier ergibt sich wieder jene merkwürdige Ambivalenz, die wohl charakteris154

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tisch für Theunissens Denken ist: Theunissen erreicht ernste und wesentliche Aspekte der Existenz, doch sie zu erreichen bedeutet genau dann sie gleichzeitig zu entfernen, wenn die Phänomene mit den Mitteln eines dialektischen Schemas reformuliert und dabei diesem einverleibt werden. Die Phänomene erscheinen als ferne Ziele und zugleich als gewissermaßen zu gut verstanden. Auch das Zuviel des Verstehens lässt sich darauf zurückführen, dass Theunissen in den Bahnen dialektischer Negativität denkt. Die philosophischen Entdeckungen des 20. Jhs. wesentlich als die Entdeckung konstitutiver Negativität zu beschreiben bedeutet umgekehrt auch die (von Theunissen trotz seiner Korrekturen an Kierkegaard 27 zu wenig wahrgenommene) Möglichkeit, Lebenspraxis auf sehr alltäglicher und basaler Ebene auf Negativität zu beziehen. Die dadurch zugänglichen Phänomene sind zugleich näher und, weil Negativität konstitutiv in sie eingeht, frei von der Gefahr, überbestimmt zu sein. (2) Auch in Paul Ricœurs Denken findet sich die Gefahr des Zuvielverstehens, nämlich im Zusammenhang mit der Hoffnung, die Ricœur auf das Narrative setzt. Narrative Identität wird dem zeitgenössischen Negativitätsdenken aber wohl nur gerecht, wenn die Spur oder der Sinn der Lebensgestalt und ihrer Erzählung stets auf einen radikal entzogenen Grund bezogen bleiben, wenn das Verstehen in Nichtverstehen gründet. Der Kern des Ricœur’schen Konzepts einer Konstitution von Identität durch Alterität folgt zwar dialektischer Negativität, besitzt aber auch eine gewisse Verwandtschaft zur Figur konstitutiver, umgreifender Negativität. Dass Ricœur diese DifferenTheunissens Arbeit Der Begriff Verzweiflung trägt den starken und vielleicht gar provokanten Untertitel Korrekturen an Kierkegaard (vgl. Theunissen 1993). Tatsächlich formuliert Theunissen grundsätzliche Kritik und korrigiert Kierkegaard auch insofern, als er etwa das Phänomen Verzweiflung gegen Verkürzungen verteidigt, die auf die Einordnung ins dialektische Schema zurückzuführen sind: Zu Verzweiflung, so Theunissen, gehöre noch viel mehr, als die Existenzdialektik erfasse, umgekehrt gehe diesem Schema »manches ins Netz, was, näher betrachtet, keine Verzweiflung ist« (aaO.: 59). Doch Theunissens Korrekturen an Kierkegaard bleiben immanent, indem sie gewissermaßen die Sache, um die es Kierkegaard geht, auf dessen eigenem Weg besser, das heißt sowohl phänomenologisch durchsichtiger als auch historisch kenntnisreicher verstehen können als Kierkegaard selbst. Zwar wird Theunissen auf diese Weise hermeneutisch sowohl Kierkegaard als auch der Sache maximal gerecht – doch vom Standpunkt des zeitgenössischen Negativitätsdenkens und im Interesse praktisch philosophischer Fragen könnte die Kritik der Existenzdialektik grundsätzlicher und wohl auch fruchtbarer ausfallen.

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zierung selbst nicht genug sieht und thematisiert, ist wohl seiner philosophischen Herkunft aus Personalismus und Dialogik geschuldet; anders als Merleau-Ponty entwickelt Ricœur nicht etwa die Tradition der fundamentalontologischen Verdinglichungskritik weiter. Die allzu existenzielle Interpretation der Negativität, derzufolge Negativität vor allem Bestimmtheit durch Alterität bedeutet, führt nicht nur zu einer einseitigen Betonung der Alterität der 2. Person, sie verdeckt vor allem die Bedeutung konstitutiver Negativität für Identität und für die Lebenspraxis negativer Identität. Dass das Selbst bei Ricœur durchaus in einem konstitutiven Sinn von Negativität betroffen ist, zeigt sich schon früh an dessen Nichtkontinuität, an jenem (von Parfit nur als formale Struktur übernommenen 28 ) Aussetzen jener Größen (zum Beispiel Eigenschaften, Habitualitäten), die gemeinhin Identität garantieren. Im Sinne des zeitgenössischen Negativitätsdenkens ist die Figur der alteritätsvermittelten Identitätskonstitution gerade da fruchtbar, wo das Fremde als das prinzipiell Unverstandene und Unbestimmbare oder (weniger dramatisch, aber ebenso radikal) als das nicht überkontextuell Begründbare in Identität eingeht: Die Konstitution des Selbst ist diesem uneinholbar entzogen, weil sie auf subjektvorgängige Größen zurückgeht, etwa auf Sprache, auf Natur oder auf Intersubjektivität. Negativität tritt auf in Gestalt einer spezifischen Unmöglichkeit, das Selbst ohne Vermittlung auszusagen, zu denken oder dem stets möglichen Zweifel zu entziehen. Erst in einer hermeneutisch-narrativen Einstellung, also vermittelt über Phänomene wie Bezeugung oder Lebensgestalt ist das Selbst sich selbst überhaupt zugänglich, dabei bleibt es stets fragil und prinzipiell unverständlich. Negativität qua Bestimmtsein durch Alterität folgt zunächst dialektischer Negativität (ohne in ihr aufzugehen) und ist für die Sache negativer Identität besonders in der Figur der Aneignung, der Integration interessant. Ricœur selbst macht diesen Zusammenhang nicht explizit, sein Denken eröffnet gleichwohl die Möglichkeit zur Rekonstruktion dieser Bewegung. Das Selbst kann sich zu dem Anderen so in ein Verhältnis setzen, dass es das Andere ist. Bei jenem Anderen, das für das Selbst bestimmend wird, muss es sich nicht in erster Linie um den (in seiner Formelhaftigkeit allzu fraglos erscheinenden) Anspruch des Anderen handeln. Ricœurs Identitätstheorie Vgl. Ricœur 1996: 161 ff., 204 (Ricœur verwendet hier den deutschen Terminus Ichlosigkeit).

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verliert eher an Tragweite, wenn sie vorschnell auf das Programm Lévinas’ festgelegt wird – freilich neigt Ricœur selbst mitunter zu dieser Verengung. In der Auseinandersetzung mit dem ihm entzogenen Grund eignet sich das Selbst diesen als einen gleichwohl stets fremd Bleibenden an, es wird sich dieses Grundes als eines Fremden bewusst, das nicht konzeptualisierbar (und daher stets das Fremde bleibend) ist, lebenspraktisch aber gleichwohl sehr deutlich sein kann. Im Sinne dialektischer Negativität kann diese Integration als Negation der Negation verstanden werden: Für Identität qua Selbstheit (Ipse-Identität) ist die Bestreitung (zweite Negation) der inneren Differenz (erste Negation) dieser Einheit konstitutiv. Doch anders als im Kontext der phänomenologisch angelegten Existenzdialektik Theunissens wird hier eine Existenzbewegung aufgezeigt, die keineswegs in dialektischer Negativität aufgeht. Weder nämlich ist diese Bewegung teleologisch (ein Ziel ist nicht a priori bekannt und die Bewegung ist nicht durch das Ziel definiert), noch kommt etwa das Negierte in irgendeinem höheren Sinn zu sich selbst – die Bewegung bleibt eine Möglichkeit der Lebenspraxis. Den Grund für diesen Unterschied zwischen Theunissens und Ricœurs negativen Identitätstheorien sehe ich darin, dass in diese in stärkerem Maße als in jene die systematische Figur der umgreifenden oder konstitutiven Negativität Eingang gefunden hat. Von Ricœurs Denken her, welches dies nicht eigens reflektiert, lässt sich daneben noch das lebenspraktische Potenzial einer anderen Form von Negativität (konstitutiver Negativität) aufzeigen. Ich habe dieses orientierende Potenzial oben als die konsequente Negation jeder über ein Wirklichkeitsmodell vermittelten Selbstkonzeption beschrieben (I.3.3.). Lebenspraktisch tritt Negativität hier auf als Unmöglichkeit, dem Ganzen der Wirklichkeit Herr zu werden, als radikaler Ausschluss auch der Gewissheit der eigenen Rolle im Ganzen. Eine solche Negation von (scheinhafter) Identität und Sinn befreit von der Last eines Autonomiezwangs, sie befreit (und kann dadurch orientierend wirken) zu einer (durch die Bewegung des Entwurfs erst vermittelten) Einkehr in die Endlichkeit und Kontingenz der konkreten Situation. Anders als bei Theunissen ergibt sich diese Möglichkeit wieder nicht im Kontext einer Existenzdialektik, sie ist also auch nicht im Sinne eines Existenzstadiums zu verstehen, sie hat nicht das Durchlaufen anderer dialektischer Stadien zu ihrer Voraussetzung. Vielmehr ergibt sich das radikale Aussetzen der modellhaften Selbstkonzepte als unmittelbare praktische (undramatische und alltägliche) A

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Konsequenz aus der Entdeckung konstitutiver Negativität, aus der Entdeckung der prinzipiellen Entzogenheit des Selbst. (3) In Charles Taylors früher Philosophie, besonders in seinem intrasubjektiven Ansatz, ist das praktisch-philosophische Potenzial konstitutiver Negativität zunächst noch nicht entdeckt. Vielmehr führt die introspektive und volitionale Tradition, der Taylor folgt, zum Schein einer internen Gewissheit und eines internen Normativismus. In diesem Kontext kann sich Identität gerade nicht als negative Identität qualifizieren. Nicht zuletzt ist es auch der Ansatz beim (je eigenen) isolierten Subjekt, der zunächst die Entdeckung einer Struktur wie zum Beispiel der apriorischen Kommunikativität verhindert. Eine solche Struktur (etwa apriorische Kommunikativität) zu beschreiben würde aber bedeuten, eine Facette konstitutiver Negativität zu beschreiben. Auf dem Weg des Denkens Taylors kommt es gleichwohl zu einer Wende, die gerade für die Herausarbeitung jenes Potenzials von großer Bedeutung ist, welches konstitutive Negativität für praktische Philosophie und für Lebenspraxis bereithält (freilich wird diese Wende nicht eigens reflektiert, vor allem nicht in Begriffen des Negativitätsdiskurses). So weist Taylor etwa die Vorgängigkeit sprachlicher Bedeutungen auf, er verfolgt erkenntnistheoretisch (kritisch gegen die Repräsentationstheorie) einen transzendental-anthropologischen Ansatz (in der Nachfolge Wittgensteins und Merleau-Pontys), schließlich untersucht er ausführlich die Vorgängigkeit moralischer Bedeutungen. Mit diesen Schritten verabschiedet Taylor endgültig jedes Konzept eines sich selbst durchsichtigen Subjekts, eines untersten Grundes der Gewissheit sowie der kontextfreien Geltung moralischer Prioritätsregeln. Moralische Güter, ihre subjektunabhängige, vorgängige Geltung, aber auch ihre identitätstheoretische Bedeutung, sie werden zum Zentrum des Taylor’schen Ansatzes. Mit diesem Thema nun beschreibt Taylor durchaus eine Facette konstitutiver Negativität, auch wenn Taylors philosophische Sprache, sein oft kulturkritischer Impetus, mitunter auch die Wahl seiner Beispiele dazu führen können, seinen Ansatz als Teil einer anderen, dem Negativitätsdiskurs vermeintlich fremden philosophischen Tradition wahrzunehmen. Doch der Grundgedanke der jüngeren Philosophie Taylors, nämlich dass jene subjekt-vorgängigen (moralischen) Geltungen allererst der Wahrnehmungswelt den Bedeutungshorizont verleihen und dass der ontologische Status der moralischen Güter in ihrer Kulturalität besteht, dieser Grundgedanke gehört in jene Ent158

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deckung der Philosophie des 20. Jhs., in die Entdeckung konstitutiver Negativität. Es lässt sich aber noch genauer sagen, weshalb Taylor als herausragender Denker negativer Identität bezeichnet werden muss. Es geht darum, dass Taylor konstitutive Negativität eigens im Kontext praktischer Philosophie konzipiert, dass er es nicht beim Aufweis von Unbestimmtheit, Entzogenheit usw. belässt, sondern dass er konstitutive Negativität (mindestens in wichtigen Ansätzen) speziell auch identitätstheoretisch untersucht. Was heißt es, dass konstitutive Negativität Eingang findet in Identität? In einem ersten (schwachen) Sinn bedeutet dies, sich etwa als ein unhintergehbar kulturelles Wesen verstehen zu lernen, ein Wesen, für das bestimmte moralische Bedeutungen je schon in Geltung sind, Geltungen, die es weder aus sich selbst heraus noch in einer formalen, logischen und absoluten Weise begründen kann. Ein stärkerer Sinn jener Bedeutung, die konstitutive Negativität für Identität hat, ergibt sich im konsequenten Zuendedenken einer phänomenologischen Handlungstheorie (die hier zu ihrem späten Recht kommt). Das starke Werten, so heißt es bei Taylor, gehört notwendig zum vollen Begriff einer menschlichen Handlung, will man diesen Begriff nicht unangemessen idealisierend oder naturalisierend interpretieren. Indem sich das Handeln im Sinne einer Bindung an moralischen Gütern ausrichtet, artikuliert es (moralische) Identität. Doch die Geltung dieser Güter ist dem Subjekt wesentlich entzogen, sie kann weder subjektivistisch noch objektivistisch konstruiert werden. Deshalb können wir nicht umhin, Verantwortung für unser Handeln gerade vor dem Hintergrund eines unabgeschlossenen (und unabschließbaren) Begründens zu übernehmen – und in dieser Struktur wird konstitutive Negativität bedeutend für Identität. Mit Taylor bzw. im Ausgang von seiner negativen Identitätstheorie kann man davon sprechen, dass wir handelnd Identität artikulieren, dass es sich dabei aber wesentlich um eine negative Identität handelt, insofern wir handelnd Geltungen artikulieren, die für uns sowohl unverfügbar (unableitbar, entzogen) sind und die uns zugleich zuinnerst ausmachen. 29 Wie konstitutive Negativität in Identitätsbildung eingeht, wie also Negativität für eine Frage praktischer Philosophie relevant wird, Bei dieser Identität handelt es sich aber nicht nur um eine kollektive: Die Identitätsartikulation bezieht sich zwar auf kulturell geltende Werte, doch individuell verschieden ist gewissermaßen die Übersetzung dieser Güter in konkrete Entsprechungen.

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dies beschreibt Taylor auch noch auf eine ganz andere Weise, nämlich im Rahmen seiner Kulturkritik. In diesem Kontext setzt Taylor konstruktivistische oder auch naturalistische Identitätskonzeptionen (also gewissermaßen das Gegenteil negativer Identität) mit problematischen kulturellen Phänomenen gleich, etwa mit einer Kultur negativer Freiheit oder mit der subjektivistischen oder naturalistischen Geltungskonzeption von Sinn. So erlangt die Frage, wie Sinnentwürfe interpretiert und als was sie verstanden werden, unmittelbar Bedeutung für das Selbstverständnis einer Kultur. Taylor argumentiert für das Bewusstsein radikaler Kulturalität, für die Verabschiedung des modernen Traums von der durchsichtigen (Selbst-) Begründung. Im Hintergrund steht dabei die kulturkritische Vermutung, dass die Umdeutung moralischer Güter in private oder in von Natur aus bzw. in einem absoluten Sinn geltende Werte jene spezifische Fragilität (und Negativität) moralischer Güter verdeckt und damit diese Güter gefährdet. Negativität geht mithin so in kulturelle Identität ein, dass diese überhaupt erst als eine solche, als unableitbarer Sinnentwurf oder als unverfügbare, aber in ihrer Angewiesenheit auf adäquate Artikulation fragile Geltung erscheint. In diesem Sinn hängt die Negativität (Endlichkeit, Fragilität; Unableitbarkeit, Entzogenheit) eng mit der Möglichkeit einer Verlebendigung kultureller Quellen und damit auch mit Identitätsbildungsprozessen zusammen. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen dialektischer und konstitutiver Negativität lässt sich sagen, dass Taylors Ansatz (sowohl handlungstheoretisch als auch kulturkritisch) eine Möglichkeit bietet, die Bewegung der Herausbildung von Identität wesentlich anders als dialektisch und damit auch auf der systematischen Problemhöhe der Philosophie des 20. Jhs. zu beschreiben. (4) Zu Beginn der Untersuchung stand die doppelte Frage, wie Identität heute einerseits philosophisch befriedigend und andererseits so gedacht werden kann, dass die praktische Relevanz der Identitätsfrage zum Tragen kommt (und nicht etwa der Strenge einer Philosophie zum Opfer fällt, welche den praktischen Anteil des Identitätsdiskurses der Sozialwissenschaft überlässt, vgl. I.1.). Die Kapitel des ersten Teils bieten eine Antwort auf die erste (und teilweise auch schon auf die zweite) Frage: Identität negativ, das heißt in ihrer Konstitution durch subjektvorgängige Größen und in ihrer radikalen Entzogenheit zu denken, kann als Versuch verstanden werden, den modernen Topos der Selbstbegründung und der Selbsterhaltung zu unterlaufen, 160

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einen Topos, der sich einer fundamentalkritischen Lesart als eine Gemeinsamkeit modernen Subjektsdenkens und zugleich klassischer Kritik modernen Subjektsdenkens präsentiert. In der Philosophie des 20. Jhs. ist der Begriff und gewissermaßen das Projekt der Identität (parallel zum steigenden Interesse der Sozialwissenschaft am Thema Identität) zunehmend kritisch gesehen worden. Adorno oder Foucault stehen für diese Gewissheit, das Projekt der Identität verabschieden zu müssen. Doch in der intendierten Befreiungsbewegung bleiben solche Philosophien negativ auf einen bestimmten Identitätsbegriff bezogen, der damit festgeschrieben und (zu Unrecht) als alternativelos definiert wird: Das Denken der Nichtidentität setzt Identität stets gleich mit verflachten Formen einer teleologischen und auf dialektische Negativität bezogenen Identität. 30 Doch eine solche Gleichsetzung (und diese These ergibt sich aus meinen Untersuchungen) übersieht ein entscheidendes Potenzial einer Identität, die in einem tiefen Sinn auf Negativität bezogen ist. Negativität kann auch als selbst nicht mehr dialektisch in einen auf Vermittlung ausgelegten Identitätsbegriff eingehen: Dies ist dann möglich, wenn Herausbildung von Identität stets auch Verhalten zu bzw. Integration von konstitutiver Negativität (prinzipielle Unbestimmbarkeit, radikale Entzogenheit) bedeutet. Dies sei im Folgenden systematisch und exemplarisch erläutert. Zunächst soll der gewonnene Begriff negativer Identität kurz vor dem Hintergrund der verschiedenen Identitätsbegriffe sowie der verschiedenen Begriffe von Negativität verortet werden. Jene spezifische Bedeutung von Identität, die sich dabei ergibt, lässt sich dann an einem Beispiel veranschaulichen. Innerhalb der Systematik der verschiedenen Identitätsbegriffe ist besonders jene Gruppe offen für eine Bestimmung in Richtung Negativität, die Identität als vermittelte Relation – als Relation einer internen Instanz zu sich selbst, vermittelt durch eine externe Instanz – versteht. Die Identitätskonzepte der untersuchten Philosophien bewegen sich denn auch im weiteren Umkreis einer Identität als vermittelter Relation. 31 Interessant an diesem Identitätsmodell ist geraSo verurteilt Adorno scharf den modernen Personbegriff. Das Charisma der Person sei »erborgt von der Unwiderstehlichkeit des Allgemeinen, während sie, irre geworden an dessen Legitimität, in der Not des Gedankens sich auf sich zurückzieht. Ihr Prinzip, das unerschütterlicher Einheit, wie es ihre Selbstheit ausmacht, wiederholt trotzig im Subjekt die Herrschaft« (Adorno, Negative Dialektik: 273). 31 Als externe Instanz, über die Identität vermittelt wird bzw. die es anzueignen gilt, kann bei Theunissen das Gesetztsein (der kontingenten Faktizität und der Notwendig30

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de die Möglichkeit, die existenzielle Bewegung der Herausbildung von Identität mit dialektischer und besonders auch mit konstitutiver Negativität zu vermitteln. Dies geschieht so, dass konstitutive Negativität dem Prozess der Herausbildung von Identität radikale Bedingungen auferlegt (gemeint ist hier besonders der Ausschluss jeder scheinbaren Lösung über identifizierendes Denken, das heißt über ein Wirklichkeitsmodell). Der volle Begriff der negativen Identität lässt sich auch als konzeptionelle Aufgabe definieren: Es gilt Identität als vermittelte Relation zu denken – deshalb kann es (wie im Falle der Nichtidentität) kein Ausweichen in das Pathos der Destruktion geben, das seine Kraft ganz aus dem Destruierten gewinnt. Und es gilt dann, konstitutive Negativität zu ihrem Recht kommen zu lassen, deshalb kann es kein Ausweichen in identifizierendes Denken, etwa in ein Modell der gesamten Wirklichkeit geben. Im Folgenden sei die genannte Aufgabe, die sich wesentlich durch die ihr verschlossenen Scheinlösungen bestimmt, am Beispiel der Verzweiflung veranschaulicht. 32 Theunissen folgt Kierkegaard auf dem Weg einer rein dialektisch-negativen Bestimmung des Verzweifeltseins. Für diese Verzweiflung besteht die Möglichkeit ihrer Auflösung im (emphatischen) Selbstsein, also in der existenzdialektischen Herausbildung des Selbst. Ich möchte dagegen zeigen, wie Verzweifeltsein und seine mögliche Linderung in einem ganz anderen Licht erscheinen, wenn vor allem konstitutive Negativität für Identitätskonstitution bestimmend wird. Einige Aspekte einer Phänomenologie der Verzweiflung seien zunächst auf der Ebene des Commonsense zusammengestellt, anschließend lassen sich diese identitäts- und negativitätstheoretisch deuten. Verzweifelt zu sein heißt mehr als in spezifischer Weise gestimmt zu sein. Verzweiflung bedeutet vielmehr die Gewissheit, dass die Welt und dass man selbst als Teil dieser Welt so ist, dass man verzweifeln muss. Zu dieser Gewissheit gehört es auch, die Möglichkeit des Nichtverzweifeltseins, die sich etwa in der Wahrnehmung nicht verzweifelter Menschen oder in der Erinnerung an Momente, in denen man selbst nicht verzweifelt war, zeigt, im Lichte der Evidenz der Verzweiflung zu verstehen, nämlich als Irrtum und Illusion. keit von Freiheit) gelten, bei Ricœur das Fremde (Alterität) und bei Taylor die moralischen Güter in ihrer Kulturalität. 32 Das Thema Verzweiflung ist angeregt durch die tiefgründige Analyse Dieter Henrichs zu Glück und Not (vgl. Henrich 1975).

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Verzweiflung ist von welterschließendem Charakter. Gleiches mag für ihr Gegenteil, etwa euphorisches Glück, gelten. In wirklichem Glück ist die Wahrheit über die Welt eine ganz andere als im Zustand der Verzweiflung. Verzweiflung wie Glück sind Weisen der Erschlossenheit der Welt im Ganzen, 33 als solche sind sie von totalisierendem Charakter. Schon in dieser Totalisierungstendenz zeigt sich ein strikter Gegensatz zu konstitutiver Negativität, wenn auch zunächst unklar ist, wie diese jene überhaupt kritisieren, wie konstitutive Negativität die Geltung der totalisierenden Welterschließung bestreiten kann – Verzweiflung wie Glück sind Argumenten schließlich kaum zugänglich. Verzweiflung weist aber auch eine spezifische Bewegung auf: Sie kommt sozusagen aus der Welt (als deren vermeintlich wahres Gesicht) auf einen zu, sie stellt sich ein als Gewissheit, die immer klarere Gestalt annimmt, sie geriert sich als Macht. Dieser Status des Externen, Fremden lässt sich in den Begriffen des relationalen Identitätsbegriffs als jene äußere Instanz benennen, die das Selbstverhältnis vermittelt. Die Macht der Verzweiflung überführt uns zusammen mit allem anderen der Sinnlosigkeit und der Vergeblichkeit. Damit entscheidet sie auch darüber, was der Verzweifelte selbst ist, sie entscheidet über seine Identität. Wenn es in der konkreten Situation der Verzweiflung auch keinen rein denkerischen Ausweg geben mag, so lässt sich am Beispiel der Verzweiflung doch zeigen, wie ein von dialektischer Negativität geprägtes Denken das Problem behandeln wird und wie im Gegensatz dazu ein Denken vorgehen kann, das den Standpunkt konstitutiver Negativität vertritt. Dabei wird deutlich, wie dialektische und konstitutive Negativität auf sehr verschiedene Weisen für praktische Philosophie relevant werden. Ein dialektisch geprägtes Denken wird (und diesem Weg folgt Dieter Henrich in seiner Analyse) bei dem Moment der Selbstaffirmation der totalisierenden Erschlossenheitsweisen einsetzen. 34 Dieses Moment enthält eine Negation des jeweils anderen Standpunkts. Diese Negation kann dann als Motor einer Bewegung gelten, sodass die beiden Momente zu Stadien einer dialektischen Entwicklung werden. So formuliert Henrich, das Ziel einer denkerischen Bemühung um eine Vermittlung der totalisierenden Erschlossenheitsweisen sei »ein Wahrheitsanspruch hinsichtlich einer Weltinterpretation […], der die antagonistischen Wahrheits33 34

Vgl. Henrich 1975: 513. Vgl. aaO.: 513 f. A

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ansprüche« von Glück und Not »kohärent begreift«. 35 Dies sei nur im »Zusammenhang einer Theorie des Bewusstseins« möglich. 36 Henrich kann sich auf Hegel und Kierkegaard berufen, dennoch besteht m. E. die Gefahr einer Wiederholung der totalisierenden Welterschließung auf höherer Ebene. Diese Gefahr eines durch ein Wirklichkeitsmodell (und durch eine bestimmte Teleologie) ermöglichten Zuvielverstehens habe ich oben schon mehrfach benannt: Etwas wird dabei in einen übergeordneten Verstehenszusammenhang eingeordnet, über den das Subjekt zu verfügen glaubt. Entscheidend für die (vermeintlich) auflösende Kraft eines solchen Denkens ist besonders die Identifizierung des (in diesem Beispiel) verzweifelten Subjekts mit jenem Subjekt, dem sich nun ein big picture (etwa ein dialektischer Schematismus) auftut, an dem es als Urheber oder zumindest als verstehender Betrachter beteiligt ist. Das verzweifelte Subjekt kann, insofern es identisch mit dem das sinnvolle Ganze überblickenden Subjekt ist, jene Macht des Verstehens, die der Verzweiflung eignet, zugunsten jener anderen Macht des Verstehens verabschieden, die durch die dialektische Weltinterpretation möglich wird, in welcher Verzweiflung als Moment einer teleologischen Bewegung erscheint. Wie unterscheidet sich von dieser denkerischen Bewältigung der Verzweiflung im Kontext dialektischer Negativität jene andere Zugangsweise, welche von konstitutiver Negativität geprägt ist? Vom Standpunkt konstitutiver Negativität aus wird es darum gehen, dass die welterschließende Kraft der Verzweiflung gerade nicht durch einen Verstehensersatz überboten wird, welcher sich einem noch stärkeren, durch das Wirklichkeitsmodell ermöglichten Verstehen verdankt. Vielmehr geht es darum, schon die welterschließende Kraft der Verzweiflung selbst gewissermaßen ersatzlos auszusetzen. Die Erfahrungstotalität der Verzweiflung kann zunächst nicht geleugnet werden, doch ihre Verstehenstotalität wird durch konstitutive Negativität bestritten und soll aufgehoben werden. Vom Standpunkt umgreifender, konstitutiver Negativität aus lässt sich die Unmöglichkeit eines wirklich angemessenen Verstehens einräumen. Dies ist weder gleichzusetzen mit der Behauptung (oder dem Pathos) der Sinnlosigkeit noch mit dem Postulat eines existierenden, aber unerkennbaren Sinns. Vielmehr gewinnt hier etwa Merleau-Pontys Satz praktische 35 36

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AaO.: 516. AaO.: 517.

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Relevanz, dass es kein Denken gibt, das all unser Denken umfasste. In dem von ihm selbst betriebenen Verzicht auf (vermeintlich) weiter reichendes Verstehen behauptet das Denken seine Grenze. Es kann aber gerade in diesem Aussetzen des Verstehens andere menschliche Fähigkeiten, zum Beispiel das Wahrnehmen, unterstützen, indem es die im Wahrnehmen ständig mitlaufende Verstehenserwartung negiert. Dies kann auch die Rolle eines Gegenübers sein: Dem Verzweifelten dabei zu helfen, das vermeintliche Verstehen zu destruieren. Das Wahrnehmen bedarf dieser Negation, um diesseits des apophantischen Als, diesseits des Etwas-als-etwas-Verstehens seine vollen Möglichkeiten eines vorprädikativen Erschließens zu entfalten. 37 Setzt die Verstehenstotalität der Verzweiflung aus, ohne durch ein big picture ersetzt oder überboten zu werden, dann kann sich die Möglichkeit spezifischer lebenspraktisch bedeutsamer Formen der Wahrnehmung ergeben. Ich denke hier an die Möglichkeit, überhaupt erst für die sinnliche Wahrnehmung der Dinge selbst und besonders für die Wahrnehmung der Anderen selbst (diesseits des apophantischen Als) sowie für den Anspruch der Anderen offen zu werden. Konstitutive Negativität wird hier lebenspraktisch bedeutsam – indem die Verstehenstotalität der Verzweiflung ausgesetzt wird, kann ansatzweise ihre Erfahrungstotalität aufgehoben werden bzw. in spezifische Formen der Wahrnehmung der Dinge (diesseits ihrer durch Verzweiflung verzerrten Gestalt) und der Intersubjektivität (Öffnung für den Anspruch des Anderen) übergehen. Ein reicher, nicht schematisch verengter Begriff negativer Identität, in den wesentlich auch konstitutive Negativität eingegangen ist, kann, so viel sollte das Beispiel schon deutlich machen, in charakteristischer Weise menschliche Praxis betreffen. Im zweiten Teil der Untersuchung möchte ich versuchen, das erarbeitete Konzept negativer Identität auf bestimmte lebenspraktische Diskurse zu beziehen. Nach der grundsätzlichen Reflexion der Möglichkeit eines zeitgemäßen Identitätsdenkens soll damit auch der zweiten anfangs genannten Aufgabe Rechnung getragen werden, nämlich der Reflexion der praktischen Relevanz der Identitätsfrage. Die Frage nach lebensprakSystematisch folge ich hier Heideggers Versuch, einen Bereich der Wahrnehmung vor seinem Übersprungenwerden zu bewahren, indem ein vorschnelles Verstehen ausgesetzt wird. In Heideggers Terminologie: Das apophantische Als soll ausgesetzt werden, damit dem vorprädikativen Erschließen Raum gegeben werden kann. Dieses fasst Heidegger terminologisch als existenzial-hermeneutisches Als (vgl. Heidegger, Sein und Zeit: 85, 149, 158).

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tischer Orientierung, so hieß es oben (vgl. I.1.2.) ist für uns Bewohner der Kultur der Moderne stets verbunden mit der Frage nach Identität. Auch unter den Bedingungen des Brüchigwerdens des modernen Identitätsideals und der gesellschaftlichen Identitätsforderung binden sich an die Identitätsfrage weiter Orientierungserwartungen. Dieses Bedürfnis nach Orientierung möchte ich aufgreifen, indem ich die Bedeutung zu zeigen versuche, die ein solcher Identitätsbegriff für die Lebenspraxis haben kann, welcher das Brüchigwerden des modernen Identitätsideals zu reflektieren und in sich aufzunehmen versucht, indem er sich selbst wesentlich negativ bestimmt.

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Zweiter Teil Negative Identität und Lebenspraxis

Vor dem Hintergrund des im ersten Teil der Arbeit entwickelten Begriffs negativer Identität möchte ich im zweiten Teil exemplarisch lebenspraktisch bedeutsame (Identitäts-) Diskurse diskutieren. Das Konzept negativer Identität tritt dabei zum einen in Konkurrenz zu bestehenden Orientierungsangeboten (in Form von Angeboten zur Selbstinterpretation): Es bestreitet den sozialwissenschaftlichen Ansatz der Identitätskonstruktion, indem es dessen unausgewiesenen und Alternativen verdeckenden Naturalismus kritisiert (II.1.). Und es bestreitet das Konzept einer Philosophie der Lebenskunst, welche das Leben zu einem kunstanalogen Gelingen bringen möchte, aber dabei der Tendenz nach die spezifische Negativität sowohl der Kunst als auch des Lebens verfehlt (II.2.). Neben diese Kritik treten Vorschläge zur Lebenspraxis negativer Identität. Es geht mir um eine Kultur des Nichtwissens im Sinne einer emanzipativen Lebenspraxis, die mit der Welt als einer wesentlich nicht verstehbaren umgeht (II.3.). Und es geht mir um eine Kultur gemeinsamen Fremdseins als Ansatz der interkulturellen Praxis (II.4.). Die Frage nach Identität ist in der Moderne verknüpft mit Orientierungserwartungen. Als Bewohner einer modernen Kultur sind wir als Folge spezifischer Identitätsforderungen sowie spezifischer Identitätsangebote durchschnittlich schon in bestimmter Weise orientiert. Der hier einflussreiche Identitätsbegriff ist charakterisiert durch die Idee der Selbstbegründung, der Selbsterhaltung, ja der Selbstkonstruktion. Indem das Konzept negativer Identität diesen Identitätsbegriff bestreitet, offenbart es ein lebenspraktisch orientierendes Potenzial. Dieses möchte ich in den folgenden Kapiteln exemplarisch aufzeigen.

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Zweiter Teil: Negative Identität und Lebenspraxis

II.1. Identitätskonstruktion? Kritik der instrumentellen Identität Das Konzept der Identitätskonstruktion und der lebenslang zu leistenden Identitätsarbeit ist das Ergebnis einer neueren sozialwissenschaftlichen Sicht auf das Thema Identität. Das Konzept stellt ein einflussreiches Orientierungsangebot für die Bewohner der Gegenwartsgesellschaft dar. Man könnte es sogar als harten Kern der gesellschaftlichen Selbstinterpretation und etwa auch (im Kontext individueller Lebenspraxis) als harten Kern der Ratgeberliteratur bezeichnen. Dabei spielt Identität, in Fortsetzung der sozialwissenschaftlichen Tradition besonders seit Erikson, die Rolle eines anzustrebenden Gutes, welches das Produkt bestimmter sozialer Praktiken ist, die hauptsächlich vom Akteur (dem Identitätsarbeiter und -konstrukteur) selbst ausgehen (II.1.1.). Philosophisch möchte ich den sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriff wegen seines unreflektierten Instrumentalismus und Naturalismus kritisieren (II.1.2.). Philosophie und insbesondere das Konzept einer negativen Identität kann eine grundlegende Alternative zu dieser gesellschaftlich dominierenden Selbstauslegung etablieren. Es geht um die Verteidigung einer Lebenspraxis, die sich dem Instrumentalismus entzieht, indem sie Wirklichkeitsmodelle aussetzt und nach einer Orientierung am Guten fragt – nach einer Orientierung an einem Guten, welches die Mechanismen der faktisch bestehenden Situation überschreitet (II.1.3.). II.1.1. Zum Identitätsbegriff der Sozialwissenschaften Die Sozialwissenschaften verwenden einen normativen Identitätsbegriff, ohne den Sinn dieser Normativität, etwa ihr Verhältnis zu moralischer Normativität, genügend zu reflektieren. Identität soll sich bilden, sie soll geschaffen oder definiert, sie soll behauptet oder verteidigt werden, es wird von gelingender oder misslingender Identität gesprochen. Tatsächlich scheint hier der Sinn von Identität zunächst unproblematisch zu sein. Identität wird angestrebt, weil sie in Bezug auf den Erfolg von etwas, in Bezug auf dessen Sicherheit oder Stärke als günstig gilt. So ist es etwa für die physische und psychische Stabilität wichtig, dass Individuen zumindest relative Sicherheit darüber haben, wer sie sind, welches der rote Faden ihres Lebens ist. 168

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Identitätskonstruktion? Kritik der instrumentellen Identität

Dies belegen sozialwissenschaftliche Forschungen empirisch. 1 Um das Problematische des sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriffs in den Blick zu bekommen, müssen zunächst die Weichenstellungen der klassischen Ansätze vergegenwärtigt (1) und anschließend die Verschiebungen, vor allem aber die unthematisierten Kontinuitäten bestimmt werden, welche die modernisierungstheoretische Sicht auf Identität ausmachen (2). (1) Für die Sozialwissenschaften bezeichnet der Begriff Identität oft so etwas wie den Platz, den ein Mensch in einer Ordnung einnimmt, besonders natürlich in der Gesellschaftsordnung. William James führte schon im 19. Jahrhundert die Unterscheidung zwischen dem »pure ego«, dem reinen Ich, dem Subjekt des Denkens 2 und dem »empirical self« oder »me«, dem Objekt des Denkens, der Selbstwahrnehmung im Spiegel der Gesellschaft ein. 3 Diese perspektivische (und damit methodische) Unterscheidung, genauer aber das »empirical self« stand an der Wiege des sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriffs. 4 Als Gehalt des »empirical self«, speziell des »social self« 5 nennt James etwa den Ruf, den jemand besonders durch seinen Beruf in der Gesellschaft hat, etwa als Priester, Arzt, Soldat oder Richter. 6 Einen totalen Zusammenbruch des me (wir können sagen: der Identität) würde es z. B. bedeuten, wenn man in einer Gesellschaft von niemandem beachtet würde, wenn sich niemand nach einem umdrehen würde. 7 James’ Schüler George Herbert Mead übernahm die Unterscheidung von I und me und untersuchte dann besonders die Entstehungsbedingungen des me. Welche Einflüsse wirken auf den Prozess, in dem man sich selbst zum Objekt des Denkens und Vorstellens wird? Das Ergebnis dieses Prozesses kann als Identität bezeichnet werden. 8 Die Identität eines Menschen entsteht, Vgl. Antonovsky 1987, Höfer 1999. Vgl. James 1891: 329 f., ders. 1909: 195 f. 3 Vgl. James 1891: 291 ff., ders. 1909: 175 ff. 4 Freilich spricht James noch nicht von einer Identität im Sinne des empirischen Selbst. Den Terminus »personal identity« verwendet er im Gegenteil in philosophischer Tradition unter Bezugnahme auf David Hume, also im Zusammenhang mit dem reinen Ich (vgl. James 1891: 330 ff.). 5 James 1891: 293. 6 Vgl. James 1891: 294 f., ders. 1909: 179. 7 Vgl. James 1891: 293 f., ders. 1909: 177 f. 8 In der deutschen Übersetzung (Mead 1988) wird entsprechend der Begriff Identität verwendet (vgl. Mead 1988: 177). Mead selbst spricht von »self« (vgl. den Titel »Mind, 1 2

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Zweiter Teil: Negative Identität und Lebenspraxis

»indem er die Haltung anderer Individuen gegenüber sich selbst innerhalb einer gesellschaftlichen Umwelt […] einnimmt«. 9 Mead drückte so Identität in Begriffen wie »Position im gesellschaftlichen Prozess« oder »Standort« innerhalb eines Ganzen aus. 10 Beim sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriff geht es also von Anfang an um eine Schnittstelle, es geht um das Zusammenspiel zwischen dem Begriff, den man von sich selbst ausbildet 11 und dem Platz, den die Gesellschaft einem mit der Zeit bietet oder den einzunehmen sie von einem fordert. Die wohl wirkmächtigste Formulierung des Identitätsbegriffs geht auf den dänisch-amerikanischen Psychoanalytiker Erik Erikson zurück. An Eriksons Konzept ist zweierlei besonders bedeutend. Zum einen ist Identität für Erikson ein normativer Begriff: Identität ist etwas Anzustrebendes, denn sie ist Ausdruck von Gesundheit und gelingendem Leben. Der Prozess der Heilung der von Erikson therapierten Jugendlichen läuft auf ein Ziel hinaus, auf die Ausbildung einer relativ festen Identität. Wo zunächst hilflose Unklarheit über die eigene Person, über den eigenen Weg, wo eine pathologische Identitätsdiffusion herrschte, 12 da steht am Ende der analytischen Psychotherapie eine belastbare, mit sich und der Umwelt so gut es geht versöhnte Persönlichkeit. Etwas haben Eriksons Patienten während der Therapie gefunden, nämlich einen Ort (einen Status in der Gesellschaft) an dem sie ihre spezifischen Begabungen, also ihre Individualität, so in das Ganze einer Gemeinschaft einfließen lassen können, dass beide, Individuum und Gesellschaft wechselseitig profitieren. Das Individuum profitiert, insofern es sich entfalten kann, für jemanden wichtig ist und die Gemeinschaft mitgestaltet. Die Gemeinschaft profitiert, insofern sie sich durch das Individuum bestätigt und anerkannt fühlt und natürlich indem die Gemeinschaft durch solche Individuen, die ihren Platz (in ihr) gefunden haben, Self and Society«). »Self« entspricht dem heutigen Begriff »Identität«. Der Übersetzer bemerkt hierzu: »Wenn hier – statt beispielsweise ›Persönlichkeit‹, wie self oft in die Terminologie der deutschen philosophischen Anthropologie übertragen wird – Identität gewählt wurde, mehr noch im Sinne von sozialer als von personaler oder Ich-Identität (Erikson), so ist dies schon ein Vorgriff auf den heutigen Sprachgebrauch, auf eine aktuelle Problemstellung« (vgl. Mead 1988: 442). 9 Mead 1988: 180. 10 Mead 1988: 245 f. 11 »Für die Identität ist es typisch, daß sie für sich selbst ein Objekt ist, und dieses Merkmal unterscheidet sie von anderen Objekten wie vom Körper« (Mead 1988: 178). 12 Vgl. Erikson 1981: 153 ff.

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konstituiert wird. 13 Diese soziologischen Tatbestände lassen sich auch stärker psychoanalytisch ausdrücken: In dem Maße entwickelt das Individuum ein stabiles Selbstgefühl, in dem es durch das und in dem Leben in einer ganz konkreten und gut passenden sozialen Umwelt eigene Selbstentwürfe, die zunächst nur fragmentarisch und experimentell sind, nach und nach in dem wiederfindet, was die anderen ihm tatsächlich auch zutrauen. Hier wird schon der zweite Aspekt des Erikson’schen Identitätsbegriffs deutlich, sein totaler Charakter. Denn obwohl die inhaltliche Bestimmung von Identität ganz der Tradition des me der James’schen Psychologie folgt, gewinnt Erikson doch scheinbar das I zurück. Das Ziel des Therapeuten ist ja nicht das eines Berufsberaters, das Ziel ist vielmehr ein innerliches, nämlich das Gefühl des Patienten, seiner selbst sicherer zu werden, das Ziel ist mithin ein Selbstgefühl, ein Gefühl der eigenen Identität. Dieser Umstand erweckt den Anschein, dass der Erikson’sche Identitätsbegriff gewissermaßen auch in Richtung Subjekt erschöpfend sei. Was sollte, so ließe sich fragen, überhaupt noch fehlen? Aus der Sicht dieser totalen Identitätskonzeption scheint philosophisch allenfalls vermeintlich Abwegiges einklagbar zu sein, wie z. B. eine ewige Seele. In der Totalität dieses Identitätsbegriffs liegt eine spezifische Blindheit für alternative, besonders für ethisch qualifizierte Identitätsbegriffe. (2) Welche Verschiebungen und Kontinuitäten weist der Identitätsbegriff im Kontext klassischer und zeitgenössischer Modernisierungstheorien auf? 14 Erikson konnte noch in den 50er Jahren des 20. Jhs. empfehlen, sich einen passenden festen Beruf zu suchen, um in dessen Tradition und an dessen funktionellem Ort in der Gemeinschaft gleichzeitig eine Verortung seiner selbst zu finden, eine Antwort auf die Frage: »Wer bin ich?« 15 Aus heutiger Sicht mutet diese Vgl. Erikson 1981: 124, 137 f., 140, 144, 147. Eine ausführliche Darstellung und eine auch aus historischer Sicht kritische Diskussion der These der Radikalisierung der Moderne bietet Johannes Rohbeck im Rahmen seines Projekts einer Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie (vgl. Rohbeck 2000: 212 ff.). Der sozialwissenschaftliche Begriff der Moderne weist aus philosophischer (und ästhetischer) Sicht ungute Verengungen auf. Philosophie und philosophische Ästhetik können weitere entscheidende Charakteristika der Moderne benennen. Dies tuen z. B. Charles Taylor in seinem Werk Quellen des Selbst mit dem Begriff des desengagierten Subjekts (vgl. Taylor 1996) oder Richard Rorty in seinem Essayband Eine Kultur ohne Zentrum mit dem Begriff der Dezentrierung (vgl. Rorty 1993). 15 Vgl. Erikson 1981: 135 f. 13 14

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Lösung in einem ganz bestimmten Sinn altmodisch an, nämlich altmodisch im Sinne von ›klassisch modern‹. Es war Max Weber, der die Entstehung der modernen Arbeitsmoral untersucht hat und dabei zu zeigen versuchte, wie Arbeit und Beruf in den von der Reformation geprägten Kulturen in einen so hohen Status erhoben wurden, dass in einem grundlegenden Sinn Wohl und Wehe vom Beruf abhingen. 16 Webers Erklärungsversuch hat freilich selbst etwas von einem big picture, das zudem wirtschaftliche Entwicklungen aus Merkmalen der Mentalität und verflachten religiösen Vorstellungen erklären möchte, welche die eigentliche Radikalität des Protestantismus kaum treffen. 17 Die Tragkraft der Thesen Webers kann ich nicht diskutieren, stattdessen geht es mir darum, ein sozialwissenschaftliches Bild der modernen Identität darzustellen, um an diesem Brüche und (unreflektierte) Kontinuitäten aufzuzeigen. Bei Weber ist der theologische Rechtfertigungsbegriff entscheidend: Das Gefühl, vor Gott gerechtfertigt zu sein, kommt in der mittelalterlichen und katholischen Tradition vor allem dadurch zustande, dass der Mensch Teil einer exklusiven Heilsgemeinschaft ist und dass er im Messgang, in der Beichte und in den Sakramenten durch priesterliche Vermittlung das Gerechtfertigtsein immer wieder neu erfahren kann. In den protestantischen Kulturen ist Rechtfertigung vor allem Ergebnis einer richtigen Lebensführung, in dieser Tradition der Moderne wird schließlich das Gefühl des Gerechtfertigtseins vor Gott beerbt von dem Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein, einen sinnvollen Platz in der Gemeinschaft, oder, so ließe sich sagen, eine beruflich vermittelte Identität gefunden zu haben. 18 Im Protestantismus muss sich das Individuum stärker unmittelbar (weniger als Teil einer kirchlichen Heilsgemeinschaft) für sein Leben verantworten. Gleichzeitig ist das normale Leben und nicht mehr so sehr eine bestimmte Zeit Vgl. Weber 1973b. Webers Theorie zur Entstehung des Kapitalismus geht freilich nicht in dem einzelnen Faktor der protestantischen Ethik (als eines religiös-mentalen Erklärungsfaktors) auf. Zur kritischen Würdigung von Webers gesamtem Erklärungsschema des modernen Kapitalismus vgl. Segre 1989. Segre weist darauf hin, dass Weber selbst einen starken Einfluss der jüdischen Ethik auf die protestantische Ethik angenommen hat (vgl. Segre 1989: 457 f.). 18 Weber selbst spricht hier nicht von Identität. Blickt man aber aus unserer Zeit auf den sich säkularisierenden Rechtfertigungsbegriff, dann wird deutlich, dass das heute Bedrohte, die Identität über den festen Beruf, eine sehr ähnliche Bedeutung hat wie das, was der von Weber untersuchte säkularisierte Rechtfertigungsbegriff beschreibt, nämlich das Gefühl, seine Bestimmung und seinen Platz im Ganzen gefunden zu haben. 16 17

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oder Handlung (z. B. die Heilige Messe) der Ort, an dem sich das Gefühl einstellen kann, gerechtfertigt zu sein. 19 Am Erfolg im Beruf, an dem Gedeihen eines Geschäfts etwa zeigt sich, so Webers Theorie, dass man gewissermaßen gesegnet und zu dieser Tätigkeit bestimmt ist, 20 dass man seinen Platz in einem Ganzen, (theologisch: in Gottes Heilsplan), dass man seine Bestimmung gefunden hat. Vor dem Hintergrund dieses Übergangs von einer religiösen zu einer sozialen Konstitution von Identität kann Weber sagen, dass sich die verkrampfte Suche nach dem Gottesreich nach und nach in nüchterne Berufstugend verwandelte. 21 Webers historische Betrachtung kann immerhin deutlich machen, wie sehr Eriksons Modell einer durch den Beruf vermittelten Identität an bestimmte Grundlagen der Moderne gebunden ist und wie sehr es gleichzeitig diese Grundlagen, mithin spezifische Werte der Moderne, artikuliert. Wo aber, wie in unserer Zeit, die Mittel bedroht sind, mit deren Hilfe das angestrebte Gefühl einer berufsvermittelten Identität realisierbar ist, dort diagnostiziert die zeitgenössische Sozialwissenschaft folgerichtig Probleme in der Bildung von Identität. Unter anderen hat Richard Sennett die Folgen zeitgenössischer Berufsbiografien für den Zusammenhang von Identität und Beruf untersucht.22 Wo Menschen ihren Lebensunterhalt in ständig wechselnden Tätigkeiten an verschiedenen Orten und mit immer wieder neuen Arbeitskollegen verdienen müssen, 23 wo wiederholte riskante Neuanfänge zur Norm werden und damit Stabilität als Lähmung erscheint, 24 da stellt sich keine erzählbare Einheit einer beruflichen Biografie her, das harte Arbeiten ermöglicht keine Einbindung in ein Ganzes, sei dieses ein stabiles soziales Milieu, sei es die Erzählung einer generationsübergreifenden Aufbauleistung. 25 So kann Identität heute nicht mehr ohne weiteres in einer durch die Gemeinschaft vorgezeichneten beruflichen Normalbiografie entstehen, vielmehr ist die Bildung von Identität durch wachsende Verunsicherung, Flexibilisierung, durch Vertrauensschwund und durch die steigende

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Vgl. hierzu auch Taylor 1985c: 147 ff. Vgl. Weber 1973b: 361, 375. Vgl. aaO.: 375. Vgl. Sennett 2000. Vgl. aaO.: 17 ff. Vgl. aaO.: 109. Vgl. aaO.: 162 ff. A

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Komplexität der individuellen Welt erschwert. 26 Die modernisierungstheoretische Erwartung, dass das Modell Eriksons in unserer Welt nicht länger trägt, wird von der empirischen Sozialpsychologie bestätigt. Erikson war noch davon ausgegangen, dass sich Identität zumindest bei den meisten Menschen im Laufe der Adoleszenz herausbildet, und zwar entwickelt sie sich aus einer Phase der diffusen Identitätsvorstellung, der probierenden Identifikationen und oft auch noch aus einer Phase des Moratoriums, des zurückgezogenen Reflektierens, heraus, indem sie schließlich in eine Phase der relativ gefestigten Identität mündet. 27 Heute lässt sich statistisch feststellen, dass die Phase der diffusen Identitätsvorstellungen, der Identitätsdiffusion zugenommen hat und über weite Strecken der Biografie dominiert. 28 Angesichts der gesellschaftlichen und damit auch biografischen Verunsicherungen wird diese Identitätsdiffusion aber nicht länger als pathologisch, sondern im Gegenteil als sinnvolle Strategie des Individuums angesehen: »Dort, wo die gesellschaftlichen Bedingungen Unverbindlichkeit und Indifferenz nahelegen, ist es vernünftig, sich nicht festzulegen, Chancen zwar zu ergreifen, aber mögliche andere Optionen dabei nicht aus dem Blickfeld zu verlieren«. 29 Was Erikson noch in den 50er Jahren des 20. Jhs. als pathologisch ansah, wird heute mit dem Begriff der kulturell adaptiven Identitätsdiffusion bezeichnet. 30 Eine weitere, im Zusammenhang dieser Untersuchung noch interessantere Strategie der Bewohner von Gegenwartsgesellschaften, Identität unter veränderten Bedingungen auszubilden, machen die Sozialwissenschaften im Phänomen der so genannten Identitätsarbeit und Patchworkidentität aus. Identitätsarbeit bedeutet, sich jenes verlorene Gehäuse, 31 welches einst durch die soziale Verortung Vgl. Keupp 1994a: 31, ders. u. a. 1999: Kap. 1 und 2. Diese vier Phasen der Identitätsbildung kennt zwar schon Erikson, explizit hat sie aber erst James E. Marcia für das Erikson’sche Modell formuliert (vgl. Kraus, Mitzscherlich 1998: 151). 28 Vgl. Kraus, Mitzscherlich 1998: 160, 165, Keupp 1989: 59. 29 Vgl. Kraus, Mitzscherlich 1998: 160. Die Ergebnisse der 13. Shell Jugendstudie Jugend 2000 bestätigen diese Formulierung. Über die Bindung Jugendlicher an Werte heißt es, nicht die Werte an sich verfielen, »sondern nur deren intrapersonelle (lebenssituationsübergreifende) Dauerhaftigkeit und überindividuelle Gültigkeit« (Deutsche Shell (Hg.) 2000 (Bd. 1): 155). 30 Vgl. Kraus, Mitzscherlich 1998: 160. 31 Keupp verwendet den von Weber entlehnten Begriff des Gehäuses (vgl. Weber 1973b: 379) in positivem Sinn (vgl. Keupp 1994b: 336). 26 27

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und Position ausgemacht wurde, zumindest ansatzweise in Eigenregie zu entwerfen und zu konstruieren. 32 Unter den Bedingungen der Globalisierung und Flexibilisierung, der Pluralisierung und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts 33 wird jenes Gehäuse gleichwohl nie fertig, es bleibt eine flexible Konstruktion. So entstehen individuelle Lebenscollagen, die Heiner Keupp mit dem Begriff Patchworkidentität bezeichnet. 34 Aus disparaten Identitätselementen (Partnerschaften, Freundschaften, Erwerbsarbeit, Hobbys, Bindungen am jeweiligen Wohnort usw.) wird wie beim Crazy Quilt 35 ein Ganzes ohne vorhersehbare Ordnung, aber mit innerer Kohärenz konstruiert. 36 Im Zuge dieser Identitätsarbeit werden nun die Elemente des Patchworks, welche noch bei Erikson als Teile einer sozialen Struktur verstanden wurden, in die man (in einem mehr oder weniger passiven Vorgang) eingelassen wurde und die einem dabei Identität verliehen, instrumentalisiert: Besitz und Einkommen werden als materielle Ressourcen verstanden, Familie, Verwandtschaft, Freunde oder Arbeitskollegen entsprechend als soziale Ressourcen. Als eine individuelle Ressource der Identitätsarbeit wird dagegen die Fähigkeit bezeichnet, Unsicherheiten und Widersprüche auszuhalten und für alle Lebensbereiche immer wieder neue individuelle Regelungen auszuhandeln. 37 Diese individuelle Ressource speist sich ihrerseits aus einer wesentlichen Voraussetzung, die damit selbst zur Ressource wird, nämlich dem Urvertrauen. 38 Diese Darstellung des Bildes, das sich die Sozialwissenschaft von der Herstellung individueller Identität in der Moderne macht, reicht aus, um kritisch auf nicht genügend reflektierte Charakteristika dieser Identitätstheorie hinzuweisen. Wenn im Rahmen aktueller Modernisierungstheorien Identität konzeptualisiert wird, geschieht dies Vgl. Keupp 1989: 57 f., ders. 1998: 16. Vgl. Nunner-Winkler, Edelstein 2000b: 7 ff. 34 Vgl. Keupp 1989: 64 f., ders. 1998: 17 f. 35 Vgl. Keupp 1998: 18. 36 An dieser inneren Kohärenz wird als notwendiges Ziel festgehalten, denn sie gilt als Bedingung für psychische und körperliche Gesundheit (vgl. Antonovsky 1987, Höfer 1999). 37 Vgl. Keupp 1998: 19 ff., Ahbe 1998. 38 Vgl. Keupp 1998: 21, Giddens 1991: 35 ff. Hier entsteht die Frage, ob sich Urvertrauen unter jenen gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt entwickeln kann, welche die Identitätsarbeit nötig machen (vgl. Helsper 1998: 184). Ist dies nicht der Fall, dann wäre erfolgreiche Identitätsarbeit gewissermaßen parasitär, sie würde voraussetzen, in einer früheren (einer klassisch modernen) Gesellschaft sozialisiert worden zu sein. 32 33

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stets kontrastiv zum klassischen Identitätsmodell, etwa demjenigen Eriksons. Dadurch werden die Unterschiede unverhältnismäßig stark betont: Identität ist weniger fest, sie wird weniger durch ein zusammengehöriges Set von Merkmalen gebildet, wie dies etwa, um ein anschauliches Beispiel zu geben, bei einem Dorfarzt der Fall ist, der seine Praxis von seinem Vater übernommen hat. Identität entsteht eher in Eigenregie, indem sich der Identitätsarbeiter gewissermaßen in voneinander unabhängigen Koordinatensystemen selbst flexibel und reversibel positioniert. Dieser Wandel in der Identitätskonzeption täuscht über die entscheidende Kontinuität hinweg, die zwischen sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriffen besteht. Identität wird stets konzeptualisiert über die Rolle (oder das Rollenfragment), welche man (zugeteilt oder selbst gewählt, länger oder kürzer) übernimmt, also als Stellung innerhalb eines Ganzen, auch als Selbstbild, das sich an einem bestimmen Platz, durch eine bestimmte Funktion und über die Reaktionen der anderen bildet. Eine andere Identität, etwa eine genuin moralische, ästhetische oder religiöse, scheint nicht vorstellbar zu sein, sie liegt gewissermaßen jenseits des Horizonts, der durch die sozialwissenschaftliche Perspektive eröffnet wird. Die Konzentration auf die 3.-Person-Perspektive (auf das me James’) verstellt auch die Möglichkeit philosophischer Erforschung der Konstitution von Subjektivität. So ist die Überbetonung des Wandels von Identität im Rahmen der Theorie der Identitätsarbeit und der Patchworkidentität für eine strukturelle Blindheit verantwortlich, eine Blindheit gegenüber spezifischen Kontinuitäten und Unzulänglichkeiten des sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriffs sowie gegenüber Alternativen zu diesem Identitätsbegriff. Das big picture einer (vermeintlich) vollständigen Erklärung versteht gewissermaßen zu viel, der Tendenz nach verdeckt es seine eigene Perspektivität. Der sozialwissenschaftliche Identitätsbegriff kann aber noch spezifischer kritisiert werden. II.1.2. Kritik am Instrumentalismus Dieser Kritik müssen freilich noch zwei Einschränkungen vorausgehen. Die soziologische oder sozialpsychologische Untersuchung von Identität ist hauptsächlich deskriptiv, ihr dürfen daher nicht unreflektiert bestimmte Strukturen ihres Gegenstandes vorgeworfen werden, etwa bestimmte Verhältnisse der modernen Gesellschaft. 176

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Auch das spezifisch Normative, das Gegenstand dieser Deskription ist (Identität als persönliches Entwicklungsziel bzw. als Projekt im Dienste des gelingenden oder des zu bewältigenden Lebens), wird nicht unmittelbar bestritten, wenn es sich dabei um die Beschreibung der Anforderungen des Lebens in bestimmten Gesellschaften handelt. Die instrumentelle Beziehung von Identität und gelingendem oder einfach nur zu bewältigendem Leben mag eine interne Logik haben. Was philosophisch allerdings kritisiert werden muss, ist die fehlende Reflexion der methodischen Grenzen und damit des innerhalb dieser Grenzen nur möglichen Ergebnisses sowie die fehlende Reflexion der Normativität, des Instrumentalismus und des Naturalismus des sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriffs (1). Darüber hinaus ist auch zu kritisieren, dass die unreflektierte Normativität des Identitätsbegriffs im Bereich persönlicher Orientierung wiederum unreflektiert aus der Deskription ein spezifisches Orientierungswissen, einen spezifischen Imperativ ableitet. Dieser Imperativ im Rahmen des instrumentellen Identitätsbegriffs grenzt das mögliche Orientierungswissen stark ein, er verfälscht die Möglichkeit der Selbstinterpretation (2). (1) Zunächst zu den unthematisierten methodischen Grenzen. Seit ihren Anfängen bei William James und George Herbert Mead thematisiert die sozialwissenschaftliche Identitätstheorie ihren Gegenstand in einer bestimmten Außenperspektive: Identität ist das Modell, welches sich jemand von sich selbst macht. Und dieses Modell, dieses Selbstkonzept ist wesentlich ein Abbild seiner sozialen Rolle, mithin der Koordinaten in einem oder mehreren Systemen. Nur dieser spezifische Gehalt des Begriffs der Identität ist der soziologischen oder sozialpsychologischen Forschung zugänglich, nur er kann etwa mittels Fragebögen oder in Einzelinterviews erforscht werden. Die sozialwissenschaftliche Forschung geht bewusst nicht hermeneutisch vor, sie klammert die 1.-Person-Perspektive konsequent aus. 39 Damit aber sind andere mögliche Gehalte des Begriffs der Identität ausgeschlossen, z. B. Unvertretbarkeit und Jemeinigkeit in transzendentalphänomenologischer Perspektive, Alterität in der Perspektive einer Ethik des Anderen, die Beziehung zu Gott in theologischer Perspektive oder die Artikulation selbstzweckhafter Güter in der Perspektive einer Identitätsethik wie derjenigen Taylors, um nur einige 39

Vgl. Nunner-Winkler, Edelstein 2000b: 11. A

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zu nennen. 40 Nicht dass eine spezifische Methode das Gebiet der möglichen Untersuchungsergebnisse einschränkt, soll kritisiert werden, wohl aber die fehlende Reflexion dieser Grenzen und die dabei entstehende Blindheit für Alternativen, wenn aus der Deskription Orientierungswissen entsteht. Blickt man etwa in der Perspektive alternativer Identitätsbegriffe auf soziale Veränderungen, wie z. B. die von Sennett beschriebenen Umbrüche des Erwerbslebens, fällt die Diagnose hinsichtlich der Möglichkeit der Orientierung und der Ausbildung von Identität jeweils anders aus. Dass geänderte Erwerbsbiografien mit gravierenden Problemen verbunden sind, wird nicht bestritten werden, dass es dabei aber vor allem darauf ankommt, Identitätsarbeit im Sinne einer Patchworkidentität zu leisten, gilt nur im Rahmen einer bestimmten Definition von Identität. Aus der Sicht anderer Identitätsbegriffe könnte es für einen von den sozialen Veränderungen Betroffenen sogar als ratsam erscheinen, sich für diese anderen Selbstinterpretationen zu öffnen bzw. sich und sein Leben gerade nicht oder nicht ausschließlich in Beobachterperspektive zu konzeptualisieren. Nun zur fehlenden Reflexion des Geltungssinns des Instrumentalismus. In der Identitätsarbeit werden nicht letzte Ziele reflektiert, vielmehr gelten diese als selbstverständlich oder sie werden vorgefunden als Ergebnisse sozialer Bedingungen. Das Bemühen des Identitätsarbeiters ist instrumentell, es setzt Ressourcen in einer bezogen auf die vorgegebenen Ziele klugen Weise ein. Diese instrumentalistische Identitätskonzeption beschreibt menschliches Entscheiden und Handeln reduktionistisch. Sie kann als Konsequenz eines unreflektierten naturalistischen Paradigmas verstanden werden. Auffallend ist die unausgewiesene Selbstverständlichkeit des instrumentalistischen Selbstverhältnisses. 41 Es scheint selbstverständlich zu sein, dass wir Kapitalsorten 42 und Ressourcen zum Aufbau eines eigenen Lebens, einer eigenen Identität einsetzen müssen, und zwar gleichsam als atomare Individuen in einem völlig wertfreien gesellschaftlichen Raum, als Individuen, denen nichts Orientierung bietet als der drohende Misserfolg ihres Lebens. Dieses naturalisierte Vgl. auch die verschiedenen Identitätsbegriffe in I.1. Zur Dialektik des zweckrationalen Handelns sowie zu verschiedenen Bedeutungsebenen des kritischen Begriffs einer instrumentellen Vernunft in der Sozialphilosophie des 20. Jhs. vgl. ausführlich Rohbeck 1993: 122 ff. 42 Vgl. Bourdieu 1983, Ahbe 1998. 40 41

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(und teilweise merkantilisierte) Konzept menschlichen Handelns und Lebens gibt sich als tiefstmögliche Beschreibung, als eigentliche Selbstinterpretation, gereinigt von metaphysischen Deutungen. Der naturalisierte Status des instrumentalistischen Selbstverhältnisses bürgt scheinbar für seine Selbstverständlichkeit, gleichzeitig bleibt er aber unausgewiesen. Dieser Mangel muss der sozialwissenschaftlichen Theorie den Vorwurf des unhistorischen Begriffsgebrauchs eintragen. Mit Taylor lässt sich die Vorstellung eines Individuums, das seine Ressourcen in Konkurrenz zu allen anderen Individuen instrumentalistisch einsetzt, als Abkömmling des modernen, von Bindungen befreiten, desengagierten Subjekts verstehen, welches ursprünglich Idealen wie etwa Selbstbestimmung und Individualität verpflichtet ist. 43 Weiter lässt sich von der Problematik sprechen, dass jenes desengagierte Subjekt das hinter ihm stehende Ideal von Autonomie kaum noch zu artikulieren und auch nicht mehr zu realisieren vermag. 44 Diese Problematik könnte die Suche nach Alternativen zur atomistischen und instrumentalistischen Selbstinterpretation motivieren. Die fehlende Reflexion der Geltung des Instrumentalismus bedeutet schließlich auch die fehlende Reflexion der spezifischen Normativität des sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriffs. Muss es als gut gelten, Identität auszubilden, so ist der Sinn dieses Prädikats ganz auf den Zweck bezogen, den die Identitätsarbeit verfolgt. Identität ist nur Mittel zu einem Zweck, dessen Geltung naturalisiert oder merkantilisiert vorgestellt wird. Dabei wird das Bewusstsein der Werthaftigkeit des Identitätsbegriffs verdeckt: Hinter diesem stecken moderne Ideale wie Autonomie oder Authentizität, in ihm artikuliert sich eine Idee, welche die Grenzen instrumenteller Identität weit übersteigt, die aber in geeigneten Formen der Lebenspraxis ihren Ausdruck finden kann. Zu dieser transzendierenden Idee gehört nicht zuletzt auch das antike philosophische Ideal eines unabhängigen Selbstseins. Im Unterschied zur instrumentellen Identität bilden solche Ideale Selbstzwecke, zudem existieren sie nie ohne einen begründenden Diskurs. Einem solchen begründenden Diskurs ist ein instrumenteller Identitätsbegriff gar nicht zugänglich. Dies nicht zu reflektieren, muss dem sozialwissenschaftlichen Ansatz vorgeworfen werden. 43 44

Vgl. Taylor 1996: 433. Vgl. Taylor 1995a: 108 ff. A

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(2) Nach dieser methodischen Kritik lässt sich jetzt aufzeigen, welche problematischen Konsequenzen die instrumentalistische Selbstinterpretation hat und wie sie zudem Alternativen verdeckt: Der unausgewiesene Status des Instrumentalismus führt unmittelbar zu einem unbemerkten und unreflektierten Phänomenverlust, besonders wenn aus den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen Imperative für das individuelle Leben entstehen. Welche Folgen hat die instrumentalistische Selbstinterpretation für Individuen in konkreten Situationen? Beispiele können dies veranschaulichen: Denken wir uns einen Schüler kurz vor dem Schulabschluss, der Optionen über den weiteren Lebensweg erörtern muss. Oder denken wir uns die Situation einer jungen Familie, die über das Angebot der Firma des Ehemanns entscheiden muss, für einige Jahre ins Ausland zu gehen. Um Identitätsfragen geht es in diesen Situationen aus sozialwissenschaftlicher Sicht insofern, als Berufswahl und Gestaltung des Lebenslaufs zum selbst konstruierten Gehäuse der Identitätsarbeiter gehören. Welche normative Orientierung bietet das Konzept der Identitätskonstruktion in solchen lebenspraktischen Situationen? Von diesem Konzept gehen zunächst widersprüchliche Botschaften aus. Einerseits sei die Herstellung einer festen Identität über berufliche und soziale Entscheidungen heute nicht mehr möglich, andererseits gelte es gerade auf Grund dieser Schwierigkeit, die Anstrengungen zu verdoppeln, um aus beruflichen und sozialen Fragmenten wenigstens eine halbwegs erfolgreiche Patchworkidentität herzustellen, denn auf anderen Gebieten scheint Identität nicht zu haben zu sein, ein anderer Identitätsbegriff ist nicht vorstellbar. Doch auch das Ausmaß der zu konstruierenden Identität ist unklar: Ist einerseits das Leben gar nicht oder zu wenig kontinuierlich, droht das Scheitern auf Grund einer psychophysischen Labilität oder weil einem potenziellen Personalchef nicht mehr vermittelt werden kann, wer man ist und was man will. Gibt es andererseits zu viel Kontinuität und ist man zu gut identifizierbar, dann droht ebenfalls ein Scheitern, indem man mit der sich verändernden Welt nicht länger mitzuhalten in der Lage ist bzw. in den Augen des Personalchefs als ein zur Stagnation neigender Mensch gelten kann. Diese Orientierungsüberlegungen scheinen sich zudem dem neutralen Blick der Wissenschaft zu verdanken und haben eine entsprechende Autorität. In der flexibel organisierten zeitgenössischen Wirtschaftswelt gibt es genau genommen keine Berufswahl mehr (das Gewählte ist keine statische Größe), der Schüler aus dem Beispiel muss sich vielmehr an seinen individuellen Res180

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sourcen, an seinem sozialen, ökonomischen und kulturellen Kapital orientieren. 45 Dieses Kapital findet er in seinen Begabungen und seiner Bildung ebenso wie in seinem familiären Hintergrund und in seinen sozialen Beziehungen. Je besser der Schüler jetzt seine Ressourcen nutzt, eine umso erfolgreichere individuelle Lebenscollage wird ihm gelingen, eine Patchworkidentität, die als vielversprechender Lebenslauf vorgezeigt werden kann. Der Schüler muss lernen, sich über ein marktwirtschaftliches Modell zu interpretieren, er muss sich als Unternehmer verstehen, der mit einem neuen Produkt (sich selbst) auf den Markt geht, um dort sein Kapital, also sein soziales Netzwerk, seine Bildung, seinen materiellen Hintergrund etc. zu realisieren. 46 Orientierung heißt so vor allem, eine instrumentalistische Selbstinterpretation einzuüben. Entsprechend müssen die Ehepartner aus dem Beispiel eine Art Klugheitskalkulation durchführen: Wie lässt sich die Annahme bzw. die Ablehnung des angebotenen Auslandsaufenthalts in den zwei bzw. drei Lebenscollagen so unterbringen, dass diese Collagen jeweils davon profitieren? Natürlich ist es für Mann und Frau riskant, nur an einem gemeinsamen roten Faden zu arbeiten, da ihre Ehe scheitern könnte. Beide Partner werden also versuchen, auch für die Dauer der Familienphase das Patchwork ihrer eigenen Identität nicht aus den Augen zu verlieren. Dass diese als Orientierung angebotene Selbstinterpretation reduktionistisch ist und dadurch alternative Handlungsoptionen verdeckt, liegt auf der Hand. Selbstverständlich können sich die Überlegungen der Beispielpersonen auch an ganz anderen Kriterien orientieren. Der Schüler könnte sich etwa daran orientieren, was er unbedingt tun zu müssen glaubt, wozu es ihn drängt, was ihn anzieht oder was er nach bestem Wissen als sinnvoll, richtig und gut empfindet. Und die jungen Eltern könnten sich (neben anderen Möglichkeiten) an ihrem Kind orientieren wollen, das heißt dessen Wohl als Selbstzweck betrachten und so die eigene Identitätsarbeit als den falschen Entscheidungsmaßstab betrachten. 47 Dass es überhaupt andere Vgl. Ahbe 1998. Vgl. aaO.: 217. 47 Solche Alternativen können allerdings als solche nur wahrgenommen werden, wenn sie nicht metatheoretisch vereinnahmt werden. Wird der instrumentalistische Reduktionismus total, so könnte auch noch eine an Selbstzwecken orientierte Wahl des Schülers als versteckter Versuch interpretiert werden, eigene Ressourcen durch die Orientierung an der stärksten Begabung bestmöglich zu nutzen. Und es könnte behauptet werden, wenn es den Eltern scheinbar um ihr Kind gehe, handelten sie in Wahrheit als 45 46

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Möglichkeiten der Selbstinterpretation gibt, muss allerdings erst gegen das naturalisierend-totalisierende Konzept der Identitätskonstruktion behauptet werden. Bei einem Orientierungsangebot, das wesentlich in dem Imperativ besteht, es gelte, seine Ressourcen möglichst gut zu nutzen, versteht sich die Bedeutung des Prädikats gut keineswegs von selbst, vielmehr bleibt sie ohne weitere Reflexion unterbestimmt. Die unreflektierte Geltungsbehauptung muss bestritten werden. Es gilt vor allem, überhaupt erst einen Raum für eine Orientierung am Guten zu öffnen, und dies hat den Beginn einer philosophischen Reflexion zur Voraussetzung. Vom Standpunkt eines philosophischen (wesentlich negativen) Identitätsbegriffs aus muss gefragt werden: Welche moralischen Güter gelten selbstzweckhaft? Kann das Subjekt selbst moralische Güter überhaupt setzen? Schließlich: Geht der Sinn eines Lebensentwurfs (wie im Falle der instrumentalistisch-naturalistischen Selbstinterpretation) ganz auf in der Selbststeigerung im Sinne instrumentalistischer Imperative, das heißt im Gelingen des Lebens im Kontext naturalisierter Ziele – oder kann der Sinn eines Lebensentwurfs diesen Kontext transzendieren? II.1.3. Orientierung am Guten (zugleich: Kritik an der Kompensationsphilosophie) Eine Aufgabe der Philosophie besteht heute darin, gegen den Zeitgeist, gegen gesellschaftlich dominante Modelle von Identität, alternative Identitätsbegriffe begründet geltend zu machen. Bei den im Folgenden genannten Aspekten einer nichtinstrumentellen Identität spielt Negativität eine entscheidende Rolle, nichtinstrumentelle Identität ist wesentlich negative Identität. Auf einer sehr konkreten (hier nicht weiter thematisierten) Ebene bedeutet dies Negation im Sinne des Widerstands gegen implizit vermitteltes Orientierungswissen, genauer gegen die instrumentalistische Selbstinterpretation. Diese Negation meint auch die Einklammerung der naturalisierten biologische Wesen im Interesse der Verbreitung ihrer Gene. Einer solchen extrem naturalistischen Perspektive erscheinen Handlungen letztlich als Naturgeschehen, um ihrer selbst willen geltende Werte müssen als individuelle Projektionen umgedeutet werden. Zwar steht beim sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriff eine viel komplexere Theorie im Hintergrund, doch eine gewisse Nähe zum Naturalismus entsteht über die unreflektiert naturalisierte Geltung derjenigen Ziele, denen die Identitätsbildung zu dienen hat.

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Handlungsziele und damit der ungeklärten Normativität, mit der Identität von Seiten der Gesellschaft eingefordert wird. In der Tradition der Nicht-Identität (Adorno) kann zu dieser konkreten Ebene auch der Widerstand gegen die Identitätszumutung des sozialen und wirtschaftlichen Systems zählen, in dem Leben und Erwerbsarbeit stattfinden. Denn bestimmte andere Identitätskonzepte und entsprechende Orientierungsmöglichkeiten können überhaupt erst Bedeutung gewinnen, wenn ein Selbstkonzept verabschiedet worden ist, das sich etwa durch den potenziellen Blick eines Personalchefs auf das eigene Leben speist, durch einen Blick mithin, der die Identitätskonstruktion selbst merkantilisiert. In diesem Abschnitt möchte ich zwei über diesen konkreten Widerstand hinausgehende Facetten einer nichtinstrumentellen, negativen Identität beschreiben: Gegen das in Beobachterperspektive konzipierte Modell seiner selbst (gegen die 3.-Person-Perspektive) kann Identität in radikaler Aussetzung des Konzeptualisierens, in der Zurückweisung der Modelle des Selbst bestehen. Hier werden das Festhalten an der Teilnehmerperspektive und insbesondere die Konkretion der je eigenen Existenz konstitutiv für Identität. Negativität bedeutet in Bezug auf Identität in diesem Kontext vor allem Unbestimmtheit bzw. den Schutz solcher Phänomene, die wesentlich von Unbestimmtheit ausgemacht werden, gegen ihre Vereinnahmung durch Modelle (1). Und gegen den Instrumentalismus und gegen das Gute im Sinne des naturalistischen Paradigmas kann Identität schließlich auch in der Orientierung am Guten, also an jenem gewonnen werden, das die faktischen Verhältnisse transzendiert. Dies zu fordern heißt freilich auch jede philosophische Position zurückzuweisen, die sich im Sinne einer Kompensationstheorie (Odo Marquard, Hermann Lübbe) mit der faktischen Situation arrangiert, sei diese Situation sozial oder vor allem anthropologisch konzipiert (2). Insofern die sozialwissenschaftliche (instrumentalistische) Situationsdeutung zumeist die primäre ist, hat Philosophie in solchen Versuchen zuerst die Aufgabe, die unausgewiesenen Geltungsansprüche des Instrumentalismus zu bestreiten, um sodann negative Identität zu etablieren; ihre spezifische Orientierungsleistung wird eine Umorientierung im Sinne einer wesentlich anderen Selbst- und Situationsauslegung sein. (1) Negative Identität kann Wahrung der Unbestimmtheit, der fehlenden Selbstdurchsichtigkeit und der Unableitbarkeit der Sinnentwürfe bedeuten. Diese Facette des Konzepts negativer Identität ist A

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oben schon verschiedentlich benannt worden, jetzt soll sie gegen den faktischen Anspruch instrumentalistischer Identität gewendet werden. Wesentlich für die Wahrung von Unbestimmtheit ist, dass mit der Aussetzung der 3.-Person-Perspektive auch jedes Wirklichkeitsmodell, jedes big picture zurückgewiesen wird. Stellen wir uns vor, jemand, etwa die Personen aus den genannten Beispielen, wendet sich gegen das instrumentalistische Orientierungsangebot (der Imperativ der optimalen Nutzung der eigenen Ressourcen) mit dem leicht nachvollziehbaren Argument, es gebe in seiner Situation gar kein eindeutiges Richtig und Falsch, eine solche Annahme werde der Situation vielmehr nicht gerecht bzw. beschreibe sie falsch oder folge bei der Beschreibung einem falschen Modell. Wer so argumentiert, weist zugleich die ganze naturalisierte Selbstinterpretation zurück, denn in deren Rahmen zeichnen die definierbaren Elemente (etwa die individuellen Ressourcen) und die definierbaren Prozesse der Entscheidungsfindung (etwa der klügste Einsatz der Ressourcen) jeweils ein richtiges, ein optimales Resultat vor. Wer dies alles zurückweist, behauptet damit, Identität bestehe gerade nicht in jenem optimalen Resultat des in Identitätsarbeit entstandenen Patchworks. Diese Negation der naturalistischen Selbstinterpretation und der damit einhergehenden Annahmen lässt sich nun in einem größeren Kontext verstehen, nämlich als eine bestimmte Form der Negation des Versuchs lebenspraktischer Selbstbegründung. Negative Identität bedeutet dann, den verkrampften Versuch zu verabschieden, die eigene Identität gemäß einem Plan aktiv zu betreiben, sie modellhaft klug zu konstruieren oder sie auch nur beobachtend zu erklären und durchsichtig zu verbalisieren. Motiviert kann dieser Abschied vom Versuch der Selbstbegründung dadurch sein, dass bestimmte Verzerrungen auffällig werden, etwa der Imperativ einer Kalkulation oder die Annahme, es gebe in einem naturalistischen Sinn eindeutig richtige oder falsche Optionen. 48 In welche Richtung wird instrumentelle Identität überschritten, was soll an ihre Stelle treten? Selbstbegründung wie auch Verabschiedung der Selbstbegründung können in Anlehnung an einige Begriffe der Verzweiflungsanalysen Kierkegaards konzipiert werden. 49 Dabei wird die instrumentalistische Selbstinterpretation und Psychologisch gesprochen kann diese Negation die Befreiung von einem belastenden Idealdruck bedeuten. 49 Vgl. I.2.2. 48

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Identitätskonstruktion? Kritik der instrumentellen Identität

Identitätskonstruktion als Form von Verzweiflung beschrieben. Der Imperativ der optimalen Ressourcennutzung kann zum einen deshalb als verzweifelt bezeichnet werden, weil er den Akteur überdeterminiert: Dieser muss unter der Maßgabe eines unbezweifelbaren (weil von Natur aus geltenden) sozialen Imperativs alles richtig machen. Was zu tun ist, steht schon fest, doch tun muss er es selbst, nämlich (bei Strafe eines misslingenden Lebens) optimal. Auch das Optimum steht schon fest, insofern die Faktoren feststehen, die in es eingehen (Ressourcen, Bedingungen), aber lässt sich dieses Optimum überhaupt realisieren? Verzweiflung meint hier so viel wie eine Selbstfestlegung in 3.-Person-Perspektive: den Verlust von Möglichkeit. Zum anderen trägt der Imperativ der optimalen Ressourcennutzung aber auch Züge eines verzweifelten Sichverlierens in zu wählenden Optionen. Die Strategien, mit deren Hilfe die eigene Identität konstruiert werden kann, sind stets so zahlreich, dass jede Realisierung nur einer Möglichkeit als ein unkluger Verzicht auf andere Möglichkeiten erscheinen muss. Im Lichte dessen, was potenziell alles möglich ist, erscheint zudem das faktisch je schon Bestehende stets als ungenügend (die Faktizität wird gewissermaßen ständig durchgestrichen). Erst in der Wahl einer Option kann Identitätsarbeit aufgehen – doch in der Außenperspektive des instrumentellen Imperativs droht die Option gerade durch die Wahl (welche sie in Faktizität verwandelt) den Glanz möglichen Gelingens des Lebens zu verlieren. In dieser Situation, so kann man in Anlehnung an Kierkegaards Analysen sagen, geht es um Abwehr von Verzweiflung (der Verzweiflung der Endlichkeit und der Unendlichkeit 50 ). Das den beiden Verzweiflungsformen gemeinsame modellhafte Denken (Modelle des Notwendigen, Modelle des Möglichen) muss ausgesetzt werden, es geht darum, aus der Beobachterperspektive in die Teilnehmerperspektive zurückzukehren. Negativität als Unbestimmtheit muss stark werden, um den verzweifelten Blick auf sich selbst einzuklammern. In der Perspektive der 1. Person nimmt Identität, noch diesseits aller Selbstkonzepte, die Bedeutung der Gestaltung von Faktizität an, meint also zunächst einfach das konkrete Erleiden, Erfahren und Bewältigen der kontingenten Situation, sodann auch ihre lebenspraktische Gestaltung und Veränderung. Zwei Ebenen lassen sich hier unterscheiden: Auf der Ebene der Existenz bedeutet negative Identität 50

Vgl. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode: 25 ff. A

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nicht den Prozess des Konstruierens, Betreibens und Kalkulierens, sondern im Gegenteil das Sichherauskristallisieren einer (sich immer wieder verändert zeigenden) Gestalt als Ergebnis der an Faktizität rückgebundenen Erfahrung und Lebensgestaltung. Und auf der konzeptuellen Ebene bedeutet negative Identität die Einklammerung aller Modelle seiner selbst, also das Bewusstsein von deren Modellhaftigkeit und begrenzter Reichweite (und damit das Festhalten an der Abgründigkeit und Entzogenheit der Existenz, das Festhalten an Unbestimmtheit), sie bedeutet die Konzentration auf die Teilnehmerperspektive und damit eher auf die Erfahrung als auf das Verstehen der Situation. (2) Neben der Unbestimmtheit sehe ich noch eine weitere Facette von Negativität, welche gegen den Instrumentalismus stark gemacht werden muss, nämlich die Orientierung an jenem Guten, das die Situation transzendiert. Inwiefern es sich hierbei um eine Facette von Negativität handelt und welche konkrete Form negativer Identität mit dieser Formulierung gemeint ist, möchte ich zunächst durch eine Kritik an der Kompensationsphilosophie erläutern. Indem eine mögliche philosophische Alternative kritisiert wird, die ihrerseits in Konkurrenz zur instrumentalistischen Selbstinterpretation tritt, kann der genaue philosophische Sinn einer Orientierung am Guten besser bestimmt werden. Es sind vor allem Philosophen wie Hermann Lübbe und Odo Marquard, die in der Tradition Joachim Ritters den Gedanken der Kompensationsfunktion von Philosophie ausgearbeitet haben. 51 Gemeinsam ist beiden die Skepsis gegenüber fundamentaler Kulturkritik. Marquard geht es vor allem um »positive Kompensationen«, die an die Stelle einer radikalen Negation des Faktischen treten sollen und die etwa die spezifisch modernen Probleme der technischen Zivilisation kompensieren. Marquard meint hier z. B. die Ausbildung eines historischen Sinns, die Erinnerungs- und Bewahrungskultur, die Belletristik usw. 52 Auch Lübbe weist fundamentale Kritik an der modernen Kultur zurück, auch er betont die kompenVgl. z. B. Ritter 1989a, Lübbe 1990, Marquard 2000a. Vgl. Marquard 2000b: 39 f. Marquard möchte »angesichts der spezifisch modernen Defizienzen – die spezifisch modernen positiven Kompensationen geltend machen« (aaO.: 39). »Zur modernen Fortschritts- und Innovationskultur, die auf Emanzipation aus den Traditionen setzt, zum Wegwerfen zwingt und schließlich sogar die lebensweltlichen Geschichten wegwirft, gehört – als Kompensation – spezifisch modern die Ausbildung des historischen Sinns« (ebd.). Vgl. auch Ritter 1989b: 131 ff.

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sierenden Errungenschaften, die genauso zur Moderne gehören wie ihre problematischen Tendenzen. Nicht nur Naturzerstörung hat die Moderne hervorgebracht, sondern ebenso Naturästhetik, Naturschutz- und Lebensreformbewegung. 53 Modern ist nicht nur Religionskritik, sondern auch die pragmatische Ausübung von Religion als »Kontingenzbewältigungspraxis«, als eine Kompensation menschlicher Kontingenzerfahrungen. 54 Zwei Aspekte einer solchen Kompensationsphilosophie scheinen mir besonders problematisch. Zum einen wird die Rekonstruktion von Phänomenen als Kompensationen diesen Phänomenen nicht gerecht, es droht ein Phänomenverlust. 55 Literarische Kunst, der Gedanke eines Eigenrechts der Natur oder die Tradition einer religiösen Transzendenz, sie verlieren in dieser Funktionalisierung ihre spezifische Tiefe. Konsequent spricht Lübbe auch der Sinnfrage selbst ihre Berechtigung ab. Begriffsgeschichtlich handle es sich hier um eine im frühen 20. Jh. üblich werdende falsche Verwendung des Begriffs Sinn (im Sinne von Handlungssinn) in Bezug auf »handlungssinntranszendente Bestände« (wie z. B. Leben, Geschichte, Welt). 56 Die Kompensationsphilosophie übersieht an jenen Größen, die sie als positive Kompensationen versteht, etwas Wesentliches. Dieses besteht gerade darin, dass sich etwa Kunst, Religion oder auch die Frage nach Sinn negativ auf das Ganze der vorfindlichen Welt beziehen. Kunst und Religion bekommen die strukturelle Gebrochenheit der faktisch existierenden Wirklichkeit in den Blick und verbinden diese Sicht mit der Möglichkeit einer anderen Wahrheit. In diesem negativen Bezug artikuliert sich die Möglichkeit, gerade in der Vertiefung des Negativen das Andere dieses Negativen ausmachen zu können. Diese spezifische Negativität zu übersehen bzw. ihr Potenzial für das Denken zu verdecken, darin liegt der zweite problematische Aspekt der Kompensationsphilosophie. Indem Lübbe und Marquard allzu empfindlich auf fundamentale philosophische Kritik an der Moderne reagieren, können Vgl. Lübbe 1986c: 14. Vgl. Lübbe 1986a: 149. 55 Der russische Filmemacher Andrej Tarkowskij schreibt etwa über seine Kunst: »Alles […] gibt der Künstler in der Schaffung eines Bildes wieder, das auf eigenständige Weise das Absolute einfängt. Mit Hilfe dieses Bildes wird die Empfindung des Unendlichen festgehalten, wo es durch Begrenzungen zum Ausdruck gebracht wird: das Geistige durch das Materielle und das Unendliche durch Endliches« (Tarkowskij 1985: 42). 56 Lübbe 1990: 139, vgl. auch ders. 1987: 27 f. Lübbe spricht hier vom Sinn als einer Geschichtskontingenzbewältigungsformel (aaO.: 21). 53 54

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sie kritische Potenziale von Negativität nur noch als Ideologie diffamieren. Dabei verschließt sich eine spezifische Möglichkeit des Denkens, auf die es mir im Kontext der hier so genannten Orientierung am Guten gerade ankommt. Die Formulierung der Orientierung am Guten bezeichnet zunächst eine Alternative zum Instrumentalismus, sie bestreitet die instrumentalistische Selbstinterpretation und damit wesentlich die unausgewiesene, als naturhaft behauptete Geltung eines Imperativs wie dem der optimalen Ressourcennutzung. Auch die Kompensationsphilosophie stellt die philosophische Bestreitung eines totalen Instrumentalismus dar. Der Unterschied ist gleichwohl folgender: Während sich das Konzept der Kompensation gewissermaßen horizontal auf das Kritisierte (den Instrumentalismus) bezieht (es geht darum, ihn kompensierend zu ergänzen), kommt es mir, so ließe sich sagen, auf einen vertikalen Bezug an: Das Kritisierte soll in seiner Negativität verstärkt werden, um es so erst dialektisch (und nicht länger dualistisch) verstehen zu können, um es auf das Andere seiner selbst hin durchsichtig zu machen. Bezogen auf die instrumentalistische Selbstinterpretation bedeutet dies formal gesagt, dass gezeigt werden muss, inwiefern für die naturalisierte Geltungsbehauptung des Instrumentalismus gerade das Andere des Naturalismus sinnkonstitutiv ist. Inhaltlich gesagt geht es darum zu zeigen, dass der Instrumentalismus selbst ein Wert ist oder dass hinter ihm ein Wert steht (der Wert der Freiheit, der Wert der Autonomie) und dass entsprechend die Naturalisierung der Geltung im Kontext des Instrumentalismus eine Verdeckung seiner Werthaftigkeit, seines kulturellen Status bedeutet. Mit diesem Ansatz folge ich Charles Taylors Analysen der Werthaftigkeit scheinbar rein logischer Geltungen, die er etwa am Beispiel der prozeduralen Rationalität der Verfahrensethik durchgeführt hat. 57 Ebenso folge ich Taylors Projekt einer Rekulturalisierung jener moralischen Güter, die sich nur noch als akulturelle Geltungen artikulieren. Es geht Taylor darum, die Quellen unserer modernen Identität zu verlebendigen, indem moralische Güter in ihrem Status als kulturelle Werte sichtbar gemacht werden. In diesem Sinn ist dann zu fragen, welche Ideale des Selbstseins, der Selbstwerdung und der freien Selbstbestimmung auch noch hinter einem Imperativ wie der optimalen Ressourcennutzung stehen bzw. welche Artikulationen, welche konkrete Lebenspraxis eine im Vergleich zu diesem Imperativ 57

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Vgl. Taylor 1986b.

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bessere Alternative bietet. Es geht um eine Lebenspraxis, welche das ursprüngliche Ideal, das moralische Gut, besser bewahrt bzw. artikuliert. Im Zuge solcher Fragen muss es dann dazu kommen, Identität nicht länger im Sinne etwa eines selbst konstruierten Gehäuses als Mittel zu einem scheinbar von Natur aus geltenden Zweck (als optimale Voraussetzung zur Realisierung dieses Zwecks), sondern als Selbstzweck zu verstehen. Orientierung an einem situationstranszendenten Guten meint hier Orientierung an einem kulturellen Wert, der im Instrumentalismus nicht aufgeht. Das Ideal der Autonomie überschreitet den Instrumentalismus vor allem deshalb, weil die Ausbildung von Autonomie im Kontext eines Ideals selbst als ein Gut erscheint. Orientierung am Guten heißt im Kontext der Bestreitung des Instrumentalismus der Frage nachzugehen, worin der tiefste Sinn des moralischen Gutes der Autonomie und des Selbstseins liegt, metaphorisch gesagt, welche spezifisch moderne Vision und Hoffnung dieses Ideal bezeichnet. Eine solche Orientierung am Guten tritt in einen strikten Gegensatz zum sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriff, zu dessen instrumentalistischer Selbstinterpretation und unausgewiesener Geltungsbehauptung. Den spezifischen Sinn ihrer Bestreitung bezieht diese Orientierung gerade aus der Negation des Instrumentalismus im Sinne der Überschreitung auf moralische Güter hin.

II.2. Das Leben – ein Kunstwerk? Kritik der Philosophie der Lebenskunst Bei der Kritik der Lebenskunst geht es mir darum, ein gängiges Identitätsangebot vor dem Hintergrund und mit Hilfe der erarbeiteten Theorie negativer Identität philosophisch zu kritisieren sowie Kriterien für eine philosophisch befriedigendere Theorie der Lebenskunst zu benennen. Eine solche Theorie dürfte vor allem Negativität nicht verdecken, sondern müsste sie in ihrer sinnkonstitutiven Bedeutung für Lebenspraxis erschließen. Das Identitätsangebot der bestehenden Lebenskunstphilosophie besteht darin, dass man sich gewissermaßen als Subjekt eines individuellen künstlerischen Schaffensprozesses auffassen soll, dessen Gegenstand das eigene Leben ist. Dieses Angebot ist ein Teil der Gegenwartskultur. Um mich auf dieses Angebot so beziehen zu können, dass ein philosophisches Argumentieren möglich ist, orientiere ich mich exemplarisch an einer zeitgenössiA

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schen theoretischen Konzeption der Lebenskunst, an derjenigen Wilhelm Schmids. 1 Schmids Theorie der Lebenskunst kann als wichtige philosophische Antwort auf gegenwärtige lebenspraktische Orientierungsbedürfnisse verstanden werden. Die große Resonanz dieser Lebenskunstphilosophie zeigt nicht zuletzt, dass die akademisch-philosophische Thematisierung des eigenen, jeweils selbst zu führenden Lebens (und hier liegen die Verdienste Schmids) als Desiderat empfunden wird. 2 Meine Kritik der Lebenskunst möchte ich in drei Schritten entwickeln: In einem ersten Schritt soll eine spezifische Gefahr aufgezeigt werden, in der Schmids Bemühung um Lebenskunst steht. Es handelt sich um die Gefahr, lediglich eine unphilosophische Theorie der Lebenskunst zu sein und identitätstheoretisch über einen Begriff der konstruierten Identität nicht hinauszukommen (II.2.1.). In einem zweiten Schritt möchte ich diese Kritik negativitätstheoretisch zuspitzen: Das Unphilosophische an Schmids Theorie der Lebenskunst kann gerade als Verlust von Negativität verstanden werden. Das Gelingen und die Kunstförmigkeit des Lebens wird bei Schmid besonders dadurch gewährleistet, dass die Selbstgestaltung des Lebens sinnvoll in ein zuvor konstruiertes big picture passt. Totalität, die kein Außen, kein Anderes ihrer selbst kennt, wird damit konstitutiv für Schmids Lebenskunst. Im Hintergrund steht hier die Ausblendung der Negativität des Lebens (und der Kunst) bzw. deren unzureichende Reflexion (II.2.2.). Entsprechend ergeben sich Forderungen an eine Philosophie der Lebenskunst, die in einem dritten Schritt zusammengefasst werden (II.2.3.): An die Stelle einer Theorie der Lebenskunst sollte eine Philosophie treten, welche, weit davon entfernt, Negativität auszuschließen, im Gegenteil sich auf diese gründet und welche sich dennoch nicht scheut, praktisch im Sinne von lebenspraktisch zu werden. Gestaltung, so kann gegen Schmid gesagt werden, ist nur ein kleiner Teil des Lebens. Die Tiefe des Lebens aber hat viel damit zu tun, dass Leben wesentlich geschieht und zwar als etwas, das nicht begrifflich fassbar ist. Die Möglichkeit wiederum, das Leben in Analogie zu Kunst zu beschreiben (und zu führen), geht wohl weit eher auf diese Tiefe zurück als auf die Bemühung, das Leben klug zu gestalten. Vor allem beziehe ich mich auf Schmid 1998. Von philosophischer Seite hat Schmids Ansatz Unterstützung, aber auch Kritik provoziert. Vgl. etwa Rentsch 2001 bzw. Luckner 1999.

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II.2.1. Die Gefahr einer unphilosophischen Theorie der Lebenskunst Lebenskunst tritt heute als Imperativ auf: Es gilt, so der gesellschaftliche Konsens, sein eigenes Leben zu leben, dieses einerseits an selbst gewählten Werten auszurichten und andererseits möglichst geschickt, günstig und genussvoll zu gestalten, sodass sich das eigene Leben wie ein gelungenes Werk sehen lassen kann. Die gängige Form der Theoretisierung dieses Imperativs der Lebenskunst stellt die Ratgeberliteratur dar. Es besteht ein genuines Interesse an einem authentischen Leben, die Frage ist nur, ob Ratgeberliteratur und Lebenskunst hier in einem emanzipativen Sinn einen Weg weisen können. Der Versuch einer philosophischen Konzeptualisierung der Lebenskunst, wie ihn etwa Wilhelm Schmid oder in anderer Form auch Gert B. Achenbach vorgelegt haben, 3 unterscheidet sich von der Ratgeberkultur zwar grundsätzlich. Diese Autoren rekurrieren auf die philosophische Tradition und unterziehen den Begriff des Guten und somit auch das Kriterium der Lebensziele und des Gelingens des Lebens einer systematischen Reflexion. Aber ähnlich wie die Ratgeberliteratur stellen sie z. B. den Imperativ der Lebenskunst selbst nicht in Frage. Vor allem aber fragen sie nicht von der Philosophie aus nach Lebenskunst, sie fragen auch nicht danach, wie sich jemand, der sich der Philosophie verschrieben hat, zur Lebenskunst stellen wird, ob und in welcher Form für ihn Lebenskunst überhaupt möglich ist. Erst dieser Schritt aber würde zu einer explizit philosophischen Reflexion der Lebenskunstproblematik führen. Möchte und wenn ja, wie könnte Gegenwartsphilosophie selbst Lebenskunst sein? Schmid geht genau andersherum vor, er fragt von der Praxis der Lebenskunst aus nach philosophischen Gehalten, welche diese bereichern können. Entsprechend unterscheidet Schmid zwischen einer Philosophie als Lebenskunst (»eine praktisch ausgeübte philosophische Lebensform«), 4 um die es ihm in seinem Ansatz gerade nicht zu tun ist, und einer philosophischen Reflexion des Lebens, einer Philosophie der Lebenskunst, die er betreibt. Bei der Philosophie als Lebenskunst lässt sich etwa an die antiken Philosophenschulen denken, die von ihren Anhängern als Konsequenz aus der Philosophie eine Der philosophische Praktiker Gerd B. Achenbach wendet sich allerdings explizit gegen das Konzept der Lebenskunst (vgl. Gerd B. Achenbach: Lebenskönnerschaft. Freiburg u. a.: Herder 2001, 71 ff.). 4 Schmid 1998: 10. 3

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bewusste Entscheidung für eine (unübliche) Lebensform verlangten. Mithilfe dieser terminologischen Formel Schmids ausgedrückt, könnte ich meine Forderung an philosophische Lebenskunst (vgl. II.2.3.) so formulieren, dass es mir im Gegensatz zu Schmid gerade um eine Philosophie als Lebenskunst zu tun ist. (1) Bei Schmid beginnt Lebenskunst mit der Entscheidung, das Leben bewusst zu gestalten. Das Leben soll, eben weil es begrenzt ist (88 5 ), zu einem explizit eigenen Leben gemacht werden (89). Deshalb gilt es zu ergründen, wer man ist (91) und welche Wahl man hat (90), um so dem Leben einen lebenswerten Zusammenhang (90) und damit Bedeutung zu geben (92). Gewissermaßen letztes Ziel der Lebenskunst ist das erfüllte Leben: »Der, dem Lebenskunst zugeschrieben werden kann, zeichnet sich dadurch aus, dass er ein erfülltes Leben führt« (94). Es handelt sich also um den pragmatischen Versuch, befriedigende Lösungen im Sinne operabler Antworten für das eigene Leben zu finden (93). Für diese pragmatische Lebenskunst ist die Verabschiedung des modernen Traums einer Überwindung der großen Widersprüche und Differenzen der Welt Voraussetzung (112). Hier zeigt sich, wie hoch der Preis ist, den das ›erfüllte Leben‹ zahlen muss: Um erfülltes Leben zu sein, muss es das Gefühl für die Brüchigkeit oder Widersprüchlichkeit des Ganzen abdrängen, und es muss damit auch die Hoffnung auf eine Wendung dieses Widersprüchlichen aufgeben. Zu einer Kunst des Lebens im engeren Sinn wird Schmids Ansatz einerseits durch einen positiven Begriff des Stils und der Stilisierung (auch im Sinne von Kultivierung). Ein selbst gewählter Lebensstil verleiht dem eigenen Leben und seiner bewusst geformten Gestalt Ausdruck, und dies ist selbst schon Teil der Erfüllung (127). Zum anderen sieht Schmid auch eine explizite Analogie zwischen Lebenskunst und dem kreativen Kunstschaffen. Das Subjekt der Lebenskunst (der Künstler) ist jeder Einzelne (73), das Material zu dieser Kunst stellt die Mannigfaltigkeit des gelebten Lebens dar (71), die künstlerische Form, welche diesem Material gegeben wird, ist die Gestalt des bewusst geführten Lebens (wohl auch der Lebensstil) (71), das Werk, das Objekt der Lebenskunst ist wiederum wie das Subjekt jeder Einzelne (73), und als Kriterien für das

Seitenangaben ohne weitere Kennzeichnung beziehen sich im Folgenden auf Schmid 1998.

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Gelingen oder Misslingen des Lebenskunstwerks nennt Schmid analog zum Kunstwerk den eigenständigen inneren Zusammenhang, die Beziehung zu Werken anderer, die Regeln der Gestaltung sowie die Frage, welchen (etwa trivialen oder originären) Erfahrungen das Lebenskunstwerk Rechnung trägt (79). Die Analogie zur Kunst geht für Schmid so weit, dass es sich bei dem Lebenskunstwerk um eine überindividuelle Kulturleistung handelt, die auch als Arbeit für künftige Generationen zu verstehen ist (74). Was für Schmid zunächst einnimmt, ist sein Mut, konkret zu werden und bis in Alltagsthemen hinein (Schmid spricht selbst von den »Niederungen alltäglicher Existenz«, 69) ohne überhöhende sprachliche Verschleierung Positionen im Sinne der Lebenskunst zu beziehen. Schmid vermeidet die Schwäche vieler Philosophen, in vermeintlicher Bescheidenheit selbst nur die Grundlegung eines philosophischen Ansatzes zu leisten und die Ausarbeitung bzw. die schwierige Herstellung der Bezüge zur konkreten Welt (die beim Schreiben so unbeliebten Beispiele) anderen zu überlassen. Dennoch, und dies ist meine Kritik, besteht die Gefahr, dass es bei einer unphilosophischen Theorie des gelingenden Lebens bleibt, welche sich zwar systematisch und historisch an der Philosophie der Tradition und der Gegenwart ausweist, welche sich aber nicht aus Ansätzen der Gegenwartsphilosophie selbst heraus der Frage der Lebenskunst widmet. Dies hat zur Folge, dass Schmids Ansatz zwar eine umfangreiche und differenzierte Reflexionsleistung darstellt, dass sich aber diese Reflexion in einem zuvor abgesteckten Rahmen gleichsam hin und her bewegt, ohne die Bedingungen, die Grenzen und das diesen Rahmen Transzendierende genügend zu reflektieren. Immer wieder entsteht so der Eindruck einer nicht thematisierten Immanenz, einer Ganzheit, deren Teile zwar nahezu vollständig beschrieben werden (was das Verbleiben in der Immanenz verstärkt), die aber gewissermaßen kein Außen, kein Anderes ihrer selbst kennt. Im Zuge dieses Ausschlusses des Anderen durch eine Totalität, die sich dieses Ausschlusscharakters nicht bewusst ist, kommt es dann zu spezifischen Verzerrungen auch der Lebenskunst selbst. (2) Dass es gerade diese Struktur einer totalisierenden Immanenz ist, die das spezifisch Unphilosophische an einem Konzept von Lebenskunst ausmacht, lässt sich an einem fiktiven Protagonisten der Lebenskunst veranschaulichen: Robert Musil führt im 31. Kapitel des Zweiten Buchs seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften die A

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Figur des Gymnasiallehrers Dr. Lindner ein. 6 In ihrer Not (sie möchte sich scheiden lassen) vertraut sich Agathe Lindner, den sie zufällig auf einem Spaziergang trifft, an. Für die orientierungs- und ratlose Agathe ist Lindner scheinbar der ideale Berater. Denn Lindner ist ein Mann, der ein alle Bereiche seines Lebens und Denkens umfassendes System der Lebensweisheit entworfen hat, das keine Frage offen lässt und demgemäß Lindner sein Leben eingerichtet hat. 7 Lindners Lebenskunst bezieht sich zunächst gestaltend auf verschiedene (vermeintlich überschaubare) Ganzheiten aus dem Bereich des Alltäglichen: Jeden Tag wäscht er »Gesicht, Hals, Hände und ein Siebentel seines Körpers, jeden Tag natürlich ein anderes«. 8 Die Ganzheit des Körpers und die Ganzheit der Woche werden so auf eine sich wechselseitig bestätigende Weise aufeinander bezogen. Die 24 Stunden des Tages hat Lindner sinnvoll aufgeteilt: Er widmet sieben Stunden dem Schlaf, drei bis fünf Stunden den Lehrverpflichtungen, fünf Stunden dem Lesen, zweieinhalb Stunden dem Schreiben, eine Stunde den Mahlzeiten, eine Stunde dem Spaziergang »und zugleich der Erbauung an großen Fach- und Lebensfragen« usw. 9 Schon die Fähigkeit dieser spezifischen Bewältigung des Alltags geht mit einigem Selbstgenuss einher: Lindner hat das Ungenügen täglicher Improvisation klug auf eine objektive Ganzheit bezogen und an dieser festgemacht; es ergibt sich der Schein einer grundsätzlichen Lösung. Viel bedeutender für die Selbstaffirmation durch ein selbst entworfenes System ist aber dann die Ausweitung dieser Alltagsbemächtigung auf ein größeres Ganzes, etwa die Geschichte oder das Volk. Das asketische morgendliche Waschen z. B. stellt Lindner in die Gemeinschaft mit historischen Persönlichkeiten, die ja auch nur schlechte Waschgelegenheiten und Betten hatten. Lindner sieht geradezu eiMusil 1988: 966 ff. im Folgenden wird das Werk abgekürzt mit der Sigle MoE. Ich beziehe mich hier auf Musils Figur ausschließlich deshalb, weil sich an ihr (freilich überspitzt und vereinfacht) die Problematik der Totalität und Immanenz und der damit zusammenhängenden Verzerrung der Lebenskunst durch eine indirekte Selbstaffirmation (eine spezifische Form von Selbstgenuss) veranschaulichen lässt. Außer dieser Struktur erinnert Lindners Lebenskunst nicht an diejenige Schmids, sie ist dieser sogar in einer entscheidenden Frage diametral entgegengesetzt, nämlich insofern jene auf Triebverdrängung und soldatischer Disziplin aufbaut (vgl. MoE: 970, 972, 1046), während Schmid für einen gelassenen und genussvollen Umgang mit Leidenschaften plädiert, ja etwa eine Kunst der Erotik explizit zur Lebenskunst zählt (vgl. Schmid 1998: 333 ff.). 8 MoE: 1049. 9 MoE: 1052. 6 7

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nen Zusammenhang »zwischen eisernen Betten und eisernen Männern«. 10 Die selbst aufgestellte Regel des Waschens erlangt so scheinbar eine allgemeine historische Gültigkeit. Dieser Status zeichnet dann (in einem Schritt vom großen Ganzen zurück auf das Nächstliegende) Lindners Alltagsbewältigung als eine objektiv richtige aus. Ähnlich ist es beim Abtrocknen, hier versucht Lindner, die ganze Persönlichkeit zu beteiligen, »indem er die Bewegungen seines Körpers mit schönen inneren Aufgaben« verbindet. 11 Obwohl sich nämlich das Abtrocknen auch zu einer körperlichen Abhärtung nutzen ließe, übt Lindner dabei lieber seinen Charakter, denn er ist überzeugt, dass die Gesundheit ihre Wurzeln im Geistigen hat. Mit einem Blick auf das Ganze des Volkes sagt er sich: »die Kraft eines Volkes ist die Folge des rechten Geistes, und nicht gilt es umgekehrt«. 12 Wieder ist es die Ausdehnung aufs große Ganze, welche dem eigenen Tun erst die Gewissheit der Richtigkeit gibt und es damit als ein kluges, ja weises auszeichnet. Lindners Strategie bedient sich der Konstruktion eines big picture und der anschließenden Selbstverortung in diesem Wirklichkeitsmodell. Dies führt zu einer wechselseitigen Selbst- und Weltaffirmation, die dann als Lebenskunst empfunden wird. Aufgewühlt von der zufälligen Begegnung mit Agathe und zufrieden mit seinen Ratschlägen für sie befindet sich Lindner auf der Rückfahrt von seinem Spaziergang: »Dann schwang er sich in eine Ecke, blickte in dem leeren Wagen um sich, machte das Fahrgeld bereit, sah dem Schaffner ins Gesicht und fühlte sich ganz auf dem Posten, in der bewundernswerten Gemeinschaftseinrichtung, die man Städtische Straßenbahn nennt, die Rückreise anzutreten«. 13 Hier wird das faktisch Vorhandene, das Nächstliegende aus dem Gefühl einer umgreifenden Stimmigkeit heraus bejaht, auch wenn es sich nur um eine Straßenbahn handelt: Lindner hat alles richtig gemacht, so wie auch die Gemeinschaft sich eine sinnvolle Einrichtung geschaffen hat, die Lindner nun seinerseits bestimmungsgemäß benutzen wird. Auf gleich mehreren Gebieten affirmieren sich hier das kleine und das große Ganze wechselseitig. Indem Lindner so sich selbst stets in Übereinstimmung mit dem Ganzen sieht (mit einem Ganzen freilich, das von 10 11 12 13

MoE: 1049. MoE: 1050. MoE: 1050. MoE: 1049. A

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ihm selbst als Modell zuvor konstruiert worden ist) ist seine Selbstgewissheit unerschütterlich. Nach dem Treffen mit Agathe ist ihm »wohlig frei« 14 zumute; auch als er von einem jungen Mann auf der Straße beleidigt wird, ist er nach einer Weile wieder »sehr zufrieden mit sich«, 15 und nach der für ihn selbst entsetzlich peinlichen Aussprache mit Agathe einige Zeit später in seiner Wohnung, fasst er sich wieder mit den Worten: »Man muß den festen Willen zur Tapferkeit gegenüber allem Peinlichen haben!«. 16 Diese Immunität gegenüber Kritik ist ein Ergebnis einer Selbstdistanzierung, welche unmittelbar mit jenem Selbstverhältnis einhergeht, das über ein (zuvor selbst konstruiertes) Bild des großen Ganzen vermittelten ist. Lindner wird sich selbst zu etwas Äußerem, zu einer 3. Person, indem er seine Identität über eine Verortung im großen Ganzen, über eine Selbsteinschreibung in ein (zuvor konstruiertes) big picture gewinnt. Inwiefern finden sich die hier benannten Charakteristika einer unphilosophischen Lebenskunst auch bei Schmid und wie können sie philosophisch als Verlust von Negativität interpretiert werden? II.2.2. Philosophische Kritik der Lebenskunst: Verlust von Negativität Bei der Figur des Dr. Lindner handelt es sich freilich um eine Fiktion. Sein System der Lebenskunst wird von Musil einseitig und übertrieben angelegt und bewusst ins Lächerliche gezogen. Dieses System kann schon deshalb nicht als Ganzes mit Schmids Philosophie der Lebenskunst vergleichen werden, weil es im Unterschied zu dieser philosophisch nicht reflektiert ist. Mir ging es um die (in der Übertreibung leichter zugängliche) Veranschaulichung einer bestimmten Struktur, nämlich der wechselseitigen Affirmation der Konstrukte eines alltäglichen und eines umgreifenden Ganzen. Insofern diese Totalität kein Anderes ihrer selbst kennt, reflektiert sie sich nicht im Sinne der Negativität, und gerade dies ist das Unphilosophische. 17 MoE: 1045. MoE: 1047. 16 MoE: 1081. 17 Reflektiert werden müsste etwa auch jene totale Bejahung des Ganzen, welche Nietzsche in Zarathustras Ja- und Amen-Lied artikuliert (vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra: 286 ff.). Selbst- und Weltbejahung steht leicht in der Gefahr der Naivität, der fehlenden Reflexion ihrer Voraussetzungen. 14 15

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Diese formale Struktur nun findet sich auch im Ansatz Schmids, sie sei an drei Beispielen erläutert. 18 Zunächst stellt Schmids theoretischer Entwurf selbst so etwas wie ein System dar, in das sich der Lebenskünstler einzeichnet, wobei das Bewusstsein der Stimmigkeit aus der Spiegelung des Lebenskunstsystems in der Alltagsgestaltung resultiert. Nicht nur, dass Schmids Denken die Totalität der Themen zu umgreifen versucht,19 die Lebenskunst des Alltags wird in das Koordinatenkreuz der Geistesgeschichte eingetragen, sei es, dass ihr »epikureische[s] Element eines lustvollen Lebens« (52) oder ihr »essayistische[s] Element, das mit der Neuzeit Eingang in eine reflektierte Lebenskunst findet« (53) benannt oder sei es, dass die zwischen Moderne und Postmoderne vermittelnde Funktion der Lebenskunst (die eine andere Moderne anstrebt) beschrieben wird (103 ff.). Die Kohärenz des Selbst der Lebenskunst (252 ff.) vermeidet den modernen Zwang zur einheitlichen Identität wie auch die postmoderne Gefahr der multiplen Identität. Und aus dem Widerspruch zwischen pragmatischer Moderne und romantischer Flucht aus dieser Moderne schmiedet die Lebenskunst das Programm einer pragmatischen Romantik (112). Hier wird die Problematik der Immanenz und Totalität deutlich: Wie in einem Spiegel versammelt der mit Genuss und Klugheit gestaltete Alltag das ganze System der Lebenskunst in sich, und das ist gewissermaßen die Summe all dessen, was philosophiegeschichtlich als gut betrachtet wird. Eklektisch formt Schmid eine Ganzheit, die kein Anderes ihrer selbst kennt. Die Summierung des Bewährten (z. B. des Besten der Romantik und des Besten der Pragmatik) bietet nur den Schein eines denkerischen Fortschritts (und bildet auch keinen philosophischen GedanAuch hinsichtlich eines eng benachbarten Aspekts sehe ich eine Parallele, nämlich im Moment der Selbstdistanz und der Selbstaffirmation. Schmid spricht davon, das eigene Leben solle »Arbeitsgegenstand« werden, bei der Lebensführung unterscheidet er die »verwaltende Führung« (Erwerbsarbeit, Haushaltsführung), die »orientierende Führung« (Möglichkeiten eröffnen) und die »gestaltende Führung« (Realisierung der eigenen Vorstellungen) (117 f.). Ziel ist »die demokratische Verfassung des Selbst in seinem Inneren« (257) und der »Gesellschaftsbau der Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen« (253). Aus dieser Selbstdistanz im Sinne einer Verortung seiner selbst in einem zuvor konstruierten Wirklichkeitsmodell resultiert oft auch bei Schmid eine spezifisch zufriedene Selbstaffirmation. 19 Von der Gaia-Hypothese (410) bis zur Globalisierung (459), von der Demokratie (176) bis zum Ethikunterricht (317), vom Lachen (392) bis zur Organspende (212) und von der Arbeitslosigkeit (164) bis zur Depression (391) sind die unterschiedlichsten Themen des näheren und des weiteren Umkreises vertreten. 18

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ken). Ein solcher würde sich erst einstellen, wenn eine Struktur, die beiden versammelten Elementen gemeinsam ist, negiert und damit die Immanenz des Systems transzendiert würde. Das Begreifen hätte dabei nicht die Gestalt einer (der Tendenz nach) bemächtigenden Verbegrifflichung verschiedener Themen, sondern des Herausarbeitens offener Fragen. So wäre etwa die Figur der Selbstbestimmung zu hinterfragen, welche in verschiedenen Formen Romantik wie Pragmatik gleichermaßen auszeichnet. Ein Aspekt von Lebenskunst (neben anderen) könnte dann auch im Ausgang von Negativität im Sinne des Verlusts von Selbstbestimmung (etwa im Zuge des Scheiterns eines Selbstentwurfs) gedacht werden, wie ich es unten (II.2.3.) vorschlagen möchte. Ein zweites Beispiel für die Problematik der Totalität und Immanenz und für den Verlust von Negativität stellt Schmids Konzept eines ökologischen Lebensstils dar. Hier spiegelt sich die Ökologieproblematik im Alltag der Lebenskunst. Die Negativitätsvergessenheit besteht darin, dass die ökologisch lebenskluge Alltagsgestaltung den Schein einer Lösung auf das große Ganze zurückspiegelt (sie glaubt, die ökologische Krise meistern zu können) – und daraus wiederum eine spezifische Zufriedenheit gewinnt. Der private »Lebensstil des ökologischen Selbst« (430), zu dem auch eine Ökologie des Körpers gehört (433), 20 fügt sich, so Schmid, ein in die große Perspektive der Gestaltung des Wohnhauses (435 ff.), der Stadt und der Region (441 ff.), der Gesellschaft (447 ff.) und der Weltgesellschaft (455 ff.); große und kleine Ganzheit hängen so eng zusammen. Angesichts der ökologischen Problematik entwirft Schmid das »lebenskluge Subjekt«, »das den Übergang vom bloßen Konsumverhalten zum bewusst gewählten Lebensstil, vom Verbrauch zum Gebrauch« (432) von Energie vollzieht. Auch diese Spiegelung von umgreifendem und alltäglichem Ganzen, bei der sich das »ökologische Selbst« (430) auf spezifische Weise bestätigt und affirmiert fühlt, bildet eine Totalität, die kein Außen kennt. Dieses Außen bestünde hier etwa in dem Gedanken der Negativität im Sinne der Nicht-Identität: Unser Alltag kommt gerade nicht zur Deckung mit ökologischer Vernunft, weder sind wir in der Lage, unsere Bedürfnisse und Ansprüche grundlegend zu ändern, noch auch würde der Schritt vom Verbrauch zum Gebrauch von Energie ausreichen, um jene strukturelle Widersprüchlichkeit der westlichen Konsumgesellschaften aufzuheben, die 20

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»Der Körper, der gesamte Leib, ist selbst ein Ökosystem« (433).

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darin besteht, dass diese gewissermaßen parasitär zur übrigen Welt und zu den weltweit vorhandenen Ressourcen existieren. Dies wird auch in einem Vergleich deutlich: Die ökologische Problematik ist so abgründig wie die Problematik des radikal Bösen, also der strukturellen Abgründigkeit (im Sinne von Schlechtigkeit, Sündhaftigkeit) des Menschen. Auch in der Frage des Bösen hieße es, Negativität im Sinne der Reflexion eines Anderen der Immanenz zu verlieren, wollte man aus der praktizierten Kultur der Gewaltlosigkeit, der Erziehung, der Rechtsstaatlichkeit, des öffentlichen Gedenkens (Gedenkstättenarbeit) usw. auf die prinzipielle Lösung dieser abgründigen Problematik schließen. Wir müssen natürlich der (menschheitlichen) Problematik des Bösen mit einer (gesellschaftlichen, individuellen) Kultur des Guten entsprechen bzw. begegnen – aber dies hebt nicht die Kluft zwischen beidem auf, dies führt nicht zu einem Ganzen, bei dem wir uns beruhigen können. Demgegenüber gilt es auch hier vor allem, Negativität etwa im Sinne von Nicht-Identität herauszuarbeiten: Wieso kommt es gerade nicht zur Deckung zwischen der Problematik des Bösen und einem Alltag des guten Willens? Warum tun wir selbst das Böse, obwohl wir es nicht wollen? Das Bewusstsein dieser spezifischen Nicht-Identität wäre sicher eher Teil einer philosophischen Lebenskunst als die Konstruktion einer Lösung, die in ihrer Scheinhaftigkeit dann auch auf der Ebene der Lebenspraxis gerade keine (lebenskünstlerische) Lösung bieten kann. Schließlich lässt sich das Problem der Negativitätsvergessenheit auch am Beispiel der Begriffe Kunst und Leben verdeutlichen. Schmid läuft stets Gefahr, dem Leben wie der Kunst ihre Abgründigkeit zu nehmen. Leben ist, lebenskünstlerisch konzeptualisiert, immer zu gestaltendes Leben, sein prinzipieller Widerfahrnischarakter wird nur als eine Randbedingung für das Gestalten thematisiert. Und Kunst wird im Sinne einer äußerlichen Kunstgeschichte und Kunsttheorie simplifizierend als gleichbedeutend mit bestimmten Funktionen, Konzepten und Programmen verstanden, so als sei Kunst wesentlich programmatisch. 21 Schmid sieht nun die Aufgabe von Kunst besonders darin, Möglichkeiten des (gesellschaftlichen und äsDer russische Filmemacher Andrej Tarkowskij widerspricht einem solchen verkürzenden Verständnis der Kunst. Der Künstler bezwinge »immer auch sein eigenes Denken, das ein Nichts ist gegenüber einem emotional wahrgenommenen Bild […] das für ihn eine Offenbarung ist« (Tarkowskij 1985: 46). Tarkowskij wendet sich gegen das moderne Klischee, Kunst habe etwas mit Selbstverwirklichung zu tun (vgl. aaO.: 44 f.).

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thetischen) Andersseins zu produzieren (78). Doch dieses Anderssein versteht Schmid gerade nicht negativ als Anderes des Verstehens und Konzeptualisierens, vielmehr ist das Andere einfach das Unübliche, das im gesellschaftlichen und privaten Leben Neue, es handelt sich also um ein immanent Anderes. Entsprechend gilt dann als Regel der Lebenskunst: »Auch die Lebenskunst kann demnach, insofern sie Kunst ist, nicht darin bestehen, das Leben einfach so zu belassen, wie es ist« (78). Kunst wie Leben werden in diesem Sinn verstanden als »Arbeit an einer ganzen Kultur«, »Arbeit für künftige Generationen« (74). Verhält man sich dann zu sich selbst wie zu einem Kunstwerk, hat man es nicht mit etwas Abgründigem, gedanklich prinzipiell nicht Einzuholendem, sondern mit einem als Werk zu verwirklichenden Programm zu tun (man soll neue Lebensformen verwirklichen), das seine (stets verbalisierbare) Bedeutung zudem noch aus der Kultur als ganzer, ja von zukünftigen Generationen empfängt. Das Gelingen lebenspraktischer Selbstgestaltung bemisst sich hier nach einem zuvor konstruierten Konzept von Kultur und Kunst, das wiederum als (verflachtes) Gesamtmodell eines Teils der Wirklichkeit bezeichnet werden muss. So kommt es zu einer gegenseitigen Affirmation von Lebensstil und Kulturbegriff – und diese Affirmation fungiert dann als das Moment des Gelingens des Lebens. Doch diese Konstruktion ist schon deshalb problematisch, weil sie die strukturelle Negativität (etwa die Nichtverstehbarkeit oder das Moment des Erleidens) sowohl des Lebens als auch der Kunst verdeckt. Die drei genannten Beispiele für die Struktur der selbstaffirmativen immanenten Totalität machen, dies habe ich zu zeigen versucht, die Grenzen einer Lebenskunst deutlich, die wesentlich auf solchen Konzeptualisierungen beruht, welche Negativität als ihren Hintergrund (das die Immanenz transzendierende Außen) nicht hinreichend mitreflektiert. II.2.3. Negativität und Lebenskunst Im Folgenden möchte ich einige Aspekte einer philosophischen Theorie der Lebenskunst benennen, welche Negativität reflektiert und ihr eine zentrale Stellung zuweist. Der Zusammenhang ist weiterhin die Kritik bestehender Lebenskunstkonzepte. Das Kriterium dieser Kritik, die Negativitätsvergessenheit, umfasst zwei Aspekte. Zum einen ist dadurch der Phänomenverlust bezeichnet, der sich für 200

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jede Lebenskunst durch die Vernachlässigung der Negativität ergibt. Und zum anderen wird erneut ein explizit philosophischer Zug von Lebenskunst eingeklagt: Insofern konstitutive Negativität eine zentrale Entdeckung der Philosophie des 20. Jhs. ist, muss jeder Lebenskunsttheorie, welche an diesem Punkt unterbestimmt ist, der Vorwurf gemacht werden, ein bestimmtes Problem gegenwärtigen Denkens zu wenig zu berücksichtigen. Im Folgenden möchte ich das Thema Lebenskunst konkurrierend stärker selbst ausarbeiten, um so indirekt den Vorwurf der Negativitätsvergessenheit gegen Schmid weiter auszuführen. Vier Facetten von Negativität seien unterschieden: (1) Negativität lässt sich im Sinne einer Passivität als Moment einer dialektischen Bewegung (etwa eines beabsichtigten oder unbeabsichtigten Verlusts von Selbstbestimmung) verstehen. Eine Theorie der Lebenskunst wie diejenige Schmids, die als Ziel die Fülle und Erfüllung des Lebens (94) definiert und die dieses Ziel durch die Verfeinerung, Kultivierung und Stilisierung des Alltäglichen und daher vor allem durch Selbstbestimmung zu verfolgen versucht, vernachlässigt leicht die grundsätzliche Dialektik des Scheiterns und Gelingens, der vergeblichen Anstrengung und der mitunter widerfahrenden Lösung. Der Verlust von Selbstbestimmung 22 kann etwa im Zuge eines biografischen Bruchs oder Scheiterns eintreten: Ein erzwungener Umzug zerreißt das Netz der Beziehungen zu Menschen und Dingen, die Übernahme einer neuen sozialen Rolle offenbart das Ungenügen aller erworbenen Kompetenzen (der so genannte ›Praxisschock‹ des Berufseinstiegs), das Scheitern einer Beziehung gewährt einen Blick auf das eigene Ungenügen, der Zusammenbruch eines Selbstbildes lässt einen ratlos zurück, der Verlust des Arbeitsplatzes zerstört den Entwurf der Zukunft. Woran liegt es, dass all dies trotz seines Verlustcharakters dennoch zu einem erfüllten, ja sogar zu einem gelingenden Leben gehören kann? Wäre dieses gelingende Leben allein ein Ergebnis kluger Selbstsorge oder Lebensgestaltung, müsste der Verlust der Selbstbestimmung ein Scheitern des Lebens bedeuten. Doch in den genannten Beispielen kann dieser Verlust dialektisch mit einem passiven Gelingen verbunden sein (freilich muss dies nicht zwingend der Fall sein). Er wird dann zu einem Moment in Philosophisch reflektiert beschreibt Martin Seel Formen der Passivität, des Lassens und der Revision von Selbstbestimmung (vgl. Seel 2002b, ders. 2002c).

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einer dialektischen Bewegung, die das Andere zur verlorenen Selbstbestimmung mit umfasst, nämlich jenes Gelingen, das man empfängt, jene Entwicklung, die man erleidet, jener Erfolg, der das Abbrechen einer Anstrengung zu seiner Voraussetzung hat. 23 So kann es dazu kommen, dass erst in einiger zeitlicher Distanz zum Verlustgeschehen der spezifische Reichtum jener Brüche erkennbar wird, der darin bestehen kann, dass vorschnelle Selbstentwürfe gesprengt worden sind, dass sich nicht geahnte Möglichkeiten, Fähigkeiten oder Begegnungen auftun konnten, dass im Verlust der Gestaltungsmöglichkeiten Leben, vielleicht gar gelingendes Leben, passiv widerfahren ist. Um diese Phänomene angemessen thematisieren zu können, muss sich eine Lebenskunstphilosophie für Negativität öffnen. Der Verlust von Selbstbestimmung ereignet sich darüber hinaus auch als Folge willentlicher Entscheidungen. Zur menschlichen Freiheit gehört die Möglichkeit, diese in geringerem oder größerem Ausmaß freiwillig aufzugeben. 24 Dies ist etwa bei jedem grundsätzlichen Versprechen der Fall, ob es sich dabei um das Versprechen der Treue handelt oder um das Versprechen der Sorge für einen Menschen, z. B. für ein Kind, oder um das Versprechen, das der Künstler dem zu gestaltenden Werk gibt: Der Verlust von Selbstbestimmung mündet hier in die Bewegung des Sich-bestimmen-Lassens durch das Andere. Und wiederum bedeutet diese Form des Verlusts keineswegs, dass das Leben nun kein erfülltes mehr sein könnte. Vielmehr könnte das Gelingen des eigenen Lebens hier etwa gerade darin bestehen, dass einem jene spezifische Erfüllung widerfährt, die ihren Ausgang im Anderen nimmt. Oder das Gelingen des Lebens besteht darin, dass von einem selbst für das Andere Erfüllung ausgeht. Wieder zeigt sich die Möglichkeit eines passiven Gelingens, das die Bewegung des Verlusts von Selbstbestimmung als dialektisches Moment fortführt. Es ist diese Bewegung, welche eine Negativität reflektierende Lebenskunst in sich aufnehmen muss. Hier denke ich auch an ein Element antiker Lebenskunst, etwa an die Auffassung der pyrrhonischen Skepsis, dass sich Glück nur einstellen kann, wenn es nicht angestrebt wird. Sextus Empiricus: »Auch die Skeptiker hofften, die Seelenruhe dadurch zu erlangen, daß sie über die Ungleichförmigkeit der erscheinenden und gedachten Dinge entschieden. Da sie das nicht zu tun vermochten, hielten sie inne. Als sie aber innehielten, folgte ihnen wie zufällig die Seelenruhe wie der Schatten dem Körper« (Grundriss der pyrrhonischen Skepsis I 28 f., zitiert nach Horn 1998: 103.) 24 Seel versucht, vor dem Hintergrund wichtiger philosophischer Positionen das Sichbestimmen-Lassen als Teil von Selbstbestimmung zu denken (vgl. Seel 2002c). 23

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(2) Ein anderer Aspekt der Negativität zeigt sich, wenn diese die Bedeutung einer strukturellen Unbestimmtheit bzw. Unverstehbarkeit unseres Lebens und unserer selbst annimmt. Wir gelangen etwa zu der Einsicht, dass unsere grundlegenden Selbstkonzepte (auch die lebenskünstlerischen) letztlich ungenügend sind. Wir können das Ganze unserer Existenz nicht bzw. nur gebrochen verstehen, die eigentliche Wahrheit über uns offenbart sich nicht bzw. sie offenbart sich als eine nicht durch und durch denkförmige Wahrheit. Hier tritt Negativität auf als Unmöglichkeit der begrifflichen Bemächtigung eines Ganzen, in diesem Fall des eigenen Lebens und des Selbst. Mit der Einsicht in die strukturelle Abgründigkeit unserer selbst kann nun der Verzicht auf verstehende Selbstbestimmung einhergehen – und in dieser lebenspraktischen Bewegung wird Negativität für Lebenskunst relevant. So können wir nämlich versuchen, zumindest partiell jede Selbstkonzeptualisierung auszusetzen. In diesem Fall kann Lebenskunst gerade bedeuten, sich vom eigenen Leben wie von einem (Kunst-) Werk führen zu lassen, einem Werk, dem man sich (stets auch reagierend) überlässt, gerade indem man es schafft und gestaltet. 25 Notwendige Bedingung hierfür scheint mir aber zu sein, dass im unmittelbaren Gegensatz zur Lebenskunstphilosophie Schmids das Leben nicht stets von Verstehens- oder Gestaltungsversuchen beSoweit ich sehe, ist eine solche Lebenskunst philosophisch noch nicht ausgearbeitet worden. Kann und soll das Leben überhaupt ein Kunstwerk sein? Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Kunst und Leben ergibt sich wohl hinsichtlich der Frage nach den Antrieben sowie nach internen Kriterien: Vermutlich geht es bei den Antrieben hier wie dort nicht um die Verwirklichung von Vorstellungen (die Umsetzung von Konzepten), sondern um innere Bedürfnisse und Notwendigkeiten (auch um Freude), welche aus dem Akt des Schaffens und dem Vollzug des Lebens selbst, aber auch aus dem Geschaffenen heraus wirksam sind. Hat nicht der Mut zu dieser Kunst oder zu jenem Leben damit zu tun, dass man einer inneren Notwendigkeit folgt? Und hinsichtlich interner Kriterien hat Kunst schon diesseits jeder Konzeptualisierung ihre eigenen Deutlichkeiten (z. B. bestimmte gelungene Konstellationen und Effekte in einem Drama), die auch im Sinne interner Kriterien fungieren können. Ähnlich verhält es sich wohl im Leben: Eine noble Geste (z. B. der Verzicht auf Revanche im Augenblick der Schwäche eines Widersachers) ist erkennbar gut und gleichzeitig schön, ihre Deutlichkeit könnte vielleicht als Kriterium für ein Leben dienen, ohne konzeptualisiert worden zu sein. In diesem letzten Hinweis auf eine Nähe zwischen Kunst und Leben zeigt sich eine Verbindung zur Ethik, genauer zur Philosophie des moral sense: Haben wir ein Gefühl (und können wir dieses kultivieren) für das Gute sowohl im künstlerischen als auch im ethischen Sinn? Hume hat diese Frage bejaht. Intuitiv, so meint er, können wir sowohl das gute Kunstwerk von dem schlechten als auch das gute Handeln von dem schlechten unterscheiden (vgl. Hume, Prinzipien der Moral: 222 ff. u. ö., ders., Über den Maßstab des Geschmacks, vgl. Thomas 2000).

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gleitet bzw. überholt wird. Im Abbruch des Konzeptualisierens wird das eigene Leben nicht auf einen transzendenten Bereich hin freigegeben (der seinerseits wieder so oder so konzeptualisiert wäre), sondern wiederum nur auf sich selbst, auf das Erfahren, Erleben, Begegnen und Handeln, jedoch als auf etwas, das sich prinzipiell nicht verstehen lässt, dessen Wahrheit nicht oder nur gebrochen denkförmig ist. Hier werden einige Einsichten der Phänomenologie für die Lebenspraxis bedeutend (vgl. II.3.): Im Sinne einer negativen Hermeneutik kann Phänomenologie ähnlich wie Kunst gegen den reduzierenden Zugriff der theoretischen (etwa wissenschaftlichen) Erklärung an der eigenen Anschauung festhalten, oder sie kann (auch darin der Kunst ähnlich) in den nicht verstehenden Umgang mit Nichtverstehbarem einüben. Eine explizit philosophische Lebenskunst wird diesen zweiten Aspekt der Negativität umfassen: Das Leben jenseits der Konzeptualisierung, auch jenseits der Konzeptualisierung einer Lebenskunst, das Leben als Werk, dessen Führung man sich überlässt, das Leben in der Ambiguität (zwischen Undeutlichem und Deutlichem) des Nichtdenkförmigen. (3) Negativität kann auch die Bedeutung von Nicht-Identität etwa in der Tradition Adornos 26 annehmen; auch diese Facette wird von Schmid zu wenig reflektiert. Für Adorno ist Identität immer erzwungene Identität mit dem (sozioökonomischen) Ganzen und insofern kein positiver Begriff. 27 Für die Sache der Lebenskunst wird dieser Gedanke Adornos in dem Maße einschlägig, in dem er jeden unreflektierten emphatischen Identitätsbegriff (etwa Authentizität) als Schein entlarvt: Gerade in dem Bemühen um die Gestaltung eines eigenen Lebens, um die Kultivierung und Stilisierung der Existenz, im Bemühen um Originalität sieht Adorno ein Symptom der Krankheit des Ganzen, des auf der Gesellschaft lastenden Zwangszusammenhangs. 28 Dass Lebenskunst kritisch als Flucht, als Rückzug in ein privates, selbst gemachtes Glück gesehen werden könnte, ist noch In ähnlicher Weise hat Heidegger das Nicht-Selbstsein in der erzwungenen Normalität analysiert (vgl. Heidegger, Sein und Zeit: § 27). 27 Vgl. Adorno, Negative Dialektik: 273 ff., 306 f. 28 Vgl. Adorno, Minima Moralia: 171 ff. »Der Wille, durch Versenkung in die je eigene Individualität anstatt durch deren gesellschaftliche Erkenntnis auf das unbedingt Feste, aufs Sein des Seienden zu stoßen, führt in eben die schlechte Unendlichkeit, welche seit Kierkegaard der Begriff der Echtheit exorzieren soll« (aaO.: 172). »Was als ursprüngliche Entität, als Monade auftritt, resultiert erst aus einer gesellschaftlichen Trennung 26

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eine harmlose Interpretation im Licht der Philosophie Adornos. Im Sinne dieser Interpretation ließe sich sagen, dass der Wunsch nach Wahrheit, nach einer wahren Existenz, in der gesellschaftlich erzwungenen gewissermaßen verbogenen und verzerrten Identität so wenig Möglichkeiten zu seiner Verwirklichung hat, dass dieser Wunsch sich auf den scheinbar freien Bereich des Privaten wirft. Radikaler noch ist allerdings die Sache der Lebenskunst von Adorno aus zu kritisieren, indem auch ihre genuinen Ziele (Authentizität, Freiheit, Erfüllung, Autarkie) als Reflexe eines historisch entstandenen Zwangszusammenhangs verstanden werden müssten. 29 Wie immer die auf Hegel und Marx rekurrierenden Begründungen Adornos im Einzelnen zu beurteilen sind, entscheidend ist hier sein Beharren auf der Bedingtheit dessen, was man (als einen Schein) für einen selbst begründeten Wert oder aber für einen sich von selbst begründenden Wert (etwa Erfüllung und Fülle des Lebens) halten könnte. Ein philosophisches Konzept von Lebenskunst, das Negativität im Sinne der Nicht-Identität hinreichend reflektiert, muss deshalb ein starkes Bewusstsein dafür entwickeln, dass sich das Subjekt der Lebenskunst nicht selbst gehört, dass seine Ziele nur scheinbar frei gewählt, dass sein Stil nur scheinbar ein ganz persönlicher ist. Wer sich der Philosophie verschrieben hat (und eine philosophische Lebenskunst favorisieren wird, bei der Wahrhaftigkeit Vorrang vor dem Gelingen hat), wird im Sinne der Nicht-Identität auch jenes hinterfragen, was scheinbar das Eigenste ist. Welche historische Entwicklung steht etwa hinter den Idealen der Authentizität oder der Fülle? Welche gesellschaftliche Funktion hat Lebenskunst? Nur in dieser gebrochenen Form wird Lebenskunst für einen Philosophen möglich sein, es kann kein Zurück hinter diese Reflexion der eigenen Bedingungen geben. vom gesellschaftlichen Prozeß. Gerade als Absolutes ist das Individuum bloße Reflexionsform der Eigentumsverhältnisse« (aaO.: 173). 29 Zur Authentizität vgl. Adorno, Minima Moralia: 171 ff. Zur Freiheit vgl. ders., Negative Dialektik: 259. Zur Erfüllung vgl. ders., Minima Moralia: 175 ff. »Auf die Frage nach dem Ziel der emanzipierten Gesellschaft erhält man Antworten wie die Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten oder den Reichtum des Lebens […] In das Wunschbild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen ist eben der Fetischismus der Ware eingesickert, der in der bürgerlichen Gesellschaft Hemmung, Ohnmacht, die Sterilität des immer Gleichen mit sich führt« (ders., Minima Moralia: 175 f.). Zur Autarkie vgl. ders., Negative Dialektik: 218: »Das Individuationsprinzip, Gesetz der Besonderung, an welche die Allgemeinheit der Vernunft in den Einzelnen geknüpft ist, dichtet diese tendenziell gegen die sie umgreifenden Zusammenhänge ab und befördert dadurch das schmeichelhafte Vertrauen auf die Autarkie des Subjekts«. A

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Vor diesem Hintergrund lassen sich wohl nur zwei glaubwürdige Formen philosophischer Lebenskunst vorstellen. Dies ist zum einen die Möglichkeit, an die Stelle des Ideals der Selbstgestaltung und der Fülle das Ideal der Wahrhaftigkeit zu stellen und diesem eine Form im Leben zu geben. Wahrhaftigkeit meint im Zusammenhang mit Nicht-Identität nicht jene introspektive Authentizität, sondern meint Wahrheit als Übereinstimmung von eigenem Leben und dem Ganzen als dem Unwahren. Wie kann das unwahre oder unvollkommene Ganze im Leben anwesend sein, wie kann sich, metaphorisch gesprochen, die Wunde offenbaren, statt verpflastert den unguten Schein des Heilen zu wahren? Zunächst sei eine Bedingung genannt, nämlich die Vermeidung einer nahe liegenden Gefahr: Für die Frage der Lebenskunst, in welche das Unwahre eingehen soll, kommt es sicherlich darauf an, an der Bewegung der Wahrhaftigkeit festzuhalten und aus dieser Bewegung auch eine eigene Lebendigkeit entstehen zu lassen. Wahrhaftigkeit als Anwesenheit des Unwahren und Unvollkommenen wird ihrerseits zum Schein, wenn sie sich in Anklage erschöpft, eine Anklage etwa gegen jene, welche andere Lebensformen praktizieren oder auch gegen sich selbst, dass man nämlich das Unwahre nicht in das Wahre zu wenden vermag. Das Bewusstsein des Unwahren muss Formen finden, die Solidarität (solidarische Hilfe und solidarischer Protest) und Liebe, ja auch ein Lachen oder ein Weinen über die Unvollkommenheit des Ganzen ins Zentrum stellen. Zwei Beispiele für diese Wahrhaftigkeit im Sinne einer Anwesenheit der Unvollkommenheit des Ganzen im eigenen Leben seien genannt. Gegen eine routinierte öffentliche Erinnerungskultur klagt Michael Theunissen die individuelle Seinserinnerung ein: 30 Bei jener routinierten Erinnerung besteht die Gefahr, dass das Böse immer nur die Anderen betrifft und allenfalls vermittelt über den Kollektivschuldgedanken die eigene Person. Die Seinserinnerung dagegen erinnert durch die Frage individueller oder kollektiver Schuld hindurch jenes Allgemeine, an dem man als Mensch teilhat und aus dem heraus das Böse stets aufs Neue entsteht. 31 Wahrhaftigkeit meint hier das Offenhalten einer spezifischen eigenen (wie auch fremden) Abgründigkeit. Lebenskunst rechnet hier mit einem Subjekt, das sich auch im Sinne des Bösen nicht immer selbst und seinen guten Ab30 31

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Vgl. Theunissen 2001: 55 ff. Vgl. aaO.: 65 ff.

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sichten gehört. Ein zweites Beispiel betrifft das grundlegende Bewusstsein von der Fragmentarität des Lebens und die Bedeutung dieses Bewusstseins für die Lebenspraxis. Der praktische Theologe Henning Luther wendet sich mit dem Argument gegen das entwicklungspsychologische und pädagogische Ideal der Ich-Identität, dieses Ideal betrüge das Leben gerade durch die Verdrängung der strukturellen Fragmentarität um entscheidende Dimensionen. 32 Für Luther kommt es gegen das Ideal des Lebenserfolges (entwicklungspsychologisch die Ich-Identität) darauf an, die Fragmentarität unseres Lebens nicht abzudrängen, sondern sie gerade zu einem Teil unseres Lebens zu machen. Dies kann etwa bedeuten, um nichtrealisierte Wünsche, um Schuld- und Versagenserfahrungen oder um den Verlustcharakter unserer Lebensgeschichte tatsächlich zu trauern, 33 das heißt uns jenen Gefühlen zu stellen, die wir mit diesen Erfahrungen verbinden. Trauer wird hier zu einem Moment einer Lebenspraxis, welche sich um Wahrhaftigkeit im Sinne einer Anwesenheit struktureller Negativität im Leben bemüht. Die andere Möglichkeit einer philosophisch glaubwürdigen von Nicht-Identität geprägten Lebenskunst sehe ich, durchaus kritisch gegen Adorno, im Herausarbeiten der punktuellen Transzendenz des Ganzen. Schmid selbst gibt mit seinem Hinweis auf das tychische Glück ein sehr gutes Beispiel dafür. 34 Angesichts eines Moments des plötzlichen, des nicht beabsichtigten oder gar geplanten Glücks gilt es, sich zu öffnen und nicht (etwa im Sinne des trotzigen Selbstseinwollens Kierkegaards) auf der Unwahrheit des Ganzen zu beharren und sich der Transzendenz des Ganzen zu verschließen. Diese Offenheit zu ermöglichen, könnte durchaus eine Aufgabe der Lebenskunst sein. Ganz im Sinne einer umgreifenden Negativität (hier als prinzipielle Unverstehbarkeit des Ganzen) und wohl letztlich auch im Sinne der Adorno’schen Philosophie kann es nämlich nicht einfach als ausgemacht gelten, dass jene Wahrheit, für die das Diktum von der Unwahrheit des Ganzen steht, schon das letzte Wort ist. Dieses Diktum hat seine Wahrheit für all jenes, das als menschliches Verhalten, als geschichtliches und gegenwärtiges Geschehen gewissermaßen gegenständlich überschaubar ist. 35 In der Ästhetik und etwa der Escha32 33 34 35

Vgl. Luther 1992: 171. Vgl. aaO.: 168, 170. Vgl. Schmid 1998: 171 f. Und auch bei dieser Wahrnehmung und Beurteilung des Ganzen lassen sich EinwänA

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tologie kommt diese Wahrheit auch auf dem Boden der Adorno’schen Philosophie an ihre Grenze. 36 Und jenseits dieser Philosophie ist es wohl auch der Bereich der 1.-Person-Perspektive, der ichhafte Bereich des Erlebens, in dem die Unwahrheit des Ganzen nicht immer das letzte Wort hat. Adorno sieht die phänomenologische 1.-PersonPerspektive freilich ausschließlich als Schein: Phänomenologie gilt ihm als Idealismus, als falsche Unmittelbarkeit, als Lüge der Innerlichkeit. 37 Aber im Erleben etwa eines Moments des tychischen Glücks, eines Moments der unspezifischen und dennoch gleichsam überbordenden Dankbarkeit oder eines Moments der miteinander geteilten Kreatürlichkeit kann das Plötzliche dieses Glücks zumindest im Erleben mitunter auch als Anzeige eines (nicht prädikativen) Ganzen erscheinen, eines Ganzen freilich, das (prädikativ gesagt) wahr ist. Solches Erleben des Plötzlichen, den Zusammenhang des Dahinlebens Aufsprengenden steht unvermittelt neben jenem anderen Erleben des Ganzen als des Unwahren. Im Interesse einer Lebenskunst, die Negativität reflektiert, kommt es hier darauf an, diesen Gegensatz nicht in die Form einer scheinbaren Einheit (etwa in die konzeptuelle Einheit einer Philosophie) zu gießen. 38 Beide Wahrheiten über das Ganze bleiben nur sie selbst, wenn sie in vollem Widerspruch zueinander stehen, nur so können sie als Phänomene gewahrt werden. Das Aufrechterhalten dieses Widerspruchs ist aber lebbar als lebenspraktische Entsprechung zur umgreifenden Negativität im Sinne prinzipieller Unverstehbarkeit des Ganzen. Diese Unverstehbarkeit des Ganzen meint hier genauer Nicht-Konzeptualisierbarkeit und bestreitet insofern weder die Wahrheit des einen noch die Wahrheit des anderen Erlebens. Eine Lebenspraxis der Nicht-Identität kann also, dies habe ich zu zeigen versucht, sowohl in Formen der Anwesenheit der Unwahrheit des Ganzen im Leben de erheben, welche sich auf Erfahrung berufen, auf Erfahrungen der Transzendenz des Ganzen nämlich, in denen eine gegenteilige Aussage über das Ganze liegt. 36 Adorno spricht vom »Standpunkt der Erlösung«, von der Welt »wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird« (Adorno, Minima Moralia: 281). 37 Vgl. Adorno, Metakritik der Erkenntnistheorie: 38, 193 f., ders., Negative Dialektik: 214. Andererseits ist es gerade Adorno, der das Moment einer (in der Erinnerung, in der Kunstrezeption usw.) aufscheinenden Wahrheit verteidigt (vgl. ders., Minima Moralia: 175 ff.). 38 Dies ist Henrichs Analyse von Glück und Not vorzuwerfen (vgl. Henrich 1975). Vgl. auch I.5.2.

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bestehen als auch in der Offenheit für solches, das diese Unwahrheit transzendiert. (4) Schließlich sei noch auf eine letzte Facette der Negativität eingegangen, in der diese die Bedeutung von Transzendenz annimmt, also das Andere zum immanenten Ganzen meint. Unterschiedliche Aspekte dieser Bedeutung sind schon angeklungen, zuletzt etwa der Aspekt eines in den Alltag hereinbrechenden Anderen in Form eines plötzlichen Glücks. Die Frage, um die es in diesem letzten Abschnitt gehen soll, hat Transzendenz durchaus im Sinne einer Transmundanität, also im Sinne des Religiösen zum Gegenstand. Aus philosophiegeschichtlicher Perspektive gilt es zunächst festzuhalten, dass erst in der modernen Lebenskunst das Religiöse als stets anwesender lebensmächtiger Hintergrund des Lebens verblasst und die Immanenz totalisiert wird. In der Antike konstituiert sich Lebenskunst stets auch angesichts der Götter, einer göttlichen Allvernunft oder des Schicksals. 39 Ob Lebenskunst, ob Leben überhaupt auch ohne den Bereich des Religiösen möglich ist, diese Frage steht hier nicht zur Debatte. Faktisch kommt beides jedenfalls auch vor, ohne etwas Transmundanes zu thematisieren. Die Frage, welche es hier zu erörtern gilt, lautet vielmehr, wie sich eine Lebenskunst, welche sich explizit auf Philosophie gründet, zum Erbe der Transzendenz im Sinne des Transmundanen verhalten soll. In diesem Zusammenhang möchte ich die These vertreten, dass ein wichtiger Grund (neben den erwähnten anderen) für das Problematische einer Lebenskunsttheorie wie derjenigen Schmids (also für jene oben skizzierte Problematik der Totalität und Immanenz) darin besteht, dass diese Lebenskunst Negativität im Sinne von Transzendenz als Transmundanität nicht reflektiert. Eine solche Lebenskunst situiert sich anders als etwa die stoische 40 nicht mehr vor einem Hintergrund, welcher im Vergleich Vgl. die Darstellungen antiker Lebenskunst bei Hadot 1991 und bei Horn 1998. Hadot schreibt über die stoische Haltung dem Ganzen gegenüber: »Die kosmische Perspektive bedingt eine ständig neue Betrachtung der großen Naturgesetze, insbesondere der ewigen Wandlung (Metamorphose) aller Dinge, die Unendlichkeit von Zeit, Raum und Materie, eine intensive Meditation der lebendigen Einheit des Kosmos und der Harmonie, die alles miteinander in Einklang bringt. […] Die freudige Übereinstimmung mit der Welt als Grunddisposition entspricht letztlich einer ehrfürchtigen Haltung: Ehrerbietung gegenüber der Natur, Ehrerbietung auch gegenüber den Göttern, die eine Art Verbildlichung der Natur sind. Der Natur folgen bedeutet also den Göttern folgen, ihnen gehorchen und sich ehrfürchtig verhalten« (Hadot 1991: 92). Diese Haltung ist aber, so Hadot, erst das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung mit der Na-

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zum Alltag und seiner Bewältigung das ganz Andere, das Unvermittelte, Rätselhafte, Entzogene, nicht welt- oder menschenförmige ist, welches gleichzeitig als das Andere des Alltags stets in diesem präsent ist. Das große Ganze ist einer Lebenskunst wie derjenigen Schmids letztlich der Kosmos ihrer eigenen auf Immanenz bezogenen Theorie. Es könnte durchaus auch der Verlust dieser spezifischen Facette von Transzendenz sein, welcher zu der kritisierten Selbstreferenzialität führt, zu einer fast hermeneutisch zu nennenden gegenseitigen Erhellung des Teils und des Ganzen und der wechselseitigen Affirmation der kleinen Ganzheit des Alltags und der großen Ganzheit der Theorie. Wie verändert sich eine Lebenskunstphilosophie, wenn sie diese Verkürzung rückgängig macht, indem sie sich öffnet für die Struktur der Negativität im Sinne des nicht Welt- oder Menschenförmigen, des Anderen zum Kosmos der Lebenskunst? Dieser Schritt, die Öffnung für Negativität als Transmundanität, bedeutet keineswegs den Anschluss an ein bestimmtes Konzept von Transzendenz, also an Religion oder Theologie. Negativität als Transmundanität bleibt diesseits der Welt der Religionen, wenn man versucht, mittels der Struktur der Negativität, wie sie die Gegenwartsphilosophie (etwa Wittgenstein, 41 Adorno oder MerleauPonty) in verschiedenen Formen erarbeitet hat, traditionelle Konzepte, Inhalte und Vorstellungen, die für das Transzendente stehen, gewissermaßen einzuklammern und so vom Negativen als dem Anderen zu dem Ganzen der faktischen Welt zu sprechen. Sich dieser Struktur der Negativität zu öffnen, hat auf diese Weise keine Bedeutung (und bietet kein Konzept) hinsichtlich der Fragen nach Gott, der Entstehung der Welt oder dem ewigen Leben. Sich dieser Struktur der Negativität zu öffnen, bedeutet aber die (für Lebenskunst hochrelevante) Möglichkeit, bestimmte Fragen des Alltags als solche Fragen zu stellen, die auf das Andere des Alltags nicht nur im formalen Sinne der strukturellen Unverstehbarkeit und Nichtdenkförmigkeit zielen, sondern auch im Sinne des transmundanen Abgründigen und Entzogenen. Dabei wird es im Sinne der Vermeidung klassischer theologischer Konzeptualisierungen zu einem Gebrauch theologischer Termini kommen, der diese zwar sogleich einklammert, insotur und der Allvernunft als einer zunächst fremden, dem Leben gegenüber gleichgültigen Macht. 41 Fergus Kerr hat Wittgensteins nichtmetaphysische Subjektivitätskonzeption für die Theologie fruchtbar gemacht (vgl. Kerr 1988).

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fern er nicht auf ihre konkreten Konzepte zielt, der diese Termini aber deshalb wählt, weil sie näher als andere Termini an die Phänomene heranreichen, weil sie theologisch eine Deutlichkeit evozieren, welche philosophisch vielleicht nicht rekonstruierbar ist. Zwei Beispiele für die Möglichkeit, Transzendenz in diesem Sinne einzubeziehen, seien genannt: Wenn Michael Theunissen, um noch einmal diesen Gedankengang zu zitieren, Schuld als etwas Abgründiges thematisiert, das seine Historizität auf etwas Überzeitliches hin übersteigt, dann spricht er von der conditio humana im Sinne des status corruptionis. Das Erbsündendogma, so Theunissen, komme am nächsten an das Gemeinte heran. 42 Und Jürgen Habermas spricht davon, dass für bestimmte moralische Empfindungen, etwa die Unterscheidung zwischen etwas lediglich moralisch Falschem und etwas zutiefst Bösem oder für bestimmte, für das Individuum konstitutive Beziehungen, etwa die Beziehung zu seinem Ursprung, theologische Termini Bedeutungen öffnen, die sich im Interesse der möglichst genauen Beschreibung der Phänomene und ihrer moraltheoretischen Diskussion nicht einfach durch philosophische ersetzen lassen. Theologische Termini können so »für ein fast schon Vergessenes, aber implizit Vermisstes eine rettende Formulierung« darstellen. 43 Eine philosophische Lebenskunst, die sich der Negativität als Transmundanität öffnet, kann auf diese Weise Fragen des Alltags als Fragen formulieren, welche über die Immanenz der Lebenswelt hinausgehen, ja diese sprengen, ohne hier freilich mit eindeutigen Antworten zu rechnen. Durch diese Öffnung situiert sich das Leben und seine Kunst, und darauf könnte es gerade ankommen, vor einem ebenso entzogenen wie lebensmächtigen Hintergrund. Die vier Facetten der Negativität wurden hier mit zweierlei Absicht skizziert: Zum einen sollte gezeigt werden, welche grundlegenden Phänomene eine Theorie der Lebenskunst verliert, die Negativität im Sinne der Abgründigkeit und Nichtkonzeptualisierbarkeit des Lebens (und der Kunst) zu wenig zu ihrem zentralen Element macht. Der Grund für diese (einer Negativitätsvergessenheit geschuldeten) Verzerrung genuiner Lebenskunstgehalte scheint mir letztlich in der ungebrochenen Dominanz zu liegen, mit der Schmid versucht, das Leben im Sinne der Lebenskunst zu einem gelungenen zu machen. Ein Weniger an Gestaltungs- und Bewältigungswille würde für die 42 43

Vgl. Theunissen 2001: 69. Habermas 2001. A

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Sache der philosophischen Lebenskunst ein Mehr bedeuten: Gegen Schmid geht es um den Versuch, auch jenes zu berücksichtigen, was durch das Gestalten und Bewältigen bzw. durch das stets mitlaufende Konzeptualisieren immer wieder verdeckt wird. Neben diesem Hinweis auf einen Phänomenverlust war es meine Absicht, die Reflexion von Negativität auch deshalb einzuklagen, weil Negativität eine zentrale Thematik der Gegenwartsphilosophie darstellt. Eine Theorie der Lebenskunst darf hinsichtlich Negativität nicht unterbestimmt sein. Wird aber umgekehrt, wie es zuletzt meine Absicht war, von Negativität aus nach Lebenskunst gefragt und wird so der Philosophie der Vorrang vor der Lebenskunst eingeräumt, dann gilt das Interesse der Frage, wie Teile der Gegenwartsphilosophie selbst in Lebenskunst hineinverlängert werden können.

II.3. Nichtverstehbarkeit. Phänomenologie als negative Hermeneutik Galt mein Interesse in den letzten beiden Kapiteln der Kritik bestehender lebenspraktischer Diskurse vor dem Hintergrund des Begriffs negativer Identität, so möchte ich in diesem und im nächsten Kapitel das praktisch-philosophische Potenzial negativer Identität unmittelbar für einen besonderen Bereich der Praxis untersuchen, nämlich für den nicht verstehenden bzw. nicht begrifflich vereinnahmenden Umgang mit der Welt (in ihrer Nichtverstehbarkeit). In diesem Sinn interpretiere ich zunächst die phänomenologische Tradition (II.3.) und untersuche dann Möglichkeiten einer negativen Ethik im Bereich der Interkulturalität (II.4.). Ein phänomenologisches Element verbindet schon jene drei Philosophien, die zur systematischen Begründung negativer Identität herangezogen wurden. Michael Theunissen, Paul Ricœur und Charles Taylor folgen einem antireduktionistischen Impetus, den sie, und das zeichnet sie wiederum gemeinsam aus, nicht nur gegen wissenschaftliches Erklären richten, sondern auch gegen Philosophie selbst. Es geht um die Zurückweisung repräsentationstheoretischer Modelle, um das Offenhalten der 1.-Person-Perspektive, es geht um die Unmöglichkeit der Selbstbegründung nicht nur in einem existenziellen, sondern auch in dem Sinne, dass man so etwas wie eine unterste Schicht der Gewissheit nicht aufweisen kann. Hier ist gleich das Pro212

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blem der Unmittelbarkeit angesprochen. Besteht im Verweis auf die 1.-Person-Perspektive nicht das Problem, so lautet der kritische Einwand, dass gegen den Schein des begrifflich-modellhaften Zuvielverstehens jener andere Schein einer Wahrheit gesetzt wird, nämlich Unmittelbarkeit? Tatsächlich bezeichnet diese mögliche Kritik jenes Kriterium, das über die Qualität phänomenologischer Philosophie entscheidet. Nur wenn diese die Vermitteltheit eigener Anschauung mitreflektiert, kann sie der Gefahr des Intrasubjektivismus bzw. dem Schein einer unmittelbaren Gewissheit (hinsichtlich der Welt, hinsichtlich des Subjekts) entgehen. 1 Um freilich das volle Potenzial der phänomenologischen Entdeckung entfalten zu können, muss eine phänomenologische Philosophie dennoch an der eigenen Anschauung festhalten. Zwar wird diese durch keinen exklusiven ontologischen Status mehr ausgezeichnet. Doch diese ›Schwäche‹ teilt sie mit jedem theoretischen Modell: Auch dieses kann (hier greift die Struktur konstitutiver Negativität) keinen exklusiven Standpunkt, keine kontextfreie Gewissheit für sich reklamieren. Insofern beide, eigene Anschauung wie theoretisches Modell, nur innerhalb einer umgreifenden Negativität sinnvoll möglich sind, besteht der entscheidende Unterschied nicht länger in der Dichotomie von Eigenem und Fremdem, von vermeintlich Echtem und Unechtem usw. Umso mehr tritt dafür jener andere Unterschied in den Vordergrund, jener zwischen einem qualitativen, vorprädikativen, nicht begrifflich vereinnahmenden Wahrnehmen einerseits und einem stets modellhaft rekonstruierenden Verstehen andererseits. Das negative Moment der Phänomenologie besteht in der konsequenten Verteidigung nicht verstehender Wahrnehmung. Insofern freilich Negativität sinnkonstitutiv für alles menschliche Handeln ist, insofern etwa auch die Dinge der Wahrnehmung nur als gebrochen erkennbare sie selbst sind (der Schein absoluter Erkenntnis verfälscht sie), insofern ist Phänomenologie jene Philosophie, die gerade diese konstitutiv-negative Schicht an den Dingen ›versteht‹, insofern ist Phänomenologie strukturell dem Gedanken der Negativität und der negativen Identität verwandt. Weil Phänomenologie Negativität konzeptuell mit entAdorno kritisiert die Phänomenologen, besonders Heidegger, gerade wegen ihrer Absicht, in der unmittelbaren Erfahrung (an sich eine Stärke der Phänomenologie) das Reinheitsideal philosophischer Erkenntnis zu verwirklichen. Heideggers Ideal, Reinheit herzustellen, gleiche einem Waschzwang (vgl. Adorno, Ontologie und Dialektik: 102 f.), Reinheit und Unmittelbarkeit seien nicht vereinbar (vgl. aaO.: 270).

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hält, ist die Welt der Phänomenologie die Welt des Nicht-Verstehbaren, und von der Phänomenologie aus kann nach Weisen des Umgangs mit dem Nicht-Verstehbaren gefragt werden. So enthält das negative Moment der Phänomenologie auch ein lebenspraktisches Potenzial. Es geht um eine Kultur des Nichtwissens, es geht um eine emanzipative Lebenspraxis, die mit der Welt als einer wesentlich Nicht-Verstehbaren umzugehen versucht. Die These, die ich im Folgenden vertreten möchte, besagt, dass die volle Bedeutung der Phänomenologie für die praktische Philosophie erst dann deutlich wird, wenn man Phänomenologie als negative Hermeneutik versteht, das heißt als Abwehr (Negation) des (Zuviel-) Verstehens, als Ideologiekritik, als Besinnung auf eigene Anschauung und als Sichtbarmachen des Nicht-Verstehbaren sowie schließlich als Suche nach einem nicht verstehensmäßigen Umgang mit dem Nicht-Verstehbaren. In einem ersten Abschnitt (II.3.1.) werde ich in einer kurzen systematischen Skizze das negative Moment der Phänomenologie nachzeichnen. Danach (II.3.2.) gilt es, die Bedeutung negativer Hermeneutik im klassischen Bereich der Wahrnehmung (als Negation von Verstehen) zu bestimmen. Der folgende Abschnitt (II.3.3.) thematisiert das emanzipative Potenzial der Phänomenologie, das besonders in einer Ideologiekritik im Sinne der Negation theoretischer Verstehensmodelle besteht. Schließlich werde ich das Sichtbarmachen des Nicht-Verstehbaren und den Umgang mit diesem als den vielleicht tiefsten (und lebenspraktisch bedeutenden) Sinn phänomenologischer Negativität herauszuarbeiten versuchen (II.3.4.). 2 II.3.1. Das negative Moment der Phänomenologie Negativität im Sinne der Zurückweisung erkenntnistheoretischer Repräsentationsmodelle und der Zurückweisung jeder Möglichkeit der Selbstbegründung ist eine Entdeckung der Philosophie des 20. Jhs. – doch sie als eine solche zu bezeichnen muss eigens begründet werden. Bei dieser Entdeckung handelt es sich nicht einfach um ein historisches Phänomen, der Begriff der Negativität taugt nicht zu einer Epochenbezeichnung. Die Diagnose einer so genannten ›ErosiFrühere Fassungen von Teilen dieses Kapitels finden sich in Thomas 2001, ders. 2003a, ders. 2003b.

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on der Sinnkonzepte‹, welcher etwa in unterschiedlicher Weise die Kontingenzphilosophie Hans Blumenbergs, die Theorie der Postmoderne Jean-François Lyotards oder der soziologische Entwurf einer reflexiven Moderne von Ulrich Beck und Anthony Giddens folgen, 3 diese Diagnose steht immer in der Gefahr, der Vergangenheit deshalb ein höheres Maß an sinnhafter Identität zuzuschreiben, weil das Vergangene überschaubar bzw. abgeschlossen ist und ihm jene Offenheit und Unbestimmtheit fehlt, die in jeder Gegenwart eine Ortsbestimmung und die Angabe eines allgemein gültigen Sinnkonzepts praktisch unmöglich macht. Zudem läuft jede Diagnose von der Sinnerosion (die sich ja eines geschichtlichen Wirklichkeitsmodells bedient) Gefahr, selbst zu einem big picture (zu einem Repräsentationsmodell) bzw. zu einer Großen Erzählung zu erstarren, 4 dann nämlich, wenn im Zuge dieses ideengeschichtlichen Modells die Welt als eine an sich seiende gedacht wird, die sich erst in unserer Epoche als sie selbst, nämlich als sinnfrei, enthüllt. 5 Negativität im Sinne der Unverstehbarkeit von Selbst und Welt muss demgegenüber möglichst systematisch begründet werden. Diese systematische Begründung ist im Kontext der Darstellung konstitutiver Negativität skizzenhaft gegeben worden (vgl. I.5.1.). Die Sinnspitze des spezifisch phänomenologischen Zugangs zur Negativität besteht nun vor allem in Urteilsenthaltung. In dieser ursprünglichen Hermeneutikkritik liegt aber neben der systematischen Einsicht ein Rest von bewusster Ablehnung des vorschnellen bzw. vereinnahmenden Verstehens, der gewissermaßen pragmatisch aus dem Ergebnis dieser Urteilsenthaltung motiviert ist. 6 Die Geheimnishaftigkeit von Selbst und Welt ist Vgl. etwa Blumenberg 1986, Lyotard 1994, Beck 1996b, Giddens 1991, ders. 1992. Blumenbergs Philosophie zeichnet sich vor den anderen genannten freilich durch Umfang, Tiefe und eine stets auch anthropologische und metaphysische Ausrichtung aus. Seine historischen Analysen folgen aber der Diagnose vom Ende der Metaphysik (und damit des Sinns) in der Moderne. Zu Blumenbergs Philosophie der Trauer und des Abschieds vgl. Wetz 1999b. 4 Lyotard räumt selbstkritisch ein, auch sein Bericht sei eine Große Erzählung (vgl. Lyotard 1994: 89). 5 Ganz anders stellt sich eine solche ideengeschichtliche oder historische Reflexion vom Standpunkt konstitutiver Negativität aus dar. In seiner Schrift Vom Wesen der Wahrheit entwirft Heidegger (vor dem Hintergrund der Existenzialien aus Sein und Zeit) den Gedanken, dass es Wahrheit geschichtlich gewissermaßen stets nur als Irrtum gibt, dass also jedes epochale Wirklichkeitsverständnis notwendig eine spezifische Form der Verdeckung darstellt (vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit: 193 ff.). 6 Schon der im I. Weltkrieg gefallene Phänomenologe Adolf Reinach wendet sich 1914 3

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nicht zuletzt auch das Ergebnis einer bewussten Haltung. Diese Haltung beharrt auf konkreten Empfindungsqualitäten und sie beharrt darauf, dass die Dinge nur als nicht verstandene sie selbst sind, dass Negativität konstitutiv für Wahrnehmungen, Sinnentwürfe und für Handlungen ist. Das pragmatische Moment in der Begründung der Nichtverstehbarkeit ist dem phänomenologischen Ansatz insofern besonders nahe, als das Proprium der phänomenologischen epoché gegenüber der skeptischen oder mystischen epoché gerade in der bewussten Einstellungsänderung (Husserl) besteht, welche die Welt allererst als Geheimnis enthüllt, ohne dabei selbst Teil eines (religiösen oder philosophischen) Modells der Welt zu sein. 7 Negative Hermeneutik, das ist im Sinne der eidetischen und transzendentalen Reduktion des mittleren Husserl der Ideen 8 die habituelle Aussetzung dessen, was man beim Wahrnehmen gewissermaßen jeweils ›schon weiß‹ – und zwar im Dienste der Analyse der Gegenstandskonstitution. Husserl etabliert die Negation des Verstehens als Moment einer strengen transzendentalphilosophischen Methode, 9 allerdings ohne in dieser Haltung ein eigenes Ziel (etwa im Sinne einer philosophischen Lebensform) zu sehen. Das Ziel besteht vielmehr in dem nur so (nur durch Negation von Alltagsgeltungen) möglichen Aufweis von Gegebenheitsweisen von Gegenständen: Angestrebt ist durchaus ein positives Ergebnis, nämlich täuschungsfreie in einem Vortrag gegen das reduzierende Erklären der Phänomene. Sein Beispiel ist das Verzeihen. »Daher hat man versucht, zu sagen, es sei ein Urteil – das Urteil, dass das zugefügte Unrecht doch nicht so schlimm oder überhaupt kein Unrecht sei –, also genau das, was ein sinnvolles Verzeihen überhaupt unmöglich macht. Oder man sagt, es sei das Aufhören eines Gefühles, das Aufhören des Zornes, als ob das Verzeihen nicht etwas Eigenes, Positives wäre, viel mehr als ein bloßes Vergessen oder Entschwinden« (Reinach 1951: 30 f.). 7 Ein Vergleich der epoché in der Antike, in der antiken Mystik, im Buddhismus und in der Phänomenologie (Husserl) bietet die umfangreiche Studie von Hans P. Sturm (vgl. Sturm 2002). 8 Vgl. Husserl, Ideen I und II. Für die Ideen I zitiere ich die Erstveröffentlichung im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Halle: Niemeyer 1913. Die Seitenzahlen dieser Erstveröffentlichung sind in den späteren Ausgaben meist angegeben. 9 Husserl entwickelt dies in der phänomenologischen Fundamentalbetrachtung (Ideen I: §§ 27–55). »Unsere Absicht geht […] auf die Entdeckung einer neuen wissenschaftlichen Domäne, und einer solchen, die eben durch die Methode der Einklammerung […] gewonnen werden soll« (Husserl, Ideen I: § 32, S. 56). Gemeint ist die mit der epoché einhergehende Einklammerung der Generalthesis, also der natürlichen Einstellung zu Selbst und Welt (vgl. aaO.: §§ 27, 30).

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und sichere Erkenntnis des Wahrgenommenen. Dennoch lässt sich die negative Methode der eidetischen Reduktion auch unabhängig von ihrer transzendentalphilosophischen Einbindung anwenden, und dafür plädiere ich im Rahmen der Frage nach der Bedeutung der Phänomenologie in der praktischen Philosophie. Dabei setzt schon diese Methode ein großes emanzipatorisches Potenzial frei: Wenn nicht sogleich verstanden, sondern eigens wahrgenommen wird, kann sich das Wahrgenommene in neue Kontexte einfügen, in Kontexte vor allem, für welche das individuelle Empfinden und Beurteilen des Wahrnehmenden selbst von irreduzibler Bedeutung ist. Hinsichtlich dieses Sinns von negativer Hermeneutik treffen sich zudem auch die zeitgleich, aber getrennt arbeitenden Denker Edmund Husserl und Sigmund Freud: Auch in der Psychoanalyse kommt zunächst alles darauf an, die Welt des Patienten zu verstehen, das heißt die Weise, wie sich seinem Wahrnehmen und Empfinden die Dinge erschließen, unabhängig davon, wie man gemeinhin über diese Wirklichkeit denkt oder urteilt. 10 Hermeneutik der Faktizität, das Forschungsprogramm der frühen Freiburger und der Marburger Vorlesungen Heideggers, meint wesentlich Hermeneutik anthropologischer Negativität. 11 AnthroNahezu alle Schriften Freuds, auch die kulturkritischen, legen von seinem Bemühen Zeugnis ab, so etwas wie die ›Binnenwahrheit‹ der Patienten zu verstehen. Doch Freuds methodische Innovation (und mit dieser auch die Parallele zu Husserl) geht noch weiter: Gegen die ›Binnenwahrheit‹ wird gerade nicht eine vermeintlich objektive Außenwelt ins Feld geführt, vielmehr werden die individuellen Wahrnehmungen der Patienten zu den einzig verlässlichen Bezugsgrößen auf dem Weg zur ›eigentlichen Wahrheit‹, den individuellen (Trieb-) Schicksalen. Noch in der neueren Psychotherapie, etwa im Ansatz von Carl R. Rogers, wird immer wieder die enorme Bedeutung der Unvoreingenommenheit des Therapeuten betont: »[…] gleichgültig welche Gefühle er hat […]; gleichgültig, wie er sich ausdrückt […]; gleichgültig, wie er sich im jeweiligen Moment einschätzt –, der Klient spürt, daß er vom Therapeuten psychologisch anerkannt wird, gerade so, wie er ist. Dieser Ausdruck schließt den Begriff des empathischen Verstanden-Seins und den Begriff der Akzeptierung ein« (Rogers 1989: 135). Auch die von Rogers intendierte Modifikation im Selbstverhältnis der langsam gesundenden Patienten stellt eine Parallele zu Husserls methodischer epoché dar: »Diese Offenheit des Bewußtseins gegenüber dem, was in diesem Augenblick im eigenen Selbst und in der Situation existiert, scheint mir ein wichtiges Moment in der Beschreibung des Menschen, der aus der Therapie hervorgeht« (aaO.: 122). 11 Zum Begriff anthropologischer Negativität vgl. Rentsch 1999: 182 ff., ders. 2000a: 81 ff. Bei Heidegger sind einschlägig die Vorlesungen vom WS 1921/22, vom SS 1923 und dann die unmittelbaren Vorarbeiten zu Sein und Zeit in der Vorlesung vom SS 1925 (vgl. Heidegger, GA 61, ders., GA 63, ders., GA 20). 10

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pologische Negativität ist bei Heidegger von Anfang an im Sinne des negativen Modus eines allererst aufzugreifenden möglichen Ganzseins des Menschen zu verstehen und fungiert deshalb als Erkenntnisgegenstand, der zur notwendigen Bedingung seiner existenziellen Überwindung wird. Die Existenzialien des Sorgens, des Man und der Uneigentlichkeit werden schon 1921/22 skizziert: »Leben ist Sorgen, und zwar in der Neigung des Es-sich-leicht-Machens, der Flucht. Damit zeitigt sich die Richtungnahme auf das Verfehlbare als solches, die Verfehlbarkeit, der Abfall, das Es-sich-leicht-Machen, das Sichetwas-Vormachen, das Schwärmen, der Überschwang«. 12 Diese Bedeutung einer Negativitätshermeneutik kommt durch Heidegger auf eine (auch gegenüber Scheler 13 ) ganz neue Weise in die Phänomenologie, ohne freilich das Negationsgeschehen der eidetischen Reduktion zu ersetzen. Im Gegenteil, Heidegger nutzt Husserls Prinzip der epoché in den Analysen von Sein und Zeit ausgiebig, stößt dabei aber (seit den ersten Freiburger Vorlesungen) auf eine grundlegende Negativität menschlicher Existenz. Negative Hermeneutik erhält hier den Sinn einer Auslegung anthropologischer Negativität in der bekannten zweifachen Absicht Heideggers: Es geht um den Einsatz der Existenzialien (verstanden als Formen anthropologischer Negativität) als Erkenntnismittel auf dem Feld der Ontologie (Sein im Horizont der Sorge) sowie um den negativen Aufweis möglicher Existenzweisen, die auf die anthropologische Negativität adäquat antworten, indem sie diese stellenweise überwinden (Eigentlichkeit). 14 Seit seinen frühen psychologisch-philosophischen Arbeiten sucht Maurice Merleau-Ponty einen neuen Weg, der aus der Ablehnung sowohl des wissenschaftlichen Realismus als auch des transzendentalen Idealismus motiviert ist, einen Weg des Beschreibens der Wahrnehmung, der diese nicht von einem philosophischen Modell der Wirklichkeit her versteht, in welchem sie fiktiv verortet wird. Merleau-Ponty findet diesen Weg, ausgehend von Heideggers Inder-Welt-sein und vor allem immer wieder zurückgreifend auf Texte Heidegger, GA 61: 109. Die Analyse anthropologischer Bestimmungen wird bei Scheler nicht in den Dienst einer Existenzialanalytik (mit dem Ziel des Aufweises möglicher Eigentlichkeit) gestellt, wie Heidegger dies tut, vielmehr ist etwa die Phänomenologie der menschlichen Gefühle selbst ein wesentliches Ziel der Philosophie Schelers (vgl. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie). 14 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit: §§ 39–44; 61–66. 12 13

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und Fragmente des späten Husserl, 15 und zwar findet er ihn als radikale Analyse der Unerschöpflichkeit und Nicht-Verstehbarkeit der wahrgenommenen Welt und in eins mit ihr des wahrnehmenden Subjekts. So wie »Wellen, die am Strand ein Wrack umspülen«, so sei Subjektivität von Welt immer schon »überströmt« und umgeben. 16 Unhintergehbar ist das Subjekt der Welt zugeeignet, unfähig, in sich oder in der Welt einen wirklichen Anfang zu etablieren oder auch nur zu benennen. Immer schon versetzt in epistemische, ästhetische und kulturelle Bedeutungsgefüge, wird das cogito zu einem radikal leiblichen und geschichtlichen, zu einem durch Negativität (im Sinne des Nicht-Verstehbaren) konstituierten cogito. Die Subjektivität, so Merleau-Ponty, konstruiere »nicht die Welt, sondern errät sie als ein sie umgebendes Feld, das nicht sie selbst sich gegeben hat«. 17 Es ist bezeichnend für das Denken Merleau-Pontys, dass er die Schwierigkeiten der transzendental verstandenen Reduktion Husserls aus den Ideen I, die Unmöglichkeit, die Reduktion bis zu jenem festen Boden möglicher Transzendentalien weiterzutreiben, nicht als Scheitern eines Denkens interpretiert, sondern dieses Ergebnis gewissermaßen als wertvolle Frucht und als Anfang eines neuen, radikal negativen Denkens aufgreift. »Die wichtigste Lehre der Reduktion ist so die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion«. Es gibt »kein Denken, das all unser Denken umfaßte«. 18 Jenes Denken, das von der Unmöglichkeit der Selbstbegründung spricht, ist noch Phänomenologie, nicht länger aber nur auf dem Feld der Gegenstandsbeschreibung und nicht mehr im Sinne der Geste des Fundierens. Mehr und mehr geht es Merleau-Ponty um die Beschreibung denkender menschlicher Existenz als immer wieder neu erfolgende Negation der verschiedenen geschichtsphilosophischen, realistischen oder idealistischen Entwürfe, in denen sich das cogito Für Merleau-Pontys frühes Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung ist der Begriff des Être-au-monde (Zur-Welt-sein) zentral. Dieser folgt Heideggers In-derWelt-sein (vgl. Heidegger, Sein und Zeit: § 12), allerdings ist au monde ein Dativ, sodass Merleau-Ponty im Gegensatz zu Heidegger den Akzent eher auf das Aufgehen in der Welt (der Welt zugeeignet sein) setzt (vgl. Merleau-Ponty 1966: 7 (Fußnote ›d‹ des Übersetzers). Als erster auswärtiger Besucher verbringt Merleau-Ponty 1939 einen Forschungsaufenthalt am Husserl-Archiv in Löwen, wo er Husserls nachgelassene Schriften studiert. Später lässt er sich zum Studium mehrfach Texte aus Husserls Nachlass schicken (vgl. Bermes 1998: 26 f.). 16 Merleau-Ponty 1966: 244. 17 AaO.: 459. 18 AaO.: 11. 15

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zum Meister der Welt macht. 19 So wird Merleau-Pontys unvollendetes Denken zu einer negativen Hermeneutik im Sinne der Selbstbesinnung einer menschlichen Existenz, die angesichts konstitutiver Negativität ihren Hang zur Überbietungsgeste, ihren Wunsch nach Selbstbegründung durch Verstehen zurückzunehmen versucht. Diesen Ansatz negativer Hermeneutik weiterzudenken, besonders auch jenseits der durch Wahrnehmungsanalysen und ontologische Fragen vorgezeichneten Bahnen, nämlich hinsichtlich seiner praktisch-philosophischen und lebenspraktischen Bedeutung, stellt eine wichtige Aufgabe dar. 20 In den folgenden Abschnitten möchte ich zeigen, wie Elemente der klassischen Phänomenologie in verschiedenen Kontexten ein ganz eigenes lebenspraktisches Potenzial entfalten können. Dabei wird das beschriebene negative Moment der Phänomenologie aufgenommen und jeweils ein Feld der Praxis negativer Hermeneutik umrissen. Die Abschnitte beginnen mit einer freieren und möglichst anschaulichen Vorstellung der zu analysierenden praktischen Funktion von Phänomenologie. Im Laufe des Texts versuche ich dann zu zeigen, inwiefern sich diese Funktion als systematischer Sinn bestimmter phänomenologischer Ansätze verstehen lässt. II.3.2. Negation primären Verstehens als Methode des Sichtbarmachens Phänomenologisches Sehen kann im Kontext praktischer Philosophie als eine Methode verstanden werden, welche die Dinge gewissermaßen zum Sprechen bringt, gerade indem diese zunächst nicht so verstanden werden, wie sie gewöhnlich verstanden werden bzw. wie sie verstanden werden sollen. Wichtig für das Sichtbarmachen verborgener Seiten ist es dabei, dass man darauf achtet, wie die Dinge die eigene Selbstgegebenheit modifizieren, was sie, bildlich gesprochen, ›mit einem machen‹. Ebenso gilt das Interesse der Frage, welche EinSo bezeichnet Merleau-Ponty auch den Naturalismus als einen extremen Idealismus, weil er auf der Setzung einer vorgängigen Welt der Naturdinge beruht (vgl. MerleauPonty, Vorlesungen I: 98). 20 Merleau-Pontys unvollendetes Nachlasswerk Das Sichtbare und das Unsichtbare stellt den Versuch dar, die Trennung von Subjekt und Objekt ontologisch radikal zu unterlaufen. Dabei werden zwar die Bahnen der Bewusstseinsphänomenologie verlassen, nicht aber das denkerische Ansetzen bei den Prozessen des ›Entstehens der Welt‹, bei der Wahrnehmung (vgl. Merleau-Ponty 1986). 19

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flüsse, Interessen, Werte etc. die Dinge offenbaren. Zu einer explizit negativen Hermeneutik wird dieses phänomenologische Sehen vor allem durch die Negation des apriorischen Verstehenshorizonts, in dem jeweils Dinge begegnen. Mit dieser Negation ist nicht so sehr eine Verfremdung gemeint, eher geht es darum, auf eine Weise wahrzunehmen, die es erlaubt, den unthematischen eigenen Umgang mit den Dingen (das stumme Fungieren der Bedeutungen) als solchen sichtbar zu machen und dabei etwas Spezifisches über das Betrachtete zu erfahren. Jenes stumme Fungieren gilt es zu stören, damit es selbst ein Gegenstand der Untersuchung werden kann. Als Beispiel kann zunächst ein kurzer Auszug aus einem architekturkritischen Essay dienen. Es handelt sich um den Versuch, für den Leser an moderner Architektur etwas sichtbar zu machen, indem der unthematische Umgang mit dem Wahrgenommenen eigens auffällig gemacht wird. In seinem Text Ansätze für wirre Zeiten beschreibt Michel Houellebecq den Pariser Bahnhof Montparnasse: »Der Bahnhof Montparnasse entfaltet eine transparente und geheimnislose Architektur, stellt die notwendige und ausreichende Entfernung zwischen den Videobildschirmen der Abfahrtszeiten und den elektronischen Reservierungsterminals her, schildert mit angemessener Redundanz die Abfahrts- und Ankunftsgleise durch Pfeile aus. So gestattet er dem durchschnittlich oder überdurchschnittlich intelligenten, westlichen Menschen die Erreichung eines Reiseziels, indem er Reibereien, Ungenauigkeiten und verlorene Zeit auf ein Mindestmaß reduziert«. 21 Üblicherweise wird der Bahnhof durch den Reisenden im Sinne jenes unthematischen Fungierens der Zeichen und des Verstehens ihrer Bedeutungen wahrgenommen, der Reisende ›liest‹ den Bahnhof, indem er ihn durcheilt, indem er sich von ihm etwa zu einem Anschlusszug (bzw. zur Metro) bringen lässt. Houellebecq beschreibt das alltägliche Benutzen phänomenologisch als eine Wahrnehmungsweise, um diese erstens explizit zu machen und sie zweitens daraufhin zu befragen, was sie über die Spezifika moderner Architektur sagen kann. Der Bahnhof Montparnasse wird so beschrieben, dass in ihm jene Größen (Absichten, Sachzwänge, Werte eines Kollektivs, einer Kultur) sichtbar werden, welche sich im Gebäude als Architektur, als Anlage, Einrichtung und Ausstattung des Bahnhofs stumm artikulieren. Auffallend ist etwa, wie sehr sich die moderne Architektur zurücknimmt, wie sehr sie fürchtet zu stören 21

Houellebecq 1999b: 44 f. A

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(wie geheimnislos sie ist) bzw. wie sehr sie bestrebt ist, den einzigen Zweck des Gebäudes, nämlich das Fortkommen, ihrerseits zu unterstützen, indem sie sich etwa redundanter Zeichen bedient und sich der ›Lesegeschwindigkeit‹ des Reisenden anpasst. Houellebecq erkennt den Sinn der Gegenwartsarchitektur schließlich darin, die »maximale Lesbarkeit« »textueller, visueller und illustrierter Botschaften« zu gewährleisten, um so »zur Beschleunigung und Rationalisierung menschlicher Fortbewegung« beizutragen. 22 In ähnlicher Weise lassen sich auch jene »immensen, die Autobahnen säumenden Straßenschilder« analysieren. 23 Hier zeigt sich ein kritisches Potenzial der Phänomenologie im Sinne einer negativen Hermeneutik, das ganz unabhängig ist von jenen spezifischen weiterreichenden (und letztlich klassischen) Zielen, die Husserl und Heidegger mit ihren Gegenstandsanalysen verfolgten. Die große philosophische Innovation im Zusammenhang mit der Entdeckung der phänomenologischen epoché, die auch für die praktische Philosophie eine große Bedeutung hat, besteht wohl gerade nicht in jenen Ergebnissen, zu denen sie beitragen sollte (der Aufweis absolut sicherer Wahrnehmung (Husserl) bzw. die gänzlich neue Bestimmung des Begriffs ›sein‹) – die große philosophische Innovation liegt vielmehr in der Analyse der Gegebenheitsweisen (Husserl) bzw. der Entdecktheits- und Erschlossenheitsweisen (Heidegger). 24 Diese analytische Methode ist es dann auch, die sich auf andere Fälle phänomenologischen Wahrnehmens übertragen lässt und die Phänomenologie zu einer negativen Hermeneutik macht. Diese These kann an einem kurzen Text aus Sein und Zeit plausibel gemacht werden. Auch Heideggers Zeuganalysen bemühen sich um die Explikation dessen, was bei der Benutzung von Gebrauchsdingen im Sinne eines stummen Fungierens der Bedeutungen jeweils Ebd. AaO.: 44. 24 Die Tatsache, dass in den phänomenologischen Gegenstandsanalysen nicht die konkreten Dinge, sondern die Gegebenheitsweisen im Zentrum stehen, teilen die Transzendentalphänomenologen mit dem Autor Houellebecq. Auch Houellebecq benutzt den Bahnhof Montparnasse lediglich als ein Beispiel, als kontingenten Gegenstand, an dem Grundsätzliches (und nur um dieses geht es dem Essay) sichtbar gemacht werden soll. In beiden Fällen stellen die Dinganalysen keinen Selbstzweck dar. Der Unterschied liegt aber darin, dass Husserl und Heidegger bestimmte innerphilosophische Ziele verfolgen, sie versuchen, philosophische (logische, ontologische, erkenntnistheoretische) Theorieund Traditionsbestände mithilfe einer neuen Methode weiterzuentwickeln, während Houellebecq auf diese Weise eine kritische Gegenwartsdiagnose leisten möchte. 22 23

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unthematisch bleibt, was aber die Gebrauchsdinge gerade wesentlich ausmacht. »Wir nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug. Im Umgang sind vorfindlich Schreibzeug, Nähzeug, Werk-, Fahr-, Meßzeug. Die Seinsart von Zeug ist herauszustellen. […] Der je auf das Zeug zugeschnittene Umgang, darin es sich einzig genuin in seinem Sein zeigen kann, z. B. das Hämmern mit dem Hammer, erfaßt […] dieses Seiende [nicht] thematisch als vorkommendes Ding […] Das Hämmern hat […] sich dieses Zeug so zugeeignet, wie es angemessener nicht möglich ist. In solchem gebrauchenden Umgang unterstellt sich das Besorgen dem für das jeweilige Zeug konstitutiven Um-zu; je weniger das Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es gebraucht wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm, um so unverhüllter begegnet es als das, was es ist, als Zeug. Das Hämmern selbst entdeckt die spezifische »Handlichkeit« des Hammers. Die Seinsart von Zeug, in der es sich von ihm selbst her offenbart, nennen wir die Zuhandenheit«. 25 Schon in Heideggers Weigerung, den Sachverhalt mit üblichen Ausdrücken zu beschreiben, liegt die Negation der vermeintlich natürlichen Einstellung zu einem Hammer im Sinne der Wahrnehmung eines vorhandenen Gegenstands. Die Zurückweisung des »Begaffens« trifft die Husserl’schen Dinganalysen, die oft von optischer Wahrnehmung ausgehen. Bei Heidegger wird die Wahrnehmung zu einer Bewegungssuggestion, zum quasi-leiblichen Mitvollzug desjenigen Bezugs zum Hammer (dem Benutzen), in dem dieser viel mehr offenbart als in der sinnlichen Wahrnehmung. Und diese leibvermittelte Wahrnehmung zeigt den Hammer nicht mehr als vorhandenes Ding, sondern eben als ein Zuhandenes, als etwas, das nur in der Benutzung und der dieser entsprechenden Wahrnehmung, nicht aber im theoretischen Begreifen ganz es selbst ist. Indem sie versucht, gewissermaßen die Sprache der Dinge selbst sprechen zu lernen, dringt Phänomenologie hier vor in Bereiche, die zu begrifflicher Reflexion nur noch eine mittelbare Beziehung haben. Phänomenologie wird zu negativer Hermeneutik, indem sie nicht die Bedeutung der Dinge mittels eines Subjekt-Objekt-Modells abbildet, sondern indem sie in das schweigende Bedeutungsgeschehen der Dinge einzudringen versucht, um dieses selbst untersuchen zu können. Indem der phänomenologische Betrachter, so formuliert schon Husserl, die immer schon akzeptierten unthematischen Gel25

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tungen der Dinge, die so genannte natürliche Thesis (dass die Dinge raumzeitlich da sind, dass sie tatsächlich existieren usw.) bewusst ausschaltet, gelangt er zu »einer bestimmten eigenartigen Bewußtseinsweise«. 26 Diese eigenartige Bewusstseinsweise tritt, gerade indem sie die natürliche Einstellung zu den Dingen negiert, den Dingen noch näher, sie dringt in sie ein, indem sie die Art und Weise mitvollzieht, wie die Dinge für uns ›sind‹, wie sich ihre Bedeutung für uns herstellt. Auf diese Weise phänomenologisch sehen zu lernen heißt mithin, über ein spezifisches Instrument der Wahrnehmung zu verfügen. Die lebenspraktische Bedeutung dieser Wahrnehmungsweise besteht nun nicht darin, dass diese Wahrnehmung einen irgendwie gearteten exklusiven Zugang ›zu den Sachen selbst‹ bieten könnte. Durch die Negation primären Verstehens wird etwas sichtbar gemacht, doch dieses kann man nicht das Eigentliche oder den Kern einer Sache nennen. Vielmehr handelt es sich um eine vorprädikative Schicht, die üblicherweise durch ein vorschnelles Verstehen verdeckt ist. Wahrnehmung bedeutet im alltäglichen Sinn Wahrnehmung in den Kategorien des Verstehens. Diese bestehen heute besonders in (populär-) wissenschaftlichen Modellen, im Hintergrund steht hier die Notwendigkeit einer allgemein verständlichen Sprache, in der Wirklichkeit medial vermittelt werden kann: Was es über die Dinge zu berichten gibt, ist durchschnittlich ihre Erklärbarkeit durch wissenschaftliche Konzepte, ist die Einordnung auch noch privater Phänomene in Modelle der Welt. Phänomenologie bedeutet in dieser Lage, diese Einordnung und damit das Verstehen zurückzuweisen. Phänomenologisch treten an die Stelle des Verstehens die eigenen Erfahrungen mit den Dingen, genauer die in diesem Zusammenhang stehenden qualitativen Phänomene, die Modifikationen der leiblichen Selbstgegebenheit. Das Sichtbargemachte ist nichts, das zu der Welt noch hinzukommt bzw. das hinter ihr steht, das Sichtbargemachte ist vielmehr die Welt selbst, doch nicht als verstandene, sondern als (jeweils selbst und aktuell) erfahrene. Ein für die Philosophie klassisches Beispiel ist die Schmerzerfahrung. 27 Hier wird in besonderer Weise deutlich, wie sehr sich Außen- und Innenperspektive des Schmerzphänomens unterscheiden, wie wenig die Perspektive des Verstehens (was man wissenschaftlich etc. über Schmerz sagen kann) 26 27

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Husserl, Ideen I: 55. Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Henrich 1979: 176 f.

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über die Empfindungsqualität aussagt und wie sehr sich diese trotz übergroßer Deutlichkeit den Versuchen der Verbegrifflichung versagt: In der Erfahrung ist jene Sprache, in welcher der Schmerz gewissermaßen spricht, überdeutlich – doch sie ›spricht‹ nicht in Begriffen. 28 II.3.3. Phänomenologie als Ideologiekritik und Emanzipation Zusätzlich zu dieser wahrnehmungskritischen Funktion kann Phänomenologie auch in emanzipativer Absicht zur Besinnung auf die eigene Anschauung auffordern. 29 Gegen die Überholung qualitativer Empfindungen durch ständig mitlaufende Verstehensmodelle, das heißt auch gegen die ›Selbstdurchstreichung‹ durch Verstehen (man macht sich im Verstehen zu einem Moment eines Ganzen), gilt es hier, einen Raum der eigenen Anschauung zu kultivieren. Existenzphilosophisch formuliert geht es darum, auf sich selbst allererst aufmerksam zu werden, die eigene Anschauung als eine Form der Selbstanzeige zu verstehen und nun Erfahrungen zu machen, ohne dass es dazu konkrete Vorbilder (auch im Sinne von Verstehensmodellen) gibt. Es geht darum, die eigene Existenz als eine wesentlich nicht verstehbare wiederzugewinnen und dies etwa auch, um sie als eine nicht immer schon feststehende wahrzunehmen und sie vor einer Verzweiflung der Endlichkeit (Kierkegaard) zu bewahren. Um hier einem Verdrängten zu seinem Recht zu verhelfen, um Sensibilität für eigene Anschauung wachzurufen, müssen zuvor falsche Vorstellungen und modellhafte Selbstinterpretationen aufgegeben werden. Auch in diesem Kontext stellt sich die Frage nach der Unmittelbarkeit. Rekurriert die Kritik an zu viel verstehenden Modellen nicht auf eigene Anschauung als eine Pseudowahrheit der Unmittelbarkeit? Hier ist zu differenzieren: Wir leben einerseits mit der Evidenz eigener Anschauung. Philosophen wie Descartes und Husserl haben Ein gutes Beispiel für einen reflektierten Umgang sowohl mit der verstehenden als auch mit der phänomenologischen Wahrnehmung des Schmerzes bietet Dreitzel 1997. 29 Ein emanzipatorischer Grundzug eignete der Phänomenologie seit ihren Anfängen. Spiegelberg schreibt Husserl eine Ethik der radikalen Autonomie zu (vgl. Spiegelberg 1960: 84 ff.). Freilich ist Husserl noch jede existenzielle Konnotation dieser Autonomie fremd. Vielmehr glaubt er an eine Befreiung der Wissenschaften, ja der Kultur durch die Arbeit der Phänomenologen (vgl. aaO.: 85). 28

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dieser Evidenz einen systematischen Rang eingeräumt. Unabhängig von diesem Status gibt es tatsächlich so etwas wie die Täuschungsfreiheit eigener Empfindungen, das klassische Beispiel in der Philosophie stellt das Schmerzphänomen dar. Täuschungsfrei ist dabei freilich nur die cogitatio (die Schmerzempfindung) selbst, nicht das in dieser Angezeigte, das cogitatum (etwa die Ursache des Schmerzes in Form eines Gegenstandes, der die Haut berührt), bei diesem kann es sich stets um eine Täuschung handeln. Das Attribut der Täuschungsfreiheit macht die eigene Anschauung gleichwohl nicht zu etwas Absolutem. Die eigene Anschauung, auf die es emanzipativ zu rekurrieren gilt, darf auch nicht im Sinne der Transzendentalphänomenologie vorschnell in die Nähe des Wahrheitsbegriffs gebracht werden. Zwar liegt dies zunächst nahe, denn die frühe Phänomenologie zielte auf eine Anschauung der Dinge, die tiefer geht und sicherer ist als alltägliche Wahrnehmung und die gewissermaßen einen exklusiven Zugriff auf die ›Sachen selbst‹ bietet. 30 Husserl hatte gehofft, einem wissenschaftlichen Empirismus wie auch einem weltanschaulichen Relativismus Anschauung als absolut sichere philosophische Erkenntnis entgegensetzen zu können, 31 und noch in Heideggers existenzphilosophisch modifiziertem Konzept der EiDamit beerbt die phänomenologische Philosophie eine zentrale metaphysische und erkenntnistheoretische Tradition. Schon Platon unterscheidet das alltägliche Sehen des Gesichtssinns von jenem anderen Sehen der eigentlichen Wirklichkeit mittels der Vernunft. Und Kants Erkenntniskritik verabschiedet zwar die Idee einer Erkenntnis der Dinge in ihrem An-sich-Sein, andererseits versteht der transzendentale Anschauungsbegriff Anschauung aber als Bereich möglicher Erfahrung überhaupt, sodass der Forderung nach sicherer Erkenntnis auf ganz eigene Weise Genüge getan wird. Vgl. hierzu den Artikel Anschauung in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, hg. v. J. Ritter u. a. Basel/Stuttgart 1971, Sp. 340 ff. 31 Dass die Frage, wie philosophische Klärungen durch absolutes Wissen möglich sind, für Husserl keineswegs nur eine rhetorische Frage war, zeigen etliche seiner privaten Aufzeichnungen und Briefe, in denen Husserl seine verzweifelte Suche nach einem festen Boden und einer einheitlichen Weltanschauung artikuliert. Franz Josef Wetz weist in seiner Husserl-Biografie (vgl. Wetz 1995) besonders auf diesen Aspekt des Denkens Husserls hin. So schreibt Husserl in einer persönlichen Aufzeichnung vom 25. 09. 1906: »Ich muß zu einer inneren Festigkeit kommen. […] ich kann ohne Klarheit eben nicht leben. […] Ich kämpfe um mein Leben, und darum glaube ich in Zuversicht, weiterkommen zu können. […] Ich strebe hier nicht nach Ehre und Ruhm […] Nur eines erfüllt mich: Ich muß Klarheit gewinnen, ich kann sonst nicht leben, ich kann nicht das Leben ertragen, wenn ich nicht glauben kann, dass ich es erringe, daß ich ins gelobte Land wirklich und selbst und mit klaren Augen hineinschauen kann« (Husserl, Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie: 445, vgl. Wetz 1995: 37). Kritisch zu dieser Einstellung Husserls und zu seiner Erwartung, seine Fragen könnten durch Philosophie gelöst wer30

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gentlichkeit liegt die selbstverständliche Erwartung einer ›Lösung‹ im Sinne der wahren Erkenntnis des Seins. Wir leben aber nicht nur mit der Evidenz eigener Anschauung, wir leben auch mit dem Wissen um die Vermitteltheit dieser eigenen Anschauung, diese ist geprägt sowohl durch Kultur als auch durch Natur: Die kulturell vermittelte Bedeutung der Phänomene (etwa bestimmter Schmerzen) geht schon in die Empfindung selbst mit ein, andererseits verändert auch unsere leibliche Verfasstheit unsere Empfindung, etwa wenn unsere Stimmung von Faktoren wie Schlaf, Essen oder Bewegung beeinflusst wird (von einer bestimmten Stimmung kann man deshalb sagen: »Es ist nur Müdigkeit.«). Oft wird es darauf ankommen, der eigenen Anschauung gegen die vorschnelle Vereinnahmung durch Modelle zu ihrem Recht zu verhelfen. Andererseits kann es aber auch notwendig werden, gegen eine sich totalisierende 1.-Person-Perspektive (etwa eine übertrieben ängstliche oder auf andere Weise verzerrte Sicht der Welt) den Standpunkt einer Außenperspektive und eines erklärenden Modells zu stärken. Eigene Anschauung und Wissen von der Welt sind hier nicht in einem grundsätzlichen Sinn gegeneinander auszuspielen. Vor dem Hintergrund dieses Feldes (in dem es keine absolute Gewissheit gibt) gilt das Interesse der folgenden Überlegungen gleichwohl besonders der Negation begrifflich vereinnahmender Modelle. Es gilt, im Sinne der Forderung Bernhard Waldenfels’: »Habe Mut, dich deiner eigenen Sinne zu bedienen!«, 32 an einem pragmatischen Anschauungsbegriff festzuhalten, der Anschauung nicht in ein transzendentalphilosophisches Modell einordnet, der aber auch nicht auf eine naive Unmittelbarkeitsphänomenologie zurückfällt. Das ideologiekritische und emanzipative Potenzial von Phänomenologie geht zurück auf die Analyse der Gegebenheits- und Entdecktheitsweisen, die ich oben als das eigentlich Innovative der Phänomenologie bezeichnet habe. Emanzipativ wirkt Phänomenologie vor allem dann, wenn in den Gegebenheitsweisen der Dinge die unreduzierbare Bedeutung des Ichs des Betrachters selbst mitthematisiert wird. Dabei geht es um die eigene Anschauung, und um diese allererst zur Geltung zu bringen, bedarf es der Negation von unreflektiert übernommenen Deutungshorizonten, also etwa (populär-) den, äußert sich Hans Blumenberg in den Texten Ohne Philosophie nicht leben können – Eine Pathosformel und Worte und Sachen (vgl. Blumenberg 1998: 132 ff.). 32 Waldenfels 1992: 19. A

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wissenschaftlichen oder anderen dominierenden Verstehensmodellen. Emanzipation bedeutete in der Antike die Freilassung von Sklaven, auch die Entlassung des erwachsenen Sohnes aus der Gewalt des Vaters. Der moderne Sinn der Emanzipation liegt dann in der von den freien Bürgern selbst betriebenen Entlassung aus Bevormundungen im religiösen, philosophischen oder politischen Bereich. Im phänomenologischen Kontext meint Emanzipation die selbst betriebene und auf der Ebene der einzelnen Urteilsakte vollzogene Entlassung seiner selbst aus der Bindung durch reduktionistisches oder auf andere Weise vereinnahmendes Verstehen. Was es heißt, pragmatisch auf eigene Anschauung zu rekurrieren, wird zunächst an Beispielen deutlich: Man ist durchaus in der Lage zu beurteilen, ob einem eine bestimmte Berührung angenehm oder unangenehm ist, ob man einen Geschmack gut oder schlecht findet, ob man im täglichen Gebrauch ein Möbel, einen Raum aber auch ein Stück Kleidung als günstig, geeignet, gut oder eher als ungünstig, ungeeignet und schlecht empfindet. Gleiches gilt für Farben, für die Atmosphäre, welche Menschen verbreiten, für Orte, aber auch für Situationen. Bei all diesen Urteilen verlässt man sich auf seine eigene Anschauung, das heißt auf die konkreten Empfindungen, welche die Wahrnehmungen begleiten. Das Rekurrieren auf die eigenen Empfindungen geschieht nicht selbstzweckhaft im Sinne einer vermeintlichen Unmittelbarkeit in der Hoffnung, darin der ›Sache selbst‹ zu begegnen. Ebenso ist eine vollständige Trennung in eine eigene und in eine fremde Wahrnehmung undenkbar. Unsere Wahrnehmung und unsere (Geschmacks-) Urteile sind stets sehr voraussetzungsreich, insofern kann es immer nur um relative Autonomie gehen. Das Ziel besteht aber darin, sich dieser Voraussetzungen bewusst zu werden und gleichzeitig stets aufs Neue nach den eigenen Empfindungen zu fragen, um diese besonders gegen gesellschaftlich dominante Verstehensmodelle zu behaupten: So fungieren etwa in Fragen der Gesundheit und allgemein der Naturvorgänge naturwissenschaftliche Modelle als (meist diffuser) Verstehenshintergrund. Sache der Phänomenologie als einer negativen Hermeneutik ist hier die Negation dieser Verstehensmodelle, genauer die Zurückweisung der vorgängigen Einordnung des Wahrgenommenen in theoretische Konstrukte, die einem die Welt zugänglich machen, wie sie vermeintlich an sich ist. 33 Meine These im Zusammenhang mit diesem pragmatischen 33

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Für ein in diesem Sinne souveränes und emanzipiertes Selbstsein auf dem Gebiet der

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Anschauungsbegriff ist es, dass sein systematisch-emanzipativer Gehalt auf zwei bahnbrechende Entdeckungen der frühen Phänomenologie zurückgeht, auf die Täuschungsfreiheit des cogito (Husserl, Scheler) sowie auf Jemeinigkeit (Heidegger). Anfang des 20. Jhs. entdeckten Phänomenologen die enorme Relevanz der von Descartes beschriebenen Täuschungsfreiheit des cogito für das menschliche Selbst- und Weltverständnis. Selbst in einfachsten Wahrnehmungen sind die Empfindungen selbst (im großen Unterschied zu den von ihnen ›angezeigten‹ Gegenständen) in einem schlechterdings nicht zu leugnenden Sinn wahr. In einer Formulierung Husserls: »[…] überzeuge ich mich, dass ein wahrgenommenes Ding nicht ist, unterliege ich einer Täuschung, so ist mit dem Ding alles in seiner Extension Extendierte weggestrichen. Aber die Empfindnisse verschwinden nicht«. 34 Das emanzipatorische Potenzial dieser (Wieder-) Entdeckung der Täuschungsfreiheit der cogitationes wird überall dort sichtbar, wo eigene Empfindungen gar nicht erst aufkommen (bzw. im Aufkommen schon zurückgenommen werden), weil in der Selbst- und Weltwahrnehmung alles schon im Lichte dominierender hermeneutischer Modelle verstanden wird. Hier gilt es angebotene Modelle des Verstehens nicht zu akzeptieren und zunächst an jenen Empfindungsqualitäten festzuhalten, welche die eigene Anschauung aktuell ausmachen. Eine weitere einschlägige Entdeckung der phänomenologischen Philosophie stellt Heideggers Begriff der Jemeinigkeit dar. Schon Husserl beschrieb explizit die Möglichkeit, in der Dingwahrnehmung durch eine Änderung der Aufmerksamkeit den eigenen Körper mitzuempfinden. Ertastet man etwa mit seiner Hand einen auf dem Tisch liegenden Briefbeschwerer, so hat man »Glätteund Kälteempfindungen usw.«, die »das taktuelle Ding Briefbeschwerer hier zur Wahrnehmung […] bringen«. Bei diesem Wahrnehmungsakt kann sich nun die Hand gewissermaßen gleichzeitig selbst wahrnehmen: »Achte ich aber auf die Hand bzw. den Finger, so hat er Berührungsempfindungen, die noch nachklingen, wenn die Hand entfernt ist«. »Auf dieser Handfläche empfinde ich Berührungsempfindungen u. dgl. Und eben damit bekundet sie sich unmittelbar als mein Leib«. 35 Husserl geht hier noch nicht so weit zu sagen, Leiblichkeit tritt Gernot Böhme ein (vgl. Böhme 1985, ders. 1994: 165 ff., ders. 1997: 192 ff. 34 Husserl, Ideen II: 150. 35 AaO.: 146, 150. A

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eben damit bekunde sich mein Leib qua leibliches Ich, ich selbst bekunde mich als unhintergehbar von meiner Wahrnehmung Betroffener. Diesen Schritt vollzieht erst Heidegger, der Husserl in einer Marburger Vorlesung vorwirft, einen entscheidenden Unterschied übersehen zu haben, nämlich jenen Unterschied zwischen cogitatio und cogitatum, welcher eben in der Jemeinigkeit der cogitatio besteht. 36 Heidegger drückt dies so aus, dass das Sein der cogitatio je mein eigenes Sein (Jemeinigkeit) ist, insofern in ihr zugleich auch eine Anzeige meiner selbst liegt, während diese Auszeichnung auf das cogitatum nicht zutrifft. Dass Husserl diesen Seinsunterschied zwischen cogitatio und cogitatum übergeht, führt Heidegger gerade auf die phänomenologische epoché zurück. Denn indem die epoché damit einhergeht, Existenzaussagen gänzlich auszusetzen, macht sie sich künstlich blind für die besondere Existenzform menschlichen Lebens, seinen »Dass-Charakter«. 37 Auf Wahrnehmungsebene spiegelt sich dieser gerade in der Jemeinigkeit der cogitationes wider. Als derjenige, der durch die jeweilige cogitatio im Sinne der bei der Dingwahrnehmung mitlaufenden unhintergehbaren Anzeige der eigenen Existenz unmittelbar (nicht zu leugnen) betroffen ist, ist man sich jeweils selbst gegeben, ohne dass man sich selbst loswerden könnte, es sei denn um den Preis, sich selbst zu belügen. Im Bereich der Anschauung kann sich menschliche Existenz nur bei Strafe der Selbstaufgabe durch andere vertreten lassen. Hier liegt ein großes emanzipatorisches Potenzial: In Sein und Zeit artikuliert sich dieses (wenngleich im Rahmen einer weit ausgreifenden Transzendentalphänomenologie) als Negation des Man, also jener vorfindlichen und üblichen Weisen des Urteilens, Wertschätzens, Redens usw., welche sich ständig als eigenes Urteil anbieten. 38 Bei Scheler zeigt sich das emanzipatorische Potenzial etwa in seiner ca. 1912 verfassten Schrift Zur Phänomenologie und Metaphysik der Freiheit. Scheler arbeitet zunächst die zwei möglichen Betrachtungsweisen des Freiheitsproblems heraus, die phänomenologische, die 1.-Person-Perspektive, und andererseits diejenige Perspektive, welche die Freiheitsfrage als kausalmechanisches Naturgeschehen behandelt. Vor dem Hintergrund des eigenen Erlebens des Phänomens Freiheit ist es Scheler besonders darum zu tun, das 36 37 38

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Vgl. Heidegger, GA 20: § 13, bes. S. 158. AaO.: 150. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit: §§ 25–27, §§ 35–38.

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Eigenrecht des »unmittelbaren Freiheitsbewußtsein[s]« 39 darzustellen. Zwar lasse sich gegen dieses Bewusstsein der Einwand der Täuschung erheben. »Jener Einwand aber verfehlt das Ziel, da er ein Phänomen bestreitet auf Grund von Überlegungen, die realer und kausaler Natur sind – die als solche gegen die Phänomene nie etwas beweisen können. Ich oder ein anderer mag sich beliebig täuschen können über jeden konkreten Fall meiner bzw. seiner Freiheit: Daß es aber Freiheit gibt, das liegt auch noch in der Täuschung«. 40 Scheler sagt sogar: »Wollen macht frei!«. 41 Es steht hier derselbe Umstand im Blick, den Husserl als die Täuschungsfreiheit des cogito beschreibt. Versteht man Freiheit streng im Sinne des »unmittelbaren Freiheitsbewußtsein[s]«, 42 so gibt es unbezweifelbar Freiheit. Allerdings darf die Sicherheit, mit der Freiheit in der 1.-Person-Perspektive erlebt wird, nicht verwechselt werden mit der Existenz von so etwas wie Willensfreiheit in irgendeinem anderen Sinn als dem phänomenologischen. Auf der anderen Seite darf das menschliche Freiheitsbewusstsein aber nicht (im Sinne einer reduktionistischen Erklärung) als Irrtum verstanden und entsprechend behandelt werden, zu einer menschlichen Welt gehört es, Freiheit als Phänomen zu erhalten. Ein weiteres Beispiel für das emanzipatorische Potenzial der Phänomenologie stellt der Widerstand gegen die pseudoemanzipative Geste der Ratgeberliteratur und der populärwissenschaftlich aufbereiteten Orientierungsangebote dar. Pseudoemanzipativ ist hier der Schein einer Befreiung von jenen Faktoren, die einen an einer Selbstentfaltung und in diesem Sinn an Selbstsein hindern. Es existiert ein krasser Widerspruch zwischen dem Anschein einer emanzipierten Vermittlung wissenschaftlich-objektiver Ratschläge einerseits und der damit gleichzeitig einhergehenden Entmündigung des Empfängers der Ratschläge andererseits, dessen eigene Anschauung durch die verstehende Einordnung in ein Ganzes entwertet wird. Das phänomenologische Beharren auf der Art und Weise des eigenen Erlebens erscheint im Vergleich zu dieser Pseudoemanzipation als radikale Selbstentlassung aus einem von (vermeintlichen) Experten gestützten Idealdruck. 43 Scheler, Freiheit: 162. Ebd. 41 AaO.: 157. 42 AaO.: 162. 43 Zur Umsetzung dieses theoretischen Zusammenhangs in lebenspraktische Orientierung vgl. Thomas 2003a: 35 f. 39 40

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II.3.4. Negative Hermeneutik des Nicht-Verstehbaren Einen dritten Aspekt phänomenologischer Lebenspraxis (im Kontext negativer Identität) stellen Weisen des spezifisch nicht verstehenden Umgangs mit Nicht-Verstehbarem dar, 44 wobei gemäß der oben genannten pragmatischen Begründung von Negativität durch Phänomenologie diese Umgangsweisen mitunter auch konstitutiv für Nichtverstehbarkeit sind. In diesen Umgangsweisen wird das Verstehen durch Wahrnehmen (hierher gehören auch Phänomene der Empathie) oder durch Handeln (in einer weiten Bedeutung des Begriffs) ersetzt. Der Verlust der Gewissheit, mit Verstandesmitteln, seien es wissenschaftliche oder philosophische, die Wahrheit selbst (über die Welt, wie sie im Letzten beschaffen sei) erkennen zu können, dieser Wahrheitsgewissheitsverlust 45 bildet den historischen Hintergrund der Entstehung der Phänomenologie. Besonders für Husserl war dieser Hintergrund lebenslange Motivation seiner phänomenologischen Forschung. Das Thema des Wahrheitsgewissheitsverlusts gehört seither zum negativen Moment der Phänomenologie. Doch 30 Jahre nach Husserls Ideen I versteht Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung genau diesen Verlust absoluter Erkenntnis als ein wertvolles Resultat des Denkens, als Grundlage einer Phänomenologie der Endlichkeit. Im Folgenden möchte ich den Eigensinn des Nicht-Verstehbaren (1) sowie besondere Formen des Umgangs mit der Wirklichkeit in ihrer Nichtverstehbarkeit (2) darstellen. (1) Kann es zur praktischen Vernunft gehören, auf der Nicht-Verstehbarkeit eines Phänomens zu bestehen? Als Beispiel für diese Facette einer negativen Hermeneutik mag hier zunächst der Bereich der Psychosomatik dienen: Leibliche Empfindungen werden unter dem Zugriff psychologisch-medizinischer Bedeutungstheorien zu sprachlichen Zeichen, die auf eine hinter den Symptomen stehende Hier fällt auf, dass Phänomenologie und das Mimesis-Konzepts Adornos ein gemeinsames Anliegen verfolgen. Mimesis denkt Adorno als einen »dem Nichtidentischen angemessenen Modus der Erkenntnis« (vgl. Demmerling 1994: 155 ff., hier 156). Es kommt darauf an, die empathische Ebene nicht durch Verstehen (oder durch Konzeptionen) zu besetzen, sondern sie eigens zu kultivieren. 45 Gregor Schiemann hat für das Gebiet der Physik am Beispiel der mechanistischen Theorie Hermann von Helmoltz’ die Entwicklung von der Wahrheitsgewissheit zum Wahrheitsgewissheitsverlust nachgezeichnet. In seiner Arbeit finden sich auch Hinweise auf entsprechende Entwicklungen außerhalb der Physik (vgl. Schiemann 1997). 44

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Wirklichkeit verweisen, welche sich als Wirklichkeit an sich geriert. 46 Insofern hier die Bemächtigung durch das Verstehen gerade auch das (in Grenzen beeinflussbare) eigene Verhalten bis hin zu grundsätzlichen Haltungen gegenüber dem eigenen Leben und der Lebenswelt betrifft, kann Verstehen Schuldzuweisung implizieren. Bei einer Krebserkrankung etwa, dies hat Susan Sontag in ihrem Essay zu diesem Thema herausgearbeitet, 47 stellt es einen entscheidenden Unterschied dar, ob der Todkranke seine Krankheit (oder auch nur die Anfälligkeit für sie) im Rahmen eines theoretischen Modells deutet (bzw. zu einer solchen Deutung angehalten wird) und dabei auf irgendeine Weise die Ursache in sich selbst sieht (in seinem Verhalten, in seiner Lebenseinstellung, in seiner Kindheit, in seiner genetischen Veranlagung) oder ob er die Krankheit als etwas wahrnimmt, das zum Bereich des Nicht-Verstehbaren gehört. Die praktische Bedeutung der Anerkennung (der Behauptung und Bewahrung) des NichtVerstehbaren leuchtet hier unmittelbar ein. Es geht um die Kritik einer Kultur des Verstehens, die das ihr Fremde (als dasjenige, welches ihre Verstehenskategorien bedroht) gewissermaßen laufend vernichtet, indem sie behauptet, es verstehen zu können. 48 Wie kann der Begriff des Nicht-Verstehbaren phänomenologisch-systematisch rekonstruiert werden? Zunächst gilt es zu sehen, für welche verschiedenen Bedeutungen der Terminus der Nichtverstehbarkeit hier nicht steht: Das Nicht-Verstehbare bezeichnet nicht einen Bereich unlösbarer letzter In diesem Zusammenhang ist die totale Semiotisierung des Menschen zu kritisieren. Im Bereich der Kommunikationswissenschaft betrifft diese Kritik etwa das »metakommunikative[s] Axiom: Man kann nicht nicht kommunizieren« (Watzlawick u. a. 1974: 53). Ein Patient, der bei seinem Therapeuten schweigt, will ihm in dessen Augen mit diesem Zeichen immer etwas sagen. Und im Bereich der psychoanalytisch-psychosomatischen Deutungstheorien trifft die Kritik den Versuch, nicht nur das Symptom als Sprache des Körpers, sondern sogar die Desymbolisierung des Körpers, das heißt den Abbruch der Repräsentation von Bedeutung durch Symptome noch zu ›verstehen‹ – nämlich als Abwehrvorgang, der einen eigenen kommunikativen Sinn hat (vgl. Küchenhoff 1992: 152 ff.). 47 Vgl. Sontag 1981. »Das psychologische Verständnis untergräbt die ›Realität‹ einer Krankheit. Diese Realität muß erklärt werden. (Sie bedeutet in Wirklichkeit; oder ist ein Symbol für; oder muß interpretiert werden als.) […] Psychologische Krankheitstheorien sind machtvolle Instrumente, um die Schande auf die Kranken abzuwälzen. Patienten, die darüber belehrt werden, daß sie ihre Krankheit unwissentlich selbst verursacht haben, läßt man zugleich fühlen, daß sie sie verdient haben« (Sontag 1981: 66, 68). 48 Vgl. zu diesem Aspekt Gronemeyer 1996. 46

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Fragen, es geht auch nicht um die Behauptung der Gewissheit, Leben und Welt seien prinzipiell unverständlich oder sinnlos. Ebenso ist nicht gemeint, dass wissenschaftliche Theorien auf die in Frage stehenden Phänomene nicht angewendet werden könnten, noch auch dass transzendentale oder idealistische Standpunkte hier vor irgendwelchen Ausnahmephänomenen kapitulieren müssten. Demnach existiert das Nicht-Verstehbare nicht auf eine Weise, die dadurch Aufmerksamkeit und Anerkennung für es erzwänge, dass sich Verstehen und Erklären allenthalben an ihm stießen: Etwas Geheimnisvolles lässt sich stets als prinzipiell lösbares, bisher aber noch nicht gelöstes Rätsel begreifen, es muss nicht zwangsläufig als Nicht-Verstehbares bezeichnet werden. Auf welche Weise existiert dann aber das Nicht-Verstehbare? Nichtverstehbarkeit kommt vor allem im Zusammenhang mit einer bestimmten Perspektive auf Selbst und Welt vor, für die es wesentlich ist, die Annahme einer an sich seienden Wirklichkeit zu negieren. Für Phänomenologie gibt es keine an sich seiende Wirklichkeit bzw. diese ist stets das Korrelat eines Weltmodells, sei dieses geschichtsphilosophisch, idealistisch, konfessionell, wissenschaftlich oder anders angelegt. Diese Perspektive der Negation des big picture und der an sich seienden Welt scheint mir auf zwei verschiedene Weisen philosophisch motiviert sein zu können, auf eine pragmatische und auf eine erkenntniskritische. Ist die Perspektive, welche das Nicht-Verstehbare als solches sichtbar macht (man kann sie die Perspektive der Endlichkeit nennen), pragmatisch motiviert, dann stützt sie sich auf das klassisch phänomenologische Kriterium des Phänomenverlusts. Dieser Aspekt negativer Hermeneutik beharrt auf Nicht-Verstehbarkeit im Sinne des Antireduktionismus: Bei vielen Phänomenen wird etwa die Nichtreduzierbarkeit des Bedingten (z. B. eines Gefühls) auf das Bedingende (z. B. das neurophysiologische Geschehen) behauptet. Es geht um die Bewahrung der konkreten Empfindungsqualitäten, für die einerseits gilt, dass sie in reduktionistischer Sicht verloren gehen und für die andererseits oft gerade Aspekte wie Fremdheit oder Nichtverstehbarkeit (im Sinne des Anders-als-Verstehbares-Sein) konstitutiv sind. In diesem Sinne hieß es oben, die Dinge sind nur als gebrochen verstandene sie selbst, das heißt nur wenn das Moment der Nichtverstehbarkeit gewahrt bleibt. Nichtverstandensein ist in diesem Kontext gerade kein Mangel, sondern im Gegenteil sinnkonstitutiv. Ist die Perspektive der Endlichkeit erkenntniskritisch motiviert, stützt sie sich auf das Kriterium der notwendigen Kontingenz und 234

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Perspektivität menschlicher Wahrnehmung und menschlichen Weltverstehens, welche jeden Gesamtentwurf einer Welt, wie sie vermeintlich an sich ist, nur als ein Modell zulässt. Zu Unrecht suggerieren Gesamtentwürfe die Möglichkeit absoluter Standpunkte. Radikale Erkenntniskritik bestreitet aber nicht nur die Möglichkeit absoluten Verstehens, in eins damit versucht sie auch, die Entwertung des Partikularen, der einzelnen kontingenten Perspektive durch das Modell der Gesamtwirklichkeit rückgängig zu machen. MerleauPonty hat die hier im Blick stehende unhintergehbare Gleichursprünglichkeit von Ich, Wahrnehmung und Welt im Bereich menschlicher Wahrnehmung analysiert, Charles Taylor hat diese Analysen auf den Bereich der menschlichen Handlungen und der kulturellen Institutionen ausgedehnt (I.4.). In dieser philosophischen Tradition wird Transzendentalität schließlich gleichbedeutend mit leiblicher, situativer, kultureller, also mit wesentlich endlicher Perspektivität. 49 Bezieht man die Perspektive der Endlichkeit, also das Beharren auf Nicht-Verstehbarkeit, schließlich noch einmal auf das Beispiel einer lebensgefährlichen Erkrankung, dann wird ein Aspekt negativer Hermeneutik deutlich: Der hermeneutische Zugriff wird insofern negiert, als einerseits pragmatisch ein möglicher Umgang mit der Krankheit gerade die Empfindungsqualität der Fremdheit, des Widerfahrenden mit einbeziehen muss und andererseits erkenntniskritisch das mögliche Verstehensangebot in seiner kontingenten Perspektivität (Psychosomatik als eine kontingente Theorietradition) gesehen wird. Diesseits des Verstehens gilt es, lebenspraktische Möglichkeiten des Umgangs mit jenem Nicht-Verstehbaren, Fremden zu konzipieren, das einen (hier als leibliches Geschehen) trifft und das man (wie in diesem Beispiel) auch selbst ist. (2) Im Folgenden geht es um phänomenologische Zugangs- und Umgangsweisen zu und mit demjenigen, das negative Hermeneutik als Nicht-Verstehbares behauptet, mithin gilt das Interesse Weisen des Wahrnehmens und des Handelns, die Alternativen zum Verstehen, zum hermeneutischen Zugriff des Einordnens darstellen. Solche alternativen Umgangsweisen können beispielhaft veranschaulicht werden. Ein erstes Beispiel betrifft die konstitutive Nichtverstehbarkeit des Selbst und der eigenen Existenz: Der amerikanische Autor WalVgl. Merleau-Ponty 1966, insbesondere Teil Drei sowie Taylor 1988b und ders. 1995d.

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ker Percy beschreibt in seinem Roman The Moviegoer ein in diesem Kontext einschlägiges Phänomen, eine Art ›Umschlagsgeschehen‹ innerhalb der Selbst- und Weltwahrnehmung, einen Wechsel aus einer verstehenden Perspektive in eine solche Perspektive, die nicht mehr versteht, aber im Vergleich zur verstehenden dennoch einen spezifischen Fortschritt bedeutet. Der 30-jährige Held des Romans denkt über die verschiedenen Formen der Suche nach, die sein Leben bisher bestimmt haben: »Bis vor einigen Jahren habe ich nur ›grundlegende‹ Bücher gelesen, das heißt, Schlüsselbücher zu Schlüsselthemen, wie Krieg und Frieden, den Roman der Romane; A Study of History, die Lösung des Problems der Zeit; Schrödingers Was ist Leben?, Einsteins Das Universum, wie ich es sehe, und dergleichen. Während dieser Zeit stand ich außerhalb des Universums und versuchte, es zu verstehen. Ich lebte in meinem Zimmer als ›Irgendwer‹, der ›irgendwo‹ lebte, las grundlegende Bücher, und wenn ich Spaziergänge in die Umgebung unternahm und manchmal ins Kino ging, geschah das nur zur Zerstreuung. […] Das Haupterlebnis bei dieser Beschäftigung, die ich meine ›vertikale Suche‹ nenne, hatte ich eines Nachts, als ich in einem Hotelzimmer in Birmingham ein Buch mit dem Titel Die Chemie des Lebens las. Als ich es beendet hatte, schien mir, daß die großen Ziele meiner Suche erreicht oder im Prinzip erreichbar seien […] Eine denkwürdige Nacht. Die einzige Schwierigkeit: das Universum war geordnet, und ich war übriggeblieben. Da lag ich im Hotelzimmer, am Ende meiner Suche, aber immer noch verpflichtet, einen Atemzug zu tun, und dann den nächsten. Jetzt aber betreibe ich eine andere Suche: eine ›horizontale‹. Folglich ist weniger wichtig, was in meinem Zimmer geschieht. Wichtig ist, was ich finde, wenn ich mein Zimmer verlasse und in die Umgebung aufbreche«. 50 Gerade indem der Protagonist bei seiner vertikalen Suche erfolgreich ist, das heißt bei dem Versuch, die Welt und darin auch sich selbst im Rahmen theoretischer Gesamtentwürfe zu verstehen, lernt er etwas über das Ungenügen dieser Suche, weil er erst jetzt, im Augenblick des Erfolgs, die spezifische Tragweite der Erklärungskraft jener big pictures absehen kann. Das Ergebnis ist gewissermaßen die Geburt eines neuen Fragegegenstands, von dem zunächst nur so viel erkennbar ist, dass er nicht zum Bereich des (potenziell) Verstehbaren gehört, dennoch aber maximale Aufmerksamkeit fordert, weil Walker Percy: Der Kinogeher. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 3. Aufl. 1983 (The Moviegoer. New York: Knopf 1960), 72 f.

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es um den Protagonisten selbst geht. Das Umschlaggeschehen der Selbst- und Weltwahrnehmung begründet einen neuen Typ von Suche, in dem sich eine spezifische Weise des Umgangs mit dem sich neu erschließenden Bereich des Nicht-Verstehbaren andeutet: Die horizontale Suche findet als eigene Erfahrung statt, als eine eigene Erfahrung freilich, die nur als Teil einer umfassenden Negation von Verständnisansprüchen und -erwartungen existieren kann. Sein Zimmer zu verlassen, das bedeutet Selbst und Welt nicht länger in der Vogelperspektive der Weltentwürfe zu betrachten. Hinauszugehen, das bedeutet, in die 1.-Person-Perspektive zu wechseln und seine Existenz als etwas zu erfahren, wofür es noch keinerlei Vorbild gibt. Die horizontale Suche ist deshalb auch keine ›Suche nach sich selbst‹, insofern eine solche Suche wieder einem Klischee entspricht und deshalb schon weiß, wonach sie sucht. Die horizontale Suche ist ein Beispiel für eine Alternative zum hermeneutischen Zugriff, sie enthält sich des vorschnellen Verstehens und vermeidet dadurch das Überholen und Durchstreichen eigener Erfahrung. Phänomenologie, so ließe sich in Analogie zur Metapher von der vertikalen und der horizontalen Suche sagen, ist (und darin liegt ein emanzipatorisches Potenzial) jener Wechsel aus einer vertikalen in eine horizontale Suche. In diesem Wechsel werden die Kraft der Modelle und des Verstehens zu einem dialektischen Moment, 51 welches negiert und dabei in eine spezifische Bewegung der Öffnung hinein weitergetrieben wird – in die spezifische Öffnung einer negativen Hermeneutik, einer nicht verstehenden Wahrnehmung (hier: des Selbst und der eigenen Existenz). Auf einer sehr konkreten Ebene bedeutet negative Identität hier ein Selbstsein in umgreifender Nichtverstehbarkeit. Weit entfernt vom Konzept diachroner personaler Identität, weit entfernt von selbstdurchsichtiger Selbigkeit durch die Zeit geschieht Selbstsein in dieser Perspektive als ein grundsätzliches Sich-selbst-fremd-Sein. Doch dieses Fremdsein ist gerade sinnkonstitutiv für Selbstsein und Identität: Man ist, so ließe sich sagen, nur man selbst, wenn die Geschichten, die man von der eigenen Existenz erzählt, letztlich nicht aufgehen und wenn einem nicht nur unverständlich bleibt, wer man vor 20 Jahren war, sondern Die klassische Phänomenologie hat dieses dialektische Moment im Wechsel der Einstellung freilich nicht gesehen, sie ging von der dichotomischen Alternative zwischen der üblichen, unreflektierten und durch Vormeinungen geprägten Einstellung zur Welt einerseits und der phänomenologischen epoché andererseits aus.

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ebenso fremd ist, als wer man heute lebt. Die Alltäglichkeit dieses Phänomens bringt es freilich mit sich, dass dieses strukturelle Fremdsein, metaphorisch gesagt, zu einer Art Organ der Wahrnehmung, zu einem Medium des Mit- oder Nachvollzugs von Anderem werden kann, insofern nämlich auch für das Andere Nichtverstehbarkeit konstitutiv ist. Mittels des eigenen (vertrauten) Fremdseins lässt sich fremdes Fremdsein nachvollziehen. Der Mit- und Nachvollzug geschieht dabei immer zugleich auf das formale Element der Fremdheit (der konstitutiven Nichtverstehbarkeit) hin und (in eins damit) auf eine qualitative Schicht hin, welche nicht verstanden werden kann, die aber dennoch eine spezifische Deutlichkeit aufweist. Die Möglichkeit des Nachvollzugs über das eigene Fremdsein existiert schon für das Selbstverhältnis: Zwar bleibt einem fremd, wer man vor 20 Jahren war, doch dieser Andere, der man selbst war, ist einem in der spezifischen Art seines Fremdseins zutiefst vertraut. 52 Die Figur des negativitätsvermittelten Nachvollzugs als einer spezifisch phänomenologischen Weise des Umgangs mit Nicht-Verstehbarem sei abschließend noch an weiteren Beispielen veranschaulicht, die teilweise schon auf das nächste Kapitel verweisen. 53 Die Tradition der Ethik des moral sense beschreibt Phänomene intersubjektiver Resonanz. Vermutlich stellt schon die Ansetzung eines moral sense selbst ein Beispiel für das Zuviel-Verstehen, für die Einordnung der Phänomene in ein Modell dar, nämlich in das relativ simple Modell der verschiedenen Sinne. Der unmittelbare Nachteil dieser Einordnung besteht darin, dass die Bestreitung des Sinnes-Modells, also die Kritik an der Auffassung moralischer Gefühle als eines eigenen Sinnes, auch die Relevanz jener Phänomene zu bestreiten scheint, die von den Autoren zur Stützung ihres Modells angeführt werden. Unabhängig von diesem Modell legt die Erfahrung aber ein reiches Zeugnis für die Möglichkeit des empathischen Mitgehens mit dem Anderen ab. Hume gibt ein einfaches Beispiel für diese unmittelbare negative Hermeneutik, für das vorprädikative (leibliche) Mitgehen mit dem Anderen: »Wenn eine Person stottert und Schwierigkeiten mit der Aussprache hat, haben wir sogar mit einer so geringfügigen Beeinträchtigung Mitgefühl und leiden darunter. […] Ja sogar wenn wir ein Buch mit den Augen überEine ausführlichere Skizze dieses Phänomens findet sich in Thomas 2003b. In ethischer Hinsicht hat Thomas Rentsch die Bedeutung des Nichtwissens bzw. der Negativität betont (vgl. Rentsch 1999: XLVff.).

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fliegen, sind wir für solche unharmonischen Verknüpfungen empfänglich; weil wir uns immer noch vorstellen, jemand lese sie uns vor und leide unter dem Aussprechen dieser dissonierenden Laute«. 54 Das Sprechen ist als leibliches Geschehen sich selbst nicht durchsichtig, anders gesagt: Das Subjekt kann das Sprechen nicht begründen, sondern findet sich in diesem jeweils schon vor – und darin liegt eine spezifische Negativität, welche zum Medium einer intersubjektiven Nähe werden kann. Ein weiteres Beispiel für den Umgang mit NichtVerstehbarem ist die Erfahrung des Fremden, etwa einer fremden Kultur (vgl. II.4.). Hier werden Erfahrungen gemacht, die sich der Einordnung in gängige Verstehensmodelle entziehen, ja die solche Verstehensmodelle selbst in Frage stellen bzw. sie als Modelle sichtbar machen. Es kommt gerade darauf an, sich verstören zu lassen: Im Umgang mit dem Fremden wird dieses als jenes bedeutsam, was die Welt des eigenen Verstehens negiert, was sie ihrer Endlichkeit und Kontingenz überführt und diese dabei verändert. Doch, so lässt sich sagen, umgreifende Negativität, konstitutive Nichtverstehbarkeit, betrifft das Eigene und das Fremde gleichermaßen und eröffnet so die Möglichkeit eines gegenseitigen negativitätsvermittelten Nachvollzugs. Die Angehörigen einander fremder Kulturen mögen sich wechselseitig noch so sehr der jeweiligen kulturellen Bedeutungsordnungen entziehen, sie erkennen sich im Anderen wieder, wenn es etwa um körperliche Bedürfnisse, um Freuden oder Bedrohungen geht, und damit um Phänomene, die dem Verstehen verschlossen sind. Freilich gehört zu diesen Phänomenen letztlich auch die eigene kontingente kulturelle Identität und die Kontextualität der Geltung normativer Sätze (vgl. II.4.). Insofern hier das Ausgemachtwerden durch unverfügbare Größen angesprochen ist, könnte man auch von einer Gemeinsamkeit der Menschen hinsichtlich vorhermeneutischer konstitutiver Negativität sprechen. Auch hier lässt sich nun ein spezifischer Umgang mit und Zugang zu dem nicht eigenen Fremden beschreiben, der darauf beruht, dass man mit dem eigenen Fremden auf eine spezifische Art diesseits des Verstehens immer schon vertraut ist. Die Vertrautheit mit dem eigenen Fremden fungiert als Erschließung des nicht eigenen Fremden, ohne dass dabei die grundsätzliche Fremdheit des eigenen wie des fremden Fremden aufzulösen wäre. In der Erfahrung des gemeinsamen Ausgemachtwerdens durch Unverfügbares, Frem54

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des und sich gegen das Verstehen Sperrende kann dennoch etwas Neues auftreten, etwa die Erfahrung von Solidarität. 55 Schließlich lässt sich auch eine spezifische Analogie zwischen der Verschlossenheit der Natur, die wir selbst sind (unsere Leiblichkeit) und jener Verschlossenheit der anderen Natur (der Natur draußen) ausmachen. Auf spezifische Weise ist uns gerade das Stumme, das in seinem Sosein Undurchsichtige der Natur vertraut – nämlich insofern wir es in Gestalt unserer eigenen Leiblichkeit je schon kennen. Vertraut ist uns hier sowohl jene strukturelle Nichtverstehbarkeit als auch eine qualitative Schicht der Kreatürlichkeit und des Naturseins. 56 In den genannten Beispielen steht negative Hermeneutik für die Möglichkeit eines nicht verstehenden Verstehens, das auf dem gemeinsamen Ausgemachtwerden durch strukturelles Fremdsein beruht. Verstehen heißt hier das Mitvollziehen von etwas qualitativ je schon Bekanntem, welches sich dem Verstehen grundsätzlich entzieht. Mit diesem Mit- und Nachvollzug sind keine abgelegenen Phänomene beschrieben, vielmehr handelt es sich um die Grundschicht der Intersubjektivität und der Wahrnehmung, denn Nichtverstehbarkeit ist gerade sinnkonstitutiv für Selbst und Welt. Auf diese Weise wird Phänomenologie für Lebenspraxis relevant: Die verstehende Einstellung gegenüber Selbst und Welt ist durchschnittlich die primäre. Im Zuge phänomenologischer Wahrnehmung wird das Verstehen negiert, und diese Negation wird zur Grundlage einer ganz neuen und eigenen Einstellung. Die phänomenologische epoché gewinnt Selbst und Welt in grundsätzlich anderer Weise. Indem sie durch ihre besondere negativ hermeneutische Methode der sinnkonstitutiven Negativität der Dinge gerecht werden kann, gewinnt Phänomenologie diese als Nicht-Verstehbare bzw. sie gewinnt sie in ihrer Nichtverstehbarkeit.

Martha Nussbaum entwickelt mit Blick auf diese Phänomene auf der Grundlage der aristotelischen Ethik eine Ethik der Endlichkeit oder Kreatürlichkeit (vgl. Nussbaum 1993, dies. 1999b). 56 Für den Bereich des verstehenden Nachvollzugs der Natur mittels der eigenen unverfügbaren Leiblichkeit finden sich Beispiele in Thomas 1996: 165 f. sowie in ders. 1997: 299 ff. 55

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Fremdsein. Interkulturalität und negative Ethik

II.4. Fremdsein. Interkulturalität und negative Ethik Was bedeuten Negativität und der Begriff der negativen Identität auf dem Gebiet der Ethik, speziell in Bezug auf die Problematik der Interkulturalität? In diesem Kapitel möchte ich versuchen, die Leistungsfähigkeit der genannten systematischen Begriffe an diesem Teil kommunikativer Praxis auszuweisen. Dabei vertrete ich die These, dass eine Ethik der Negativität, also eine ethische Konzeption, die Negativität reflektiert und wesentlich auf Negativität gründet, die beste Voraussetzung für das Denken wie für die Praxis der Interkulturalität ist. Fremdsein kann als Mittel des Verstehens und des Dialogs fungieren, nämlich dann, wenn das eigene Fremdsein zum Medium des Nachvollzugs fremden Fremdseins wird. Umgekehrt können negativitätsvergessene Ethikkonzepte Interkulturalität behindern oder verhindern. Im Zusammenhang mit dieser These gilt es zunächst, die verschiedenen ethikrelevanten Facetten der Bedeutung von Negativität und negativer Identität zu umreißen (II.4.1.). Eine weitere Aufgabe besteht darin, den Ansatz einer Ethik der Negativität systematisch zu diskutieren (II.4.2.). Dies geschieht vor allem durch eine Kritik jener Denkfigur, in der die Positionen eines normativen Relativismus und eines normativen Universalismus miteinander verklammert sind. Der systematische Standpunkt, von dem aus sich diese beiden Positionen in ihrer Zusammengehörigkeit aufweisen und kritisieren lassen, ist zugleich der Standpunkt einer Ethik der Negativität. Diese Ethik soll dann auf interkulturelle Praxis bezogen werden (II.4.3.): Welche Praktiken des verstehenden Austauschs oder der spezifischen Wahrnehmung des Fremden sind denkbar, die im Konzept einer Ethik der Negativität gründen? II.4.1. Negativität und Interkulturalität Ob die gemeinsame kommunikative Praxis von Menschen mit unterschiedlicher kultureller Herkunft und divergierenden Ansichten über das Gute gelingt, hängt wesentlich davon ab, welches Konzept die Dialogpartner vom Status ihrer ethischen Sätze jeweils haben. Sowohl die Vertreter eines normativen Relativismus als auch die Vertreter eines normativen Universalismus werden durch ihre Konzepte in einem möglichen Dialog insofern behindert, als sie immer schon

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zu viel wissen: 1 Im Rahmen des Relativismus kann im Grunde stets nur berichtet und beschrieben werden, jede Wertung erübrigt sich. Was befremdet, befremdet zu Unrecht (denn es ist nur anders, stellt aber Eigenes nicht in Frage); was Geltung beansprucht, kann dies nur in einem partikularen Sinn tun, wobei der Sinn dieses Geltungsanspruchs diffus und unklar wird: Was bedeuten die Begriffe moralisch richtig und moralisch falsch, wenn durch die Hintergrundannahme des Relativismus diesen Begriffen der Boden entzogen wird? Und im Falle des Universalismus gilt schon als ausgemacht, nach welchen Regeln (nämlich den eigenen, universalen) der interkulturelle Dialog geführt werden wird und welche normativen Bedingungen dabei a priori akzeptiert werden müssen (diese begründen sich ja kontextfrei von selbst) bzw. das Ergebnis der gemeinsamen Frage nach dem Guten steht schon fest, wenn dieses Ergebnis auch noch so formal und abstrakt formuliert wird. So oder so steht der Universalismus in der Gefahr, auf belehrende Weise zu diskutieren. Vertreter universalistischer Moralphilosophien sind gewissermaßen Stellvertreter absoluter Geltungen, die sie selbst nicht zu verantworten haben. Ein auf Negativität gründendes ethisches Konzept behindert einen möglichen Dialog nicht durch diese spezifischen Weisen des Zuvielwissens. Vielmehr haben Geltungsansprüche im Rahmen eines solchen Konzepts einen klar artikulierbaren Sinn (und dies ist eine notwendige Bedingung für die gemeinsame und kontroverse Frage nach dem Guten), und gleichzeitig steht dem eigentlichen Austausch kein Metawissen von der vermeintlich einzig möglichen Form moralischer Sätze bzw. von deren Begründungsverfahren im Wege. Vor dem Hintergrund dieses eher pragmatischen Arguments für eine negative Ethik wird diese unten (II.4.2.) auch systematisch diskutiert. Was bedeutet Negativität auf dem Gebiet der Moralität und Interkulturalität im Einzelnen und was zeichnet eine negative Ethik formal und inhaltlich aus? Vier Facetten seien im Folgenden genannt. Erstens: Zunächst ist die Erfahrung des Negiertwerdens (des Infragegestelltwerdens) durch konkurrierende Geltungsansprüche zu nennen. Es geht um die Erfahrung, dass eigene Positionen thematisch oder sogar problematisch werden, wenn im interkulturellen Kontakt ein Perspektivwechsel erzwungen wird. Bernard Williams formuliert nüchtern: »Wenn wir uns der ethischen Vielfalt und der für sie möglichen Erklärungsweisen bewußt werden, ist es wenig 1

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Vgl. hierzu auch Judith Butlers Kritik der ethischen Gewalt (vgl. Butler 2003: 54 ff.).

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Fremdsein. Interkulturalität und negative Ethik

glaubhaft, daß dieses Bewußtsein einfach alles, auch das eigene ethische Denken, so lassen sollte, wie es ist. Natürlich können wir auch weiterhin behaupten, daß wir recht haben und alle anderen im Unrecht sind […], aber auf dieser Reflexionsstufe scheint das eine äußerst unangemessene Reaktion zu sein. Was ist sonst noch möglich?« 2 Diese erste Dimension von Negativität ist Teil der Bewegung einer doppelten Negation. In der Folge der Verunsicherung geht es um die Wiedergewinnung bestimmter Gewissheiten durch eine Reflexion, welche den Perspektivwechsel auf eine Weise zu integrieren im Stande ist, die einen wirklichen denkerischen Fortschritt bedeutet, ohne aber zugleich den Widerspruch in ein Wirklichkeitsmodell zu zwingen. Es geht um eine ethische Reflexion, welche das Bewusstsein der Kontextualität und Kulturalität eigener Werte in eine ethische Konzeption transformiert, welche (Kriterium ihrer Negativität) Fundamentalismus, Partikularismus sowie Relativismus als Scheinlösungen vermeidet. Ebenso gilt es freilich einen naiven Universalismus zu vermeiden, der über eine Beobachterperspektive und damit über kontextunabhängige Geltungen zu verfügen behauptet. 3 Zweitens: Mit dem Bewusstsein der Kontextualität und Kulturalität ist schon eine weitere Bedeutung ethischer Negativität angesprochen. Philosophisch ist hier ebenso an einen handlungs- und kulturtheoretischen Ansatz wie denjenigen Charles Taylors anzuschließen (vgl. I.4.) wie auch an sprachphilosophische Analysen der Moralität wie diejenigen Friedrich Kambartels und Thomas Rentschs. 4 Kontextualität und Kulturalität in negativer Perspektive zu thematisieren bedeutet, nicht nur das Moment des Negierens und des Negiertwerdens (im Falle konkurrierender Geltungsansprüche) zu analysieren, sondern besonders auch das Moment des weitgehend unverfügbaren Ausgemachtwerdens durch institutionell verankerte und vermittelte Normativität. Dieser zweite Aspekt negativer Ethik besagt: Anders als im üblichen abstrakten Modell ist ein Akteur keineswegs in dem Sinne autonom, dass er über seine moralischen Sätze frei verfügen könnte. Die Bedeutung von moralkonstitutiven sprachlichen Institutionen, wie z. B. die Bedeutung

Williams 1999: 223. Dem Anliegen, das Fremde nicht zu vereinnahmen, widmet sich Charles Taylor in seinen Überlegungen zum Begriff der Anerkennung (vgl. Taylor 1993c). 4 Vgl. Kambartel 1978, ders. 1986, Rentsch 1999. 2 3

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eines Versprechens, steht unabhängig vom Akteur je schon fest. 5 Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Bedeutung konstitutiver Grundbegriffe wie menschliche Würde oder Individuum. Mit Taylor ließe sich sagen, dass in kulturellen Institutionen (Sprache, Verhaltensüblichkeiten, kodifiziertes Recht usw.) bestimmte Traditionen des Guten aufbewahrt sind und sich in diesen artikulieren. Ein Handelnder wird durch moralische Güter unverfügbar ausgemacht. Diese verkürzte Formulierung bezeichnet Negativität im Sinne von Passivität und Teilhabe an radikal kontextuellem Sinn: Sinn und Bedeutung moralrelevanter Begriffe werden nicht durch den Handelnden hervorgebracht, ihre Geltung nicht durch diesen begründet. Drittens: Dieses unverfügbare Ausgemachtwerden durch (im weitesten Sinn) moralische Unterscheidungen gilt auch in einem stärker anthropologischen Sinn, auf den im Umkreis einer eher klassischen Anthropologie Martha Nussbaum hingewiesen hat. 6 Menschliche Akteure bringen zwangsläufig bestimmte Grunderfahrungen und Grundaufgaben in ihre moralischen Reflexionen mit ein, welche mit ihrer Existenz als Menschen unmittelbar zusammenhängen und welche keineswegs moralitätsneutral sind, sondern im Gegenteil bestimmte moralische Bedeutungen vorzeichnen: Als Wesen, die etwa sowohl ihre leibliche Endlichkeit (Sterblichkeit, Verletzlichkeit) als auch ihre Entwicklungsfähigkeit (Bildung, Entfaltung von Begabung) als auch das Leben in Gemeinschaft, die gattungsmäßige Reproduktion usw. stets in irgendeiner Weise zu organisieren und moralisch zu regeln haben und die sich bei dieser Organisation auf elementare Erfahrungen von gut und schlecht beziehen können, verfügen Menschen auch unterschiedlicher kultureller Herkunft in vielen Situationen über ein tertium comparationis, das einen interkulturellen Dialog ermöglichen sollte. Die Bedeutung von Negativität liegt hier wieder in jenem unverfügbaren Ausgemachtwerden im Sinne der Teilhabe an vorgängig existierender kontextueller Bedeutung. Negativität meint zugleich Negation des Prinzips der Selbstbegründung. Dies gilt sowohl im Kontext klassischer Anthropologie (Nussbaum), als besonders auch in fundamental- bzw. transzendentalanthropologischer Hinsicht. Hier sind es etwa die Arbeiten Thomas Rentschs, welche die Fundamentalanthropologie Heideggers

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Vgl. Rentsch 1999: 320 f. Vgl. Nussbaum 1993, dies. 1999b.

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moralphilosophisch weiterentwickeln. 7 Situationalität, Selbstbezug, elementare Sozialität, Zeitlichkeit und Räumlichkeit bestimmen Menschen apriorisch. 8 Gleichzeitig sind diese Existenzialien moralkonstitutiv, insofern sie z. B. (in einem sehr grundsätzlichen Sinn) jene Unvertretbarkeit bedingen, die Phänomene wie Verantwortung oder Schuld allererst ermöglichen. 9 Viertens: Eine vierte Bedeutung von Negativität im Bereich von Ethik und Interkulturalität meint die Einklammerung jedes metaethischen Modells, genauer jedes idealsprachlichen Konzepts im Sinne eines moralphilosophischen Begründungsmodells, das die Geltung oberster Prinzipien mit logischer (oder anderer) Evidenz und mithin unabhängig von Alltagssprache und Alltagshandeln (also überkontextuell, überkulturell) herzuleiten beansprucht. Problematisch ist hier weder das Begründen noch der unbedingte Geltungsanspruch, beides ist auch Teil jeder ethischen Konzeption, die ihre Kontextualität und Kulturalität mitreflektiert. Problematisch an idealsprachlichen Moralkonzepten ist vielmehr die Überzeugung, mit den Mitteln der Reflexion über ein Gesamtmodell zu verfügen, das in der Lage ist, jede mögliche moralische Position und jede Moralphilosophie zu erklären, das heißt diese mithilfe der Koordinaten des Modells abzubilden oder zu rekonstruieren. Ein solches Modell ist philosophisch nicht haltbar (vgl. II.4.2.). Aber auch in pragmatischer Hinsicht ist es just dieses Zuvielwissen, der Versuch, sich des Ganzen möglicher ethischer Sätze zu bemächtigen, welches dem interkulturellen Dialog entgegensteht. 10 Das Fremde kann nicht mehr als solVgl. Rentsch 1999, ders. 2000a. Auf den Zusammenhang und die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Nussbaums klassisch anthropologischem und Rentschs transzendentalanthropologischem Ansatz der Moralphilosophie hat schon sehr früh Dieter Thomä hingewiesen (vgl. Thomä 1992). 8 Vgl. Rentsch 1999: 68 ff. 9 Vgl. Rentsch 2000b: 115. 10 Dieses pragmatische Argument gegen den Universalismus betont auch immer wieder Ram Adhar Mall, ein Philosoph, der sich schon früh der Interkulturalität gewidmet hat (vgl. Mall 1995). Mall fordert die Tugend der »Wahrheitsbescheidenheit« und die Kultivierung der Einsicht in das Anderssein des anderen (aaO.: 5, 62). Zu kritisieren ist gleichwohl Malls Tendenz, Interkulturalität vorgreifend zu konzeptualisieren, nämlich in Bildern, die vermeintlich das Ganze begreifen. So ist etwa von der philosophia perennis die Rede, die »niemandes Besitz allein« sei (aaO.: 9) oder von dem Brunnenfrosch, der den von ihm gesehenen Himmelsausschnitt für den ganzen Himmel hält (aaO.: 13). In diesem Versuch, die Situation im Bild zu fassen, ist stets ein problematischer Beobachterstandpunkt mitgedacht, den es im besten Sinn des Ansatzes Malls nicht geben darf. 7

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ches begegnen, oder die Form des Dialogs wird durch ein spezifisches Begründungsmodell vorgezeichnet, oder die Präferenz bestimmter Begründungsverfahren wird vorausgesetzt. Negativität meint in diesem Sinne den (freilich seinerseits begründeten) Verzicht auf die Überbeanspruchung des Begründens und Konzipierens, auf den Wunsch des Verfügens über das Ganze. Mit diesem Verzicht geht ein Gewinn einher, insofern der Preis für die Konstruktion eines Gesamtmodells meist in der entleerenden Abstraktion oder in reduktionistischen Handlungsmodellen besteht. Ein kontextualisiertes ethisches Argumentieren und Reflektieren kann sich der Sache selbst zuwenden, um die es geht, der Frage nach dem Guten im jeweiligen Kontext. Bevor in II.4.3. Formen der Interkulturalität im Rahmen einer negativen Ethik entwickelt werden, muss unabhängig von pragmatischen Argumenten eine Ethik der Negativität zunächst systematisch begründet werden. II.4.2. Systematische Diskussion: Was spricht für eine Ethik der Negativität? Der Gedanke der Kontextualität und Kulturalität moralischer Sätze ist so etwas wie der systematische Kern einer negativen Ethik. In einem ersten Schritt möchte ich diesen Gedanken durch verschiedene Argumente stützen (1). Ist er hinreichend plausibel gemacht, zeigt sich zugleich, dass Kontextualität und Kulturalität aus sich heraus einem naiven Universalismus widersprechen. Dass und inwiefern sie auch einem normativen Relativismus widersprechen, soll in einem zweiten Schritt aufgezeigt werden (2). Bei dieser Argumentation wird sich ein inhaltliches Charakteristikum einer Ethik der Negativität zeigen, jener gleichsam gebrochene, negativ-anthropologische Universalismus, der die Unvermittelbarkeit differierender Kontextualitäten auf der einen mit dem gemeinsamen Menschsein auf der anderen Seite vermittelt. 11

Zu einer ersten Veranschaulichung dieses vermittelnden Universalismus kann an dieser Stelle die Idee des Weltbürgers aus der stoischen Ethik dienen. Der Weltbürger gehört zwei Gemeinschaften an, jener der Menschheit und jener, in die er geboren ist. Für eine Erneuerung der Idee des Weltbürgers tritt vehement Martha Nussbaum ein (vgl. Nussbaum 1997: 50 ff.).

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(1) Wie lassen sich Kontextualität und Kulturalität systematisch verstehen, und inwiefern verbietet sich ein naiver Universalismus? Eine erste Bedeutung von Kontextualität liegt in der Tatsache, dass unsere Moral wie auch unsere Moraltheorien in geschichtlichen Traditionen stehen. Die umfangreichen Forschungen Charles Taylors auf diesem Gebiet sind oben (I.4.) dargestellt worden: 12 Neuzeitliche Werte wie individuelle Freiheit, Selbstverwirklichung oder das alltägliche Leben als Ort der Erfüllung können daraufhin untersucht werden, welche früheren Ansichten über das Gute sie beerben. Und ebenso gut lässt sich zeigen, wie solche Güter das moralische Erbe unserer Gegenwart ausmachen, wenn auch Taylor zufolge mitunter in verzerrter (verflachter) Form. Insofern nun aber neuzeitliche Konzeptionen zur Moralbegründung gerade ein übergeschichtlich-universales Anliegen artikulieren und dabei Kulturalität überwinden möchten, muss die Kulturgebundenheit (im Sinne der Wertgesättigtheit) dieser Theorien eigens, gewissermaßen gegen die neuzeitliche Ethik selbst, aufgezeigt werden. Hier liegt das eigentliche Interesse der Moralphilosophie an diesen historischen Untersuchungen. So weist etwa Oswald Schwemmer darauf hin, dass Moral neuzeitlich dem Ideal einer naturwissenschaftlich geprägten Vernunft verpflichtet wurde, dass nach modernen Maßstäben moralisches Argumentieren eine getreue Übertragung eines wissenschaftlichen Argumentierens zu sein hatte. 13 Von der wissenschaftsanalogen Identifizierbarkeit der ethischen Objekte, welche den Gegenstand der Moralreflexion aus jedem symbolischen (kulturellen) Verweisungszusammenhang entfernte und von der wissenschaftsanalogen Konstruktion des ethischen Subjekts, für das die Teilnahme an der rationalen Argumentation stärker konstitutiv ist als die Teilnahme am Geschehen selbst, erhoffte man sich das Ende der moralischen Streitigkeiten. 14 In diesem Wunsch artikulieren sich, so kann im Sinne der Kontextualität und Kulturalität formuliert werden, moderne Ideale der Einheit und Willkürfreiheit, der Autonomie und des gesellschaftlichen Fortschritts. Das akulturelle Selbstverständnis neuzeitlicher Ethik muss bei genauerer Betrachtung revidiert werden. In ähnliche Richtung argumentiert Hans Albert: Das für moderne Ethiken typische Postulat zureichender Begründung, also die für alle weitere Ethik folgenschwere Annahme, 12 13 14

Vgl. Taylor 1995a, ders. 1996. Vgl. Schwemmer 1992: 85, 87. Vgl. aaO.: 89. A

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ein freier Wille habe sich allein einer zwingenden und unabweisbaren Einsicht in eine normative Geltung zu beugen, dieses Postulat reflektiert ein Ideal der frühneuzeitlichen Methodologie rationalistischen Denkens. 15 Über dieses Bestreben der Entsubjektivierung und Purifizierung aber ist das Ideal kulturell verankert. Charles Taylor schließlich arbeitet explizit heraus, inwiefern die neuzeitliche Verfahrensethik auf einem Grundbegriff des Guten beruht, nämlich auf dem Ideal der Selbststeuerung, der Freiheit und Würde der Person. 16 Nur der Gedanke einer vom moralischen Subjekt selbst geschaffenen Ordnung (in den neuzeitlichen Verfahrensethiken ist dies die Ordnung prozeduraler Rationalität) ist vereinbar mit der Idee des autonomen Subjekts. 17 Das Selbstverständnis der Verfahrensethik (nämlich eine kontextunabhängige, metaethische Konstruktion zu sein) verdeckt demnach deren historische Kontextualität und Kulturalität. Zu dieser gehören gerade auch die unthematischen Prämissen, hier also vor allem die Vorentscheidung, gerade das Vernünftige sei das Gute. 18 Neben diesen historischen Gründen sprechen gegen das Modell einer kontextunabhängigen Ethik auch im engeren Sinn systematische Argumente. Ausgehend von einem Gedanken Bernard Williams’ lässt sich etwa die Frage stellen, ob Akteure überhaupt in der Lage sind, nicht aus internen Gründen (Motiven), sondern rein aus extern bestehenden Gründen zu handeln. 19 Schon zu dieser Frage (und zu dem Wunsch, es möge so sein) kann es wohl nur in einer Kultur kommen, in der das Ideal zureichender, das heißt zwingender Begründung lebendig und für die Ethik entscheidend ist. Im Falle einer rein extern begründeten Handlung müsste man sagen können, es bestehe für den Handelnden ein Grund zu einer bestimmten Handlung, ohne dass der Handelnde diesen Grund bisher einsieht oder akzeptiert. Ein solcher Grund könnte etwa ein Vernunftgrund sein. Extern wäre dieser in dem Sinne, dass er den Motiven (zunächst) äußerlich ist. Es scheint aber, so Williams’ Argumentation, offensichtlich sinnlos zu sein, in dieser Situation den Fall zu konstruieren, dass der Akteur allein aus externen Gründen handelt. Denn 15 16 17 18 19

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Vgl. Albert 1980: 10, 14 f., 184; vgl. Ott 2001: 63 f. Vgl. Taylor 1986b. Vgl. aaO.: 116. Vgl. aaO.: 132. Vgl. Williams 1984c.

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dies könnte nur aus Zufall oder Gehorsam der Fall sein, in beiden Fällen freilich ließe sich nicht mehr von einer moralisch begründeten Handlung sprechen. Die sinnvolle Frage lautet vielmehr, wie der Handelnde dazu kommt, einen externen Begründungssatz über sein Handeln als wahr zu akzeptieren und dabei in einen internen Grund für sein Handeln zu verwandeln. 20 Und hier spielen sicher wieder kontextuelle Gründe eine Rolle. Sagt man etwa zu jemandem: »Es wäre aber vernünftig, x zu tun, weil …« und der Betreffende akzeptiert (internalisiert) in der Folge den externen Begründungssatz, weil er ihn als wahr anerkennt, dann spricht vieles dafür, dass hier das Vernünftigsein selbst als Wert fungiert. In einer Kultur, welcher Vernunft selbst als Wert gilt, findet die Bewegung der Internalisierung vernünftiger Begründungssätze (das Sich-durch-Vernunft-zwingenLassen) leichter statt. Aber selbst wenn man für das Einsehen des Vernunftgrundes lediglich den Umstand verantwortlich machen möchte, dass der Handelnde sich als Vernunftwesen (will er sich nicht selbst verfehlen) letztlich nur mit vernünftigen Gründen identifizieren kann, hat man wiederum einen kontextuellen Grund bemüht: Disposition und Aufgabe des Vernunfthandelns werden anthropologisch begründet. Eine frei schwebende Ethik kontextunabhängiger Geltung bleibt mithin, so kann Williams plausibel machen, ein ideelles Konstrukt. Auch die Bedeutung des Kategorischen Imperativs, dies hat Thomas Rentsch gezeigt, 21 kann nur kontextualisiert verstanden werden, nämlich eingebettet in vorgängig schon bestehende normative Bedeutungen. Die Bedeutung der von Kant in den Beispielen zum Kategorischen Imperativ verwendeten Begriffe wie »Lügen« (Lügenverbot), »Versprechen« (Verbot des Bruchs des Versprechens) oder »Leben« (Selbsttötungsverbot) 22 liegen (sprachlich-kulturell) je schon unabhängig vom Kategorischen Imperativ fest, und zwar nicht nur in einem logischen, sondern in einem normativen Sinn: Lügen bedeutet das normativ Falsche vor dem Hintergrund der Wahrheit als dem, was sein soll. Ein Versprechen bedeutet das gegebene und zu haltende Wort vor dem Hintergrund der Verlässlichkeit der Handelnden (und dies ist wiederum ein kulturelles Ideal). Diese VerlässVgl. aaO.: 118 f. Vgl. Rentsch 1999: § 29, hier 319 ff. 22 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: 29 f., 52 f. Zum Lügenverbot vgl. Kant, Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen. 20 21

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lichkeit ist konstitutiv für die (sprachlich-kulturelle) Bedeutung dessen, was in vollem Sinn ein menschlicher Akteur heißt. Dass ein Versprechen in bestimmten Situationen auch gebrochen werden kann, ohne dass dabei unmoralisch gehandelt würde, ergibt sich aus konkurrierenden Geltungen (etwa dem Schutz des Lebens). 23 Davon unberührt gilt uneingeschränkt, dass ein Versprechen zu halten ist. Und der Begriff Leben schließlich bezeichnet (als kulturell feststehende Bedeutung) die hervorzubringende, zu erhaltende, zu schützende Seinsart leiblich existierender Wesen, eine Bedeutung, die das Tötungsverbot in seinem Kern mit umfasst. Der Kategorische Imperativ konstituiert den Sinn all dieser Begriffe nicht. Er fügt ihnen auch nichts hinzu außer den Nachweis der Vernünftigkeit all jener Handlungsmaximen, die auf diesen Bedeutungen basieren, wobei Vernünftigkeit im Kant’schen Sinn in Widerspruchsfreiheit bei Verallgemeinerung besteht. Die normative Bedeutungen der Begriffe moralischer Sätze und mithin die Bedeutung von gut und schlecht entstammen keiner überkulturellen Schicht reinen Geltens. Der Kategorische Imperativ tritt nachträglich (als Methode der Prüfung von Handlungsmaximen hinsichtlich eines bestimmten Kriteriums) zu diesen Bedeutungen hinzu. Das Kriterium selbst wiederum (Vernünftigkeit, Widerspruchsfreiheit bei Verallgemeinerung) bezieht seine Geltung aus der Bedeutung, die (sprachlich-kulturell vermittelt) einem menschlichen Akteur in vollem Sinn zukommt. Das Kriterium gilt dort, wo Unvernünftigkeit als Selbstverfehlung verstanden wird. So lässt sich verkürzt davon sprechen, der Kategorische Imperativ gelte vor dem Hintergrund des Werts der Vernünftigkeit. Schließlich kann ein Gedankenexperiment Friedrich Kambartels die Kulturalität und Kontextualität des Geltungssinns normativer Sätze verdeutlichen. 24 Denken wir uns einen westlichen Ethnologen, der an eine fremde, unberührte Kultur die Frage heranträgt, ob in dieser Handlungen und Urteile auf ganz andere Weise moralisch gerechtfertigt und begründet werden, auf eine Weise, die der unseren unvergleichlich ist und die dadurch vielleicht unsere Art und Weise, moralisch zu begründen, in Frage stellen und relativieren könnte. Sprachphilosophisch betrachtet birgt die Frage dieses Ethnologen große Probleme in sich, und in diesen zeigt sich die Unmöglichkeit, von einem überkulturellen Standpunkt aus Klarheit in ethischen Fra23 24

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Vgl. Rentsch 1999: 321. Vgl. Kambartel 1986: 85 ff.

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gen zu erlangen. Verschiedene moralphilosophische Modelle des Begründens innerhalb derselben Kultur, wie sie etwa die Ethiken Kants und des Utilitarismus oder die Mitleidsethik vorschlagen, weisen eine bedeutende Gemeinsamkeit auf. Diese besteht im grundsätzlichen Stellenwert und Sinn des moralischen Begründens und Rechtfertigens von Handlungen und Urteilen, welcher Sinn konstitutiv für unsere Kultur des Begründens ist. Moralische Begründungen haben in dieser Kultur (im Vergleich zu nicht-moralischen Begründungen) eine spezifische Bedeutung, die nicht einfach durch eine andere ersetzt werden kann, moralische Begründungen orientieren sich etwa an Zielen wie Gerechtigkeit oder einem glücklichen Leben und sie sind als explizit moralische Begründungen nicht zweckrational. Stellt nun der Ethnologe die Frage nach ganz anderen Rechtfertigungsformen, bleibt er einerseits notwendig innerhalb der Bedeutung von Begründung und Rechtfertigung (diese haben sprachlich-kulturell eine definierte Bedeutung), insofern er nach Rechtfertigungsformen fragt. Andererseits zielt seine Frage darauf ab, die kulturell definierte Bedeutung des Begriffs der Rechtfertigungsformen zu verlassen. 25 Der Sinn der Frage nach den möglichen denkbaren anderen Rechtfertigungen entstammt (zusammen mit der Bedeutung von moralischer Begründung) ganz dem Rahmen unserer Lebensform (in welcher das Begründen einen ganz bestimmten Stellenwert und mithin eine ganz bestimmte Bedeutung hat). Kein Problem ergibt sich für den Fall (so lässt sich Kambartels Beispiel weiterdenken), dass der Ethnologe in der fremden Kultur nach Begründungsweisen sucht, die den uns bekannten ähnlich sind, die also denselben Stellenwert und dieselbe Funktion des Begründens aufweisen, sich aber von den uns bekannten Begründungsstrategien in einer Weise unterscheiden wie etwa die kantische von der utilitaristischen Ethik. In diesem Fall, in dem der Forscher nicht das Fremde, sondern das Eigene sucht, kann er entweder tatsächlich ähnliche Formen entdecken oder er entdeckt sie nicht. Bei dieser Suche nach Ähnlichkeiten kommt es aber auch nicht zu kulturrelativistischen Ergebnissen. Fragt der Forscher freilich unreflektiert nach ganz anderen Begründungsformen (und übernimmt dabei den Sinn des Begriffs moralischer Begründung aus unserer Kultur), dann kann er letztlich wiederum nur entweder Ähnliches entdecken oder er stellt fest, dass es diese ähnlichen Begründungsformen in der fremden Kultur nicht 25

Vgl. aaO.: 87, 98 f. A

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gibt. Denn für uns undenkbare Begründungsformen könnten als solche gar nicht entdeckt oder (als ethikrelevante) akzeptiert werden. Was als Begründungsform akzeptiert werden kann, ist ähnlich, was völlig anders ist, passt nicht in die uns allein zugängliche (der Kultur der Rechtfertigung entstammende) Bedeutung von Rechtfertigung. Das Ergebnis dieses Gedankenexperiments Friedrich Kambartels ist, dass der Sinn moralischer Begriffe nur innerhalb einer Kultur (von einem kontextuellen und kulturellen Standpunkt aus) verständlich ist. Sprachphilosophisch betrachtet ist somit kein überkultureller Standpunkt zur Reflexion moralischer und moralphilosophischer Probleme möglich. Mit den genannten Argumenten sollten Kontextualität und Kulturalität moralischer Sätze plausibel gemacht werden. Damit ist ein naiver Universalismus ausgeschlossen, denn dieser basiert auf Begründungsstrategien, die Geltungen ausweisen können, welche unabhängig von einer gemeinsamen praktischen Welt sind. (2) Doch inwiefern stellen Kontextualität und Kulturalität auch ein systematisches Argument gegen den Relativismus dar? Im Folgenden seien zwei starke Argumente gegen den Relativismus genannt, von denen das erste systematisch unmittelbar aus der Position einer kontextgebundenen Ethik folgt. Auch das zweite Argument entstammt einer negativen Ethik, es bezieht sich freilich auf Negativität als unverfügbares Ausgemachtwerden nicht im Sinne von Kulturalität, sondern im Sinne der mit dem Menschsein notwendig einhergehenden Erfahrungen, Aufgaben etc. Ausgangspunkt ist hier ein hermeneutischer Universalismus, die faktisch existierende Möglichkeit interkultureller Verständigung. Dieser hermeneutische Universalismus wird dann auf seine moralphilosophischen Implikationen hin durchsichtig gemacht und gegen den Relativismus gewendet. Zum ersten Argument gegen den Relativismus. Ein normativer Relativismus, der über die triviale Feststellung hinausgeht, dass sich Sitten und Werte in verschiedenen Kulturen mehr oder weniger stark unterscheiden und der nicht etwa nur Gleichberechtigung für die Praxis des interkulturellen Dialogs fordert, sondern von einem philosophischen Standpunkt aus die gleiche Gültigkeit auch sich widersprechender Normen behaupten möchte, ein solcher Relativismus ist notwendig an einen Standpunkt außerhalb einer praktischen Welt, an einen fiktiven Beobachterstatus gebunden. Mit einer kontextgebundenen, einer negativen Ethik ist ein solcher Status unver252

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einbar. Das Bewusstsein von Kontextualität impliziert im Rahmen einer negativen Ethik keineswegs die Einschränkung von Geltungsansprüchen, dies ist in der Teilnehmerperspektive auch gar nicht möglich. Dieser Zusammenhang lässt sich an einem in der Ethik populären Beispiel erläutern, gemeint ist die Entdeckung der aztekischen Kultur mit ihrer Praxis der Menschenopfer durch die spanischen Konquistadoren im 16. Jh. 26 Im Kontext der Moralphilosophie (und ebenso in dieser Untersuchung) hat ein solches Beispiel eher den Charakter eines Gedankenexperiments. Für jeden darüber hinausgehenden Gebrauch, etwa in historischem oder ethnologischem Interesse, müssten zunächst Begriffe wie Mensch, Opfer oder Herz in ihrer Bedeutung für die aztekische Kultur geklärt werden. Moralphilosophisch interessant ist am Beispiel der aztekischen Menschenopfer aber die Frage, ob sich hier nicht doch ein normativer Relativismus nahe legt: Die für unsere moralische Intuition unerträgliche Vorstellung einer massenweisen Vivisektion war offensichtlich zu einem anderen Zeitpunkt, in einer anderen Kultur Bestandteil des Üblichen, der Normalität. Das Argument für den Relativismus könnte nun lauten, dass sich angesichts dieses unvermittelten Nebeneinanders der Kulturen und moralischen Geltungen der Gedanke einer gleichen Gültigkeit der Normen aufdrängt. Ist es nicht letzten Endes gleichgültig, was zu einem fernen Zeitpunkt an einem fernen Ort als gute Praxis galt, werden nicht unsere Gegenwartspraktiken in ferner Zukunft ähnlich fremd erscheinen wie heute die aztekischen Menschenopfer? Dieser Gedanke liegt in keiner Weise fern, dennoch ist er, wenn er zu einem philosophischen Argument gemacht wird, künstlich und spekulativ und entspricht nicht unseren moralischen Intuitionen. Vielmehr muss hier differenziert werden: So verständlich einerseits der Reflex der Besinnung auf die Mannigfaltigkeit (und Widersprüchlichkeit) des Menschenmöglichen ist – der Gedanke einer gleichen Gültigkeit der Normen selbst ist andererseits (bei genauer Betrachtung) gar nicht möglich. Indem die Spanier (es ist von ihrem unaussprechlichen Entsetzen die Rede) sich über die Tötungspraxis empören, anerkennen sie relativ zu ihren eigenen moralischen Intuitionen die Indianer als Menschen. Dabei dehnen die Konquistadoren selbstverständlich den eigenen moraVgl. Williams 1978b: 32 f. Williams bezieht sich auf den Bericht des Bernal de Diaz über seine Erlebnisse mit Cortez in Mexiko. In diesem ist von einem unaussprechlichen Entsetzen der Spanier die Rede.

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lischen Anspruch auf die fremde Kultur aus, ihre Reaktion ist mithin nicht relativistisch. Gleiches gilt für unsere eigene moralische Argumentation: Wir können nicht unsere moralischen Intuitionen haben und zugleich nicht haben bzw. diejenigen einer beliebigen anderen Kultur, z. B. der Kultur der Azteken haben. Entweder wir nehmen dieses Fremde als das Unverständliche wahr, das es im Rahmen unserer moralischen Grammatik ist. Oder es wird (wie auch immer dies vorstellbar sein könnte) in Ansätzen verstanden, dann gehört es aber zum Gesamt der eigenen moralischen Intuitionen in irgendeiner Weise schon dazu. Aus der Perspektive einer kontextuellen Ethik rechtfertigt das Beispiel mithin keineswegs eine relativistische Position, insofern die konsequente Aussetzung der Teilnehmerperspektive als unmöglich bzw. als künstliches Postulat, als lebensfernes Konstrukt erscheint. Das zweite Argument gegen den Relativismus rekurriert nicht auf die formale Notwendigkeit von Kontextualität, sondern auf existenzielle Gemeinsamkeiten, die den Relativismus im Sinne eines gemeinsamen Menschseins unterlaufen. Martha Nussbaum formuliert dieses Argument eines hermeneutischen Universalismus folgendermaßen: »Wenn man mit Menschen aus anderen Teilen der Welt an einem Tisch sitzt und mit ihnen über Hunger oder über Verteilungsfragen oder ganz allgemein über die Qualität des menschlichen Lebens spricht, stellt man fest, daß es trotz offenkundig unterschiedlicher Vorstellungen möglich ist, so miteinander zu kommunizieren, als würden wir alle über dasselbe menschliche Problem sprechen; und gewöhnlich lässt sich dieser Diskurs nur dann nicht mehr aufrechterhalten, wenn eine oder mehrere Parteien geistig einer relativistischen Position verpflichtet sind. Dieses Gefühl von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit scheint im Bereich der sogenannten Grunderfahrungen besonders stark ausgeprägt zu sein. Und dies scheint die aristotelische These zu bestätigen, daß die Grunderfahrungen einen guten Ausgangspunkt für eine ethische Debatte darstellen«. 27 Dieses empirische Argument, die Feststellung einer universalen Verständigungsmöglichkeit, richtet Martha Nussbaum gegen einen sehr grundlegenden Relativismus, der nicht erst die Relativität der Normen, sondern schon die Relativität aller Erfahrung behauptet. 28 Die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen aus ver27 28

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AaO.: 255. Nussbaum verteidigt ihr Fähigkeitenkonzept gegen drei verschiedene Formen eines

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schiedenen Epochen oder Kulturen sind groß genug, um eine gewisse Verständigung zu ermöglichen, etwas Identisches liegt den Differenzen noch voraus bzw. wird mit diesen zusammen ausgesagt. Es gilt, so Nussbaum, das Ausmaß der kulturübergreifenden Übereinstimmungen zu sehen, ja auf diesen zu »beharren«. 29 Zu diesem Beharren auf empirischen Argumenten gibt es im Falle erfahrungsrelativistischer Behauptungen wohl tatsächlich keine Alternative. 30 Für Nussbaum sind die kulturübergreifenden Übereinstimmungen Basis für eine zweistufige anthropologisch-ethische Theorie: 31 Von menschlichem Leben kann nur gesprochen werden, wenn etwa folgende Charakteristika (grundlegende Erfahrungsfelder) vorliegen: Sterblichkeit, körperliche Bedürfnisse, Freude und Schmerz, Wahrnehmung, Vorstellungen, Gedanken, praktische Vernunft, Verbundenheit mit anderen Menschen u. a. Und, darauf aufbauend, kann von einem guten menschlichen Leben nur gesprochen werden, wenn bestimmte menschliche Fähigkeiten, die den Grunderfahrungen korrespondieren, entwickelt werden können, also etwa die Fähigkeit, ein Leben von normaler Länge führen zu können, die Fähigkeit zu denken und zu fühlen, die Fähigkeit, am Leben anderer Menschen teilzunehmen usw. Der auf diese Weise verteidigte hermeneutische Universalismus ist nun ethisch nicht neutral, vielmehr wird mit ihm zusammen ein anthropologisch-ethischer Universalismus thematisch. Zum einen entsprechen Grunderfahrungen menschlicher Existenz distinkten Praxisfeldern, in denen Verhalten normativ geregelt werden muss oder, um mit Aristoteles zu sprechen, in denen Tugenden ausgebildet werden. 32 Menschliche Gemeinschaften haben ihr Zusammenleben zu regeln, dazu gehört etwa die Verteilung knapper Ressourcen, die Erziehung und Bildung der Kinder usw. Moralische Fragen werden dabei stets irgendwie zu beantworten sein, wodurch Ansatzpunkte relativistischen Einwands: 1. Kulturen könnten trotz gleicher Grunderfahrungen zu widersprüchlichen moralischen Regelungen kommen. 2. Die Grunderfahrung selbst könnte divergieren (Erfahrungsrelativismus). 3. Menschliches Leben könnte sich weiterentwickeln und bestimmter Grunderfahrungen verlustig gehen. Vgl. zu diesen möglichen Einwänden Nussbaum 1999b: 239–246 und zu den Erwiderungen auf diese möglichen Einwände aaO.: 247–262. 29 Nussbaum 1999b: 255. 30 Freilich wird dem Argument durch seine Einbettung in einen auf Aristoteles rekurrierenden Ansatz auch nichts Entscheidendes hinzugefügt. 31 Vgl. Kallhoff 2001: 15 f. 32 Vgl. Nussbaum 1999b: 233 f. A

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für eine interkulturelle moralische Debatte gegeben sind. Zum anderen zeichnen gemeinsame Grunderfahrungen auch einige gemeinsame Werte vor (Leben als zu schützendes Gut, die Idee einer guten Gemeinschaft etc.). In einem Lexikonartikel zum Begriff Relativismus listet Otfried Höffe die folgenden vom Relativismus übersehenen kulturübergreifenden Normen auf: »Inzest-, Lügeverbot, Lebensschutz, Anerkennung von Hilfsbereitschaft u. Tapferkeit, positive Bewertung ehelicher Sexualbeziehung im Unterschied zur Promiskuität, die Rechtsform des Zusammenlebens u. Gerechtigkeitsgrundsätze zumindest der Verfahrens- u. der Tauschgerechtigkeit«. 33 Entscheidend sind hier nicht einfach interkulturelle Gemeinsamkeiten, entscheidend ist vielmehr, dass Bedingungen menschlicher Existenz konstitutiv für die Bedeutung moralischer Begriffe sind, dass mithin jede strikte Trennung von Ethik und Anthropologie künstlich ist und zu spezifischen Verzerrungen innerhalb einer von Anthropologie gereinigten Ethik führt. Der Begriff der Gerechtigkeit etwa erhält erst aus der Erfahrung existenzieller Endlichkeit und Begrenztheit seinen Sinn, deshalb, so Aristoteles, können Götter auch nicht über diesen spezifisch menschlichen moralischen Grundbegriff verfügen. 34 Entsprechendes ließe sich über den Lebensschutz, das Gebot der Wahrhaftigkeit (Ehrlichkeit) usw. sagen: Eine gemeinsame Kreatürlichkeit zeichnet stets auch bestimmte Bedeutungen (zumindest einiger) moralischer Grundbegriffe vor. Diese moralkonstitutiven Existenzialien können als Bedingung der Möglichkeit eines interkulturellen Moraldiskurses verstanden werden. Als problematisch muss es gelten, die Kriterien für eine solche interkulturelle Debatte auf diffuse Weise essenzialistisch, also überkulturell anzusetzen. Was soll es heißen, dass bestimmte moralische Regelungen auf dem Gebiet einer bestimmten Grunderfahrung »mehr im Einklang mit unserem gesamtem Wissen und unseren Wünschen nach einem gedeihlichen Leben stehen als andere«? 35 Die von Nussbaum behauptete Möglichkeit, »lokale und traditionale Moralvorstellungen anhand einer umfassenderen Auffassung von den menschlichen Lebensumständen und dem durch die Umstände Höffe 1997: 247. So argumentiert Nussbaum von Aristoteles her (vgl. Nussbaum 1999b: 235). Nussbaum bezieht sich auf Aristoteles: Politik I.2 1253 a 1–8 und Nikomachische Ethik 1145 a 25–17, 1178 b 10 ff. 35 Nussbaum 1999b: 254. 33 34

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geforderten menschlichen Handeln zu kritisieren« 36 ist an das Konzept eines anthropologischen Essenzialismus und damit wieder an den exklusiven Standpunkt einer Vogelperspektive gebunden; aus systematischen Gründen muss dieser Essenzialismus kritisiert werden. Die interkulturelle Verständigung mag (auch wenn diese im Ergebnis zu einem Dissens führt) vor dem Hintergrund anthropologischer Gemeinsamkeiten (auf Erfahrungsebene) tatsächlich möglich sein – doch diese Gemeinsamkeit lässt sich von niemandem im Sinne einer Art ›Standpunkt der Menschheit insgesamt‹ und im Sinne des exklusiven Wissens um eine anthropologische Ethik vertreten. Für eine Ethik der Negativität, die etwa aus sprachphilosophischen Gründen die Kontextualität und Kulturalität moralischer Geltungen vertritt, ist dieses Konzept überkontextueller Geltung und vor allem die Konstruktion eines kontextfreien Standpunkts inakzeptabel. Wo widersprüchliche Geltungsbehauptungen auftreten, müssen sie gegeneinander argumentativ vertreten werden. Nussbaums Stärke liegt mehr noch als in den essenzialistischen Begründungsversuchen im Hinweis auf einen hermeneutischen Universalismus und auf dessen anthropologischen Hintergrund, die moralkonstitutiven Existenzialien. Die Stärke eines solchen Konzepts des hermeneutischen Universalismus möchte ich abschließend am Beispiel der unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen in der europäischen und in der japanischen Kultur veranschaulichen. Dieses Beispiel zeigt vor allem, wie sehr sich Fremdes und Gemeinsames (im Sinne der moralkonstitutiven Existenzialien) mischen, wie sehr das Gemeinsame faktisch nur als Fremdes existiert, aber dennoch eine Möglichkeit der Kommunikation bietet. Freilich handelt es sich in diesem Beispiel nicht um die Kommunikation zwischen realen Individuen, sondern um die Übersetzungsproblematik, genauer um die Frage, wie man mit fehlenden Übersetzungsmöglichkeiten umgehen kann. Der hermeneutische Universalismus tritt hier in Konkurrenz zur Behauptung eines Relativismus der Erfahrungen. Für Letzteren scheint zunächst zu sprechen, dass es für die Begriffe der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls keine originär japanischen Entsprechungen gibt und dass »die japanischen Ausdrücke, die auch in den heutigen deutsch-japanischen Wörterbüchern stehen, mittels chinesischer Schriftzeichen

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vollzogene Übersetzungen aus den westlichen Sprachen sind«. 37 »Für das Verständnis bestimmter Konzepte und Vorstellungen der westlichen Zivilisation benötigte man Wortneuschöpfungen, anhand derer man versuchte, die Bedeutung und Konzepte [sic!] an die eigene Bevölkerung zu vermitteln«. 38 Ist es möglich, dass hinsichtlich eines der Grundbegriffe westlicher Moralphilosophie in einer anderen Kultur nicht etwa nur material andere Feststellungen getroffen werden, sondern dass dieser Grundbegriff selbst nicht existiert? Bei genauerer Betrachtung bietet das Beispiel aber kein Argument für einen normativen Relativismus. Ganz im Sinne Nussbaums lässt sich vielmehr eine interkulturell verbindende menschliche Grunderfahrung ausmachen: Es ist die (nicht notwendig explizit thematische, wohl aber strukturell vorgegebene) Aufgabe, das Wohl des Ganzen (der Gemeinschaft) durch Regelungen zu ermöglichen, die das Rechte oder das Gute immer wieder neu hervorbringen. Dies kann nach westlichem Modell durch die Herstellung gerechter zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse geschehen. In Japan hat es auf diesem Gebiet eine ganz andere Tradition gegeben: Das Gemeinwohl und das gerechte Handeln der Regierung wurde im 13. Jh. durch einen rituellen Schutz des Tenno (des Herrschers) vor Sonnen- und Mondlicht, also durch Reinhaltung des Körpers des Tenno, gewährleistet. 39 In der zweiten Hälfte des 19. Jhs. übernahm der Kaiser westliche Traditionen, indem er europäische Kleidung (Uniform) trug, indem er nicht länger (nach japanischem Brauch) im Verborgenen lebte, sondern sich auf Inspektionsreisen durch das ganze Land zeigte und indem ab 1874 eine Fotografie des Tenno (ein westliches neues Medium) an die Präfekturverwaltungen und später an alle Schulen verteilt wurde. 40 Dabei lebte aber die traditionelle Vorstellung weiter, der Körper des Herrschers stehe für das Gemeinwohl: Die Schulen bewahrten die kaiserliche Fotografie versteckt in einem Schrein auf, um welchen man sich zu besonderen Anlässen, besonders am Nationalfeiertag, zeitgleich zu gemeinsamen rituellen Handlungen versammelte. »So wurde das Gemeinwohl im nationalstaatlichen Kontext körperlich erfahrbar. In seiner Unsichtbarkeit verband das Foto 37 38 39 40

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Shimada 1999: 31. AaO.: 32. Vgl. aaO.: 33 ff. Vgl. aaO.: 36 ff.

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unzählige Menschen«, und der Körper des Herrschers gewährleistete weiterhin die gute Gemeinschaft. 41 Die Sorge, das Gemeinwohl könne (entweder durch fehlende Gerechtigkeit oder, wie in Japan, durch eine Störung des kaiserlichen Wirkens) Schaden erleiden, kann so von jener Variante negativer Ethik, deren zentrale theoretische Größe das gemeinsame Menschsein darstellt, als Beispiel für ein menschliches Leben generell ausmachendes moralkonstitutives Existenzial verstanden werden. Die Frage nach einem japanischen Gerechtigkeitsbegriff greift demnach zu kurz, weil (gemäß diesem Beispiel) jenes moralkonstitutive Existenzial, welches interkulturelle Kommunikation ermöglicht, auf einer noch allgemeineren Ebene gesucht werden muss. Dass sich ein solches tertium comparationis überhaupt ausmachen lässt, stellt wiederum ein Argument gegen den Relativismus dar. Mit den Überlegungen dieses Abschnitts ist die Bedeutung jener oben (II.4.1) genannten vier Facetten ethischer Negativität systematisch eingeholt. Kontextualität und Kulturalität bilden den systematischen Kern einer negativen Ethik. Erweitert wird dieser Kern durch die anthropologische Negativität, verstanden als jenes unverfügbare Ausgemachtwerden durch Grunderfahrungen und -aufgaben des Menschseins. Die anderen beiden Facetten der Negativität zeichnen eine Ethik der Negativität formal vor: Im Zuge der Bewegung einer doppelten Negation gilt es, unthematische kulturelle Selbstverständlichkeiten zu thematisieren (sich im interkulturellen Kontakt negieren zu lassen) und sie als moralische Güter, das heißt als radikal kontextuelle Geltungen interkulturell zu vertreten. Dies geschieht (im Rahmen einer negativen Ethik) unter Verzicht auf ein metaethisches Modell, welches vermeintlich das Ganze möglicher Moralphilosophien zu verstehen vermag. II.4.3. Negative Identität und interkulturelle Praxis Wie lässt sich im Rahmen einer Ethik der Negativität Interkulturalität rekonstruieren, und auf welche Weise zeichnet dieser spezifische Begriff von Interkulturalität interkulturelle Praxis als ein Gebiet der Lebenspraxis vor? In negativer Perspektive stellt sich Interkulturalität vor allem als gemeinsames Ausgemachtwerden durch Negativität 41

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dar, als interkulturell geteilte Negativität. Das gemeinsame Menschsein bedeutet in negativ ethischem Sinne nicht die Identität der Menschen, welche sich etwa durch eine gattungsmäßige Teilhabe am Reich der Ideen, am Reich der Vernunft oder an einer bestimmten Teleologie ergibt. Das Gemeinsame, gegenseitiges Verstehen Ermöglichende, besteht vielmehr darin, in stets ähnlicher Weise durch verschiedene Aspekte einer existenziellen Negativität ausgemacht zu werden, das Gemeinsame besteht mithin in negativer Identität. Drei Aspekte dieser Negativität, die in eng verwandter Weise für die interkulturelle Praxis relevant werden können, seien genannt: Geteilt wird zum einen Negativität qua Unverfügbarkeit (Unberechenbarkeit, Unvertretbarkeit), also die prinzipielle Nichtobjektivierbarkeit der Existenz, die in negativer Perspektive einen eigenen Wert darstellt. Geteilt wird sodann Negativität qua Kreatürlichkeit, also das Ausgemachtwerden durch elementare Erfahrungsfelder, die an endliches Existieren gebunden sind. Und drittens teilen Menschen eine prinzipielle, durch Kreatürlichkeit wie Unverfügbarkeit gleichermaßen bedingte Fremdheit, die gewissermaßen im Innersten ihres Selbstverhältnisses wohnt. Auch dieses geteilte Sich-selbst-fremdSein kann in ethisch-hermeneutischer Hinsicht als ein spezifisches Medium der interkulturellen Praxis verstanden werden. Durch Negativität in ähnlicher Weise ausgemacht zu werden, dies bedeutet erstens, dass die gemeinsam geteilte existenzielle Unberechenbarkeit und Unvertretbarkeit in der Perspektive einer negativen Ethik selbst ein moralisch relevantes Charakteristikum menschlicher Existenz darstellt. Menschen sind wesentlich unberechenbar (sie sind keine künstlichen Konstrukte), 42 das heißt ihr Handeln ist durch kein noch so umfassendes Kalkül vorhersagbar oder auch nur begreifbar, Handeln ist z. B. nicht im Rahmen eines wissenschaftlichen Modells ableitbar. Menschliches Handeln ist, um einen Begriff der Tradition zu verwenden, wesentlich freies Handeln. Aus dieser eigenen wie fremden Unberechenbarkeit erwächst für die interkulturelle Praxis das Gebot, das Differente nicht durch eine (nur

Im Kontext der Biotechnologie ist das moralkonstitutive Existenzial der Unberechenbarkeit (und damit ein wesentliches Charakteristikum des Menschseins) bedroht, wenn etwa genetische Manipulationen vor der Zeugung oder vor der Geburt einen neu entstehenden Menschen teilweise zum Ergebnis der Handlungen seiner Eltern und Ärzte machen (vgl. Böhme 1997: 206 ff.). Hier wird Negativität für moralische Argumentation unmittelbar relevant.

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scheinbar gelingende) Verortung in selbst konstruierten Wirklichkeitskonzepten zu vereinnahmen bzw. es dadurch zu reduzieren. Rentsch spricht in diesem Zusammenhang vom Schutz der Negativität, unter dem das Fremde steht. 43 Aus der Erfahrung heraus, dass jeder Versuch, die eigene Situation, das eigene Befinden und das eigene Verhalten zu erklären, stets fragmentarisch und unsicher bleibt, muss auch das Fremde nicht nur auf sein augenfälliges Fremdsein hin (auf das kulturell Befremdende hin) wahrgenommen werden, sondern auch auf seine strukturelle Nichtobjektivierbarkeit hin (auf das strukturell Befremdende hin), das heißt auf eine Struktur hin, welche aus der Erfahrung bekannt ist, die man mit sich selbst und der eigenen Kultur macht. 44 Auf diese Weise kann gerade in einer solchen grundsätzlichen und konstitutiven Negativität die Möglichkeit eines gegenseitigen ›nicht verstehenden Verstehens‹, eines intersubjektiven Mit- und Nachvollzugs bestehen. Nun zur Unvertretbarkeit: Unvertretbarkeit bezeichnet die Unmöglichkeit, die 1.-Person-Perspektive ohne Verlust in eine 3.-Person-Perspektive zu überführen. Unvertretbarkeit bedeutet daher auch, dass wir die Autorschaft für das eigene Handeln grundsätzlich nicht delegieren können. Hier wird Negativität für Moral in spezifischer Weise relevant. In der Sprache der Tradition ausgedrückt liegt in der Unvertretbarkeit die Möglichkeit von Verantwortung und Schuld: 45 Indem das eigene Handeln weder an andere Akteure noch an wissenschaftliche Erklärungen delegiert werden kann, muss es vom Handelnden selbst verantwortet werden bzw. der Handelnde nimmt in bestimmten Fällen Schuld auf sich. Bezogen auf Interkulturalität bedeutet die Struktur der Unvertretbarkeit die Möglichkeit, sich als Fremde gegenseitig hinsichtlich der Auszeichnung sowie hinsichtlich der Last nachzuvollziehen, die mit dieser apriorischen Struktur verbunden ist. Wir wissen immer schon, was es bedeutet, ein (unvertretbar) Handelnder zu sein: Es bedeutet, seine Handlungen wie auch deren Folgen selbst verantworten zu müssen, es bedeu-

Vgl. Rentsch 2000b: 118. Für Konzeptionen von Interkulturalität, welche vor allem auf einem sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriff basieren, bleibt diese Möglichkeit im Rahmen des Modells negativer Identität grundsätzlich verschlossen. Analog ist freilich die Absicht, interkulturelle Praxis durch eine Besinnung auf Differentes innerhalb der eigenen Identität zu befördern (vgl. Nick 2003: z. B. 181). 45 Vgl. Rentsch 2000b: 115. 43 44

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tet, an die Abgründigkeit des Handelns und Handelnmüssens gewissermaßen ausgeliefert zu sein. Hier liegt eine Struktur, die als menschliche Gemeinsamkeit verstanden werden kann und die daher für die Kommunikation und die Praxis zwischen Fremden bedeutend ist. Über alles Unvermittelbare hinweg ist Empathie hinsichtlich moralrelevanter Größen wie Schuld oder Verantwortung möglich. Umgekehrt kann man bestimmte Handlungen oder theoretische Konstrukte in einer fremden (wie in der eigenen) Kultur stets auch als Versuche nachvollziehen (und somit verstehen), sich von der Last der Verantwortung zu befreien. All dies gelingt nur, insofern gemeinsame Bedingungen menschlicher Existenz auch gemeinsame Bedingungen von Moral sind, sodass fremde moralische Regeln zwar fremd bleiben mögen, aber hinsichtlich bestimmter (schon bekannter) allgemeiner Bedingungen nachvollzogen werden können. Der zweite Aspekt der gemeinsam geteilten negativen Identität liegt in jener Struktur, den die Tradition mit dem Prädikat der Kreatürlichkeit über den Menschen ausgesagt hat. Auch Kreatürlichkeit, das Naturhafte menschlicher Existenz, die unhintergehbare Leiblichkeit, kann als eine Bedingung der Möglichkeit für interkulturelle Praxis verstanden werden. Kreatürlichkeit zu teilen heißt, einander in spezifischer Weise (nämlich vorprädikativ) ›verstehen‹ zu können. Ein solches Verstehen ist, dies ist oben (II.4.2.) dargestellt worden, moraltheoretisch nicht neutral. Bestimmte nachvollziehbare Erfahrungsfelder sind mit menschlicher Existenz selbst verbunden und zeichnen jene Bereiche vor, die jeweils moralische Regelungen aufweisen und damit auch stets aufs Neue moralische Diskussionen bedingen. Es sind diese Erfahrungsfelder, welche jeweils ein Identisches im Differenten ausmachen und damit interkulturelle Kommunikation potenziell ermöglichen. Stets ist Kreatürlichkeit mit sehr grundlegenden, moralisch relevanten Erfahrungen verbunden, welche bestimmte Unterscheidungen von gut und schlecht schon selbst enthalten: Leben gilt als etwas zu Schützendes, Schmerz als etwas zu Vermeidendes, das eigene Leben als etwas, das in irgendeiner Weise gut geführt werden muss, der Andere als jemand, mit dem in irgendeiner Weise gut gelebt werden muss usw. Auf diese Weise ist die Naturhaftigkeit menschlicher Existenz in Ansätzen schon selbst moralisch orientierend. Ob bei Krankheit der Geistheiler oder der Notarzt geholt wird und ob zur Behandlung Gebete gesungen oder Medikamente geschluckt werden, die Sorge endlicher Wesen um ihr Leben, ihr Leiden unter dem Schmerz definiert im Krankheitsfall et262

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wa die moralische Bedeutung einer ausgeführten oder unterlassenen Hilfeleistung. 46 Fremdes Verhalten kann so in Analogie zu eigenem Verhalten überhaupt als Moral betreffendes bzw. moralisch beurteilbares Verhalten erscheinen. Eine negative Ethik, die diesseits metaethischer Modelle im Kontext menschlicher Praxis ansetzt, findet in dieser Dialektik von Identität (der Erfahrungsfelder) und Differenz (der moralischen Regelungen), von Gemeinsamkeit und unvermittelbarer Fremdheit ein wichtiges Forschungsfeld. Schon die Philosophie des moral sense hat in diesem Sinne Phänomene der Empathie, des solidarischen Mitgefühls oder des leiblich-kreatürlichen ›Verstehens‹ zwischen Fremdem beschrieben. 47 Martha Nussbaum entwickelt diesen Aspekt negativer Ethik ausgehend von Aristoteles und der Stoa weiter. 48 Das Phänomen der geteilten Bedeutung von gut und schlecht kann zudem Gegenstand empirischer Forschung sein. Hier sind zahlreiche kulturvergleichende Studien über gemeinsame menschliche Grundwerte entstanden. 49 In der interkulturellen Kommunikation stehen all diese Ansätze für die Möglichkeit, hinter dem kulturell Fremden das gemeinsame (endliche, leibliche, soziale usw.) Menschsein wahrzunehmen. Schließlich sei noch ein dritter Aspekt von Negativität genannt, der für Interkulturalität relevant ist. Betrachten wir, was negative Identität (im Sinne von Unberechenbarkeit, Unvertretbarkeit und Kreatürlichkeit) für menschliches Selbstverhältnis und Selbstverständnis bedeutet, stoßen wir auf das Phänomen des Sich-selbstfremd-Seins und damit auf den vielleicht tiefsten moralrelevanten Sinn des (gemeinsamen) Ausgemachtwerdens durch Negativität. Vgl. Verein für Friedenspädagogik 1998, Kapitel: Biografien. Auch zum interkulturellen Lernen liegen zahlreiche Werke vor (vgl. z. B. Hölscher 1994). 47 »Wir loben häufig tugendhafte Handlungen aus längst vergangenen Zeiten und Ländern, wobei auch die subtilste Einbildungskraft keinen Anschein von Eigeninteresse entdecken oder eine Verbindung unseres gegenwärtigen Glücks und unserer Sicherheit mit so fernliegenden Ereignissen auffinden könnte. Eine großzügige, eine mutige, eine edle Tat, von einem Gegner vollbracht, nötigt uns Anerkennung ab, auch wenn wir wissen, daß sie in ihren Konsequenzen unserem persönlichen Interesse vielleicht schaden werde« (Hume, Untersuchung über die Prinzipien der Moral: 137). 48 Vgl. Nussbaum 1999b sowie zuletzt das groß angelegte Werk über Moraltheorien des Gefühls in der westlichen Philosophie- und Literaturgeschichte (vgl. dies. 2001). 49 Roland Hagenbüchle zitiert eine Fülle von empirischen und theoretischen Studien über transkulturelle menschliche Normen (vgl. ders. 2002: 131 ff., 167 ff., 170 Fußnote 98). 46

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Durchschnittlich wird die Erfahrung der Fremdheit des Anderen sowie auch derjenigen Negativität, die einen selbst ausmacht, oft Ursache von Missverständnissen, Konflikten, Aggressivität oder Gewalt sein. Doch mir geht es im Kontext dieser Überlegungen zu Negativität und Interkulturalität um ein anderes Phänomen, welches ebenfalls auf Fremdheit zurückzuführen ist, genauer auf jene Analogie zwischen eigenem und fremdem Fremdsein: Gemeint ist die mit menschlicher Existenz gegebene Möglichkeit, mittels des eigenen Fremdseins den fremden Anderen vorreflexiv nachzuvollziehen, und zwar formal auf das gemeinsam geteilte Fremdsein hin (auf Nicht-Identität hin) und inhaltlich auf bestimmte gemeinsame Erfahrungsfelder hin (s. o.). Das vorreflexive Mitvollziehen des Anderen oder Fremden ist moralrelevant, insofern es eine moralkonstitutive Wahrnehmung des Anderen bezeichnet, die für das Bilden moralischer Sätze ebenso unverzichtbar ist wie für die Möglichkeit der interkulturellen Praxis. Den Anderen vorreflexiv mitzuvollziehen bedeutet, sich an die Stelle des Anderen (und dessen Nicht-Identität und Fremdsein) zu versetzen. So besteht die Möglichkeit, den fremden Anderen im Zugleich seiner Anstrengungen und seiner notwendigen Vergeblichkeit zu ›verstehen‹, im Zugleich seiner Leidenschaft, mit der er Ziele anstrebt und der Kontingenz dieser Ziele. Menschen sind an ihre Endlichkeit, aber auch an ihr Streben nach Sinn gebunden, an das Sich-Sorgen (den Lastcharakter des Daseins) wie an die Möglichkeit einer auf unterschiedliche Weise näher zu bestimmenden Erfüllung oder Fülle des Lebens. Menschen werden durch unableitbare historisch kontingente Ziele und Werte unverfügbar ausgemacht. Menschen sind nicht nur immer Gefangene ihrer Epoche, Gefangene ihrer Generation, sie sind ebenso sehr Gefangene ihrer Leiblichkeit (ihres Geschlechts, ihres Alterns, ihrer Endlichkeit), ihrer Gestimmtheit (ihrer Anfälligkeit für Affekte) und ihrer Antriebe (ihres Begehrens, ihres Ehrgeizes, ihrer Begabung, ihrer Leidenschaft). In diesem Sinne sind Menschen ihrer selbst nicht mächtig, und in diesem Sinne kann Judith Butler behaupten, dass »die Grenze der Vernunft das Zeichen unserer Humanität ist« 50 und dass »meine eigene Fremdheit mir selbst gegenüber paradoxerweise die Quelle meiner ethischen Verknüpfung mit Anderen ist«. 51 Insofern über die Erfahrung des eigenen Fremdseins (der Nicht-Identität, 50 51

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des Gefangenseins) die Möglichkeit besteht, den fremden Anderen auf diesen Aspekt einer vertrauten Negativität hin nachzuvollziehen, kann sich gerade hinsichtlich dieser Gefangenheit und Abhängigkeit, dieser Zufälligkeit und Defizienz des Menschseins auf dem Praxisfeld der Interkulturalität die Erfahrung der Nähe eines gemeinsamen Menschseins ergeben. Auch diese Erfahrung kann als eine spezifische Bedingung interkultureller Kommunikation verstanden werden, eine Bedingung, die gleichzeitig ein spezifisches Potenzial negativer Ethik und einer negativen Identitätstheorie offenbart. Abschließend und zusammenfassend möchte ich noch einige Regeln für interkulturelle kommunikative Praxis zusammenstellen, wie sie sich unmittelbar aus dem Ansatz negativer Ethik ergeben. Wie soll sich vor dem Hintergrund der verschiedenen Aspekte negativer Ethik (Erfahrung des Negiertwerdens durch fremde Geltungsansprüche, Kontextualität und Kulturalität moralischer Güter, Kreatürlichkeit, Destruktion metaethischer Modelle) interkulturell kommunikativ etwa die Auseinandersetzung um konkurrierende Geltungsansprüche gestalten? Unsere Kultur, die abendländische Moderne, pflegt durchschnittlich eine akulturelle Selbstinterpretation. Vernunft, Menschenrechte, Autonomie und Selbstverwirklichung (ja, Individualismus) werden dabei als Überwindung partikularer (vormoderner) Kulturen (mit ihren spezifischen ›Binnenwahrheiten‹) verstanden. Die Entdeckungen der Moderne gelten als Entdeckungen einer universalen Wahrheit über alle Menschen. Dieser moderne Wahrheitsanspruch kann leicht als hegemonial verstanden werden. Doch das gedankliche Modell des Relativismus bietet hier keinen Ausweg – auch der Relativismus kann als westliche, moderne Wahrheitsgewissheit verstanden werden, denn auch er bedient sich eines big picture, einer überkontextuellen Beobachterperspektive, die potenziell vereinnahmend und reduzierend wirken kann. Im Sinne einer negativen Ethik (und im Interesse der Interkulturalität) muss sich die abendländische Moderne ihrer akulturellen Selbstinterpretation entledigen und sich selbst als Kultur verstehen, deren Entdeckungen (Rationalität, Individualität etc.) letztlich Werte sind, also Entscheidungen darüber, was als das Gute zu gelten hat. Interkulturelle Kommunikation ist gleichberechtigt nur im Verzicht auf jede Vogelperspektive (Universalismus, Relativismus) möglich, ein Verzicht, der gleichwohl vor allem systematisch (II.4.2.) und nur in zweiter Linie auch pragmatisch begründet ist. Der Verzicht auf eine Wahrheitsgewissheit, welche aus einem metaethischen Modell A

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resultiert, bedeutet dabei gerade nicht den Verzicht auf die Wahrheitsgewissheit der (letztlich unableitbaren) Geltung und auch nicht den Verzicht auf Begründung. Die erste Voraussetzung jeder interkulturellen Kommunikation ist die Besinnung auf unverzichtbare moralische Güter, auf jenes, was wir beim besten Willen nicht anders sehen und beurteilen können, als wir es sehen und beurteilen. Unsere moralischen Güter verlieren dabei nicht an Geltungskraft, vielmehr werden sie in ihrer Geltung allererst lebendig. Denn in dem Maße, wie diese Werte zwar als unbedingt gültige, aber als kulturelle verstanden werden (also nicht als überkulturelle, von jedermann rational erschließbare Wahrheiten), erscheinen sie als endlich, fragil, jederzeit bedroht, ja gewissermaßen als ›wertvoll‹. So beginnt der interkulturelle Dialog damit, den eigenen Geltungsanspruch aufrechtzuerhalten. Denn dieser bezieht sich auf den Anspruch der Praxis unserer Gesellschaft, welcher in einer konsistenten moralischen Grammatik begründet werden kann. Ein negativ ethisch reflektierter Standpunkt gibt nicht vor, über einen (vermeintlich möglichen) argumentativen Zwang (z. B. einen prozeduralistischen) zu verfügen, der etwa auch auf den Gesprächspartner ausgeübt werden müsste, vielmehr muss die Teilnehmerperspektive konsequent durchgehalten werden. Für einen Gesprächspartner ist interkulturelle Kommunikation nur möglich, wenn er bei uns als seinem Gegenüber die Ablösung des nichtpartikularen Geltungsanspruchs vom Konzept eines naiven (und hegemonialen) Universalismus erkennt. Die Vermittlung der widersprüchlichen Geltungsansprüche schließlich kann aus der Perspektive negativer Ethik den Versuch bedeuten, das Identische (die Gemeinsamkeiten negativer Identität) im Differenten aufzusuchen und dieses Differente zumindest ansatzweise im Lichte von jenem Identischen zu verstehen. In der interkulturellen Kommunikation geht es darum, die differente Identität auf jene Negativität hin durchsichtig zu machen, welche die Identität beider Gesprächspartner gleichermaßen bestimmt. So zeigt sich die praktisch philosophische Relevanz der systematischen Figur negativer Identität auf dem Praxisfeld der Interkulturalität vor allem als ein verändertes Verhältnis zur individuellen und kulturellen Identität und damit als veränderte Voraussetzung für eine Kommunikation mit dem Fremden. In dem Maße, wie Negativität ihre sinnkonstitutive Bedeutung zeigt, welche gleichermaßen für das Eigene wie das Fremde gilt, in dem Maße zeigt sie diesseits des einordnenden Verstehens ein vermittelndes Potenzial. 266

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Schluss

Die vorliegende Untersuchung verfolgte zwei Anliegen, die sich beide auf dieselbe Frage zurückführen lassen: Wie kann Identität heute philosophisch hinreichend bestimmt werden? In theoretischer Hinsicht (I. Teil) galt das Interesse einem Identitätsbegriff, der die Struktur umgreifender, sinnkonstitutiver Negativität (als Entdeckung der Gegenwartsphilosophie) reflektiert und in sich aufnimmt und der auf diese Weise als Begriff negativer Identität das klassische moderne Paradigma der Selbsterhaltung unterläuft. In praktischer Hinsicht (II. Teil) galt das Interesse einer zeitgemäßen philosophischen Identität, mithin dem philosophischen Selbstverständnis einer Lebenspraxis, für welches negative Identität insofern grundlegend ist, als diese stets auch den Verzicht auf jedes Modell (auf jedes big picture) von Selbst und Welt bedeutet. Zur Theorie negativer Identität: Identität ist Gegenstand verschiedener Diskurse. Philosophisch wird sie seit der Antike als diachrone personale Selbigkeit diskutiert, in romantischer Tradition erscheint sie als einstelliges Prädikat (Selbstsein), heute wird sie als Nicht-Identität bestritten (Adorno) oder als narrative Identität postuliert (Ricœur). Sozialpsychologisch bedeutet Identität bei James, Mead und Erikson die Ausbildung einer (gesunden) Persönlichkeit. Identität ist darüber hinaus auf besondere Weise an das Problem der Moderne und der Modernekritik gebunden: Als Ideal der Autonomie bzw. der Authentizität gehört sie in das Selbstverständnis moderner Subjektivität; gleichzeitig verlangen moderne Gesellschaften von ihren Bewohnern die Ausbildung von personaler Identität. In der selbstkritischen Moderne freilich werden philosophische Identitätsideale wie auch soziale Identitätsforderungen kritischer gesehen; Autonomie und Authentizität offenbaren auch ihre Schattenseiten, und die sich verändernde Gesellschaft begünstigt eher die Diffusion von Identität. A

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Schluss

Vor diesem Hintergrund vertritt die vorliegende Untersuchung die These, dass Identität gewissermaßen aus der Sozialpsychologie in die Philosophie zurückzuholen ist und dass sie sich hier gegen den Verdacht durch die These der Nicht-Identität und gegen die Einseitigkeit theoretischer Philosophie als (von Nicht-Identität wie theoretischer Philosophie verdeckter) klassischer Gegenstand der Philosophie behaupten muss. Die systematische Begründung dieser Selbstbehauptung der Identität in der Philosophie liegt gerade in ihrer modernetheoretischen Relevanz: Indem Identität mit der gegenwartsphilosophischen Entdeckung konstitutiver Negativität zusammengeführt und als negative Identität bestimmt wird, reicht sie tiefer als der Topos einer sich selbst erhaltenden Subjektivität, welcher typisch für modernes Denken ist und welcher auch noch in klassischer Modernekritik (Nietzsche) als Geste der Überbietung weiterlebt. Die Bedeutung sinnkonstitutiver Negativität für den Begriff der Identität ist bisher nicht genügend gesehen worden – von den Verteidigern wie von den Gegnern der Identität wurde Identität stets klassisch modern als sich selbst konstituierende vernünftige Einheit oder als Konstruktion von Selbigkeit usw. gedacht. Das Moment der Passivität, der Widerfahrnis, der Endlichkeit, der Faktizität und des vorgängigen Ausgemachtwerdens durch Intersubjektivität, Sprache oder moralische Güter wurde im Identitätsdiskurs zu wenig wahrgenommen oder es wurde systematisch unterbestimmt. In der systematischen Figur negativer Identität, so konnte die vorliegende Untersuchung zeigen, liegt die Antwort auf die theoretische Frage nach der gegenwartsphilosophischen Bestimmung von Identität. Denn gerade im Abschied von der Figur der Selbstbegründung liegt im Sinne einer Selbstverständigung eines modernekritischen Denkens das Potenzial von Identität als Gegenstand der Philosophie. Wie negative Identität systematisch begründet und im Einzelnen ausgeführt werden kann, versuchte diese Untersuchung dadurch aufzuzeigen, dass sie drei Denker bei ihren Versuchen begleitete, Identität anders denn als Selbstbegründung oder gar als Konstruktion zu denken. 1 Dabei zeigte sich als Ergebnis, dass die Bestimmung von Identität durch Negativität systematisch befriedigend gelingen kann. Es zeigte sich aber auch, dass der Hang zu einem sozusagen klassischen Weg dieser Engführung von Identität und Negativität stark ist: Michael Theunissen und teilweise auch Paul Ricœur folgen 1

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Zur Auswahl der herangezogenen Philosophen vgl. Einleitung, Fußnote 8.

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einem dialektischen Identitätsbegriff und denken in dessen Rahmen Identität existenzdialektisch bzw. als Geschehen der Bewusstwerdung der inneren Einheit einer Differenz im Sinne der Hegel’schen Figur einer doppelten Negation. Michael Theunissen ist ein Denker, der durchaus Identität im Sinne einer ›Lösung‹ der Existenz sucht, im Sinne der Überwindung von Verzweiflung und Angst. Negative Identität heißt im Rahmen dieser existenzdialektischen Philosophie, dass das Negative (die ständig von selbst sich generierende Bedingung von Verzweiflung) von einem substratlosen (negativen, rein prozessualen) Selbst laufend negiert wird. In den Bahnen des Denkens Kierkegaards ist die Bedingung von Verzweiflung das Nichtselbstseinwollen, die Flucht vor der Faktizität wie auch vor den faktisch gegebenen Möglichkeiten, es ist die Weigerung, die (Ko-) Autorschaft für die eigene Existenz zu übernehmen. Theunissen wiederholt diese existenzdialektische Konstruktion, in der Identität verfehlt bzw. in der sie erlangt wird, auf dem Feld des Leidens unter der Zeit. So wie existenzdialektisch Gesetztsein übernommen wird, so wird in einer doppelten Negation auch Zeit als Existenzmoment negativer Identität integriert. Die Kritik an Theunissens Bestimmung negativer Identität betrifft vor allem die Gefahr eines Schematismus’ dialektischer Negativität. In dessen Bahnen kann dann gelingende Identität trotz aller Negativität nur als Selbstdurchsichtigkeit eines fortgeschrittenen Existenzstadiums erscheinen. Doch im Sinne eines weniger abgeschlossenen Begriffs von Negativität, im Sinne konstitutiver Negativität, ist es gerade identitätsbestimmend, dass man sich selbst wesentlich nicht durchsichtig ist. Das Besondere ist nun, dass auch Theunissen letztlich Seinsweisen anstrebt, die in diesem Sinne konstitutiv negativ bestimmt sind, etwa radikales Vertrauen oder das Freiwerden für den Anderen. In solchen Existenzweisen ist jede angestrengt betriebene Selbstwerdung immer schon an ein Ende gekommen. Die vorliegende Untersuchung versuchte zu zeigen, dass ein voller Begriff negativer Identität (der von Theunissen auch gesehen wird) mit den Mitteln dieser denkerischen Tradition (Existenzdialektik) nicht eingeholt werden kann. Paul Ricœur denkt Identität als dasjenige, was sich aus Alterität speist, seine Beispiele sind der Andere, der Leib, das Gewissen. Fasziniert von Derek Parfits Gedanke des radikalen Abbruchs von Identität entdeckt Ricœur in Alterität jenes Moment, dessen sich Identität dialektisch als des Anderen ihrer selbst (und damit als Quelle) bewusst wird. Negative Identität bedeutet bei Ricœur formal eine konA

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stitutive Schwäche des Selbst (die Unmöglichkeit seiner Selbstbegründung, die Unmöglichkeit, für die eigene Identität einzustehen), inhaltlich bedeutet negative Identität Ausgemachtwerden durch das Fremde (etwa den Anspruch des Anderen) bzw. Einheit einer inneren Differenz. Auch hier ist letztlich ein dialektischer Negativitätsbegriff maßgebend – doch auch im Denken Ricœurs werden Phänomene beschrieben bzw. angestrebt, die über den Rahmen dieser theoretischen Konstruktion hinausgehen, die zu ihrer gedanklichen Bestimmung einen offeneren Begriff von Negativität fordern. Nicht das Bestimmtsein durch das Andere, sondern Unbestimmtheit, Fragilität, Endlichkeit, Nichtverstehbarkeit ist der tiefste Sinn des Begriffs negativer Identität. Ricœurs Gedanken einer nicht-narzisstischen Versöhnung aufgreifend konnte die Interpretation zeigen, dass Ricœurs Identitätsphilosophie ihr (für sie selbst wohl verdecktes) Zentrum gerade in der Struktur sinnkonstitutiver (und nicht mehr geschlossen dialektischer) Negativität hat: Der radikale Abschied von jedem big picture bedeutet stets den Abschied von einem Narzissmus, nämlich den Verzicht auf die eigene zentrale Rolle in dem Modell der Wirklichkeit. Diese Struktur (und damit die tiefste Schicht des Ricœur’schen Konzepts negativer Identität) kann insofern orientierend wirken, als mit ihr auch die Befreiung von der Selbstüberforderung eines Zwangs zur Selbstbegründung und zugleich eine gewisse Verendlichung, das Freiwerden für das Faktische (etwa für die Erfordernisse der Situation) verbunden ist. Auch Charles Taylor, so konnte gezeigt werden, ist ein Denker negativer Identität. In expressivistischer Tradition denkt Taylor diese zunächst als interne Normativität (das Gute als der dem eigenen Wesen gemäße Wunsch). Solchen Aporien des Intrasubjektivismus entkommt Taylor aber nur durch eine Transformation seines Ansatzes: Die Vorgängigkeit der Geltung moralischer Güter liegt (analog der sprachlichen Bedeutung von Begriffen) in ihrer Intersubjektivität; ihre Negativität (die moralischen Güter werden vom Subjekt nicht hervorgebracht oder gesetzt, andererseits aber sind sie auch nicht logisch ableitbar) liegt wesentlich in ihrem kulturellen Status. Die spezifische Engführung von Identität und Negativität besteht bei Taylor darin, dass die Identifizierung des Akteurs mit dem moralischen Gut (und damit das Identitätsbildende des werteartikulierenden Handelns) gerade mit der logischen Unableitbarkeit der Werte zusammenhängt. Im notwendigen Begründungsabbruch, so lässt sich sagen, liegt ein Moment von Verantwortung und Autonomie. So 270

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bedeutet Negativität in Bezug auf Identität im Rahmen dieser Philosophie sowohl das unverfügbare Ausgemachtwerden des Subjekts durch vorgängig geltende moralische Güter als auch deren Kontextualität bzw. Unableitbarkeit, es handelt sich mithin um einen offenen Begriff sinnkonstitutiver Negativität, der den Schematismus einer verengten Dialektik vermeidet. Für die modernetheoretischen Interessen der vorliegenden Untersuchung erwies sich Taylor darüber hinaus insofern als wertvoller Zeuge, als mit Taylors Kulturkritik eine Deutungsmöglichkeit für einen verflachten Begriff positiver Identität und damit für die modernetypische Figur der Selbstbegründung gegeben ist: Es ist gerade das akulturelle Selbstverständnis der Moderne, welches den kulturellen Status moralischer Güter verdeckt und damit eine Konzeption von Identität begünstigt, welche Subjektivität als Selbsterhaltung versteht (indem sie etwa prozessuale Rationalität als gemeinsame Begründung von Selbst und Moralität, ja sogar von Welt ansetzt). So wird umgekehrt negative Identität zum Projekt einer Orientierung: Indem sich das Selbstverständnis moderner Subjekte gewissermaßen rekulturalisiert, löst sich der nichtpartikulare Geltungsanspruch der moralischen Güter der Moderne vom Postulat eines naiven ethischen Universalismus der kontextfreien Geltungen. Taylor gelingt es so, dies konnte die Untersuchung zeigen, negative Identität in individuellem wie in kollektivem Sinn besonders als moralische Identität zu denken. Für die theoretische Bestimmung negativer Identität und für die Beurteilung der herangezogenen Denker ist es sinnvoll, so die These der Untersuchung, dialektische Negativität als wichtige Entdeckung des 19. Jhs. (Hegel) von konstitutiver Negativität als wichtiger Entdeckung des 20. Jhs. (Heidegger, Wittgenstein, Adorno) zu unterscheiden. Der sozialwissenschaftliche Identitätsbegriff (besonders bei Erikson) ist dialektisch negativ (Identitätsbildung ist jener Prozess, in dem das Andere, zunächst Abgelehnte schließlich als Bedingung der Möglichkeit gelingender Identität erkannt wird). Auch philosophisch ist besonders in der Perspektive des Einzelnen (Theunissen) und der Alterität (Ricœur) dialektische Negativität einflussreich. Daneben fungiert aber (besonders bei Taylor, in der Perspektive des Sozialen und Kulturellen) in zeitgenössischer Identitätstheorie auch ein offenerer und fundamentalerer Negativitätsbegriff, der negative Identität weniger als Bewegung der Negation bestimmt, sondern grundlegender etwa im Lichte einer prinzipiellen UnableitbarA

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keit der Sinnkonzepte (der kulturelle Status identitätsbildender moralischer Güter) oder im Lichte eines Verzichts auf ein modellhaftes Verstehen (und damit Bewältigen) der Wirklichkeit (Ricœur). Zur Praxis negativer Identität: Mit der systematischen Grundlegung negativer Identität konnte die Untersuchung auch deren praktischphilosophisches Potenzial aufzeigen. Freilich lässt sich das Konzept negativer Identität nicht einfach in Lebenspraxis hineinverlängern. Aber, so die These der Untersuchung, die systematische Stimmigkeit des Konzepts negativer Identität kann als Maßstab fungieren, von dem aus bestehende lebenspraktische Diskurse kritisiert bzw. vertieft werden können. Ein solcher Diskurs, die sozialwissenschaftliche Interpretation von Identität im Sinne der Identitätskonstruktion, zeichnet für uns Bewohner moderner Gesellschaften eine unreflektierte Orientierung jeweils schon vor: Identität wird zum instrumentellen Projekt, zu einem Mittel (gesunde, kohärente Existenz) zum Zweck (Erfolg, Selbststeigerung), dessen Geltung unreflektiert, nämlich naturalisiert bzw. merkantilisiert behauptet wird. Vom Standpunkt negativer Identität aus, so konnte gezeigt werden, lässt sich das Konzept instrumenteller Identitätskonstruktion in verschiedener Hinsicht kritisieren: Die Festschreibung der 3.-Person-Perspektive bedingt eine Selbstinterpretation, in der sich ein geradezu verzweifelter Determinismus mit einer ebenso verzweifelten Verpflichtung zur Ausnutzung aller Möglichkeiten mischt. So werden andere Formen der Orientierung (nämlich an selbstzweckhaften Tätigkeiten, Verhältnissen oder Beziehungen) verdeckt oder abgedrängt. Indem das Konzept instrumenteller Identitätskonstruktion, so die These der Arbeit, es versäumt, den Geltungssinn des Naturalismus zu reflektieren, ist es vor allem notwendig blind für jenen Ausweg, der sich (dialektisch) gewissermaßen aus der Vertiefung oder Verstärkung des Instrumentalismus ergibt. Als sinnkonstitutiv für diesen kann (in Anlehnung an Taylor) gerade das Andere der naturalisierten Geltungen erscheinen (Werte und Ideale wie Autonomie oder Authentizität). Die hinter den Instrumentalismus zurückreichende Frage lautet: Welche modernen Werte liegen diesem zugrunde und wie lassen sich diese anders (nämlich im Sinne eines anzustrebenden Identitätsideals) artikulieren? Auch gilt es, das Andere des Instrumentalismus und damit das Andere einer totalisierten (weil naturalisierten) Weltinterpretation in solchen Phänomenen aufzuzeigen, die sich gerade negativ auf das Ganze der Wirklichkeit beziehen (et272

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wa Kunst, Moral, Religion) und diese Phänomene hinsichtlich ihres konkurrierenden Anspruchs auf Identitätsbildung durchsichtig zu machen. Hinsichtlich seiner Negativitätsvergessenheit wurde in der Untersuchung noch ein weiterer lebenspraktischer Diskurs kritisiert, nämlich das Konzept einer Ästhetik der Existenz bzw. die Philosophie der Lebenskunst. Negativitätsvergessenheit bedeutet hier vor allem die nicht reflektierte Immanenz, welche aus der gegenseitigen Affirmation einer kleinen (der lebenskünstlerische Alltag) und einer großen Totalität (das gedankliche System der Lebenskunst) besteht. Bei allen unbestreitbaren Verdiensten etwa der Lebenskunstphilosophie Wilhelm Schmids liegt die Gefahr gerade in jenem (durch die unreflektierte Immanenz erzeugten) Schein der Möglichkeit einer ›Lösung‹ des Lebens, einer gelingenden konstruierten Identität. Demgegenüber klagt der Standpunkt negativer Identität, so die These der Untersuchung, Negativität als sinn- und existenzkonstitutive Struktur ein: als Passivität (Selbstverlust, Bestimmtwerden durch den Anspruch des Anderen), als strukturelle Nichtverstehbarkeit des Lebens, als Nicht-Identität und als das Andere zur Immanenz der Welt im Ganzen. Auch für die Frage einer philosophischen Lebenskunst gilt, dass in ihren Subjektivitätsbegriff Negativität konstitutiv eingehen muss, soll eine letztlich naive Lebenskunst der Selbstbegründung (ja der Selbsterschaffung als eines Kunstwerks) vermieden werden. Gegen eine Kultur des Verstehens versucht das Konzept negativer Identität, dies eine weitere These der Arbeit, eine Kultur des nicht verstehenden Umgangs mit Selbst und Welt (eine negative Hermeneutik) zu etablieren. Urteilsenthaltung als spezifisch phänomenologische Negation scheinbar selbstverständlicher Geltungen entfaltet ihr emanzipatives Potenzial gegen mediale, populärwissenschaftliche und andere Modelle der Wirklichkeit, welche ihre Modellhaftigkeit nicht reflektieren. Das in der Untersuchung vertretene Konzept negativer Hermeneutik weist das (scheinbare) Verstehen zurück und fordert den Mut zur eigenen Anschauung (zur eigenen Erfahrung). Die eingeklagte Nichtverstehbarkeit der Welt und entsprechend die vorgeschlagenen Weisen des nicht verstehenden Nachvollzugs der Wirklichkeit (auf ihre Nichtverstehbarkeit sowie auf qualitative Gehalte hin) können etwa an die Tradition der moral-sense-Philosophie oder an leibphänomenologische Konzepte anschließen. Schließlich konnte die Untersuchung auch zeigen, wie identiA

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tätskonstitutive Negativität für die Praxis interkultureller Kommunikation bedeutend wird, nämlich im Sinne einer negativen Ethik. Negativität bedeutet hier das Unterlaufen eines ethischen Universalismus (die Kulturalität des Status’ moralischer Güter wird gegen kontextfreie Geltungen und metaethische Modelle gewendet) wie auch eines ethischen Relativismus (anthropologische Bedingungen zeichnen die Bedeutung moralischer Sätze und damit einen hermeneutischen Universalismus vor). In der Praxis der Interkulturalität kommt es darauf an, so die These der Arbeit, kulturelle Fremdheit auf die (ihr zugrunde liegende) strukturelle Fremdheit hin nachzuvollziehen (und damit auf etwas hin, das aus der eigenen, wesentlich negativen Identität jeweils schon bekannt ist). Das Identische im Differenten liegt gerade im negativen Moment von Identität und in diesem Sinne im gemeinsamen Menschsein. Ansetzen wird jede Auseinandersetzung bei dem kulturell Differenten. Jene spezifische Bedingung für eine interkulturelle Kommunikation, welche sich aus dem Konzept negativer Identität (und damit aus negativer Ethik) unmittelbar ergibt, liegt in einer Vorentscheidung über den Status der eigenen ethischen Sätze. Ihr Geltungsanspruch ist nichtpartikular – zugleich ist ihr Sinn nur kontextuell vorstellbar. In Anlehnung an Wittgenstein ließe sich die mit negativer (individueller wie kultureller) Identität verbundene Bedingung von Interkulturalität so formulieren, dass wir mit voller Gewissheit handeln, dass aber diese Gewissheit unsere eigene ist. 2 Die Untersuchung versuchte zu zeigen, wie eine philosophisch hinreichende Bestimmung von Identität (nämlich durch Negativität) heute in theoretischer wie in praktischer Hinsicht möglich ist. Eine bedeutende Tradition abendländischer Philosophie stellt die Reflexion des Nichtwissens im Wissen dar. Um es im Bild der Apologie auszudrücken 3 ist der Philosoph nicht so sehr derjenige, welcher aus der Höhle heraus zur Schau der Wahrheit selbst geführt wird (eine andere Tradition abendländischen Denkens) – der Philosoph ist vielmehr derjenige, welcher durch die sukzessive Wahrnehmung und Negation des Wissens der Welt (die Befragung der Staatsmänner, Handwerker, Dichter) das Nichtwissen als das Proprium philosophischer 2 »Ich handle mit voller Gewissheit. Aber diese Gewißheit ist meine eigene« (Wittgenstein, Über Gewißheit: § 174). 3 Vgl. Platon, Apologie: 21cff.

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Wahrheit gewinnt. In dieser Tradition steht die gegenwartsphilosophische Reflexion sinnkonstitutiver Negativität in Gewissheit, Sein und Identität. Freilich bedeutet hier Nichtwissen mehr, es bedeutet etwa die Verwiesenheit von Sein auf Praxis (Heidegger) oder von Überzeugungen, von Gewissheiten auf Sprache, auf Lebensformen (Wittgenstein). Für jenen Bereich, der Gegenstand dieser Untersuchung war, für Identität, bedeutet konstitutive Negativität theoretisch vor allem die Unmöglichkeit der Selbstbegründung, sie bedeutet die Verwiesenheit auf Faktizität und Situationalität, auf Alterität und (als moralische Identität) auf die vorgängige Geltung moralischer Güter. Und in praktischer Hinsicht bedeutet konstitutive Negativität für Identität vor allem den Verzicht auf jene Beruhigung über das Ganze der Welt und über die eigene Stellung in dieser, welche mit der Konstruktion eines jeden big picture einhergeht. Dieser Verzicht ist philosophisch, denn er denkt die Grenze mit (er nimmt sie in Identität auf), ohne sie begreifen zu können, und er entspringt der Einsicht, dass es, wie Merleau-Ponty sagt, kein Denken gibt, das all unser Denken umfasste. 4

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Vgl. Merleau-Ponty 1966: 11. A

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Personenregister

Adorno, Th. W. 14, 17, 39 f., 143, 151, 161, 204 ff., 208, 210, 213, 232, 267, 271 Aristoteles 28, 255 f. Augustinus 133

James, W. 36, 86, 169 f., 267

Bataille, G. 20 Benjamin, W. 71 f. Bentham, J. 137 Blumenberg, H. 13, 215, 227 Bourdieu, P. 178 Buber, M. 50 Butler, J. 242, 264

Lacan, J. 20 Leibniz, G. W. 29 Lévinas, E. 31, 78, 88 f., 157 Locke, J. 29, 80 Luther, M. 31 Lyotard, F. 44, 215

Derrida, J. 20 Descartes, R. 27, 93, 133, 225 Erikson, E. 42, 46, 147, 170 ff., 267 Fichte, J. G. 14 Foucault, M. 40, 48, 128 f., 160 Frankfurt, H. 109 f. Freud, S. 93, 217

Kant, I. 29, 52, 115, 122, 143, 226, 249 Kierkegaard, S. 39, 50–67, 105, 146, 151 ff., 164, 185, 204, 225

MacIntyre, A. 96 Marcel, G. 78, 85 f. Marx, K. 205 Mead, G. H. 36, 169 f., 177, 267 Merleau-Ponty, M. 13, 16, 49, 88, 91, 114 ff., 149, 156, 158, 210, 218 ff., 232, 235, 275 Musil, R. 13, 193 ff. Nietzsche, F. 19, 48, 93, 128, 196, 268 Nussbaum, M. 140, 240, 254 ff.

Giddens, A. 175, 215 Habermas, J. 38, 211 Hegel, G. W. F. 18, 27, 49, 52, 89, 139, 144 ff., 151, 164, 205, 271 Heidegger, M. 15 f., 36, 38, 48, 50, 83, 89, 93 f., 102, 115, 128, 147, 149, 165, 204, 213, 215, 217 ff., 222 f., 229 f., 271, 275 Hobbes, Th. 13, 29, 137 Hölderlin, F. 14 Hume, D. 29, 169, 203, 239, 263 Husserl, E. 17, 27, 40, 51, 90 f., 124, 149, 216 ff., 225 f., 229, 232

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Parfit, D. 30, 32, 78, 80 ff., 156 Pindar 67 Platon 28, 37, 226, 274 Ricœur, P. 17, 27, 30 ff., 49, 75, 77–108, 140, 147 f., 155 ff., 212, 267 ff. Rorty, R. 26, 34, 99, 126, 130, 171 Rosenzweig, F. 107 Rousseau, J. J. 36, 134, 143 Sartre, J. P. 50 Scheler, M. 229 ff.

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Personenregister Schelling, F. W. J. 15, 19 Sokrates 37 Spinoza, B. de 13, 48, 143

Theunissen, M. 39, 49, 50–77, 92, 140, 148, 151 ff., 162, 206, 211 ff., 268 Vattimo, G. 48

Taylor, Ch. 16 f., 32 f., 45, 49, 56, 77, 97, 108–141, 158 ff., 171, 179 f., 188, 212, 243, 247 f., 270 f.

Weber, M. 172 f. Williams, B. 26, 32, 242, 248, 253 Wittgenstein, L. 14, 16, 27, 115, 147, 150, 158, 210, 224, 274 f.

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Sachregister

Alterität 17, 30 ff., 77–108, 140, 147, 177, 269 Anschauung – ästhetische 72 – eigene 225–231 apophantisches Als 165 Autarkie 38, 205 Authentizität 36, 42, 45, 110 ff., 133 f., 179, 204 Autonomie 38, 42, 109, 113, 122 ff., 133 ff., 179, 188 f., 225, 247, 265 Begründung, Ideal der 247 f. big picture 16, 19, 100, 104, 106, 118, 129, 131, 148, 164 f., 172, 176, 184, 190, 194, 214, 234, 265, 267, 270, 275 cogito 17, 48, 77, 87, 93, 115, 219, 229, 231 Emanzipation 186, 225, 228 Emotivismus 134 Endlichkeit 16, 61 ff., 92, 106 ff., 134, 146, 153, 157, 160, 185, 225, 232, 234 f., 239 f., 244, 256, 264, 268 epoché 216 ff., 222, 230, 237, 240 Existenzdialektik 49–76, 151 ff., 269 Geschichtsphilosophie 31, 104, 171 Glück 54 ff. Handlungstheorie 16, 49, 87, 94, 114– 120, 129, 141, 159 Identität – und Authentizitätsideal 45, 134, 267 – und Autonomieideal 44, 267

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– und Beruf 169 ff. – concrete identity 30, 32 – diachrone (personale) 26 ff., 80, 84, 267 – Diffusion von I. 170, 174 – als einstelliges Prädikat 36 ff., 267 – als entwicklungspsychologisches Ziel 42, 148 – Ichidentität 38 – Identitätsarbeit 17, 20, 36, 168 ff. – instrumenteller Begriff der I. 176 ff. – als Kohärenz 36, 110, 175, 197 – als Konsistenz 38, 46 – Kriterien der I. 26, 29 – und Moderne 41–47 – und Modernisierungstheorie 171 ff. – und Moral/Ethik 108–141 – narrative I. 33, 78, 98 ff., 112 – Nicht-Identität 17, 25, 39 ff., 151, 183, 198 f., 204 ff., 264, 267 – nichtinstrumentelle I. 182 – numerische I. 26, 30, 80 ff. – Patchworkidentität 36, 46, 174 ff., 178 – einer Person 26 ff. – positive 131 – und Psychoanalyse 36 – und Rolle 38 – als Selbigkeit bzw. als Selbstheit 79 ff. – als soziale Verortung 168 ff. – sozialwissenschaftlicher Begriff der I. 35 f., 168 ff. – in der theoretischen Philosophie 25 f. – als vermittelte Relation 31 ff. – als Zumutung, Zwang 39 f. Instrumentalismus 176 ff. Interkulturalität 241–266 Intersubjektivität 120–129

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Sachregister Kategorischer Imperativ 249 Kompensationsphilosophie 182 ff. Kreatürlichkeit 92, 108, 140, 208, 240, 256, 260, 262 ff. Mimesis 96, 98, 232 Modernekritik 19, 23, 26, 41, 46, 48, 77, 267 f. moral sense 203, 238 f., 263, 273 moralische Güter 17, 108–141, 158, 182, 268, 271 Narrativität 98 ff. narrative Ethik 59 narrative Prädikate 33, 82 Naturalismus 167 f., 177, 182, 188, 220, 272 Negation – bestimmte 144 – doppelte 54, 144 ff. Negativität – anthropologische 218, 259 – und cogito 219 – dialektische 147 ff., 160, 271 – und Ethik 241–266 – existenzdialektische 140 – existenzielle 85 – konstitutive 20, 119, 148 ff., 159, 162, 165, 201, 275 – und Kulturalität 136 f., 141, 243, 246 ff. – als Nicht-Identität 204 ff. – als Passivität 201 ff., 244 – des Selbst 57 ff. – sinnkonstitutive 16, 213 – als Transmundanität 209 ff. – als Unverstehbarkeit 203, 207 f., 215 Nicht-Identität s. u. Identität Nichtverstehbarkeit 212–240 Nihilismus 53

Phänomenologie 40, 52, 204, 212 ff. phrónesis 95 pyrrhonische Skepsis 202 Relativismus 252 ff. Religion, Religiöses 209 ff. Repräsentationsmodell, Repräsentationstheorie 115, 158 Selbstbegründung 13 ff., 40, 48 f., 113, 140, 214, 219 f. Selbsterhaltung 13 f., 18 f., 48, 92, 153, 160, 167, 267 Selbstverlust 39, 73 ff., 84, 86, 273 Sollensethik 55, 109, 113 Sprachgemeinschaft 111 f., 122, 124, 127 Stoa 263 Teleologie 13, 42, 48, 72, 92, 152, 164, 260 Theologie 31, 49, 51, 76, 94, 210 Transzendenz 209 ff. Unbestimmtheit 74 ff., 140 ff., 154, 159, 183 ff., 203, 215, 270 Universalismus 241 f., 247 ff., 266, 271, 274 – hermeneutischer U. 252 ff. Unmittelbarkeit, Problem der 213, 225 f. Utilitarismus 117, 251 Verstehen, nicht prädikatives 262 Wahrheitsgewissheit 232, 265 Wahrheitsgewissheitsverlust 232 Wahrnehmung 220–240 – nicht verstehende 213 Wirklichkeitsmodell 15 f., 54, 104 f., 120, 157, 162, 164, 184, 195, 197, 243 Zeit, Leiden unter der 66–72

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